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{"created":"2022-01-31T14:43:15.486603+00:00","id":"lit15402","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Helmholtz, Hermann von","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 7: 81-96","fulltext":[{"file":"p0081.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber den Ursprung\nder richtigen Deutung unserer Sinneseindr\u00fccke.\nVon\nH. yon Helmholtz.\nDie \u00e4lteren Philosophen und Psychologen waren durchaus geneigt, alles, was in unseren sinnlichen Wahrnehmungsbildern ohne Nachdenken, ohne Besinnen augenblicklich und bei allen Individuen in gleicher Weise zu Stande kommt, unter den Begriff der Perception einzureihen und es als ein unmittelbares Product der organischen Einrichtungen des Nervensystems aufzufassen, dagegen die m\u00f6gliche Mitwirkung auch sogenannter niedriger psychischer Processe, wie z. B. des Ged\u00e4chtnisses und des Erinnerungsverm\u00f6gens, dabei g\u00e4nzlich zu vernachl\u00e4ssigen.\nDafs aber in der That die Vorstellung von der normalen Bedeutung oft wiederholter Perceptionen mit unab\u00e4nderlicher Sicherheit, blitzschnell und ohne das geringste Besinnen zu Stande kommen kann, daf\u00fcr bietet das Verst\u00e4ndnifs der Muttersprache ein lehrreiches Beispiel. Angeboren ist uns diese Kenntnifs nicht; wir haben auch unsere Muttersprache zweifellos gelernt, und zwar durch den Gebrauch, also durch h\u00e4ufig wiederholte Erfahrung. Kinder unserer Nation, die jenseits der Grenze unseres Vaterlandes geboren worden und unter fremdsprachigen Menschen aufgewachsen w\u00e4ren, w\u00fcrden eine andere Sprache erlernt haben und darin ebenso sicher geworden sein, wie wir in der unserigen. Dabei ist eine ausgebildete Sprache einer \u25a0civilisirten Nation ein so reich entwickeltes Ausdrucksmittel der vielf\u00e4ltigsten und feinsten Schattirungen des Gedankens, dafs sie in dieser Beziehung sehr wohl mit dem Reichthum der k\u00f6rperlichen Formen der uns umgebenden Naturgebilde verglichen werden kann.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie VII.\n6","page":81},{"file":"p0082.txt","language":"de","ocr_de":"82\nH. von Helmholtz.\nDas Beispiel der Sprache ist auch in anderer Beziehung lehrreich, weil es uns Aufschlufs gieht \u00fcber die Frage, wie solch sicheres und \u00fcbereinstimmendes Verst\u00e4ndnifs eines Systems von Zeichen zu gewinnen ist, welches dem individuellen Beobachter gegen\u00fcber nur wie ein ganz willk\u00fcrlich gew\u00e4hltes wirken kann, wenn auch der vergleichende Philolog Spuren des Zusammenhanges einzelner Wurzeln darin zu erkennen weifs. Die Muttersprache wird nur an dem Gebrauch der Worte gelernt. Das Kind h\u00f6rt immer wieder den normalen Namen eines Gegenstandes aussprechen, wenn ihm dieser gezeigt oder gereicht wird, und h\u00f6rt immer wieder die gleiche Ver\u00e4nderung der ihm sichtbaren Aufsenwelt mit dem gleichen Wort bezeichnen. Dadurch heftet sich in seinem Ged\u00e4chtnifs das Wort an die Sache, desto \u00f6fter und desto fester, je h\u00e4ufiger beide sich wiederholen. Die Wiederholung braucht aber nicht genau in allen Einzelheiten gleich zu sein, sondern der gleiche Namen kann sich auch an eine Klasse unter einander \u00e4hnlicher Gegenst\u00e4nde heften oder an eine Klasse \u00e4hnlicher Vorg\u00e4nge. Dadurch entwickeln sich dann Namen f\u00fcr den Begriff einer Klasse von Anschauungsbildern, wobei der Umfang, in welchem der Name f\u00fcr verschiedene Modificationen derselben gebraucht zu werden pflegt, sich ebenfalls nur durch den Gebrauch der Sprache feststellt und nur ausnahmsweise durch eine begriffliche Definition unterst\u00fczt wird.\nBei diesem Vorg\u00e4nge, den wir aus allt\u00e4glicher Erfahrung kennen und der sich \u00e4hnlich f\u00fcr das Verst\u00e4ndnifs des Wortschatzes jeder fremden Sprache, die wir sp\u00e4ter erlernen, wiederholt, ist zun\u00e4chst bekannt, dafs die Bedeutung jedes Wortes sich desto fester einpr\u00e4gt, je \u00f6fter wir es anwenden oder anwenden h\u00f6ren; ferner, dafs wir anfangs zwar noch die einzelnen F\u00e4lle, wo wir es haben anwenden h\u00f6ren, im Ged\u00e4chtnifs behalten. Sp\u00e4ter dagegen, wenn die Zahl dieser F\u00e4lle zu grofs geworden ist, als dafs wir sie alle einzeln mit den Nebenumst\u00e4nden und in der Zeitfolge, mit und in denen sie eingetreten sind, aus unserer Erinnerung tins aufz\u00e4hlen k\u00f6nnten, bleibt uns nur das Gesammtergebnifs unserer bisherigen Erfahrungen stehen, dafs das bestimmte Wort diese bestimmte Beihe einander \u00e4hnlicher Gegenst\u00e4nde oder einander \u00e4hnlicher Vorg\u00e4nge zu bedeuten pflegt; aber wir wissen nicht mehr anzugeben, bei welchen einzelnen Gelegenheiten wir zu dieser","page":82},{"file":"p0083.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber den Ursprung der richtigen Deutung unserer Sinneseindr\u00fccke. 83\nKenntnifs gekommen sind, auch nicht, warum wir es f\u00fcr die eine Modification des Begriffes gebrauchen, bei einer anderen aber Anstand nehmen, dies zu thun.