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{"created":"2022-01-31T17:00:10.327136+00:00","id":"lit15483","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Stern, L. William","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 6: 406-408","fulltext":[{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"406\nLitteraturbericht.\nHerbert Nichols. The Origin of Pleasure and Pain. Phil. lien. I. 4.\nS. 403-432 it. I. 5. S. 518\u2014534. (1892.)\nHenry Rutgers Marshall. Pleasure-Pain, and Sensation. Phil. Bev. I. 6.\nS. 625-648. (1892.)\nEine g\u00e4nzlich neue Theorie \u00fcber das Wesen und den Ursprung von Lust und Unlust aufzustellen, ist die Absicht des ersten der beiden Artikel. Die Annahme der Korrelativit\u00e4t jener beiden psychischen Zust\u00e4nde, die Meinung, dafs sie Attribute (qualia) anderer seelischer Inhalte und daher von diesen unzertrennlich seien, wird f\u00fcr falsch erkl\u00e4rt. N.\u2019s Theorie besagt folgendes: Schmerz und Lust.sind zwei untereinander und von den anderen Sinnesgebieten unabh\u00e4ngige Empfindungsgruppen, die als solche nat\u00fcrlich ihre specifischen Nerven haben. Dafs so oft andere Sinnesemp\u00fcndungen mit Schmerz oder Lust verkn\u00fcpft sind, ist dadurch zu erkl\u00e4ren, dafs wir die Tast-, Temperatur- etc. Nerven als mit schmerz-, bezw. lustempfindenden Nerven innig verwoben und untermischt uns vorstellen m\u00fcssen. In biologischer Beziehung ist der Schmerzempfindung die Rolle der Warnerin zugeteilt, indem sie auf solche Reize reagiert, die dem Individuum sch\u00e4dlich sind. Daher antwortet sie insbesondere auf zu starke und auf aufsergew\u00f6hnliche Reize ; und aus gleichem Grunde sind Sinnesgebiete, deren Eindr\u00fccke weniger etwas dem Individuum unmittelbar Sch\u00e4dliches bezeichnen, z. B. der Gesichtssinn, nicht in solchem Mafse mit Schmerznerven verwoben, als,, etwa der Tastsinn, dessen Reize in viel direkterer Beziehung zur individuellen Wohlfahrt stehen. Der Lustempfindung 'vindiciert N. den Rang des ersten, des urspr\u00fcnglichsten Sinnes, aus dem sich die anderen entwickelt haben. Denn: Lust ist diejenige Empfindung, die durch Reize hervorgerufen wird, welche dem Organismus n\u00fctzlich sind, und die er deshalb zu wiederholen trachtet. Je primitiver nun ein Organismus ist. um so ausschliefslicher darf er nur solchen Reizen angepafst sein, die ihm n\u00fctzen; erst wenn er komplicierter wird, d. h. wenn die Zahl der m\u00f6glichen Erfahrungen w\u00e4chst, k\u00f6nnen auch unter diesen einige sch\u00e4dliche sein, ohne dafs er sofort untergeht. Also : der Sinn des primitiven Organismus mufs der Lustsinn sein.\nSieht man sich die Theorie n\u00e4her an, so zeigt sich, dafs sie recht wenig substantiiert ist, dafs die luftigsten Hypothesen herhalten m\u00fcssen, um sie durchzuf\u00fchren. Am besten steht es noch mit demjenigen Teile, der sich auf das behauptete Vorhandensein einer Schmerzempfindung bezieht; denn hier giebt es eine Reihe von Thatsaclien, die eine Deutung in jenem Sinne entschieden zulassen. Dazu geh\u00f6ren vor allem die schmerzempfindenden Nerven Goldscheiders,1 der Umstand, dafs bei gewissen Reizungen (z. B. Stich) der Schmerz erst eine geraume Zeit nach der specifischen Tastempfindung auftritt, ferner pathologische Erscheinungen, wie Analgesie einerseits, und An\u00e4sthesie bei erhaltenem Schmerzgef\u00fchle andererseits. N.\u2019s weitere Gr\u00fcnde sind allgemeiner Art. So glaubt er, der Selbstbeobachtung entnehmen zu d\u00fcrfen, dafs jede Schmerzempfindung ebenso specifisch, ebenso sui generis sei, wie W\u00e4rme-\n1 S. Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1885. Supplem.