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{"created":"2022-01-31T14:26:58.292443+00:00","id":"lit15287","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Sommer, Robert","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 5: 305-322","fulltext":[{"file":"p0305.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie\nder cerebralen Schreib- und Lesest\u00f6rungen.\nVon\nPrivatdocent Dr. B. Sommer in W\u00fcrzburg.\nIm folgenden m\u00f6chte ich einige Beobachtungen mitteilen, welche f\u00fcr die Theorie des Lesens und Schreibens, besonders in Bezug auf die Kombination von Buchstaben zu Worten, von Bedeutung sind. Gleichzeitig kann ich dieselben zu meiner Ver\u00f6ffentlichung \u201e Zur Psychologie der Sprache\u201c (cfr. diese Zeitschrift 1891) in Beziehung setzen.\nEs handelt sich um den 60j\u00e4hrigen Bauer Hebling aus Greufsenheim bei W\u00fcrzburg, welcher vor P/2 Jahren einen Schlaganfall (Ohnmacht mit darauffolgender L\u00e4hmung des rechten Armes und Beines) erlitten hat. Ein schiefes Gesicht, sowie St\u00f6rungen bei der Bewegung der Augen und beim Sehen will er nicht gehabt haben. Gleich nach dem Schlaganfall hat er nicht lesen und nicht schreiben gekonnt. Die rechtsseitige L\u00e4hmung besserte sich schon nach 14 Tagen. In der ersten Zeit fand er die Worte manchmal nicht.\nAm 6. September 1892 wurde mir der Kranke von der hiesigen Universit\u00e4tsaugenklinik, an die er sich wegen seiner Lesest\u00f6rung gewendet hatte, zugesandt mit folgender Bemerkung: rR. 4- 0,5 D., S= 2/s ; L. -f- 1,0 JD. ; S = 1 ; ophthalmoskopisch beiderseits normal. Ebenso die Pupillen.\u201c Es war also keine peripherische Ursache zu einer Lesest\u00f6rung vorhanden. Im Zusammenhang mit dem Schlaganfall ergab sich die Annahme einer cerebralen St\u00f6rung mit grofser Bestimmtheit. Die genauere Pr\u00fcfung ergab folgendes. Da ich bemerkt habe, dafs es bei solchen Lesest\u00f6rungen manchmal auf die Beihen-folge ankommt, in welcher die Proben vorgelegt werden,\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie V.\t20","page":305},{"file":"p0306.txt","language":"de","ocr_de":"306\nB. Sommer.\nso halte ich mich genau an mein Protokoll. Hebling las vorgeschriebene deutsche kleine Buchstaben in folgender Weise: 1. a: \u201ef, i, 6? nein e\"; 2. 6: \u201e1\"; \u2014 3. c: \u201ec\"; \u2014 4. f: \u201ef\u2014 5. g: \u201eg\"; \u2014 6. t: \u201ei\"; 7. e: vacat; \u2014 8. I: \u201ee\"; \u2014 9. m: \u201eitt, nein t\"; \u2014 10. o: \u201ei, f?\" \u2014 11. tt: \u201en\" ; \u2014 12. p: \u201etj\" ; \u2014 13. g:\t\u2014 14. r. \u201er\"; \u2014 15. f: \u201eeitt\u00a7\"; \u2014 16. fj: \u201efj\"; \u2014\n17. t: vacat. Er wird gefragt: Ist\u2019s f? \u201eIch meine nicht,\u201c Ist\u2019s r? \u201eAuch nicht.\u201c 18. u: \u201eit\"; \u2014 19. 0: \u201er\"; \u201420. to: \u201eto\"; \u2014 21. j: \u201eixilon\u201c; \u2014 22. j: \u201ec\". Richtig gelesen wurden also. No. 3\u20146, ferner 11, 14, 16, 18, 20; zuerst richtig, dann unmittelbar darauf falsch, No. 9 (m). Es wurden also erkannt c, f, g, i, tt, r, fj, U, to, zweifelhaft ttt. Nun wurden ihm diese richtig erkannten Buchstaben wieder vorgelegt, wobei er wieder einige trotz gr\u00f6bster M\u00fche nicht erkannte, n\u00e4mlich c, tt, fj, w\u00e4hrend er ttt, welches er in No. 9 zuerst mit ttt, dann mit t bezeichnet hatte,, wieder richtig las, so dafs er also folgenden festen Bestand \u2014 wenn dieser kurze Ausdruck erlaubt ist \u2014 von kleinen deutschen Buchstaben hatte: f, g, t, ttt, r, it, to. \u2014 Ein periodischer Wechsel im Erkennen von Buchstaben, wie ich ihn in einem bald zu ver\u00f6ffentlichenden Pall von Lesest\u00f6rung beobachtet habe, liefs sich hier nicht feststellen.\nNun wurden kleine lateinische Buchstaben vorgeschrieben. Er las: 1. a: \u201eb, a\u201c ; \u2014 2. b: \u201e6\u201c; \u2014 3. c: \u201ec\u201c ; \u2014 4. g: \u201ee? Nein! Wie heifst\u2019s?\u201c; \u2014- 5. b: \u201eb\u201c ; \u2014 6. e: \u201ec\u201c. Er macht dabei eine zweifelnde Miene und sagt dann: Kann er \u201e\u00a3\u201c heifsen? Richtig ja: \u201el\u201c (NB. e hat ziemlich die gleiche Form wie das deutsche geschriebene I); \u2014 7. e: \u201e1\u201c; \u2014 8. 1: \u201e1\u201c ; \u2014 9. e: \u201elu ; \u2014 10. f:\n-\u2014 11. h: \u201eg, m\u201c. vacat. Er wird gefragt: Ists ein Z? \u201eWeifs nicht\u201c. Ist\u2019s ein h? \u201eJa\u201c. Ist\u2019s ein x? \u201eNein\u201c. \u2014 12. i:\n\u2014\u2022 13. h:\t; \u2014 14. I: vacat. \u2014 15. m: \u201em\u201c ; \u2014- 16. n:\n\u201ew\u201c ; \u2014 17. \u201ep: \u201e/, vu. Ist\u2019s ein x? \u201eIch weifs nicht\u201c. Ist\u2019s ein p? \u201eIch meine nicht\u201c; 18. q: \u201ec\u201c ; Ist\u2019s ein qn ? \u201eJa, meinr ich\u201c. (Trotzdem ist er offenbar unsicher.) 19. r: \u201er\u201c ;\u2014-20. o: vacat; \u2014 21. s: \u201ef\u201c, vacat; \u2014 22. t: \u201eb?u vacat;\u2014-23. d: heifst\u2019s d\u2018,? \u201eJa\u201c: \u2014 24. u: \u201e\u00ab\u201c ; \u2014 25. n: \u201ew\u201c ; \u2014 16. v: \u201eo\u201c. heifst\u2019s v? \u201eIst recht\u201c; \u2014 27. w: \u201ewu; 28. x: \u201eixilon, xu-, \u2014 29. y: \u201ec\u201c; \u2014 30. s\\ \u201eF\u00e4llt mir nicht ein, heifst\u2019s x?u vacat. Es wurden also erkannt No. 1 (nach einem Fehler a: \u201e6, a\u201cj, ferner 2, 3, 5 (b identisch mit No. 2), 8, 10, 12, 13, 15, 16, 19, 25 (n identisch mit No. 16), 27. Auch hier liefs sich keine","page":306},{"file":"p0307.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der cerebralen Schreib- und Lesest\u00f6rungen.