\nIch schliefse aus diesen Beobachtungen, dafs wir durch h\u00e4ufige Wiederholung gleichartiger Erfahrungen dazu gelangen k\u00f6nnen, eine regelm\u00e4fsig immer wieder ein tretende Verbindung zwischen zwei verschiedenen Perception en, beziehlich Vorstellungen, z. B. zwischen dem Klang eines Wortes und sichtbaren oder f\u00fchlbaren Anschauungsbildern, herzustellen und immer fester zu machen, die urspr\u00fcnglich gar keinen nat\u00fcrlichen Zusammenhang zu haben brauchen, und dafs, wenn dies geschehen ist, wir gar nicht mehr im Einzelnen anzugeben wissen, wie wir zu dieser Kenntnifs gekommen sind, und auf welche einzelne Beobachtungen sie sich st\u00fctzt.\nSchliefslich finden wir, dafs wir nicht nur f\u00fcr unsere Muttersprache, sondern auch f\u00fcr gut erlernte fremde Sprachen einen Grad des Verst\u00e4ndnisses erreichen k\u00f6nnen, bei dem wir ohne Nachsinnen und \u00dcberlegung im Augenblick den Sinn dessen verstehen, was der mit uns Sprechende uns mittheilen will, und dafs wir im Stande sind, den feinsten und mannigfaltigsten Modificationen seines Gedankens und seiner Empfindung dabei zu folgen. Wenn wir aber sagen sollen, wie wir zu dieser Kenntnifs gekommen sind, so k\u00f6nnen wir dies nur in der Eorm des allgemeinen Satzes aussprechen, dafs wir immer gefunden haben, dafs diese Worte in diesem Sinne gebraucht wurden.\nWir kennen es aber als eine allgemeine Kegel der Wirkungsweise unseres Ged\u00e4chtnisses, dafs sehr oft in gleicher Weise wiederholte und immer in derselben Art der Verbindung zusammengeschlossene Eindr\u00fccke unter \u00fcbrigens gleichen Bedingungen eine viel dauerndere Spur ihrer selbst und ihrer Verbindung in uns hinterlassen und viel sicherer und schneller in dieser Verbindung wieder in das Bewufstsein treten, als solche, welche uns nur in zuf\u00e4lligen und wechselnden Verbindungen vorgekommen sind.\nDieselbe Regel best\u00e4tigt sich auch in einer aufserordentlich grofsen Zahl anderer F\u00e4lle. Am ausnahmslosesten wird eine Verbindung zweier Beobachtungsthatsachen sich immer wiederholen, wenn dieselbe durch ein Naturgesetz gefordert wird, welches entweder die Gleichzeitigkeit oder die regelm\u00e4fsige\n6*","page":83},{"file":"p0084.txt","language":"de","ocr_de":"84\nH. von Helmholtz.\nAufeinanderfolge derselben in bestimmter Frist verlangt. Durch einen gesetzlosen Zufall dagegen herbeigef\u00fchrte F\u00e4lle von Gleichzeitigkeit oder Aufeinanderfolge werden sich zwar auch gelegentlich wiederholen k\u00f6nnen, aber nicht ausnahmslos ; dazwischen werden sich F\u00e4lle mit anderem, und selbst solche mit entgegengesetztem Erfolge einmischen, welche dann dem aus-schliefslichen \u00dcbergewicht der einen Verbindung entgegenwirken und verhindern, dafs die wechselnden Zuf\u00e4lligkeiten derselben oder \u00fcberhaupt, was in der wechselnden Erscheinungsweise des Vorganges nicht Ausdruck einer bestimmten Gesetz-m\u00e4fsigkeit ist, sich ebenso sicher und unab\u00e4nderlich festsetzen k\u00f6nne, wie das Gesetzm\u00e4fsige.\nWenn wir eine Sprache lernen, so ist das, was uns darin als gesetzm\u00e4fsig entgegentritt, nur eine von Menschen gew\u00e4hlte und eingehaltene Regel, der wir nicht einmal die Festigkeit und Unab\u00e4nderlichkeit eines Naturgesetzes zuerkennen k\u00f6nnen. Dazu kommt, dafs die Zeichen f\u00fcr sehr \u00e4hnliche Objecte durchaus nicht nothwendig selbst einander \u00e4hnlich zu sein brauchen. Im Gegentheil zeigen sie meist ganz unregelm\u00e4fsige, sprungweise auftretende Verschiedenheiten. Wir d\u00fcrfen uns also nicht wundern, wenn wir unter der Einwirkung aufser-ordentlich viel zahlreicherer und unter sich ausnahmslos \u00fcbereinstimmender Beobachtungen \u00fcber das Verhalten der Naturk\u00f6rper gegen einander und gegen unsere Sinnes- und Bewegungsorgane zu einer viel vollst\u00e4ndigeren Kenntnifs des normalen Verhaltens dieser K\u00f6rper und ihrer Erscheinungsweise in verschiedenen Lagen und bei verschiedenen Bewegungen kommen, als sie durch die Sprache wiedergegeben werden kann. F\u00fcr eine genaue Beschreibung der mannigfaltigen Sinneseindr\u00fccke, welche ein einziger Naturk\u00f6rper, namentlich bei etwas unregel-m\u00e4fsiger oder verwickelter Gestalt, dem Auge und der Hand darbietet, ist die Sprache viel zu arm; und eine Beschreibung eines solchen Eindruckes in Worten w\u00fcrde eine ungeheuer weitl\u00e4ufige und zeitraubende Arbeit sein, die wir offenbar nicht auszuf\u00fchren pflegen, wenn wir das Anschauungsbild eines solchen Objectes uns einpr\u00e4gen wollen. In diesen F\u00e4llen oder auch solchen, wo gar keine Wortbeschreibung m\u00f6glich ist, gen\u00fcgt uns der sinnliche Eindruck ohne Wortfassung, und wir wissen mit dessen H\u00fclfe sogar die feinsten Eindr\u00fccke, wie die von menschlichen Gesichtsz\u00fcgen, wieder zu erkennen,","page":84},{"file":"p0085.txt","language":"de","ocr_de":"Uber den Ursprung der richtigen Deutung unserer Sinneseindr\u00fccke. 85\ngelegentlich nach sehr kurzer Betrachtung und nach langer Zwischenzeit.