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{"created":"2022-01-31T15:58:09.130923+00:00","id":"lit15560","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Stern, L. William","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 7: 321-386","fulltext":[{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\nVon\nL. William Stern, Dr. phil.\n(Mit einer Figur im Text.)\n\u00a7 t. Die Frage, wie wir Ver\u00e4nderungen vermittelst des Gesichtssinnes wahrnehmen, kann in Bezug auf Intens it\u00e4ts-wechsel, auf Farben\u00fcberg\u00e4nge, auf Or tsver\u00e4nd erungen gestellt werden. \u00dcber die Auffassung von Helligkeitsver\u00e4nderungen habe ich k\u00fcrzlich die Ergebnisse einiger experimentellen Untersuchungen mitgeteilt;1 nachfolgende Zeilen sollen sich mit dem Problem der Wahrnehmung von Ortsver\u00e4nderungen, also von Bewegungen, besch\u00e4ftigen. \u2014 Hierzu standen mir, anders als dort, in reichlichstem Mafse Vorarbeiten zu Gebote; es ist ein betr\u00e4chtliches, freilich weit verstreutes Thatsachen-material vorhanden, es sind auch bereits Theorien aufgestellt, die allerdings fast alle nur einen Teil des Thatsachenmaterials ber\u00fccksichtigen und so einer gewissen Einseitigkeit nicht entbehren.\nIch stellte mir nun die Aufgabe, das Gebiet in vollem Umfange monographisch zu behandeln, indem ich die That-sachen sammelte und ordnete, nachpr\u00fcfte und durch eigene Beobachtungen und Experimente erg\u00e4nzte, und indem ich eine Theorie aufzustellen versuchte, welche m\u00f6glichst vielen That-sachen gerecht zu werden vermag.\nNoch ein Punkt sei hier hervorgehoben. Ich habe den Gegenstand der Abhandlung absichtlich nicht als \u201eDas Sehen von Bewegungen\u201c bezeichnet, weil bei der Bewegungswahrnehmung vermittelst des Auges auch Augenbewegungen und\n1 Stern, \u00dcber die Wahrnehmung von Helligkeitsver\u00e4nderungen. Biese Zeitschr. Bd. VII. S. 249.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie VII.\n21","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322\nL. William Stern.\ndamit Muskelempfindungen u. s. w., also nichtoptische psychische Erscheinungen eine wichtige Rolle spielen und es nicht m\u00f6glich war, die rein optischen Vorg\u00e4nge isoliert zu behandeln. Der Titel schliefst daher absichtlich alle seelischen Vorg\u00e4nge ein, f\u00fcr welche das Auge in seinen verschiedenen Teilen, in der Netzhaut oder in den Muskeln, sinnliche Quelle oder motorisches Ziel ist.\nI. Die Thatsachen.\n\u00a7 2. Ich beginne mit einer \u00dcbersicht \u00fcber das gesamte That-sachenmaterial, das, soweit meine Kenntnis reicht, gegenw\u00e4rtig \u00fcber die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges vorhanden ist. Die Thatsachen sind teils allgemeiner Art, wie sie jeder Selbstbeobachtung ohne weiteres zug\u00e4nglich sind, teils spezielleren Charakters und nur durch besondere experimentelle Untersuchungen feststellbar. Sie beziehen sich 1. auf die Arten der Bewegungswahrnehmung, 2. auf deren Eigenschaften, 3. auf die Bewegungswahrnehmung in verschiedenen Netzhautregionen und umfassen 4. jene grofse Gruppe von Erscheinungen, die man unter dem Namen \u201eBewegungst\u00e4uschungen\u201c oder \u201eScheinbewegungen\u201c begreift.\nUm die Orientierung \u00fcber Einzelheiten zu erleichtern, habe ich jeder hier aufgez\u00e4hlten Thatsache s\u00e4mtliche Paragraphen dieser Abhandlung, in denen auf dieselbe Bezug genommen wird, in Klammern beigef\u00fcgt.\n1. Die Arten der Bewegungswahrnehmung.\n\u00a7 3. a) Die Wahrnehmbarkeit der Ortsbewegung hat eine obere und eine untere Grenze, d. h. die Bewegung mufs eine gewisse Mindestgeschwindigkeit haben, um als solche erkannt zu werden, und sie darf eine gewisse Maximalgeschwindigkeit nicht \u00fcberschreiten, um als solche noch erkannt zu werden.\nUnter \u201eGeschwindigkeit\u201c ohne weiteren Zusatz ist hier stets die Winkelgeschwindigkeit in Bezug auf das Auge zu verstehen. \u2014 Die Bewegung eines Fixsternes hat noch nicht die untere Geschwindigkeitsgrenze erreicht. Was die obere Grenze anlangt, so m\u00fcssen wir scheiden zwischen einer aperiodischen und einer periodischen Bewegung. Ein K\u00f6rper (von nicht","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n323\nallzustarker Intensit\u00e4t), der nur einmal an unserem Auge vorbei-huscbt, bleibt, wenn die Geschwindigkeit zu grofs ist, einfach unbemerkt; anders ein K\u00f6rper, der eine periodische, immer im Gesichtsfeld bleibende Bewegung vollf\u00fchrt. Wenn hier die obere Geschwindigkeitsgrenze erreicht ist, tritt nicht einfache Empfindungslosigkeit, sondern der Eindruck einer Konstanz auf. Bekannte Beispiele : Die im Kreise geschwungene gl\u00fchende Kohle, die schnell rotierende Scheibe mit schwarzen und weifsen Sektoren etc. (\u00a7 44. 4.)\n\u00a7 4. b) Innerhalb der beiden Grenzen kann die Gesichtswahrnehmung einer Bewegung, je nach der Geschwindigkeit derselben, auf zwei verschiedene Weisen erfolgen.\nBei sehr langsamen Bewegungen gestaltet sich die Wahrnehmung so, dafs in jedem einzelnen Moment der bewegte Gegenstand ruhend erscheint, dafs aber eine Vergleichung des jeweilig gegenw\u00e4rtigen Eindruckes mit den noch frischen Erinnerungsbildern der fr\u00fcheren Empfindungen uns zeigt, dass der Gegenstand seinen Standort gewechselt hat. Der Eindruck ist nicht der des Bewegt seins, sondern des Bewegt- wor dense ins, der Bewegungsvorgang selbst wird erst aus den einzelnen Phasen zusammengesetzt. Diese Art der Auffassung findet z. B. beim Stundenzeiger der Taschenuhr statt, auch wohl noch beim Minutenzeiger. Ein ganz anderes Bild bietet der Sekundenzeiger. Hier ist nichts mehr wahrzunehmen von einzelnen, in sich konstanten, scheinbar ruhenden Phasen; der unmittelbare sinnliche Eindruck liefert uns geradezu das Bild von etwas sich Bewegendem. Es bedarf nicht mehr der Herbeiziehung von Erinnerungsbildern fr\u00fcherer Eindr\u00fccke, um die Auffassung von Ortsver\u00e4nderungen hervorzubringen. Wir wollen die beiden Wahrnehmungsarten mit den nichts pr\u00e4judizierenden Ausdr\u00fccken: Wahrnehmung der Bewegungsphasen und Wahrnehmung des Bewegungsaktes bezeichnen. (\u00a7\u00a735 bis 37, \u00a7 51.)\nAm deutlichsten ist der grundverschiedene Charakter der beiden Wahrnehmungsweisen besonders dann zu erkennen, wenn man sie an einem und demselben Gegenst\u00e4nde nacheinander zu beobachten Gelegenheit hat, indem man entweder seine objektive Geschwindigkeit oder (durch N\u00e4herung bezw. Entfernung) seine Winkelgeschwindigkeit in Bezug auf das Auge\n21*","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"324\nL. William Stern.\nallm\u00e4hlich \u00e4ndert. Bei einem aus weiter Ferne sich n\u00e4hernden Wagen kann man die Bewegung zuerst nur daran erkennen, dass der Hintergrund des Wagens in verschiedenen Momenten ein anderer ist. Nach einiger Zeit aber tritt dann der rein sinnliche Eindruck auf, der uns in jedem einzelnen Augenblick den Wagen in Bewegung begriffen zeigt. \u2014 Das Umgekehrte ist der Fall bei einem aufsteigenden Luftballon.\nAuf die Verschiedenheit zwischen der erschlossenen und der sinnlich aufgefafsten Bewegung machte zuerst Exner 1 aufmerksam. Experimentelle, von Aubert2 angestellte Untersuchungen ergaben, dafs eine Winkelgeschwindigkeit von V bis 2' dazu geh\u00f6re, um den sinnlichen Eindruck einer Bewegung sofort wachzurufen. (\u00a7\u00a7 25, 27.)\n\u00a7 5. c) Nach einem anderen Einteilungsprinzip lassen sich die Bewegungswahrnehmungen in zwei Arten sondern, je nach der Stellung des Auges zum bewegten G egenstand.\u2014 Wir k\u00f6nnen n\u00e4mlich denselben entweder mit dem Auge verfolgen, d. h. sein Bild stets an der gleichen Netzhautstelle behalten, oder ihn bei fixiertem, bezw. anderweitig bewegtem Auge an uns vorbeiziehen lassen, d. h. sein Bild auf der Netzhaut fortw\u00e4hrend den Platz wechseln lassen.\n2. Eigenschaften der Bewegungswahrnehmung.\n\u00a7 6. a) Wir sind im st\u00e4nde, Bewegungen nach mehreren Richtungen oder in verschiedenen Geschwindigkeiten gleichzeitig wahrzunehmen. Beispiele: Auffassung der Flocken in einem Schneegest\u00f6ber, der verschiedenen * Pendel in einem Uhrenladen, der mannigfach gerichteten Touren in einem Ballet, des Auf- und Zuklappens eines Zirkels. Auch die gleichzeitigen Komponenten einer Geh-, Spring- oder Schwimmbewegung verm\u00f6gen wir momentan aufzufassen. (\u00a7 44. 5.)\n\u00a7 7. b) Bewegung kann merkbar sein ohne Erkennung der Richtung.\n1 Exner, \u00dcber das Sehen von Bewegungen und die Theorie des zusammengesetzten Auges. Wiener Akademie-Berichte (math.-naturw. Klasse) in. Abt. Bd. 72. S. 159 ff. (1875).\n! A\u00fcbert, Die Bewegungsempfindung. Pfl\u00fcgers Arch. Bd. XXXIX. S. 347 (1886) und Bd. XL. S. 459 (1887). In Betreff der obigen Thatsache S. Bd. XXXIX. S. 353.","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n325\nWir haben zuweilen den Eindruck, dafs sich etwas in unserem Gesichtsfelde bewegt habe, k\u00f6nnen uns aber nicht Rechenschaft geben, ob von rechts nach links oder umgekehrt; insbesondere ist dies m\u00f6glich, wenn wir am geschlossenen Auge einen dunklen Gegenstand schnell vorbeif\u00fchren (\u00fcberhaupt bei v\u00f6llig homogenem, diffus beleuchtetem Gesichtsfeld), auch sonst bei sehr schnell bewegten oder vom Hintergrund sich wenig abhebenden Objekten. (\u00a7 40.)\n\u00a7 8. c) Die unter \u00a7 5 genannten beiden M\u00f6glichkeiten, Bewegungen wahrzunehmen, liefern bei derselben objektiven Bewegung die Eindr\u00fccke verschiedener Geschwindigkeit; und zwar erscheint letztere kleiner, wenn man dem Objekt mit dem Auge folgt.\nAm deutlichsten wird dies bei einer Wagenfahrt, wenn man die vor\u00fcberziehenden Pflastersteine beobachtet in der Weise, dafs man bald einen dieser Steine, bald einen Teil des Wagentrittes fixiert. Stets wird beim \u00dcberg\u00e4nge des Eixations-punktes vom Stein zum Wagen tritt das vorbeifliegende Pflaster mit einem merklichen Ruck seine scheinbare Geschwindigkeit vergr\u00f6fsern, im umgekehrten Palle verringern.\nZahlenm\u00e4fsige Versuche wurden hier\u00fcber von Fleischl1 und Aubert2 angestellt, von beiden mit Benutzung der Kymo-graphionwalzen, auf denen sie Systeme schwarzer Linien rotieren liefsen. Ersterer betrachtete dieselbe objektive Bewegung auf die beiden genannten Weisen und sch\u00e4tzte die Verschiedenheit des subjektiven Eindruckes; letzterer gab den bewegten Objekten solche Geschwindigkeiten, dafs der subjektive Eindruck bei beiden Wahrnehmungen gleich erschien, und mafs dann den objektiven Unterschied. Beide fanden, dafs eine am Auge vorbeistreichende Bewegung doppelt so schnell erschien, als dieselbe Bewegung, wenn das Auge ihr folgt. (\u00a7\u00a7 26, 55, 56.)\n\u00a7 9. d) Die Wahrnehmung der Bewegungen ist nicht an die gesonderte Auffassung einer Mehrheit von Zeitpunkten gebunden; d. h. die Minimalzeit, welche n\u00f6tig ist, um den Eindruck der Bewegung zu erm\u00f6glichen, ist kleiner als die Minimalzeit, die erforderlich ist, damit zwei Eindr\u00fccke als ungleichzeitig aufgefafst werden.\n1\tE. v. Fleischl, Physiologisch-optische Notizen. Wiener Akademie-Berichte Bd. 86 Aht. III. S. 17 ff. (1882).\n2\tA\u00fcbebt, Pfl\u00fcgers Arch. Bd. XL. S. 459 ff.","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326\nL. William Stern.\n\u00dcber diese Thatsache liegt nur eine Bemerkung Exners1 vor: \u201eTritt ein Lichtblitz im Punkte a des Sehfeldes auf und 0,045 Sekunden sp\u00e4ter ein solcher im Punkte 6, so werden sie eben noch als zeitlich verschieden erkannt. Sind diese Punkte aber Anfangs- und Endpunkte einer wirklichen oder scheinbaren Bewegung, so wird ihre zeitliche Differenz noch bei 0,014 Sekunden erkannt. Man sieht dann eben einen hellen Punkt sich von a nach b bewegen.\u201c (\u00a7 46.)\n\u00a7 10. e) Das Vorhandensein ruhender Objekte im Gesichtsfeld tr\u00e4gt viel zur Genauigkeit der Bewegungswahrnehmung bei.\nSind ruhende Objekte vorhanden, so ist man erstens vor gewissen T\u00e4uschungen gesch\u00fctzt (\u00a7 19 \u00df), zweitens wird die Bewegung schon bei einer geringeren Geschwindigkeit sicher wahrgenommen, als ohne solche. \u2014\u2022 Hierf\u00fcr finden sich in Auberts Versuchen manche Best\u00e4tigungen; s. auch meine eigenen Experimente. (\u00a7\u00a7 27, 29. 1, 30. 4.)\n\u00a7 11. f) F\u00fcr m\u00e4fsig bewegte Objekte ist ceteris paribus die Unterschiedsempfindlichkeit gr\u00f6fser, als f\u00fcr ruhende.\nSo wird ein nicht mehr sichtbarer Schatten sofort wieder deutlich, sobald man das Licht oder den schattenwerfenden Gegenstand bewegt. Hier\u00fcber hat Schneider2 eine Reihe von Experimenten angestellt und gefunden, dafs die Unterscheidungsf\u00e4higkeit bei ruhendem und bewegtem Schatten sich etwa wie 1 : 2 verhalte. (\u00a7\u00a7 25, 41.)\n\u00a7 12. g) M\u00e4fsig bewegte Objekte lenken ceteris paribus die Aufmerksamkeit leichter auf sich, als ruhende.\nDaher halten sich Spione und R\u00e4uber regungslos (nicht nur um Ger\u00e4usch zu vermeiden). Tiere, die auf Beute lauern oder die verfolgt werden, stellen sich tot. Andererseits macht man sich bemerkbar durch H\u00fcte- und Taschentuchschwenken. [Schneider.] (\u00a7\u00a7 25, 41.)\n\u00a7 13. Die Relativit\u00e4t der Bewegungen ist keine Eigenschaft der Bewegungswahrnehmung, sondern der Be-\n1\tA. a. O., S. 161.\n2\tC. H. Schneider, Warum bemerken wir m\u00e4fsig bewegte Dinge leichter als ruhende? Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philosophie Bd. II. S. 377 (1878).","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n327\nwegungsvorstellung. Doch wird sich sp\u00e4ter Gelegenheit finden, zu zeigen, welche Eigent\u00fcmlichkeiten der Sinneswahrnehmung zur Bildung dieser Vorstellung beigetragen haben. (\u00a7\u00a7 53, 54.)\n3. Die Bewegungswahrnehmungen in verschiedenen Gebieten der Netzhaut.\n\u00a7 14. a) Die Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr Bewegungen ist in den seitlichen Netzhautgebieten viel geringer als im C entrum.\nMeine eigenen Experimente ergeben Folgendes: War ein sich bewegendes Objekt um 20\u00b0 vom Fixationspunkt seitlich entfernt, so mufste es, um .als bewegt eben wahrgenommen zu werden, eine Elongation machen, die das F\u00fcnffache von der betr\u00e4gt, welche bei direktem Sehen gerade noch bemerkt wurde. (\u00a7 30, 2. Anm.)\n\u00a7 15. b) Auch in and eren Beziehungen ist die Aufnahmef\u00e4higkeit der seitlichen Netzhautteile f\u00fcr Bewegungen geringer als die des Centrums.\nSchon Czermak1 fand, dafs die Bewegung des Sekundenzeigers der Taschenuhr bei indirektem Sehen viel langsamer erschien, als bei direktem. Dies fand experimentelle Best\u00e4tigung durch Aubert,2 der nachwies, dafs die Geschwindigkeit, bei welcher objektive Bewegung sofort und unmittelbar als solche aufgefafst wurde, um so mehr erh\u00f6ht werden mufste, mit je seitlicheren Teilen der Retina man sie beobachtete. (\u00a7 27. 2.)\n\u00a7 16. c) Im direkten Sehen ist die Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr Bewegung und f\u00fcr Ruhe gleich. \u2014 S. die Ergebnisse meiner Experimente \u00a7 30. 1, ferner \u00a7 42.\n\u00a7 17. d) Im indirekten Sehen ist bei grofser und mittlerer Helligkeit die Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr Bewegung betr\u00e4chtlich gr\u00f6fser als f\u00fcr Ruhe. Der Unterschied nimmt ab mit abnehmender Helligkeit. Auf die erste That-sache machte Exner3 zuerst aufmerksam. Schiebt man einen Finger von hinten her ins Gesichtsfeld, so giebt es eine Stellung, wo er im Ruhezustand unsichtbar ist, wo aber die geringste Bewegung scharf auff\u00e4llt. (Aus eigener Beobachtung\n1 Czermak, Ideen zu einer Lehre vom Zeitsinn. Wiener Akademie-Berichte. Bd. XXIY. 8. 231 (1857).\n4 Aubert, Pfl\u00fcgers Arch. Bd. XXXIX. S. 362 ff.\n3 A. a. O., S. 162.","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nL. William Stern..\nkann ich hinzuf\u00fcgen, dafs dies sogar der Fall ist, wenn die Bewegung nach hinten, also aus dem Sehfelde heraus, vor sich geht.) In einer Netzhautgegend, in der zwei ruhende Gegenst\u00e4nde (Finger, Papierschnitzel) nicht mehr als zwei erkannt werden, wird eine Bewegung noch wahrgenommen, deren Elongation geringer ist, als der (nicht mehr wahrgenommene) Abstand der zwei Objekte. \u2014 Meine eigenen experimentellen Untersuchungen ergeben, dafs im seitlichen Sehen bei starker Helligkeit die eben noch wahrnehmbare Trennungsstrecke zweier ruhenden Objekte etwa viermal so breit sein mufs, wie die Elongation einer Bewegung, die an der Schwelle der Wahrnehmbarkeit steht; bei sehr geringer Helligkeit waren dagegen jene Strecken gleich. (\u00a7\u00a7 29\u201431, \u00a7 42.)\n4. Optische Bewegungst\u00e4uschungen.\n(Sogenannte Scheinbewegungen.)\n\u00a7 18. Unter einer optischen B ewegungs t\u00e4uschung verstehe ich einen Gesichtseindruck, dessen naive Interpretation, welche ihn auf eine objektive Bewegung bestimmter Art zur\u00fcckf\u00fchrt, durch die Keflexion eine Widerlegung, bezw. Korrektur erf\u00e4hrt. Unter einer objektiven Bewegung verstehe ich hier jede Ortsver\u00e4nderung in Bezug auf die Person des Beobachtenden. Somit macht die Landschaft gegen den in der Eisenbahn an ihr Vorbeifahrenden eine objektive Bewegung. Mit blofser Ber\u00fccksichtigung des rein Thats\u00e4chlichen sind hier vier M\u00f6glichkeiten von Scheinbewegungen vorhanden ; alle vier finden sich in der Erfahrung verwirklicht:\n\u00a7 19. a) Obwohl das Gesichtsfeld objektiv in Euhe ist, entsteht dennoch der Eindruck einer Bewegung. Ich will diese Art der T\u00e4uschungen als \u201eTrugbewegungen\u201c bezeichnen. Solche treten auf:\na) Bei starrer und l\u00e4ngerer Fixation. Es kann dann das Objekt pl\u00f6tzlich zu vibrieren anfangen und in die lebhaftesten Bewegungen geraten, so dafs man es f\u00fcr ein hin- und herkriechendes Insekt halten k\u00f6nnte. (S. Hoppe1 S. 1, ferner \u00a7 50.)\n\u00df) Bei v\u00f6lliger Isolation im Gesichtsfeld. Ein gl\u00fchender Draht, den Aubert2 in einem sonst absolut dunklen Zimmer\n1 J. Hoppe, Die Scheinbewegungen. W\u00fcrzburg 1879.\ns Aubert, Pfl\u00fcgers Arch. Bd. XL. S. 469.","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges-\n329\nals einziges Objekt wahrnahm, schien bei objektiver Ruhe sich \u00f6fters lebhaft und schnell zu bewegen, und umgekehrt. Das Gleiche beobachtete Charpentier.1 (\u00a7 27. 3; s. auch meine Experimente \u00a7\u00a7 29.1, 30. 4.)\ny) Bei Angenmuskell\u00e4hmungen. Sobald versucht wird, das gel\u00e4hmte Auge zu drehen, scheint die Umgebung nach derselben Seite eine Drehung zu vollf\u00fchren. (\u00a7 50.)\nd) Bei Intensit\u00e4tsver\u00e4nderungen. Jede Erhellung erscheint als eine Yergr\u00f6fserung, jede Verdunkelung als eine Verkleinerung des erleuchteten Objektes. Freilich gehen ja Gestalts- und Helligkeitsver\u00e4nderungen oft Hand in Hand (so bei allen Flammen) ; aber selbst da, wo jede objektive Gr\u00f6fsenver\u00e4nderung des hellen Gegenstandes absolut ausgeschlossen ist, hat man oft den unverkennbaren Eindruck, als \u201er\u00fchre sich etwas im Sehfeld\u201c.2 (\u00a7 39, Anm.)\n\u00a7 20. b) Eine objektive Bewegung ist vorhanden, erscheint aber in anderer Form. \u201eUmgeformte Bewegungen.\u201c\n\u00ab) Die bekanntesten hierhergeh\u00f6rigen T\u00e4uschungen sind die stroboskopischen, wo die objektive Bewegung einer Bilderreihe, deren Glieder sich fortw\u00e4hrend im Gesichtsfeld abwechseln, umgesetzt wird in eine ganz andersartige, an derselben Stelle des Gesichtsfeldes sichtbare, periodische Bewegung. Die Beschreibung der betreffenden Apparate, die unter den Hamen: Stroboskop, Daedaleum, Schnellseher, Wunderkreisel einhergehen, darf ich mir an dieser Stelle wohl ersparen.3 (\u00a7\u00a7 27, 44.4.)\n\u00df) Eine Rotationsbewegung wird umgesetzt in eine geradlinige bei der Drehung von Schrauben und Spiralen. Ein mit Schraubengang versehener, senkrecht stehender Cylinder\n1\tA. Charpentier, Comptes rendus (Paris) Bd. Cil. S. 1155 (1886).