\n307\nPeriodicit\u00e4t erkennen. Der Buchstabe 1 wurde in No. 8 anscheinend zuf\u00e4llig richtig benannt (cfr. No. 6\u20149 und No. 14). Richtig gelesen wurden a (nach einem Fehler), b, c, f, i, m, n, r, w, x, also 9 Buchstaben. Als diese richtig erkannten Buchstaben nach einer Weile wieder vorgeschrieben wurden, wurden sie alle wieder richtig erkannt. Hier zeigte sich also kein solcher Wechsel der Funktionsf\u00e4higkeit in Bezug auf das Erkennen bestimmter Buchstaben, wie bei den kleinen deutschen Buchstaben c, n, ft\nNun wurden grofse lateinische Buchstaben vorgeschrieben. Hebling las: 1. A: \u201eA\u201c; \u2014 2. M: \u201ei\u00a5\u201c \u2014 3. P: \u201eR\u201c; \u2014 4. E: \u201eX, Y\u201c. Heifst\u2019s L? \u201eNein\u201c; \u2014 5. F: \u201eJ, Fu ; \u2014 6. G: vacat. Heifst\u2019s P? \u201eNein\u201c. Heifst\u2019s R? \u201eNein\u201c. Heifst\u2019s G? \u201eWeifsnicht\u201c. (Er kann also den vorgesprochenen Laut G mit dem dastehenden nicht identificieren.) \u2014 7. H: \u201eHe, Ha\u201c; \u2014 8. I: \u201eF\u201c. Heifst\u2019s I? Er ist zuerst ganz kritiklos und zweifelhaft, dann sagt er \u201eja\u201c und l\u00e4fst sich nicht mehr irre machen; \u2014 9. K: \u201eX\u201c; \u2014 10. R: \u201eR\u201c: \u2014 11. S: \u201eR\u201c; \u2014 12. T: \u201eF\u201c? Ist\u2019s P? \u201eJa\u201c. Ist\u2019s T? \u201eJa, so heifst\u2019s\u201c. Er hat also den vorgesprochenen Laut P f\u00fcr identisch mit T erkl\u00e4rt; \u2014 13. U: \u201e Z7\u201c ; \u2014 14. V: \u201e Y\u201c ; \u2014 15. L; \u201eP\u201c; \u2014 16. M: \u201eJf\u201c; - 17. 0: \u201e U?\u201c Dann sagt er \u201eNull\u201c; \u2014 18. N: \u201eM, Nu ; \u2014 19. R: \u201eP, C\u201c; - 20. W: \u201e W\u201c; 21. P; \u201eR\u201c; \u2014 22. C: \u201eelf\u201c; \u2014 23. Z: \u201eC\u201c. Es wurden also richtig erkannt No. 1, 2, 5 (nach einem Fehler F: \u201eI, F\u201c), 7, 9, 10, 11, 13, 15, 16 (M identisch mit No. 2), 18 (nach einem Fehler N; \u201eM, X\u201c), 20. Also es wurden gelesen die Buchstaben A, F, H, K, P, Jf, X (nach einem Fehler); R, R, was jedoch in No. 19 schon wieder falsch gelesen wurde; und U, W. Als ihm diese richtig erkannten Buchstaben nach einer Weile wieder vorgeschrieben wurden, las er f\u00fcr A: \u201eeins\u201c, f\u00fcr R: \u201e C\u201c, so dafs also F, H, K, L, M, X, R, ZT, W als fester Bestand blieben.\nYorgeschriebene grofse deutsche Buchstaben las er folgender-mafsen: 1. 31 : \u201eX, 3k\"; \u2014 2. 93: \u201e93\"; \u2014 3. 91:\t\u2014 4. g:\n\u201eg\"; ~ \u00f6. 3i: \u201e9t\"; - 6. 0: \u201e0\"; \u2014 7. i\u00df: \u201e(\u00a3\"; - 8. \u00e4R: \u201e9R\"; - 9. @: \u201e\u00a9\"; \u2014 10. t: \u201ete\"; - 11. \u201e\u00a7e\"; \u2014 12. S: \u201eS\"; - 13. 907: \u201eTI\"; \u2014 14. (S:\t93\"; \u2014 15..\u00ae: \u201e93, \u00ae\"; \u2014\n16. @: \u201eS\"; \u2014 17. S: \u201e0? Heifst\u2019s 0?\u201c Er wird gefragt: Ist\u2019s ein 8? \u201eJa, S\"- Er scheint also mit dem vorgesprochenen Laut den Buchstaben zu identificieren. 18. U: \u201e317\"; \u2014 19. %\u2022.\n\u202220*","page":307},{"file":"p0308.txt","language":"de","ocr_de":"308\nS. Sommer.\n\u2014 20. SS:\t2B.\" Ist\u2019s ein SS? \u201eJa, es heifst 33.\u201c \u2014\n21. 3:\tIst\u2019s ein 3? \u201eJa, es heilst 3-\u201c \u2014 Es wurden also\nrichtig gelesen S3, g, 91, 0, 9k, \u00a9, \u00c4, \u00a3, S, \u00ae (nach einem Fehler, \u00a9: \u201eS3, \u00ae\"), \u00ae, nach dem Alphabet geordnet S3, \u00ae, \u00a9, \u00a7, \u00c4, S, 9k, 0, 9t, \u00a9, SL Als diese nach einer Weile einzeln vorgeschrieben wurden, fehlten S3,\t\u2014 \u00a7 wurde erst nach\neinem Falschlesen (SB) richtig erkannt, so dafs sich als festsitzend zeigten: 2), @, 2, 9k, 0, 9t, @, %.\nEs handelte sich also, wenn man von den auffallenden Schwankungen der Leistung in Bezug auf das Wie der er kennen gewisser vorher richtig erkannter Buchstaben absieht, um eine partielle Buchstaben-Alexie. Ich pr\u00fcfte nun, ob Hebling die Worte, welche sich aus ihm bekannten Buchstabenbildern zusammensetzen lassen, lesen kann. Um ganz sicher zu gehen, dafs ihm zur Zeit dieser Pr\u00fcfung die betreffenden Elemente noch zur Verf\u00fcgung st\u00e4nden, wurde diese Vorpr\u00fcfung nochmals vorgenommen. Er erkannte nun von kleinen lateinischen wieder a, ft, c, i, m, n, r, %v, x; diesmal versagte er jedoch bei f\\ erkannte dagegen d. Es wurde ihm nun das Wort \u201ea6er\u201c hingeschrieben, welches aus drei ihm bekannten Buchstabenbildern a, ft, r und dem Vokalzeichen e besteht, welches ihm als Schriftzeichen zwar unbekannt ist, aber lautlich in dem Laut f\u00fcr \u201er\u201c steckt. Nach grofser M\u00fche brachte er schliefslich das Wort \u201eafter\u201c heraus. Nun wurde \u201ebandu hingeschrieben, welches aus drei ihm sicher bekannten ft, a, n und dem kurz vorher wenigstens bekannten d besteht. Er buchstabiert nun in der That einzeln: ft, a, n, d, trotzdem kann er das Wort \u201eband\u201c durchaus nicht finden. Schliefslich sagt er \u201ebank, baru und bleibt ratlos stecken. Ebenso buchstabiert er das Wort \u201erand\u201c ganz richtig r, a, n, d, kann aber durchaus das Wort \u201erand\u201c nicht finden.\nEbenso buchstabiert er richtig \u201ediblL, bringt aber erst mit grofser M\u00fche nach fast 1 Minute \u201eDieb\u201c heraus. Auf die Frage: Was ist das? sagt er verst\u00e4ndnisvoll: \u201eSchlechte Kerle, von denen will ich nichts wissen.\u201c Ebenso buchstabiert er das Wort \u201ed\u00e4mm\u201c richtig, es dauert aber ca 1 Minute, bis er das Wort \u201ed\u00e4mm\u201c herausbringt. Schliefslich kann er \u201eafter\u201c wiederum buchstabieren, aber durchaus nicht \\zu dem Wort \u201eafter\u201c zusammenbringen, was zu Anfang der Probe nach langer M\u00fche gelungen war. Ganz entsprechend fielen die Proben mit der","page":308},{"file":"p0309.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der cerebralen Schreib- und Lesest\u00f6rungen.\n309\nLautverbindung der anderen ihm nachweislich im einzelnen bekannten Buchstaben aus.\nHebling hat also aufser der partiellen Buchstaben-Alexie noch eine St\u00f6rung: er kann eine Reihe von ihm bekannten Buchstaben nur mit M\u00fche oder gar nicht zu einem Wort zusammenf\u00fcgen, selbst wenn sie ihm dauernd vorliegen.