\nIn solchen F\u00e4llen wird kein Zweifel dar\u00fcber sein k\u00f6nnen, dafs wir den sinnlichen Eindruck, den uns das Object gemacht hat, mit hinreichend viel Einzelheiten im G-ed\u00e4chtnifs behalten, lim noch l\u00e4ngere Zeit sp\u00e4ter eine bestimmte individuelle Physiognomie von der aller anderen Menschen sicher zu unterscheiden.\nWenn wir ein solches, nur durch sinnliche Eindr\u00fccke gegebenes Anschauungsbild eines bestimmten Objectes in uns tragen, pflegen wir dies als Kenntnifs des Objectes im Gegensatz zu dem in Worte zu fassenden Wissen zu bezeichnen. Eine solche Kenntnifs braucht sich nicht auf perspectivische Bilder des Objectes zu beschr\u00e4nken, sondern kann auch die Gesammtheit der perspectivischen Bilder umfassen und vereinigen, welche nach einander durch Betrachtung von verschiedenen Gesichtspunkten aus gewonnen werden k\u00f6nnen. In der That finden wir, dafs wir von wohlbekannten Gegenst\u00e4nden eine Vorstellung ihrer k\u00f6rperlichen Form in uns tragen, welche die Gesammtheit aller der einzelnen perspectivischen Bilder, die wir von verschiedenen Gesichtspunkten aus dahin blickend gewinnen k\u00f6nnen, vertritt. Denn mit der Kenntnifs der k\u00f6rperlichen Form des Objectes ausger\u00fcstet k\u00f6nnen wir uns die s\u00e4mmtlichen perspectivischen Bilder, die wir bei der Ansicht von dieser oder jener Seite zu erwarten haben, deutlich vorstellen, und in der That nehmen wir sogleich Anstofs, wo ein solches Bild unserer Erwartung nicht entspricht, wie es z. B. geschehen kann, wenn durch die \u00c4nderung der Lage des Gegenstandes eine \u00c4nderung seiner K\u00f6rperform eintritt. Man denke nur daran, wie aufserordentlich empfindlich ein aufmerksamer Beobachter gegen Zeichenfehler in Darstellungen von Menschen oder Pferden sich erweisen kann, oder gegen kleine Fehler perspectivischer Constructionen, welche regelm\u00e4\u00dfige architectonische Gebilde darstellen sollen. Ja, es kommen h\u00e4ufig genug F\u00e4lle vor, wo man eher einen kleinen Fehler in einer perspectivischen Zeichnung bemerkt, als einen gleich grofsen in dem Umrisse eines der Rechtecke, welche Theile der Zeichnung bilden, wenn eines derselben isolirt nach-construirt wird.\nIn der That ist die k\u00f6rperliche Form eines festen Objectes","page":85},{"file":"p0086.txt","language":"de","ocr_de":"86\nH. von Helmholtz.\neine Gr\u00f6fse, die viel mannigfaltigere constante Beziehungen zwischen ihren verschiedenen Theilen und Dimensionen dar-bietet, als jedes einzelne perspectivische Bild derselben, und aus der ersteren ist daher bei bekannter Lagen\u00e4nderung die \u00c4nderung jeder perspectivischen Ansicht sicher herzuleiten, weil dies unter dem Eindruck eines ganz festen, wenn auch r\u00e4umlichen Vorstellungsbildes geschehen kann, welches das constant bleibende Ergebnifs aller einzelnen Fl\u00e4chenansichten zusammenfafst, w\u00e4hrend eine einzige perspectivische Ansicht nicht die n\u00f6thigen Daten liefert, um eine ganz sichere und unzweideutige Vorstellung von der Form des Ganzen und seiner wechselnden Ansichten von anderen Seiten her zu gewinnen. Die auf die festere und einfachere Gesetzm\u00e4fsigkeit gest\u00fctzte Vorstellung erweist sich hier also auch als die, welche die sicherere Anschauung giebt.\nSehr augenf\u00e4llig tritt dieses Verh\u00e4ltnis bei der Betrachtung stereoskopischer Bilder hervor. Wenn man n\u00e4mlich ein Paar stereoskopische Bilder mit etwas verwickelter F\u00fchrung der Grenzlinien, z. B. eines regelm\u00e4fsigen Polyeders oder Krystall-modells, vor Augen hat, mifslingen die Versuche, das k\u00f6rperliche Bild aus den beiden Darstellungen zur Vereinigung zu bringen, \u2022 oft im Anfang dadurch, dafs die Blickpunkte der beiden Augen leicht auf nicht einander entsprechenden Linien fortgleiten und sich wieder trennen, bis man die richtige k\u00f6rperliche Vorstellung von dem dargestellten Object gewonnen hat. So wie diese gefunden ist, wandern die beiden Blicklinien mit der gr\u00f6fsten Sicherheit und Schnelligkeit \u00fcber alle Theile der Figuren hin. Hier bew\u00e4hrt sich also in der That die Gesammtauffassung der K\u00f6rperform gleich als die Regel f\u00fcr die Vorstellung, nach welcher man die beiden Blicklinien zu f\u00fchren hat, um fortdauernd auf correspondirenden Punkten beider Zeichnungen zu bleiben.\nIn welcher Weise solche Kenntnisse der Bedeutung der Gesichtsbilder von jungen menschlichen Kindern zuerst gesammelt werden, ergiebt sich leicht, wenn wir dieselben beobachten, w\u00e4hrend sie mit den ihnen als Spielzeug dargebotenen Objecten sich besch\u00e4ftigen, wie sie dieselben betasten, stundenlang von allen Seiten betrachten, herumwenden, sie in den Mund stecken u. s. w., endlich sie herunterwerfen oder zu zerschlagen suchen und dies jeden Tag wiederholen. Man","page":86},{"file":"p0087.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber den Ursprung der richtigen Deutung unserer Sinneseindr\u00fccke. 