\n2\tS. Exner, \u00dcber die Funktionsweise der Netzhautperipherie etc. Graefes Arch. 1886. S. 236.\n3\tSiehe u. a. : Stampfer, Jahrh. d. polytechn. Instituts z. Wien Bd. XVIII (1833) ; Plateau , Corresp. math, et phys. de Vobservatoire de Bruxelles Bd. VII. S. 365 (1833); Horner, Pogg. Ann. Bd. XXXII. S. 650; Uchatius, Wiener Akademie-Berichte Bd. X. S. 482 (1853); Stricker, Studien \u00fcber die Bewegungsvorst. (1882); Helmholtz, Physiol. Optik. 1. Aufl. S. 349, 2. Aufl. S. 494 ; 0. Fischer, Philos. Studien. III. S. 128. (1886); Wundt, Physiol. Psychologie. 4. Aufl. Bd. II. S. 159/160. Siehe ferner die hei Fischer S. 153 angef\u00fchrte Litteratur.","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330\nL. William Stern.\nbewirkt, in Rotation versetzt, dafs die dem Auge sichtbaren parallelen, schr\u00e4g gerichteten Teile der Schraubenlinie senkrecht nach oben oder unten sich zu bewegen scheinen. Besonders deutlich ist die T\u00e4uschung an den seitlichen R\u00e4ndern des sichtbaren Cylinderteiles. \u2014 Eine \u00e4hnliche T\u00e4uschung zeigt die PLATEA\u00fcsche Spirale.1 Eine grofse, schwarze, auf weifsen Grund gezeichnete Spirale erzeugt bei Drehung um ihren Ausgangspunkt den Schein von einem System von Kreisen, die, je nach dem Sinn der Drehung, in sich zusammenschrumpfen oder sich nach allen Seiten gleichm\u00e4fsig ausdehnen. (\u00a7\u00a7 24, 45, 58 Anm.)\ny) Eine nach nur einer Seite gerichtete Bewegung wird in eine Rotationsbewegung umgesetzt bei Eisenbahnfahrten. Fixiert man einen Punkt der Landschaft, so scheinen sich alle \u00fcbrigen Punkte um diesen zu drehen, und zwar die n\u00e4her gelegenen entgegengesetzt der Fahrtrichtung.2 Genau den gleichen Eindruck einer scheinbaren Rotation erzielte ich, wenn ich in der Mitte eines Pendels eine Marke anbrachte und diese bei den Schwingungen des Pendels fixierte. (\u00a7 56.)\nS) Eine Verschiebung zweier bewegter Gegenst\u00e4nde hintereinander bewirkt T\u00e4uschungen verschiedener Art. \u2014 Die scheinbaren Durchschnittspunkte der Begrenzungslinien der beiden Gegenst\u00e4nde bilden successive eine Kurve, und die Gestalt der letzteren ist entweder bestimmend f\u00fcr die Form, in der wir das nach hinten gelegene Objekt sehen, oder f\u00fcr die Richtung der Scheinbewegung, welche neben den beiden anderen Bewegungen oder an deren Stelle auftritt. Ersteres ist der Fall bei der Speichent\u00e4uschung. Wird ein Gitter mit senkrechten St\u00e4ben gegen ein sich drehendes Rad verschoben, so erscheinen die Speichen des Rades s\u00e4mtlich gekr\u00fcmmt, und zwar derart, dafs sie ihre konvexe Seite alle nach unten kehren. Nur die jeweilig senkrechten Speichen bleiben unver\u00e4ndert.3 (\u00a7 46.) \u2014 Weit h\u00e4ufiger ist die zweite Erscheinungsform der T\u00e4uschung. Bei Verschiebung zweier Staketenz\u00e4une oder zweier Drahtgitter gegeneinander,4 ferner\n1 Plateau, Pogg. Ann. Bd. LXXX. S. 287 (1850).\n5 Fleischl, a. a. O., S. 23.\n3\tRoget, Pogg. Ann. Y. S. 93. Hiermit nicht identisch, doch sehr \u00e4hnlich sind die T\u00e4uschungen, welche Plateau (Pogg. Ann. XX. S. 319) und Faraday (Pogg. Ann. XXII. S. 601) beschreiben.\n4\tO. Fischer, Philos. Studien. III. S. 154.","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n331\nbei Betrachtung des rotierenden, aus Messingb\u00fcgeln gebildeten Modells f\u00fcr die Erdabplattung1 sieht man \u00fcber die dem Auge n\u00e4heren Objekte fortw\u00e4hrend Streifen oder Schatten hinweghuschen, die in ihrer Richtung durchaus jener scheinbaren Durchschnittskurve entsprechen. Ebenso scheint, wenn man bei der Eisenbahnfahrt zwei windschiefe Telegraphendr\u00e4hte betrachtet, der scheinbare Durchschnittspunkt, gleich einem sich selbst identisch bleibenden Objekte, pfeilschnell dahinzufliegen. (\u00a7\u00a7 39, 45.)\ne) Ein von einem Anfangspunkte aus sich fortpflanzender Bewegungsvorgang, der fortw\u00e4hrend andere Teile einer in sich gleichartigen Masse in Mitleidenschaft zieht, erweckt den Eindruck, als ob ein und dasselbe Teilchen den Weg zur\u00fccklege, der durch die Fortpflanzungsrichtung des Gesamtvorganges bestimmt ist. Dieses Ph\u00e4nomen zeigen alle K\u00f6rper, an denen transversale Schwingungen zur Anschauung kommen, insbesondere die Wasserwellen, in welchen erst ein nicht homogenes Objekt, z. B. ein St\u00fcckchen Holz, beweist, dafs jedes einzelne Teilchen eine zur Portpflanzungsrichtung der Welle senkrechte Bewegung vollf\u00fchrt. Auch die Schwingungen des an einem. Ende befestigten Seiles, durch welche man gewisse Undulationserschei-nungen zu veranschaulichen pflegt, erregen den Anschein, als ob an dem Seile von einem Ende zum anderen schnell etwas entlanghusche. Die T\u00e4uschung tritt ferner mit grofser Deutlichkeit auf, wenn der Wind \u00fcber das Ahrenfeld hinwegzieht, oder wenn durch kompakte Menschenmassen, die man von weitem betrachtet, eine Erregung sich zu verbreiten beginnt. (\u00a7 45.)\n\u00a7 21. c) Eine objektive Bewegung ist vorhanden, erscheint aber (nur oder auch) an einem anderen Gegenst\u00e4nde: \u201e\u00dcbertragene Bewegungen\u201c.\nEin durch das ruhende Gesichtsfeld sich bewegendes Objekt kann, insbesondere, wenn es den gr\u00f6fseren Teil des Gesichtsfeldes einnimmt und die Bewegung sehr gleichf\u00f6rmig ist, als ruhend gelten, und es scheint dann, als ob die in Wirklichkeit unbewegten Gegenst\u00e4nde im Gesichtsfelde sich gegen jenes versch\u00f6ben. So jagt der Mond scheinbar pfeilgeschwind durch\n1 Emsmann, Fogg. Ann. LXIV. (Wundt citiert in der 3., wie in der 4. Aufl. seiner Physiol. Psychologie f\u00e4lschlich LIV S. 326.)","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332\nL. William Stern.\ndie Wolken; so kann man sick, wenn man von einer Br\u00fccke in schnell fliefsendes Wasser blickt, sehr bald dem ganz frappanten Eindr\u00fccke nickt mekr entziehen, als ob man sich samt der Br\u00fccke rasch stromaufw\u00e4rts bewege. Auf einer entsprechenden T\u00e4uschung beruht das Prinzip der Wandeldekoration. Dafs eine Bewegung zum Teil auf eine andere \u00fcbertragen wird, findet sich bei dem von Vierordt1 erw\u00e4hnten Pingerph\u00e4nomen: Spreizt man zwei Einger in der Weise, dafs man nur den einen bewegt, den anderen ruhig h\u00e4lt, so scheint es durchaus, als ob beide sich aktiv an der Spreizbewegung beteiligen.2 (\u00a7 54.)\n\u00a7 22. d) Nachdem eine objektive Bewegung ab-gelaufen-ist, erscheint der Eindruck einer Bewegung: \u201eNachbewegungen\u201c.3 Sie sind vielleicht die wichtigsten aller optischen Bewegungst\u00e4uschungen. Die Nachbewegungen k\u00f6nnen der prim\u00e4ren Bewegung entweder entgegengesetzt oder gleichgerichtet sein; berichtet wurde bisher mit einer einzigen Ausnahme nur von der ersteren Art. (\u00a7\u00a7 32\u201434, \u00a7\u00a7 57\u201459.)\na) Eine entgegengesetzt gerichtete Nachbewegung wird erzeugt, wenn man l\u00e4ngere Zeit eine gleichf\u00f6rmige Bewegung beobachtet hat und dann den Blick auf ein stillstehendes Objekt richtet. Hier ist vor allem des oft beschriebenen Uferph\u00e4nomens zu gedenken.4 Hat man ein lebhaft str\u00f6mendes\n1\tK. Vieroedt, Die Bewegungsempfindung. Zeitschrift f\u00fcr Biologie \u2022XII. 8. 233. (1878.)\n2\tEine Anzahl anderer \u00fcbertragener Bewegungen geh\u00f6rt eigentlich nicht hierher, sei aber doch kurz erw\u00e4hnt. Es sind solche T\u00e4uschungen, bei denen thats\u00e4chlich der f\u00fcr bewegt gehaltene Gegenstand eine Ortsver\u00e4nderung in Bezug auf die Person des Beobachtenden ausf\u00fchrt. Unbeachtet bleibt hier nur, dafs diese Ortsbewegungen durch Eigen-bewegungen des Beobachters erzeugt werden, so dafs jener Gegenstand zwar nicht zur Person des Sehenden, wohl aber gegen den Erdmittelpunkt sich in Ruhe befindet. Am leichtesten unbeachtet bleiben passive Eigenbewegungen. Daher halten wir f\u00fcr bewegt: wenn wir im Personenaufzug fahren, die W\u00e4nde des Schachtes, wenn sich unser Eisenbahnzug in Bewegung setzt, einen auf dem Nebengeleise stillstehenden Zug, wenn man im schwankenden Schiffe sitzt, die an der Decke h\u00e4ngenden, in Wirklichkeit die senkrechte Richtung bewahrenden Gegenst\u00e4nde.\n3\tIch vermeide, aus sp\u00e4ter zu er\u00f6rternden Gr\u00fcnden, absichtlich den Namen \u201eBewegungsnachbilder\u201c.\n* S. u. a. : J. Oppel, Neue Beobachtungen u. s. w. Pogg. Ann. Bd. IC. S. 540. Hoppe, a. a. O., E. Budde, \u00dcber metakinetische Scheinhewegungen. Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1884. S. 127.","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n333\nGew\u00e4sser (Flufs, Wasserfall) mehrere Sekunden lang unverwandt betrachtet, so scheint nachher, wenn man den Blick dem Ufer oder einem anderen Gegenst\u00e4nde zuwendet, dieser in der entgegengesetzten Richtung begriffen zu sein. Dieselbe Nachwirkung bringt die Betrachtung der PLATEAUschen Spirale hervor ; zogen sich w\u00e4hrend der Rotation die scheinbaren Kreise zusammen, so schien sich nachher ein betrachtetes Objekt von einem Centrum aus auszudehnen, und umgekehrt. (\u00a7\u00a7 24, 34, 58.) Bei diesen entgegengerichteten Bewegungen sind nun einige Einzelheiten sehr bemerkenswert :\n1.\tDie Nachbewegung findet nur in der Gegend des Gesichtsfeldes statt, in welcher vorher die Bewegung wahrgenommen wurde. Es kann sich also die Mitte anscheinend lebhaft bewegen, w\u00e4hrend die Seiten in Ruhe bleiben, ohne doch von ihr losgerissen zu werden. Oppel beschreibt diesen eigent\u00fcmlichen Eindruck sehr anschaulich.\n2.\tDie Nachbewegungen k\u00f6nnen gleichzeitig mehrere Richtungen haben. Dvorak1 variierte den PLATEAUschen Spiralversuch, indem er auf einer Scheibe drei Spiralen anbrachte, Kleiner,2 indem er drei Scheiben nahm; beide Male war die mittlere Spirale den anderen entgegengesetzt gerichtet. Die erzeugten Kreise bewegten sich auch im Nachbilde gegeneinander. Das gleiche Ph\u00e4nomen brachte Hoppe3 neuerdings hervor, der zur Erzeugung entgegenlaufender Bewegungen sich der Spiegelung bediente.\n3.\tHat man mit dem rechten Auge bei geschlossenem linken die prim\u00e4re Bewegung beobachtet, so kann man mit dem linken Auge bei geschlossenem rechten die Nachbewegung wahrnehmen. (Kleiner,2 Dvorak.1)\n4.\tDie Nachbewegung kann unter Umst\u00e4nden mit einer neu wahrgenommenen Bewegung zu einem dritten Bewegungseindrucke kombiniert werden. So sah Kleiner2 nach Beobachtung einer PLATEAUschen Spirale und bei Beobachtung einer sich drehenden Sektorenscheibe die Radien der letzteren s\u00e4mtlich in der Form eines flachen Bogens.\n1\tDvorak, Versuche \u00fcber Nachbilder von Reizver\u00e4nderungen. Wien. Akad.-Berichte LXI. II. Abt. S. 257. (1871).\n2\tKleiner, \u00dcber Scheinbewegungen. Pfl\u00fcgers Arch. XVIII. S. 572.\n3\tHoppe, Studie zur Erkl\u00e4rung gewisser Scheinbewegungen. Diese Zeitschrift. Bd. VII. S. 29 ff.","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334\nL. William Stern.\n5. Aus vielf\u00e4ltigen eigenen Beobachtungen vermag ich noch folgendes anzuf\u00fchren : Schliefst man nach gesehener Bewegung beide Augen, so kann man unter Umst\u00e4nden im Lichtstaub der geschlossenen Augen eine entgegengesetzte Nachbewegung erkennen, besonders dann, wenn die prim\u00e4re Beobachtung ziemlich lange gedauert hat. (S. meine experimentellen Untersuchungen \u00a7\u00a7 32.1, 33 a, ferner \u00a7 58.)\nEine sehr intensive, entgegengerichtete Nachbewegung tritt beim Drehschwindel auf; dieselbe kann l\u00e4ngere Zeit an-halten und unterscheidet sich prinzipiell von den bisher geschilderten schon dadurch, dafs sie stets das ganze Gesichtsfeld ergreift (\u00a7 59).\n\u00df) Uber gleichgerichtete Nachbewegungen habe ich nur eine einzige Notiz gefunden bei Engelmann.1 Derselbe hat bei einer Eisenbahnfahrt Nachbilder dadurch erzeugt, dafs er das ausgeruhte, dem Wagenfenster zugekehrte Auge rasch \u00f6ffnete und wieder schlofs. Bald entwickelte sich das Nachbild, und zwar das des Wagenfensterrahmens stillstehend, das der Gegend sich in wirklicher Richtung bewegend. Die Scheinbewegung kam um so deutlicher zu st\u00e4nde, je weniger scharf sich die Gegenst\u00e4nde im Nachbilde abzeichneten. \u00c4nderte er in der Vorstellung die Richtung des Zuges, was ihm leicht gelang, so \u00e4nderte sofort das Nachbild seine Richtung.\nIch selbst habe \u00fcber den gleichen Gegenstand eine gr\u00f6fsere Zahl von Beobachtungen, zum Teil auf experimentellem Wege, angestellt (\u00a7\u00a7 32, 33), die in vielen Punkten mit Engelmanns Resultaten \u00fcbereinstimmen. Dieselben ergaben, dafs, unmittelbar nachdem das Auge kurze Zeit eine objektive Bewegung gesehen (hatte und dann verdeckt worden war, eine ganz kurzdauernde, aber sehr deutliche, gleichgerichtete Nachbewegung wahr-\u25a0 genommen wurde. Die bei der prim\u00e4ren Beobachtung ruhenden Gegenst\u00e4nde waren auch im Nachbilde ruhend.\nZu erw\u00e4hnen w\u00e4ren hier noch endlich die Nachwirkungen, welche sich nicht unmittelbar an das Sehen einer Bewegung anschliefsen, sondern erst einige Zeit (Minuten, ja Stunden) sp\u00e4ter, aber mit v\u00f6llig sinnlicher Lebhaftigkeit und unwillk\u00fcrlich auftreten. (Fechner2 sprach hier von \u201eSinnenged\u00e4chtnis\u201c.)\n1\tTh. W. Engelmann, \u00dcber Scheinbewegung in Nachbildern. Jenaische Zeitschr. f. Med. u. Naturw. III. Bd. S. 443. (1867.)\n2\tG. Th. Fechnek, Elemente d. Psychophysik S. 498 ff.","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges. 335\nEr beobachtete die Erscheinungen einmal im Bette, wo er pl\u00f6tzlich einen Zeiger vor einer Skala wandern sah ; auch ich kann sie aus eigener Erfahrung best\u00e4tigen. Als ich die im HELMHOLTZschen Ophthalmometer erzeugten Doppelbilder einer feinen Skalenteilung oft gegeneinander verschoben hatte, sah ich eine Viertelstunde sp\u00e4ter die beiden Bilder mit ihren feinen Teilstrichen sich deutlich gegeneinander bewegen, ebenso ein anderes Mal, als ich bei Gelegenheit von Ablesungen einen Nonius oft an einer Teilung hatte vorbeistreichen sehen. Auch diese Ph\u00e4nomene des Sinnenged\u00e4chtnisses scheinen stets gleichgerichtet zu sein (\u00a7 60).\n\u00a7 23. Nicht unerw\u00e4hnt lassen m\u00f6chte ich noch eine optische Bewegungst\u00e4uschung, welche ganz vereinzelt dazustehen scheint und zur Zeit noch v\u00f6llig unerkl\u00e4rt ist. L\u00e4fst man ein gitterartiges Objekt an dem anderweitig fixierten Auge vorbeiziehen, so erscheinen die einzelnen St\u00e4be wellenartig gekr\u00fcmmt, bei mitgehendem Auge oder bei ruhendem Objekt und Auge machen sie dagegen den normalen, geradlinigen Eindruck. So beschreibt Eleischl1 die Erscheinung, und ganz \u00e4hnlich habe auch ich sie beobachtet (S. \u00a7 34, Anm.); Helmholtz dagegen hat bei sehr feinen Gittern die Wellung auch im Ruhezust\u00e4nde bemerkt, doch ist es m\u00f6glich, dafs es sich hier um zwei v\u00f6llig getrennte Ph\u00e4nomene handelt.\nII. Historisches.\n\u00a7 24. Das Problem der Wahrnehmung von Bewegungen ist noch ziemlich neu, ja eigentlich noch nicht ganz zwei Jahrzehnte alt. Fr\u00fcher war es den Forschern (physiologischen, wie psychologischen) entweder entgangen, dafs hier eine Frage von prinzipieller Bedeutsamkeit der L\u00f6sung harrte, oder man begn\u00fcgte sich damit, die Auffassung von Bewegungen als ein Schlufsverfahren hinzustellen; daraus, dafs derselbe Gegenstand zu verschiedenen Zeiten verschiedene \u00d6rter innehabe, werde gefolgert, dafs er seinen Platz verlegt und somit sich bewegt habe. Diese Annahme fand dann ihre St\u00fctze und auch gr\u00fcndlichere Formulierung in der Reihentheorie Herbarts und der Herbartianer und wird z. B. von Volkmann2 folgendermafsen\n1\tFleischl, a. a. O., S. 8.\n2\tVolkmann, Lehrbuch der Psychologie. III. Aufl. S. 107.","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"336\nL. William Stern.\nausgesprochen: \u201eGesetzt. . . , die Beihe ABODE sei uns als Baumreihe bekannt, und ich komme bez\u00fcglich der Vorstellung M zu dem Bewufstsein, dafs M als Empfindung mit den einzelnen Gliedern dieser Baumreihe successiv gleichzeitig ist (was dann eintritt, wenn wir uns ABODE als den Hintergrund denken, in dessen Einzelfl\u00e4chen M successiv seine Stelle einnimmt), so involviert dies das Bewufstwerden, dafs die durch die Empfindung des M und je eines Gliedes der Beihe be-zeichneten Gegenwarten das nacheinander zur\u00fccklegen, was in der Beihe nebeneinander steht, d. h. es entwickelt sich das Vorstellen der Bewegung. AM ist nicht mehr Empfindung, wenn Hilf Empfindung ist, und doch sind A und B nebeneinander. Mverschmilzt nacheinander mit einem Nebeneinander.\u201c\nDie speziellere Forschung hatte allerdings schon vorher vor\u00fcbergehend einige hierhergeh\u00f6rige Probleme gestreift; es waren n\u00e4mlich (wie es fast stets zu Beginn der Erforschung psychologischer Fragen zu geschehen pflegt) abnorme Ph\u00e4nomene , in unserem Falle also Bewegungst\u00e4uschungen, beobachtet und beschrieben worden. So machte schon 1825 Boget 1 auf die Badspeichent\u00e4uschung aufmerksam; 1832 wurde das Stroboskop gleichzeitig von Plateau1 2 und Stampfer3 erfunden; 1850 beschrieb Plateau4 die nach ihm benannte Spirale, 1856 Oppel5 die Ufert\u00e4uschung und einen Apparat, der sie veranschaulichen soll, das Antirheoskop. Auch Helmholtz6 besch\u00e4ftigt sich in der ersten Auflage seiner physiologischen Optik nur mit den Bewegungst\u00e4uschungen; auf gleichem Gebiete bewegen sich die Notizen von Engelmann7 und Kleiner.8\n\u00a7 25. Ausgesprochen, doch nicht ausgef\u00fchrt wurde das\n1\tRoget, Pogg. Ann. Bd. V. S. 93. \u00dcber die gleiche Erscheinung s. a. : Plateau, Pogg. Ann. Bd. XX. S. 319; Faraday, Pogg. Ann. Bd. XXII. S. 601; Emsmann, Pogg. Ann. Bd. LXIV. S. 326; 0. Fischer, Philos. Stud. Bd. III. S.151.\n2\tPlateau, Correspond, math.et phys. de Vobservatoire de Bruxelles. VII. S. 365.\n3\tStampfer, Die stroboskopischen Scheiben etc. Jahrb. d. polytechn. Instit. z. Wien. Bd. XVIII. (1833.)\n1 Plateau, Pogg. Ann. Bd. LXXX. S. 287. (1850).\n5 Oppel, Pogg. Ann. Bd. IO. S. 540. (1856).\n\u00fc Helmholtz, Physiol. Optik. I. Aufl. S. 603 ff., 609.\n7\tEngelmann, Jenaische Ztschr. f. Med. etc. III. S. 443.\n8\tKleiner, Pfl\u00fcgers Arch. XVIII. S. 572.","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n337\nProblem, wenigstens seiner physiologischen Seite nach, schon 1857 von Czermak,1 aber erst Exner2 blieb es Vorbehalten, das Fundament zu einer intensiveren Forschung zu legen. Exner wandte sich gegen die Schlusslehre und hob den Anteil des rein sinnlichen Elements am Bewegungssehen hervor; seine Ausf\u00fchrungen gipfeln in dem Satze, dafs es, abgesehen von der blofs erschlossenen Bewegung, eine Bewegungsempfindung sui generis gebe. Er st\u00fctzt sich hierbei auf die sub \u00a7\u00a7 4, 7, 9, 17 angef\u00fchrten Thatsachen, ferner darauf, dafs der Eindruck eines Bewegungsaktes (\u00a7 4) den durchaus elementaren, un-beschreibbaren und nicht weiter analysierbaren Charakter einer Empfindung trage. \u2014 Nun fand die Annahme einer derartigen spezifischen \u201eBewegungsempfindung\u201c bald Verbreitung; so trat f\u00fcr eine solche schon wenige Jahre darauf Vierordt3 ein, der sie, gleich Exner, f\u00fcr so primitiv hielt, dafs er nicht daran dachte, ihre sinnlichen Konstituenten aufzusuchen. Nach ihm \u201everschalfen uns die Baumsinnorgane (Cutis und Auge) von dem bewegten Objekte immer nur Bewegungsempfindungen\u201c. Er gr\u00fcndet seine Behauptung namentlich auf die H\u00e4ufigkeit von Bewegungst\u00e4uschungen, welche Besiduen der naiven, von keiner Beflexion getr\u00fcbten Auffassung w\u00e4ren und daher die Urspr\u00fcnglichkeit der Bewegungswahrnehmung bewiesen. \u2014 In gleicherweise nimmt auch neuerdings James4 eine unanalysierbare Bewegungsempfindung an. \u2014 Schneider3 macht darauf aufmerksam, wie die Tiere insbesondere f\u00fcr Bewegungen empf\u00e4nglich seien, wodurch der elementare Charakter von deren Auffassung best\u00e4tigt w\u00fcrde, doch spricht er nicht von einer eigentlichen Bewegungsempfindung. Er beweist ferner experimentell die gr\u00f6fsere Unterschiedsempfindlichkeit des Menschen f\u00fcr Bewegungen und sucht eine Erkl\u00e4rung darin, dafs hier eine Art Summation von simultaner und successiver Differenz stattfinden m\u00fcsse.