\nNun machte ich Parallelversuche mit dem Vorsprechen von einzelnen aneinandergereihten Lauten, die f\u00fcr jeden normalen Menschen sofort ein Wort ergeben. Die Lautreihe a, u, s f\u00fcgte er zu \u201eaus\u201c richtig zusammen, nachdem er vorher die Reihe wiederholt hatte. Auf d, a, s sagt er falsch: \u201edes\u201c. Dabei sprach ich die Buchstaben so aus, wie wir es beim Aufsagen des Alphabets zu thun pflegen, also die Konsonanten in Verbindung mit einem vorangehenden oder folgenden Vokale, wie bei ni, l, r etc. oder mit a, wie bei h und Je. Die Reihe Be, u, ce, ha konnte er nicht zu \u201eBuch\u201c zusammenf\u00fcgen, selbst wenn er die Lautreihe vorher glatt aufsagen konnte. Sprach man ihm vor : B, u, sodann ch als Gaumenlaut ohne die vokalischen Beimengungen des Buchstabenalphabets, so brachte er nach ca. einer halben Minute \u201eBuch\u201c hervor. Die Bedeutung des Wortes kannte er sofort, sobald er es hatte. Die Reihe H, a, n, d wiederholt er ganz glatt, bringt aber das Wort \u201eHand\u201c durchaus nicht fertig. Nach vieler M\u00fche bringt er bei diesen Aufgaben Worte heraus und fragt dann eindringlich, ob: \u201ees so heilst.\u201c F\u00fcr die wiederholt vorgesprochene Lautreihe d, a, s sagt er \u201edes\u201c-, f\u00fcr H, a, n, d: \u201edem\u201c, f\u00fcr B, u, ch sagt er \u201eTuch\u201c, f\u00fcr u, n, d : \u201edimAls er gefragt wird: Heifst\u2019s so? macht er ein zweifelhaftes Gesicht. Darauf wird er gefragt: Heifst\u2019s \u201eund\u201c? worauf er vergn\u00fcgt die Lautreihe u, n, d wiederholt und das Wort \u201eund\u201c rasch anf\u00fcgt.\nAuf die Lautreihe d, e, r sagt er \u201eder\u201c. Die Lautreihe a, b, e, r kann er zun\u00e4chst nur bis e wiederholen. Nach einigen Versuchen lernt er\u2019s jedoch, kann aber jetzt trotzdem das Wort \u201eaber\u201c nicht gleich finden, sondern erst nach ca. 3/.i Minuten. Die Reihe W, e, g wiederholt er und sagt nach einer Pause: \u201e Wegen, heifst\u2019s so?\u201c Er f\u00fchlt sich also auch hier vollst\u00e4ndig unsicher. Auf die Reihe K, i, n, d sagt er nach langer M\u00fche \u201eDegen\u201c, was mit dem vorher producierten Wort \u201eWegen\u201c fast \u00fcbereinstimmt, dann wiederholt er wieder K, i, n, d und sagt:","page":309},{"file":"p0310.txt","language":"de","ocr_de":"310\nS. Sommer.\n\u201egegen, heifst\u2019s nicht so?\u201c Wieder ist das falsch producierte Wort sehr \u00e4hnlich den beiden vorangegangenen \u201eivegen\u201c und Degen\u201c. Die Reihe E, r, d, e sagt er ganz richtig mehrmals auf, ohne \u201eErde\u201c zu finden; erst nach ca. 15 Sekunden sagt er \u201eErden\u201c. Jedenfalls war Hebling \u00f6fter, selbst wenn er die Lautbestandteile in buchstabierender Weise einzeln erkennen konnte und sie im Ged\u00e4chtnis behielt, nicht im st\u00e4nde, das Wort daraus zusammenzuf\u00fcgen. Also selbst, wenn er nicht an partieller Buchstaben-Alexie litte und alle einzelnen Buchstaben richtig buchstabieren k\u00f6nnte, wenn ihm also die lautliche Bedeutung jedes Buchstaben beim Lesen einfiele, w\u00e4re er nicht im st\u00e4nde, zu lesen.\nEs mufs hier zun\u00e4chst hervorgehoben werden, dafs die lautliche Bedeutung der einzelnen Buchstaben beim Lesen von Worten eine etwas andere ist, als beim Lesen von isolierten Buchstaben, weil wir hier immer Yokale zu den Konsonanten zusetzen. Wenn wir wirklich buchstabierend lesen w\u00fcrden, so m\u00fcfsten wir von jedem in uns ausgel\u00f6sten Buchstabennamen (z. B. Ka f\u00fcr das Zeichen K) erst immer das Vokalische abstrahieren. Man k\u00f6nnte sich nun den Zustand Heblings zun\u00e4chst so denken, dafs er diese F\u00e4higkeit, von den Konsonanten die accompagnierenden Yokale wegzudenken, verloren hat; aber hieraus liefsen sich die Antworten nicht erkl\u00e4ren. Er h\u00e4tte dann f\u00fcr Ka, i, en, de sagen m\u00fcssen \u201eKaiende\u201c, w\u00e4hrend er hervor brachte: \u201eDegen\u201c; f\u00fcr u, en, de (= und): \u201enende\u201c. Ferner m\u00fcfste er dann diejenigen Worte eher lesen k\u00f6nnen, deren einzelne Laute, auch wenn sie wie beim Aufsagen des Alphabets ausgesprochen werden, das Wort ziemlich deutlich erkennen lassen, z. B. a, be, e, er ferner Ha, a, en, de, woraus lautlich \u201eHaende\u201c werden w\u00fcrde, w\u00e4hrend \u201eHand\u201c in Buchstabenzeichen dasteht.\nAber auch unter diesen g\u00fcnstigen Bedingungen, unter denen der oben angedeutete Einwand nicht gemacht werden kann, finden wir \u00f6fter bei H. die gleiche St\u00f6rung. Ferner k\u00f6nnte man denken, dafs er die Worte innerlich richtig findet, aber dafs er mit einer Art Paraphasie falsche Worte produciert. Erstens fehlt jedoch jedes andere Zeichen von Paraphasie, andererseits ist deutlich, dafs er eben die Worte innerlich nicht oder nicht richtig findet. Das Zusammen f\u00fcg en von richtig gelesenen und gemerkten Buchstaben-","page":310},{"file":"p0311.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der cerebralen Schreib- und Lesest\u00f6rungen.\n311\nreihen zu Worten ist also eine gesonderte psychische F unktion.\nAus Ged\u00e4chtnisschw\u00e4che f\u00fcr die zuerst aufgetauchten Laute l\u00e4fst sich das Fehlen dieser Funktion im vorliegenden Falle nachweislich nicht ableiten. Also auch bei normalem Erkennen der Buchstabenzeichen und normalem Lautged\u00e4chtnis kann diese Funktion fehlen. Daraus geht hervor, dafs sich aus den beiden Momenten des Buchstabierens und des Lautged\u00e4chtnisses eine allgemein g\u00fcltige Theorie des Lesens, wie es bei Grashey geschehen ist, nicht ableiten l\u00e4fst.