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{"created":"2022-01-31T17:02:48.362493+00:00","id":"lit15469","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Meinong, A.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 6: 340-385","fulltext":[{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\nVon\nA. Meinong.\n(Mit einer Figur im Text.)\nDie in Band V dieser Zeitschrift, S. 360 ff., angezeigte Abhandlung von H. Cornelius \u201e\u00dcber Verschmelzung und Analyse\u201c1 ist f\u00fcr mich der Anlafs von Untersuchungen geworden, deren vorl\u00e4ufiges Ergebnis die folgenden Bl\u00e4tter darlegen. Aller wissenschaftlichen Publikation liegt das gute Zutrauen zu Grunde, dafs, was ihr Verfasser zun\u00e4chst als Fortschritt im eigenen Erkennen versp\u00fcrt, auch noch anderen f\u00f6rderlich sein werde; auch die nachstehenden Mitteilungen sind diesem Zutrauen entsprungen und nicht einer Selbstt\u00e4uschung \u00fcber die M\u00e4ngel dessen, was ich derzeit beizubringen in der Lage bin. Weil ich aber der Natur der Sache nach, so wenig hier alle Meinungsverschiedenheiten zur Sprache kommen k\u00f6nnen, mich doch vorwiegend dort werde ausdr\u00fccklich auf Cornelius beziehen m\u00fcssen, wo es gilt, seinen Aufstellungen polemisch entgegenzutreten, so erachte ich es f\u00fcr meine Pflicht, sogleich eingangs zu betonen, dafs auch dort, wo ich etwa gegen Cornelius Becht behalten sollte, ihm verm\u00f6ge der von seiner Abhandlung ausgegangenen Anregungen der Hauptanteil an dem gewahrt bleiben mufs, was der Theorie der Analyse aus dem folgenden an Gewinn etwa erwachsen mag. Sollte \u00fcbrigens aus dem, was ich zu bieten habe, auch nur ein einziger Leser ebensoviel zu lernen im st\u00e4nde sein, als ich aus den Ausf\u00fchrungen Cornelius\u2019 gelernt zu haben hoffe, so w\u00fcrde ich nicht meinen, auf die vorliegenden Untersuchungen vergebliche M\u00fche gewendet zu haben.\n1 Vierteljahrsschrift f\u00fcr wissenschaftliche Philosophie, Jahrgang 1892, S. 404 ff., Jahrgang 1893, S. 30 ff.","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\t341\nAls Vorwurf dieser Untersuchungen habe ich die \u201epsychische Analyse\u201c bezeichnet, und diese Ausdrucksweise verlangt ein Wort der Rechtfertigung. Der Terminus \u201eAnalyse\u201c ist weder im Sinne der Grammatik noch in dem der Mathematik popul\u00e4r geworden; was man gew\u00f6hnlich meint, indem man das Wort gebraucht, pflegt man n\u00e4her entweder als chemische oder als psychologische Analyse zu bezeichnen. Es k\u00f6nnte darum auch niemanden \u00fcberraschen, eine psychologische Abhandlung anzutreffen, welche der Theorie der psychologischen Analyse gewidmet w\u00e4re; was ist aber von der Ab\u00e4nderung der herk\u00f6mmlichen Bezeichnungsweise in \u201epsychische Analyse\u201c zu halten?\nSie ist der folgenden einfachen Erw\u00e4gung entsprungen. Ohne Zweifel macht das Analysieren eine Hauptaufgabe schon der Alltagspsychologie, noch weit mehr aber nat\u00fcrlich der psychologischen Wissenschaft aus; man hat also ein gutes Recht, von psychologischer Analyse zu reden. Nun ist es aber Thatsache, dafs, was hier an dem der Psychologie eigent\u00fcmlichen Stoffe geschieht, sich auch an anderem Stoffe vornehmen l\u00e4fst und wirklich sehr h\u00e4ufig vorgenommen wird, so dafs, was in der Psychologie Analyse heifst, auch aufs er derselben nicht wohl anders wird genannt werden k\u00f6nnen. Es ist Analyse n\u00f6tig, um aus dem Strafsenl\u00e4rm in der grofsen Stadt das Rollen fernen Donners herauszuh\u00f6ren, Analyse, um aus den mannigfach wechselnden Gruppen einer versammelten Menschenmenge eine gesuchte Pers\u00f6nlichkeit herauszufinden, Analyse zu tausend anderen Dingen, nur dafs man keinen Grund haben wird, eine solche Analyse, der so oft alles n\u00e4her liegt als psychologisches Interesse, noch psychologische Analyse zu nennen. Noch weniger aber wird man sie etwa der chemischen oder algebraischen zuordnen k\u00f6nnen, vielmehr ist sie der psychologischen so nahe verwandt, dafs es eben nichts als der zu analysierende Stoff ist, der sie von dieser unterscheidet. Die Verwandtschaft oder besser die wesentliche \u00dcbereinstimmung besteht darin, dafs es hier wie dort jedesmal eine psychische Aktion, und zwar offenbar in jedem Falle wesentlich dieselbe psychische Aktion ist, die sich das eine Mal zu Gunsten psychologischen, das andere Mal zu Gunsten eines anderen wissenschaftlichen, ein drittes Mal zu Gunsten eines ganz aufser-theoretischen Interesses zutr\u00e4gt. \u00dcber das Wesen dieser Aktion einige*Klarheit zu gewinnen, ist die Aufgabe der folgenden","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342\nA. Meinong.\nUntersuchungen. Sicherlich ist also die psychologische Analyse in den Kreis derselben mit einzubeziehen; es w\u00e4re aber f\u00fcrs erste eine unnat\u00fcrliche Beschr\u00e4nkung, wollten wir die Analyse nur so weit betrachten, als sie sich Psychologischem zuwendet. Bleibt dagegen, wie dem Sprachgebrauche nach zu erwarten, bei dem Worte Analyse der Gedanke an Mathematik oder Syntax fern, so ist der Terminus \u201epsychische Analyse\u201c die nat\u00fcrlichste Bezeichnung dessen, was uns im weiteren zu besch\u00e4ftigen haben wird.\n]. Die Voraussetzungen f\u00fcr die Erkennbarkeit des relativ Einfachen im relativ Zusammengesetzten.\nAlle wissenschaftliche Forschung ist darauf aus, ihre Arbeit an dem Einfachsten zu beginnen; aber so seltsam es hiermit kontrastieren mag, nirgends giebt man sich einer T\u00e4uschung dar\u00fcber hin, als ob je anderes als Zusammengesetztes sich wissenschaftlicher Bearbeitung als Stolf darb\u00f6te. Im besonderen hat die Psychologie sich l\u00e4ngst daran gew\u00f6hnt, auf die fiktive Natur der \u201ereinen\u201c Empfindung hinzuweisen; und ist auch ein gleiches in betreff etwa des isolierten Urteiles oder Gef\u00fchles nicht ebenso herk\u00f6mmlich, so kann eine diesbez\u00fcgliche Behauptung, wo sie einmal auftritt, doch jedenfalls auf die Zustimmung rechnen, die dem Selbstverst\u00e4ndlichen zu teil wird. Gleichwohl l\u00e4fst der psychologische Wissenschaftsbetrieb wenig genug davon erkennen, dafs er sich durch diese unvermeidliche Zusammengesetztheit des Stoffes in den auf die Aufhellung des Elementaren gerichteten Bestrebungen erheblich behindert f\u00fchlte. Das gute Zutrauen, das hierin zu Tage tritt, mag nun ein wohlberechtigtes sein; dennoch wird man sich nicht der Verpflichtung \u00fcberhoben erachten d\u00fcrfen, dasjenige, worauf dieses Zutrauen gerichtet ist, einmal bestimmt auszusprechen, und den Rechtstitel aufzuweisen, unter dem diesem Zutrauen der Anspruch auf Geltung eignet.\nDer erste Punkt, die Frage nach den Voraussetzungen, unter denen die Psychologie \u2014 und streng genommen auch jede andere empirische Wissenschaft, da jede von psychischen Daten ausgeht \u2014 sich des relativ Einfachen inmitten des relativ Zusammengesetzten bem\u00e4chtigt, scheint eine rasche Erledigung","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\n343\nzu gestatten, wenigstens findet man sieh sofort auf zwei Gesichtspunkte gef\u00fchrt, welche wohl das Wesentliche der Sache treffen werden. Entweder n\u00e4mlich das zu Untersuchende ist bereits an sich so beschaffen, dafs es sich seiner Umgebung gegen\u00fcber hinreichend \u201eauszeichnet\u201c; oder aber es wird durch eine besonders darauf gerichtete Th\u00e4tigkeit des Subjektes aus seiner Umgebung herausgehoben, herausanalysiert, wie man eben sagt. Indem sich nun das Denken an den dort von selbst, hier durch unser Zuthun hervortretenden Inhalt anschliefst, mufs offenbar vorausgesetzt werden d\u00fcrfen, dort, dafs die betreffende Vorstellung durch ihre Umgebung wenigstens inhaltlich nicht modificiert wird, hier aufserdem auch noch, dafs der Akt des Analysierens selbst keine inhaltlichen Ver\u00e4nderungen, wenigstens in betreff des Herausanalysierten, im Gefolge habe.\nNicht ganz so einfach jedenfalls gestaltet sich die Beantwortung der quaestio juris, da es sich hier doch, wie man nun sofort einsieht, um anderes als blofse Selbstverst\u00e4ndlichkeiten handelt. Es wird sich empfehlen, die beiden eben besonders namhaft gemachten Voraussetzungen auch besonders zu pr\u00fcfen.\nI.\nOffenbar haben unsere beiden Voraussetzungen die Annahme zum Ausgangspunkt, dafs eine Vorstellungskomplexion C gegeben ist, welche sich aus gewissen Bestandst\u00fccken, etwa a, b, c, zusammensetzt; es handelt sich ja gerade darum, ob z. B. das Bestandst\u00fcck a durch seine Umgebung oder durch unsere analysierende Th\u00e4tigkeit in seiner Beschaffenheit bedroht ist. Dieser Ausgangspunkt dr\u00e4ngt die Vorfrage auf, woher wir denn im gegebenen Falle eigentlich wissen, dafs der Inhalt C aus den Inhalten a, b und c besteht. Uber die Existenz des Inhaltes 'C giebt uns die innere Wahrnehmung Bescheid; angenommen aber auch, dafs in diesem C wirklich nichts anderes als a, b und c wahrgenommen ist, wie sollte uns diese Wahrnehmung f\u00fcr sich allein zu Erkenntnissen verhelfen, deren eine das a ohne b und c, eine das b ohne a und c, endlich eine das c ohne a und b zum Gegenst\u00e4nde hat? Es scheint sonach geradezu noch einmal auf eine Analyse hinauskommen zu m\u00fcssen, so dafs bereits die blofse Frage nach dem Erkenntniswert der Analyse diesen voraussetzen und am Ende die sonach","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344\nA. Meinong.\nunvermeidliche petitio quaesiti den die Frage begr\u00fcndenden Zweifel selbst ad absurdum f\u00fchren w\u00fcrde. Es k\u00f6nnte mit unserer Frage dann etwa so bewandt sein, als wenn einer aus Mistrauen gegen die innere Wahrnehmung eine B\u00fcrgschaft daf\u00fcr verlangte, dafs er zu gegebener Zeit sich wirklich einen Baum vorstelle und nicht etwa blofs sich einbilde, ihn vorzustellen ; das von ihm geglaubte Einbilden w\u00e4re eben, weil der n\u00e4mlichen Erkenntnisquelle entnommen, um nichts glaubw\u00fcrdiger, wie das von ihm bezweifelte Vorstellen.\nG-anz so einfach steht es jedoch in unserem Falle nicht. Weifs ich nur, dafs C eine Komplexion ist, d. i. Teile hat, so brauche ich die Beschaffenheit der letzteren weiter gar nicht zu kennen, wenn ich die Frage aufwerfe, ob diese durch den Akt der Analyse eine Ab\u00e4nderung erfahren oder nicht. Nur erhebt sich dann die weitere Frage: kann ich anders als durch Analyse wissen, dafs das der inneren Wahrnehmung direkt vorliegende G Teile hat? Die nachstehenden Untersuchungen hoffen darauf die Antwort zu erbringen, dafs ich es unter Umst\u00e4nden kann; thats\u00e4chlich aber wird man, wo man in betreff der Erkenntnis der Bestandst\u00fccke auf Analyse angewiesen ist, normalerweise auch schon das Vorhandensein einer Mehrheit mittelst Analyse festgestellt haben. Daraus erw\u00e4chst jedenfalls die Pflicht, sich \u00fcber die Befugnis auszuweisen, auf Grund deren angenommen werden kann, dafs die Mehrheit, die wir verm\u00f6ge der Analyse zu konstatieren in der Lage sind, schon vor der Analyse dem C eignete, und nicht vielmehr erst durch diese in das vorher einfache C gleichsam hineingetragen worden ist.\nJedenfalls empfiehlt es sich unter solchen Umst\u00e4nden, mit einer Fragestellung wie der folgenden zu beginnen: Gesetzt, es wird ein Inhalt C vorgestellt; die auf diesen Inhalt gerichtete Analyse ergiebt nacheinander die Inhalte a, b und c; haben wir Grund, anzunehmen, dafs a, b und c bereits vor der Analyse vorgestellt, also, wie man sagt, \u201ein C enthalten\u201c waren?\nDafs der Naive sofort eine entschiedene Neigung versp\u00fcren wird, diese Frage mit Ja zu beantworten, ist sicher; aber man wird den Wert dieser Neigung nicht allzu hoch anschlagen d\u00fcrfen, weil das so bereitwillig abgegebene \u201eJa\u201c mutmafslich etwas anderes meint, als wonach gefragt wurde. Bekanntlich","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\n345\nliegt dem naiven Urteil nichts ferner, als die Beschr\u00e4nkung auf einen etwa unmittelbar vorliegenden psychischen That-bestand, und nichts n\u00e4her, als die sofortige Bedachtnahme auf den im betreffenden Thatbestande etwa widergespiegelten aufsersubjektiven Sachverhalt. Demgem\u00e4fs wird auch die obige Frage, an den psychologischen Laien gestellt, seitens des letzteren nur zu leicht eine seinem gewohnten Interesseuzuge entsprechende Umdeutung erfahren. Ist z. B. das C unserer Frage geh\u00f6rte Musik, das a und b derselben etwa Klavier- und Singstimmenklang, den man bei genauerem Hinh\u00f6ren herausfindet, so wird die Frage leicht genug dahin aufgefafst, ob das vor dem genaueren Aufmerken Geh\u00f6rte auch bereits Klavier und Gesang gewesen sei; das Ja liegt dann freilich auf der Hand, aber es betrifft nur die Konstanz der Heize, die mit Ver\u00e4nderungen in den durch sie hervorgerufenen Empfindungen gar wohl zusammen bestehen k\u00f6nnte.\nAllerdings wird nun aber auch demjenigen, der die Frage richtig versteht, diese Konstanz der Heize eine sehr wichtige Sache bleiben, bietet sie doch die nat\u00fcrliche Grundlage, auf die Konstanz auch der Inhalte vor und nach der Analyse zu schliefsen. Zwar k\u00e4men solchem Schl\u00fcsse nur die F\u00e4lle zu statten, wo die Analyse sich auf Wahrnehmungsinhalte richtet; F\u00e4lle dieser Art werden ja aber weitaus die Regel darstellen. Kur bedeutet Konstanz einer Teilursache niemals einen strikten Beweis, sondern nur besten Falles eine Chance f\u00fcr Konstanz der Wirkung. Weifs man vollends geradezu, dafs eine andere Teilursache sich sicher ge\u00e4ndert hat, sonach auf irgend eine Ver\u00e4nderung in der Wirkung fast ebenso sicher zu z\u00e4hlen ist, so schwindet in betreff der Annahme, dafs diese \u00c4nderung den Inhalt unber\u00fchrt lasse, jeder Schein von Selbstverst\u00e4ndlichkeit, und das Bed\u00fcrfnis nach H\u00fclfserw\u00e4gungen oder geeigneteren Erkenntnismitteln macht sich unabweislich geltend.\nDirektere Aufschl\u00fcsse darf man sich einerseits von der unmittelbaren Erinnerung, n\u00e4her dem auf diese gegr\u00fcndeten Wiedererkennen, das vom Vergleichen eines Gegenw\u00e4rtigen mit dem Ged\u00e4chtnisbilde eines Vergangenen noch ganz wohl zu unterscheiden ist, andererseits aber auch von diesem Vergleichen selbst erwarten. Einfach ist namentlich, was sich in betreff jener \u201eRekognition\u201c ergiebt, auf deren psychologische Natur","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"346\nA. Meinong.\nan dieser Stelle nicht eingegangen zu werden braucht. Man kann hier kurzweg sagen : Es scheint nicht vorzukommen, dafs man ' einem herausanalysierten Inhalte gegen\u00fcber, falls sich aufser der Analyse an ihm nichts zugetragen hat, der Meinung ist, man habe ein vorher noch nie Vorgestelltes vor sich.