87\nwird nicht daran zweifeln k\u00f6nnen, dafs dies die Schule ist, in der sie das nat\u00fcrliche Verhalten der sie umgebenden Gegenst\u00e4nde kennen lernen, dabei auch die perspeetivischen Bilder verstehen, ihre H\u00e4nde gebrauchen lernen. Ebenso lehrt die Beobachtung j\u00fcngerer Kinder, dafs sie in den ersten \"Wochen ihres Lebens diese Kenntnisse noch nicht haben. Wenn ihnen irgend eine instinktm\u00e4fsige Kenntnifs angeboren w\u00e4re, so sollte man erwarten, dafs es in erster Linie die Kenntnifs des Bildes der Mutterbrust sein m\u00fcfste und die Kenntnifs derjenigen Bewegungen, durch welche sie sich diesem Gesichtsbilde zuwenden k\u00f6nnten. Aber eine solche Kenntnifs fehlt ganz offenbar. Man sieht, dafs das Kind lebhaft wird, wenn es in die Stellung f\u00fcr das S\u00e4ugen gebracht wird, und unruhig suchend den Kopf hin und her wendet, um die Brust zu finden, aber es wendet sich in den ersten Tagen ebenso oft von der Brust ab, wie ihr zu, obgleich es diese frei erblicken kann. Offenbar weifs es in diesem fr\u00fchen Alter weder das Gesichtsbild, noch die Richtung seiner Bewegungen zu deuten.\nEbenso oft sieht man, dafs ein Kind von ein oder zwei Wochen, dem man eine Kerzenflamme vorh\u00e4lt, unruhig wird und die Augen hin und her wendet, offenbar mit der Absicht, die helle Flamme anzustarren. Sobald es die richtige Stellung der Augen gefunden hat, folgt es langsameren Bewegungen der Flamme mit dem Blicke. Aber das Kind weifs im Anf\u00e4nge nicht, sicher mit dem Blick eine etwas seitlich im Gesichtsfelde befindliche Flamme zu erreichen. Nach zwei oder drei Wochen aber gelingt ihm dies verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig schnell; erst viel sp\u00e4ter gelingt das Greifen mit der Hand nach einem gesehenen Gegenst\u00e4nde.\nIch folgere daraus, dafs die Deutung auch einiger der einfachsten und f\u00fcr das menschliche Kind wichtigsten Gesichtsbilder von ihm erlernt werden mufs und nicht durch angeborene Organisation von vornherein ohne vorausgehende Erfahrung gegeben ist. Wie weit ein \u00e4hnlicher Schlufs auf neugeborene Thiere ausgedehnt werden darf, brauchen wir hier nicht zu entscheiden. Die Seelenth\u00e4tigkeiten der Thiere sind vielleicht durch ihre Instincte auf engere Wege beschr\u00e4nkt, die das Thier auf engerem Gebiete sicherer sich bewegen lassen, als es dem freier w\u00e4hlenden Menschen f\u00fcr seine sp\u00e4tere Entwickelung dienlich w\u00e4re..","page":87},{"file":"p0088.txt","language":"de","ocr_de":"88\nH. von Helmholtz.\nIch w\u00fcrde diese bisher angef\u00fchrten Verh\u00e4ltnisse nicht so ausf\u00fchrlich, wie ich gethan, besprochen haben, wenn mir nicht hierbei ein hartn\u00e4ckiges und sehr verbreitetes Vorurtheil entgegengetreten w\u00e4re, welches, wie mir scheint, seinen Ursprung von einer abweichenden Auffassung der Begriffe: Anschauen und Denken herleitet.\nDer Terminus \u201eDenken\u201c wird vorzugsweise auf diejenigen VorstellungsVerbindungen angewendet, bei denen der Vorstehende in bewufster Weise die einzelnen S\u00e4tze, aus denen der Schlufs gezogen werden kann, sich vergegenw\u00e4rtigt, auf ihre Zuverl\u00e4ssigkeit pr\u00fcft und dann zum Schlufs verbindet. Dagegen pflegt man als Anschauung eine solche Entstehung von Vorstellungen zu bezeichnen, bei denen in bewufster Weise nur der sinnliche Eindruck percipirt wird und danach die Vorstellung des Objects in das Bewufstsein springt, ohne dafs weitere Zwischenglieder des Vorstellungskreises zum Bewufstsein kommen. In der That kommt es wesentlich auf diesen Unterschied in dem klaren Bewufstwerden der Zwischens\u00e4tze an, wenn es sich darum handelt, die Logik im engeren Sinne aufzubauen, d. h. zu untersuchen, wie die Vorders\u00e4tze beschaffen sein m\u00fcssen, damit sie die Berechtigung zu einem bindenden Schl\u00fcsse ergeben. Bei dieser Aufgabe handelt es sich in der That darum, dafs alle Vorders\u00e4tze des Schlusses in vollst\u00e4ndig klarer Weise in das Bewufstsein erhoben und kritisch gepr\u00fcft werden, und solche Glieder der Vorstellungskette, die einer derartigen bewufsten Pr\u00fcfung nicht mehr zug\u00e4nglich sind, kommen f\u00fcr die logische Pr\u00fcfung nicht in Betracht, oder h\u00f6chstens als axiomatische Vorders\u00e4tze, die man auf Treu und Glauben aus dem Vorrath des Ged\u00e4chtnisses annimmt.\nAber es w\u00e4re offenbar falsch, behaupten zu wollen, dafs in unserem Bewufstsein keine Kenntnisse vork\u00e4men aufser denen, die aus sinnlichen Perceptionen auf dem Wege des logischen Denkens entstanden w\u00e4ren. Die oben erw\u00e4hnten Beispiele des Erlernens von Sprachen, von Fertigkeiten, vom wachsenden Verst\u00e4ndnifs der Gesichtsbilder zeigen in der That, dafs solche Kenntnisse ohne absichtliches Nachdenken gewonnen werden k\u00f6nnen, und dafs dieselben jeden Grad der Sicherheit und Feinheit erreichen k\u00f6nnen, ohne dafs die M\u00f6glichkeit \u00fcbrig bleibt, nachtr\u00e4glich die Richtigkeit einer solchen Induction durch die Erinnerung an die einzelnen F\u00e4lle zu pr\u00fcfen, wo und","page":88},{"file":"p0089.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber den Ursprung der richtigen Deutung unserer Sinneseindr\u00fccTce. 