\nFerner mufs man den paradoxen Satz aufstellen: Eine Reihe von innerlich gedachten Lauten, deren Buchstabenzeichen ein Wort konstituieren, ist psychologisch noch kein Wort. Man k\u00f6nnte sich nun denken, dafs, wenn in der Reihe die Zeitintervalle zwischen den einzelnen Bestandteilen abgek\u00fcrzt werden, dann schliefslich f\u00fcr unser Bewufstsein daraus ein zusammenh\u00e4ngendes oder besser simultanes Gebilde wird, und dafs in diesem Augenblick aus der Lautreihe das Wort entsteht, welches als solches, nicht als Summa von isolierten Lauten Teil unseres geistigen Besitzstandes ist.\nDanach w\u00fcrde H. eine Unf\u00e4higkeit haben, Lautreihen so rasch hintereinander zu denken, dafs ihre Verschmelzung erm\u00f6glicht w\u00fcrde. Aber diese Verk\u00fcrzung der Zeiten w\u00e4re ja auch wieder nur der Ausdruck eines rascheren Ablaufes von inneren Vorg\u00e4ngen. \u2014- Kehren wir nach diesen Ausblicken zu unseren Beobachtungen zur\u00fcck.\nDas Zahlenlesen ging ganz glatt, auch dreistellige Zahlen wurden richtig gelesen, nur mufste H. sich beim Lesen der letzteren, z. B. 897, auffallend lange besinnen. \u2014 Was das Schreiben betrifft, so konnte H. auf die Frage nach seinem Kamen richtig hinschreiben : Philipp Hebling aus Greufsenheim, erkannte auch die einzelnen Worte, war aber nicht im st\u00e4nde, diese z\u00fc buchstabieren. Auf Diktat schrieb er f\u00fcr den Laut a: 91, f\u00fcr 6: 95, f\u00fcr c: 0, f\u00fcr b: SD, f\u00fcr e: ill (nach langem Besinnen), f\u00fcr f einen sonderbaren Haken, der wie der obere Teil von f anf\u00e4ngt, aber unten einen Schwanz wie \u00a3 hat, also \u00e4hnlich wie das geschriebene @ aussieht, f\u00fcr g : g, f\u00fcr f) : \u00a7, f\u00fcr t wieder den oben beschriebenen Haken, bei dem er sehr lange z\u00f6gert, f\u00fcr \u00ef und! ebenfalls; f\u00fcr nt: W, f\u00fcr tt: 9\u00ce, f\u00fcro: vacat, f\u00fcrp: o, f\u00fcr qu: vacat, f\u00fcr r: r, f\u00fcr f wieder den \u00a9-\u00e4hnlichen Haken, f\u00fcr t:","page":311},{"file":"p0312.txt","language":"de","ocr_de":"312\nB. Sommer.\nvaeat, f\u00fcr it ein Zeichen, das ungef\u00e4hr wie p aussieht, f\u00fcr \u00f6: SS; Zeichen f\u00fcr die Laute x, y fehlen ihm, f\u00fcr z: \u00a7.\nDanach standen ihm also f\u00fcr die Laute a, b, c, d, g, h, m, n, r, v, z Buchstabenzeichen zur Verf\u00fcgung. Dabei zeigte sich, dafs von den richtig producierten Buchstaben der gr\u00f6fste Teil dem grofsen deutschen Alphabet angeh\u00f6rt, n\u00e4mlich 31, S3, 3), \u2022\u00c7), 3Jl, 9l, SS, der kleinere Teil dem kleinen deutschen Buchstabenalphabet, n\u00e4mlich g, r, J, nur einer, n\u00e4mlich C, dem grofsen lateinischen. Allerdings hat dieses Zeichen mit dem oben beschriebenen f\u00fcr f, i, !, 1 eingesetzten Zeichen solche \u00c4hnlichkeit, dafs hier vielleicht nur eine zuf\u00e4llige \u00c4hnlichkeit mit dem C vorliegt, w\u00e4hrend es sich in Wirklichkeit um einen verungl\u00fcckten Versuch handelt.\nEs war nun wichtig, dieses Resultat mit der vorher vorgenommenen Buchstabenleseprobe zu vergleichen. Wie erw\u00e4hnt, konnte H. von grofsen deutschen Buchstaben lesen : 3), (\u00a7, 2, 9\u00c4, 0, 9\u00ce,\t%, ferner mit wechselnder Sicherheit S3, \u00a7, Es wurden\nalso auf Diktat geschrieben, w\u00e4hrend sie beim Lesen nicht erkannt worden waren, 31, 9t, S3. Es wurden richtig gelesen, w\u00e4hrend sie auf Diktat nicht geschrieben wurden, 2, 0, 91, \u00a9.\nEs wurden sowohl gelesen als auch auf Diktat geschrieben von grofsen deutschen Buchstabenzeichen : 911. Mit Sicherheit kann der Schlufs, dafs die grofsen deutschen Buchstabenzeichen, bezw. die cerebralen Voraussetzungen zu ihrer Produktion fehlten, nur bei denjenigen Lauten gemacht werden, wo das richtige Bezeichnen ganz versagte, also bei den Lauten e, f, i, k, Z, 0, p, s, t, u, x, y, da in den F\u00e4llen, wo kleine deutsche Buchstaben geschrieben wurden, die M\u00f6glichkeit vorhanden ist, dafs auch grofse deutsche Buchstaben h\u00e4tten geschrieben werden k\u00f6nnen. Dies trifft zu f\u00fcr g, r, \u00a7. Es wurden also gelesen, w\u00e4hrend sie nicht geschrieben werden konnten, 2, 0, @.\nHalten wir uns zun\u00e4chst nur an das wirklich Producierte. Von kleinen deutschen Buchstaben hatte er auf Diktat geschrieben g, r, \u00a7. Beim Lesen hatte er erkannt: f, g, t, nt, r, U, tt>. Hier decken sich bei beiden Versuchen (Lesen und Dictandoschreiben) g, t. Dictando geschrieben, ohne dafs es bei der Leseprobe erkannt worden w\u00e4re, wurde g. \u2014 G-elesen, ohne Dictando geschrieben werden zu k\u00f6nnen, wurden i, 1t. Weder gelesen noch Dictando geschrieben werden e, 1, 1, 0, p, f, t, u, J, t). Es zeigten sich also sehr komplicierte Verh\u00e4ltnisse,","page":312},{"file":"p0313.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der cerebralen Schreib- und Lesest\u00f6rungen.\t313\ndie schwer unter das \u00fcbliche Schema \u00fcber die Schrift- und Lesest\u00f6rungen gebracht werden konnten.\nHebling, der, abgesehen von diesen Lese- und Schreibst\u00f6rungen und sehr seltenen St\u00f6rungen bei der Wortfindung, sich durchaus normal und besonnen verh\u00e4lt, verlangte durchaus bald wieder nach Hause. Es wurde ihm ein Blatt mit den ihm unbekannten Buchstabenzeichen mitgegeben mit der Weisung, sich die Bedeutung derselben zu Hause oft vorsagen zu lassen. Erst am 31. December 1892 stellte er sich, von der Universit\u00e4tsaugenklinik geschickt, wieder ein. Er zeigte jetzt Hemianopsie f\u00fcr rechts, die am 6. September sicher gefehlt hatte.\nH. war sehr aufgeregt, schimpfte sehr \u00fcber die \u00c4rzte, die ihn falsch kuriert h\u00e4tten. Er macht sich mit grofsem Eifer an die vorgelegten Leseproben, freut sich sichtlich, wenn er etwas erkennt, und wird ungeberdig, wenn er einen Buchstaben nicht herausbekommt. Oft fragt er eindringlich dazwischen, ob seine Angaben richtig sind.\nEr liest diesmal kleine deutsche Buchstaben folgender-mafsen. Es wurde dabei von der alphabetischen Reihenfolge absichtlich abgewichen, wobei allerdings leider einige Buchstaben vergessen wurden: 1. a: \u201ea\";\u2014 2. f: \u201ef\";\u2014 3. 