\nVerwickelter gestaltet sich die Sache in betreff der Vergleichung. Immerhin f\u00e4llt es dieser unter Umst\u00e4nden nicht schwer, ohne weiteres von der \u00dcbereinstimmung vor und nach der Analyse zu \u00fcberzeugen. Wenn man etwa bei einem Accorde den h\u00f6chsten oder tiefsten Klang besonders beachtet, so zweifelt man nicht leicht daran, dafs er schon in der Wahrnehmungsvorstellung des Accordes enthalten gewesen war; der Vergleich ergiebt hier eben den besonderen Fall von \u00c4hnlichkeit, der zwischen Teil und Ganzem sich vorfindet, wenn dem Teile nicht etwa eine gar zu geringe Bedeutung zukommt. Auch wer ein sichtbares Objekt \u201egenauer betrachtet\u201c, findet in vielen Dingen den \u201eersten Eindruck\u201c best\u00e4tigt. Aber freilich, und das ist die Kehrseite, die nun ebenfalls beachtet sein will, nur in vielen und sicher nicht in allen Dingen. Man besieht sich ja eine Sache \u201egenauer\u201c, weil man dabei \u201eNeues\u201c zu finden hofft; und wer einen Klang auf Obert\u00f6ne analysiert, sucht in der Erinnerung an den Klang, wie er sich vor der Analyse darstellte, meist vergeblich nach einer Spur etwa von so betr\u00e4chtlichen Tonh\u00f6hen, wie Obert\u00f6ne sie gelegentlich in der Analyse aufweisen. Und da man einem Klange gegen\u00fcber den Zustand vor der Analyse meist nicht etwa nur in Reproduktion, sondern in Wirklichkeit wiederherstellen kann, so hat man da besonders bequeme Gelegenheit, solche Un\u00e4hnlichkeitseindr\u00fccke durch wiederholtes \u00dcberpr\u00fcfen sicher zu stellen. Noch einer Erfahrung sei sogleich hier Erw\u00e4hnung gethan auf die Gefahr hin, dafs ihre Einordnung ins Gebiet der Analyse nicht sofort jedem ein wurfsfrei erscheint. Ich kann, wenn ich eine Weile etwa mit Nachdenken \u00fcber eine wissenschaftliche Frage besch\u00e4ftigt war, pl\u00f6tzlich meine Aufmerksamkeit dem Schlage der in meinem Arbeitszimmer h\u00e4ngenden Pendeluhr zuwenden; ich habe in solchem Falle den bestimmten Eindruck, etwas zu h\u00f6ren, was ich noch eben zuvor \u201enicht geh\u00f6rt\u201c hatte. Ebenso kann ich bei l\u00e4ngerem Stehen mir willk\u00fcrlich die an die Fufssohlen lokalisierte Druckempfindung, desgleichen die Empfindung vom Drucke der Kleider ziemlich an jeder Stelle der Haut, wo","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\n347\nwirklich Ber\u00fchrung stattfindet, \u201eins Bewufstsein rufen\u201c, falls nat\u00fcrlich die betreffenden Daten nicht etwa so aufdringlich waren, dafs sie ohnehin schon meine Aufmerksamkeit auf sich zogen.\nWie man sieht, gelangen wir hier auf einander direkt widerstreitende Ergebnisse, aus denen f\u00fcr sich allein eine ab-schliefsende Meinung wohl nicht zu gewinnen w\u00e4re. Aber freilich vollziehen sich hier auch die Vergleichungen, soweit solche vorliegen, offenbar unter nichts weniger als g\u00fcnstigen Bedingungen ; dagegen giebt es besondere Umst\u00e4nde, unter denen das Vergleichen minder schwer f\u00e4llt, und wo in der That auch einsinnige Ergebnisse gewonnen werden. Es kommt bekanntlich nicht selten vor, dafs das n\u00e4mliche Objekt uns einmal unter Umst\u00e4nden begegnet, verm\u00f6ge deren wir desselben nur durch gelegentlich sogar recht anstrengende Analyse habhaft werden k\u00f6nnen, ein andermal dagegen ohne alles analysierende Zuthun sich uns sozusagen von selbst darbietet. Eine Stimme, die ich aus dem Gewirre, wie es das Durcheinandersprechen vieler Menschen erzeugt, erst m\u00fchsam \u201eheraush\u00f6ren\u201c mufs, kann ich in einem anderen Falle allein vernehmen; ein Flufslauf, dessen eigenartige Gestalt auf einer Eisenbahnkarte nur erst bei ausdr\u00fccklich darauf gerichteter Aufmerksamkeit erfafst wird, kommt auf einer Karte, auf der etwa nur Gebirge und Flufsl\u00e4ufe verzeichnet sind, \u201evon selbst\u201c zur Geltung; \u00c4hnliches ist von blassen gegen\u00fcber deutlich ausgefallenen oder gut erhaltenen Abz\u00fcgen derselben Vervielf\u00e4ltigungsplatte zu sagen u. s. f. Man kann dabei wohl ausnahmslos1 durch meist leicht anzustellende Vergleichung sich davon \u00fcberzeugen, dafs das Ergebnis der Analyse mit dem ohne Analyse Erfafsten inhaltlich \u00fcbereinstimmt, soweit die betreffenden WahrnehmungsVorstellungen durch \u00fcbereinstimmende Beize hervorgerufen worden sind.\nGelangt auf diese Weise die Annahme, dafs die Analyse an den Inhalten, auf die sie gerichtet ist, nichts \u00e4ndere, zu entschiedenem \u00dcbergewicht, so verlangt der so formulierte Satz\n1 Von St\u00f6rungen besonderer Art nat\u00fcrlich abgesehen, wie etwa die, dafs die Linien, welche die Flufsl\u00e4ufe bedeuten, mit jenen, welche die Schienenwege darstellen, unter Umst\u00e4nden Zusammentreffen, welche T\u00e4uschungen von der Art der an den Z\u00f6LLNERSchen Figuren demonstrierbaren \u2014 man k\u00f6nnte sie passend Eichtungskontraste nennen \u2014 begr\u00fcnden, und von denen auch sorgf\u00e4ltige Analyse sich nicht frei machen kann.","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348\nA. Meinong.\ndenn doch eine Einschr\u00e4nkung mit R\u00fccksicht auf die von Stumpf1 erwiesene, wenn auch nicht allzu betr\u00e4chtliche Intensit\u00e4ts\u00fcberlegenheit mancher herausanalysierten Inhalte. In voller Strenge kann sonach der obige Satz nur von Qualit\u00e4ten in Anspruch genommen werden. Aber auch bei dieser Formulierung wird man sich nicht endg\u00fcltig beruhigen k\u00f6nnen, ehe man den Gegenf\u00e4llen ausreichend Rechnung getragen hat. Nun bietet sich aber ein einfacher \"Weg dar, die F\u00e4lle anscheinender Nicht\u00fcbereinstimmung unter den \u00dcbereinstimmungsgesichtspunkt zu bringen: wo die Analyse neues zu ergeben scheint, kann, was sie bietet, auch schon vorher vorgestellt worden sein, falls es nur dem Urteile des Subjektes ausreichend entr\u00fcckt war, um f\u00fcr Wahrnehmung, Ged\u00e4chtnis oder Vergleichung gar nicht oder nicht leicht genug zur Geltung zu gelangen. Die Leistung der Analyse w\u00fcrde dann in solchen F\u00e4llen wesentlich darin bestehen, in den Bereich des Erkenn-, weil Beurteilbaren zu bringen, was vorher aufser demselben gelegen hatte.\nAn der damit \u00fcbernommenen Hypothesenlast wird man nicht allzu schwer tragen, wenn man ber\u00fccksichtigt, womit man sich ohne diese Annahme zufrieden geben m\u00fcfste. Es empfiehlt sich, um eine diesbez\u00fcgliche Sch\u00e4tzung zu erm\u00f6glichen, einen \u00dcberblick \u00fcber die vorg\u00e4ngig in Betracht kommenden M\u00f6glichkeiten zu gewinnen.\nZun\u00e4chst k\u00f6nnen in betreif der Natur des vor der Analyse gegebenen Inhaltes C nur zwei Annahmen gemacht werden: er ist entweder ein Einfaches oder eine Mehrheit,2 er ist entweder elementar oder komplex.\nWeiter scheint auch in betreff der Art und Weise, wie die Analyse vom vorgegebenen C zu den Ergebnissen a, b oder c gelangt, eine zweigliedrige Disjunktion stattzufinden. Entweder n\u00e4mlich C wird durch die Analyse in a, b oder c umgewandelt,\n1\tTonpsychologie, Bd. I, S. 373 ff., Bd. II, S. 290 ff., und sonst.\n2\tEs ist erstaunlich, wie wenig die Sprache dem Ausdrucke dieses doch eigentlich ganz trivialen Gedankens entgegenkommt. Zu sagen, \u201eder Inhalt ist entweder einfach oder mehrfach\u201c, \u201eeinfach oder vielfach\u201c, ist zum mindesten unnat\u00fcrlich. Die Ausdrucksweise aber, \u201eer ist entweder Einheit oder Mehrheit (Vielheit)\u201c, ist ungezwungen, aber undeutlich oder gar falsch, ,weim man irgend zwischen Einheit und Einfachheit unterscheiden will.","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\n349\n\u2014 ob die Umwandlung eine totale oder partielle, hinge einiger-mafsen davon ab, ob \u00c7 als einfach vorausgesetzt wird oder nicht \u2014-, oder C bleibt unver\u00e4ndert, und das Analysenprodukt tritt als ein Neues hinzu. Letztere Eventualit\u00e4t scheint durch manche der oben erw\u00e4hnten Beispiele, wie die Erfahrungen beim Heraush\u00f6ren der Obert\u00f6ne, nahe gelegt, wird aber gleichwohl sofort aufgegeben werden k\u00f6nnen. Wenn C wirklich nach der Analyse ebenso unber\u00fchrt fortexistierte wie vorher, welchen Sinn sollte es da haben, G als das Analysierte zu bezeichnen? Dafs eine psychische Aktion auf etwas gerichtet sei, und dann, ohne dieses zu ver\u00e4ndern, ein anderes hervorbringe, ist nat\u00fcrlich nicht undenkbar, hat aber auch nicht den geringsten Anschein f\u00fcr sich.\nDer so allein einer Erw\u00e4gung bed\u00fcrftige erste Fall gestattet nun aber seinerseits eine disjunktive Determination: C wird durch die Analyse entweder inhaltlich oder aufser-inhaltlich alteriert. Diese Disjunktion ist mit der ersten nur teilweise kombinierbar, so dafs sich folgende drei Haupt-Eventualit\u00e4ten ergeben :\n1.\tG ist einfach oder derart zusammengesetzt, dafs seine Bestandst\u00fccke als solche f\u00fcr den Ausfall der Analyse weiter gar nicht in Betracht kommen. Dann mufs die Analyse, die entweder a oder b oder c ergeben kann, im st\u00e4nde sein, das C inhaltlich zu modificieren.\n2.\tG besteht aus den (unbekannten) Inhalten x, y und z; die Analyse verwandelt x in a, y in b, ^ in c, je nach dem Inhalts-Bestandst\u00fcck, auf das sie gerichtet ist. Es m\u00fcfste hier aber den obigen Beispielen zufolge doch auch Vorkommen d\u00fcrfen, dafs etwa ein x dem a gleich ist, in welchem Falle die Analyse eine andere als inhaltliche Ver\u00e4nderung herbeizuf\u00fchren angewiesen w\u00e4re, d. h. Fall 2 k\u00f6nnte nicht wohl rein Vorkommen, er m\u00fcfste wenigstens gelegentlich in Fall 3 \u00fcbergehen.\n3.\tC besteht aus a, b, c; die Analyse bringt also keine neuen Inhalte zu Tage, sie ver\u00e4ndert nur die Bestandst\u00fccke derart, dafs diese in die Sph\u00e4re des Erkennbaren eintreten, falls sie nicht schon vorher innerhalb derselben waren, \u2014 die oben von mir vertretene Position.\nUm nun das Verh\u00e4ltnis dieser drei Annahmen zu einander im rechten Lichte zu sehen, ist nur noch erforderlich, in","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"350\nA. Meinong.\nR\u00fccksicht zu ziehen, dafs, wie bereits erw\u00e4hnt, G sowohl als a, b und c normalerweise Wahrnehmungsvorstellungen sind, denen \u00e4ufsere Reize oder im Falle innerer Wahrnehmung psychische Quasi-Reize in der Weise entsprechen, dafs sowohl der \u201eunanalysierten\u201c Vorstellung G als den durch Analyse gewonnenen Vorstellungen a, b, c die n\u00e4mlichen Ursachen gegen\u00fcberstehen, f\u00fcr welche bez\u00fcglich die Symbole Ra, Rb und Rc in unserem Falle sonach ausreichen m\u00fcssen. Dies vorausgesetzt, scheint sich unseren drei Hypothesen gegen\u00fcber folgende Stellungnahme zu ergeben:\nAnnahme 1 : Dafs die einfache Wirkung C auf eine dreifache Ursache zur\u00fcckgeht, kann gegen\u00fcber der grofsen Zusammengesetztheit, welche auch sonst an Ursachen so gew\u00f6hnlich ist, nicht befremden. Der Erfolg der Analyse aber w\u00e4re dann etwa so zu verstehen, dafs dieselbe je zwei Teilursachen paralysiert und so die dritte isoliert zur Geltung kommen l\u00e4fst. Auch dafs das eine oder andere Ergebnis der Analyse der un-analysierten Vorstellung gegen\u00fcber \u00c4hnlichkeit aufweist, braucht nicht aufzufallen; ein Einfaches kann ja, wie die Farbenvorstellungen zu zeigen scheinen, trotz seiner Einfachheit \u00c4hnlichkeiten nach verschiedener Richtung aufweisen. Wie aber soll die Analyse es anfangen, bei intakten Sinnesorganen und offenen Leitungsbahnen bald diesem, bald jenem Reiz den Zutritt zum Centralorgan gleichsam zu verschliefsen? Wie bringt es die fragliche Th\u00e4tigkeit vollends zu st\u00e4nde, gleichsam verschiedene Richtungen zu nehmen und so bald auf a, bald auf b, bald auf c zu gelangen, eventuell sogar absichtlich, obwohl das einfache C zu einer Differenzierung von Absichten gar keine Angriffspunkte zu bieten scheint? W\u00e4re die Analyse einmal vollzogen, oder sonst woher bekannt, dafs Ra f\u00fcr sich a, Rb f\u00fcr sich b und Rc f\u00fcr sich c hervorbringt, dann k\u00f6nnte sich freilich die Absicht sofort auf das erinnerte a) b oder c richten; warum sollte aber eine solche Absicht die auszuschaltenden Teilursachen in ihrer Funktion st\u00f6ren?\nAnnahme 2: Wie ist es zu verstehen, dafs Ra vor der Analyse x, nach derselben a hervorbringt, analog Rb und Rc vorher y und \u00a3, nachher b und c? Am ungezwungensten wird dem noch die Voraussetzung Rechnung tragen, dafs bei der Kausierung von x doch auch das Rh und Rc beteiligt ist, analog bei y und z1 und dafs dann die Analyse wieder diese Mit-","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\t351\neinfl\u00fcsse paralysiere. Aber abgesehen davon, dabs sich schon in betreff einer solchen Mitbeeinflussung wenig Bestimmtes denken l\u00e4fst, bestehen die der ersten Annahme eben entgegengehaltenen Schwierigkeiten dann auch hier ohne weiteres zu Hecht. Warum aber gelegentlich diese Miteinfl\u00fcsse schwach genug werden k\u00f6nnen, dafs ein a oder b dem betreffenden x oder y gegen\u00fcber doch keine Verschiedenheit mehr erkennen labst, daraub versagt die Hypothese gleichfalls die Antwort. Eine neue Schwierigkeit1 tritt unter der mindestens h\u00f6chst plausiblen Annahme hervor, dabs der hier als Erfolg der Analyse angesprochene \u00dcbergang von x zu a oder von y zu b in einem Continuum verl\u00e4uft. Es erhebt sich dann die Frage, wie es zugeht, dafs diese Bewegung jedesmal nur gerade bis a, resp. b oder c f\u00fchrt und niemals dar\u00fcber hinaus; denn dafs a, b und c selbst bereits am nat\u00fcrlichen Ende des betreffenden Continuums gelegen sei, k\u00f6nnte doch nur als ganz besonderer Ausnahmsfall mit in Rechnung gezogen werden.\nAnnahme 3 : Die sonst so selbstverst\u00e4ndliche Koordination zwischen Reiz und Empfindung bleibt im vollsten Umfange aufrecht; die Funktion der Analyse aber, die uns ja nur als psychische Thatsache bekannt ist, l\u00e4fst sich hier auch psychologisch ausdr\u00fccken. Sie hat das a, b und c nicht erst den Reizen sozusagen abzugewinnen, sondern nur das schon vorhandene a, b und c dem Urteile gleichsam zug\u00e4nglicher zu machen. Dafs die Urteils- mit der Vorstellungssph\u00e4re nicht zusammenf\u00e4llt, mufs nicht erst diese Annahme behaupten, so gewifs es unwahrgenommene, ja unwahrnehmbare Empfindungs-inhalte und Inhaltsverschiedenheiten giebt.2 Zum \u00dcberflufs m\u00fcfste auch jede der beiden anderen Annahmen die n\u00e4mliche Leistung f\u00fcr die Analyse ansprechen; Thatsache bliebe ja aut alle F\u00e4lle, dafs das C der Beurteilung zum wenigsten minder g\u00fcnstig liegt, als fl, b oder c, indes von einem xt y oder z der direkten Erfahrung einfach gar nichts bekannt w\u00e4re.