89\nzu welchen Zeiten man entsprechende Beobachtungen gemacht hat, Beobachtungen, die aufserdem zum grofsen Theil gar keine hinreichend specielle Beschreibung in Worten zulassen, sondern in voller Genauigkeit nur durch die Erinnerung an den fr\u00fcheren sinnlichen Eindruck wiedergegeben werden k\u00f6nnen.\nWir erkennen dadurch, dafs auch Ged\u00e4chtmifsbilder reiner sinnlicher Eindr\u00fccke als Elemente von Gedankenverbindungen benutzt werden k\u00f6nnen, ohne dafs es nothwendig oder auch nur m\u00f6glich ist, dieselben in Worten zu beschreiben und sie dadurch begriffsm\u00e4fsig zu fassen. Olfenbar kommt ein grofser Theil der empirischen Kenntnifs des nat\u00fcrlichen Verhaltens der uns umgebenden Objecte in dieser Weise zu Stande. F\u00fcr die Vorg\u00e4nge einer solchen, dem inneren Wesen eines Schlusses entsprechenden Vereinigung sinnlicher Anschauungen scheint mir die vorher besprochene Verschmelzung der vielen perspektivischen Ansichten eines Objects in die Vorstellung seiner K\u00f6rperform in drei Dimensionen ein besonders anschauliches Beispiel zu sein. In der That vertritt die lebhafte Vorstellung der k\u00f6rperlichen Form alle die erw\u00e4hnten perspektivischen Ansichten. Die letzteren lassen sich bei hinreichend lebendiger geometrischer Einbildungskraft aus ihr wieder herleiten. Ja selbst bisher noch nicht wahrgenommene Ansichten, wie sie bei der Anlegung von Querschnitten nach gewissen Sichtungen gewonnen werden k\u00f6nnten, sind als Folgerungen jener Vorstellung daraus ableitbar. Und andererseits, wenn wir nach dem wahren Inhalt der Vorstellung eines nach drei Dimensionen ausgedehnten K\u00f6rpers fragen, so ist doch keiner zu finden aufser den Vorstellungen von der Seihe der von ihm zu gewinnenden Gesichtsbilder, mit eventueller Vorstellung solcher, die durch Zerschneiden entstehen k\u00f6nnten.\nIn diesem Sinne k\u00f6nnen wir behaupten, die Vorstellung der stereometrisehen Form eines k\u00f6rperlichen Objects spielt ganz die Solle eines aus einer grofsen Seihe sinnlicher Anschauungsbilder zusammengefafsten Begriffs, der aber selbst nicht nothwendig durch in Worten ausdr\u00fcckbare Definitionen, wie sie der Geometer sich construiren k\u00f6nnte, sondern nur durch die lebendige Vorstellung des Gesetzes, nach dem seine perspektivischen Bilder einander folgen, zusammengehalten wird.\nDafs eine solche m\u00fchelose Anschauung der normalen Folge von gesetzlich verkn\u00fcpften Wahrnehmungen durch hinreichend","page":89},{"file":"p0090.txt","language":"de","ocr_de":"90\nH. von Helmholtz.\nreiche Erfahrung gewonnen werden kann, habe ich zu beweisen gesucht.\nSo sehen wir, dafs dieser Procefs, der in seinen wesentlichen Theilen, soweit wir erkennen k\u00f6nnen, nur durch unwillk\u00fcrliche und unbewufste Action unseres Ged\u00e4chtnisses vollzogen wird, dennoch im Stande ist, Vorstellungsverbin d\u00fcngen in uns hervorzubringen, deren Ergebnisse in allen wesentlichen Z\u00fcgen mit denen des bewufsten Denkens \u00fcbereinstimmen. Wie oben schon erw\u00e4hnt, st\u00e4rken sich gegenseitig die h\u00e4ufig in gleichartiger Weise wiederholten und sich in gleicher Weise folgenden Eindr\u00fccke, die wir durch unsere Sinne empfangen haben. Daneben m\u00fcssen die zuf\u00e4llig wechselnden zur\u00fccktreten und schliefslich der Regel nach verl\u00f6schen, wenn ihr Eindruck nicht durch besondere Affecte, die sich mit ihnen verbunden hatten, hervorgehoben und vertieft worden ist.\nWie schon oben hervorgehoben ist, werden mit der Zeit dadurch alle Theile der wahrgenommenen Erscheinungen verst\u00e4rkt werden m\u00fcssen, die der Einwirkung eines Naturgesetzes bei dem beobachteten Vorg\u00e4nge entsprechen. Die Vorstellung, dafs die in ihren Anf\u00e4ngen beobachtete Erscheinung nun auch in derselben Weise weiter verlaufen wird, wie wir es bisher immer percipirt haben, wird um so sicherer eintreten, je h\u00e4ufiger und ausnahmsloser wir gleichen Verlauf derselben schon fr\u00fcher wahrgenommen haben.\nEine solche Erwartung entspricht dem Resultat eines Inductionsschlusses. Ein solcher kann t\u00e4uschen, wenn er auf eine ungen\u00fcgende Zahl von beobachteten F\u00e4llen gest\u00fctzt ist. D\u00e0fs auch Thiere dergleichen Inductionsschl\u00fcsse ziehen, und zwar viel \u00f6fter falsche, als es bei den Menschen vorkommt, erkennt man an ihrem Verhalten oft genug, z. B. wenn sie zur\u00fcckschrecken vor irgend einem Gegenst\u00e4nde, der \u00e4hnlich aussieht, wie ein anderer, an dem sie sich bei einer fr\u00fcheren Gelegenheit verbrannt haben.\nIch habe fr\u00fcher1 diese Art von Inductionsschl\u00fcssen, welche auf die Kenntnifs des regelm\u00e4fsigen Verhaltens der uns umgebenden Naturobjecte gebaut sind, als unbewufste Schl\u00fcsse bezeichnet, und finde den Namen auch jetzt noch bis zu einer gewissen Grenze zul\u00e4ssig und bezeichnend, da diese Asso-\n1 In der ersten Auflage meines Handbuches der Physiol. Optik S. 430.","page":90},{"file":"p0091.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber dm Ursprung der richtigen Deutung unserer Sinneseindr\u00fccke. 