\n1\tCzermak, Wiener AJcad.-Ber. XXIV. S. 231.\n2\tExner, \u00dcber das Sehen von Bewegungen und die Theorie des zusammengesetzten Auges. Wien. Akad.-Ber. HL Abt. Bd. LXXII. S. 156 ff. (1875.)\n8 K. Vierordt, Die Bewegungsempfindung. Zeitschr. f. Biolog. XII. S. 233.\n4 W. James, Principles of Psychology. Bd. II. S. 171 ff. (1890.)\n6 C. H. Schneider, Warum bemerken wir m\u00e4fsig bewegte Objekte etc.? Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philosophie. II. S. 377 ff. (1878.)\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie VII.\n22","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nL. William Stern.\n\u00a7 26. Nachdem man nun einmal auf den sinnlichen Charakter der Bewegungswahrnehmung aufmerksam geworden war, konnte es nicht ausbleiben, dafs man diesen Empfindungsanteil n\u00e4her zu definieren suchte, und vor allem kamen hier zwei Faktoren in Betracht: die Muskelempfindung und die rein optische Empfindung. \u2014 Zuerst sei hier die experimentelle Arbeit Fleischls 1 erw\u00e4hnt, der das Verh\u00e4ltnis beider Wahrnehmungsarten zu einander festzustellen suchte. Er beobachtete liniiertes Papier, das auf der Kymographiontrommel rotierte, und fand, dafs die Geschwindigkeit doppelt so grofs schien, wenn er eine ruhende Marke vor dem bewegten Objekte fixierte, als wenn er letzterem mit dem Auge folgte. Dieses Resultat setzte ihn fast in Schrecken; denn die Voraussetzung, dafs unser Urteil \u00fcber die Geschwindigkeit der Bewegung davon unabh\u00e4ngig sei, auf welche Weise wir die Bewegung wahrnehmen, schien ihm \u201egeradezu als eine Bedingung f\u00fcr ein zusammenh\u00e4ngendes, keine Widerspr\u00fcche in sich tragendes Verst\u00e4ndnis der Aufsen-welt\u201c.1 2\nIm \u00fcbrigen fand sowohl dieser wie jener Faktor der Bewegungswahrnehmung seine Verfechter, die mit einer gewissen Einseitigkeit das betreffende Moment als alleinige Konstituente des Bewegungsph\u00e4nomens hinstellen wollten. \u2014 Dafs unsere gesamten Bewegungsvorstellungen auf Muskelempfindungen und nichts weiter zur\u00fcckzuf\u00fchren seien, ist Strickers3 Meinung, und zwar st\u00fctzt er sich hierbei fast lediglich auf die Erinnerungsbilder von Bewegungen. Er behauptet, man k\u00f6nne sich keine Bewegung in der Erinnerung vorstellen, ohne lebhafte Muskelempfindungen zu haben, entweder im Auge, oder in dem als bewegt gedachten Glied. Auch die stroboskopischen T\u00e4uschungen beruhten auf Augenbewegungen und somit auf Muskelgef\u00fchlen. Besonders h\u00e4ufig sind letztere als Ursachen der Scheinbewegungen, namentlich des Uferph\u00e4nomens hingestellt worden, so von Helmholtz,4 von Budde5 und in dem recht breit ge-\n1 E. v. Fleischl, Physiol.-opt. Notizen. V. VI. Wiener Akad.-Ber. Bd. LXXXVI. III. Abt. S. 17 ff. (1882.)\ns A. a. O., S. 18.\n8 Stricker, Studien \u00fcber die Bewegungsvorstellungen. Wien 1882.\n4 Helmholtz, Physiolog. Optik. I. Aufl. S. 619.\n6 E. Budde, \u00dcber metakinetiscbe Scheinbewegungen etc. Arch. f. (.Anat. u.) Physiol. 1884. S. 127.","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnelmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\t339\nschriebenen Buche Hoppes. 1 Ein bedeutender Anteil der Muskelempfindung an der Bewegungsauffassung ist fast von keinem Bearbeiter des Problems geleugnet worden. Einen interessanten Gegensatz zu obigen Anschauungen bilden die Ausf\u00fchrungen Goldscheiders,1 2 dafs die Muskeln des Augapfels im Gegensatz zu anderen Muskeln keine direkten Bewegungsempfindungen vermitteln k\u00f6nnen, sondern dafs wir hier lediglich Lageempfindungen haben. (D. h. : Obwohl wir von jeder Lage in jedem Moment ein klares Bewufstsein haben, so ist doch der \u00dcbergang von einer Lage in die andere selbst nicht von Empfindungen begleitet.)\n\u00a7 27. Der andere Faktor des Bewegungssehens ist der rein optische. \u00dcber ihn findet sich schon 1871 eine Notiz bei Dvorak,3 der durch seine dreifache Spirale (s. o. \u00a7 22) bewies, dafs die von Helmholtz gegebene Erkl\u00e4rung der Nachbewegungen durch Muskelgef\u00fchle nicht gen\u00fcgte. Er glaubt daher, dafs \u201edie Bewegungsnachbilder auf einen eigent\u00fcmlichen Konnex benachbarter Netzhautstellen schliefsen lassen\u201c. \u2014 Die weitaus wichtigste Aufkl\u00e4rung \u00fcber dies Gebiet verdanken wir Aubert,4 der die meisten Fragen des normalen Bewegungssehens in einer ausgedehnten Reihe von Experimenten behandelte. Er dachte zun\u00e4chst so wenig an die M\u00f6glichkeit der Augenbewegungen und der dadurch erzeugten Muskelempfindungen, dafs er es unter-l\u00e4fst, durch Anbringung eines Fixationszeichens diese auszuschalten, wodurch leider einige Unzuverl\u00e4ssigkeit, wenigstens in die erste Serie seiner Versuche, kommt. Dennoch sind diese lehrreich genug. Sein Beobachtungsobjekt war stets senkrecht liniiertes Papier, das sich auf einer in der Rotationsgeschwindigkeit variierbaren Kymographiontrommel befand. Er untersuchte 1. die Winkelgeschwindigkeit, bei welcher im direkten Sehen die Bewegung sofort empfunden wurde, und fand als solche V bis 2'. Sodann berechnet er, dafs bei 1' Winkelgeschwindigkeit in der Sekunde 7 Zapfen getroffen werden, und f\u00e4hrt fort: \u201e ... es bleibt dann eine Beziehung zwischen dem zur Zeit\n1\tJ. Hoppe, Die Scheinbewegungen. W\u00fcrzburg 1879.\n2\tA. Goldscheider, \u00dcber d. Muskelsinn etc. Zeitsclir. f. Min. Med. Bd. XV S. 117.\n8 Dvorak, Wien. Akad.-\u00dfer. Bd. LXI. II. Abt. S. 257.\n4 H. Aubert, Die Bewegungsempfindung. Pfl\u00fcgers Arch. Bd. XXXIX S. 347 ff. (1886).\n22*","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340\nL. William Stern.\nwirkenden und dem I Sekunde vorher dagewesenen Reizzustand bestehen, und der Ausdruck dieser Beziehung ist eine Empfindung sui generis, die Bewegungsempfindung.\u201c1 2. Beim indirekten Sehen findet er, dafs die Bewegungsempfindlichkeit nach der Peripherie zu immer mehr abnimmt, aber nicht so schnell, wie die Zahl der Zapfen, so dafs auch er, wie Exner, in den Seitenteilen der Netzhaut eine relativ h\u00f6here Bewegungsempfindlichkeit annimmt. 3. Bei Verdeckung aller ruhenden Objekte findet er die Bewegungsempfindung h\u00f6chst unsicher und .schliefst daraus, dafs zum Zustandekommen derselben ein Vergleich von Bewegtem und Unbewegtem erforderlich ist. Von Fleischl auf die Mitwirkung der Muskelempfindungen aufmerksam gemacht, pr\u00fcft er dessen Resultate in einer neuen Versuchsserie2 nach und findet sie best\u00e4tigt. 4. Dafs die Muskelempfindung allein zur Erzeugung einer sicheren Bewegungswahrnehmung nicht bef\u00e4higt sei, weist er endlich nach durch Versuche, bei welchen aufser dem bewegten Gegenst\u00e4nde (einem gl\u00fchenden Draht im Dunkelzimmer) \u00fcberhaupt nichts sichtbar war.\nDie geheimnisvolle \u201eBeziehung zwischen zwei benachbarten Netzhautstellen\u201c, von der Dvorak und Aubert gesprochen hatten, wurde in ihrem Wesen aufgekl\u00e4rt durch Otto Fischer3 und als Nachbild Wirkung erwiesen. Durch zahlreiche Experimente zeigte er, dafs beim Stroboskop der Bewegungseindruck dann eintrete, wenn eine neue Phasenfigur ihr Bild auf die Netzhaut wirft, ehe noch das Nachbild der vorhergehenden ganz geschwunden ist. \u201eDer obige Satz wird allgemein f\u00fcr die Entstehung der Bewegungsvorstellung bei ruhendem Auge gelten.\u201c Um Strickers Behauptung zu widerlegen, dafs das stroboskopische Sehen auf Augenbewegungen beruhe, konstruierte er Phasenzeichnungen, welche im Stroboskop den Eindruck von 24 centrifugal oder centripetal sich bewegenden Punkten erzeugten. \u2014 Jene Ansicht, dafs das neben dem frischen Eindruck noch bestehende Nachbild einer fr\u00fcheren\n1 A. a. O., S. 358.\n! H. Aubert, Die Bewegungsempfindung. (Zweiter Artikel.) Pfl\u00fcgers Arch. Bd. XL. S. 459. (1887.)\n3 O. Fischer, Psychologische Analyse der stroboskopischen Erscheinungen. Philos. Studien. III. S. 128. (1886.)","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges. 341\nPhase sehr viel zur Charakterisierung des Bewegungseindruck beitrage, teilt auch Wundt.1\nIII. Eigene Beobachtungen und Tersuche.\n\u00a7 28. Abgesehen von einer Zahl gelegentlicher Beobachtungen, die ich in den \u201eThatsachen\u201c erw\u00e4hnte, abgesehen ferner davon, dafs ich die meisten der anderw\u00e4rts berichteten Ph\u00e4nomene durch eigene Anschauung nachzupr\u00fcfen suchte, habe ich \u00fcber zwei Probleme umfangreichere und systematischere Beobachtungen, zum Teil mit H\u00fclfe des Experiments, angestellt. Das erste betrifft die Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr Bewegungen im Vergleich zur Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr ruhende Objekte in den verschiedenen Gebieten der Netzhaut, das zweite die Nachbewegungen bei geschlossenem Auge. Die hierauf bez\u00fcglichen Experimente sind in dem physiologisch-optischen Institute des Herrn Professor Dr. Arthur K\u00f6nig in Berlin angestellt, die ersteren unter Beih\u00fclfe des Herrn Dr. G. Tschelpanow, Privatdocenten der Psychologie zu Kiew; beiden Herren spreche ich f\u00fcr ihre freundliche Unterst\u00fctzung meinen aufrichtigsten Dank aus.\n1. Versuche \u00fcber Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr Ruhe und Bewegung\n\u00a7 29. Exner2 hatte bei seinen Versuchen \u00fcber peripheres Bewegungssehen zwei nahe aneinander befindliche Papierst\u00fcckchen in eine seitliche Gegend des Gesichtsfeldes gebracht, wo sie nicht als zwei unterschieden wurden. Es zeigte sich, dafs dort Bewegungen innerhalb kleinerer Grenzen, als der (nicht erkennbare) trennende Raum betrug, noch deutlich bemerkt wurden. Exner selbst stellte diese h\u00f6chst dankenswerten Versuche als nur gelegentliche hin, die nicht den Anspruch auf numerische Exaktheit machen. Auch fehlt eine Untersuchung der gleichen Vorg\u00e4nge im direkten Sehen. Beides suchte ich nun nachzuholen.\nAn einem Ende eines langen, v\u00f6llig dunklen Korridors mit geschw\u00e4rzten W\u00e4nden stellte ich eine grofse, von hinten durch zwei Argandflammen gleichm\u00e4fsig und ziemlich intensiv beleuchtete Milchglastafel auf. Wurde dann \u00fcber diese senkrecht ein schwarzer Papierstreifen gespannt, so sah man zwei benach-\n1\tW. Wundt, Physiol. Psychologie. IV. Aufl. II. Bd. S. 159 ff.\n2\tS. Exner, \u00dcber das Sehen von Bewegungen etc. S. 162.","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342\nL. William Stern.\nbarte belle ruhende Felder, und durch Yariierung der Breite des Streifens konnte die Entfernung der beiden Felder gefunden werden, bei welcher deren Trennung nicht mehr sichtbar war. Um ferner die Empfindlichkeit f\u00fcr Bewegungen zu untersuchen, brachte ich vor der Platte einen Pappschirm an, der in der Mitte einen quadratischen Ausschnitt von 10 cm Seitenlange hatte; dieser Ausschnitt diente als leuchtendes Objekt. Der Schirm liefs sich seitlich leicht und ger\u00e4uschlos l\u00e4ngs eines Millimetermafsstabes hin und her bewegen; diese Bewegung war durch Anschl\u00e4ge in genau mefsbaren Elongationen zu vollf\u00fchren. Die Entfernung der Anschl\u00e4ge und damit die Gr\u00f6fse der Elongationen war variierbar.\nDer Beobachter befand sich 6 m 60 cm von dem leuchtenden Objekte entfernt. Da in direktem Sehen die schm\u00e4lsten Streifen bei ruhendem und die kleinsten ausf\u00fchrbaren Elongationen bei bewegtem Objekte noch sichtbar waren, so mufste ich das gesamte Bild verkleinern durch die Objektivlinse eines Mikroskops, welche die Objekte auf 5 \u00f6 ihrer Gr\u00f6fse reducierte, dieselben aber dem Auge n\u00e4her r\u00fcckte. Der Gesichtswinkel wurde dadurch auf seiner urspr\u00fcnglichen Gr\u00f6fse verringert. Die Linse befand sich am Ende einer 32 cm langen, innen v\u00f6llig geschw\u00e4rzten R\u00f6hre, wodurch das Bild genau in den Fernpunkt meines linken (kurzsichtigen) Auges, mit dem ich stets beobachtete, gebracht und jede Accomodationsanstrengung unn\u00f6tig gemacht wurde. Bei indirektem Sehen war eine Verkleinerung nicht von n\u00f6ten; nur brachte ich hier vor das linke Auge eine Konvexlinse von 3 Dioptrien, wieder um es v\u00f6llig zu korrigieren. Die Versuche bei ruhendem Objekte wurden mit Streifen von f, 1, 1^, 2 cm Breite vollzogen; in gleichen Strecken bewegten sich die Elongationen des Pappschirmes bei Versuchen mit bewegtem Objekte. \u2014 Als Fixationsmarke diente bei indirektem Sehen eine Stearinkerze, deren Licht durch ein davorgestelltes weifses Papierst\u00fcck ged\u00e4mpft war. Der Gesichtswinkel zwischen dem beobachteten Objekte und dem Fixationspunkte betrug 20\u00b0.\nDie Versuche bei ruhendem Objekte wurden nun so angestellt, dafs, w\u00e4hrend der Beobachter die Augen geschlossen hielt, der Experimentator einen beliebigen Streifen \u00fcber die Milchglasscheibe spannte, dafs dann auf ein bestimmtes Signal der Beobachter die Augen \u00f6ffnete und urteilen mufste, ob er","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n343\ndie Trennung der beiden bellen Felder wabrnebme oder nicht. Die Streifen wurden in unregelm\u00e4fsiger, dem Beobachter unbekannter Beihenfolge verwandt. An jedem Versuchstage wurden 60 Versuche gemacht, je 10 bei jeder Streifenbreite, ferner 10 ohne Benutzung eines Streifens. Im ganzen beliefen sich die \u00fcber ruhende Objekte abgegebenen Urteile bei direktem Sehen auf 6x20, bei indirektem auf 6X10.\nBei den Versuchen mit bewegtem Objekte waren noch einige Einzelheiten zu beobachten:\n1.\tDie Anwesenheit von ruhenden Objekten im Gesichtsfelde. Die ersten Vorversuche bei direktem Sehen hatte ich so eingerichtet, dais aufser dem hellen (in der Verkleinerung fast punktf\u00f6rmig erscheinenden) Objekt, \u00fcber dessen Bewegung ich urteilen sollte, absolut nichts zu sehen war. Doch da zeigte sich eine derartige Unsicherheit im Urteilen, dafs diese Versuche bald aufgegeben werden mufsten. Es wurde nun in einiger Entfernung rechts oben vom beobachteten Objekte eine Gasflamme angesteckt, die durch das Mikroskopobjektiv ebenfalls punktf\u00f6rmig erschien. Die Anwesenheit dieses festen Punktes machte sofort eine genauere Beobachtung m\u00f6glich. (S. Tabelle I, Rubrik c.) Noch vergr\u00f6fsert wurde die Genauigkeit, als eine zweite feste Flamme senkrecht unter der Milchglasplatte angebracht wurde. Bei indirektem Sehen war ja schon dadurch, dafs ein Fixationspunkt gegeben sein mufste, zugleich f\u00fcr das Vorhandensein eines festen Gegenstandes im Gesichtsfelde gesorgt.\n2.\tD er Rhythmus der B ewegung durfte nicht immer derselbe sein, da eine vorherige Kenntnis des Taktes die Wahrnehmung einer Bewegung betr\u00e4chlich beeinflufst und die Gr\u00f6fse dieses Einflusses schwer feststellbar ist. Daher fertigte ich drei ger\u00e4uschlose Pendel an, die in der Minute bez\u00fcglich 144, 84, 72 Schwingungen machten und in deren Rhythmus abwechselnd die Bewegung erfolgte.\nDer Experimentator hatte nun w\u00e4hrend eines jeden Versuches den Pappschirm in regelm\u00e4fsigem Takte so lange hin und her zu bewegen, bis seitens des Beobachters ein Urteil abgegeben war. Die einzelnen Versuche unterschieden sich sowohl an Bewegungsweiten, wie auch an Rhythmen, beide Momente wurden in beliebiger Reihenfolge variiert. An jedem Versuchstage wurden bei jeder Elongation 9 Beobachtungen gemacht, je drei in einem der drei Rhythmen. Nat\u00fcrlich war","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344\nL. William Stern.\nauch Elongation 0 vertreten. Im ganzen wurden bei direktem Sehen f\u00fcr jede Bewegungsweite 18 Versuche gemacht, wenn ein festes Objekt im Gesichtsfeld war, ebensoviel, wenn zwei vorhanden waren. Bei indirektem Sehen gen\u00fcgten je 9 Versuche.\nDie Antworten, welche gegeben wurden und denen ich Zahlen substituierte, lauteten: Nein (0), nein fraglich (1^), unsicher (3), ja fraglich (4), sehr schwach (4\u00a3), schwach (5), ja (6).\nIch setzte nun f\u00fcr die einzelnen Antworten die entsprechenden numerischen Werte ein und bildete f\u00fcr jede Breite des Streifens, bezw. der Elongation, das Mittel. Diese Mittelzahlen, die in den folgenden Tabellen enthalten sind, haben daher den Sinn, der ihnen durch obige Skala angewiesen wird.\nTabelle I. Direktes Sehen.\na\tb\tc\td\nBreite d, Trennungsstreifens,\tRuhendes Objekt,\tBewegtes Objekt,\t\nbezw. d. Elongation\tMittel\tMittel aus je achtzehn Beobachtungen.\t\nin Centimetern. Durch Mikroskopobjektiv gesehen.\taus je zwanzig Beobachtungen.\t(1 festes Objekt im Gesichtsfelde.)\t(2 feste Objekte im Gesichtsfelde.)\n0\t3,15\t3,65\t2,25\nl TS\t3,45\t3,35\t3,55\n3 \u00a3\t3,85\t4,1\t3,0\nl\t3,9\t2,45\t3,1\nn\t4,9\t3,4\t4,35\n2\t4,8\t4,35\t5,0\n\u00a7 30. Aus diesen Tabellen scheinen sich nun mehrere Ergebnisse ableiten zu lassen.\n1. Was zun\u00e4chst das direkte Sehen angeht, so ist die Breite, die ich noch gerade als Trennungsgebiet zweier ruhenden Objekte wahrnahm, und diejenige, innerhalb deren ich eine Bewegung wahrnahm, ziemlich gleich (insbesondere, wenn wir Rubrik b und d der Tabelle I in Betracht ziehen). Diese Breite mufste, um mit einiger Sicherheit wahrgenommen zu werden, gr\u00f6fser als 1 cm sein. Betrug sie 1 cm oder weniger, so liegen die Resultate nahe um 3, welche Zahl die Bedeutung","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n345\n\u201eunsicher\u201c hat. Nehmen wir 1 cm als die Grenze an, so betr\u00e4gt der dazu geh\u00f6rige Gesichtswinkel 15\".1\nTabelle II.\nIndirektes Sehen.\na\tb\tc\nBreite\t\t\nd. Trennungsstreifens,\tRuhendes Objekt,\tBewegtes Objekt,\nbezw. d. Elongation\tMittel\tMittel\nin Centimetern.\taus je zehn\taus je neun\nOhne Verkleinerung gesehen.\tBeobachtungen.\tBeobachtungen.\n0\t0\t0\nl -2\t0,9\t6\n8 \u00cf\t0,6\t6\nl\t4,6\t6\nH\t5,8\t6\n2\t6\t6\n2. Ganz anders im indirekten Sehen. Hier liegt die Grenze bei ruhendem Objekte zwischen f und 1 cm, bei bewegtem zwischen 0 und \\ cm. Es ist also die Empfindlichkeit bei der hier benutzten ziemlich starken Intensit\u00e4t f\u00fcr Bewegungen betr\u00e4chtlich gr\u00f6fser, als f\u00fcr Hu he. Dieses Ergebnis w\u00fcrde eine Best\u00e4tigung der ExNBRschen Behauptung bedeuten. Es zeigt ferner der Vergleich mit dem direkten Sehen, dafs (immer f\u00fcr die hier angewandte Helligkeitsst\u00e4rke) die Netzhautperipherie in der hervorragenden Empfindlichkeit f\u00fcr Bewegungen im Verh\u00e4ltnis zur Empfindlichkeit f\u00fcr\n1 Dieser Winkel erscheint auffallend klein, wenn man ihn mit den von Helmholtz, Physiol. Optik. I. Aufl. S. 216, II. Aull. S. 256, und anderen gefundenen kleinsten Gesichtswinkeln, die etwa 60\" betragen, vergleicht. Die Differenz ist aber erkl\u00e4rlich, wenn man bedenkt, dafs Helmholtz denjenigen Gesichtswinkel suchte, bei welchem er die St\u00e4be eines Gitters jedesmal gerade unterscheiden konnte, w\u00e4hrend der obige Wert den Winkel bezeichnet, bei dem sich die negativen und positiven F\u00e4lle die Wage halten. Der Winkel, bei welchem immer der Trennungsstreifen wahrgenommen wurde (der also als Mittelwert der Antworten die Zahl 6 erg\u00e4be) ist mehr als doppelt so grofs. Hierzu kommt, dafs Helmholtz den Winkel nicht (wie ich) lediglich nach dem Trennungsraume, sondern von der Mitte des einen Gitterstabes zu der des anderen berechnete.","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"346\nL. William Stern.\nRuhe ein charakteristisches Merkmal gegen\u00fcber der Netzhautgrube besitzt.