1: \u201e1\"; \u2014 4. f: \u201efe\"; \u2014 5. m: \u201em\"; \u2014 6. r: \u201er\"; \u2014 7. f: \u201ef\" ; ~ 8. t: \u201eb,\tt\"; \u2014 9. i:\t\u201ea\"; \u2014\t10.\tg\t: vacat; \u2014 11. f: \u201ef\"; \u2014 12. t>:\n\u201ef>\"\t; 13. i: \u201ei\";\t14. n:\t\u201ent, n\";\t\u2014 15. o: \u201eo\"; \u2014 16. p: \u201eheifst\u2019s\ni? Heiliger Gott, was bin ich f\u00fcr ein dummer Mensch, heifst\u2019s b?\u201c \u2014 17. \u201equ: \u201ef, t>\"; \u2014 18. u: \u201eo, u\"; \u2014 19. b: \u201eb\"; \u2014 20. tu: \u201em\"; \u2014 21. g: \u201ei, j\"; \u2014 22. t>: \u201e\u00fc\". Es fehlen also im Protokoll Proben \u00fcber b, e, \u00a3, t). Erkannt wurden a, b, f, f), t, \u00ee, l, m, TX, 0, X, t, u, t\u00fc, j. Bei einer hinterher vorgenommenen Probe mit Yorschreiben dieser Buchstaben fehlten ihm noch i), \u00d6, so dafs diese aus der Reihe der festsitzenden ausscheiden. Stellen wir diese Reihe unter die im September gewonnene:\n6.\tSeptember:\tf, g, i,\tm,\tr,\tlt,\ttu; zweifelhaft: c, n, jj.\n31.\tDecember:\ta, b, f,\ti,\tf,\tI,\tm, n, o,r,t, n, t\u00fc, y, zweifelhaft: \u00efpb.\nKonstant geblieben war die Lesef\u00e4higkeit also in Bezug auf f, \\r m, X, U, i\u00f6. Verloren gegangen ist die Lesef\u00e4higkeit f\u00fcr g, c. Wiedergekehrt, bezw. hinzugelernt sind: a, b, l, l, n, 0, t, j.\nNun wurde ihm aus diesen bekannten Buchstaben zusammengef\u00fcgt das Wort \u201eamt\". Nach langer M\u00fche liest er ,,amz\u201c , kann aber ganz gut a, m, t buchstabieren. Das Wort \u201ejimmt\"","page":313},{"file":"p0314.txt","language":"de","ocr_de":"314\nB. Sommer.\nbuchstabiert er richtig, kann\u2019s aber nicht lesen, er sagt nach vieler M\u00fche \u201eamts\u201c, dann \u201emm\u201c, und ist dauernd unf\u00e4hig, es zusammenzubringen.\nEs zeigte sich also die gleiche Erscheinung, wie am 6. September. Auch diesmal reichte das Buchstabieren und das Lautged\u00e4chtnis zum Wortelesen nicht aus.\nYon kleinen lateinischen Buchstaben las er am 31. December bei der ersten Probe, bei der wiederum die Reihe des Alphabets ver\u00e4ndert\twurde, folgende: a,\tb,\tc, d,\tf\\ i, m,\tn,\to, r,\tw,\tx,\ty.\nBei einer\tdarauf folgenden versagte er\tvon diesen Buchstaben\nnoch bei d, f\\ o, w. Also Befund am\n6. September: a, b,\tc,\tf, i,\tm, n, r,\tx,\tw.\n31. December: a, b,\tc,\ti, m,\tn, r, x,\ty.\nZweifelhaft d, f, o, w. Verloren gegangen ist also von kleinen lateinischen Buchstaben kein weiterer, nur sind f, w zweifelhaft geworden. Hinzugelernt ist nur y, sowie halbsicher d und o. Diese \u00dcbereinstimmung ist erst viel sp\u00e4ter bei dem Vergleich der Protokolle von mir bemerkt worden, so dafs mir ein Irrtum durch Autosuggestion des Beobachtenden und daraus resultierende Beeinflussung des Untersuchten ausgeschlossen erscheint.\nVon grofsen lateinischen Buchstaben wurden erkannt: 31. December: A, C, D, F, H, I, L, M, O, S, U, X. (Vergessen vorzulegen wurden T, W, Z.) Zweifelhaft erwiesen sich B und P. Am 6. September: F, H, K, L, M, N, S, \u00fc, W. Geblieben sind also F, H, L, M, S, U; verloren gegangen ist K, N, (W wurde nicht gepr\u00fcft) ; hinzugekommen ist A, ferner B mit halber Sicherheit, ferner C, D, I, L, 0, X.\nUm den Eifer zu kennzeichnen, mit dem H. sich zu lesen bem\u00fcht, citiere ich hier einige von seinen Zwischenrufen, die er ausst\u00f6fst, wenn es schlecht geht: \u201eWarum bin ich denn so sehr dumm;\u201c \u2014 \u00bbhd1 wollt, ich war derjenige, was Sie meinen, wer ich bin, ich bin\u2019s aber nicht.\u201c (D. h., ich w\u00fcnschte, ich h\u00e4tte so viel Lesef\u00e4higkeit, als Sie anzunehmen scheinen;) \u2014 \u201eHeiliger Gott und Herr, ich dummer Kerl!\u201c \u2014 Oft ruft er eifrig: \u201eIst\u2019s so; stimmt\u2019s? gelt! es ist richtig?\u201c -\u2014- Manchmal schl\u00e4gt er w\u00fctend auf den Tisch, wenn es gar nicht geht. Besonders flicht er Verw\u00fcnschungen gegen seinen Arzt ein, der ihn falsch behandelt habe. \u201eMan meint gar nicht, dafs ein alter Mensch so dumm sein kann, der Kerl ist schuld.\u201c","page":314},{"file":"p0315.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der cerebralen Schreib- und Lesest\u00f6rungen.\n315\nYon grofsen deutschen Buchstaben, die zuletzt gepr\u00fcft wurden, als sich seine Aufregung noch gesteigert hatte, erkannte er \u00a7, 3/ ft, 2, 9k, 95, @, U. (Ich vermisse in meinem Protokoll Proben \u00fcber 0, i\u00df, 0, X, 33, SB, g), $.)\nAlso Befund am 6. September: X>, @, 2, 9k,0,95, <3, X. Zweifelhaft: 33, $, ft. 31. December: Sicher X, \u00a7, 3, ft, 2, 9k, 9\u00ee, @, U. Unver\u00e4ndert geblieben ist der Zustand in Bezug auf\u00ae, 2, 9k, 95, 3, (0 wurde nicht gepr\u00fcft). Verloren gegangen ist das am 6. September zweifelhafte 33, ferner (S, festgeworden sind die fr\u00fcher zweifelhaften Buchstaben \u00a7, ft, hinzugekommen ist 3 und U.\nDiese Pr\u00fcfungen ergaben also beim Vergleich der Protokolle \u00fcberraschend gleiche Resultate. Im allgemeinen ist der Bestand vom 6. September erhalten und einiges hinzugelernt, bezw. zur\u00fcckgekehrt. Wieweit dies den Buchstabenlese\u00fcbungen, welche H. in den ersten Tagen unter Beih\u00fclfe eines Sohnes gemacht hat, zuzuschreiben ist, was im gewissen Sinne ein erzieherischtherapeutischer Erfolg w\u00e4re, lasse ich dahingestellt.