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{"created":"2022-01-31T14:15:10.004444+00:00","id":"lit15827","links":{},"metadata":{"alternative":"Deutsches Archiv f\u00fcr die Physiologie","contributors":[{"name":"Magendie","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Deutsches Archiv f\u00fcr die Physiologie 8: 132-135","fulltext":[{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"152\nfand jedesmal beim Ausathmen, das Zufammenfinken beim Einathmen Statt ').\nDie angef\u00fchrten Thatfachen beweifen aber, dafs diefe Bewegungen fich \u00fcber das ganze R\u00fcckenmark erftrecken ; indeffen hat Herr Portal das Verdienft, zuerft die Erfcheinung gefeiten zu haben.\nXII.\nIVTag endie\u2019s Gefchichte einer eigenth\u00fcm-lichen Krankheit des Nerven fy Items. (Journal de Phyfiol. T. II. p. 99.)\nSo lange die Nervenfunctionen in ihrer Totalit\u00e4t er\u00ab fcheinen, nimmt man an, dafs fie eine geringe Zahl ausmachen, und ift geneigt, fie als Wirkung einer einzigen Urfache anzufehen; h\u00f6rt aber ihre Harmonie auf und tritt dagegen Verwirrung ein, fo verfchwindet diefe Vorftellung und alles ftimmt dann f\u00fcr die Annahme, dafs jeder Theil des Nervenfyftems eine be-fondere Th\u00e4tigkeit hat, und die Zahl diefer Thiitier-keiten weit anfehnlicher ift, als man anf\u00e4nglich dachte. Die Fragen \u00fcber die Zahl diefer Th\u00e4tigkeiten, ihren Sitz, ihren Einflufs auf die \u00fcbrigen Lebenserfcheinun-gen, find feit langer Zeit nichts weniger als beantwortet.\nZur Lofung diefer Probleme hat rnan fich 1) der Unterfuchung des Baues und der verfchiedenen Ver-\nIj Nach Herrn Portal \u201e feheiiit (liefe Bewegung nur im obere Theile deffelben Statt zu Jinden, wenigftens fah er lie nicht bei Stellen des untern Theiles tier Wirbelf.iule, auch nicht bei Thieren, wenn die Wirbelf\u00e4ule unter dem dritten oder vierten Halswirbel ge\u00f6ffnet wurde. \u201c","page":132},{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"h\u00e4ltniffe feiner Theile; 2) phyfiologifcher Verfuche an lebenden Thieren; 3) pathologifcher Beobachtungen \u00fcber den Einflufs der Krankheiten atu die Functionen und den Bau des Nervenfyftems bedient.\nDie letzte Methode ift bis jetzt die fruchtbarfta gewefen, und hat nicht nur f\u00fcr die Pfvchologie, fon-dern auch f\u00fcr die Puyfiolorie h\u00fcchft wichtige Reful-t\u00e4te geliefert. So weifs rann hieraus, dafs Verletzung des Gehirns lieh auf der entgegengefetzten Seite des K\u00f6rpers offenbart; Empfindung und Bewegung unabh\u00e4ngig von einander zerft\u00f6rt werden k\u00f6nnen u.f, w.\nDer folgende Fall beweift, wo ich nicht irre, beftimmt, dafs unfre Bewegungen in einer befondern Nervenkraft begr\u00fcndet find, die fich v\u00f6llig von dem Willen trennen kann, der gew\u00f6hnlich die Aus\u00fcbung regelt. Ich theile ihn um fo lieber mit, als ich ihn, und namentlich durch eines der neuern Mittel, heilte.\nEin Mann von fechs und dreifsig Jahren, k\u00f6rperlich und geiftig angenehm gebildet, aber h\u00f6chft reizbar, lebte nach dem Tone der grofsen Welt bis zu feiner Verheirathung, d. h. bis vor fechs Jahren. Seitdem mufste er fich befch\u00e4ftjgen, hatte viele Unannehmlichkeiten, dann greisen Kummer durch eine Geiftes-krankheit feiner Frau bei ihrer erften Niederkunft. Er war wahrend eines Jahres beft\u00e4ndig bei ihr und Zeuge ihrer krampfhaften Bewegungen. Ungeachtet ihrer vollft\u00e4ndigen Heilung blieb er traurig und f\u00fcll und wurde felbft melancholifch, hielt fein Verm\u00f6gen f\u00fcr verloren, fich felbft f\u00fcr den Gegenftand der Verfolgung der Regierung, der Polizei und des \u00f6ffentlichen Ge-fp\u00f6ttes. Uebrigens war er ganz vern\u00fcnftig. Ohne Erfolg reifte er, befuchte B\u00e4der und medicinirte.