\nUm die Grenze der Bewegungssehsch\u00e4rfe im indirekten Sehen, die zwischen 0 und 4 cm liegt, genauer zu bestimmen, liefs ich noch eine Anzahl von Versuchen bei 2, 3 und 4 mm machen. Es zeigte sich, dafs bei 3 und 4 mm die Bewegung noch immer gesehen wurde, w\u00e4hrend bei 2 mm das Mittel der Antworten 2,6 ergab. Hier schienen wir also an der Grenze zu stehen. Es betr\u00e4gt somit f\u00fcr mein Auge bei der betreffenden Intensit\u00e4t die eben merkbare Elongation einer Bewegung nur etwa den vierten Teil der noch gerade merkbaren Trennungsbreite bei Ruhe.1\n3. Die obigen Tabellen lassen noch ferner erkennen, dafs die Gegend der Unsicherheit bei direktem Sehen ein erstaunlich grofses Gebiet einnahm, w\u00e4hrend dieselbe beim indirekten Sehen recht eng begrenzt war. Dort war bei ruhendem Objekte im Gebiete von 0 bis 1 cm der Eindruck \u201eunsicher\u201c, hier wurde der Trennungsstreifen bei \u00a7 cm mit Sicherheit noch nicht bemerkt, bei 1 cm schon mit ziemlicher Bestimmtheit erkannt. Dieser Unterschied beruht wohl haupts\u00e4chlich auf der Gr\u00f6fse der Bilder. Bei direktem Sehen war dasselbe infolge der Verkleinerung fast punktf\u00f6rmig, bei indirektem dagegen von betr\u00e4chtlicher Ausdehnung. Eigent\u00fcmlich ist die Thatsache, dafs bei jenen Experimenten, wo sehr kleine Objekte vorgef\u00fchrt wurden, also im direkten Sehen, selbst bei Breite 0 so h\u00e4ufig der Eindruck des (nicht vorhandenen) Trennungsstreifens, bezw. der (nicht stattfindenden) Bewegung sich einstellte ; ein interessanter Beweis f\u00fcr die Leichtigkeit, mit der f\u00fcr erwartete Eindr\u00fccke Hallueinationen eintreten k\u00f6nnen.\n1 Nehmen wir 9 mm f\u00fcr Ruhe, 2,2 mm f\u00fcr Bewegungen als Grenze an, und ziehen wir den bei direktem Sehen berechneten Wert in Betracht, so ergehen sich als diejenigen Gesichtswinkel, bei denen die Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr Ruhe und Bewegung ihre Grenze erreicht:\n\tDirektes Sehen\tIndirektes Sehen\nRuhe\t\t15\"\t270\"\nBewegung\t\t15\"\t75\"\nDiese Zahlen sind weniger ihren absoluten, als ihren relativen Werten nach von Bedeutung.","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n347\n4.\tEndlich ist noch die Vergleichung von Rubrik c und d der ersten Tabelle lehrreich. Das Urteil war bedeutend sicherer, wenn sich zwei, als wenn sich nur ein festes Objekt in der N\u00e4he des bewegten im Gesichtsfelde befand. Bei Elongation 0 tritt dann viel seltener die T\u00e4uschung, bei Elongation 1 \\ schon viel bestimmter der Eindruck der Bewegung auf. Dies ist wohl so zu erkl\u00e4ren, dafs bei einem festen Objekte Augenbewegungen auftreten, die unbemerkt bleiben k\u00f6nnen, falls n\u00e4mlich sich das Auge um das Bild des festen Punktes als Centrum dreht. Dies ist wohl denkbar, wenn der ruhende Punkt fixiert und der bewegte verfolgt wird. Sind dagegen zwei Objekte im Gesichtsfelde, so bringt jede Augenbewegung sofort die Verschiebung mindestens eines der festen Punkte auf der Netzhaut hervor und wird sofort bemerkt. Dasselbe also, was bei jenen zuerst erw\u00e4hnten Vorversuchen (wo gar kein fester Punkt sichtbar war) auftrat, zeigt sich auch hier, nur in geringerem Mafse: Augenbewegungen allein tragen nicht bei zur Genauigkeit des Bewegungseindruckes, sondern sind im Gegenteil, namentlich wenn sie unkontrollierbar sind, st\u00f6rend.\n5.\tWas endlich die verschiedenen Rhythmen der Elongation angeht, so scheint merkw\u00fcrdigerweise, alles \u00dcbrige gleichgesetzt, die langsamste Bewegung am deutlichsten wahrgenommen worden zu sein. Zerlegen wir n\u00e4mlich Rubrik c und d der Tabelle I in die drei verschiedenen Elongationsrhythmen, so ergiebt sich\nTabelle III.\nc\td\n\t1 festes Objekt im Gesichtsfelde\t\t\t\t2 feste Objekte im Gesichtsfelde\t\t\nBreite der Elongation\t\t\t\t\t\t\t\n\tPendel a\tPendel \u00df\tPendel y\t\tPendel <x\tPendel \u00df\tPendel y\nin Centimetern.\t144 Schwg.\t84 Schwg.\t72 Schwg.\t\t144 Schwg.\t84 Schwg.\t72 Schwg.\n\tpro 1 Min.\tpro 1 Min.\tpro 1 Min.\t\tpro 1 Min.\tpro 1 Min.\tpro 1 Min.\n1 2\t4,4\t2,7\t2,9\t\t3,7\t3,8\t3,1\n3 \u00a3\t3,7\t3,8\t4,5\t\t2,8\t3,4\t2,7\nl\t3,2\t1.3\t3,1\t\t1,9\t4,5\t2,9\nn\t2,3\t2,7\t4,3\t\t3,1\t5,0\t5,2\n2\t4,2\t4,1\t4,7\t\t4,2\t5,5\t5,8\n\tJede Zahl ist\t\tdas Mittel aus je sechs Antworten.\t\t\t\t\nW\u00e4hrend also im Gebiete der Unsicherheit (bis 1 cm ein-schliefslich) keine Gesetzm\u00e4fsigkeit zu erkennen ist, zeigen die","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348\nL. William Stern.\nbeiden letzten Horizontalreihen, dafs, je langsamer der Rhythmus, um so gr\u00f6fser die Mafszahl der Sicherheit ist. Namentlich tritt dies bei den \u00fcberhaupt zuverl\u00e4ssigeren Versuchen der Rubrik d hervor, bei denen zwei ruhende Objekte im Gesichtsfelde waren.\n\u00a7 31. Das Hauptergebnis obiger Versuche war die Best\u00e4tigung der ExNBRschen Beobachtung gewesen, dafs (bei einer gewissen Intensit\u00e4t) in der Netzhautperipherie die Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr Bewegungen gr\u00f6fser sei, als f\u00fcr ruhende Objekte. Diese Thatsache erschien Exner so eigenartig, dafs er sie nur durch die Annahme einer spezifischen Bewegungsempfindung erkl\u00e4ren zu k\u00f6nnen vermeinte. Mir scheint indessen zur Erkl\u00e4rung die Annahme eines ganz neuen Bewufstseinszustandes entbehrlich, vielmehr gen\u00fcgt nach meiner Ansicht die Herbeiziehung einer ganz bekannten Thatsache, n\u00e4mlich der Irradiation, um jener Erscheinung gerecht zu werden. Wie ich sp\u00e4ter in der Theorie der Bewegungswahrnehmung ausf\u00fchrlicher er\u00f6rtern werde (\u00a7 42), mufs Irradiation die Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr den Zwischenraum zwischen zwei hellen ruhenden Objekten herabdr\u00fccken, w\u00e4hrend sie auf die Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr Bewegungen keinen Einflufs hat. F\u00fcr die Richtigkeit dieser Annahme spricht u. a. auch der Umstand, dafs bei direktem Sehen und vollkommen akkommodiertem Auge (wo die Irradiation also so gut wie 0 ist) auch die Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr Ruhe und Bewegung gleich war. Ferner mufs, wenn jene Erkl\u00e4rung richtig ist, in der Netzhautperipherie mit verringerter Irradiation auch der Unterschied der Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr Ruhe und Bewegung abnehmen.\nUm diese Frage zu untersuchen, stellte ich einige Wochen nach jenen oben geschilderten Experimenten noch zwei Versuchsreihen an, die sich nat\u00fcrlich nur auf indirektes Sehen bezogen. Die Versuchsanordnung war der obigen durchaus entsprechend, nur begn\u00fcgte ich mich diesmal schon mit Mitteln aus je f\u00fcnf Werten. Die Helligkeit der ersten Versuchsreihe war die der hell aufgeschraubten Argandbrenner, bei der zweiten waren die beiden Lampen sehr niedrig geschraubt, die Flamme hatte vielleicht eine H\u00f6he von 1 cm. Die Resultate sind folgende :","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n349\nTabelle IY.\nBreite d. Trennungsstreifens, bezw. der Elongation in Centimetem\tStarke E Mittel aus Bube\t[elligkeit, ie 5 Werten Bewegung\tSchwache Mittel aus Buhe\tHelligkeit, ie 5 Werten Bewegung\n0\t0\t0\t0\t0\n1 2\t1,5\t5,2\t1,5\t0,9\n3 \u00a5\t2,2\t5,4\t4,2\t1,2\nl\t2,8\t5,8\t5,8\t5,2\n\t6\t5,6\t6\t5,8\n2\t6\t6\t6\t5,8\nDiese Zahlen erweisen, dafs jene gr\u00f6fsere Sehsch\u00e4rfe der Netzhautperipherie f\u00fcr Bewegungen nur bei starken Intensit\u00e4ten gilt, dafs aber bei abnehmender Helligkeit der Unterschied der Sehsch\u00e4rfen f\u00fcr Ruhe und Bewegung nicht nur abnimmt, sondern sogar in das Gegenteil Umschl\u00e4gen kann: bei sehr geringer Lichtst\u00e4rke liegt die Grenze der Wahrnehmbarkeit (in der Tabelle durch Doppelstriche gekennzeichnet) f\u00fcr Bewegungen sogar ein wenig tiefer als f\u00fcr Ruhe. Jedenfalls geht daraus so viel hervor, dafs der Unterschied der Sehsch\u00e4rfen f\u00fcr Ruhe und Bewegung eineFunktion der absoluten Helligkeit ist. Eine Funktion der absoluten Helligkeit ist aber auch die Breite der Irradiation.\n2. Versuche \u00fcber Nachbewegungen bei geschlossenem\nAuge.\n\u00a7 32. Alle jene Erscheinungen, die sich nach der Wahrnehmung einer Bewegung einstellen, sind bisher in der Weise beobachtet worden, dafs man nach dem Aufh\u00f6ren der Bewegung das Auge auf irgend einen ruhenden Gegenstand richtete. Hier traten dann stets entgegengesetzt gerichtete Nachbewegungen auf. Bei dieser Yersuchsanordnung besteht aber der Nachteil, dafs man nicht weifs, wieviel von der T\u00e4uschung dem neuen optischen Eindr\u00fccke, wieviel der Nachwirkung der Bewegung zuzuschreiben ist. Um letztere rein zu erzielen, ist es n\u00f6tig, sofort, nachdem man die Bewegung selbst beobachtet hat, jeden ferneren Gesichtseindruck abzuschliefsen.","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"35U\nL. William, Stern.\nIn unvollkommener Weise geschieht dies durch Schliefsen der Augen, und ich habe zun\u00e4chst eine grofse Reihe von Beobachtungen angestellt, bei denen ich mich dieses einfachen H\u00fclfsmittels bediente. Dies geschah bei Eisenbahnfahrten (\u00e4hnlich wie es Engelmann gethan), die ich fast t\u00e4glich zu machen hatte.\n1.\tIch fixierte einen Punkt des Wagenfensters in der Weise, dafs hinter dem Fixationspunkte fortw\u00e4hrend ein Gitter, welches den Bahndamm entlang lief, oder die Querschwellen des Nebengeleises schnell am Auge vorbeiflogen und schlofs nach mehreren (etwa 5\u201410) Sekunden die Augen. Im gleichen Moment sah ich ganz deutlich das Bild des Gitters, bezw. der Schwellen sich nach derselben Richtung verschieben, nach der sie sich bei offenem Auge bewegt hatten. Dieser Eindruck w\u00e4hrte nur kurze Zeit, bald folgte dann ein unbestimmtes Flimmern, in welchem manchmal sogar eine r\u00fcckl\u00e4ufige Bewegung sich bemerkbar machte.\n2.\tIch fixierte einen Punkt des Fensters in der Weise, dafs dahinter nur der Himmel sichtbar war. Nur hin und wieder flogen Schornsteine, Baumst\u00e4mme, Signalstangen am Auge vor\u00fcber. Sowie ein solcher Gegenstand das Gesichtsfeld passiert hatte, schlofs ich die Augen und sah dann gleichsam die Wiederholung des Schauspiels; ein Schatten schien mein Auge genau in derselben Weise noch einmal zu durchqueren, wie es soeben der Gegenstand gethan hatte. In diesen und \u00e4hnlichen Beobachtungen gewann ich durch zahlreiche Wiederholungen grofse \u00dcbung, so dafs ich in Bezug auf deren Richtigkeit meiner v\u00f6llig sicher bin.\n\u00a7 33. Exaktere Versuche hier\u00fcber stellte ich wiederum im Laboratorium des Herrn Professor K\u00f6nig an. Ich verfertigte aus Linienpapier (Schreibunterlagen) einen in sich geschlossenen Streifen von 10 cm H\u00f6he und 130 cm L\u00e4nge, so dafs die schwarzen Linien bei horizontaler Stellung des Gesamtstreifens senkrecht standen. Die schwarzen Linien waren 1 mm breit die weifsen Zwischenr\u00e4ume 9 mm. Diesen Streifen legte ich um die Trommel zweier Kymographien, deren eine durch Uhrwerk getrieben wurde, w\u00e4hrend die andere durch den straff angespannten Streifen nur mitgeschleift wurde. Die ganze Anordnung fand im Dunkelzimmer Aufstellung. Der Streifen wurde nun von vorn durch zwei Gasflammen hell erleuchtet,","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n351\nin der N\u00e4he der Augen wurde ein Pappschirm mit viereckigem Ausschnitt angebracht, durch den man nichts sah, als ein vollkommen ebenes St\u00fcck des liniierten Streifens. Wurden die Kymographien in Bewegung versetzt, so zog ununterbrochen ein System senkrechter Linien am Auge vor\u00fcber.\nDiese Linien beobachtete ich nun teils bei fixiertem, teils bei nicht fixiertem Auge. Zwischen je zwei Beobachtungen wurde das Auge stets so lange ausgeruht, bis jede Spur eines Nachbildes verschwunden war.\na) Beobachtungen mit fixiertem Auge. Ich brachte unmittelbar vor dem liniierten endlosen Streifen ein senkrechtes, 1 cm breites, schwarzes Papierst\u00fcck an, hinter dem w\u00e4hrend der Beobachtung die einzelnen Linien auf der einen Seite verschwanden, auf der anderen wieder hervorkamen. Die Mitte dieses schwarzen Papiers fixierte ich. In einer Reihe anderer Versuche bediente ich mich zur Fixation eines liniierten Streifens, der dem bewegten ganz gleich war und den oberen Teil desselben bedeckte, so dafs in gewissen Momenten der Bewegung die Linien des einen geradlinige Fortsetzungen der des anderen bildeten. Ich fixierte dann eine Linie des ruhenden Streifens in unmittelbarer N\u00e4he der Grenzlinie beider Streifen. Meine Beobachtungen zerfallen in solche, bei denen die Bewegung des Streifens nur kurze Zeit, und in solche, bei denen sie l\u00e4ngere Zeit aufs Auge wirkte. Im ersteren Falle bedeckte ich die offenen Augen mit einem schwarzen Tuch, das ich nur f\u00fcr einen Moment l\u00fcftete. Das Auge war dann etwa eine Viertelsekunde dem Bewegungsreize ausgesetzt, vorher und nachher war das Gesichtsfeld absolut dunkel. Es zeigte sich dann, dafs sofort nach Wiederverdeckung der Augen das Fixationszeichen ruhend erschien, unter oder neben ihm erblickte ich die verwaschenen Linien in einer Bewegung begriffen, die der objektiven Bewegung gleichgerichtet war. Der Eindruck war sehr intensiv, w\u00e4hrte aber nur aufserordentlich kurze Zeit. \u2014 In anderen F\u00e4llen heftete ich das Auge wohl 8\u201412 Sekunden auf die Fixationsmarke und verdeckte es dann. Auch hier war die gleiche Nachwirkung vorhanden, diesmal aber nicht mehr so scharf; oft schien dann nach kurzer Dauer der gleichgerichteten Nachbewegung eine entgegengesetzte zu folgen. Namentlich war dies der Fall, wenn der eine liniierte Streifen als Fixationsobjekt gedient hatte. Ich sah dann im Nachbilde das letztere","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352\nL. William Stern.\nLiniensystem scharf, das andere verwaschen; die Verschiebung beider gegeneinander im Nachbild schien sich manchmal umzukehren; im ersten Augenblick war sie aber stets der objektiven Verschiebung gleichgerichtet. Auch jene entgegengesetzte Bewegung w\u00e4hrte nicht lange, niemals bis in die Entstehung des negativen Nachbildes hinein; in letzterem waren stets nur die ruhenden Objekte (das Fenster und das Fixationszeichen) sichtbar.\nb) Beobachtungen bei nicht fixiertem Auge. Nach der Entfernung der Fixationsobjekte hatte das Auge keinen ruhenden Punkt im Gesichtsfelde; es schweifte hin und her und verfolgte meistens die sich bewegenden senkrechten Linien. War das Auge l\u00e4ngere Zeit dem Beize ausgesetzt und wurde es dann verdeckt, so waren die Nachbewegungen nie so deutlich wahrnehmbar, wie sub a; nur hin und wieder traten sie auf und waren dann gleichgerichtet. Von den bei fixiertem Auge wahrgenommenen Nachbewegungen unterschieden sie sich grunds\u00e4tzlich dadurch, dafs die Linien nicht verwaschen, sondern scharf gesehen wurden und dafs die Bewegung viel langsamer erschien. Bei sehr kurzer Einwirkung des Beizes war der Eindruck ganz derselbe wie unter a, da ja bei der verschwindend kleinen Bauer das Auge keine Zeit hatte zu schweifen und sich daher vom fixierten Auge nicht unterschied.\n\u00a7 34. Auch die bekannte Erscheinung des OppELschen Uferph\u00e4nomens habe ich beobachtet. Sistierte ich die Bewegung des Kymographions und behielt das Auge ge\u00f6ffnet, so schienen die Linien wieder umzukehren, und zwar war diese Scheinbewegung ebenfalls st\u00e4rker, wenn ein Fixationsobjekt im Gesichtsfelde war. Letzteres nahm an der r\u00fcckl\u00e4ufigen Bewegung nicht teil.\nAuf eine Erkl\u00e4rung aller dieser Nachbewegungen kann ich erst sp\u00e4ter im Zusammenhang mit der Gesamttheorie der Bewegungswahrnehmung eingehen. (\u00a7\u00a7 57\u201459.)1\n1 Nicht unerw\u00e4hnt m\u00f6chte ich lassen, dafs ich auch die von Fleischl, a. a. O., S. 8 ff., geschilderte T\u00e4uschung der scheinbaren Wellung bewegter Gitter an meinem Apparate sehr gut beobachten konnte. Sobald sich die schwarzen Linien an dem anderweitig fixierten Auge vorbeibewegten (aber auch nur dann), erschienen sie wellig geformt, und zwar zeigte jede der (10 cm langen) Linien etwa drei bis vier Ausbuchtungen.","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n353\nIV. Theorie der Wahrnehmung von Bewegungen dnrch das Auge.\n\u00a7 35. Das sinnliche Material, vermittelst dessen wir durch das Auge Wahrnehmungen machen k\u00f6nnen, besteht in Gesichtsempfindungen und Muskelempfindungen. Beide sind an der Bewegungswahrnehmung beteiligt.\nWie alle Vorg\u00e4nge der Aufsenwelt Deutungen auf Grund sinnlicher Eindr\u00fccke sind, so auch die Annahme der Bewegung ; und zwar haben wir die beiden M\u00f6glichkeiten zu unterscheiden, ob ein einzelner sinnlicher Eindruck als solcher die Deutung als Bewegung erhalten kann, oder ob hierf\u00fcr eine Beihe von Eindr\u00fccken n\u00f6tig ist. Beide F\u00e4lle kommen vor ; wir betrachten zun\u00e4chst den letzteren.\n1. Die Bewegungswahrnehmung als Erzeugnis mehrerer Empfindungsmomente.\n\u00a7 36. Die Vorstellung einer Bewegung kann dann entstehen, wenn wir nacheinander mehrere in sich konstante Phasen der Bewegung wahrnehmen und diese untereinander vergleichen. In j edem einzelnen Moment haben wir den Eindruck der Buhe. Hat die Bewegung ein Stadium erreicht, welches sich von einem vorhergehenden in seiner Baumlage eben merklich unterscheidet (ein solches Stadium bezeichnen wir als eine \u201eneue Phase\u201c), so ist letzteres als Empfindung schon verklungen und besteht nur noch in der Erinnerung. Diese zeigt dann dasselbe Objekt in anderer Lage; und die \u00dcberzeugung von der Identit\u00e4t des Gegenstandes, vereint mit dem Bewufstsein vom Anderssein des Ortes f\u00fchrt zu dem Schlufs, dafs das Objekt seinen Ort ver\u00e4ndert, d. h. sich bewegt habe. Dieser Schlufs kann entweder mit Bewufstsein gemacht oder unbewufst vollzogen werden.\nDas so umschriebene Prinzip, nach welchem eine Deutung auf Bewegung erfolgen kann, bezeichne ich als das Prinzip der Phasenvergleichung; es findet insbesondere bei geringen Geschwindigkeiten Anwendung.\nDas Eigent\u00fcmliche war, dafs jede Linie sich gleichzeitig nach beiden Seiten ausbuchtete, so dafs ich sie an der betreffenden Stelle doppelt sah, und zwar auch bei monokularer Beobachtung. Die der Bewegungsrichtung abgekehrten Wellen traten st\u00e4rker hervor.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie VII.\t23","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354\nL. William Stern.\nDas Bewufstsein, dafs die beiden \u00d6rter, an welchen sich das Objekt in verschiedenen Augenblicken befindet, nicht identisch sind, kann uns auf zwei Wegen vermittelt werden: es wird entweder der Gegenstand sich an zwei verschiedenen Stellen der Netzhaut abbilden, das w\u00e4re die optische Phasenvergleichung; oder es wird (wenn das Bild auf dieselbe Netzhautstelle f\u00e4llt) zwei verschiedene Lagen des Augapfels herbeif\u00fchren, \u00fcber die wir uns vermittelst der sogenannten Lageempfindungen der Augenmuskeln klar werden : das w\u00e4re die muskul\u00e4re Phasenvergleichung. Nach Goldscheider1 ist das letztere Prinzip \u00fcberhaupt das einzige, durch das uns Augenbewegungen zu Vorstellungen \u00e4ufserer Bewegungsvorg\u00e4nge hinleiten k\u00f6nnen.\nAuf beide Arten der Phasenwahrnehmung, insbesonders auf die muskul\u00e4re, kommen wir sp\u00e4ter noch einmal zur\u00fcck. (\u00a7\u00a7 49.3, 52.)\n2. Die Bewegungswahrnehmung als Erzeugnis eines Empfindungsmomentes.\n\u00a7 37. Die Wahrnehmung der Bewegung kann sich nun aber auch auf einem einzelnen sinnlichen Eindruck auf bauen: ein einziger Empfindungsmoment wird infolge charakteristischer Eigent\u00fcmlichkeiten als Wahrzeichen einer \u00e4ufseren Bewegung gedeutet. Dafs dies m\u00f6glich sei, dafs eine Sinneswahrnehmung an sich, ohne mit anderen verglichen zu werden, schon den Bewegungscharakter besitzen kann, das beweisen die in den \u00a7\u00a7 4 und 9 genannten That-sachen, das beweisen auch fast alle Bewegungst\u00e4uschungen.