91\nciationen von Wahrnehmungen im Ged\u00e4chtnifs in der That meistens so vor sich gehen, dafs man zur Zeit, wo sie entstehen, nicht auf ihr Entstehen aufmerkt, h\u00f6chstens in der Weise, dafs man sich erinnert, denselben Vorgang schon \u00f6fter beobachtet zu haben, ihn also als einen schon bekannten anerkennt. H\u00f6chstens bei den ersten Wiederholungen seltenerer Beobachtungen dieser Art wird die Erinnerung an die fr\u00fcheren F\u00e4lle mit ihren Nebenumst\u00e4nden deutlicher hervortreten k\u00f6nnen, so dafs der psychische Procefs hierbei eine gr\u00f6fsere Analogie mit bewufstem Denken gewinnen w\u00fcrde.\nInductionsschl\u00fcsse sind niemals so zuverl\u00e4ssig, wie wohl gepr\u00fcfte Schl\u00fcsse des bewufsten Denkens. Bewufstes wissenschaftliches Denken unterscheidet sich von der durch geh\u00e4ufte Erfahrung gesammelten Kenntnifs gewisser Gegenst\u00e4nde oder Vorg\u00e4nge dadurch, dafs bei jenem zun\u00e4chst eine m\u00f6glichst vollst\u00e4ndige \u00dcbersicht aller bei dem Urtheil in Betracht kommenden F\u00e4lle herbeizuschaffen versucht wird, sei es durch Sammlung schriftlicher Nachrichten oder durch Sammlung neuer Beobachtungen, eventuell absichtlich herbeigef\u00fchrter Beobachtungen, d. h. Versuche. Bei letzteren ist es rathsam, vorzugsweise solche F\u00e4lle aufzusuchen, die sich in den Vorbedingungen von allen bisher beobachteten anderen unterscheiden. Die dadurch erreichbare Vollst\u00e4ndigkeit in der Kenntnifs der mannigfaltigen Beispiele und der Bedingungen, unter denen sie so oder anders verlaufen, wird in der Regel durch die ungeordnete Zuf\u00e4lligkeit der allt\u00e4glichen Erfahrungen nicht erreicht werden, oder h\u00f6chstens bei solchen F\u00e4llen, die sich in ungeheurer Zahl von Wiederholungen und mit verh\u00e4ltnifs-m\u00e4fsig wenigen Ab\u00e4nderungen und Verwickelungen darbieten.\nFalschelnductionenbei der Deutung unserer Perceptionen pflegen wir als Sinnest\u00e4uschungen zu bezeichnen. Sie sind meist verursacht durch Unvollst\u00e4ndigkeit der Induction, deren h\u00e4ufigste Veranlassung darin zu suchen ist, dafs wir gewohnheits-m\u00e4fsig gewisse Arten des Gebrauches unserer Sinnesorgane bevorzugen, diejenigen n\u00e4mlich, wobei wir erkennen, dafs wir durch sie das sicherste und \u00fcbereinstimmendste Urtheil, beziehlich Sch\u00e4tzung \u00fcber die beobachteten Objecte, ihre Form, Raumverh\u00e4ltnisse und Beschaffenheit uns bilden k\u00f6nnen. So pflegen wir z. B. beim Sehen die Objecte, welche unsere Aufmerksamkeit erregen, auf den beiden Stellen des genauesten Sehens in","page":91},{"file":"p0092.txt","language":"de","ocr_de":"92\nH. von Helmholtz.\nbeiden Augen abzubilden, dabei aber die Reibe der hervor-tretenden Punkte und Linien, die das Object darbietet, mit dem Blick zu durchlaufen, wodurch wir sowohl die Reihe aller Einzelheiten kennen lernen, als auch das Auge gegen die Ausbildung st\u00f6render Nachbilder sch\u00fctzen. Es besteht eine ganze Reihe solcher Regelm\u00e4fsigkeiten in den Bewegungen des Auges, welche nicht auf einem zwingenden Mechanismus der Muskeln oder Nervenleitungen beruhen, sondern von jedem Beobachter, wenn er die entsprechenden abweichenden Innervationen zu geben gelernt hat, willk\u00fcrlich ge\u00e4ndert werden k\u00f6nnen.1 Dadurch l\u00e4fst sich erweisen, dafs die Einhaltung der normalen Regelm\u00e4fsigkeit der Bewegungen nur ein Ergebnifs der Gew\u00f6hnung ist, durchaus nicht ein durch die Organisation unseres K\u00f6rpers vorgebildeter Zwang. Allerdings ist sie sehr tief ge-wurzelt und nicht ganz leicht zu \u00fcberwinden. Die von der Norm abweichenden Bewegungen erfordern entschieden mehr Anstrengung und erm\u00fcden schneller. Das ist aber eine gemeinsame Eigenth\u00fcmlichkeit aller ungewohnten Bewegungen unserer Muskeln, weil dieselben meist durch unzweckm\u00e4fsige, einander entgegenwirkende und daher anstrengendere Innervationen hervorgebracht zu werden pflegen, als es die gewohnten und wohl einge\u00fcbten Bewegungen thun.\nBei ungewohnten Stellungen und Bewegungen unserer Sinnesorgane kommen nun auch entsprechende ungew\u00f6hnliche Perceptionen zu Stande, f\u00fcr welche wir keine einge\u00fcbte Kenntnifs ihrer Bedeutung haben. Dann entstehen also falsche Deutungen derselben, und zwar kann man im Allgemeinen die Regel aufstellen, dafs bei anomaler Stellung und Bewegung der Sinnesorgane Anschauungen entstehen von scheinbaren Objecten, wie sie vorhanden sein m\u00fcfsten, um bei derselben Blickrichtung unter normaler Beobachtungsweise dieselben Perceptionen hervorzubringen. Unter dieselbe Regel fallen auch die Anschauungen, welche sich bilden, wenn die Lichtstrahlen, ehe sie in das Auge fallen, von ihrem gradlinigen Wege abgelenkt werden, wie es durch Spiegelung und Brechung geschehen kann, nur dafs wir in diesem Palle die T\u00e4uschung eher als solche erkennen ; aber das Bild, was sich uns darbietet, ist immer das eines Gegenstandes oder einer scheinbaren Aus-\n1 S. mein Handbuch der Physiol. Optik, \u00a7 27.","page":92},{"file":"p0093.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber den Ursprung der richtigen Deutung unserer Sinneseindr\u00fcche. 