\nWiederum wurden ihm nun aus den ihm bekannten Buchstaben Worte zusammengestellt. Er liest f\u00fcr \u00cf), et, n, t: \u201e2Imt\u00a7\", sodann erst \u201epaitb\", obgleich er es gut buchstabieren kann. Ebenso liest er f\u00fcr \u201ematt\" nach vieler M\u00fche \u201emattb\", bringt allerdings nach einer halben Minute richtig \u201ematt\" heraus, welches Wort er in seiner Bedeutung sofort versteht. \u2014 Auf Diktat schreibt er f\u00fcr den Laut a: \u201ea\", f\u00fcr 6: \u201eb\", (c findet sich im Protokoll nicht). F\u00fcr d: b (wobei er jedoch zweifelhaft ist) ; e fehlt im Protokoll, f\u00fcr f ein sonderbares Zeichen, welches wie ein r mit einem langen Ausl\u00e4ufer nach unten von dem Schlufsh\u00e4kchen aus versehen ist, f\u00fcr#: vacat; (h fehlt im Protokoll), f\u00fcr i den am 6. September schon aufgetauchten unverst\u00e4ndlichen Haken, f\u00fcr k ebenfalls, f\u00fcr K: \u201eb\", f\u00fcr m wieder den Haken, f\u00fcr n: \u201e33\", f\u00fcr 0 den Haken, f\u00fcr p: \u201e33\", f\u00fcr qu etwas, das etwa wie p aussieht und eine \u00fcberraschende \u00c4hnlichkeit mit dem am 6, September f\u00fcr u gemalten Zeichen hat, f\u00fcr r: vacat, f\u00fcr s den stereotypen Haken, f\u00fcr t: \u201eb\"; (u fehlt im Protokoll), f\u00fcr v. vacat (w bis y fehlt im Protokoll), f\u00fcr Z: \u201es\u201c.\nAlso es wurden diesmal dictando folgende Laute mit Zeichen dargestellt: a, i, d, z. Es fehlt die Notiz \u00fcber die Pr\u00fcfung, bezw. diese selbst \u2014 betreffend : c, e, h, u, w, x, y.\nAm 6. September konnte er beim Dictandoschreiben durch","page":315},{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316\nB. Sommer.\nBuchstaben ausdr\u00fccken die Laute: a, b, c, d, g, h, ni, n, r, v, z. Sieber verloren gegangen ist also die graphische Ausdrucksf\u00e4higkeit f\u00fcr die Laute g, m, n, r, v. W\u00e4hrend also in Bezug auf das Buchstabenlesen ein Fortschritt zu konstatieren war, zeigt das Diktatschreiben von Buchstaben noch gr\u00f6fsere L\u00fccken, als am 6. September. Gar keinen oder einen ganz falschen Ausdruck zeigt Hebling am 31. December f\u00fcr die Laute f\\ g, i, k, l, m, \u00bb, o, p, gu, r, s, t, v. Es standen ihm hierf\u00fcr weder kleine noch grofse, weder deutsche noch lateinische Buchstabenzeichen zur Verf\u00fcgung, w\u00e4hrend er von diesen graphisch nicht producierbaren Buchstabenbildern folgende lesen konnte: f, (F) ; i (i, J), I, (St); 1 (L, \u00a3); nt (m M, 9J\u00ce); n (\u00bb); o; r (r, 91); 8, (\u00a9); t; u (U, U).\nEs k\u00f6nnen also in Bezug hierauf durch die Schriftzeichen zwar Laute, aber nicht durch Laute Schriftzeichen bei Hebling \u201eerregt\u201c werden.\nJedenfalls langte der Vorrat von Lauten, von denen Hebling zu Schriftzeichen \u00fcbergehen konnte, beim Denken von Worten nicht aus, um ein glattes Schreiben zu erm\u00f6glichen, wenn man annimmt, dafs zum Schreiben die succesive Vorstellung der einzelnen Teile eines Wortes notwendig ist. In der That konnte Hebling auch im allgemeinen weder dictando noch spontan Worte schreiben. Nichtsdestoweniger liefs sich zeigen, dafs er gewisse Fragen schriftlich beantworten konnte. Hebling schrieb auf die folgenden sechs Fragen die nachstehenden Antworten ganz tadellos nieder, ohne dann das Geschriebene buchstabieren zu k\u00f6nnen. Die Fragen lauteten: 1. Wie heifsen Sie? 2. Wie heilst der \u00e4lteste Sohn? 3. Wie heilst der zweite Sohn? 4. Woher sind Sie? 5. Wie ist der Name von Ihrem Pfarrer? 6. Wie heilst Ihr Bezirksamt?\n2.\n^ \u25a0","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der cerebralen Schreib- und Lesest\u00f6rungen.\n317\nAufgefordert, spontan niederzuschreiben, wie sein Leiden angegangen sei, ist er dazu nicht im st\u00e4nde, sagt, er k\u00f6nne nicht schreiben, schimpft \u00fcber den schlechten Doktor.\nJedenfalls geht aber aus obigen Proben hervor, dafs Hebling das Niedergeschriebene nicht buchstabierend geschrieben haben kann, denn dann h\u00e4tte er viel weniger zu st\u00e4nde bringen k\u00f6nnen, weil ihm ja die F\u00e4higkeit, mit Lauten Buchstabenzeichen schreibend zu verbinden, in hohem Grade verloren gegangen war.\nEs ist mir bisher nicht gelungen, den Mann zu erneuter Untersuchung zu bekommen, ich werde aber den Fall weiter im Auge behalten. Vorl\u00e4ufig will ich nur die S\u00e4tze formulieren, welche aus den bisherigen Beobachtungen hervorgehen, und will die Hauptstellen aus der zugeh\u00f6rigen Litteratur anziehen.\nL Es kann nach Auftreten eines apoplektischen Herdes in der linken Hemisph\u00e4re, der im vorliegenden Falle wahrscheinlich nach r\u00fcckw\u00e4rts vom mittleren Drittel des Gyrus centralis posterior liegt, partielle Buchstaben-Alexie entstehen.\nDer Hauptfall, der hier angezogen werden mufs, ist der von Professor Rieger in der Beschreibung der Intelligenzst\u00f6rungen infolge einer Hirnverletzung (W\u00fcrzburg 1889) beschriebene Sey-bold, bei dem R. neben der durch einen Eisenbahnunfall entstandenen Sch\u00e4delfraktur eine Herderkrankuug der linken Insel-","page":317},{"file":"p0318.txt","language":"de","ocr_de":"318\nR. Sommer.\ngegend annimmt (1. c., pag. 2). Hier sind bei einer viel gr\u00f6fseren Anzahl von Untersuchungen, als es mir im Fall Hebling m\u00f6glich war, stets gleichbleibende Defekte im Erkennen von Buchstaben nachgewiesen worden (cfr. pag. 45). Seybold erkannte nicht: 1. von kleinen deutschen Buchstaben: p, \u00a3, p, von kleinen lateinischen vorgeschriebenen Buchstaben: p, x, y, ferner d, h, k, v, von grofsen deutschen oder lateinischen Buchstaben: B, E, F, H, K, M, N, P, R, T, V, W, X, Y. Selbst, wenn man ihm die Namen der Buchstabenzeichen sagte, konnte er nicht identifi eieren.\nW\u00e4hrend die F\u00e4lle Hebling und Seybold in Bezug auf partielle Defekte und auch in Bezug auf das Vorhandensein einer Herderkrankung \u00fcbereinstimmen, zeigen sie eine sp\u00e4ter sub No. 3 zu erw\u00e4hnende Differenz in Bezug auf das Kombinieren von Buchstaben zu Worten.\n2.\tNeben denjenigen Buchstaben bildern, welche bleibend bekannt sind, und denen, welche bleibend unbekannt sind, werden einige Buchstaben bald erkannt, bald nicht erkannt. Dieser Wechsel der Funktionsf\u00e4higkeit ist verwandt mit der Erscheinung der Dyslexie, bei welcher eine Aufeinanderfolge von Lesef\u00e4higkeit und Unf\u00e4higkeit vorliegt. Nur ist im vorliegenden Falle dieser funktionelle Wechsel auf einzelne Buchstabenzeichen beschr\u00e4nkt, w\u00e4hrend bei der Dyslexie in der von Berlin beschriebenen Form die Buchstabenreihen, bezw. Worte zuerst erkannt, dann nicht erkannt werden.