\nDennoch halte ich es f\u00fcr falsch, hier von einer Bewegungsempfindung zu sprechen. Das Wort ist einerseits zweideutig (Mach, Goldscheider, Delabarre etc. bezeichnen ganz andere Empfindungen, n\u00e4mlich die durch Bewegungen des eigenen K\u00f6rpers erzeugten, mit jenem Namen; man m\u00fcfste, um diesem Mangel abzuhelfen, dann Eigenbewegungsempfindungen und Aufsenbewegungsempfindungen unterscheiden); andererseits kann das Wort, und das ist das bei weitem wichtigere, zu Hypostasierungen f\u00fchren, die ich als berechtigt nicht anerkennen kann. Verst\u00e4nde man unter \u201eBewegungsempfindung\u201c\n1 G-oldscheider, Zeitsehr. f. klinische Medicin Bd. XY. S. 117.","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n355\neine Empfindung oder einen Komplex von Empfindungen bekannter Art, der verm\u00f6ge gewisser Eigent\u00fcmlichkeiten unmittelbar auf eine Bewegung gedeutet wird, so k\u00f6nnte man dies gelten lassen; der Name h\u00e4tte hier dann dieselbe Bedeutung wie in den Ausdr\u00fccken \u201eTiefenempfindung\u201c, \u201eGl\u00e4tteempfindung\u201c, denen man hier und da begegnet. Versteht man aber unter \u201eBewegungsempfindung\u201c etwas, das sich von allen anderen Empfindungen (auch desselben Sinnesgebietes) spezifisch unterscheidet, das v\u00f6llig elementar, sui generis, unanalysierbar ist, stellt man sie also etwa auf eine Stufe mit der Farben oder Tonempfindung, so bewegt man sich, wie mir scheint, auf v\u00f6llig falscher F\u00e4hrte.\nWir k\u00f6nnen meiner Meinung nach nur sagen :\nGewisse Empfindungen oder Empfindungskomplexe des Auges (der Netzhaut und der Augenmuskeln) k\u00f6nnen unmittelbar gedeutet werden als Kennzeichen einer \u00e4ufseren Bewegung. Diese Empfindungen bilden keine neue spezifische Sondergruppe; vielmehr findet jene Deutung dann statt, wenn in einem Empfindungskomplex die bekannten Eigenschaften der Empfindung: Intensit\u00e4ten, Qualit\u00e4ten und r\u00e4umliche Verh\u00e4ltnisse, in einer gewissen, sp\u00e4ter zu er\u00f6rternden Weise enthalten sind, bezw. Zusammentreffen. Das Wesentliche ist, dafs zur Deutung als Bewegung ein Empfindungsmoment gen\u00fcgt; d. h. es k\u00f6nnen die Empfindungen, die jene Deutung bewirken, v\u00f6llig simultan sein, bezw. innerhalb der Zeitstrecke liegen, in welcher eine Empfindung ihren Empfindungscharakter beh\u00e4lt. Wenn man in diesem Sinne von einer Bewegungsempfindung sprechen will, so kann man wenig dagegen haben; doch halte ich es aus obigen Gr\u00fcnden f\u00fcr besser, den Namen zu vermeiden.\nDieser sinnliche Bewegungseindruck ist nicht unanalysierbar ; im Gegenteil besteht darin vor allem das Problem, zu untersuchen, welche Empfindungsthatsachen, und in welcher Art sie Zusammenwirken m\u00fcssen, um den Eindruck zu erzeugen. Dem Versuche einer solchen Analyse sind die folgenden Ausf\u00fchrungen gewidmet. Mir scheinen nun hierbei insbesondere drei Wirkungen in Betracht zu kommen, welche im Auge durch eine \u00e4ufsere Bewegung hervorgerufen werden m\u00fcssen oder k\u00f6nnen:\na)\tdie ver\u00e4nderte Heizung,\nb)\tder Nachbildstreifen,\nc)\tdie Augenbewegung.\n23*","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356\nL. William Stern.\nDie Er\u00f6rterung der beiden ersten Punkte bezieht sich, da die Augenbewegung im Punkte c eine besondere Besprechung erf\u00e4hrt, stets auf das ruhende Auge.\na) Die ver\u00e4nderte Reizung.\n\u00a7 38. Fast jede Bewegung eines sichtbaren Objektes hat zur Folge, dafs gewisse Teile der Netzhaut, die bisher von den Strahlen desselben nicht getroffen wurden, jetzt getroffen werden, oder dafs solche, die getroffen wurden, nun nicht mehr getroffen werden. Die blofse Thatsache nun, dafs in irgend einem Retinagebiet ein Reizungszustand neu auftritt oder aufh\u00f6rt oder im allgemeinen sich ver\u00e4ndert, kann unter Umst\u00e4nden auf eine Bewegung des reizerzeugenden K\u00f6rpers gedeutet werden; ich bezeichne das hierbei wirksame Deutungsprinzip als das Prinzip der ver\u00e4nderten Reizung. Wenn die Ver\u00e4nderung einer Reizung mit einer gewissen Schnelligkeit vor sich geht (insbesondere wenn aus einer Nicht-Reizung eine Reizung von betr\u00e4chtlicher Grr\u00f6fse wird), so macht sich die Thatsache der Ver\u00e4nderung, der Akt des \u00dcberganges an und f\u00fcr sich sofort im Bewufstsein geltend. Dieses Bewufstseinsph\u00e4nomen scheint h\u00f6chst elementar zu sein, beruht nicht etwa lediglich auf einer reflexionsm\u00e4fsigen Vergleichung des neuen Zustandes mit dem Erinnerungs bilde eines fr\u00fcheren, sondern kann durchaus momentan sein. Ich halte es sogar, wie ich an anderer Stelle1 ausgef\u00fchrt habe, nicht f\u00fcr unm\u00f6glich, dafs eine spezifische \u201e\u00dcbergangsempfindung\u201c existiert. Mag diese nun in der That bestehen oder nicht, jedenfalls erzeugt eine pl\u00f6tzliche Reizungs\u00e4nderung eines bestimmten Netzhautgebietes eine besondere Art der sinnlichen Wahrnehmung, welche sich stets an objektive Ortsver\u00e4nderungen ankn\u00fcpft.\nDieser Empfindungszustand ist nun insofern sehr primitiv, als er v\u00f6llig unabh\u00e4ngig ist von der Auffassung einer bestimmten Qualit\u00e4t, oder von Qualit\u00e4t \u00fcberhaupt, und auch von r\u00e4umlicher Auffassung. Er bedarf zu seinem Zustandekommen nicht eines Nebeneinanders, sondern lediglich der Auffassung des Intensit\u00e4tswechsels an einer bestimmten Netzhautstelle oder auch an der optischen Nervenperipherie im allgemeinen. Daher\n1 Stern, \u00dcber die Wahrnehmung von Helligkeitsver\u00e4nderungen. Biese Zeitschr. Bd. VIL S. 277 (1894).","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"Sie Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n357\nist jene \u201e\u00dcbergangsempfindung\u201c sogar bei Augen denkbar, f\u00fcr die eine Raumanschauung des Gesichtsinnes nicht existiert, ebenso wie in dem der Raumanschauung ebenfalls entbehrenden Tonsinn das Anklingen eines neuen Tones einen ganz charakteristischen Eindruck macht. \u2014 Wir k\u00f6nnen also sagen: Selbst bei Individuen mit \u00fcberaus unvollkommenen Augen verm\u00f6gen Ortsbewegungen, die sich in der Aufsenwelt vollziehen, einen besonderen Empfindungsakt auszul\u00f6sen, ja dieser Empfindungsakt wird eine um so wichtigere Rolle spielen, je primitiver das Auge des Individuums ist; denn er kann noch wirksam sein bei Augen, die weder Simultanunterschiede, noch ein r\u00e4umliches Nebeneinander optisch aufzufassen verm\u00f6gen. So ist es kein Widerspruch, wenn Exnkr 1 behauptet, dafs das Insektenauge wenig geeignet sei zur Auffassung einer Raumordnung, wohl aber zu der von Bewegungen. \u2014 Ferner: jener Empfindungsakt, der durch eine sich \u00e4ndernde, bezw. neu eintretende Reizung erzeugt wird, hat bei niederen Individuen fast stets eine motorische Reaktion im Gefolge, die teils auf reflektorischem Wege, teils dadurch zu st\u00e4nde kommt, dafs neue Eindr\u00fccke neue Wirkungen signalisieren, denen man entweder zuzustreben oder zu entgehen sucht. Somit erkl\u00e4rt sich die Beobachtung Schneiders,1 2 dafs viele Fische und Amphibien nur reagierten, wenn draufsen eine Bewegung vollzogen wurde, dagegen nicht auf ruhende Eindr\u00fccke. \u2014 Diese Empfindung braucht darum noch nicht eine eigentliche Bewegungsempfindung zu sein (d. h. auf eine \u00e4ufsere Bewegung gedeutet zu werden), ja sie kann es sogar nicht sein, falls die Raumauffassung fehlt. Nur so viel steht fest, dafs sie einerseits durch Ortsbewegungen erzeugt wird, und dafs sie andererseits Wirkungen hat, wie bei entwickelten Individuen die Auffassung von Bewegungen, n\u00e4mlich eigene Motionen des Zustrebens und der Flucht.\n\u00a7 39. Welches ist nun aber die Wirksamkeit des Prinzips der ver\u00e4nderten Reizung bei Individuen mit entwickelterem Auge, insbesondere beim Menschen? Hier gilt es freilich, dafs das Auftreten eines neuen Eindruckes an und f\u00fcr sich schon fast immer auf eine \u00e4ufsere Bewegung gedeutet wird. Denn da uns das Sehfeld ein Teil des Raumes ist, so bedeutet eine anderswerdende, besonders eine neu auftretende Gesichts-\n1 Exner, Wiener Akademie-Berichte, III. Abt. Bd. LXXII. S. 165 ff. (1875).\n* Schneider, Vierteljahrsschrift f. wiss. Philos. II. Bd. S. 388.","page":357},{"file":"p0358.txt","language":"de","ocr_de":"358\nL. William Stern.\nempfindung: es hat etwas, das im nicht sichtbaren Teile dea Raumes war, seinen Ort gewechselt, da es als etwas Neues pl\u00f6tzlich sich im sichtbaren Teile befindet. In manchen F\u00e4llen geht das Lokalisationsverm\u00f6gen nicht weit\u00e8r, namentlich dann, wenn das ganze Gesichtsfeld in allen Teilen gleichm\u00e4fsig von dem Helligkeitswechsel in Mitleidenschaft gezogen wird. Dies ist z. B. der Fall, wenn wir durch die geschlossenen Lider blicken. Wir erkennen dann sehr wohl an der pl\u00f6tzlichen Ver\u00e4nderung des Helligkeitsgrades, dafs sich etwas ins Gesichtsfeld hinein- oder aus ihm herausbewegt habe ; allein die Richtung dieser Bewegung bleibt uns, da die Helligkeitsver\u00e4nderung in allen Gegenden des Gesichtsfeldes gleichzeitig und gleich stark war, unbekannt.1\nEtwas anders verh\u00e4lt sich die Wirksamkeit des Prinzips bei offenen Augen. In der Mitte der Retina ist die alleinige Thatsache der ver\u00e4nderten Reizung weniger geeignet, einen Bewegungseindruck zu erzeugen. Denn wenn hier pl\u00f6tzlich eine neue Reizung, z. B. ein \u00fcberspringender elektrischer Funke, auftritt, so ist uns die Annahme unwahrscheinlich, dafs der Gegenstand die lange Zeit, die er brauchte, um vom Rande des Gesichtsfeldes bis in die Mitte zu kommen, unbemerkt h\u00e4tte bleiben k\u00f6nnen. Der Eindruck wird daher anders gedeutet, nicht als eine Hinbewegung des Objektes nach dem Orte der Reizung, sondern als eine Entstehung des Reizes an Ort und Stelle. Diese Schwierigkeit hat nicht statt bei der Netzhautperipherie, wo daher eine neu auftretende Reizung ohne weiteres als eine Bewegung ins Gesichtsfeld hinein aufgefafst wird. Nur dann ist eine gleiche Deutung in der Netzhautgrube m\u00f6glich, wenn ein schon bestehender Reiz sich r\u00e4umlich ausdehnt. Denken wir uns eine in sich v\u00f6llig homogene Lichtlinie, die an einer Seite \u00fcber den Rand des Sehfeldes hinausreicht, sich am anderen Ende verl\u00e4ngern, so ist der Eindruck genau der gleiche, als wenn die ganze Lichtlinie\n1 Die enge Assoziation, die zwischen der ver\u00e4nderten Reizung und der Bewegungsvorstellung besteht, bewirkt auch, dafs uns eine blofse Intensit\u00e4tsver\u00e4nderung eines bestimmten Objektes (ohne jede objektive r\u00e4umliche Verschiebung), dennoch den Eindruck macht, \u201eals r\u00fchre sich etwas im Sehfeld\u201c. Im seitlichen Sehen, wo diese Erscheinung besonders stark ist, mag auch noch die Irradiation mitspielen, welche hei Helligkeitszunahme die R\u00e4nder des Bildes verbreitert, und umgekehrt.","page":358},{"file":"p0359.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges. 359\nsich in der Richtung der Verl\u00e4ngerung bewegt h\u00e4tte, und wir sind sehr geneigt, den Eindruck in diesem Sinne zu deuten. Auf der Zweideutigkeit jener Wahrnehmung beruhen einige Bewegungst\u00e4uschungen; so scheint bei einem aus kleinen Gas-fl\u00e4mmchen bestehenden Illuminationsk\u00f6rper, der entz\u00fcndet wird, das eine Ende schnell vorw\u00e4rts zu schiefsen; ein gleiches gilt bei der \u00a7 20 beschriebenen T\u00e4uschung an zwei sich kreuzenden T elegraphendr\u00e4ht en.\nAus einem zweiten Grunde ist das Prinzip der ver\u00e4nderten Reizung f\u00fcr die Netzhautgrube nicht so geeignet. Sie ist die Stelle, mit der wir am deutlichsten sehen, lange und genau beobachten, komplizierte Vorg\u00e4nge in ihre Einzelheiten zergliedern. Dies alles vermag die blofse Thatsache der ver\u00e4nderten Reizung nicht zu leisten. Sie kann uns nur sehr einfache und kurzdauernde Bewegungen zur Anschauung bringen und von diesen auch nur das \u201eDafs\u201c, nicht das \u201eWie\u201c. \u2014 Auch dieser letztere Umstand weist dem Prinzip als Hauptwirkungsgebiet die Netzhautperipherie zu. Diese hat ganz andere Aufgaben als das Centrum, sie soll nicht selber deutlich sehen, sondern jenem Sichtbares nur signalisieren und es veranlassen, sich darauf einzustellen. Hierzu ist sie schon deswegen geeignet, weil jedes neu in das Gesichtsfeld tretende Objekt zuerst die peripherischen Teile des Auges trifft, die somit eine Art Vorpostendienst f\u00fcr die Netzhautgrube besorgen. Hier ist in der That nicht so sehr das \u201eWie\u201c von Bedeutung, als das \u201eDafs\u201c, das blofse Faktum einer neuen Reizung. Hiermit stimmt es endlich auch \u00fcberein, dafs die Netzhautperipherie trotz ihrer vielen Unvollkommenheiten eine grofse Empfindlichkeit besitzt f\u00fcr Helligkeitsver\u00e4nderungen, ja eine gr\u00f6fsere, als das Centrum.1\n\u00a7 40. K\u00f6nnen wir die Richtung einer Bewegung unmittelbar vermittelst des Prinzips der ver\u00e4nderten Reizung erkennen? Nein. Denn jener Vorgang sagt uns nur, dafs eine bisher nicht (oder anders) gereizte Netzhautstelle pl\u00f6tzlich von einem Reiz bestimmter Art getroffen wird. Ob vorher die Stelle rechts oder links davon gereizt war, ist f\u00fcr jenen Umstand ganz gleichg\u00fcltig. So findet die scheinbare Absurdit\u00e4t, dafs wir Bewegung ohne Richtung wahrnehmen k\u00f6nnen, ihre\n1 S. meine oben citierte Abhandlung S. 252, 4; S. 261.","page":359},{"file":"p0360.txt","language":"de","ocr_de":"360\nL. William Stern.\nErkl\u00e4rung: jede Bewegung, die lediglich aufgrund des obigen Prinzips wahrgenommen wird, ist richtungslos. Am deutlichsten ist dies wiederum bei der \u00e4ufsersten Netzhautperipherie: von welcher Seite des nicht sichtbaren Baumes das Objekt, das pl\u00f6tzlich gewisse Seitenteile der Betina reizt, auch kommen mag, die Art der Beizung und der daraus resultierende Bewegungseindruck bleiben sich v\u00f6llig gleich. \u2014 An der Stelle des deutlichsten Sehens wird die Bichtung meist durch Vergleichung mit vorher dagewesenen Eindr\u00fccken bestimmt werden k\u00f6nnen; doch auch hier giebt es F\u00e4lle, wo dies versagt. Denken wir uns ein kleines, schwach sichtbares Objekt sehr schnell durch das gesamte Gesichtsfeld huschend, so kann sich die Beizung der einzelnen Netzhautteile derart schnell folgen, dafs sie f\u00fcr unsere Perception absolut gleichzeitig ist. Wir merken dann wohl, dafs alle jene Teile pl\u00f6tzlich eine neue Beizung erfahren, und deuten dies auf Bewegung; welcher Teil aber zuerst gereizt, d. h. von wo die Bewegung gekommen sei, bleibt uns unbekannt. Dasselbe ist der Fall, wenn die Simultaneit\u00e4t der ver\u00e4nderten Beizung aller Netzhautelemente nicht durch die Geschwindigkeit der Bewegung, sondern dadurch erzeugt wird, dafs der Beiz ein diffundierendes Medium, etwa die Augenlider, passieren mufs.1\n\u00a7 41. In dem Prinzip der ver\u00e4nderten Beizung scheinen alle jene Thatsachen eine Erkl\u00e4rung zu finden, welche sich auf die Feinheit der Auffassung von Bewegungen gegen\u00fcber der Wahrnehmung ruhender Objekte beziehen. Hier kommen in Betracht: die leichtere Erregung der Aufmerksamkeit, die gr\u00f6fsere Unterschiedsempfindlichkeit und die gr\u00f6fsere Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr Bewegungen.\nDie gr\u00f6fsere Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Bewegungen steht zun\u00e4chst in einem seltsamen Gegensatz zu der sonst hinreichend erwiesenen Thatsache, dafs successive Helligkeitsdifferenzen ein und derselben Netzhautstelle weniger fein unterschieden werden, als simultane benachbarter Gebiete ;\n1 Jene Erkl\u00e4rung, die K\u00fclpe (Grundri\u00df d. Psychologie S. 360) von der Wahrnehmung einer Bewegung ohne Erkennen der Richtung giebt, \u201edafs die Bezeichnungen f\u00fcr allgemeinere Begriffe leichter reproduziert werden, als diejenigen f\u00fcr speziellere Begriffe\u201c, mag in manchen F\u00e4llen zutreffen, doch sicherlich enth\u00e4lt sie nicht die einzige, auch wohl nicht die wichtigste Ursache des Ph\u00e4nomens.","page":360},{"file":"p0361.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n361\ndenn bei Bewegungen werden jene, im Buhezustand diese erzeugt. Daher scheint unser Ph\u00e4nomen nur dann erkl\u00e4rlich, wenn wir uns wiederum der Hypothese bedienen, dafs wir bei Helligkeits\u00e4nderungen von gewisser Geschwindigkeit gar nicht die einzelnen Heliigkeitsmomente gesondert, vielmehr den \u00dcbergang selbst durch einen spezifischen Empfindungsakt wahrnehmen. Dann w\u00e4re es denkbar, dafs die Empfindungen der sich \u00e4ndernden und der sich gleichbleibenden Beizung verschiedene Schwellen h\u00e4tten; so k\u00f6nnten z. B. zwei nebeneinander bestehende konstante Helligkeiten sich dann eben merklich unterscheiden, wenn ihre Intensit\u00e4ten bez\u00fcglich a und a \u2014 n betragen, w\u00e4hrend die \u00dcbergangsempfindung (und mit ihr der Bewegungseindruck) schon dadurch ausgel\u00f6st wird, wenn ein Beiz a sich ann\u00e4hernd momentan in den Beiz a -f- (n\u2014m) verwandelt.1 Dafs die \u201e\u00dcbergangsempfindung\u201c feiner sein k\u00f6nnte, als die Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr konstante Helligkeiten, ist evolutionistisch sehr wohl denkbar; denn neue Beize sind dem Organismus weitaus wichtiger, als bestehende, und die durch dieselben eventuell zu erhoffende F\u00f6rderung oder zu bef\u00fcrchtende Sch\u00e4digung rechtzeitig zu erkennen, ist f\u00fcr das Individuum im Kampf ums Dasein ein notwendiges Erfordernis. Dafs wegen dieses praktischen Wertes auch die Aufmerksamkeit mit Vorliebe sich Beiz\u00e4nderungen zuwendet, ist erkl\u00e4rlich. \u2014 Ich m\u00f6chte hier noch den h\u00f6chst hypothetischen Charakter des obigen Erkl\u00e4rungsversuches betonen, der sich auf die nichts weniger als erwiesene Existenz einer neuen Empfindungsgattung st\u00fctzt. Dennoch glaubte ich sie nicht verschweigen zu d\u00fcrfen, da andere plausible Erkl\u00e4rungen zur Zeit fehlen. Den Erkl\u00e4rungsversuch, welcher der Erm\u00fcdung die Hauptrolle zuschreibt, weist Schneider2 wegen der geringen Helligkeitsunterschiede, die hier in Betracht kommen, wohl mit Becht zur\u00fcck; andererseits\n1\tFreilich betrug bei meinen Versuchen \u00fcber Helligkeitsver\u00e4nderungen die relative Empfindlichkeit f\u00fcr momentane Ver\u00e4nderungen nur Vso, woraus ich schlofs, dafs sie geringer sei, als die Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr konstante Helligkeiten. (S. diese Zeitsehr. Bd. VII, S. 257.) Indessen habe ich letztere dort leider nicht untersucht, und es ist gar nicht im Voraus zu bestimmen, welchen Wert sie unter den besonderen Bedingungen jener Versuchsanordnung ergeben h\u00e4tte; sind ja doch bei derartigen Experimenten viel weniger die absoluten als die relativen Werte als mafsgebend anzusehen und in Betracht zu ziehen.\n2\tSchneider, a. a. O., S. 401 ff.","page":361},{"file":"p0362.txt","language":"de","ocr_de":"362\nL. William Stern.\nentbehrt seine Erkl\u00e4rung, dafs bei Bewegungen psychisch eine Summation von successiven und simultanen Differenzen stattfinde, allzusehr der Wahrscheinlichkeit und der Analogie mit anderen psychologischen Vorg\u00e4ngen.