\nSollte es vollends m\u00f6glich sein, sich von der Art und Weise ein Bild zu machen, wie die fragliche Verschiebung der Erkenntnisgrenzen unter Voraussetzung eben dieser dritten Annahme vor sich geht, dann w\u00e4re das \u00dcbergewicht dieser\n1\tGeltend gemacht von stud. phil. W. im Wintersemester 1893.\n2\tYergl. Stumpf, Tonpsychologie I, S. 33 ff.","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352\nA. Meinong.\nAnnahme meines Erachtens \u00fcber jeden Zweifel gesichert. Vielleicht gelingt es, weiter unten hierzu Geeignetes beizubringen. F\u00fcr jetzt sei als Ergebnis des bisherigen nur verzeichnet, dafs das herk\u00f6mmliche Zutrauen auf die Analyse insofern wenigstens f\u00fcr berechtigt gelten kann, als angenommen werden darf, dafs niemals aus einer Vorstellung eine Qualit\u00e4t herausanalysiert wird, die nicht bereits in derselben enthalten war. In unseren Symbolen ausgedr\u00fcckt: F\u00fchrt die Analyse des G auf die Inhalte a, b und c, so ist C eine Komplexion und hat a, b und c zu Bestandst\u00fceken.1\nII.\nIch wende mich nunmehr der anderen, genauer der ersten von den beiden eingangs namhaft gemachten Voraussetzungen' zu, der gem\u00e4fs auf die Eventualit\u00e4t einer inhaltlichen Modifikation einer Vorstellung durch andere gleichzeitig gegebene Vorstellungen nicht Bedacht zu nehmen ist. Es fragt sich, ob die n\u00e4here Untersuchung auch in dieser Sache dem der Praxis gel\u00e4ufigen Vorgehen Recht giebt.\nZun\u00e4chst sei die Fragestellung etwas allgemeiner gefafst. Gesetzt, es werde zugleich m, n und o vorgestellt: ist, was in diesem Falle inhaltlich vorliegt, eben nur m, n und o, sozusagen ein objektives Kollektiv dieser drei Inhalte, oder ist es noch etwas dar\u00fcber? Dabei verlangt der Ausdruck \u201eobjektives Kollektiv\u201c, der zun\u00e4chst nur terminologischer Verlegenheit entspricht, eine kurze Erkl\u00e4rung. Es existieren, wie jedermann weifs, in der Wirklichkeit gar vielerlei Komplexionen, d. h. Ganze, die aus Teilen bestehen, bei denen die Art und Weise, wie sich aus diesen Teilen das Ganze zusammensetzt, mit ein charakteristisches St\u00fcck der Beschaffenheit dieses Ganzen ausmacht. Es kommt aber auch nicht selten vor, dafs man die Dinge (genauer: die Vorstellungen von den Dingen) erst miteinander verkn\u00fcpft, ohne dafs dieser in die Wirklichkeit gleichsam erst hineingetragenen Verkn\u00fcpfung in dieser Wirklichkeit selbst etwas entspricht. Gleichwohl kann solchen k\u00fcnstlich gebildeten Komplexionen etwas Wirkliches als Anlafs, als Anregung zum Verkn\u00fcpfen zu Grunde liegen, so dafs der Thatsache dieses Verkn\u00fcpftseins gelegentlich die Bedeutung\n1 \u00dcbereinstimmend auch Stumpf, Tonpsychologie I, S. 107.","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\t353\neignen kann, die Wirklichkeit in irgend einer, wenn auch indirekten Weise zu charakterisieren. Nun giebt es aber wenigstens Eine Art solcher Verkn\u00fcpfung, die, wenn man sie auch zumeist nur aus guten in der Beschaffenheit der zu Verkn\u00fcpfenden Dinge gelegenen Gr\u00fcnden vornehmen wird, doch an diese Gr\u00fcnde nicht gebunden ist, in diesem Sinne auch ganz willk\u00fcrlich stattfinden kann. Dies ist die Verkn\u00fcpfung einer Mehrheit vorgestellter Objekte zu einem Kollektiv, sprachlich ausgedr\u00fckt in der Konjunktion \u201eund\u201c, die eben darum so nichtssagend ist, weil sie sich \u00fcberall anbringen l\u00e4fst. Kann man daher von mehreren wirklichen Objekten weiter nichts zusammen aussagen, als dafs sie ein Kollektiv, eben eine Mehrheit, ausmachen, so impliciert dies, dafs die ganze Verbindung in sie nur durch das vorstellende Subjekt hineingetragen ist, d. h., dafs sie objektiv miteinander nichts zu schaffen haben. Diesen sozusagen objektiven Aspekt des Kollektivs soll die obige Bezeichnung \u201eobjektives Kollektiv\u201c treffen; was nichts weiter als ein objektives Kollektiv, d. i. das objektive Korrelat blofs eines Kollektivs ist, hat f\u00fcr sich allein nicht den geringsten Anspruch, in irgend einem objektiven Sinne f\u00fcr eine Komplexion zu gelten.\nIst nun aber der Sinn der obigen Frage klar erfafst, so merkt man auch sofort, wie wenig der Kollektivgedanke gen\u00fcgt, die Sachlage zu charakterisieren. Das gestattet schon die Voraussetzung nicht, dafs die drei Vorstellungen demselben Subjekte zur selben Zeit angeh\u00f6ren. Wenn man so oft betont hat, dafs alles zugleich psychisch Gegenw\u00e4rtige zur \u201eEinheit des Be-wufstseins\u201c verbunden sei, so ist damit doch jedenfalls eine Komplexion behauptet, die ihrer Natur nach in sich selbst zusammenh\u00e4lt und auf das Zusammengefafstwerden in keiner Weise angewiesen ist. Die Erfahrung lehrt, dafs diese Komplexion und die darin selbstverst\u00e4ndlich implicierte1 Relation je nach der Natur der zusammentreffenden Inhalte sich sehr verschieden gestalten kann. Ich rechne hierher, was Stumpf als verschiedene Verschmelzungsgrade an den Tonqualit\u00e4ten entdeckt hat; ganz anders treten ferner Farbe und Ausdehnung, ganz anders die verschiedenen Stellen des subjektiven Gesichts-\n1 Vergl. meinen Aufsatz: \u201eZur Psychologie der Komplexionen und ^Relationen\u201c in dieser Zntschrift Bd. II, S. 254.\nZftitsftlinfl; f\u00fcr Psvp.hnloffipi VT.","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354\nA. Meinong.\nraumes als Teile Eines Ganzen zu einander. Jedesmal aber sind diese Komplexionen und Relationen nicht erst durch eine reflektierende Intelligenz in die inhaltlich bestimmten Vorstellungen hineingetragen; sie sind vielmehr ein St\u00fcck Wirklichkeit. \u00fcber das man sich eben nur durch die Wirklichkeit kann belehren lassen, \u2014 ein St\u00fcck, um das die zusammen gegebenen m, n und o sozusagen reicher sind, als jenes aus den isolierten m-, n- und o- Vorstellungen gebildet gedachte Kollektiv.\nInzwischen betrifft das Interesse, aus dem die obige Fragestellung hervorging, nicht so sehr, was an zusammentreffenden Vorstellungen etwa psychologisch aufzudecken w\u00e4re, sondern zun\u00e4chst, was im Falle dieses Zusammentreffens und aus Anlafs desselben thats\u00e4chlich vorgestellt wird, ob immer noch m, n, o, und ob nichts als dieses. Hier\u00fcber darf man nat\u00fcrlich nicht etwa dort Aufschlufs erwarten, wo zwischen m, n und o irgend eine Unvertr\u00e4glichkeit besteht, auch dort nicht, wo, Wahrnehmungsvorstellungen vorausgesetzt, die ad\u00e4quaten Heize Rm, Rn und R0 im Falle ihres gleichzeitigen Auftretens sich zur Ursache einer neuen Wirkung x zusammensetzen, so dafs es zum Zusammentreffen der -m, n und o \u00fcberhaupt gar nicht kommt. Um so wichtiger ist f\u00fcr unsere Fragestellung die von Che. Eheenfels1 erwiesene Thatsache, dafs im n\u00e4mlichen Subjekte koexistierende Inhalte h\u00e4ufig andere, durch sie \u201efundierte\u201c Inhalte mit sich f\u00fchren. So ist Gestalt nicht blofs ein Kollektiv etwa von Ortsbestimmungen, Klangfarbe nicht ein Kollektiv von Teilt\u00f6nen u. s. f. ; der b\u00fcndigste Beweis daf\u00fcr liegt darin, dafs es gleiche Gestalten bei v\u00f6lliger Verschiedenheit der ihnen zu Grunde liegenden Ortsbestimmungen, gleiche Klangfarbe bei v\u00f6lliger Verschiedenheit der konstitutiven Teilt\u00f6ne geben kann. Zugleich dr\u00e4ngt sich nun aber die Frage auf, inwieweit der neu hinzukommende fundierte Inhalt f die vorgegebenen Inhalte m, n und o in ihrer Integrit\u00e4t bel\u00e4fst, \u2014 eben die oben aufgeworfene Ausgangsfrage.\nWieder eine Vorfrage: L\u00e4fst sich \u00fcber die Natur des Inhaltes /' etwas Allgemeines ausmachen? Nach Cornelius2\n1\tVierteljahrsschrift f\u00fcr wissenschaftliche Philosophie 1890; vergl. dazu meine oben citierte Abhandlung.\n2\tVierteigahrsschrift f\u00fcr wissenschaftliche Philosophie 1893, S. 65.","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\n355\nliegt darin \u201eoffenbar nichts anderes vor, als die Gesamtheit der Relationen der Teilinhalte, die diesen auf Grund ihrer Vereinigung . . . zukommen\u201c. Dem gegen\u00fcber mufs ich indes die von mir bereits vertretene1 Position, gegen welche diese Aufstellung polemisch gerichtet ist, aufrecht erhalten. Der Umstand freilich, dafs Cornelius ausdr\u00fccklich\u00bb von Relationen redet, welche den vorgegebenen Inhalten \u201eauf Grund ihrer Vereinigung\u201c zukommen, macht mich einigermafsen unsicher dar\u00fcber, ob unter diese Relationen etwa auch \u00c4hnlichkeit oder Distanz einbegriffen ist. Ich f\u00fcr mein Teil w\u00fcrde das nicht f\u00fcr statthaft erachten, weil die zwei Inhalten \u201ezukommende\u201c \u00c4hnlichkeit, gleichviel, welche Bedingungen erf\u00fcllt sein m\u00fcssen, um dieselbe zu erkennen, den betreffenden Inhalten ganz unabh\u00e4ngig davon eignet, ob sie gerade zusammen vorgestellt werden oder nicht. Einmal liegt aber hier immerhin noch der Schein einer Schwierigkeit vor, den erst eine allgemeinere relationstheoretische Untersuchung beseitigen kann, die ich mir f\u00fcr eine andere Gelegenheit aufsparen mufs; dann aber habe ich bei meinen Ausf\u00fchrungen, welche die Grundlage von Cornelius\u2019 Polemik bilden, jedenfalls zun\u00e4chst solche Vergleichungsrelationen im Auge gehabt: ich mufs also am Ende doch annehmen, dafs auch Cornelius dieselben nicht ausschliefst. Unter dieser Voraussetzung aber habe ich Folgendes zu entgegnen: Wir sind darin einig, dafs f thats\u00e4chlich vorgestellt wird; man kann aber doch nicht sagen, dafs, wenn man etwa eine Gestalt vorstellt, die Distanzen zwischen allen Ortsbestimmungen, welche die Gestalt ausmachen, thats\u00e4chlich vorgestellt werden. Analoges scheint von einem Zusammenklang von acht und mehr Teilkl\u00e4ngen, auch von einem Klange mit gr\u00f6fserer Anzahl von Obert\u00f6nen selbstverst\u00e4ndlich. Relationen aber, die nicht vorgestellt werden, k\u00f6nnen nicht mit dem fundierten Inhalt identisch sein, der vorgestellt wird. Cornelius beruft sich darauf, dafs ich \u00c4hnlichkeit durch gleiche Teile auch nicht \u201eerst dann bemerke, wenn mir die beiderseits gleichen Bestandteile einzeln gegenw\u00e4rtig sind\u201c. Meines Erachtens ergiebt sich aber daraus doch nur, dafs man kein Recht h\u00e4tte, Zusagen, die Vorstellung einer solchen \u00c4hnlichkeit sei inhaltlich nichts weiter, als die Gesamtheit jener Gleichheits-\n1 Biese Zeitschrift Bd. II, S. 248 f.\n23*","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356\nA. Meinong.\nVorstellungen, da diese letzteren eben gar nicht vorhanden zu sein brauchen. Der Ausdruck \u201e\u00c4hnlichkeit durch gleiche Teile\u201c besagt eben nichts weiter, als dais zwei Komplexionen, sofern sie ausreichend viele gleiche Bestandst\u00fccke besitzen, als Ganze \u00e4hnlich erscheinen: dafs, wer diese \u00c4hnlichkeit erkennt, auch die einzelnen Gleichheiten erkenne, ist dabei so wenig erforderlich, dafs die Gesamt\u00e4hnlichkeit bekanntlich bei Orientierung \u00fcber die Teilgleichheiten verschwinden kann. Nun soll ich freilich \u201edie Auffassung der \u00c4hnlichkeit mit ihrer Begr\u00fcndung\u201c verwechseln; das k\u00f6nnte, wenn es wirklich der Fall w\u00e4re, offenbar nur dann f\u00fcr den gegenw\u00e4rtigen Fragepunkt Bedeutung haben, wenn Begr\u00fcndung der \u00c4hnli ch keit mit Vorgestelltwerden derselben jedenfalls zusammenfiele. Aber ich w\u00fcfste nicht, wie die Behauptung solchen Zusammen-fallens den Erfahrungsthatsachen gegen\u00fcber zu vertreten w\u00e4re.\nGleichwohl wird Cornelius\u2019 Position in ihrem wesentlichsten Punkte aufrechtbleiben k\u00f6nnen.1 Um hier\u00fcber ins klare zu kommen, ist es von Wert, des Gegensatzes eingedenk zu sein, der zwischen den mancherlei Vorstellungsinhalten in betreff dessen besteht, was man ihre innerliche Selbst\u00e4ndigkeit nennen k\u00f6nnte. Man halte etwa den Inhalt einer bestimmten Farbenoder Tonvorstellung neben den Inhalt der Vorstellung \u00c4hnlichkeit oder sonst einer Relation. Auch Farbe ist, weil that-s\u00e4chlich oder vielleicht selbst notwendig an andere Inhalte, wie Ort, Ausdehnung u. s. f., gekn\u00fcpft, nicht kurzweg selbst\u00e4ndig; aber man kann diese Unselbst\u00e4ndigkeit ganz wohl eine \u00e4ufserliche nennen im Vergleich mit jener sozusagen innerlichen Unfertigkeit, welche dem Relationsgedanken ohne die Relationsglieder anhaftet, indes Rot oder S\u00fcfs bei aller Gebundenheit an Begleitthatsachen ein in sich gleichsam Abgeschlossenes darstellt. In diesem Sinne rede ich von innerer Selbst\u00e4ndigkeit der absoluten, innerer Unselbst\u00e4ndigkeit der Relationsinhalte und stelle vor allem die Frage, ob die fundierten Inhalte zu den innerlich selbst\u00e4ndigen oder unselbst\u00e4ndigen geh\u00f6ren.\nDie Antwort stellt sich von selbst ein : was sollte man auch unter einer Gestalt ohne Ortsbestimmungen, was unter\n1 Entgegen meinen sonst ganz hierher geh\u00f6rigen Erw\u00e4gungen in Bd. II, S. 259 f. dieser Zeitschrift, die eben noch um einen Schritt weiter gef\u00fchrt werden m\u00fcssen.","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\n357\neiner Melodie ohne T\u00f6ne denken? Wir k\u00f6nnen kurzweg sagen : Alle fundierten Inhalte sind innerlich unselbst\u00e4ndig. Es empfiehlt sich aber, wenn vielleicht auch nur, um Mifsver-st\u00e4ndnissen vorzubeugen, hinzuzuf\u00fcgen: Dasjenige, dem gegen\u00fcber sie unselbst\u00e4ndig sind, ist jederzeit eine Mehrheit; Eine Ortsbestimmung macht niemals eine Gestalt, Ein Ton niemals eine Melodie aus.1 Nun aber l\u00e4fst sich weiter behaupten, dafs Inhalte, denen solche innere Unselbst\u00e4ndigkeit einer Mehrheit gegen\u00fcber zukommt, entweder Relationen oder Komplexionen sein m\u00fcssen. Wir haben uns also in betreff der Natur unseres Inhaltes f auch nur zwischen diesen beiden Eventualit\u00e4ten zu entscheiden.