\n3.\tDie F\u00e4higkeit des Lesens l\u00e4fst sich nicht als Resultat aus dem Erkennen von Buchstaben und der F\u00e4higkeit, die Laute in Erinnerung zu halten, erkl\u00e4ren. Die Verbindung von Lautreihen zu Worten ist eine gesonderte Funktion. Ein \u201eWort\u201c ist schon deshalb nicht als \u201eLautreihe\u201c zu betrachten.\nHier m\u00f6chte ich aus der Litteratur hervorheben:\n1.\tStricker, Studien \u00fcber die Sprachvorstellungen. Pag. 34, Abschnitt 8 : \u201e\u00dcber die Art, wie sich im Sensorium aus Lauten Worte bilden.\u201c\n2.\tBerlin, Die Dyslexie. Letzte Seite.\n3.\tWeissenberg: Archiv f. Psychiatrie. XXIV. Pag. 414 bis 436.\n4.\tGrashey: \u00dcber Aphasie und ihre Beziehung zur Wahrnehmung. (Archiv f. Psychiatrie. 1885. Pag. 673.)","page":318},{"file":"p0319.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der cerebralen Schreib- und Lesest\u00f6rungen.\n319\n\u201eDer Kranke hat also die F\u00e4higkeit verloren, suc-cesive und in merklichen Zwischenr\u00e4umen entstehende Objektbilder, Klangbilder, Tastbilder und Symbole zu einem Ganzen zusammenzufassen und als Ganzes zu percipieren.\u201c Im Zusammenh\u00e4nge wird bei Grashey diese Unf\u00e4higkeit auf Ged\u00e4chtnisschw\u00e4che zur\u00fcckgef\u00fchrt. Der Fall Hebling beweist, dafs selbst bei wohlerhaltener 'Wahrnehmung und gutem Lautged\u00e4chtnis diese F\u00e4higkeit fehlen kann.\nIn Bezug auf das Kombinieren von Lauten zu Worten steht Hebling in einem scharfen Gegensatz zu dem Fall Seybold. Letzterer kann trotz seiner grofsen L\u00fccken im Buchstabenlesen \u00f6fter \u201elesen\u201c, weil er in einer \u00fcberraschenden Weise das Fehlende err\u00e4t. (Cfr. Rieger, 1. c., pag. 86: \u201eUnd zwar zeigte sich zu verschiedenen Malen, vor allem beim Lesen eines zusammenh\u00e4ngenden St\u00fcckes, dafs die besser erhaltene \u201eKombination\u201c h\u00e4ufig zu H\u00fclfe kam der verlorenen F\u00e4higkeit der unmittelbaren Umsetzung.\u201c)\n4.\tObgleich das Zusammenf\u00fcgen von Lautreihen zu Worten eine psychologisch gesonderte Funktion ist, ist das Postulat eines \u201eBuchstabenf\u00fcgungscentrums\u201c zu verwerfen. (Cfr. Weissen-berg 1. c., pag. 416.) Es ist principiell falsch, zu jeder psychischen Funktion ein Centrum, d. h. eine circumskripte Stelle im Gehirn zu suchen.\n5.\tVielleicht beruht das Zusammenf\u00fcgen von auswendig gelernten Lautreihen, welches bei Hebling so stark gest\u00f6rt ist, auf der F\u00e4higkeit, die Laute mit so grofser Geschwindigkeit hintereinander zu denken, dafs sie zu einem Wort verschmelzen. Diese F\u00e4higkeit w\u00e4re aber jedenfalls von dem successiven Entstehen und blofsen Behalten von Lautreihen, von der F\u00e4higkeit, zu buchstabieren mit akustischem Ged\u00e4chtnis, etwas ganz Verschiedenes. (Cfr. Grashey, 1. c., pag. 673.) \u201eWir k\u00f6nnen das Klangbild eines Wortes nur dann vollst\u00e4ndig auffassen, wenn der erste Teil des Klangbildes so lange im Bewufstsein bleibt, bis die folgenden Teile der Reihe nach ins Bewufstsein gelangt sind.\u201c\n6.\tBei partieller Buchstaben-Alexie kommt es vor, dafs diejenigen Buchstaben, welche erkannt, d. h. mit Lauten genannt werden k\u00f6nnen, beim Vorsprechen der gleichen Laute nicht geschrieben werden k\u00f6nnen.","page":319},{"file":"p0320.txt","language":"de","ocr_de":"320\nJR. Sommer.\n7. Andererseits k\u00f6nnen beim Diktatschreiben Schriftbilder produciert werden, welche beim Lesen nicht erkannt worden sind. Es k\u00f6nnen ferner bei fast v\u00f6lliger Unf\u00e4higkeit, zu vorgesprochenen Lauten Buchstabenzeichen zu producieren, gewisse zusammenh\u00e4ngende Worte geschrieben werden. Dieses beweist, dafs zum Schreiben das Vorhandensein der den einzelnen producierten Buchstaben entsprechenden Laute im Bewufstsein des Schreibenden nicht unbedingt in allen F\u00e4llen notwendig ist. Hier liegt die \u00c4hnlichkeit mit dem Fall Voit, in dem ebenfalls geschrieben wird, ohne dafs die Vorstellung von Sprach-kl\u00e4ngen die zum Schreiben notwendigen Innervationen ausl\u00f6st. Der Unterschied liegt darin, dafs bei Hebling, abgesehen von seltenen F\u00e4llen, die innere Wortfindung normal vor sich geht, so dafs also bei ihm in den mitgeteilten Proben durch die bei den Fragen erweckten Vorstellungen gleichzeitig Worte und Schreibbewegungen ausgel\u00f6st werden, ohne dafs die Worte in urs\u00e4chlichem Verh\u00e4ltnis zur Produktion der Schreibbewegungen st\u00fcnden. Bei Voit entstehen die Sprachkl\u00e4nge durch Schreibbewegungen, bei Hebling gleichzeitig mit Schreibbewegungen.1\nWie sehr dieselben in Deutschland herrschend waren, w\u00e4re aus meiner Kritik der massenhaften Litteratur hier\u00fcber ersichtlich gewesen, wenn ich diese nicht einfach, um den Fall m\u00f6glichst f\u00fcr sich hinzustellen, schliefslich weggestrichen h\u00e4tte.\nGegen die pag. 52 befindliche Bemerkung, dafs ich die F\u00e4lle der Moteurs graphiques vernachl\u00e4ssige, bemerke ich nochmals, dafs diese gar nicht hierher geh\u00f6ren, weil es sich bei V. nicht um gleichzeitige Komponenten eines Wortbegriffs und Pr\u00e4valenz der einen, sondern um\n1 Hier habe ich Gelegenheit, auf Prof. Picks Bemerkungen \u00fcber meinen Aufsatz \u201eZur Psychologie der Sprache\u201c (cfr. diese Zeitschrift Band 1892, pag. 48) zu antworten. Voit fand die Laute des Namens durch Schreibbewegungen. Die pag. 49 von P. angezogenen, mir l\u00e4ngst bekannten franz\u00f6sischen Lehren (cfr. Sieger, Beschreibung der Intelligenzst\u00f6rungen etc., pag. 116) \u00fcber die individuellen Verschiedenheiten in der Pr\u00e4valenz einer oder der anderen Komponente des Wortbegriffes bringen nichts zur Erkl\u00e4rung des Falles bei, weil es sich bei Voit nicht um gleichzeitiges Bestehen, sondern um das Entstehen von Lauten durch Bewegungsimpulse handelt. \u2014 In dem pag. 50 citierten Falle handelt es sich nur um zeitliches Hintereinander (\u00e4hnlich, wie es sich im Fall Hebling um zeitliches Nebeneinander handelt) ohne nachweisliche Kausalit\u00e4t. Durch Zusammenwerfen mit dem Fall von Charcot (pag. 51) wird das Eigent\u00fcmliche Voits ganz verwischt.