\n\u00a7 42. Das Entgegengesetzte scheint bei der gr\u00f6fseren Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr Bewegungen der Fall zu sein; hier halte ich die zur Erkl\u00e4rung herbeigezogene neue Empfindungsgattung (\u201eBewegungsempfindung\u201c) f\u00fcr unn\u00f6tig und glaube mit ganz bekannten Thatsachen, insbesondere der Irradiation, auszukommen. Sehen wir n\u00e4mlich zwei ruhende helle Fl\u00e4chen, die durch eine dunkle Strecke getrennt werden, ohne jede Irradiation, so erscheinen sie uns dann als zwei, wenn zwischen ihren scharfen Bildern mindestens ein Netzhautelement ungereizt bleibt. Sehen wir ferner dieselben hellen, ruhenden Felder mit Irradiation, so erscheinen sie uns erst dann als zwei, wenn die Bilder samt den Irradiationsr\u00e4ndern mindestens ein Netzhautelement zwischen sich freilassen; die Felder m\u00fcssen also weiter voneinander entfernt sein, und zwar um so weiter, je breiter die Irradiationsstreifen sind. Sehen wir endlich ein helles Feld sich bewegen, so werden wir die Bewegung dann wahrnehmen, wenn ein Netzhautelement neu gereizt wird. Hierbei ist es v\u00f6llig gleichg\u00fcltig, ob das Feld ein en breiten Irradiationsrand hat oder gar keinen, denn die Verschiebung des ganzen Bildes um ein Netzhautelement bleibt stets dieselbe. Somit wird eine Bewegung dann gerade wahrgenommen, wenn ihre Elongation so breit ist, wie der eben merkliche Trennungsstreif bei ruhenden, ohne Irradiation gesehenen Objekten. \u2014 Alle diese S\u00e4tze finden vollkommene Best\u00e4tigung in meinen oben geschilderten Experimenten. Erstens waren bei v\u00f6llig akkommodiertem Auge in der Netzhautgrube (also bei dem Mangel jeglicher Irradiation) Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr Buhe und Bewegung gleich; zweitens waren bei seitlichemSehen (wo selbst bei akkommodiertem Auge eine betr\u00e4chtliche Irradiation stattfindet,1) Bewegungen im allgemeinen leichter wahrnehmbar als ruhende Objekte; drittens nahm dieser Unterschied mit abnehmender Intensit\u00e4t (also mit abnehmender Irradiation) ab. \u2014 Somit scheint die Bichtigkeit obiger Erkl\u00e4rung mit ziemlicher Sicherheit erwiesen.\n1 Daher d\u00fcrfte die eigentliche Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr die Seitenteile des Auges stets nur an bewegten Objekten untersucht werden, wo die Irradiation nicht st\u00f6rend wirkt.","page":362},{"file":"p0363.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n363\nDafs man endlich in der Netzhautperipherie von einem in der Ruhe nicht mehr sichtbaren Objekt eine Bewegung nach hinten wahrnimmt, hat seinen Grund in der schnellen Erm\u00fcdung jener Retinagebiete. Infolgedessen wird die von dem Objekt im Ruhezustand getroffene Stelle sehr schnell unempfindlich, w\u00e4hrend die frischeren dahinterliegenden Stellen einer Reizung noch zug\u00e4nglich sind.\nWenn, wie oben hervor gehoben, das Prinzip der ver\u00e4nderten Reizung isoliert im direkten Sehen nur selten zur Anwendung kommt, so ist doch andererseits wahrscheinlich, dafs es bei allem Bewegungssehen als Faktor mit eingeht, da ja auch bei fast allem Bewegungssehen fortw\u00e4hrende \u00c4nderungen in den Reizungen einzelner Netzhautpartien stattfinden.\nb) Der Nachbildstreifen.\n\u00a7 43. Die ver\u00e4nderte Reizung war eine Wirkung, welche das sich bewegende Objekt besonders an dem der Bewegungsrichtung zugekehrten Ende hervorrief; eine andere Wirkung tritt an der entgegengesetzten Seite ein. Ein Netzhautelement, das noch eben gereizt wurde, wird im n\u00e4chsten Augenblick nicht mehr vom Bilde des Objekts getroffen, und so findet hier eine ver\u00e4nderte Reizung in negativem Sinne statt. Aber es findet noch ein anderes statt. Der \u00dcbergang des nicht mehr gereizten Netzhautteilchens in den Ruhezustand vollzieht sich nicht momentan, vielmehr wirkt der Reiz noch geraume Zeit nach, an der betreffenden Stelle erscheint ein Nachbild, das allm\u00e4hlich an Intensit\u00e4t abnimmt und endlich verschwindet. Hatte nun die Bewegung eine gewisse Schnelligkeit, so wird das Nachbild einer vergangenen Phase noch vorhanden sein, wenn eine neue (eben r\u00e4umlich davon unterscheidbare) Phase erreicht ist. Ja, bei gen\u00fcgender Geschwindigkeit der Bewegung und Helligkeit des Objekts ist es m\u00f6glich, dafs die Nachbilder von einer ganzen Reihe von Phasen noch bestehen neben dem Bilde einer neuen. Diese Nachbilder werden um so schw\u00e4cher sein, je l\u00e4nger sie bestehen, und je weiter sie daher von dem frischen Bild entfernt sind; und das frische Bild wird sich sogar von den n\u00e4chsten Nachbildern noch betr\u00e4chtlich an Intensit\u00e4t unterscheiden; denn gerade im ersten Moment des Aufh\u00f6rens eines Reizes nimmt das Bild sehr schnell an St\u00e4rke ab.","page":363},{"file":"p0364.txt","language":"de","ocr_de":"364\nL. William Stern.\nSo haben wir wiederum ein Empfindungsgebilde eigent\u00fcmlicher Art, n\u00e4mlich eine nebeneinander bestehende und ineinander \u00fcbergehende Reihe von Bildern desselben Objekts, die eine v\u00f6llige Intensit\u00e4tsskala enthalten, und zwar \u00fcbertrifft das erste Bild die anderen an St\u00e4rke ganz betr\u00e4chtlich. Da fast jede Bewegung mittlerer Geschwindigkeit diesen charakteristischen Sinneseindruck erzeugt, so wird er als das sichere Merkzeichen einer solchen angesehen, und sein Auftreten wird daher stets unmittelbar mit der Deutung verbunden: hier geht eine objektive Bewegung vor sich. Ich bezeichne das hier in Anwendung kommende Deutungsprinzip als das Prinzip des Nachbildstreifens \u2014 Es macht aus dem Nacheinander der Bewegung ein Nebeneinander, sodafs zu seiner Auffassung wiederum ein Zeitmoment gen\u00fcgt, n\u00e4mlich der, in dem der abgestufte Nachbildstreifen die Aufmerksamkeit erweckt. (Dagegen geh\u00f6ren mehrere Momente dazu, um ihn zu erzeugen.)\n\u00a7 44. Wir wollen im folgenden vorl\u00e4ufig voraussetzen, dafs das Objekt punktf\u00f6rmig sei, und dafs man nur einmal und in einem Moment den Nachbildstreifen beobachtet.\nSo wenig wir im Yiolinklang den einzelnen Partialklang im allgemeinen gesondert auffassen, so wenig pflegen wir uns beim Anblicken eines sich bewegenden Gegenstandes jener Nachbilder bewufst zu werden; dennoch sind sie es, die dem Empfindungskomplex die eigent\u00fcmliche Nuance verleihen. Richtet man \u00fcbrigens die Aufmerksamkeit besonders darauf, so ist der Nachbildstreifen neben dem klaren Bilde des Objekts wohl zu erkennen, namentlich, wenn man neue Eindr\u00fccke durch Verdeckung der Augen fernh\u00e4lt. So waren jene \u201egleichgerichteten Nachbewegungen\u201c, welche ich oben (\u00a7\u00a7 32, 33) ausf\u00fchrlich beschrieb, nichts anderes als solche Nachbildstreifen in voller Reinheit, und auch dort waren sie f\u00fcr sich allein im st\u00e4nde, den Bewegungseindruck zu erzeugen. \u2014 Ich spreche absichtlich von \u201eNachbildstreifen\u201c, nicht von \u201eNachbildreihen\u201c, denn man darf nicht etwa glauben, dafs jedes Nachbild fein s\u00e4uberlich getrennt von seinem Nachbar dastehe; vielmehr bilden sie, da ja jedes Netzhautteilchen gereizt war, ein Continuum, und der ganze Eindruck ist daher so, als ob das Objekt ^seitlich verzerrt sei oder einen verwaschenen Schweif aussende von gleicher Farbe und gleicher Breite, aber geringerer Intensit\u00e4t, als es sie selbst besitzt. Die obige Zerlegung in Phasen ist eben","page":364},{"file":"p0365.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n365\nnur eine Abstraktion (freilich, wie das Stroboskop zeigt, eine Abstraktion, zu der wir berechtigt sind). Auch die kurze Dauer der Reizung jedes einzelnen Retinaelements hindert, dafs die Bestandteile des Nachbild Streifens volle Klarheit haben. \u2014 Es kann daher diese Verschwommenheit ebenfalls dazu beitragen, dem Eindruck sein charakteristisches Gepr\u00e4ge zu verleihen; erschienen ja auch die eben erw\u00e4hnten gleichgerichteten Nachbewegungen verwaschen und undeutlich.\nIch glaube nun, dafs dieses Prinzip es ist, welches bei ruhendem Auge unter normalen Verh\u00e4ltnissen den momentanen Bewegungseindruck herbeif\u00fchrt, namentlich in der Netzhautgrube. Viel vollkommener als die ver\u00e4nderte Reizung, vermag der Nachbildstreif uns \u00fcber die Einzelheiten des Bewegungseindruckes genaueres mitzuteilen, und zwar in folgenden Beziehungen:\n1.\tWir sehen nicht nur, dafs sich etwas bewegt, sondern aus dem frischen Bilde des Objekts, was es ist, aus der \u00c4hnlichkeit des Nachbildstreifens mit diesem Bilde, dafs es immer dasselbe ist, was sich bewegt hat.\n2.\tDie Richtung der Bewegung ist eindeutig bestimmt, dieselbe f\u00e4llt n\u00e4mlich mit der Raumlage des Nachbildstreifens zusammen, und zwar so, dafs dessen schw\u00e4cherer Teil dem Ziele der Bewegung abgewendet ist.\n3.\tAuch ist es denkbar, dafs Richtungs\u00e4nderungen momentan merkbar sein k\u00f6nnen an der krummen Form des Nachbildschweifes.\n4.\tDie Geschwindigkeit der Bewegung ist von Einliufs auf die L\u00e4nge, die Deutlichkeit und die Helligkeitsabstufung des Nachbildstreifens. Da die L\u00e4nge indessen auch von der Intensit\u00e4t des Objekts abh\u00e4ngt, so wird sie weniger zur Beurteilung der objektiven Geschwindigkeit benutzt, als die beiden anderen Merkmale. Je langsamer die Bewegung vor sich geht, um so l\u00e4ngere Zeit wird jede einzelne Netzhautpartikel vom Reiz getroffen, und um so sch\u00e4rfer ist daher der Eindruck; andererseits werden zwei gereizte Stellen bei langsamerer Bewegung gr\u00f6fsere Intensit\u00e4tsunterschiede aufweisen, als ceteris paribus bei schnellerer, da zwischen der Reizung beider Punkte dann l\u00e4ngere Zeit verflossen ist. Ist die Geschwindigkeit sehr grofs, so h\u00f6rt der Intensit\u00e4tsunterschied der Nachbilder \u00fcberhaupt auf und mit ihm auch der Eindruck der Bewegung.","page":365},{"file":"p0366.txt","language":"de","ocr_de":"366\nL. William Stern.\nDas zeigt der scheinbar ruhende, feurige King, den die im Kreis geschwungene gl\u00fchende Kohle erzeugt. Ein gleiches gilt meist von der Wahrnehmung des Blitzes, bei dem lediglich die Thatsache der neuen Beizung den Bewegungseindruck herbeif\u00fchrt, w\u00e4hrend die intensive, in sich v\u00f6llig homogene Zickzacklinie des Nachbildes uns nur sagt, dafs die (anderw\u00e4rts erkannte) Bewegung sehr schnell gewesen sein m\u00fcsse, aber uns nicht verr\u00e4t, wo der Anfang und wo das Ende der Bewegung sei. Dagegen zeigt das Stroboskop, in welchem das neue Bild mit dem schon stark abgeschw\u00e4chten Nachbild der vorhergehenden Phase, und eventuell auch mit den noch viel st\u00e4rker geschw\u00e4chten fr\u00fcheren Stadien simultan ist, deutlich den Bewegungseindruck.\n5. Der Nachbildstreifen erm\u00f6glicht es uns endlich, komplizierte Bewegungen nach verschiedenen Richtungen zugleich aufzufassen. In jedem Moment der Wahrnehmung haben wir ein System von Streifen, die wir ebensogut in ihren Richtungen auseinanderzuhalten verm\u00f6gen, wie etwa das ruhende Bild der Strahlen eines Sternes. Selbst Kreuzung einiger Streifen macht ein Erkennen nicht unm\u00f6glich, da jeder Streif, durch die \u00dcbereinstimmung seiner Einzelbestandteile unter sich und mit dem frischen Bilde, nicht mit anderen konfundiert werden kann. Diese M\u00f6glichkeit der Wahrnehmung zusammengesetzter Bewegungen in ihren Teilen ist von gr\u00f6fster Wichtigkeit und erh\u00f6ht die F\u00e4higkeit des Auges, \u00e4ufsere Vorg\u00e4nge zu beobachten, ganz betr\u00e4chtlich. Hervorheben m\u00f6chte ich, dafs diese vielleicht h\u00f6chste Funktion des Bewegungssehens durch Augenbewegungen nicht erm\u00f6glicht werden kann.\n\u00a7 45. Gehen wir nun von der Voraussetzung ab, dafs das Objekt punktf\u00f6rmig sei, und betrachten wir die Modifikation des Eindruckes, wenn es einige Ausdehnung hat. Ist das Objekt in der Richtung der Bewegung v\u00f6llig homogen, z. B. ein weifser Streifen, so wird von dem Ende, das der Bewegungsrichtung zugekehrt ist, gar kein Nachbildstreifen entwickelt werden k\u00f6nnen, da ja die Reizung ununterbrochen und gleichm\u00e4fsig bestehen bleibt; hier kann also der Bewegungseindruck nur durch das Prinzip der neuen Reizung erfolgen; am anderen Ende dagegen wird sich der Nachbildstreifen in voller Kraft entfalten k\u00f6nnen. \u2014 Ist der bewegte Gegenstand nicht homogen, so wird der am Vorderende sich entwickelnde Nachbildstreifen in fortw\u00e4hrenden Konflikt kommen mit den andersartigen neuen","page":366},{"file":"p0367.txt","language":"de","ocr_de":"Hie Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n367\nReizungen, die dieselbe Netzhautstelle treffen; d. h. die folgenden Eindr\u00fccke werden nur teilweise und in unbestimmterer Form zur Geltung kommen. Die Undeutlichkeit und Verschwommenheit also, die schon dem Nachbildstreifen als solchem anhaftete, wird hier in noch verst\u00e4rktem Mafse in den mittleren Partien des Objekts auftreten. Kann schon diese Verschwommenheit als gewisses Charakteristikum des Vorganges gelten, so kommt noch die neue Reizung am Anfang und der reine Nachbildstreif am Ende hinzu, um auch bei einem ausgedehnteren Objekt den spezifischen Bewegungseindruck zu erwecken. \u2022\u2014 Ist endlich das Objekt (oder ein Teil desselben) zwar homogen, bewegt sich aber in einer anderen Richtung, als in der der B.omogeneit\u00e4t,\nso sind oft gewisse T\u00e4uschungen die Folge. A A sei eine in sich homogene schwarze Linie, welche sich in der Richtung des Pfeiles am ruhenden Auge vorbeibewegt. Die Bewegung geschehe so schnell, dafs, wenn die Lage FF erreicht ist, noch ein schwaches Nachbild der Lage A A vorhanden ist. Der Nachbild streif, der von A A bis FF reicht, hat, falls die Linie stets in ihrer ganzen L\u00e4nge sichtbar war, die Richtung des Pfeiles, und auf diese Richtung wird daher die Bewegung, also richtig, gedeutet. Betrachten wir nun aber die sich bewegende Linie durch den Ausschnitt MJS OP eines Schirmes, so \u00e4ndert sich der Eindruck; der Nachbildstreif hat jetzt die Richtung MNj zwar stammen seine einzelnen Phasen, z. B. aa, bb, ce nicht von gleichen Teilen der schwarzen Linie, aber da diese 'homogen ist, so merken wir dies nicht und deuten daher die","page":367},{"file":"p0368.txt","language":"de","ocr_de":"368\nL. William Stern.\nganze Bewegung f\u00e4lschlich, nach der Richtung des Nachbildstreifens, also von M nach N.1 \u2014 Diese Betrachtung l\u00e4fst sich ohne weiteres auf die Wahrnehmung eines Schraubengewindes \u00fcbertragen, nur dafs an die Stelle des Schirmausschnittes hier der seitliche Rand des Cylinders tritt, auf dem sich der Schraubengang befindet; daher erblickt man hier jene scheinbar nach oben oder unten gerichtete Bewegung. \u2014 Bei der PbATEA\u00fcschen Spirale bewegt sich jedes Teilchen parallel der Kreisperipherie, dagegen ist die Richtung des Nachbildstreifs (vom schw\u00e4chsten Bilde zum st\u00e4rksten gerechnet) centrifugal oder centripetal ; dem-gem\u00e4fs auch der Bewegungseindruck. \u2014 \u00c4hnliches gilt von dem Wellenph\u00e4nomen (\u00a7 20 s) ; hier bedarf es eines nicht homogenen Gegenstandes in der homogenen Wassermasse, um zu erkennen, dafs die Fortpflanzungsrichtung der Gesamtbewegung nicht mit der Bewegungsrichtung jedes Einzelteilchens identisch ist. \u2014 Denken wir uns ferner in Figur 1 nicht nur die Linie A A bewegt, sondern auch den Schirm, und zwar letzteren in der Richtung von oben nach unten, so liegen die der Reihe nach sichtbaren Linienteile auf einer nach unten offenen Kurve. Diese Kurve ist bestimmend f\u00fcr den Nachbildstreif und somit f\u00fcr die scheinbare Bewegungsrichtung. Daher entsteht bei Verschiebung zweier in sich homogener Objekte jene Scheinbewegung, deren Verlauf durch die Kurve der scheinbaren Durchschnittspunkte bestimmt ist. (\u00a7 20 \u00f6.)\n\u00a7 46. Einige wichtige Thatsachen ergeben sich noch dadurch, dafs vermittelst der Nachbilder verschiedene Phasen einer Bewegung thats\u00e4chlich gleichzeitig gesehen werden. Hierdurch wird es z. B. erkl\u00e4rlich, dafs bildende K\u00fcnstler in der Darstellung organischer Bewegungen objektiv ungleichzeitige Stadien vereinigen und dafs uns der Eindruck dieser in Wirklichkeit ganz unm\u00f6glichen Stellung h\u00f6chst nat\u00fcrlich erscheint: die Phasen sind successiv, aber wir sehen sie simultan, weil von der einen noch das Nachbild in betr\u00e4chtlicher St\u00e4rke vorhanden ist, wenn von der anderen der frische Eindruck erfolgt. Erst die Momentphotographie mufs uns von der objektiven Falschheit unserer Anschauung \u00fcberzeugen. \u2014 In der einfachsten Form haben wir diese Erscheinung bei der T\u00e4uschung, die\n1 W\u00e4hrt die Beobachtung l\u00e4ngere Zeit, so kann ganz dieselbe T\u00e4uschung durch Phasenvergleichung herbeigef\u00fchrt werden.","page":368},{"file":"p0369.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n369\ndurch die Verschiebung eines rotierenden Rades gegen ein Gitter entsteht. Wie schon im \u00a7 20 \u00f4 ausgef\u00fchrt, haben hier die Speichen scheinbar die Form derjenigen Kurven, die durch die successiven Durchschnittspunkte jeder Speiche mit einem Gitterstab sich bilden. Auch diese successive Reihe wird durch Nachbilder f\u00fcr uns vollkommen simultan. \u2014 Endlich f\u00e4llt hier auch Licht auf jene eigent\u00fcmliche Thatsache (\u00a79), dafs Wahrnehmungen von Bewegungen innerhalb einer k\u00fcrzeren Zeit m\u00f6glich sind, als zur Auffassung einer Ungleichzeitigkeit geh\u00f6rt. Zum Zustandekommen des Nachbildstreifens geh\u00f6rt eben nur objektive Ungleichzeitigkeit, nicht deren Wahrnehmung; sobald jene nur bewirkt, dafs der subjektiv simultane Eindruck in seinen verschiedenen Teilen verschiedene Intensit\u00e4t hat, findet dessen Deutung auf Bewegung statt.\nWelche Rolle der Nachbildstreifen spielt, wenn er in einer Reihe von Zeitmomenten beobachtet wird, findet sp\u00e4ter (\u00a751) seine Er\u00f6rterung.\nc) Die Augenbewegung.\n\u00a747. Das Verfolgen des bewegten Objektes mit den Augen ist derjenige Akt, mittelst dessen wir am h\u00e4ufigsten Bewegungen beobachten. Man glaubte, den psychischen Gehalt dieses Aktes ersch\u00f6pft zu haben, wenn man jene Muskelempfindungen in Betracht zog, welche die Kontraktion der Bulbusmuskeln begleiten. Diesen Muskelgef\u00fchlen schrieb man eine fundamentale Bedeutung f\u00fcr das gesamte Bewegungssehen zu. Stricker1 wollte sogar alle Bewegungsvorstellungen daraut zur\u00fcckf\u00fchren. Alledem kann ich nicht zustimmen. Der Wahrnehmungsakt von Aufsenbewegungen, wie er sich an Augapfelbewegungen anschliefst, ist ein h\u00f6chst komplizierter, in den zwar die Muskelsensationen als Moment eingehen, doch nicht als das fundamentalste, geschweige denn als einzigstes. Jener Wahmehmungsakt bedarf daher dringend der Analyse, die ich im folgenden zu geben versuche.\nDie Annahme, dafs die Muskelempfindung allein eine objektive Bewegung sinnlich \u00fcbermitteln k\u00f6nne, schliefst stillschweigend eine weitere in sich ein, n\u00e4mlich, dafs in anderer, insbesonders optischer, Beziehung der Eindruck Konstanz und\n1 Stricker, Studien \u00fcber die Bewegungsvorstellungen. Wien 1882. Zeitschrift f\u00fcr Psychologie VII.\t24","page":369},{"file":"p0370.txt","language":"de","ocr_de":"370\nL. William Stern.\nRuhe zeige, da ja das Bild des bewegten und betrachteten Objektes stets an dieselbe Stelle des Auges falle. Der Gesichts-eindruck an sich also k\u00f6nne hier nimmermehr objektive Bewegung verraten. Dies entspricht in dreifacher Beziehung nicht dem Thatbestande :\nErstens: In dem Augenblicke, in welchem das Objekt seine Bewegung anf\u00e4ngt, ist, abgesehen von verschwindend wenig Zuf\u00e4llen, das Auge nicht in einer solchen Bewegung, dafs es schon mit dem Objekte mitgeht. Vielmehr ist es meist in gar keiner oder in einer beliebig anderen Bewegung begrilfen. Dies bedeutet, dafs sich das Bild \u00fcber die Retina schiebt, d. h. dafs es eine neue Reizung aus\u00fcbt, bezw. einen Nachbildstreifen erzeugt. Erst in diesem Augenblicke, also nachdem eines der beiden anderen Prinzipien gewirkt hat, wendet sich das Auge dem Objekte zu und beginnt nun mitzugehen. Das Auge wird zum Verfolgen eines Objektes erst veranlafst, nachdem es aut eine andere Weise Kenntnis erhalten hat, dafs sich etwas im Gesichtsfelde bewegt.