\nIm September 1821 wurde er von einer Steifheit der rechten untern Gliedmaafse ergriffen, die ihn zw hinken n\u00f6thigte. Einige Tage darauf fing die ent-","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"gegengefetzie auf diefelbe Weife zu leiden an , und bald verlor er allen Willenseinflufs auf die Bewegungen. Diele waren inciefs nicht gel\u00e4hmt, wohl aber ganze Stunden lang gewiflermafsen lieh i'elbft iiberlalfen. Dann war er zu den unregclm\u00e4fsigften Bewegungen, den fonderbarften Stellungen und Verdrehungen g\u00b0n\u00f6tbigt, die mit den gew\u00f6hnlichen menichiichen Bewegungen nicht die geringt'te Aelmiichkeit hatten. Merkw\u00fcrdig ift, dafs er dabei nie das Gleichgewicht verlor und binnen mehreren Monaten n.e hinhel.\nBisweilen waren feine Bewegungen regelm\u00e4fsiger. So ftand er dann, ohne es im geringften zu wollen, pl\u00f6tzlich auf und ging, bis lieh ihm ein fefier K\u00f6rper widerfetzte; bisweilen ging er auf diefelbe Art bis zu einer folchen Stelle r\u00fcckw\u00e4rts.\nOft bekam er den Gebrauch gewiffer, nicht aber anderer Bewegungen wieder. So gehorchten Arme und H\u00e4nde, noch h\u00e4ufiger die Muskeln des Ge\u00dfchts und des Kehlkopfs, dem Willen. Bisweilen konnte er fogleich zur\u00fcckgehen, wenn die Vorw\u00e4rtsbewegung gehemmt war und dann bediente er lieh diefer r\u00fcckg\u00e4ngigen Bewegung, um zu den Gegenfl\u00e4nden zu gelangen, die er erreichen wollte.\nDiefe automatifchen Bewegungen dauerten \u00fcbrigens mir einen ganzen Tag, waren durch ziemlich lange ruhige Zwiicnenr\u00e4ume getrennt. Die N\u00e4chte waren ftets ruhig.\nTrotz der Heftigkeit diefer Zufair.menziehungen, die einen betr\u00e4chtlichen Schweifs hervorrief, fand keine vcrh\u00e4ltnifsm\u00e4fsige M\u00fcdigkeit Statt, als tr\u00fcge unter den gew\u00f6hnlichen Bedingungen die geiftige Th\u00e4-tigkeit Behufs der Bewegung am meiften hiezu bei.\nVon dem Augenblick des Eintritts diefes Za Bandes an belferte fich der Gem\u00fcthszuftand.","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"135\nIm December 1821 kam er nach Paris, nachdem man ihn vergeblich mit B\u00e4dern, Blutigeln, krampff\u00fcllenden Mitteln behandelt hatte.\nDie Krankheit war keine Katalepfie, denn die Bewegungen waren fchnell und vielfach; keine Kr\u00e4mpfe, denn die Zufammenziehungen hatten trotz ihrer Unordnung einen gewiffen Zufammeithang und Regel-m\u00e4fsigkeit; auch kein Veitstanz, weil die Zufammenziehungen nicht fo h\u00fcpfend und ver\u00e4nderlich und \u00fcbereilt als bei diefem waren.\nVorz\u00fcglich um ein anderes als die bisherigen Mittel anzuwenden, gab ich das fchwefelfaure Cincho-rin zu zwei Granen t\u00e4glich.\nSchon vom zweiten Tage an fchien es fielt zu beffern; am dritten war dies gewifs, und am fechsten waren die automatifchen Bewegungsph\u00e4nomene ganz verfchwunden, und die Bewegung der Willk\u00fchr v\u00f6llig unterworfen.\nSeitdem hat der Kranke binnen vier Monaten einige leichte, immer durch bedeutende iitoralifche Er-fchiitterungen, namentlich den Tod von Verwandten, veraniafste R\u00fcckf\u00e4lle gehabt. Diefe wurden durch daffelbe Mittel fchnell befeitigt.\nIm vorigen Monate trat ein folcher Zuftand auf einige Stunden ein, verfchwand aber von felbft.\nDer Willenseinflufs auf die Bewegungen ift \u00fcbrigens nur gradweife eingetreten. So war z. B. der Kranke einige Wochen lang unf\u00e4hig zu laufen, und mufste fielt mit dem Gehen begn\u00fcgen, und auch dies war in Hinficht auf den Raum und die Schnelligkeit be-fchr\u00e4nkt.","page":135}],"identifier":"lit15827","issued":"1823","language":"de","pages":"132-135","startpages":"132","title":"Geschichte einer eigenth\u00fcmlichen Krankheit des Nervensystems: Journal de Physiol., T. II, p. 99","type":"Journal Article","volume":"8"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:15:10.004450+00:00"}