\nCharcots Kranker las schreibend, d. h. er fand zu ihm vorgelegten Buchstabenzeichen durch faktisches oder innerliches Nachzeichnen dieser","page":320},{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Theorie der cerebralen Schreib- und Lesest\u00f6rungen.\t321\ndas Entstehen von Lauten durch Bewegungsimpulse handelt. Dasselbe gilt f\u00fcr die Suppl\u00e9ance fonctionelle. Stellvertretung und Hervorrufen des Fehlenden durch ein anderes psychisches Moment sind zweierlei. Professor Pick spricht von einer Deutung, die er den That-sachen gegeben hat. Diese \u201eDeutung\u201c besteht darin, dafs er pag. 53 als psychische Voraussetzung der gewollten Schreibbewegungen \u201egraphische Bewegungsvorstellungen\u201c annimmt, was f\u00fcr jeden, der Stricker studiert hat, absolut selbstverst\u00e4ndlich erscheint.\nPag. 53 macht Pick, um die Zugeh\u00f6rigkeit der von ihm eingezogenen F\u00e4lle von \u201eschreibend Lesen\u201c zu beweisen, implicite folgende Parallele: Wie bei den \u201eschreibend Lesenden\u201c zu Schriftzeichen durch Bewegungsempfindungen Laute, so werden bei Voit zu Gegenst\u00e4nden durch Schreibbewegungsempfindungen Namen gefunden. Pick st\u00fctzt sich hierbei auf die Lokalisation von Schriftbildern und Gegenstandsvorstellungen in einem einheitlichen optischen Gentrum. \u201eEs f\u00e4llt jedoch dieser Einwand, wenn wir mit Wernicke kein besonderes Centrum f\u00fcr das Lesen innerhalb der optischen Kindenendigung annehmen, wof\u00fcr keinerlei zwingende Thatsachen vorliegen, wir vielmehr die Buchstaben und Objektbilder einander gleichstellen.\u201c Diese Gleichstellung ist unhaltbar. Vermutlich wird Professor Pick durch meine diesmaligen Mitteilungen veranlafst werden, ein Lesecentrum zu postulieren, da ja nachweislich f\u00fcr einige Buchstabenzeichen total die Erinnerungsbilder verloren gegangen sind.\nIch selbst postuliere kein Lesecentrum, sondern stelle vorl\u00e4ufig nur Thatsachen \u00fcber isolierte L\u00fccken im Buchstabenverst\u00e4ndnis fest, behaupte ferner, dafs es psychologisch etwas v\u00f6llig anderes ist, wenn ich zu Schriftbildern, welche ja durch Schreibbewegungen zu st\u00e4nde kommen, durch Schreibbewegungen Laute finden, als wenn Voit zu Gegenstandsvorstellungen, welche als solche zun\u00e4chst gar nichts mit Schreibbewegungen zu thun haben, die Namen schreibend findet. Ich behaupte also, dafs von einer v\u00f6lligen Gleichstellung von Schriftzeichen und Objektbildern in Bezug auf Schreibbewegungen, besonders von einer Lokalisation im gleichen Centrum, gar nicht die Rede sein kann. Dadurch wird die Parallele Picks hinf\u00e4llig. Die Thatsache, dafs gewisse Menschen\ndie Laute. Hier handelt es sich also um ein Schreiben nach Vorlage oder um das Abzeichnen eines durch die Vorlage erregten Buchstabenbildes. Bei Voit dagegen wird nachweislich ohne ein solches inneres Buchstabenbild geschrieben. In meinem Aufsatz ist gerade auf diese Art des Schreibens ohne akustische und optische Vorstellungen das Hauptgewicht gelegt. Immerhin pafst dieser Fall wenigstens in den erweiterten Rahmen, den ich dem Problem in der Schlufsfrage gegeben habe. \u2014 Meine Schilderung der gew\u00f6hnten Anschauungen \u00fcber den Sprachvorgang, die ich dort skizziert hatte, bezogen sich wesentlich auf die in der GRASHEYSchen Abhandlung vertretenen Anschauungen, die trotz Prof. Picks mich zu erg\u00e4nzen bestimmter Kasuistik in Deutschland bisher entschieden die herrschenden gewesen sind und erst neuerdings (cfr. L\u00f6wenfeld, Deutsche Zeitschrift f\u00fcr Nervenheilkunde 1891) Anfechtung erfahren haben.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie V.\n21","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322\nB. Sommer.\nschreibend lesen, ber\u00fchrt also das Wesen des Falles Voit nicht. Am Schl\u00fcsse weist P. meine \u201eAusf\u00e4lle gegen die Lehre von der Lokalisation\u201c mit dem bekannten Satz zur\u00fcck, dafs die Entscheidung in dieser Frage nicht durch psychologische Er\u00f6rterungen, sondern in der Klinik und am Sektionstisch erfolgen wird. Es w\u00e4re gut, wenn an letzteren Orten weniger theoretisiert, als beobachtet w\u00fcrde. Die Klinik und der Sektionstisch bieten That Sachen, keine Theorien. Thatsache ist, dafs nach isolierten psychischen Ausfallserscheinungen oft Herderkrankungen gefunden werden. Dafs Vorstellungen oder Erinnerungsbilder in den zerst\u00f6rten Zellen \u201egesessen\u201c haben, ist die daran angekn\u00fcpfte Theorie oder vielmehr eine dem handgreiflichen Wesen der praktischen Medicin angepafste Bildersprache. Hiermit glaube ich Picks Irrtum, wonach ich gegen Beobachtungen streite, beseitigt zu haben.\nMeine Anschauung, wonach das Gehirn seiner ganzen Natur nach nur ein motorischer Apparat, eine Bewegungsmaschine ist und nur dies sein kann, will ich niemandem aufdr\u00e4ngen. Sie hat ebensoviel oder so wenig Berechtigung als die Anschauung, dafs Vorstellungen in Zellen sitzen ; nur ist sie konsequenter im Sinne einer atomistischen Naturerkenntnis, als die Vermengung von psychologischen und physikalischen Begriffen in der theoretischen Umgestaltung von Beobachtungen, wonach \u201eVorstellungen in Zellen sitzen\u201c. \u2014 Im \u00fcbrigen danke ich Herrn Prof. Pick, weil er versucht hat, meine Behauptungen zu unterst\u00fctzen.","page":322}],"identifier":"lit15287","issued":"1893","language":"de","pages":"305-322","startpages":"305","title":"Zur Theorie der cerebralen Schreib- und Lesest\u00f6rungen","type":"Journal Article","volume":"5"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:26:58.292449+00:00"}