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{"created":"2022-01-31T14:42:21.598548+00:00","id":"lit15452","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Fraenkel, M. O.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 6: 230-232","fulltext":[{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"Kleinere Mitteilungen.\nI. \u00dcber\neine Depressionsform der Intelligenz in sprachlicher Beziehung.\nVon\nM. 0. Frakxkkl.\nVor l\u00e4ngeren Jahren hatte ich Veranlassung, eine Kranke \u00e4rztlich zu behandeln, die bei ihrem ersten Erscheinen v\u00f6llig den Eindruck einer Idiotin machte. Die zusammengekr\u00fcmmte Gestalt des 23 Jahre alten M\u00e4dchens, der stumpfe Gesichtsausdruck, das dumpfe, nur bisweilen von abgerissenen Worten und kicherndem Hi-hi unterbrochene Hinbr\u00fcten, die Gefr\u00e4fsigkeit u. s. w. liefsen glauben, dafs man es mit einem bl\u00f6dsinnigen Kinde zu tliun habe. \u2014 Nach Verlauf von sechs Wochen zeigte jedoch Patientin pl\u00f6tzlich ein ganz anderes Bild, \u2014 die Gestalt aufgerichtet, schlank, der Gang nicht mehr trippelnd, der Blick lebhaft, Rede und Benehmen verst\u00e4ndig, die Sprache korrekt; kurz, Patientin war eine ganz andere Person. Der fr\u00fchere Zustand wiederholte sich zwar noch einigemal, war aber von k\u00fcrzerer Dauer, zwei Wochen oder zwei Tage, und verschwand zugleich mit den unterdes auftretenden hystero-epileptischen Kr\u00e4mpfen g\u00e4nzlich, so dafs die Kranke (A.) nach etwa Jahresfrist geheilt zu den Ihrigen zur\u00fcckkehren konnte.\nAus dem Symptomenkomplex dieser scheinbaren Idiotie, oder zeitweiligen Depression der Intelligenz, hebe ich das die eigent\u00fcmliche'Sprechweise betreffende Symptom heraus, weil ich dasselbe noch bei einer anderen Kranken beobachtet und, soweit ich Umschau halten konnte, nirgend anderswo erw\u00e4hnt gefunden habe.\nDie zweite Kranke, Frau B., litt seit ihrer ersten Entbindung im 23. Lebensjahre anfangs an somnambulen Zust\u00e4nden von 2 bis 15 Minuten langer Dauer, w\u00e4hrend deren sie, bisweilen im Gehen, zusammenh\u00e4ngend aussprach, was ihr Gem\u00fct bewegte., mit nachfolgender vollst\u00e4ndiger Amnesie des Gesprochenen. Auch bei ihr war das Benehmen w\u00e4hrend der jahrelang sich wiederholenden h\u00e4ufigen Anf\u00e4lle kindlicher, oft neckischer Art und ganz so, wie es bei den Experimenten zu sehen ist, die man an Hypnotisierten anstellt, um die M\u00f6glichkeit der Umstimmung des Charakters einer Pers\u00f6nlichkeit nachzuweisen. Beil\u00e4ufig gesagt, ist Frau B. niemals","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"Kleinere Mitteilungen.\t231\nin hypnotischen Zustand versetzt worden und ein einmaliger derartiger Versuch sogar mifslungen.