-B. S. 87 ff.","page":406},{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"Li\u00fceraturbericht.\n407\nund K\u00e4ltempfindung, wie Farbe und Ton. (Manchmal ermangelt leider die Ausf\u00fchrung der Hypothese der n\u00f6tigen Vorsicht, z. B. dort, wo er die Dissonanz von Intervallen durch Schmerznerven aufgefafst werden l\u00e4fst, die dann infolge der Gew\u00f6hnung an diese Intervalle atrophisch werden !)\nSowie N. sich dem Lustgef\u00fchle zuwendet, verliert er den Boden der Thatsachen v\u00f6llig unter den F\u00fcfsen. Er sieht sich gezwungen, Lustnerven anzunehmen und damit eine Hypothese aufzustellen, zu der weder anatomische, noch physiologische Untersuchungen auch nur die geringste Berechtigung geben. Die Schwierigkeit glaubt er dadurch verringern zu k\u00f6nnen, dafs er die meisten Lustgef\u00fchle als associative Vorstellungen zu deuten sucht, wobei er ziemlich ins einzelne geht. Die auf solchen Grundlagen aufgebaute biologische Theorie von der Lustempfindung als prim\u00e4rem Sinne kann nat\u00fcrlich nur als eine Konstruktion angesehen werden, die den hypothetischen Charakter in potenziertem Mafse tr\u00e4gt. Als derartige Hypothese bedarf sie gar nicht direkter Widerlegung; vielmehr gen\u00fcgt es schon, sie unn\u00f6tig zu machen dadurch, dafs man ihr eine andere Hypothese von gleicher oder gr\u00f6fserer Wahrscheinlichkeit entgegensetzt.\nAbgesehen nun davon, dafs in demselben Hefte, welches den ersten Teil der N.\u2019sehen Arbeit brachte, von anderer Feder1 der Nachweis zu f\u00fchren gesucht wird, dafs der Schmerz der urspr\u00fcngliche Bewufstseins-zustand sei (man wird unwillk\u00fcrlich an die KANTSchen Antinomien erinnert), \u2014 abgesehen davon, stellt Marshall in seinem eigens als Erwiderung auf N. geschriebenen Aufsatze eine Gegenhypothese auf, und diese zeigt um so mehr die Entbehrlichkeit der anderen, als sie ungezwungener, ohne die Annahme neuer Empfindungsarten und ohne die Zumutung, an die k\u00fcnftige Entdeckung von Lustnerven zu glauben, die Thatsachen erkl\u00e4ren vermag, f\u00fcr welche N. seine Theorie konstruieren zu m\u00fcssen glaubte. Die Haupts\u00e4tze der M.\u2019sehen Hypothese, die er schon an anderer Stelle ausgef\u00fchrt hatte,2 lauten : Lust und Unlust sind nicht selbst\u00e4ndige Seelenth\u00e4tigkeiten, sondern Attribute solcher und von diesen unzertrennlich. Lust entsteht, wenn die physikalische Th\u00e4tigkeit, die mit dem lustbetonten psychischen Zustande korrespondiert, die Verwendung \u00fcbersch\u00fcssiger aufgespeicherter Energie erm\u00f6glicht; Unlust, wenn die potenzielle Energie, welche vorhanden ist, um bei der Reaktion auf den Reiz sich in aktuelle zu verwandeln, geringer ist, als die Energie, welche der Reiz in normaler Weise ausl\u00f6st. Daher hat Schmerz und Lust nicht direkte Beziehung zur allgemeinen Wohlfahrt des Individuums, sondern nur zu der des speciellen Organs.\nDoch der Hauptwert der M.\u2019sehen Erwiderung liegt weniger in dieser Gegentheorie, deren Charakter ja ebenfalls h\u00f6chst hypothetisch ist, auch nicht so sehr darin, dafs er die Unm\u00f6glichkeiten der N.\u2019schen Annahme anschaulich darstellt, als vielmehr in dem Nachweise, dafs auch\n1\tHiram M. Stanley, On Primitive Consciousness. Phil. Rev. I. 4. S. 433. ff.\n2\tPsychological Classification of Pleasure and Pain. Mind No. 56.","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"408\nLitteraturbericht.