\nZu dieser Entscheidung ist nichts weiter erforderlich, als sich daran zu erinnern, dafs wir eben das, was zu den m, n, o im Falle ihres Beisammenseins hinzukommt, als f bezeichnet haben. Dafs dieses f im Falle der Gestalt keine Ortsbestimmung, im Falle der Melodie nicht ein neuer Ton zu den anderen sein kann, ist freilich selbstverst\u00e4ndlich, und eben darum durften wir ja f als unselbst\u00e4ndig bezeichnen. Aber ebenso selbstverst\u00e4ndlich ist, dafs / nicht das aus m, n und o zusammengesetzte Ganze bedeuten kann; im Falle des Zusammenseins ist es ja nicht noch einmal m, n und o, das zum vorgegebenen m, n und o hinzukommt. Das aber kommt allerdings hinzu, dafs m, n, o nunmehr ein Ganzes \u2014 nicht blofs das oben erw\u00e4hnte Kollectiv \u2014- ausmachen, sowie die Eigenart dieses Ganzen. Anders ausgedr\u00fcckt: wenn man von einer Komplexion die Bestandst\u00fccke sozusagen in Abzug bringt, bleibt die Relation \u00fcbrig, verm\u00f6ge welcher die Bestandst\u00fccke eben die Komplexion ausmachen. Damit ist gesagt, dafs der fundierte Inhalt seiner Natur nach nichts anderes sein kann, als ein Relationsinhalt. Es ist die Relation s\u00e4mtlicher in die Komplexion eingegangener Bestandst\u00fccke, und Cokneli\u00fcS irrt, wenn dies richtig ist, nur insofern, als er statt dessen s\u00e4mtliche Relationen setzt, in denen die Bestandst\u00fccke paarweise stehen oder in die sie unter Umst\u00e4nden treten k\u00f6nnen, die im vorliegenden Falle des Zusammenseins von m, n und o gar nicht realisiert zu sein brauchen.\nBei aller Einfachheit der eben angestellten Erw\u00e4gung ist deren Ergebnis f\u00fcrs erste befremdlich: wer wird sich ent-\n1 Von Grenzf\u00e4llen, deren gleich unten S. 359 vor\u00fcbergehend zu gedenken sein wird, abgesehen.","page":357},{"file":"p0358.txt","language":"de","ocr_de":"358\nA. Meinong.\nschliefsen wollen, Gestalt oder Melodie eine Relation zu nennen? Aber, n\u00e4her besehen, soll dies auch niemandem zugemutet werden. Gestalt ist das Ganze der Ortsbestimmungen, Melodie ist das Ganze der zu ihr verbundenen T\u00f6ne; Gestalt und Melodie sind in der That Komplexionsnamen. Und das N\u00e4mliche gilt wahrscheinlich von den meisten anderen sprachlichen Bezeichnungen fundierter Inhalte, soweit diese, und das ist allerdings sehr beachtenswert, sich nicht sofort f\u00fcr das Sprachgef\u00fchl eines jeden als Relationsnamen ank\u00fcndigen. Cornelius\u2019 Vorschlag, den Ausdruck \u201efundierter Inhalt\u201c auf das \u201eEmpfindungsganze\u201c,1 allgemeiner also auf die Komplexion umzudeuten, f\u00e4nde somit an dem, was sich von den Bed\u00fcrfnissen des t\u00e4glichen Lebens in den herk\u00f6mmlichen Wortbedeutungen ausgepr\u00e4gt hat, eine gewisse St\u00fctze. Andererseits aber giebt es eben auch, wie ber\u00fchrt, W\u00f6rter genug, die ohne allen Vorbehalt Relationen bedeuten; zudem scheint mir eine Terminologie unnat\u00fcrlich, der gem\u00e4fs etwas, wenn auch nur einem Teile nach, sein eigenes Fundament sein m\u00fcfste. Ich glaube also nicht, dafs Cornelius\u2019 Ab\u00e4nderungsvorschl\u00e4ge Folge gegeben werden kann; nur wird in betreff der F\u00e4lle, f\u00fcr welche die obigen Beispiele von Gestalt und Melodie als typisch angesehen werden d\u00fcrfen, nicht zu \u00fcbersehen sein, dafs man es da in der That nicht blofs mit den fundierten Inhalten, sondern mit den fundierenden und fundierten Inhalten zusammen zu thun hat.\nEinen weit schwierigeren Stand hat unser Ergebnis einem anderen, oben schon wiederholt herangezogenen Beispiele gegen\u00fcber, n\u00e4mlich dem von der Klangfarbe. Nicht etwa deshalb, weil es doch schwer h\u00e4lt, dem einfachen Tone als solchem F\u00e4rbung abzusprechen. Darin k\u00f6nnte freilich ein fundamentaler Einwurf gegen die ganze hier vertretene Auffassung der Klangfarbethatsachen gefunden werden; aber es giebt mehr als einen Weg, solche Schwierigkeit zu beseitigen. Wer b\u00fcrgt mir vor allem f\u00fcr die psychologische Einfachheit des Stimmgabelklanges, wo schon die physikalische Einfachheit nichts weniger als selbstverst\u00e4ndlich ist, \u00fcberdies aber physikalische mit psychologischer Einfachheit gar nicht untrennbar verkn\u00fcpft sein m\u00fcfste?2 Wichtiger noch scheint mir ein anderes. Kom-\n1\tVierteljahrsschrift f\u00fcr wissenschaftliche Philosophie. 1893. S. 64.\n2\tVergl. \u00fcbrigens Stumpf, Tonpsychologie II. S. 257 ff.","page":358},{"file":"p0359.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\n359\nplexionen, wie Relationen bauen sieb, wie eben ber\u00fchrt, ihrer Katur nach auf Mehrheiten auf; aber Mehrheit hat Einsheit1 2 zum Grenzfalle und auch die Komplexions- und Relationstheorie mufs mit diesem Grenzfalle rechnen. Er begegnet ihr auch gelegentlich der Klangfarbenfrage nicht etwa zum ersten Male; eben die Eins ist eine Komplexion mit nur Einem Bestandst\u00fccke, Identit\u00e4t eine Relation mit nur Einem Gliede.\u201c Da k\u00f6nnte auch die allf\u00e4llige F\u00e4rbung einfacher T\u00f6ne dem Fortgange der Theorie kein un\u00fcberwindliches Hindernis entgegenstellen.\nAlso nicht die Grundfrage soll hier nochmals in betreff der Klangfarbe aufgeworfen werden, zumal Cornelius denen, die in dieser einen fundierten Inhalt sehen, in dankenswerter Weise in die H\u00e4nde gearbeitet3 hat. Terminologisch stehen \u00fcberdies die Dinge insofern m\u00f6glichst g\u00fcnstig, als der Ausdruck \u201eKlangfarbe\u201c die als fundierend anzunehmenden Inhalte nicht in gleicher Weise einbegreift, wie es etwa eben bez\u00fcglich des Ausdruckes \u201eMelodie\u201c sich herausstellte. Die Bedeutung des Wortes Klangfarbe b\u00f6te uns sonach wirklich den fundierten Inhalt in abstracto dar ; wer aber wird, darauf kommt es hier an, in dieser Wortbedeutung eine Relation vor sich zu haben meinen? Und doch mufs sie eine Relation sein, wenn alles Bisherige richtig ist. Ich habe das Frappierende, das diese Konsequenz an sich hat, wenn man sich zum ersten Male auf dieselbe gef\u00fchrt findet, viel zu deutlich erlebt, als dafs ich geneigt sein k\u00f6nnte, die Gegeninstanz leicht zu nehmen. Glaube ich dennoch, ihr kein entscheidendes Gewicht beimessen zu m\u00fcssen, so bestimmt mich hierzu die R\u00fccksicht auf die offenbar besonders ung\u00fcnstigen Umst\u00e4nde, unter denen sich\n1\tDas bisher ungebrauchte, hoffentlich aber nicht sprachwidrig gebildete Wort definiert sich durch den Zusammenhang. Der terminologische Vorschlag m\u00f6chte dem so oft zu Tage tretenden Bed\u00fcrfnisse Bechnung tragen, F\u00e4lle, wie den vorliegenden, von jenen, wo man einem Ganzen, z. B. dem Bewufstsein, Einheit zuschreibt, schon \u00e4ufserlich auseinanderhalten zu k\u00f6nnen.\n2\tPrincipiellen Anstofs wird an Grenzf\u00e4llen dieser Art niemand nehmen k\u00f6nnen, der es f\u00fcr statthaft erachtet, etwa die Gerade als krumme Linie mit unendlich grofsem Kr\u00fcmmungshalbmesser aufzufassen. Eine eingehendere Rechtfertigung hoffe ich \u00fcbrigens an anderer Stelle beibringen zu k\u00f6nnen.\n8 Vierteljakrsschrifl f\u00fcr wissenschatfliehe Philosophie. 1892. S. 442 ff.","page":359},{"file":"p0360.txt","language":"de","ocr_de":"S60\nA. Meinong.\nhier die Relations Vorstellung, falls eine solche vorliegt, der agnoscierenden Beurteilung darbietet.\n\u00dcberall, wo man Relationen zu erkennen gewohnt ist, heben sich deren Glieder anscheinend ganz von selbst voneinander ab; die Obert\u00f6ne dagegen bleiben vor ausdr\u00fccklich auf sie gerichteter Analyse meist unerkannt ; je deutlicher sie . aber erkannt werden, desto undeutlicher wird die Eigent\u00fcmlichkeit der Klangfarbe, ungef\u00e4hr so, wie es bei der oben ber\u00fchrten \u00c4hnlichkeit durch gleiche Teile geht, wenn die betreffenden Gleichheiten erkannt werden. Run belehren tins aber Gestalt und Melodie dar\u00fcber, wie die Relationsvorstellung mit der Vorstellung ihrer Fundamente so eng verschmelzen kann, dafs erst auf ganz indirektem Wege die \u00dcberzeugung vom Vorhandensein der ersteren neben den letzteren zu gewinnen ist. D\u00fcrfen wir in betreff der Klangfarbe das N\u00e4mliche annehmen, so ist damit sofort auch gegeben, dafs, weil dem Vorstehenden eben nur Ein Relationsglied, der Grundton, erkennbar ist, er auch die Klangfarben Vorstellung in engster Verbindung nur mit Einem Inhalte antrifft. Es ist dann nat\u00fcrlich, dafs er den Inhalt Klangfarbe als eine Bestimmung des Grundtons und nicht als eine Relation auffafst, da ein zweites Glied f\u00fcr eine Relation seinem Erkennen gar nicht gegeben ist. Ein besonderer Fall bleibt eine Relation, die verschwindet, wenn ihre Glieder hervortreten, immerhin; aber warum sollten bei verschiedenen Relationsklassen nicht verschiedene Gesetzm\u00e4fsig-keiten obwalten k\u00f6nnen? Es giebt ohne Zweifel Relationen, resp. Komplexionen, die, um vorgestellt zu werden, Analy-siertheit ihrer Glieder nicht verlangen ; das beleuchtet sogar der Fall der Melodie, die ganz wohl statt aus einer Folge distinkter T\u00f6ne aus einem Toncontinuum bestehend gedacht werden kann; noch deutlicher die Gestalt: warum sollte es nicht sein k\u00f6nnen, dafs einmal die Analysiertheit geradezu ein Hindernis f\u00fcr das Zustandekommen der fundierten Vorstellung ausmacht?\nDafs die so betr\u00e4chtliche Erweiterung des Umfanges des Terminus Relation, wie sie mir durch die Theorie der fundierten Inhalte gefordert erscheint, die Folge nach sich ziehen mufs, dafs manches demgem\u00e4fs als Relation zu Bezeichnende einen wesentlich anderen Aspekt darbieten m\u00f6chte als der ist, den man sich bisher an dieses Wort zu kn\u00fcpfen","page":360},{"file":"p0361.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\t361\ngew\u00f6hnt hatte, darauf m\u00fcfste man, auch wenn es nicht zur geringsten Begriffserweiterung k\u00e4me, ohnehin gefafst sein. Wer w\u00fcrde \u00fcberdies den Gedanken einer angemessenen Erweiterung des Relations begriffes schon vor jeder \u00dcberlegung von der Hand weisen wollen?\nDie Erw\u00e4gungen, die hier an den speciellen Fall der Klangfarbe gekn\u00fcpft werden mufsten, f\u00fchren uns zugleich auf die Ausgangsfrage dieses Abschnittes zur\u00fcck; denn dieser Fall kann als ein typischer Repr\u00e4sentant f\u00fcr die Ver\u00e4nderungen angesehen werden, welchen ein Inhalt beim Zusammentreffen mit anderen Inhalten ausgesetzt scheint. Der einfache Grundton m zusammen mit den Obert\u00f6nen n und o fundiert die Klangfarbe f, in der sich nunmehr der Ton darstellt. Ist das Obige richtig, so ist m in Wahrheit unmodificiert geblieben; nur ist es eine Komplexion eingegangen, deren charakteristische Relation sich als quasi modificierendes Moment geltend macht. Soweit also die Analogie zu diesem Beispiele uns in den Stand setzt, auch anscheinenden Inhaltsver\u00e4nderungen gegen\u00fcber die Integrit\u00e4t der Inhalte unbeschadet ihres Zusammenseins aufrecht zu erhalten, d\u00fcrfen wir die Frage, ob ein Inhalt durch sein Zusammentreffen mit anderen Inhalten alteriert wird, allgemein mit Nein beantworten und sonach auch hierin der Vormeinung der Vulg\u00e4rpsychologie Recht geben. Eine kleine, wieder die Intensit\u00e4t betreffende Einschr\u00e4nkung ist \u00fcbrigens auch hier erforderlich; es ist Thatsache, dafs gleichzeitig empfundene T\u00f6ne einander in Bezug auf ihre St\u00e4rke beeintr\u00e4chtigen k\u00f6nnen.1 Aber auch hier wird unter gew\u00f6hnlichen Umst\u00e4nden die Ausnahme der Regel gegen\u00fcber ohne Schaden vernachl\u00e4ssigt werden k\u00f6nnen.\nUnstatthaft w\u00e4re dagegen, aus inhaltlicher (zun\u00e4chst qualitativer) Unber\u00fchrtheit durch die psychische Umgebung auch auf aufserinhaltliche ohne alle Einschr\u00e4nkung zu schliefsen; auch hier\u00fcber gew\u00e4hrt der Fall der Klangfarbe Aufschlufs. Es wurde oben eigentlich bereits vorausgesetzt, dafs, wer den gef\u00e4rbten Klang h\u00f6rt, auch die Obert\u00f6ne empfindet, wenn auch, ohne von ihnen Notiz zu nehmen. Wer f\u00fcr diese Annahme eine ausdr\u00fcckliche Legitimation verlangt, findet sie in\n1 Yergl. Stumpf, Tonpsychologie II. S. 418 ff.","page":361},{"file":"p0362.txt","language":"de","ocr_de":"362\nA. Meinong.\nden Ausf\u00fchrungen des vorigen Abschnittes zusammen mit der Erfahrungsthatsache, dafs die Obert\u00f6ne unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden aus dem Klange herausanalysiert werden k\u00f6nnen. F\u00f6rdert die Analyse nichts zu Tage, was in dem zu analysierenden Inhalte nicht bereits vorgegeben war, so sind mit dem Grundtone und dessen Klangfarbe die \u00dcbert\u00f6ne bereits thats\u00e4chlich empfunden worden. Wem ist es aber zuzuscbreiben, dafs wir die Obert\u00f6ne, vulg\u00e4r zu reden, nicht ebenso wahrnehmen, wie den Grundton, oder genauer, dafs wir die Inhalte der Obertonempfindungen nicht ebenso zur Grundlage von Wahrnehmungsurteilen machen k\u00f6nnen, als den Grundtoninhalt? Oie Obertonvorstellungen selbst, soweit sie durch den Reiz oder den Zustand des Geh\u00f6rorganes bestimmt sind, k\u00f6nnen nicht schuld daran sein; denn bei Hinwegfall des Grundtones und der \u00fcbrigen Obert\u00f6ne aufser einem einzigen w\u00e4re dieser unter normalen Umst\u00e4nden sicherlich vernehmlich gewesen, wie durch angemessene Ver\u00e4nderungen in Bezug auf den Schallreiz ja experimentell zu konstatieren w\u00e4re. Hier ist also den begleitenden Empfindungen jedenfalls die Bedeutung beizumessen, dafs sie die begleitete Vorstellung gleichsam der Sph\u00e4re des Erkennbaren entr\u00fccken; und leicht wird man den n\u00e4mlichen Sachverhalt dort wiedererkennen, wo man etwa ein Ger\u00e4usch um eines anderen st\u00e4rkeren willen \u00fcberh\u00f6rt, einen unscheinbaren Gegenstand inmitten auff\u00e4lligerer \u00fcbersieht u. dergl. m. Manchmal resultiert nicht kurzweg Unerkennbarkeit, sondern blofs Erschwerung des Beurteilens, wie wenn sich einer im H\u00f6ren durch aufdringliche Gesichtseindr\u00fccke, oder wol auch im Schauen durch starken L\u00e4rm \u201egest\u00f6rt\u201c findet. Der Erfahrung des t\u00e4glichen Lebens sind dies wohlbekannte Thatsachen, f\u00fcr die sie jedem ein umfassendes Induktionsmaterial zur Verf\u00fcgung stellt ; indem aber das Vulg\u00e4rinteresse, den \u00e4ufseren Thatbest\u00e4nden fast ausschliefslich zugewandt, von den inneren eben nur soweit Notiz nimmt, als erforderlich ist, um jener Wirklichkeit m\u00f6glichst gerecht zu werden, giebt es sich mit dem negativen Sinne von Bezeichnungen, wie \u201e\u00fcberh\u00f6ren\u201c, \u201e\u00fcbersehen\u201c, an deren Stelle auch \u201enicht h\u00f6ren\u201c, \u201enicht sehen\u201c treten kann, zufrieden, ohne danach zu fragen, ob der schliefs-liche Entfall des Wahrnehmungsurteiles, vielleicht auch wohl gelegentlich des Relationsurteiles, einem Ausfall an Empfindung oder nur einem Ausfall an Urteil beizumessen ist. Die Theorie","page":362},{"file":"p0363.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\n363\naber darf auf Grund des so umfassenden Materials hier ohne Bedenken das eben Dargelegte zu dem Satze verallgemeinern, dafs jede Vorstellung durch Begleitvorstellungen zwar nicht inhaltlich ver\u00e4ndert, wohl aber in ihrer Beurteilbarkeit beeintr\u00e4chtigt wird.