98\nbreitung von Liebt im Gesichtsfelde, wie sie vorhanden :sein m\u00fcfste, um uns bei ungest\u00f6rtem gradlinigem Einfall des objec-tiven Lichtes in das Auge dieselben Gesichtsbilder zu geben.\nWas den Grad der T\u00e4uschung bei solchen Gelegenheiten betrifft, so kann derselbe sehr verschieden sein. Man denke z. B. an die Bilder, welche ein guter ebener Planspiegel zur\u00e4ck-wirft, der an der Wand h\u00e4ngt, so dafs man nicht dahinter sehen kann. Ein solcher giebt eine der vollkommensten optischen T\u00e4uschungen, die man sich denken kann, und doch werden selbst Thiere selten durch ein Spiegelbild zu einem Irrthum verleitet; Kinder blicken, wenn sie k\u00f6nnen, wohl einen Augenblick nach der Hinterseite des Spiegels und am\u00fcsiren sich an dem Bilde und seinen Bewegungen, aber begreifen verh\u00e4ltnifsm\u00e4fsig schnell, dafs es eine T\u00e4uschung sei, die nicht der Wirklichkeit entspricht, und lernen das Spiegelbild bald als ihr eigenes Abbild auffassen.\nUm die T\u00e4uschung kurze Zeit zu unterhalten, mufs man schon die B\u00e4nder des Spiegels gut verstecken und verhindern, dafs der Beobachter sich selbst gespiegelt sehe.\nDie meisten anderen Sinnest\u00e4uschungen werden gew\u00f6hnlich schnell als solche entdeckt, weil der Beobachter sich bewufst ist, eine ungew\u00f6hnliche Art der Beobachtung anzuwenden, von der aus er geneigt ist, in die normale, ihm gel\u00e4ufigere \u00fcfber-zugehen, in der die T\u00e4uschung schwindet und als solche erkannt wird. Nur wenn dazu keine Zeit ist, tritt wohl ein wirklicher Irrthum ein, der nicht schnell schwindet, z. B. bei den Lichtblitzen, die ein Stofs gegen das Auge erregt.\nDeshalb erscheinen die meisten Sinnest\u00e4uschungen nuir in der Weise, dafs man bemerkt, man habe ein der Wirklichkeit nicht ganz entsprechendes Bild vor sich, und dafs man nur dieses Bild vergleicht mit demjenigen, welches abge\u00e4ndierte Objecte bei richtigem Sehen geben w\u00fcrden. Die besondere Art dieses Bildes aber kann man nur beschreiben oder im eigenen Ged\u00e4chtnifs festhalten, indem man sich oder Andreren die Objekte beschreibt, welche da sein m\u00fcfsten, um dem :nor-malen Auge ein \u00e4hnliches Bild zu geben. Dann ist sogar die Form der Beschreibung: \u201eIch sehe das durch die T\u00e4uschung ver\u00e4nderte Object\u201c eine ganz richtige Beschreibung der Empfindung, die der Beobachter hat, und meistens wird er sich selbst bei geringer Erfahrung dabei ganz klar \u00fcber die T\u00e4uschung sein, die sich ihm darbietet.","page":93},{"file":"p0094.txt","language":"de","ocr_de":"94\nH. von Helmholtz.\nF\u00fcr alle subjectiven Erscheinungen, deren Ursache an einem bestimmten Ort im Augapfel haftet, ist die Bewegung des Ph\u00e4nomens mit dem Blick bei Bewegung des Auges ein Kennzeichen, welches sehr schnell aufgefafst wird und die subjective Natur aufdeckt. Da nun unser Interesse \u00fcberwiegend der Erkenntnifs der umgebenden Aufsenwelt zugewendet ist, so wenden wir unsere Aufmerksamkeit gewohnheitsm\u00e4fsig von solchen optischen Erscheinungen ab, die sich gleich als sub-jectiv verrathen, und es tritt sogar eine gewisse Schwierigkeit ein, dieselben zu beobachten und die ihnen entsprechende Intention der Aufmerksamkeit zu finden. Verst\u00e4rkt wird diese Schwierigkeit allerdings in hohem Mafse durch die Steigerung der Reizbarkeit, welche in dauernd beschatteten Stellen der Netzhaut, beziehentlich die Verminderung derselben, die in dauernd beleuchteten Stellen der Netzhaut eintritt. Haupts\u00e4chlich dieser Vorgang ist es, auf welchen das allm\u00e4lige Verl\u00f6schen der im Auge streng festliegenden Bilder zur\u00fcckzuf\u00fchren zu sein scheint.\nEine eigenth\u00fcmliche Bolle spielt hierbei noch die Schwierigkeit, die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Theil der vorliegenden Perceptionen zu concentriren. Einen gewissen Einflufs hat dabei eine Art willk\u00fcrlicher Anstrengung. Ich verweise hierbei auf die von mir fr\u00fcher1 beschriebenen Versuche mit momentaner Beleuchtung eines vorher vollst\u00e4ndig verdunkelten Feldes, auf welchem ein Blatt mit grofsen gedruckten Buchstaben ausgebreitet war. Vor der elektrischen Entladung erblickte der Beobachter nichts als einen m\u00e4fsig erhellten Nadelstich, der das Papier durchbohrte. Dieser wurde fest fixirt und diente zur ungef\u00e4hren Orientirung \u00fcber die Bichtungen in dem dunklen Felde. Die elektrische Entladung erleuchtete das bedruckte Blatt f\u00fcr einen untheilbaren Augenblick, in welchem das Bild desselben sichtbar wurde und eine sehr kurze Zeit als positives Nachbild stehen blieb. Die Dauer der Wahrnehmbarkeit des Bildes war also auf die Dauer des Nachbildes beschr\u00e4nkt. Augenbewegungen von mefsbarer G-r\u00f6fse konnten w\u00e4hrend der Dauer des Funkens nicht ausgef\u00fchrt werden, und auch solche w\u00e4hrend der kurzen Dauer des Nachbildes konnten dessen Lage auf der Netzhaut nicht mehr\n1 In \u00a7 28 meines Handbuches der Physiolog. Optik.","page":94},{"file":"p0095.txt","language":"de","ocr_de":"bber den Ursprung der richtigen Deutung unserer Sinneseindr\u00fccJce. 