\nBekanntlich sprechen junge Kinder von 2 bis 5 Jahren, ebenso wie \u00e4ltere Schwachsinnige, von sich in der dritten Person und liehen es, ihrem Eigennamen die Verkleinerungssilbe chen oder lein anzuh\u00e4ngen. Letzteres ist weniger auff\u00e4llig, da die \u201eLieblinge\u201c sehr rasch herausf\u00fchlen, dal's mit der Verkleinerungssilbe der angenehme Begriff der Verh\u00e4tschelung ihrer kleinen Person verbunden ist. Koseworte pr\u00e4gen sich der jungen Hirnrinde \u00fcberraschend schnell ein und erhalten sich darin als bleibendes Verm\u00e4chtnis bis in das h\u00f6here Alter. Weniger verst\u00e4ndlich ist aber eine andere Beobachtung, die an den beiden in Kede stehenden Kranken gemacht wurde in Beziehung auf eine Eigent\u00fcmlichkeit, die ihnen mit dem Kinde, das zu denken beginnt, gemein ist. Beide n\u00e4mlich verstofsen, obgleich sie. eine gute Schulbildung genossen haben, insofern gegen die Grammatik, dafs sie die unregelm\u00e4fsigen Zeitw\u00f6rter regelm\u00e4fsig konjugieren, also z. B. gedenkt f\u00fcr gedacht, gesprecht f\u00fcr gesprochen, gelugt f\u00fcr gelogen, gegehen f\u00fcr gegangen sagen, und \u00fcberdies das mir und mich verwechseln. Alles das aber lediglich im kranken Zustande, w\u00e4hrend beide in den Pausen ihrer Krankheit der hochdeutschen Sprache vollkommen m\u00e4chtig sind. Dazu kommt, dafs Frau B. w\u00e4hrend ihrer Anf\u00e4lle die Verkleinerungssilbe \u201echen\u201c an die Kamen ihrer Angeh\u00f6rigen h\u00e4ngt und von sich in der dritten Person spricht. Dieselbe Person macht aber die obenerw\u00e4hnten Sprachschnitzer nicht im Franz\u00f6sischen, das sie wie ihre Muttersprache beherrscht, korrekt und mit grofser Gewandtheit spricht und schreibt, nachdem sie es auf einer deutschen T\u00f6chterschule und sp\u00e4ter durch langj\u00e4hrigen Aufenthalt im Auslande erlernt hat. \u00dcbrigens spricht sie in ihren Anf\u00e4llen nur ausnahmsweise Franz\u00f6sisch, d. h. wenn sie sich Franzosen gegen\u00fcber glaubt und deren vermeinte Reden oder Gedanken scherzhaft oder zornig mit einem gewissen Pathos beantwortet.\nEine weitere \u00c4hnlichkeit im psychischen Verhalten der beiden Kranken ist die, dafs sie beide, auch in den Intervallen und im verh\u00e4ltnism\u00e4fsig gesunden Zustande, schwach im Rechnen sind. A.., w\u00e4hrend sie die kunstvollsten Blumen und Stickereien mit der Kadel aus freier Hand entwirft und ausf\u00fchrt, vermag dabei nicht zu z\u00e4hlen, \u2014 B. ist so unsicher, dafs sie, trotz des scharfsinnigen Kombinierens in ihrem \u00fcbrigen Denken und Thun, nicht ohne Beih\u00fclfe ihre Haus- und Gesch\u00e4ftsb\u00fccher zu f\u00fchren versteht.\nEs ist demnach ein einseitiger Defekt vorhanden, der mit der erw\u00e4hnten Depression der Intelligenz in Zusammenhang zu stehen scheint.\nFragen wir nun, wie es komme, dafs schulgerecht gebildete Erwachsene solche grammatische Schnitzer machen, wie sie Kinder der untersten Schul-, Massen kaum noch begehen. Die Antwort, meine ich, kann folgender -mafsen lauten. Die Wortformen pr\u00e4gen sich beim ersten Erlernen der Sprache in die intakten, weichen Hirnzellen des Kindes leicht ein und erhalten sich darin, je nachdem die Hirnmasse fester und elastischer wird. Sp\u00e4ter Erlerntes st\u00f6fst in dem erh\u00e4rtenden Gewebe auf gr\u00f6fseren Widerstand, namentlich alles, was von dem Schema des zuerst Erlernten abweicht.-","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"232\nKleinere Mitteilungen.