\nEs f\u00e4llt in die Augen, dafs sonach das Zusammensein von Inhalten sozusagen eine entgegengesetzte Tendenz aufweist, wie die Analyse; und in der That ist es der Praxis gel\u00e4ufig, Unzuk\u00f6mmlichkeiten, die aus jenem Zusammensein entspringen, durch Analyse zu beseitigen. Da ferner, wie wir sahen, die Analyse inhaltliche (namentlich qualitative) Ver\u00e4nderungen am Analysierten thats\u00e4chlich nicht hervorbringt, so k\u00f6nnen wir die zu Beginn dieser Abhandlung gestellte Rechtsfrage zusammenfassend nun dahin beantworten, dafs sich gegen das Vorgehen der Denkpraxis, sofern diese an der unvermeidlichen Komplexit\u00e4t der Inhalte keinerlei Hindernis antrifft, das unter normalen Umst\u00e4nden nicht wenigstens durch Analyse zu beseitigen w\u00e4re, nichts Begr\u00fcndetes einwenden l\u00e4fst. Der Theorie aber erw\u00e4chst gegen\u00fcher der in solchen Vorg\u00e4ngen zu Tage tretenden Beweglichkeit der Erkenntnisschranken die Aufgabe, dem psychologischen Grunde solcher Ver\u00e4nderungen, die offenbar ihrem Wesen nach nicht oder doch nicht ausschliefslich Ver\u00e4nderungen der Inhalte sind, nachzuforschen. Wir stehen damit, wie ohne weiteres ersichtlich, direkt vor dem Problem der Analyse.\n2. Analyse und Mehrheitsurteil.\nEs wurde eben ber\u00fchrt, dafs der Analyse wesentlich der entgegengesetzte Erkenntniserfolg eignet wie dem Hinzutreten neuer Inhalte zu bereits gegebenen. Dieses Hinzutreten, so weit es der Aktivit\u00e4t des Subjektes, entspringt, kann man f\u00fcglich als Synthese bezeichnen und sich damit der \u00fcblichen Ansicht von der gegens\u00e4tzlichen, vielleicht auch korrelativen Bedeutung der Termini Analyse und Synthese anschliefsen. Besagt Synthese soviel als Zusammenfugen oder Verbinden, so scheint dann unter Analyse nicht wohl anderes, als Zerlegen \u00f6den Trennen verstanden werden zu k\u00f6nnen.\nWirklich hat diese Auffassung, die sich f\u00fcr die Bed\u00fcrfnisse des aufserpsychischen Gebietes bestens bew\u00e4hrt hat, auch in","page":363},{"file":"p0364.txt","language":"de","ocr_de":"364\nA. Meinong.\nden Interessenkreis der gegenw\u00e4rtigen Untersuchung Eingang gefunden. Ohne auf weitere theoretische Erw\u00e4gungen sich einzulassen, hat der Gedanke, man brauche psychische Komplexionen blofs auseinanderzunehmen, um st\u00f6rendes Beiwerk beiseite zu schaffen, stets die Denkpraxis des t\u00e4glichen Lebens beherrscht, oder vielleicht genauer: die Praxis hat den Gedanken nach sich gezogen, wenn sich ja einmal das Bed\u00fcrfnis herausstellte, das praktisch so oft bew\u00e4hrte Vorgehen theoretisch zu legitimiren. Und vielleicht hat gerade der Umstand, dafs praktische Unzuk\u00f6mmlichkeiten, d. h. Irrt\u00fcmer bei dem wohlvertrauten Verfahren nicht leicht zu Tage kamen, es mit sich gebracht, dafs das theoretische Nachdenken sich lange genug gar nicht die Zeit nahm, nachzusehen, ob das fragliche Denkverfahren denn mit dem Trennen und Zerlegen auch wirklich etwas Erhebliches zu schaffen habe.\nNur in betreff Eines, allerdings eines fundamental wichtigen Specialfalles ist dieser, wie man wohl sagen k\u00f6nnte, naive Standpunkt l\u00e4ngst verlassen: in betreff der Abstraktionstheorie. Was vielen der alten Nominalismus-Schwierigkeiten in dunklen Umrissen zu Grunde gelegen haben wird, was Berkeley in voller Sch\u00e4rfe gegen Locke geltend gemacht und, wie man wohl sagen mufs, der Hauptsache nach f\u00fcr alle Zeiten sicher gestellt hat,1 das ist im Grunde doch nichts als die Unzul\u00e4ssigkeit der Annahme, dafs es gewissermafsen im unbeschr\u00e4nkten Belieben des Subjektes liege, Teile einer gegebenen Vorstellungs-Komplexion abzutrennen und \u201ewegzulassen\u201c. Freilich handelt es sich hier zun\u00e4chst und naturgem\u00e4fs um Einbildungsvorstellungen, indes das Problem der Analyse ebenso naturgem\u00e4fs zun\u00e4chst an WahrnehmungsVorstellungen aufgeworfen wird. Und obwohl keine der beiden Einschr\u00e4nkungen wesentlich ist, so wird es in erster Linie ihnen beizumessen sein, dafs es auch heute noch nicht eben herk\u00f6mmlich ist, Analyse und Abstraktion unter dem n\u00e4mlichen Gesichtspunkte zu behandeln.2 Jedenfalls aber wird man sich nicht versucht f\u00fchlen, sich in Sachen der Analyse bei einer Auffassung aufzuhalten, die in Sachen der Abstraktion l\u00e4ngst allen Boden verloren hat.\n1\tVergl. meine Untersuchungen \u201eZur Geschichte und Kritik des modernen Nominalismus\u201c, Hume-Studien I. S. 5 ff.\n2\tEine Ausnahme macht A. H\u00f6fler, Logik (\u201ePhilosophische Prop\u00e4deutik\u201c Bd. I.) S. 21 ff.","page":364},{"file":"p0365.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\n365\nPsychische Analyse ist also etwas Anderes als Zerlegung im w\u00f6rtlichen Sinne. Sucht man nun aber nach einer positiven Charakteristik, so scheint sich nichts ungezwungener hierzu verwenden zu lassen als der Unterscheidungsgedanke : ist Analysieren auf psychischem Gebiete auch nicht Auseinanderlegen, so mufs es doch wohl Auseinanderhalten der Teilinhalte sein. Analysieren w\u00e4re sonach das auf die Teilinhalte gerichtete Unterscheiden. Wirklich wird soviel richtig sein, dafs, wo wir nicht mehr unterscheiden k\u00f6nnen, auch f\u00fcr psychische Analyse die Angriffspunkte fehlen. \u00dcbrigens aber ist der in Rede stehenden Auffassung mit Recht entgegengehalten worden,1 dafs Analyse deshalb nicht als Specialfall des Unterscheidens gelten kann, weil alles Unterscheiden bereits Analyse des zu Unterscheidenden voraussetzt. In der That, solange zwei Inhalte x und y mir blofs als Teile einer un-analysierten Gesamtvorstellung s vorliegen, bin ich aufser st\u00e4nde, sie derart einander gegen\u00fcberzustellen, dafs ich \u00fcber ihre Gleichheit oder Ungleichheit zu urteilen verm\u00f6chte. Wo immer es also erforderlich ist, die Teile eines Inhaltsganzen erst durch Analyse herauszuarbeiten, dort mufs die Analyse allf\u00e4lligen Akten des Unterscheidens zwischen diesen Teilen vorausgehen, kann also nicht durch diese Akte erst ausgemacht werden.\nWeit f\u00f6rderlicher f\u00fcr unser Vorhaben d\u00fcrfte sich die Stellungnahme zu C. Stumpfs Bestimmung erweisen, dafs \u201eunter Analyse die Wahrnehmung einer Mehrheit\u201c zu verstehen sei.2 Vor allem erhebt sich hier die Frage, ob eine Mehrheit als solche sich \u00fcberhaupt wahrnehmen l\u00e4fst. Es w\u00e4re dies eine ziemlich m\u00fcfsige Erw\u00e4gung, handelte sich\u2019s beim Wahrnehmen der Mehrheit um nichts, als um die Wahrnehmung des \u2014 man gestatte den etwas seltsam klingenden Ausdruck \u2014 Mehreren, also etwa der Punkte, T\u00f6ne oder was f\u00fcr Objekte es sonst sein m\u00f6gen, von denen sich mit Recht aussagen l\u00e4fst, dafs ihrer mehrere sind. Das, worauf es ankommt, ist aber vielmehr, ob man von der Mehrheit selbst eine Wahrnehmungsvorstellung haben kann, welche dann gleich anderen Wahr-\n1 Vgl. E. Hosserl, \u201ePhilosophie der Arithmetik* Bd. I. Halle a. S. 1891.\nS. 59.\ns Tonpsychologie Bd. II. S. 4; vergl. auch Bd. I. S. 96.","page":365},{"file":"p0366.txt","language":"de","ocr_de":"366\nA. Meinong.\nnehmungsvorstellungen das Wahrnehmungsurteil tr\u00e4gt, also ob man Mehrheit ebenso empfinden kann, wie man Rot sieht oder den Ton G h\u00f6rt, oder ob man sie etwa wahrnehmen kann, wie ein psychisches Geschehnis.\nWas man etwa den ersten Anschein in dieser Sache nennen k\u00f6nnte, spricht schwerlich daf\u00fcr, und der, einmal gefafste Zweifel findet Kr\u00e4ftigung in der jedenfalls sehr auffallenden Thatsache, dafs der charakteristische, gleichviel wie n\u00e4her zu bestimmende1 Gegensatz zwischen Wahrnehmnngs- und Einbildungsvorstellung f\u00fcr den Fall der Vorstellung \u201eMehrheit\u201c nicht recht zur Geltung zu kommen scheint. Es ist zwar sicher nicht einerlei, ob ich mehrere \u00c4pfel sehe oder nur an solche denke ; aber es ist zum mindesten gar nicht selbstverst\u00e4ndlich, dafs an der hier vorliegenden psychologischen Verschiedenheit auch die Mehrheitsvorstellung Anteil hat.\nEntscheidend erscheint mir indes der auch von Stumpf ber\u00fchrte Umstand, dafs, um zur Vorstellung einer Mehrheit zu gelangen, es nicht gen\u00fcgt, sich dem Eindruck der betreffenden Objekte passiv hinzugeben, indem dazu auch noch ein \u201ezusammenfassender psychischer Akt\u201c2 seitens des Subjektes erforderlich ist. Nun meint Stumpf freilich \u00fcbereinstimmend mit E. Husserl, die \u201eReflexion\u201c auf diesen Akt sei das zur Bildung der Mehrheitsvorstellung Wesentliche; dem scheint aber die Erfahrung aufs bestimmteste zu widersprechen. So gewifs wir im st\u00e4nde sind, das Forum der \u00e4ufseren von dem der inneren Erfahrung auseinanderzuhalten, so gewifs bleibe ich, wenn ich eine Mehrheit \u00e4ufserer Objekte vorstelle, auch mit dieser Mehrheitsvorstellung im Inhaltsbereiche des Forum externum. Und sollte dem entgegengehalten werden, dafs dieses Argument auch noch manchen anderen Fall tr\u00e4fe, in welchem unsere Vorstellung eines \u00e4ufseren Thatbestandes eigentlich aus Daten unseres Innenlebens bestritten werde, so stehe ich nicht an, einstweilen, vorbehaltlich n\u00e4herer Ausf\u00fchrung an anderem Orte, meine \u00dcberzeugung dahin auszusprechen, dafs alle Erkl\u00e4rungsversuche dieser Art das gr\u00f6fste\n1\tDen Versuch einer genaueren Pr\u00e4cisierung habe ich in der Viertel-jahrschr. f. w. Philos. 1889. S. 5 ff. gemacht ; eine wesentliche Berichtigung zu demselben kommt unten S. 374 Anm. 1 zur Sprache.\n2\tTonpsychologie Bd. II. S. 5. Anm. 2.","page":366},{"file":"p0367.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\n367\nMifstrauen verdienen. Den darin hervortretenden Bed\u00fcrfnissen aber wird vor allem durch den Gedanken der fundierten Inhalte in betr\u00e4chtlich befriedigenderer Weise Rechnung zu tragen sein, da diese Inhalte in betreff des Gegensatzes von aufsen und innen, oder, wenn man es lieber so ausdr\u00fcckt, von physisch und psychisch zwanglos den fundierenden Inhalten folgen.\nAber nehmen wir selbst an, der Appell an die \u201eReflexion\u201c w\u00e4re einwurfsfrei, so kann die Meinung doch nat\u00fcrlich nicht die sein, dafs den Objekten, um deren Mehrheit es sich handelt, ein psychischer Akt zugeschrieben wird. Vielmehr wird es am Ende doch auf eine Relation zwischen jenen Objekten und diesem Akte hinauskommen m\u00fcssen, aber offenbar keine jener Relationen, welche an die Existenz des psychischen Aktes gebunden sind; denn die Mehrheit kommt jenen Objekten nicht nur zu, solange ich an sie denke. Nun giebt es allerdings wahrnehmbare Relationen; aber es sind dies, soviel mir bekannt, ausnahmslos Relationen, deren Existenz an die Existenz ihrer Glieder gebunden ist. Nat\u00fcrlich verkenne ich nicht, d\u00e0fs mehr als eine der hier aufgestellten Behauptungen einer besonderen Rechtfertigung bedarf, die zu versuchen ich mir f\u00fcr eine andere Gelegenheit aufsparen mufs; vorbehaltlich aber, dafs der Versuch zum Ziele f\u00fchrt, darf ich der STUMPFschen Definition der Analyse entgegenhalten, dafs sich als \u201eWahrnehmung einer Mehrheit\u201c deshalb nichts definieren lasse, weil eine Mehrheit als solche \u00fcberhaupt nicht wahrgenommen werden kann.\nNun gelingt es freilich mit leichter M\u00fche, die fragliche Position, die ohnehin kaum mehr bezweckt haben wird, als den Untersuchungen, denen sie vorangestellt ist, eine praktisch brauchbare Direktive zu geben, im Sinne der obigen Darlegungen zu modifizieren; man braucht nur statt \u201eWahrnehmen der Mehrheit\u201c etwas wie \u201em\u00f6glichst direkt auf Wahrnehmung gegr\u00fcndetes Erkennen der Mehrheit\u201c zu setzen. Aber wird man ungezwungen auch dort von Analyse reden k\u00f6nnen, wo das Subjekt allem Anscheine nach gar keine Gelegenheit hat, zu \u201eanalysieren\u201c? Wer, indem er des Abends von einer Anh\u00f6he in die beleuchteten Strafsen einer Stadt blickt, die Mehrheit der Lichter erkennt, verh\u00e4lt sich dabei keineswegs passiv; gleichwohl zeigt dabei unter normalen Umst\u00e4nden die innere Erfahrung nicht das Mindeste von dem, dessen man sich bei anderen Gelegenheiten unter dem Namen","page":367},{"file":"p0368.txt","language":"de","ocr_de":"368\nA. Meinong.\neiner \u201eanalysierenden\u201c Th\u00e4tigkeit gar wohl bewufst ist.1 An F\u00e4llen dagegen, wo diese letztere nicht zu verkennen ist, wird deutlich, dafs an diesen weit eher die, die Mehrheitserkenntnis vorbereitende Th\u00e4tigkeit, als die Mehrheitserkenntnis selbst auf den Namen Analyse Anspruch hat. Zugleich bietet sich eine Direktive f\u00fcr die n\u00e4here Bestimmung dieser Th\u00e4tigkeit dar, denn offenbar ist Analyse die Th\u00e4tigkeit, die auf die Herbeif\u00fchrung jenes psychischen Zustandes gerichtet ist, welcher bei der ersten Art der oben namhaft gemachten Mehrheitserkenntnisse als Voraussetzung derselben ohne Zuthun des Subjekts bereits vorliegt.\nEs kommt hinzu, dafs keineswegs jede Analyse auf die Erkenntnis einer Mehrheit f\u00fchrt. Das Eine freilich ist aufser Zweifel: wer analysiert, mufs etwas analysieren, und soll an diesem Etwas die analytische Th\u00e4tigkeit \u00fcberhaupt Angriffspunkte finden, so mufs es, objektiv besehen, eine Mehrheit sein. Wenn ich aber aus einem vorgegebenen Ganzen einen Teil \u201eherausanalysiere\u201c, wie man jedenfalls ganz verst\u00e4ndlich sagen kann, so bleibt es noch durchaus offen, ob dieser Teil selbst ein Einfaches ist oder nicht.\nAber man kann und mufs, wie mir scheint, noch einen Schritt weiter gehen : Analyse ist ihrem Wesen nach nicht nur nicht Erkenntnis einer Mehrheit, sondern \u00fcberhaupt nicht Erkenntnis. Sicherlich wird zumeist im Hinblick auf ein angestrebtes Erkennen analysiert, aber das Analysieren ist selbst noch kein Erkennen, weil es noch gar kein Urteilen ist; und jedermann kann sich durch den Versuch davon \u00fcberzeugen, dafs er einen vorgegebenen Inhalt ganz wohl zu analysieren vermag, ohne \u00fcber anderes zu urteilen, als etwa dar\u00fcber, dafs er analysiert, was nat\u00fcrlich f\u00fcr die Identit\u00e4t von Analyse und Urteil gerade so wenig besagt, als aus dem Umstande, dafs ich von einem eben in der \u00e4ufseren Natur sich abspielenden Ereignis durch ein Wahrnehmungsurteil Kenntnis nehme, erschlossen werden kann, dieses Ereignis sei seinem Wesen nach ein Wahrnehmungsurteil oder eine Wahrnehmungsth\u00e4tigkeit. Liegen sonach die Leistungen der Analyse zun\u00e4chst innerhalb des Vorstellungsgebietes, so l\u00e4fst gleichwohl die zweifellose\n1 Dafs Stumpf den Terminus \u201eAnalyse\u201c weiter fafst, als der gew\u00f6hnliche Sprachgebrauch, ber\u00fchrt er selbst a. a. O. Bd. I. S. 96 unten.","page":368},{"file":"p0369.