95\n\u00e4ndern. Dessenungeachtet fand ich es m\u00f6glich, mir vorher vorzunehmen, welchen Theil des dunklen Feldes seitlich von dem fortdauernd fest fhdrten hellen Nadelstich ich im indirecten Sehen wahrnehmen wollte, und erkannte bei der elektrischen Beleuchtung dann wirklich einige Buchstabengruppen jener Gregend des Feldes, meist aber mit dazwischenbleibenden L\u00fccken, die leer blieben. Nach starken Blitzen hatte ich in der Regel mehr Buchstaben gelesen, als nach schw\u00e4cheren. Die Buchstaben des bei weitem gr\u00f6fsten Theiles des Feldes waren dagegen nicht zur Wahrnehmung gekommen, auch nicht immer die in der N\u00e4he des Fixationspunktes. Bei einer folgenden elektrischen Entladung konnte ich, immer den Nadelstich fixirend, meine Wahrnehmung auf eine andere Gegend des Feldes richten und dann dort eine Gruppe von Buchstaben lesen.\nDiese Beobachtungen erweisen, wie mir scheint, dafs man durch eine willk\u00fcrliche Art von Intention, auch ohne Augenbewegungen, ohne \u00c4nderungen der Accommodation die Aufmerksamkeit auf die Empfindung eines bestimmten Theils unseres peripherischen Nervensystems concentriren und sie gleichzeitig von allen anderen Theilen desselben aus-schliefsen kann.\nBei der gew\u00f6hnlichen Art des Beobachtens richten wir allerdings auch die Aufmerksamkeit willk\u00fcrlich besonderen Theilen des Gesichtsfeldes oder des Gebietes der Perceptionen \u00fcberhaupt zu. Dabei folgt aber Richtung des Blicks und Accommodation der Intention der Aufmerksamkeit, und es k\u00f6nnte also die Erfahrung so ausgelegt werden, dafs die Aufmerksamkeit eben stets an die Netzhautgrube gekn\u00fcpft sei, und dafs die Willk\u00fcrlichkeit ihrer Richtung nur durch die Willkurlich-keit der Augenbewegungen bedingt sei. In der That ist es recht schwer und erfordert vielfache \u00dcbung, wenn man lernen will, die Aufmerksamkeit den Bildern der seitlichen oder peripherischen Theile der Netzhaut zuzuwenden, wie dies mehr oder weniger fast alle die bisher beschriebenen Ph\u00e4nomene der genannten Art erkennen lassen. Als solche Bedingungen, unter denen dieselben leichter die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sind folgende zu bemerken:\n1.\tH\u00f6here Intensit\u00e4ten der Ph\u00e4nomene, namentlich wenn dieselben die Sichtbarkeit der reellen Objecte beeintr\u00e4chtigen.\n2.\tSchneller Wechsel des Helligkeitsunterschiedes zwischen","page":95},{"file":"p0096.txt","language":"de","ocr_de":"96\nH. von Helmholtz.\nnahe benachbarten Theilen des Feldes, daher auch Bewegung begrenzter Fl\u00e4chenst\u00fccke im Felde, oder auch Bewegung von Schatten durch Wechsel der Beleuchtungsrichtung, wie bei den entoptischen Objecten. Wechsel der Helligkeit bringt, wie schon bemerkt, wegen der abschw\u00e4chenden Wirkung der negativen Nachbilder stets einen intensiveren Eindruck hervor, als constante Intensit\u00e4t der Beleuchtung. Das k\u00f6nnte einen Theil der dadurch erfolgenden Vermehrung der Aufmerksamkeit erkl\u00e4ren. Der unmittelbare Eindruck im Bewmfstsein ist aber mehr, dafs jeder schnelle Wechsel im Seitentheile des Gesichtsfeldes die Frage nach dem Grunde der bemerkten \u00c4nderung anregt und daher gew\u00f6hnlich der Blick nach der Stelle gerichtet wird, wo man die Ver\u00e4nderung bemerkt hat.\n3. Das objective Interesse hat \u00fcberhaupt einen m\u00e4chtigen Einflufs auf die Lenkung der Aufmerksamkeit und kann sie fast vollst\u00e4ndig beherrschen. Man denke an das Verhalten beim Lesen, wo Blick, Accommodation und Aufmerksamkeit gleichzeitig den Worten der begonnenen Zeile folgen und von Zeile zu Zeile weitergehen ohne Unterbrechung und St\u00f6rung, wenigstens wenn das Gelesene interessant ist.\nDieser Einflufs des objectiven Interesses f\u00e4llt aber gr\u00f6fsten-theils mit dem Einflufs des Willens zusammen, da sich Willensintentionen am leichtesten und h\u00e4ufigsten an W\u00fcnsche, d. h. Interessen, anzukn\u00fcpfen pflegen.\nDafs \u00fcbrigens die willk\u00fcrliche Lenkung der Aufmerksamkeit eine erm\u00fcdende Leistung des Gehirns ist, lehrt die allt\u00e4gliche Erfahrung, auch wenn keinerlei Muskelarbeit damit verbunden ist.\nDas Endergebnis der angef\u00fchrten \u00dcberlegungen und Erfahrungen glaube ich dahin zusammenfassen zu d\u00fcrfen:\n1.\tAls Wirkungen angeborener Organisation finden wir beim Menschen Reflexbewegungen und Triebe, letztere die Gegens\u00e4tze des Wohlgefallens an einzelnen Eindr\u00fccken, des Mifsfallens gegen andere umschliefsend.\n2.\tBei der Bildung von Anschauungen spielen Inductions-schl\u00fcsse, gewonnen durch unbewufste Arbeit des Ged\u00e4chtnisses, eine hervorragende Rolle.\n3.\tEs erscheint zweifelhaft, ob im Vorstellungskreise der Erwachsenen \u00fcberhaupt Kenntnisse Vorkommen, die eine andere Ursprungsquelle erfordern.","page":96}],"identifier":"lit15402","issued":"1894","language":"de","pages":"81-96","startpages":"81","title":"\u00dcber den Ursprung der richtigen Deutung unserer Sinneseindr\u00fccke","type":"Journal Article","volume":"7"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:43:15.486609+00:00"}