\ndie der Empfindungstheorie scheinbar g\u00fcnstigen Thatsachen (Gold-SOHE1BBBS Schmerznerven, An\u00e4sthesie, Ungleichzeitigkeit von Schmerz und Ber\u00fchrungsempfindung bei einfacher Reizung) auf andere Weise leicht erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnen. Nach ihm hat jede Empfindung eine Lust- und eine Schmerzphase, doch giebt es Sinnesgebiete, bei denen letztere sehr grofs, erstere sehr klein ist. Als specifische Schmerznerven stellten sich scheinbar solche dar, die auf jede Reizung, welche man anwenden konnte, schmerzhaft reagierten. Aber jede Reizung, die man anwenden konnte, ist nicht jede m\u00f6gliche Reizung \u00fcberhaupt, und es ist denkbar, dafs die Natur der im Laboratorium anwendbaren Reize so ist, dafs sie stets die dem Nerven zugeh\u00f6rige Empfindung in der schmerzhaften Phase ausl\u00f6st, zumal da ja jene Reize meist einen etwas vom Normalen abweichenden Charakter haben. Es ist daher m\u00f6glich, dafs manche Empfindungsnerven in praxi nie anders denn schmerzhaft reagieren k\u00f6nnen, ohne dafs ihnen darum theoretisch die Existenz einer Lustphase abgesprochen werden brauchte, und ohne dafs man sie deswegen als specifische Schmerznerven ansehen m\u00fcfste. In den E\u00e4llen, wo bei einem Nadelstich die Ber\u00fchrung fr\u00fcher gesp\u00fcrt wird, als der Schmerz, nimmt M.:, wie Nichols, das Vorhandensein zweier getrennter Empfindungen an; doch die zweite ist nicht eine Schmerzempfindung als solche, sondern irgend eine Empfindung X. (z. B. beim Nadelstich eine Empfindung des Prickelns in tiefer gelegenen Hautschichten) im schmerzvollen Stadium. Da diese versteckt liegenden Nerven nur in abnormen F\u00e4llen zur Reizung gebracht werden, so ist es erkl\u00e4rlich, dafs sie dann immer in der Schmerzphase reagieren. Analgesie w\u00e4re dann nichts, als An\u00e4sthesie im Gebiete dieser hypothetischen zweiten Empfindung.\nDa es sich bei den letzterw\u00e4hnten Punkten nicht um vage Konstruktionen, sondern um Erkl\u00e4rung von Thatsachen handelt, die bisher im Zusammenh\u00e4nge noch wenig betrachtet worden sind, so wird die Forschung die M.\u2019schen Deutungsversuche nicht unbeachtet lassen d\u00fcrfen.\nW. Steen (Berlin).\nBenjamin Jves Gilman. Syllabus of lectures on the psychology of pain and pleasure. American Jo-urn. of Psychology. Bd. 6. S. 1\u201460. (1893.)\nVerfasser bespricht unter ausgiebiger Benutzung der reichen einschl\u00e4gigen Litteratur zun\u00e4chst die logischen und thats\u00e4chlichen Beziehungen von Lust und Unlust zu anderen Bewufstseinszust\u00e4nden und untereinander, er\u00f6rtert dann die allgemeinen psychophysischen und philosophischen Theorien, die sich an die Gef\u00fchle kn\u00fcpfen, und spricht darauf die verschiedenen Verh\u00e4ltnisse, unter denen Lust und Unlust im normalen und abnormen Bewufstsein auftreten, durch. Hervorzuheben ist, dafs er den Versuch macht, die Gem\u00fctsbewegungen zusammen mit dem Traum, der Hypnose, den Rauschzust\u00e4nden etc. unter die Kategorie der \u201eoneirotischen\u201c (traumartigen) Zust\u00e4nde zu bringen. Alle diese Zust\u00e4nde haben nach ihm im allgemeinen einen Zug zur Lust.\nSchliefslich giebt Gilman seine eigene Gef\u00fchlstheorie, welche er als \u201etheory of habit\u201c bezeichnet. Er erkl\u00e4rt n\u00e4mlich den Lust- oder Unlustwert der Vorstellungen durch den Einflufs, welchen sie auf die","page":408}],"identifier":"lit15483","issued":"1894","language":"de","pages":"406-408","startpages":"406","title":"Herbert Nichols: The Origin of Pleasure and Pain, Henry Rutgers Marshall: Pleasure-Pain and Sensation. Phil. Rev. I, 4, S. 403-432 u. I, 5, S. 518-534, 1892. Phil. Rev. I, 6, S. 625-648, 1892","type":"Journal Article","volume":"6"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T17:00:10.327142+00:00"}