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\n369\nErkenntnisbedeutung dieser Leistungen den Versuch, sieb von dieser Erkenntnisbedeutung aus \u00fcber das eigentliche Wesen jener Leistungen zu orientieren, mindestens nicht von vornherein aussichtslos erscheinen.\n3. Urteilssph\u00e4re und Vorstellungsgewicht.\nI.\nWer Vorstellen und Urteilen als zwei grundverschiedene psychische Beth\u00e4tigungsweisen erkannt hat, findet sich leicht auf die Frage nach den n\u00e4heren Umst\u00e4nden des Zusammenauftretens dieser Beth\u00e4tigungsweisen gef\u00fchrt. Und weil ein Zweifel dar\u00fcber, dafs, was beurteilt wird, jedenfalls auch vorgestellt werden mufs, nicht wohl aufkommen kann, so gilt es solange das Problem nicht specialisiert wird, nur noch, festzustellen, ob etwa auch umgekehrt alles Vorgestellte schon als solches Gegenstand der Beurteilung sei. Indes bietet sich die Antwort auch hierauf mit einer ans Triviale grenzenden Selbstverst\u00e4ndlichkeit, sobald die Einbildungsvorstellungen in dieselbe mit einbegriffen sind; wer m\u00f6chte auch glauben, dafs die Gesch\u00f6pfe k\u00fcnstlerischer und nichtk\u00fcnstlerischer Einbildung, wie deren im Gedankenleben eines jeden so viele kommen und gehen, allemal auch etwas mit der \u00dcberzeugung des vorstellenden Subjektes zu thun haben? Dagegen ist die Sachlage f\u00fcr den besonderen Fall der Wahrnehmungsvorstellungen sehr wohl einer Erw\u00e4gung wert, wenngleich auch hier, sofern ich recht sehe, der Ausfall der Entscheidung in ganz eindeutiger Weise vorbestimmt ist.\nGiebt es, so lautet hier die Hauptfrage, Wahrnehmungsvorstellungen, an deren Inhalt sich kein Wahrnehmungsurteil kn\u00fcpft? Das Mifsverst\u00e4ndnis, als ob schon ex definitions aus der Wahrnehmungsvorstellung auf die Wahrnehmung, d. h. das Wahrnehmungsurteil geschlossen werden k\u00f6nnte, habe ich an anderem Orte1 zu beseitigen versucht; in der That ist es die reine quaestio facti, die uns im gegenw\u00e4rtigen Zusammenh\u00e4nge besch\u00e4ftigt. Diese beantwortet sich,2 ohne auf patho-\n1\tVierteljahrsschr. f. wiss. Philos. 1888. S. 478. 481.\n2\tEntgegen einer a. a. O. S. 481, Z. 11 v. o. ff., vor\u00fcbergehend ausgesprochenen Vermutung.\nZeitschrift fiir Psychologie VI.\n24","page":369},{"file":"p0370.txt","language":"de","ocr_de":"370\nA. Meinong.\nlogische F\u00e4lle hier eingehen zu wollen, ebenso gewifs mit Ja, als wir oben im Bechte waren, im Falle einer geeigneten Sinnesreizung hei offenen Leitungsbahnen unter normalen Umst\u00e4nden eine Empfindung anzunehmen. Denn in einer Sache, in der wir bereits bez\u00fcglich des Vorstellens auf Annahmen angewiesen sind, h\u00e4tte der Versuch, diese Annahme auch noch auf ein stets begleitendes Urteilen auszudehnen, niehts f\u00fcr und alles gegen sich. Vielmehr werden unter den vielerlei Wahrnehmungsvorstellungen, die zu bestimmter Zeit dem Subjekte durch seine Sinne zugef\u00fchrt werden, nur relativ wenige sein, deren Inhalte zugleich als Inhalte von Wahrnehmungsurteilen auftreten. Ohne Zweifel bilden letztere eine Art Centralgebiet, in welchem Interesse und intellektuelle Th\u00e4tigkeiten ihre n\u00e4chsten Angriffspunkte finden ; aber die \u00fcberwiegende Bedeutung dieses Centrums w\u00fcrde uns nicht dazu berechtigen, die Existenz der Peripherie aufser Betracht zu lassen. Denkbar w\u00e4re nun freilich auch noch, dafs an solche eben unter dem Bilde der Peripherie zusammengefafste Inhalte sich zwar nicht Wahrnehmungs-, daf\u00fcr aber Beziehungsurteile irgend welcher Art kn\u00fcpfen; aber wer m\u00f6chte da an verwickeltere intellektuelle Funktionen glauben, wo die einfachen versagen? Man wird also jedenfalls ohne Bedenken den allgemeinen Satz aufstellen k\u00f6nnen: f\u00fcr jedes Subjekt reicht, es m\u00fcfste denn einmal ein ganz besonderer Zufall im Spiele sein, zu jeder Zeit die Vorstellungssph\u00e4re weiter, man wird wohl sagen k\u00f6nnen: betr\u00e4chtlich weiter, als die Urteilssph\u00e4re.\nEs fehlt nicht an Geneigtheit, das, was aufserhalb der Urteilssph\u00e4re liegt, als unbewufst zu bezeichnen; und sofern nichts bewufst ist, um das ich nicht weifs, also auch nichts, \u00fcber das ich nicht urteile oder doch urteilen kann, ist gegen solche Ausdrucksweise auch nichts einzuwenden. Nur hat man, wenn von \u201eBewufstheit\u201c die Bede ist, doch zumeist Psychisches im Auge, indes, was aufser der Urteilssph\u00e4re liegt, keineswegs blofs dem Wissen um Psychisches dienen k\u00f6nnte, wenn es innerhalb der Sph\u00e4re l\u00e4ge. Befindet sich etwa eine gewisse Schall- oder Temperaturempfindung aufserhalb der Urteilssph\u00e4re, so ist es zun\u00e4chst der Schall oder die Temperatur, um die ich infolgedessen nicht weifs, obwohl ich sie vorstelle, indes ich m\u00f6glicher, ja wahrscheinlicherweise um die be-","page":370},{"file":"p0371.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\n371\ntreffende Schall- oder Temperature mp fin dung auch dann nicht w\u00fcfste, wenn der betreffende Schall oder die betreffende Temperatur direkt wahrgenommen w\u00fcrde. Allgemein wird man wohl sagen k\u00f6nnen: Liegt ein Inhalt aufser der Urteilssph\u00e4re, so noch mehr die Vorstellung, deren Inhalt gemeint ist; liegt eine Vorstellung in der Urteilssph\u00e4re, so erst recht der Inhalt dieser Vorstellung. Der Satz, was aufser der Urteilssph\u00e4re liegt, ist unbewufst, mufs sonach weit mehr undeutlich als eigentlich unrichtig genannt werden; er teilt damit das Schicksal von so vielem Anderen in der Psychologie, f\u00fcr das der Ausdruck \u201ebewufst\u201c beziehungsweise \u201eunbewufst\u201c die schier unersch\u00f6pfliche Quelle von Mifsverst\u00e4ndnissen geworden ist, deren Menge und Hartn\u00e4ckigkeit zur Einfachheit der Sachlage gelegentlich in ganz erstaunlichem Mifsverh\u00e4ltnis steht, so dafs es geraten scheint, diesen Ausdr\u00fccken, soweit nur immer m\u00f6glich, aus dem Wege zu gehen.\nVielleicht ist es nicht ohne allen Wert, hier noch im Vor\u00fcbergehen darauf hinzuweisen, dafs das oben allgemein formulierte Verh\u00e4ltnis zwischen Vorstellungs- und Urteilssph\u00e4re nicht in jedem Sinne einen Mangel bedeutet. Was verm\u00f6chte auch etwa ein Wahrnehmungsurteil zu leisten, dessen Inhalt aus all dem zusammengesetzt w\u00e4re, was im gegebenen Zeitpunkte meinen subjektiven Gesichtsraum ausf\u00fcllt, von den gleichzeitigen Daten der \u00fcbrigen Sinne noch gar nicht zu reden? Oder was sollte ein Beziehungs-, z. B. ein Verschiedenheitsurteil zwischen der rechten und linken H\u00e4lfte dieses Gesichtsraumes? Dafs eine intellektuelle Veranlagung vollkommener w\u00e4re, welche es gestattete, die Vorstellungssph\u00e4re durch eine entsprechend grofse Menge von Wahrnehmungs- und Beziehungsurteilen \u00fcber bed\u00fcrfnisgem\u00e4fse Teilinhalte, die nat\u00fcrlich gleichzeitig gef\u00e4llt werden m\u00fcfsten, zu ersch\u00f6pfen, soll dadurch nicht in Abrede gestellt werden.\nF\u00fcr den Fortgang der gegenw\u00e4rtigen Untersuchung sind derlei teleologische Erw\u00e4gungen nat\u00fcrlich belanglos ; um so wichtiger ist uns hier die Frage, ob das eben gekennzeichnete Sph\u00e4renverh\u00e4ltnis sich noch etwas genauer verstehen lasse, n\u00e4her, ob etwas in betreff der Bedingungen auszumachen ist, die erf\u00fcllt sein m\u00fcssen, damit ein Vorstellungsinhalt sozusagen in die Urteilssph\u00e4re eintrete. Die in gewissem Sinne einfachste","page":371},{"file":"p0372.txt","language":"de","ocr_de":"372\nA. Meinong.\nAntwort hierauf bietet bereits die Vulg\u00e4rpsychologie dar; es liegt ja nichts n\u00e4her, als die Annahme, nur solche Inhalte w\u00fcrden beurteilt, denen sich unsere Aufmerksamkeit zugewendet hat. Und es ist zum mindesten sehr die Frage, ob sich selbst vom Standpunkte strengster Theorie hiergegen Triftiges einwenden lafst; nur h\u00e4ngen f\u00fcr diese am Begriffe der Aufmerksamkeit Probleme von zu grofser Schwierigkeit, als dafs ein Versuch zu deren L\u00f6sung hier sozusagen im Vor\u00fcbergehen unternommen werden k\u00f6nnte. Indessen l\u00e4fst sich, wie mir scheint, das f\u00fcr die gegenw\u00e4rtige Untersuchung Wesentliche sagen, ohne den Begriff und Terminus Aufmerksamkeit zu Grunde zu legen; m\u00f6glich, dafs gleichwohl dabei das Wesen der Aufmerksamkeit unserem Verst\u00e4ndnis n\u00e4her ger\u00fcckt wird.\nDie Thatsache, dafs die Vorstellungssph\u00e4re stets gr\u00f6fser ist als die Urteilssph\u00e4re, oder, was dasselbe ist, dafs von den zu bestimmter Zeit gegebenen Vorstellungsinhalten stets ein Teil unbeurteilt bleibt, kann, das ist von vornherein klar, sowohl aktuell als dispositionell begr\u00fcndet sein. Weil aber das Urteil seiner Natur nach gegen\u00fcber der Vorstellung unselbst\u00e4ndig ist, andererseits jedoch unsere Fragestellung von der Annahme vorgegebener Vorstellungen ausgeht, ohne in Erw\u00e4gung zu ziehen, in welcher W\u00fcise diese Vorstellungen zu st\u00e4nde gekommen sind, so ist klar, dafs eine Berufung auf aktuelle psychische Thatbest\u00e4nde nur auf der Vorstellungs-seite, Berufung auf Dispositionen zun\u00e4chst auf der Urteilsseite stattfinden wird. Und wirklich hat man auf keiner der beiden Seiten n\u00f6tig, lange zu suchen.\nBesonders einfach ist die Erw\u00e4gung, welche der dispositioneilen Beschaffenheit des Subjektes, n\u00e4her seinen Urteilsdispositionen einen Anteil an dem in Bede stehenden Sachverhalte sichert. Wo immer es ein Mehr oder Weniger an psychischen Leistungen giebt, welche dem Subjekte sozusagen aufgegeben werden k\u00f6nnen, dort giebt es auch eine Grenze, \u00fcber die hinaus das Mehr ein Zuviel wird. 1st es m\u00f6glich, und trotz aller Zahlungsschwierigkeiten wird niemand daran zweifeln, dafs dem Subjekte je nachUmst\u00e4nden bald ein gr\u00f6fserer, bald ein kleinerer Kreis von Vorstellungsinhalten gegenw\u00e4rtig sein kann, so impliziert dies ohne Weiteres die M\u00f6glichkeit eines Kreises, der f\u00fcr die Urteilsf\u00e4higkeit, sei es des Individuums, sei es der Gattung, zu grofs ist. Man kann mit Bezug","page":372},{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\n373\nhierauf sagen: Jedem Urteilsf\u00e4higen kommt eine gewisse Urteils-Kapacit\u00e4t zu, \u00fcber deren Konstanz oder Variabilit\u00e4t an demselben, sowie an verschiedenen Individuen n\u00e4here Untersuchung zu entscheiden hat. Deduktionen aus der vielberufenen \u201eEinfachheit der Seele\u201c w\u00fcrden dabei nat\u00fcrlich nicht zum Ziele f\u00fchren.\nF\u00fcr unseren Fragepunkt macht der Satz von der beschr\u00e4nkten Urteils-Kapacit\u00e4t sofort begreiflich, dafs nicht alle zu bestimmter Zeit vorhandenen Vorstellungsinhalte beurteilt werden m\u00fcssen, giebt aber keinerlei Fingerzeig in betreff des Gesichtspunktes, nach dem die Einbeziehung des einen und der Ausschlufs des anderen Teiles des Vorhandenen erfolgt. Es liegt nahe, hierf\u00fcr zun\u00e4chst die Beschaffenheit der betreffenden Vorstellungen selbst verantwortlich zu machen; die Betrachtung wendet sich damit der aktuellen psychischen Sachlage zu. N\u00e4her handelt es sich darum, dasjenige an den Vorstellungen herauszufinden, was sozusagen ihren Urteilsvorzug begr\u00fcndet, und diese Aufgabe erweist sich immerhin als verwickelter, nicht wegen der geringen Anzahl der einschl\u00e4gigen Erfahrungsdaten, sondern wegen deren Mannigfaltigkeit.\nEafst man die Vorstellungen zun\u00e4chst nach ihrem Inhalte ins Auge, so dr\u00e4ngt sich in Bezug auf Sinnesinhalte die Bedeutung der inhaltlichen St\u00e4rke sogleich der Beachtung auf: der starke Ton, das starke Licht bleiben weniger leicht unwahrgenommen, als der schwache Ton, das schwache Licht. Dafs es aber auch unter den Qualit\u00e4ten mehr oder weniger \u201eAuffallendes\u201c giebt, bald f\u00fcr alle Vorstellenden, bald f\u00fcr diesen oder jenen, versteht sich. Physisches ist als solches dem Psychischen, Absolutes dem Belativen,1 die Komplexion der mit ihr koincidierenden2 Relation \u00fcberlegen.3 In Bezug\n1 Auf die bekannten Argumente des sog. \u201eRelativismus\u201c, die dem Gegenteil g\u00fcnstig scheinen k\u00f6nnten, eiuzugehen, ist hier nicht der Ort. Nur darauf sei hingewiesen, dafs urspr\u00fcnglich die hier allein in Frage kommende prim\u00e4re \u00dcberlegenheit, wie gelegentlich noch zu ber\u00fchren, durch sekund\u00e4re Momente ganz wohl wett gemacht werden kann.\n8 Das Prinzip dieser Koincidenz habe ich formuliert in Bd. II dieser Zeitschrift, S. 254.\n3 Besonders auff\u00e4llig ist dies an Realrelationen {Zur Belations-Theorie S. 150), die bislang der Theorie wie Praxis v\u00f6llig entgangen zu sein scheinen, indes das Vorhandensein der zugeh\u00f6rigen Komplexionen dort","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"374\nA. Meinong.\nauf den Gegensatz zwischen Komplexem und Einfachem kommt offenbar zun\u00e4chst der Mitte eine Art \u00dcberlegenheit zu: man stellt \u201eam leichtesten\u201c vor, was nicht zu einfach und auch nicht zu kompliciert ist. Freilich erscheint bei der auch auf die fr\u00fcher angef\u00fchrten F\u00e4lle anwendbaren, so popul\u00e4ren Redeweise \u201eleicht oder schwer vorstellen\u201c das Urteil zun\u00e4chst gar nicht mitbetrofifen ; es ist aber mindestens sehr die Frage, ob dabei \u00fcberhaupt mehr als die eben in Rede stehende Angelegenheit der Urteilssph\u00e4re mit Recht in Anspruch zu nehmen ist.\nAber auch Aufserinhaltliches kann dem Inhalte einer Vorstellung den Vorzug sichern: ich denke hier zun\u00e4chst an die qualitativen Verschiedenheiten, welche man dem Vorstellungsakte zuzuschreiben nicht umhink\u00f6nnen wird. Konkurrieren Wahrnehmungs- mit Einbildungsvorstellungen,* 1 so haben normalerweise jene den Urteilsvorzug auch dann, wenn letztere ganz wohl die Inhalte f\u00fcr Ged\u00e4chtnisurteile oder f\u00fcr auf die Gegenwart bezogene Existenznegationen abgeben k\u00f6nnten. Auch was H\u00f6ffding die \u201eBekanntheitsqualit\u00e4t\u201c2 genannt hat,\nwie hier als Selbstverst\u00e4ndlichkeit behandelt wurde ; wie schwer es aber ist, bei Gestalt, Melodie oder Klangfarbe der Relation sozusagen f\u00fcr sich allein habhaft zu werden, haben wir oben gesehen. Das Gegenteil k\u00f6nnte hei Vergleichung vorzuliegeni scheinen, wo auch die Sprache zun\u00e4chst Relationstermini aufweist. Aber der Inhalt \u201eRot in Verschiedenheit gegen\u00fcber Blau\u201c ist doch leichter festzuhalten als der Inhalt \u201eVerschiedenheit\u201c in abstracto. Dafs es unter solchen Umst\u00e4nden unbillig w\u00e4re, von Relationsvorstellungen, deren Existenz man die Anerkennung nicht versagen soll, zu fordern, sie m\u00fcfsten sich unserem direkten Erkennen eben so willig darbieten als Vorstellungen absoluter Inhalte, versteht sich und ist f\u00fcr die Relationstheorie von gr\u00f6fster Wichtigkeit.