\nZweitens: W\u00e4hrend des Polgens selbst ist nun der optische Eindruck durchaus nicht der der Ruhe. Nur ein Teil des Gesichtsfeldes bewahrt eine wenigstens ann\u00e4hernde Konstanz, n\u00e4mlich derjenige, der vom bewegten Objekte angef\u00fcllt ist. Nun aber befinden sich neben dem bewegten Objekte stets auch Gegenst\u00e4nde im Gesichtsfelde, die objektiv in Ruhe sind. An diesen streift das bewegte Auge vorbei, sie entsenden ihr Bild nach immer wechselnden Teilen der Netzhaut, d. h. sie wirken genau so, wie bei ruhendem Auge bewegte Objekte. Der optische Eindruck unterscheidet sich somit durchaus nicht prinzipiell von dem Bewegungseindrucke bei fixiertem Auge.\nDrittens: Aber selbst f\u00fcr das bewegte Objekt, welches wir dauernd mit dem Auge verfolgen, gilt der Charakter der Konstanz nur in sehr beschr\u00e4nktem Mafse. Was heifst denn: einen Gegenstand mit dem Auge verfolgen ? Es bedeutet doch nicht, dafs etwas wie ein unsichtbares straffes Band zwischen beiden best\u00e4nde, durch welches das Auge einfach mitgezogen wird; vielmehr mufs sich das Auge selbst nach dem Objekte richten und einstellen, und zwar jeden Moment von neuem. Die Bewegung des Auges ist hier durchaus keine ungest\u00f6rte, glatt ablaufende, etwa wie bei Ausmessung einer L\u00e4nge.","page":370},{"file":"p0371.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n371\nNachdem es begonnen hat, den bewegten Gegenstand zu fixieren, nimmt es eine gewisse Geschwindigkeit an, um ihm zu folgen. Diese Geschwindigkeit ist nicht von vornherein bekannt, man mufs sie ausproben ; d. h. dem Auge verschiedene Geschwindigkeiten geben, bis der Gegenstand immer an derselben Stelle das Bild erzeugt. Ehe diese Geschwindigkeit gefunden, hat sich das Bild fortw\u00e4hrend auf der Netzhaut verschoben. \u2014 Aber nehmen wir an, dafs dieser Prozefs sehr schnell vor sich geht, also dafs das Auge nach verschwindend kleiner Zeit eine Geschwindigkeit erlangt hat, die der des Objektes entspricht, so ist auch jetzt noch nicht der fernere Verlauf der Augapfelbewegung ein glatter. Bei der gegenw\u00e4rtigen Schnelligkeit und Richtung der Augenbewegung wird das Bild des Objektes nur so lange dauernd dieselbe Stelle der Netzhaut treffen, als die Winkelgeschwindigkeit des Objektes zum Auge die gleiche bleibt. Dies aber ist fast bei keiner Bewegung auch nur w\u00e4hrend kleiner Bruchteile einer Sekunde der Fall. Selbst die einfachsten Bewegungsvorg\u00e4nge, geradlinige , gleichf\u00f6rmige, \u00e4ndern fortw\u00e4hrend ihre Winkelgeschwindigkeit. Das Auge kann diese fortw\u00e4hrenden \u00c4nderungen vorher nicht kennen, vor allem nicht in ihrer Gr\u00f6fse ermessen; und so wird denn in einem fort das Bild die eben gereizte Netzhautstelle verlassen, und es wird diese Verschiebung durch die fr\u00fcher erw\u00e4hnten Prinzipien bemerkt werden. Ebenso oft mufs sich das Auge auf das Objekt wieder einstellen, \u25a0bald eine zu schnell gemachte Bewegung wieder zur\u00fcckmachen, bald das vorausgeeilte Objekt gewissermafsen wieder einholen, bald eine andere Richtung annehmen.\n\u00a7 48. Wir k\u00f6nnen also sagen:\nWenn wir einen bewegten Gegenstand mit den Augen verfolgen, so erzeugt dies keine gleichm\u00e4fsig fortdauernde, stetig sich \u00e4ndernde Muskelkontraktion und demgem\u00e4fs keine einigermafsen einheitliche Empfindung, etwa wie bei Augen-mafsversuchen; vielmehr besteht der Vorgang aus einer Unzahl von einzelnen kleinen Rucken, die durch fortw\u00e4hrende Willensimpulse geregelt werden. Der optische Eindruck ist nicht der einer dauernden Konstanz, sondern wird fortw\u00e4hrend in seiner Gleichm\u00e4fsigkeit unterbrochen durch Verschiebungen des Bildes, d. h. durch neue Reizungen und Nachbildstreifchen.\nSomit hat der Eindruck von der Bewegung eines Objektes\n24*","page":371},{"file":"p0372.txt","language":"de","ocr_de":"372\nL. William Stern.\ndas wir mit den Augen verfolgen, zu seinen Konstituenten folgende psychischen Vorg\u00e4nge:\n1.\tDie Wahrnehmung von Nachbildstreifen der ruhenden Objekte in der Umgebung des bewegten.\n2.\tDie Wahrnehmung eines optischen Bildes des bewegten Objektes, das im allgemeinen konstant ist, aber fortw\u00e4hrend kleine Verschiebungen erleidet.\n3.\tDie Wahrnehmung mannigfaltiger Augenmuskelempfindungen, die mit den verschiedenen Kucken sich verbinden.\n4.\tDas Bewufstsein von den fortw\u00e4hrenden Willensimpulsen, die die Bewegung des Auges regulieren.\n\u00a7 49. Zu 2, 3 und 4 seien noch einige Bemerkungen gestattet. \u2014 Ad 2. Die Verschiebungen des fixierten Objektes k\u00f6nnen bei langsamer Bewegung desselben durch Phasenvergleichung bemerkt werden, bei schnellerer durch momentan wahrnehmbare Nachbildstreifen und Ver\u00e4nderungen des Reizungszustandes. Wir geben uns zwar nicht im einzelnen Rechenschaft von jeder dieser kleinen Abweichungen, dennoch sind sie deutlich genug, um den Willen fortw\u00e4hrend anzuspannen, sie wieder aufzuheben. Sind die Umst\u00e4nde zur Erzeugung von Nachbildern recht geeignet, so k\u00f6nnen die Nachbildstreifen vorz\u00fcglich beobachtet werden. Denn nichts anderes als solche sind die sogenannten \u201eflatternden Herzen\u201c, denen unter anderem Szili 1 eine Reihe von Experimenten gewidmet hat. Wenn er auf farbigem Grunde eine sich scharf davon abhebende Marke befestigte und dann das Ganze hin und her bewegte, so schien \u00fcber der Marke ein Schatten zu schweben, der sich nicht mit derselben v\u00f6llig deckte und daher wie losgel\u00f6st erschien. Der Schatten ist nichts als das Nachbild, welches zur\u00fcckbleibt, weil das Auge nicht genau die Bewegungen des Objektes mitmachen kann, sondern immer etwas hinterdreinhinkt.\nAd 3. Jenen zahlreichen kleinen Muskelrucken wird natur-gem\u00e4fs eine Zahl verschiedenartiger Muskelempfindungen parallel gehen, und es ist sicher, dafs auch diese Muskelempfindungen viel beitragen zu dem eigent\u00fcmlichen Bewegungseindrucke. Bestritten soll nur werden, dafs sie das Fundamentale desselben\n1 Szili, Arch. f. Physiol. 1891. S. 157. Diese Zeitschrift. Bd. HL S. 358.","page":372},{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n373\nbezeichnen. Nehmen wir einmal an, es gebe auch im Muskelsinne eine \u201e\u00dcbergangsempfindung\u201c, d. h. eine spezifische Empfindung, die nicht durch eine bestimmte Muskelkontraktion, sondern durch den \u00dcbergang aus einem Kontraktionszustande in einen anderen erzeugt wird, so w\u00fcrde dieselbe hier dennoch zwecklos sein, da, wie oben bewiesen, der stetigen Bewegung des Objektes gar nicht eine stetig fortschreitende Muskelkontraktion entsprechen kann. Ja, aus der Annahme jener F\u00e4higkeit des Menschen, Kontraktions ander ungen momentan wahrzunehmen, m\u00fcfste man folgern, dafs dann der gesamte Bewegungseindruck den ruckweisen Charakter erhalte, den jene Kontraktions\u00e4nderungen haben. Die Thatsache, dafs dies nicht der Fall ist, st\u00fctzt die Goldscheid Kitsche Hypothese, dafs die Augenmuskeln lediglich sogenannte \u201eLageempfindungen\u201c haben, die also nicht durch Kontraktions\u00e4nderungen, sondern durch Kontraktionszust\u00e4nde hervorgerufen werden. Somit w\u00e4re die Muskelempfindung nicht im st\u00e4nde, momentan den Bewegungseindruck zu erwecken, sondern nur, ihn aus mehreren Empfindungsmomenten zu erschliefsen ; ihr Beitrag zur Bewegungswahrnehmung besteht also darin, dafs auf sie das schon mehrfach erw\u00e4hnte Prinzip der muskul\u00e4ren Phasenvergleichung angewandt wird, auf das wir noch einmal zur\u00fcckkommen werden.\n\u00a7 50. Ad 4. Dagegen sind neben den rein optischen Eindr\u00fccken die Willensimpulse f\u00fcr den momentanen Eindruck der Bewegung h\u00f6chst wichtig. Dieses fortw\u00e4hrende Begulieren und Neueinstellen, dieses Auf-der-Lauer-liegen, dafs einem der Gegenstand nicht entwische, das dadurch bedingte intensive Anspannen der Aufmerksamkeit (deren Nachlassen sich sofort durch eine gr\u00f6fsere Verschiebung des fixierten Objektes r\u00e4cht), dies alles erzeugt einen ganz charakteristischen psychischen Zustand, der uns in jedem Augenblicke lehrt, dafs der Gegenstand, mit dem wir dieses Haschespiel treiben m\u00fcssen, sich bewege. Hier also bringen die Augenbewegungen ein neues Deutungsprinzip zur Wirksamkeit, das ich als das \u201e Prinzip der Willensimpulse\u201c bezeichnen m\u00f6chte.\nAuch in anderen Thatsachen dokumentiert sich die Wichtigkeit der Willensimpulse f\u00fcr die Bewegungswahrnehmung. Hier ist erstens die Bewegungst\u00e4uschung bei Augenmuskell\u00e4hmungen (\u00a7 19 y) zu erw\u00e4hnen. Bei solchen haben wir keine","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"374\nL. William Stern.\nMuskelempfindungen, auch, keine Verschiebungen des Bildes, sondern nur den Impuls, der den Muskel innervieren will; dieser gen\u00fcgt, ohne dafs er wirkt, die Meinung hervorzurufen, das Auge bewege sich und mit ihm nat\u00fcrlich die gleichbleibenden Gegenst\u00e4nde. \u2014 Hierher geh\u00f6rt zweitens das Verschwinden von Nachbildern bei Augenbewegungen, auf das Exner 1 aufmerksam macht. Obgleich, oder (wie Exner richtig sagt) weil die Nachbilder immer mit dem Auge vollkommen mitgehen, haben wir nicht nur keinen Bewegungseindruck, sondern \u00fcberhaupt keinen Eindruck, w\u00e4hrend doch sonst die Bewegung gerade geeignet ist, auf nicht gesehene Gegenst\u00e4nde die Aufmerksamkeit zu lenken. Hier haben wir Muskelempfindungen, aber keine Nachbildstreifen und vor allem keine regulierenden Willensimpulse, wie auch das Auge immer wandern m\u00f6ge, ganz beliebig, der Eindruck geht immer mit und wird darum vernachl\u00e4ssigt. \u2014 Drittens finden hier Trugbewegungen ihre Erkl\u00e4rung, bei denen ein objektiv ruhender, fixierter Gegenstand nach l\u00e4ngerer Zeit der Fixation lebhafte Bewegungen zu machen scheint (\u00a7 19 a). Bei l\u00e4ngerem Fixieren eines Gegenstandes ist es n\u00e4mlich nicht zu vermeiden, dafs kleine Abweichungen von der Fixation Vorkommen, sei es durch leise, unwillk\u00fcrliche Bewegungen des Nackens oder Kopfes, sei es durch solche des Augapfels. Man k\u00f6nnte nun glauben, dafs die Muskelempfindungen, welche mit diesen Eigenbewegungen verbunden sind, den Bewegungseindruck hervor-rufen. Allein hiergegen spricht zweierlei: Vorerst ist es unwahrscheinlich, dafs diese schwachen K\u00f6rperbewegungen, die zum Teil sogar unter der Empfindungsschwelle liegen, den Eindruck einer so intensiven \u00e4ufseren Bewegung, wie sie bei jenen T\u00e4uschungen oft aufzutreten scheint, zu erzeugen verm\u00f6gen. Ferner aber w\u00fcrde die Bewegungswahrnehmung, wenn jenes ihr Ursprung w\u00e4re, verbunden sein mit einer betr\u00e4chtlichen und bleibenden Verschiebung des Bildes auf der Netzhaut. Das Merkw\u00fcrdige bei den Trugbewegungen ist aber, dafs das bewegt erscheinende Objekt vom Auge verfolgt zu werden scheint, also sein Bild nach derselben Stelle der Netzhaut entsendet. Dies ist nur so zu erkl\u00e4ren, dafs jene unwillk\u00fcrlichen Bewegungen des Rumpfes, Kopfes oder Augapfels\n1 Exner, Diese Zeitsehr. Bd. I. S. 47 ff.","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges. 375\nunbewufst bleiben, dafs wir aber, da wir dauernd fixieren wollen, die durch jene K\u00f6rperbewegungen bewirkten kleinen Abweichungen vom Fixationspunkte fortw\u00e4hrend korrigieren m\u00fcssen.1 Und diese korrigierende Th\u00e4tigkeit, diese von Willensimpulsen geregelte Augenbewegung, durchaus \u00e4hnlich jenem oben geschilderten Haschespiel, das wir treiben, wenn wir ein bewegtes Objekt mit den Augen verfolgen, diese 1 h\u00e4tigkeit ist es, welche die Trugbewegungen erzeugt.\n3. Zusammenwirken der Prinzipien und ihre Anwendung auf einige Einzelheiten.\na) Zusammenwirken der Prinzipien.\n\u00a7 51. \u00dcberblicken wir die Ergebnisse unserer Analyse, so zeigt sich, dafs es f\u00fcnf seelische Thatsachen sind, welche die 'Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges erm\u00f6glichen. Drei derselben bewirken einen momentanen Bewegungseindruck, zwei bed\u00fcrfen einer Mehrheit von Empfindungsmomenten. Diese Seelen Vorg\u00e4nge (welche zu Prinzipien der Bewegungsdeutung geworden sind), bestehen nun nicht isoliert nebeneinander, sondern wirken in den mannigfachsten Kombinationen zusammen. Das einfachste Prinzip ist das der ver\u00e4nderten Heizung, das unter Umst\u00e4nden schon allein eine Bewegungsauffassung herbeif\u00fchren kann. Seine Aufgabe besteht im wesentlichen darin, Bewegungen, die ins Gresichts-feld eintreten, zu signalisieren und die Aufmerksamkeit auf sie zu lenken, worauf es den \u00fcbrigen Wahrnehmungsarten die genauere Beobachtung \u00fcberl\u00e4fst. \u2014 Der Nachbildstreifen, welcher sich wohl nie ohne das eben genannte Prinzip findet, bezeichnet die wesentliche Bedingung f\u00fcr den momentanen Bewegungs-\n1 Auch Charpentier (Comptes rendus [Paris] CH. S. 1155. [1886]) fand; dafs das scheinbar sich bewegende Objekt stets mit derselben Netzhautstelle gesehen wurde, schlofs aber daraus f\u00e4lschlich, dafs das Auge in der That absolut unbewegt war, und dafs lediglich die Vorstellung der Bewegung die T\u00e4uschung bewirke. Mir scheint indes eine absolute Fixation ebenso undenkbar, wie eine solche Wirkung einer Vorstellung. Das Bild ist nicht stets auf derselben Netzhautstelle, aber wir suchen es fortw\u00e4hrend dort zu erhalten, bezw. sobald es sich zu verschieben beginnt, wieder dorthin zu bringen.","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":"376\nL. William Stern.\neindruok bei ruhendem Auge ; die gleiche Rolle bei bewegtem Auge spielen die Willensimpulse', dieselben treten niemals isoliert, sondern stets begleitet von beiden ersteren, in Wirksamkeit. \u2014 Dauert die Beobachtung l\u00e4nger als einen Empfindungsmoment, was wohl meistens der Pall ist, so greift das h\u00f6chst wichtige Prinzip der Phasenvergleichung Platz. Dieselbeist entweder optisch, wenn verschiedene Gesichtsempfindungen, oder muskul\u00e4r, wenn verschiedene Muskelempfindungen des Augapfels miteinander verglichen werden. Dort wird die Bewegung daraus erschlossen, dafs ein gewisses Bild auf der Netzhaut, hier daraus, dafs der Augapfel in der Augenh\u00f6hle eine andere Stellung einnimmt. \u2014 Die optische Phasenvergleichung tritt isoliert ohne Mitwirkung eines anderen Prinzips nur bei sehr langsamen Bewegungen auf (z. B. bei der des Stundenzeigers der Uhr); hat die Bewegung eine mittlere oder gr\u00f6fsere Geschwindigkeit, so sind die einzelnen Empfindungsmomente an sich schon Bewegungseindr\u00fccke, n\u00e4mlich Nachbildstreifen, und auf diese wird dann bei l\u00e4ngerer Beobachtung die Phasen Vergleichung angewandt. Der fr\u00fchere, nur als Erinnerungsbild noch bestehende Nachbildstreifen wird f\u00fcr \u00fcbereinstimmend befunden mit dem neuen und demnach als Repr\u00e4sentant derselben Bewegung, nur in einem anderen Raumteile, angesehen. Ja noch mehr: diese Vergleichung der Teilbewegungen f\u00fchrt auch zur Wahrnehmung der Bes chleuni-gung und Verz\u00f6gerung, indem der k\u00fcrzere und deutlichere Streif anzeigt, dafs dort die Bewegung langsamer gewesen ist. \u2014 Und noch in einer Beziehung wirken, wenn die Beobachtung mehrere Momente lang w\u00e4hrt, Phasenvergleichung mit Nachbildstreifen zusammen: Da Nachbilder vom Beginn ihres Entstehens an sich dauernd abschw\u00e4chen, so wird es fortw\u00e4hrend sich ereignen, dafs Nachbilder, die noch eben ganz schwach vorhanden waren, im n\u00e4chsten Augenblicke erloschen sind. Werden diese einzelnen Momente miteinander durch Phasenvergleichung kombiniert, so scheint sich der Nachbildstreit dauernd zu verk\u00fcrzen, gleichsam in sich selbst hineinzukriechen. Das tritt am reinsten auf von dem Augenblicke an, da die Bewegung auf h\u00f6rt, der Bildstreifen also vorn sich nicht mehr ver\u00e4ndert. Diese Verk\u00fcrzung des Nachbildstreifens habe ich deutlich beobachtet, wenn ich am fixierten Auge rasch eine Kerzenflamme vorbeif\u00fchrte und dann das Auge schlofs. \u2014","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n377\nInwiefern diese Erscheinung beitr\u00e4gt zur Erzeugung der Nachbewegungen, wird sp\u00e4ter (\u00a7 57) er\u00f6rtert werden.\n\u00a7 52. Von den beiden Arten der Phasenvergleichung ist die muskul\u00e4re die weitaus wichtigere; denn bei nicht sehr langsamen Bewegungen bedienen wir uns in den h\u00e4ufigsten F\u00e4llen des H\u00fclfsmittels, mit den Augen zu folgen, da wir dann den Gegenstand l\u00e4ngere Zeit und mit gr\u00f6fserer Genauigkeit wahrnehmen; sein Bild hat nahezu die Konstanz eines ruhenden Objektes. Hier haben wir also ein Zusammenwirken s\u00e4mtlicher Prinzipien. Dafs Nachbildstreifen vorhanden sind, wurde schon oben (\u00a7 47) nachgewiesen, mit ihnen die ver\u00e4nderte Reizung. Ferner treten in jedem Moment regulierende 'Willensimpulse auf, endlich auch eine grofse Zahl von Lageempfindungen in den Augenmuskeln, welche uns fortw\u00e4hrend davon 'Kenntnis geben, dafs die Stellung des Augapfels eine andere geworden ist. Dieses System von Lageempfindungen mag ziemlich fein ausgebildet sein, und somit kann der durch sie vermittelte Bewegungseindruck eine grofse Vollkommenheit besitzen. \u2014 Muskul\u00e4re Phasenvergleichung macht uns \u00fcbrigens nicht nur f\u00e4hig, seitliche Bewegungen wahrzunehmen, sondern auch Bewegungen in der zur Verbindungslinie unserer Augen senkrechten Richtung. Entfernt sich ein Gegenstand vom Auge, so bedarf es zu- seiner stetigen Fixierung einer fortw\u00e4hrend wechselnden Konvergenz; und auch von der Grofse dieser Konvergenz geben uns die Lageempfindungen der Augenmuskeln in jedem Moment Kunde. Verbunden hiermit ist allerdings stets eine allm\u00e4hliche Verkleinerung des Bildes und daher auch ein optischer Bewegungseindruck.\nWir haben zum Schlufs noch einige Einzelerscheinungen zu er\u00f6rtern und der Theorie einzuf\u00fcgen, zu deren Zustandekommen mehrere Prinzipien der Bewegungswahrnehmung Zusammenwirken und die deswegen nicht unter den bisherigen Rubriken Besprechung finden konnten.\nb) Die Umkehrbarkeit des optischen Bewegungseindruckes und die Relativit\u00e4t der gesehenen Bewegungen.\n\u00a7 53. Der rein optische Bewegungseindruck, also der durch ver\u00e4nderte Reizung, Nachbildstreifen und optische Phasenvergleichung vermittelte, bestimmt nicht eindeutig, welches","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378\nL. William Stern.\nder im Gesichtsfelde befindlichen Objekte seinen Ort gegen die Person des Beobachters wechselt. Dies w\u00fcrde der Pall sein, wenn das Ange unbeweglich w\u00e4re. Dann m\u00fcfsten wir stets dasjenige Objekt f\u00fcr das bewegte halten, an welchem jene Erscheinungen auftreten. Nun sind wir aber durch Augenbewegungen im st\u00e4nde, den Eindruck umzukehren; wir verm\u00f6gen von dem Gegenst\u00e4nde, der noch eben nur im verschwommenen Nachbildstreifen sichtbar war, einen konstanten Eindruck hervorzurufen (indem wir ihn mit dem Auge verfolgen), und andererseits von den vorher konstant scheinenden Bildern in der Umgebung jenes Objektes nunmehr den charakteristischen Bewegungseindruck zu erlangen (da wir nun das Auge daran vorbeistreichen lassen). \u2014 Diese Umkehrbarkeit des Bewegungseindruckes ist eine h\u00f6chst wichtige Thatsache. Zun\u00e4chst ist sie eine bedeutende St\u00fctze der Vorstellung von der Relativit\u00e4t der Bewegungen. Zeigt sie doch, dafs das Charakteristikum der Bewegung nur darin liege, dafs ein Objekt im Vergleich zu einem anderen seinen Ort gewechselt habe, wobei beliebig das eine oder andere als scheinbar ruhendes Vergleichsobjekt gew\u00e4hlt werden kann. Die optisch wahrgenommene Bewegung ist immer nur Verschiebung zweier Gegenst\u00e4nde gegeneinander.