\nDaher bildet das zuerst erlernte Wort mit seinen Beugungsformen f\u00fcr das Kind die Regel, die es, wenn sein Wortschatz sich erweitert, im richtigen Sprachgef\u00fchl auf das Sp\u00e4tere \u00fcbertr\u00e4gt. Die \u00dcbertragung selbst ist ein Associationsvorgang, mit dem das Denken beginnt. Der weitere abweichende Sprachgebrauch erfordert ein neues. Erlernen und Einpr\u00e4gen in verf\u00fcgbare Zellengruppen und Bahnen, die unter Umst\u00e4nden \u2014 durch Krankheit oder allgemeine Schw\u00e4chezust\u00e4nde \u2014 ihre Leistung versagen, weil die Furchen der Eindr\u00fccke des sp\u00e4ter erworbenen Wortvorrates nicht tief genug sind. \u2022\u2014 \u00c4hnlich ist w\u00e4hrend der l\u00e4ngeren und k\u00fcrzeren Dauer der Amnesie der Vorgang bei beiden Kranken, die nicht, nur in der geschilderten Ausdrucksweise, sondern auch in ihrem Lachen und Weinen \u00fcber h\u00f6chst unbedeutende Gegenst\u00e4nde zu . erkennen geben, dafs sie sich in ihre Kindheit zur\u00fcckversetzt f\u00fchlen.\nII. Eine Selbstbeobachtung \u00fcber G-ef\u00fchlston.\nVon\nM. 0. Fraenkel,\nIn einer Abhandlung \u00fcber St\u00f6rungen des Vorstellungsablaufes bei der Paranoia (Arch. f. Psychiatr. XXIV. 1 u. 2) spricht Professor Ziehen von dem Gef\u00fchls ton, der neben anderen Faktoren auf die Reihenfolge der Vorstellungen bestimmend einwirke. Eine Wahrnehmung, die mir in j\u00fcngeren Jahren entging, die aber vermutlich hundert anderen gesunden Personen bekannt ist, ohne besonderes Gewicht darauf zu legen, f\u00e4llt unter obige Bezeichnung vom Gef\u00fchlston.\nNehme ich ein Zeitungsblatt zur Hand, dessen untere H\u00e4lfte im Feuilleton eine Novelle oder dergl., kurz eine Dichtung enth\u00e4lt, und ich lese zuerst die amtlichen und politischen Nachrichten, die auf den Titel des Thats\u00e4chlichen, Wahren und Wirklichen Anspruch machen, so ist der Eindruck, den ich erhalte, je nach meinem Interesse an der besprochenen Sache, mehr oder minder lebhaft. Dieser Eindruck, das Gef\u00fchl des Thats\u00e4chlichen, verschwindet aber nicht sogleich, wenn die Lesearbeit auf den erdichteten Inhalt des Feuilletons fortschreitet, sondern erh\u00e4lt sich eine Weile, gleich den Nachbildern, die mein Auge beim \u00dcbergang von grellem Lichte zu matterem oder zum Dunkel erh\u00e4lt. Umgekehrt ist der Vorgang, wenn ich zuerst das Feuilleton und dann die politischen Nachrichten, die Wahlaufrufe u. s. w. lese. Der Eindruck, den ich durch den raschen Wechsel dann gewinne, ist der, dafs ich die letzteren f\u00fcr unwahr halte, wie sie es auch in der That h\u00e4ufig nicht besser verdienen. Die Dauer dieses Zustandes, die ich zu bestimmen versucht habe, scheint in beiden; F\u00e4llen nicht wesentlich verschieden zu sein und wenn sie es ist, von der","page":232}],"identifier":"lit15452","issued":"1894","language":"de","pages":"230-232","startpages":"230","title":"\u00dcber eine Depressionsform der Intelligenz in sprachlicher Beziehung","type":"Journal Article","volume":"6"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:42:21.598554+00:00"}