\n1\tIch trete damit dem Ergebnisse meiner Ausf\u00fchrungen in der Vierteljahrsschr. f. tviss. Philos., 1889, S. 9 ff., entgegen, bei denen gerade das Moment der Qualit\u00e4t des Vorstellens in Erw\u00e4gung zu ziehen vers\u00e4umt worden ist. Man sieht aber leicht, dafs, was dort zu Gunsten der Intensit\u00e4tsverschiedenheit von Wahrnehmungs- und Einbildungsvorstellung beigebracht wurde, ohne weiteres auch der Annahme eines qualitativen Unterschiedes zu statten kommt; was letztere aber voraus hat, ist einmal ihr Verh\u00e4ltnis zur direkten Empirie, der gegen\u00fcber es doch schwer h\u00e4lt, die Wahrnehmungsvorstellung f\u00fcr eine gesteigerte Einbildungsvorstellung zu nehmen, dann der Umstand, dafs das Intensit\u00e4tsmoment nun f\u00fcr die Charakteristik der verschiedenen Aufmerksamkeitsgrade aufgespart bleiben kann.\n2\tVierteljahrsschr. f. wiss. Philos. 1889, S. 427 ff. H\u00f6ffdins selbst rechnet diese Qualit\u00e4t freilich dem Inhalte zu ; das scheint mir aber aus","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\n375\nbegr\u00fcndet oft genug eine Verschiedenbehandlung in betreff des Urteiles, wenn sich auch nicht leicht deren Tendenz einheitlich charakterisieren liefse, da das Bekannte dem Unbekannten gegen\u00fcber bald im Vorteil, bald im Nachteil erscheint. \u2014 In betreff der Intensit\u00e4t des Vorstellens sei hier nur ganz im Vor\u00fcbergehen auf den Unterschied zwischen direkt und indirekt Gesehenem hingewiesen, bei dem nicht wohl aus-schliefslich Inhaltliches mafsgebend sein kann. Das Limitieren gegen Null zumal, das vom Sehcentrum gegen die Peripherie stattfindet und sich auch in der eigent\u00fcmlichen Beschaffenheit der Grenzen des Gesichtsfeldes verr\u00e4t, weist deutlich genug auf das Intensit\u00e4tsmoment hin. Analoges wird uns weiter unten in Bezug auf das Continuum der subjektiven Zeit begegnen. \u2014 Schliefslich kann man aber auch noch auf psychische Einfl\u00fcsse hinweisen, die sogar v\u00f6llig aufser dem Bereiche des Vorstellens liegen: Gef\u00fchle sowohl als Begehrungen, zun\u00e4chst was man unter dem Namen des Interesses zusammenzufassen pflegt, \u00fcbrigens aber gelegentlich auch ganz ausdr\u00fcckliche Wollungen, zeigt uns schon die Alltagserfahrung als richtunggebend f\u00fcr das Urteilen.\nEiner solchen Mannigfaltigkeit von Faktoren gegen\u00fcber erhebt sich nat\u00fcrlich die Frage, ob wir es da nicht etwa nur mit entfernteren Einfl\u00fcssen zu thun h\u00e4tten, f\u00fcr welche das direkt bestimmende Moment erst den entscheidenden Gesichtspunkt zu einheitlicher Betrachtung abgeben k\u00f6nnte. Schematisch w\u00e4re dies etwa so auszudr\u00fccken: Die Erfahrung lehrt, dafs sowohl a als b als c als d zu dem Erfolge x f\u00fchren; in Wahrheit ist aber nicht x der unmittelbare Erfolg von a, b, c und d, sondern als solcher ist eine Thatsache m zu bezeichnen, welche das a,\nganz den n\u00e4mlichen Gr\u00fcnden unstatthaft, die es verbieten, den Unter schied von Wahrnehmungs- und Einbildungsvorstellung in den Inhalt zu verlegen. Der Ausdruck \u201eBekanntheitsqualit\u00e4t\u201c selbst pr\u00e4judiciert nat\u00fcrlich ganz und gar nichts \u00fcber die Beschaffenheit der letzteren, denn er ist, was auch sonst h\u00e4ufig mit gutem Erfolge geschieht, durch einen Umweg, gewonnen, n\u00e4mlich den \u00fcber das Urteil. Bekanntheit so gut wie \u201eWiederkennen\u201c ist an sich jedenfalls Sache des Urteils, und insofern bleiben meine Bemerkungen in der Vierteljahrsschr. f. miss. Philos. 1888, S. 492, aufrecht. Daneben noch von einer Qualit\u00e4t (des Vorstellens) zu reden, findet seine Bechtfertigung darin, dafs es uns dort, wo wir das betreffende \u201eWiederkennungs\u201c-Urteil f\u00e4llen k\u00f6nnen, auch bereits \u201eanders zu Mute\u201c ist, wenn wir nicht, oder bevor wir urteilen.","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":"376\nA. Meinong.\nb, c, d sozusagen erst in den Stand setzt, auf x EinfLufs zu nehmen. Aber gerade diese schematische Aufstellung l\u00e4fst sogleich erkennen, dafs derselben nur unter ganz besonderen Umst\u00e4nden ein theoretischer Wert zukommen k\u00f6nnte; vorg\u00e4ngig ist es um nichts leichter, m als x mit a, b, c, d in direkte Beziehung zu setzen. W\u00e4re daher m nichts als eine ad hoc gebildete Hypothese, so h\u00e4tte die Auffassung, die sich einer solchen Hypothesenbildung enth\u00e4lt, theoretisch den Vorzug. Anders freilich, wenn . direkte Erfahrung oder anderweitig bereits festgestellte Gesetzm\u00e4fsigkeiten dem m zu gute kommen. Ich kann nun nicht leugnen, dafs mir dies einigermafsen der Fall zu sein scheint, sobald wir unter dem m die in der obigen Zusammenstellung nur vor\u00fcbergehend ber\u00fccksichtigte Intensit\u00e4t des Vorstellens verstehen; denn immer noch m\u00f6chte ich in deren Steigerung das eigentlich charakteristische Moment am Aufmerken erblicken.1 Ferner sind die oben namhaft gemachten inhaltlichen Momente nicht minder als die Qualit\u00e4t des Vorstellens in betreff ihrer Urteilsbedeutung so vielen Ausnahmen unterworfen (der starke Ton kann vom Urteil einem schwachen, die Wahrnehmungs- der Einbildungsvorstellung, z. B. das Zeichen dem Bezeichneten zuliebe vernachl\u00e4ssigt werden u. dergl.), dafs es schwer h\u00e4lt, in diesen Thatsachen mehr als \u00e4ufsere Anhaltspunkte f\u00fcr die Erkenntnis einer tiefer liegenden Gesetzm\u00e4fsigkeit zu vermuten. Schliefslich aber scheint es mir nicht erfahrungsgem\u00e4fs, dafs unser Wollen am Urteile sozusagen direkte Angriffspunkte finde. Nicht als ob das Wollen nicht aufs Urteilen gerichtet sein k\u00f6nnte: man kann Erkenntnis im allgemeinen, auch eine besondere Erkenntnis wollen, auch wohl, wie solches in Glaubenssachen so oft verlangt worden ist, die Entscheidung eines Zweifels in bestimmtem Sinne wollen u. s. f. Aber ich kann auch wollen, dafs der Eisenkern einer Induktionsspirale magnetisch werde; niemand aber wird meinen, dafs mein Wollen mit dem Zustande des Eisenkernes direkt etwas zu thun habe. In \u00e4hnlicher Lage nun befindet sich, soweit ich der hier sehr schwierigen,. daher der Gefahr, zu irren, besonders ausgesetzten direkten Beobachtung trauen darf, das Wollen auch dem Urteilen gegen\u00fcber. Wenn ich erkennen soll, so scheint mir die vorgegebene Vor-\n1 Yergl. Vierteljahrsschr. f. wiss. Philos. 1889, S. 8 f.","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\t377\nStellung das Einzige zu sein, an das die Wollung herantreten kann, um dann einfach abzuwarten, ob die in angemessener Weise ver\u00e4nderte Vorstellung das gewollte Urteil auch im Gefolge haben wird. Als angemessene Ver\u00e4nderung m\u00f6chte ich dann nat\u00fcrlich wieder die Intensit\u00e4tssteigerung in Anspruch nehmen.\nGleichwohl getraue ich mich nicht, heute auf diese Gr\u00fcnde hin sofort die Behauptung auszusprechen, alle Einbeziehung in die Urteilssph\u00e4re h\u00e4nge zuletzt an der Intensit\u00e4t der betreffenden Vorstellungen. Dagegen scheint mir eine freilich betr\u00e4chtlich farblosere, daf\u00fcr aber auch viel weniger pr\u00e4-judicierende Position durch das Obige in v\u00f6llig ausreichender Weise sichergestellt. Jede Vorstellung hat eine Eigenschaft oder Eigenschaften, verm\u00f6ge deren es bald schwerer, bald leichter ist, den betreffenden Inhalt zu einem Urteilsinhalt zu machen. Man k\u00f6nnte auch, sofern man dabei vor allzu w\u00f6rtlicher Deutung sicher ist, sagen: jede Vorstellung hat eine bald gr\u00f6fsere, bald geringere Urteilstendenz, \u2014 ein ganz unverf\u00e4nglicher Satz, wenn man bedenkt, dafs er auch den Fall einer Urteilstendenz vom Grenzwerte Hull nicht ausschliefst. Ich will diese Urteilstendenz als Gewicht der betreffenden Vorstellung bezeichnen. Behaupte ich sonach, dafs jeder Vorstellung ein Gewicht von einem Werte gleich Null oder gr\u00f6fser als Null zuk\u00f6mmt, so ist dadurch \u00fcber dasjenige, was dieses Gewicht, d. h. das Verhalten zum Beurteiltwerden ausmacht, gar nichts vorausgesetzt. Nat\u00fcrlich hat der so eingef\u00fchrte Terminus Gewicht auch nur provisorische Anwendung, falls es gelingt, das, was das Verhalten zum Urteile entscheidet, einheitlich zu bestimmen. W\u00e4re also das oben \u00fcber Intensit\u00e4t Angedeutete richtig, so m\u00f6chte sofort statt Vorstellungsgewicht von Vorstellungsintensit\u00e4t zu reden sein, nur noch mit dem Unterschiede, dafs dieser das Verhalten zum Urteile nicht ex definitions, sondern verm\u00f6ge einer empirisch festgestellten Gesetzm\u00e4fsigkeit eignete.\nDer neu gebildete Terminus bew\u00e4hrt sich, indem er uns auf die oben aufgeworfene Frage nach den den Eintritt der Vorstellung in die Urteilssph\u00e4re bestimmenden Gesichtspunkten eine einfache Antwort zu geben gestattet. Was wir oben Urteilskapacit\u00e4t nannten, bestimmt die Maximalmenge, wenn","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378\nA. Meinong.\nman so sagen darf, des zur betreffenden Zeit beurteilbaren Inhaltes; von den zur Zeit verf\u00fcgbaren Inhalten aber f\u00fcllen diejenigen die Urteilssph\u00e4re aus, denen zur Zeit das gr\u00f6fste Vorstellungsgewicht zukommt.\nZugleich findet man sich auf eine Pr\u00e4cisierung des Kapacit\u00e4ts-gedankens gef\u00fchrt, der augenscheinlich am besten sofort auf das Vorstellungsgewicht bezogen wird.1 Von der Inhaltsmenge zu reden, nach der die Kapacit\u00e4t zu bestimmen w\u00e4re, hat, wie dem eben Dargelegten gegen\u00fcber bereits f\u00fchlbar geworden sein wird, sein im hohen Grade Mifsliches, w\u00e4hrend dem Gewichte die Gr\u00f6fsenbestimmtheit ohne weiteres eignen mufs, wenn das Bild, von dem der Ausdruck genommen ist, nur einigermafsen zutrifft. \u00dcber die Chancen, einmal auch zu exakter Bestimmung dieser Gr\u00f6fse zu gelangen, braucht man sich darum keinen Illusionen hinzugeben. Auch sofern dergleichen Bestimmung nicht gelingt, beh\u00e4lt es seinen theoretischen Wert, festhalten zu k\u00f6nnen, dafs die Position, welche eine gegebene Vorstellung in Bezug auf die Urteilssph\u00e4re einnimmt, bestimmt ist durch den Anteil einer Vorstellung am Gesamtgewicht des die Vorstellungssph\u00e4re zur Zeit ausmachenden.\nEine Verifikation findet diese Aufstellung in der Konsequenz, dafs ihr zufolge nicht etwa eine bestimmte absolute Gewichtsh\u00f6he das Beiirteiltwerden garantiert; denn dafs es nicht auf das absolute, sondern auf das relative Gewicht ankommt, findet in den vielerlei Erfahrungen im \u00dcbersehen und \u00dcberh\u00f6ren trotz augenscheinlich sehr gewichtiger Sinneseindr\u00fccke umfassendste Best\u00e4tigung.\nDafs der ganze Gedanke noch alle Unfertigkeit einer ersten Konception an sich tr\u00e4gt, ist freilich leicht genug zu erkennen ; aber er scheint mir auch in dieser Gestalt ausreichend leistungsf\u00e4hig, um ihn hier zu benutzen. Auch findet sich in \u00e4lterer und neuerer Psychologie gar manches, was diesem Gedanken\n1 Physikalischer Betrachtungsweise entspr\u00e4che wohl besser, statt \u201eGewicht\u201c hier \u201eMasse\u201c zu sagen; ich vermeide einstweilen dieses Wort wegen des Gleichklanges mit den \u201eVorstellungsmassen\u201c Herbarts. Es st\u00fcnde aber nichts im Wege, es oben zu substituieren, sobald sich herausstellt, dafs damit ein wirklich fruchtbarer Gedanke und nicht etwa ein blofses Wort aus der Mechanik in die Psychologie her\u00fcbergenommen ist. Vergl. hierzu bis auf Weiteres die Bemerkung A. H\u00f6flers in der Vierteljahrsschrift f. wissensch. Philosophie, 1885, S. 356, Note 1.","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\t379\nentgegenkommt. Namentlich hat man die Vorstellungen oft und gern gegeneinander in einer Art Streit gedacht;1 bleiben wir einen Augenblick bei dem Bilde, so ist das Kampfobjekt doch in den allermeisten F\u00e4llen das Beurteiltwerden, der Eintritt in die Urteilssph\u00e4re. Vielleicht ist das Bild vom Kampfe kein in jeder Hinsicht gl\u00fcckliches gewesen; sofern es aber auf der Annahme einer \u201ebegrenzten seelischen Kraft\u201c beruht, ist der Gewichtsgedanke damit wohl sehr leicht in Verbindung zu bringen, man braucht sich die Sache nur etwa so zu denken, dafs, je gr\u00f6fseres Gewicht der ihrem Inhalte nach zu beurteilenden Vorstellung zukommt, desto mehr Energie aufgebraucht werden mufs, die Vorstellung gleichsam zur Beurteilungsh\u00f6he emporzuheben.\nBefremden k\u00f6nnte an solcher Auffassung nur, wie dann noch das Vorstellungsgewicht, das hier als eine zu bew\u00e4ltigende Last sich darstellt, zugleich auch das dem Beurteiltwerden g\u00fcnstige Moment repr\u00e4sentieren soll. Dafs aber diese zwei Seiten keineswegs unvereinbar sind, kann vorerst wieder ein mechanisches Gleichnis plausibel machen. \u00dcber eine fixe Bolle sei eine Schnur gelegt, an deren Enden die beiden Gewichte -P und p angebracht sind, welche, ohne die Schnur v\u00f6llig straff zu spannen, bez\u00fcglich auf den Unterlagen U und u stehen. Durch eine Vorrichtung, etwa eine Feder, sei u derart festgehalten, dafs es erst einem Minimaldrucke von der Gr\u00f6fse px weicht; im Weichen aber auch dem P seine Unterlage entzieht, so dafs erst jetzt P auf p einen Zug zu \u00fcben, resp. es eventuell emporzuheben vermag. Repr\u00e4sentiert nun p das Gewicht der in Frage kommenden Vorstellung, so l\u00e4fst sich verstehen, dafs nur, wenn dieses p nicht unter einer gewissen Gr\u00f6fse p1 zur\u00fcckbleibt, der Urteilsmechanismus ins Spiel treten kann; in der Gr\u00f6fse des P k\u00f6nnte dann etwa die Gr\u00f6fse der Urteilskapacit\u00e4t sich darstellen. Es w\u00e4re nat\u00fcrlich leicht, das Bild mehr ins Detail auszuf\u00fchren, falls sich die Theorie daraus irgend Gewinn versprechen d\u00fcrfte.\nII.\nWas eben \u00fcber die Bedingungen, unter denen gegebene V orstellungen beurteilt werden, dargelegt worden ist, gilt all-\n1 Yergl. auch. Lipps Grundthatsachen des Seelenlebens.","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380\nA. Meinong.