\n\u00a7 54. Wenn aber der optische Bewegungseindruck als solcher nichts dar\u00fcber auszusagen vermag, welcher Gegenstand der objektiv (d. h. gegen die beobachtende Person) bewegte Gegenstand sei, woher erfahren wir das sonst? Um diese Bewegungsrelation zu erschliefsen, bedarf es zweier ganz andersartiger Momente: dies sind die Empfindungen von Zust\u00e4nden und Vorg\u00e4ngen im eigenen K\u00f6rper einerseits und die Kenntnis von der Beschaffenheit des beobachteten Objektes andererseits. \u2014- Wird das Auge bewegt durch Rumpf-, Hals-oder Augapfelmotionen, so ist das konstant bleibende Bild das eines objektiv bewegten Gegenstandes. Hieraus ergiebt sich zun\u00e4chst, dafs wir stets, sobald wir das Bewufstsein von Augenbewegungen haben, das konstante Objekt f\u00fcr bewegt an-sehen werden. \u2014 Aber dieses Bewufstsein fehlt gar oft. Das Auge macht fortw\u00e4hrend unz\u00e4hlige kleine Bewegungen, von denen wir keine Ahnung haben; durch geringe, ebenfalls unbewufst bleibende Schwankungen des Kopfes kann es sehr bedeutende passive Bewegungen erleiden; jed\u00e9r Lidschlag","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n379\nvermag die Lage dieses beweglichen Organes zu ver\u00e4ndern. Wenn wir uns also auch keiner Augenbewegung bewufst sind, so ist dies durchaus noch kein Zeichen daf\u00fcr, dafs keine gemacht worden sind. Somit d\u00fcrfen wir obigen Satz nicht umkehren, wir sind nicht berechtigt, zu sagen: wenn wir das Bewufstsein von Augenbewegungen nicht haben, sehen wir das konstant erscheinende Objekt f\u00fcr ruhend an. Hier mufs uns unsere Kenntnis von der Beschaffenheit der gesehenen Gegenst\u00e4nde zu H\u00fclfe kommen. Haben wir aus anderweitigen Erfahrungen die Gewifsheit, dafs eines der sich gegeneinander verschiebenden Objekte nicht in Wirklichkeit bewegt sein kann, so mufs es das andere sein. \u2014 Hierauf beruht die T\u00e4uschung der Wandeldekoration. Wir wissen, dafs H\u00e4user im allgemeinen nicht transportabel sind, ebensowenig halten wir ganze Waldungen etc. f\u00fcr lebendig. Sehen wir also ein Haus, einen Wald sich gegen einen Menschen verschieben, so ist der Eindruck leicht zu erwecken, dafs der Mensch sich fortbewegt und das Haus stillsteht ; selbst ziemlich starke Augenbewegungen k\u00f6nnen hier unbeachtet bleiben, immerhin werden sie die Nat\u00fcrlichkeit des Eindruckes beeintr\u00e4chtigen. \u2014 In vielen F\u00e4llen ist die Gr\u00f6fse der Objekte daf\u00fcr mafsgebend, welches wir f\u00fcr bewegt halten. Lehren uns doch tausendf\u00e4ltige Erfahrungen, dafs die grofsen Dinge fest, die kleineren beweglich sind. Diese Erfahrung wird verallgemeinert, wird auch dort angewandt, wo sie nicht berechtigt ist, und so glauben wir denn den Mond mit Windeseile durch die Wolken dahinfliegen zu sehen. Insbesondere \u00fcbersehen wir sehr leicht Bewegungen solcher Objekte, die den weitaus gr\u00f6fsten Teil unseres Gesichtsfeldes ausf\u00fcllen, und \u00fcbertragen dann f\u00e4lschlich die Verschiebung auf die in Wirklichkeit ruhenden Gegenst\u00e4nde. Daher scheint sich die Plattform der Sternwarte zu drehen, nicht das Kuppeldach, und scheint der Landungssteg, auf dem wir stehen, hinauszuschwimmen in die unendliche See. (\u00a7 21.)\nSind die Proportionen der Objekte nicht so* verschiedenartig, so kann es wohl auch Vorkommen, dafs wir jedes der beiden sich gegeneinander verschiebenden Objekte gleichm\u00e4fsig an der Bewegung aktiv Anteil nehmen lassen; so sehen wir neben dem Wasserfall die Felsen aufw\u00e4rts steigen; und so kann das Fortspreizen eines Fingers von dem anderen auch auf diesen in entgegengetztem Sinne mit \u00fcbertragen werden.","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380\nL. William Stern.\nAuf diese \u201cWeise finden hier die gesamten Bewegungst\u00e4uschungen, welche ich als \u201e\u00fcbertragene Bewegungen\u201c bezeichnet hatte, ihre Erkl\u00e4rung. (\u00a7 21.)\nc) Die Geschwindigkeit der gesehenen Bewegung.\n\u00a7 55. Bei ruhendem Auge wird die Geschwindigkeit des bewegten Objektes beurteilt entweder aus der L\u00e4nge und Deutlichkeit des Nachbildstreifens oder durch optische Phasenvergleichung.\nBei mitgehendem Auge \u00fcbernimmt vor allem die muskul\u00e4re Phasenvergleichung die Auffassung der Geschwindigkeit. Je k\u00fcrzer die Zeit ist, die zwischen zwei unterscheidbaren Lagen des Augapfels wahrgenommen wird, um so gr\u00f6fser die Geschwindigkeit des fixierten Gegenstandes. Nun kann aber das Mitgehen der Augen auch auf andere Weise erfolgen und erfolgt auch meistens so : nicht nur der Augapfel, sondern auch Kopf und Dumpf f\u00fchren Bewegungen aus. Alle diese zusammenwirkenden K\u00f6rperbewegungen sind schwer in ihrer Tragweite abzusch\u00e4tzen, manche von ihnen fallen einfach unter die Schwelle der Empfindlichkeit, und die Augapfeibewegungen, welche uns noch am besten einen Mafsstab der durchlaufenen Strecke geben k\u00f6nnten, werden dadurch jedenfalls verringert. Dies ist ein Grund, warum wir Bewegungen, die wir mit dem Auge verfolgen, in ihrer Geschwindigkeit untersch\u00e4tzen, verglichen mit Bewegungen, welche wir bei ruhendem Auge wahrnehmen (\u00a78). Hierzu kommt als weiterer Grund, dafs der Mensch nicht gewohnt ist, Blickfeld und Sehfeld scharf zu sondern; er beurteilt die Geschwindigkeit der Bewegung danach, wielange sie sichtbar bleibt, und der l\u00e4ngeren Sichtbarkeit bei bewegtem Auge entspricht dann der Eindruck der geringeren Geschwindigkeit. Und noch ein dritter Faktor ist zu beachten. Bei mitgehendem Auge verh\u00e4lt sich die in Wirklichkeit ruhende Umgebung des fixierten Objektes, da sie sich \u00fcber die* Retina verschiebt, genau so, wie das bewegte Objekt selbst bei ruhendem Auge, und wird auch ebenso in ihrer Geschwindigkeit beurteilt. Da wir nun aber wissen, dafs jene Umgebung in Wirklichkeit ruht, so m\u00fcssen wir, sollte man denken, die beurteilte Geschwindigkeit in gleicher Gr\u00f6fse, nur in entgegengesetzter B.ichtung, dem vom Auge verfolgten, bewegten Gegenstand zuerteilen. Dies ist aber nicht der Fall.","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n381\nWir sind nur zu sehr geneigt, bei einer Verschiebung zweier Objekte gegeneinander eine Beteiligung beider uns vorzustellen und namentlich solchen Gegenst\u00e4nden einen Anteil an der Verschiebung einzur\u00e4umen, die Bewegungsph\u00e4nomene an sich aufweisen. Daher wird die beurteilte Geschwindigkeit nicht ganz und gar dem fixierten Objekte zugeschrieben, sondern zum Teil seiner Umgebung und somit die wirkliche Geschwindigkeit untersch\u00e4tzt.1\nDie fortw\u00e4hrenden Willensimpulse, welche das Nachfolgen des Auges regulieren, sind weniger geeignet, uns von der absoluten Geschwindigkeit als von Geschwindigkeits- und Bichtungs-\u00e4nderungen Kenntnis zu geben. Bei ruhendem Auge wird Geschwindigkeits\u00e4nderung wahrgenommen durch Vergleichung verschiedener Nachbildreihen, da die deutlichere ja der geringen Geschwindigkeit entspricht.\n\u00a7 56. Auf die oben erw\u00e4hnte verschiedene Beurteilung der Geschwindigkeit bei ruhendem und nachfolgendem Auge f\u00fchrt Fleischl2 jene Erscheinung zur\u00fcck, dafs sich bei Eisenbahnfahrten die Gegend um den Fixationspunkt zu drehen scheint. Ich glaube, das Ph\u00e4nomen anders erkl\u00e4ren zu m\u00fcssen. \u2014 Bewegt sich eine Masse in allen ihren Teilen mit gleicher absoluter Geschwindigkeit, z. B. die Landschaft bei einer Eisenbahnfahrt, so haben die dem Auge n\u00e4chsten Punkte die gr\u00f6fste Winkelgeschwindigkeit, die entferntesten Punkte die kleinste. Jene w\u00fcrden bei ruhendem Auge auf der Netzhaut die weiteste, diese die geringste Verschiebung erleiden, in der Mitte w\u00fcrde die Verschiebung einen mittleren Wert haben. Verfolgen wir nun einen Punkt in der Mitte der Masse mit dem Auge, d. h. lassen wir hier die Verschiebung = 0 werden, so mufs die Verschiebung der entfernteren Punkte kleiner, d. h. negativ\n1\tWotdt (Physiol. Psychol. IV. Aufl. Bd. II. S. 158) f\u00fchrt die Untersch\u00e4tzung der Geschwindigkeit hei mitgehendem Auge darauf zur\u00fcck, dafs Augenbewegungen oft zur Ausmessung ruhender Gegenst\u00e4nde verwandt werden, daher die bei objektiven Ortsver\u00e4nderungen entstehenden Augapfelbewegungen leicht auf dieses Konto geschrieben werden k\u00f6nnen und so f\u00fcr die Sch\u00e4tzung der Geschwindigkeit verloren gehen. Da nun oben nachgewiesen, wie g\u00e4nzlich verschiedenartig die Augenbewegungen bei Augenmafsversuchen und die beim Fixieren bewegter Objekte sind, so erscheint mir die Bedeutung jenes Faktors einiger-mafsen zweifelhaft.\n2\tFleischl, Wiener Akademie-Berichte. Bd. LXXXVI. 3. Abt. S. 23.","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382\nL. William Stern-\nwerden; jene Punkte m\u00fcssen scheinbar zur\u00fcckweichen, die n\u00e4heren Gegenden m\u00fcssen eine positive Verschiebung gegen den Fixationspunkt erleiden, d. h. sie m\u00fcssen vorauseilen ; im ganzen : die Landschaft mufs um den fixierten Punkt scheinbar rotieren. Somit ist das Rotationsph\u00e4nomen keine Urteilst\u00e4uschung, sondern eine wirkliche Empfindung, welche mit Notwendigkeit durch die physikalisch-optischen Gesetze \u00fcber den Gesichtswinkel bedingt ist.\nd) Die Nachbewegungen.\n\u00a7 57. Die Auffassung, dafs alle jene Scheinbewegungen, die nach der \"Wahrnehmung einer Bewegung eintreten, auf unbewufsten Augenbewegungen beruhen (Stricker , Hoppe, Helmholtz), kann durch die in \u00a7 22a 1, 2 angef\u00fchrten That-sachen f\u00fcr widerlegt gelten. Da wir im st\u00e4nde sind, in den Nachbewegungen verschiedene Richtungen gleichzeitig zu erkennen, und da Nachbewegungen (gleichgerichtete, wie entgegengesetztgerichtete) sich stets nur auf diejenigen Netzhautstellen erstrecken, die von dem prim\u00e4ren Bewegungseindrucke getroffen worden waren, so haben wir es (wenigstens in den weitaus meisten F\u00e4llen) mit rein optischen Erscheinungen zu thun.\nDie gleichgerichteten Nachbewegungen sind, wie schon oben angedeutet, nichts anderes, als die bekannten Nachbildstreifen in voller Reinheit. Sowohl deren momentane Beschaffenheit (\u00a7 44), wie auch deren allm\u00e4hliches Zusammenschrumpfen in sich (\u00a7 51) erzeugt den Eindruck einer Bewegung in gleicher Richtung. Woher stammt nun aber die aufserordentlich kurze Dauer dieser gleichgerichteten Nachbewegungen? Da die sich bewegenden Objekte fortw\u00e4hrend am Auge vorbeiziehen, so wirken sie auf jedes Netzhautelement nur sehr kurze Zeit und werden sofort von andersartigen Eindr\u00fccken abgel\u00f6st. Dafs auch das Nachbild einer so transitorischen Einwirkung nur sehr schwach ist und schnell vergeht, ist nat\u00fcrlich. Die gleiche Ursache bewirkt auch, dafs ein l\u00e4ngeres Beobachten des sich bewegenden Objektes keinen Einflufs hat auf eine Verst\u00e4rkung der Nachbewegung. Denn die Reizung einer Netzhautstelle wird nicht, wie es bei ruhenden Objekten der Fall ist, durch l\u00e4ngere Beobachtung zu einer immer intensiveren gestaltet, sondern fortw\u00e4hrend wieder aufgehoben, das Bild nicht versch\u00e4rft,","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"Pie Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\t383\nsondern immer wieder verl\u00f6scht; daher haben bei noch so langer Beobachtung f\u00fcr die nachher auftretende Scheinbewegung nur die zu allerletzt dagewesenen Eindr\u00fccke Bedeutung; ja infolge der voraufgegangenen Erm\u00fcdung wird die Nachbewegung eher geschw\u00e4cht als verst\u00e4rkt.\n\u00a7 58. Durch die Thatsache des Vorhandenseins gleichgerichteter Nachbilder von Bewegungen findet jene Erkl\u00e4rung eine Best\u00e4tigung, die Wundt1 von den entgegengerichteten Nachbewegungen giebt. \u201eIndem ein schwaches Nachbild der gesehenen Bewegung im Auge zur\u00fcckbleibt, scheint ein fixiertes Objekt infolge der Relativit\u00e4t der Bewegungsvorstellungen in entgegengesetztem Sinne bewegt zu sein. Das Nachbild, in der Regel zu schwach, um selbst gesehen zu werden, gen\u00fcgt doch, um auf das Objekt die zu seiner eigenen entgegengesetzte Bewegung zu \u00fcbertragen.\u201c Wie bei einer Kaskade das dahinterliegende, durch den Wasserschleier durchschimmernde Gestein aufw\u00e4rts zu streben scheint, so legt sich hier das Nachbild der Bewegung (welches als solches stets gleichgerichtet ist) wie ein d\u00fcnner, durchsichtiger Schleier \u00fcber die neuen Gesichtseindr\u00fccke und bewirkt deren scheinbare Verschiebung nach der entgegengesetzten Seite.2\nHiermit scheint allerdings die Thatsache nicht \u00fcbereinzustimmen, dafs auch bei geschlossenen Augen, also wenn nach dem prim\u00e4ren Eindr\u00fccke kein Objekt mehr fixiert wurde, entgegengesetzte Nachbewegungen auftreten. Allein dann vertreten die entoptischen Erscheinungen die Stelle des \u00e4ufseren Objektes. Auf sie wird gleichsam das schon fast verschwindende Bewegungsnachbild projiziert, und nun findet hier dieselbe \u00dcbertragung statt. Daher sieht man auch bei geschlossenen Augen fast nie bestimmte Bilder die entgegengesetzte Richtung einschlagen, sondern man erblickt ein chaotisches Flimmern, das in seinem Durcheinander diese Richtung bevorzugt. Freilich treten zuweilen auch F\u00e4lle auf,\n1\tW. Wundt, Physiol. Psychologie. IV. Aufl. II. Bd. S. 162.\n2\tVerschiebt sich das Nachbild von konzentrisch sich bewegenden Kreisen (wie sie die Pr.ATEAUsche Spirale erzeugt) \u00fcber ein sich drehendes Bad, so hat hier das Nachbild genau den gleichen Einfluls, den sonst ein reales Gitter ausiibt (s. \u00a7\u00a7 20(1, 46), d. h. die Speichen des Bades scheinen gekr\u00fcmmt. Auf diese Weise ist wohl das von Kleiner geschilderte Ph\u00e4nomen (\u00a7 22\u00ab, 4) zu erkl\u00e4ren.","page":383},{"file":"p0384.txt","language":"de","ocr_de":"384\nL. William Stern.\nwo die Bilder derselben Objekte, die man vorher wirklich in Bewegung gesehen, nun nach Schliefsung der Augen die umgekehrte Bewegung zu machen scheinen; wir haben es dann wohl mit einer illusionsartigen Umformung jenes Lichtchaos zu thun, in das die Phantasie ja mit gr\u00f6bster Leichtigkeit alle m\u00f6glichen bekannten Formen hineinzudeuten vermag. Da bei st\u00e4rkerer Erm\u00fcdung des Auges die entoptischen Erscheinungen eine gr\u00f6fsere Lebhaftigkeit besitzen, so ist auch jenes Ergebnis meiner Beobachtungen erkl\u00e4rlich, dafs die entgegengesetzten Nachbewegungen bei geschlossenem Auge besonders dann auf-treten, wenn vorher der Eindruck l\u00e4ngere Zeit gew\u00e4hrt hatte.* 1\n\u00a7 59. Auch bei nicht fixiertem Auge hatte ich \u00f6fters schwache Nachbewegungen in gleicher B-ichtung bemerkt, bei denen aber dann die Bilder nicht verschwommen und verzerrt, sondern ganz klar erschienen. Hier haben wir es wohl mit Augenbewegungen zu thun. Wir verfolgen das Objekt w\u00e4hrend der prim\u00e4ren Beobachtung und behalten nach Bedeckung des Auges noch kurze Zeit diese Augenbewegung bei. Es soll also ein gelegentliches Mitwirken der Augenbewegungen an der Erscheinung von Nachbewegungen nicht geleugnet werden; jedoch spielen sie eine untergeordnete Rolle. \u2014- Auszunehmen w\u00e4ren davon die Nachbewegungen beim Drehschwindel, die wohl durchaus auf Augenbewegungen zur\u00fcckzuf\u00fchren sind.2\ne) Die Erinnerungsbilder von gesehenen Bewegungen.\n\u00a7 60. Wenn wir uns an ein fr\u00fcher gesehenes, bewegtes Objekt erinnern, so werden wir in den meisten F\u00e4llen denjenigen Wahrnehmungsakt reproduzieren, der am h\u00e4ufigsten dagewesen ist, der das Objekt am klarsten zeigt und dessen Reproduktion die geringste Schwierigkeit bietet. Alles dies gilt von der Wahrnehmung durch Nachfolgen des Auges. Denn hier ist der optische Eindruck des beobachteten Objektes ann\u00e4hernd ruhend und gleichm\u00e4fsig, daher leichter reproduzierbar, als der verschwommene und schnell wechselnde Nachbildstreif; und\n1 Neuerdings hat Hoppe (Diese Zeitschrift. Bd. VIL S. 29) versucht, die entgegengerichteten Nachbewegungen aus Erm\u00fcdungsvorg\u00e4ngen abzuleiten; doch wird aus seiner Darstellung nicht klar, warum die Erm\u00fcdungsprozesse in der entgegengesetzten Reihenfolge vor sich gehen sollen, wie die prim\u00e4ren Reizungen.\n1 S. W\u00fcndt. Physiol. Psychol. IV. Aufl. Bd. II. S. 163 f.","page":384},{"file":"p0385.txt","language":"de","ocr_de":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges.\n385\nwas die \u00fcbrigen psychischen Thatsachen betrifft, welche durch die Bewegung der Augen ausgel\u00f6st werden, also Willensimpulse und Muskelempfindungen, so sind wir bei diesen nicht einmal auf blofse Erinnerung angewiesen, sondern k\u00f6nnen sie zu beliebiger Zeit aufs leichteste wieder von neuem erzeugen, indem wir die Augen in Bewegung setzen. Infolgedessen wird die Reproduktion einer gesehenen Bewegung fast stets von Augenbewegungen begleitet sein, doch liegt gar kein Grund vor, diese aus ganz speziellen Ursachen hervorgehende Erscheinung in der Art, wie Stricker es that, zu verallgemeinern, dafs alle Bewegungsvorstellungen auf Muskelempfindungen beruhen sollten.\nEine Reproduktion der anderen Art der Bewegungswahrnehmung (bei der sich zwei gesehene Objekte gegeneinander verschieben) ist zwar schwer, aber nicht unm\u00f6glich; ja sie tritt sogar manchmal unwillk\u00fcrlich auf; so erw\u00e4hnte ich schon oben \u00a7 22), dafs ich, gleich Fechner, nachdem ich zwei sich gegeneinander verschiebende Skalen l\u00e4ngere Zeit beobachtet hatte, pl\u00f6tzlich ein lebhaftes Erinnerungsbild dieser Verschiebung vor mir auftauchen sah. \u2014 Auch ist es mir leicht m\u00f6glich, willk\u00fcrlich das Erinnerungsbild etwa eines Turners zu erzeugen, der die Beine spreizt und wieder schliefst. Augenbewegungen allein (die ja auch mitspielen m\u00f6gen) k\u00f6nnten nie die gleichzeitig nach entgegengesetzten Seiten gerichtete Erscheinung erzeugen; hierzu bedarf es einer Reproduktion des rein optischen Bewegungseindruckes.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie VII.\n25","page":385},{"file":"p0386.txt","language":"de","ocr_de":"386\nL. William Stern.\nInhaltsverzeichnis.\nSeite\nEinleitung (\u00a71)........................................ 321\nI.\tDie Thatsachen (\u00a72)............................... 322\n1.\tDie Arten der Bewegungswahrnehmung (\u00a7\u00a7 3\u20145)..... 322\n2.\tEigenschaften der Bewegungswahr nehmung (\u00a7\u00a7 6\u201413) 324\n3.\tDie Bewegungswahrnehmungen in verschiedenen\nGebieten der Netzhaut (\u00a7\u00a7 14\u201417)................. 327\n4.\tOptische Bewegungst\u00e4uschungen (sogen. Scheinbewegungen) (\u00a7\u00a7 18\u201423) ........................... 328\nII.\tHistorisches (\u00a7\u00a7 24\u201427).......................... 335\nIII.\tEigene Beobachtungen und Versuche (\u00a7 28).......... 341\n1.\tVersuche \u00fcber Sehsch\u00e4rfe f\u00fcr Buhe und Bewegung\n(\u00a7\u00a7 29-31)...................................... 341\n2.\tVersuche \u00fcber Nachbewegungen bei geschlossenem\nAuge (\u00a7\u00a7 32\u201434)................................. 349\nIV.\tTheorie der Wahrnehmung von Bewegungen durch das Auge (\u00a7 35) 353\n1.\tDie Bewegungswahrnehmung alsErzeugnis mehrerer\nEmpfindungsmomente (\u00a7 36)....................... 353\n2.\tDie Bewegungswahrnehmung als Erzeugnis eines\nEmpfindungsmoments (\u00a7 37)....................... 354\na)\tDie ver\u00e4nderte Reizung (\u00a7\u00a7 38\u201442)............. 356\nb)\tDer Nachbildstreifen (\u00a7\u00a7 43\u201446)............. 363\nc)\tDie Augenbewegung (\u00a7\u00a7 47\u201450)................ 369\n3.\tZusammenwirken der Prinzipien und ihre Anwendung auf einige Einzelheiten...................... 375\na)\tZusammenwirken der Prinzipien (\u00a7\u00a7 51, 52).... 375\nb)\tDie Umkehrbarkeit des optischen Bewegungseindruckes und die Relativit\u00e4t der gesehenen Bewegungen (\u00a7\u00a7 53, 54). 377\nc)\tDie Geschwindigkeit der gesehenen Bewegung (\u00a7\u00a7 55, 56) . 380\nd)\tDie Nachbewegungen (\u00a7\u00a7 57\u201459)............... 382\ne)\tDie Erinnerungsbilder von gesehenen Bewegungen (\u00a7 60).. 384","page":386}],"identifier":"lit15560","issued":"1894","language":"de","pages":"321-386","startpages":"321","title":"Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittelst des Auges","type":"Journal Article","volume":"7"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:58:09.130928+00:00"}