\ngemein f\u00fcr wie immer beschaffene Urteile, ist aber nur ausreichend f\u00fcr Wahrnehmungsurteile und was ihnen \u00e4hnlich ist. Handelt es sich also etwa um eine so komplexe Wahrnehmungs-Vorstellung, wie die, welche sich unter normalen Umst\u00e4nden den offenen Augen darzubieten pflegt, und k\u00e4me es darauf an, wieviel von diesem komplexen Inhalte in ein Wahrnehmungsurteil Eingang finden kann, so m\u00f6chte zur Entscheidung hier\u00fcber nicht leicht auf anderes, als eben auf Gewicht und Kapacit\u00e4t Bedacht zu nehmen sein. Nicht anders steht es mit den betr\u00e4chtlich einfacheren, d. h. inhalts\u00e4rmeren Wahrnehmungs-, Ged\u00e4chtnis- und vielen anderen mit H\u00fclfe von Einbildungsvorstellungen gef\u00e4llten Existenzurteilen, bei denen allen zun\u00e4chst der Umstand charakteristisch hervortritt, dafs von dem, was eventuell in die Urteilssph\u00e4re einbezogen sein k\u00f6nnte, that-s\u00e4 eh lieh so wenig einbezogen ist. Auf die Frage nach der Ursache der Beschr\u00e4nkung ist vom Standpunkte der Gewichtstheorie einfach zu antworten : auch bei gr\u00f6fster Beschr\u00e4nkung wird so viel beurteilt, als die f\u00fcr die gegebene Zeit f\u00fcr konstant anzunehmende Urteilskapacit\u00e4t des Subjektes gestattet; die Enge der Sph\u00e4re aber beruht auf dem grofsen Gewichte, das den in ihr anzutreffenden Vorstellungen entweder ihrer Natur nach oder verm\u00f6ge des mit oder ohne Willen des Subjektes eben vorliegenden Zustandes des letzteren zukommt. Wer ein praktisches Bed\u00fcrfnis hat, die Urteilssph\u00e4re zu verengern, der hat darauf bedacht zu sein, den betreffenden Vorstellungsinhalten eine derartige Gewichtssteigerung zu teil werden zu lassen, dafs sie -die ganze Urteilssph\u00e4re erf\u00fcllen. Dafs die Beschaffenheit der Inhalte diesem Streben mehr und weniger entgegenkommen kann, ist selbstverst\u00e4ndlich.\nDagegen ist das D\u00e4rgelegte augenscheinlich unzureichend dort, wo der in die Urteilssph\u00e4re aufgenommene Inhalt nicht als Ganzes beurteilt, sondern zuerst seinen Teilen nach zur Grundlage von neu zu bildenden Komplexions-, bezw. Belations-vorstellungen gemacht wird, welche dann in der an sie gekn\u00fcpften intellektuellen Th\u00e4tigkeit eine centrale Stellung zu behaupten pflegen. Nat\u00fcrlich ist hier nun wieder von fundierten Inhalten die Bede; nicht gerade von allen, denn bei der Gestalt oder Melodie, vollends bei Klangfarbe ist, wie wir sahen, das Auseinandertreten des fundierenden Materials zu distinkten Teilen so wenig erforderlich, dafs es geradezu der Fundierung","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\nabtr\u00e4glich, sein kann. Wo es aber gilt, zu vergleichen, zu z\u00e4hlen, zu begr\u00fcnden, da ist offenbar bereits f\u00fcr die Fundierung jenes Auseinandertreten unentbehrlich. Dafs nun ein fundierter Inhalt nicht als solcher, d. h. in seiner nat\u00fcrlichen Verbindung mit den Fundamenten, beurteilt werden kann, wenn die Fundamente aufser der Urteilssph\u00e4re liegen, versteht sich; aber es ist nicht anzunehmen, dafs von seiten der Fundamente hierzu sonst gar keine Bedingung wird erf\u00fcllt sein m\u00fcssen. Es ist daher angemessen, den im Obigen allein untersuchten Fall von dem durch die eben angef\u00fchrten Beispiele gekennzeichneten prinzipiell zu unterscheiden. In diesem Sinne soll der bisher behandelten Totalbeurteilung nunmehr die Partialbeurteilung gegen\u00fcbergestellt werden; wir k\u00f6nnen dann entsprechend auch der Sph\u00e4re der Totalbeurteilung die Sph\u00e4re der Partialbeurteilung entgegenhalten als etwas, was erfahrungsgem\u00e4fs mit der ersteren ganz und gar nicht zusammenfallen mufs. Genauer m\u00fcfste man sogar, da ein gegebener Inhalt zwar nur Eine Totalbeurteilung, eventuell aber verschiedene Partialbeurteilungen gestattet, auch von verschiedenen Partialbeurteilungsph\u00e4ren reden, nur dafs das Bild der Sph\u00e4re hier -eine betr\u00e4chtlich minder zwanglose Anwendung gestattet, als in dem oben Dargelegten.\nHauptfrage ist nun: Wie mufs, was bereits in der Totalbeurteilungssph\u00e4re gelegen ist, noch beschaffen sein, - um eine .Partialbeurteilung in bestimmter Bichtung zu gestatten? Die Antwort hat sich im Obigen schon von selbst aufgedr\u00e4ngt; mafsgebend ist offenbar, was oben das Auseinandertreten zu geeigneten Teilinhalten genannt werden mufste. N\u00e4her aber kann man das, worauf es ankommt, als das Erfordernis der Diskontinuit\u00e4t bezeichnen.\nWas mit diesem Erfordernis gemeint ist, l\u00e4fst sich an Beispielen von allt\u00e4glichster Beschaffenheit beleuchten. Dafs ich einen Haufen Steine abz\u00e4hlen kann, nicht aber das Wasser im Bache, findet jedermann selbstverst\u00e4ndlich. Auch Streifen und Blumen eines gemusterten Stoffes kann ich z\u00e4hlen, indes etwas v\u00f6llig Gleichfarbiges keine Gelegenheit zum Z\u00e4hlen bietet. Dafs es hier die Diskontinuit\u00e4t ist, welche das Z\u00e4hlen erm\u00f6glicht, . die Kontinuit\u00e4t dagegen das, was es verhindert, -leuchtet ohne Weiteres ein. Ist das Prinzip aber f\u00fcr die Zahlen","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382\nzugegeben, dann folgt es f\u00fcr die \u00fcbrigen F\u00e4lle von selbst: was ich soll gleich oder verschieden finden k\u00f6nnen, m\u00fcssen ihrer zwei oder mehrere sein; auch von Grund und Folge, Ursache und Wirkung wird niemand sprechen wollen, wo nicht von mehr als von Einem die [Rede ist.\nNun stehen aber dieser Auffassung doch auch einige Gegeninstanzen im Wege. Es kommt oft vor, dafs Ornamente durch Wiederholungen eines und desselben Musters gebildet sind, die miteinander verbunden werden ; das hindert aber den Zimmermaler oder die Stickerin nicht, die Muster zu z\u00e4hlen. Was aber das Vergleichen angeht, so scheint jeder, der eine Fl\u00e4che als gleichfarbig erkennt, geradezu Teile eines Continuums zu einander in [Relation zu setzen. Nicht anders steht es schliefslich, wenn es, was kaum bestritten werden wird, m\u00f6glich ist, den Kausalgedanken in ein kontinuierlich in der Zeit verlaufendes Geschehen hineinzutragen, indem man das zeitlich Sp\u00e4tere darin als Wirkung des unmittelbar Vorhergehenden auffafst. Es fragt sich, ob solchen Thatsachen gegen\u00fcber das Erfordernis der Diskontinuit\u00e4t aufrecht bleiben kann.\nAm besten orientiert man sich hier\u00fcber an dem in gewissem Sinne st\u00e4rksten Falle, dem der Vergleichung. Gesetzt also, es sei eine objektiv recht gleichfarbige Fl\u00e4che gegeben, und es handle sich um die Erkenntnis dieser Gleichfarbigkeit. Ich kann mich der Fl\u00e4che so gegen\u00fcberstellen, dafs sie ganz in mein Gesichtsfeld, und zwar, was damit nat\u00fcrlich nicht zusammenfallen mufs, in meine Urteilssph\u00e4re f\u00e4llt; aber, wenn sonst nichts geschieht, so ist das Urteil, in dessen Sph\u00e4re sie gestellt ist, eben wirklich nur das Wahrnehmungs-, nicht aber das Vergleichungsurteil. Soll auch letzteres zu st\u00e4nde kommen, so l\u00e4fst man, wie die Erfahrung lehrt, den Blick \u00fcber die Fl\u00e4che wandern, \u2014 immerhin vielleicht, um sie auf etwaige Verschiedenheiten abzusuchen und aus deren Fehlen dann auf Gleichheit zu erkennen. Halten wir uns indes ausschliefslich an den als M\u00f6glichkeit kaum einer Anfechtung ausgesetzten Fall, das Gleichheitsurteil werde ohne den Umweg \u00fcber die Verschiedenheit gef\u00e4llt, und fragen wir uns, was das Wandern des Blickes zu bedeuten hat. Dafs direkt Gesehenes gr\u00f6fseres Gewicht hat, als indirekt Gesehenes, versteht sich, und es ist erfahrungsgem\u00e4fs nicht viel Gewichtssteigerung durch Auf-","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\n383\nmerksamkeit erforderlich, um das indirekt Gesehene ganz aus der Urteilssph\u00e4re auszuschalten. Fixiere ich nun hintereinander zwei Stellen der zu untersuchenden Fl\u00e4che, indes w\u00e4hrend, der Bewegung des Blickes von der einen Stelle zur anderen die Spannung der Aufmerksamkeit naturgem\u00e4fs nach-l\u00e4fst, so sind die zwei zur Vergleichung nun vorliegenden Vorstellungen, selbst wenn sie zwei unmittelbar aneinandergrenzende, auch nicht durch eine hineinphantasierte Grenzlinie geschiedene Fl\u00e4chensfc\u00fccke zu Gegenst\u00e4nden haben, schon deshalb nicht mehr ihren Inhalten nach kontinuierlich verbunden, weil diese verschiedene durch die Dauer der Blickbewegung voneinander getrennte Zeitbestimmungen an sich tragen.\n\"Wenn m\u00f6glich noch bedeutender erweist sich dieses Zeitmoment bei Beurteilung der Konstanz einer Thatsache. Ich kann, so sehr dies einigen anscheinend fundamentalen Traditionen der Logik entgegenstehen mag, ein Ding nicht direkt mit sich selbst vergleichen, solange dabei auch alle Verschiedenheit in betreff der Zeitbestimmung ausgeschlossen bleibt ; dagegen kann ich ganz wohl das Ding zur gegenw\u00e4rtigen mit demselben Ding zu einer vergangenen, oder das zu einer k\u00fcrzer vergangenen mit dem zu einer l\u00e4nger vergangenen Zeit vergleichen. Es kommt aber nur dann zu wirklicher Vergleichung, wenn zwischen den Zeitbestimmungen auch wirklich Diskontinuit\u00e4t besteht. Der Einwurf, dafs man sich erfahrungsgem\u00e4fs von der Konstanz eines Objektes, von der Gleicheit oder auch der kontinuierlichen Ver\u00e4nderung in einem Pigment ohne solch ausdr\u00fcckliches Auseinanderlegen in Discontinua \u00fcberzeugen k\u00f6nne, verkennt die oben schon im Sinne des Ausschlusses ber\u00fchrte Thatsache, dafs auch noch ein anderer Weg zum praktisch gleichen Ziele f\u00fchrt.1 Durchlaufe ich mittelst kontinuierlicher Blickbewegung eine Kaumstrecke, oder lasse ich das Auge eine Weile auf einem Objekte ruhen, so belehrt mich die Thatsache, dafs ich auf keine Diskontinuit\u00e4t stofse, die mir trotz zeitlicher Kontinuit\u00e4t\n1 Falls niclit etwa gar eine Fundierung vor liegt, an der etwas wie Vergleichung \u00fcberhaupt nicht beteiligt ist. Auch die gerade Linie repr\u00e4sentiert ja eine Art \u201eGestalt\u201c so gut wie die krumme, gleichviel ob offene oder geschlossene Linie; und das Erfassen dieser Gestalt kann auch ohne alle Vergleichung der Linienteile unter einander erfolgen. Gleiches mufs nat\u00fcrlich auch von anderen r\u00e4umlichen und nicht-r\u00e4umlichen Continuen und Discontinu en gelten.","page":383},{"file":"p0384.txt","language":"de","ocr_de":"384\nA. Meinong.\neinen Vergleichungsakt erm\u00f6glichte, dar\u00fcber, dais eben Kontinuit\u00e4t vorliegt, \u2014 ein zun\u00e4chst nicht direkt auf Vergleichung, sondern auf Mangel an einer solchen gegr\u00fcndetes Urteil. Um berechtigterweise auch auf Gleichheit zu erkennen, mufs dann freilich noch die Erinnerung herangezogen werden und mit H\u00fclfe derselben eine ausdr\u00fcckliche Vergleichung erfolgen ; dafs dann aber nicht das n\u00e4chst, sondern das m\u00f6glichst entfernt Vergangene herangezogen werden wird, ist, rationelles Vorgehen vorausgesetzt, selbstverst\u00e4ndlich. Sich an das unmittelbar Vergangene zu halten, w\u00fcrde schon das Schwellengesetz verbieten, das f\u00fcr solchen Fall stets ein, nat\u00fcrlich ein wertloses, Gleichheitsurteil garantieren m\u00fcfste. F\u00fcr die Diskontinuit\u00e4t in der Zeitbestimmung ist dann also, wie man sieht, in jedem Falle gesorgt.\nEs ist nun leicht, das Dargelegte auch auf die \u00fcbrigen Beispiele zu \u00fcbertragen. Im Ornamentenbeispiel wird die Diskontinuit\u00e4t wohl meist schon durch entsprechende Einschr\u00e4nkung der Wahrnehmungssph\u00e4re, im \u00e4ufsersten Falle aber sicher mit H\u00fclfe der Zeitbestimmungen hergestellt. Ist dabei, um das einzelne Muster als Ganzes zu erfassen, ein besonderer Zu-sammenfassungsakt erforderlich, so kommt noch der Umstand hinzu, dafs fundierte Inhalte, mit denen man es beim Vergleichen ja dann zu thun h\u00e4tte, immer noch gegeneinander diskontinuierlich sein k\u00f6nnen, auch wenn ihnen irgend welche der fundierenden Inhalte gemeinsam, oder wenn irgend welche derselben gegeneinander kontinuierlich sind. Dies ist denn auch f\u00fcr das Kausalbeispiel entscheidend; die Vorstellungen der aneinanderstofsenden Strecken AS und JBC sind gegeneinander diskontinuierlich, auch wenn sich die beiden Strecken in das Continuum AG vereinigt vorstellen lassen.\nUm das sonach auch in den scheinbaren Ausnahmef\u00e4llen sich bew\u00e4hrende Diskontinuit\u00e4tsprincip einfach formulieren zu k\u00f6nnen, empfiehlt sich noch eine terminologische Feststellung. Ich nenne ein Vorstellungs-Ganzes, das gegeneinander diskontinuierliche Teile aufweist, gegliedert. Dies vorausgesetzt, kann man sagen: Was in der Sph\u00e4re der Totalbeurteilung liegt, kann in die Sph\u00e4re der Partialbeurteilung nur insofern ein-treten, als es gegliedert ist.\nEs verdient im Anschl\u00fcsse hieran hervorgehoben zu werden,","page":384},{"file":"p0385.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse.\t385\n.dafs'GewichtsVer\u00e4nderungen, auch soweit sie nicht durch Inhalts-Ver\u00e4nderungen erzielt sind, nicht nur die Total-, sondern auch die Partialbeurteilung eines gegebenen Inhaltes zu beeinflussen im Stande sind. Ist Gewichtssteigerung, mag sie das Ganze oder nur einen Teil des gegebenen Inhaltes angehen, im allgemeinen verkn\u00fcpft mit Sph\u00e4renverengerung, so kommt es nur noch darauf an, ob die bei dieser Verengerung aus der Sph\u00e4re herausfallenden Inhaltsteile zum vorgegebenen Inhaltsganzen eine gleichsam peripherische Stellung einnehmen oder nicht, \u2014 das Bild ist vom Gesichtsfelde genommen, das auch das einfachste Beispiel f\u00fcr das Gesagte abgiebt. Gesetzt n\u00e4mlich etwa, eine Sph\u00e4re meiner Gesichtswahrnehmungen verengert sich dadurch, dafs ich meine ganze Aufmerksamkeit auf das direkt Gesehene richte, so ist durch den Entfall peripherischer Inhaltsteile an der Ungegliedertheit des Ganzen noch nichts ge\u00e4ndert. Dagegen tritt eine Gliederung ein, wenn ich meine Aufmerksamkeit etwa einigen heller beleuchteten Punkten im Sehfelde zuwende und die zwischenliegende Umgebung dieser Punkte vernachl\u00e4ssige, d. h. aus der Totalsph\u00e4re herausfallen lasse. War der Helligkeitsvorzug der betreffenden Stellen nicht von Hause aus so grofs, dafs dadurch f\u00fcr die zur Partialbeurteilung erforderte Gliederung bereits gesorgt war, so ist hier die Gliederung in Folge der Gewichtssteigerung ganz ohne weiteres Zuthun eingetreten.\nDafs die Dinge nicht immer so einfach stehen, vielmehr zur Herbeif\u00fchrung der erforderlichen Gliederung leicht viel kompliciertere Operationen erforderlich sein k\u00f6nnen, hat sich schon im Vorhergehenden gezeigt. Es wird noch deutlicher werden, wenn, wie nunmehr angemessen, die Untersuchung sich wieder ausdr\u00fccklich dem Probleme der Analyse zuwendet.\n(Schlufs folgt.)\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie VI.\n25","page":385}],"identifier":"lit15469","issued":"1894","language":"de","pages":"340-385","startpages":"340","title":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse","type":"Journal Article","volume":"6"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T17:02:48.362498+00:00"}