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Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen. Zweiter Band

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{"created":"2022-01-31T14:12:53.905172+00:00","id":"lit17252","links":{},"metadata":{"contributors":[{"name":"M\u00fcller, Johannes","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Coblenz: Verlag von J. H\u00f6lscher","fulltext":[{"file":"a0001.txt","language":"de","ocr_de":"H A N D B U C H\n'1er\nPHYSIOLOGIE des MENSCHEN\nf\u00fcr Vorlesungen.\nI) r. J o h a n n e s M\u00fclle r,\nordentl. \u00f6ffentl. Professor der Anatomie und Physiologie an der K. Friedlich Wilhelms - Universit\u00e4t und an der K. medlcin.-chirurg. Milit\u00e4r-Academie in Berlin, Director des K. anatom. Museums und anaton\u00bb. Theaters; Kitter des Rothen Adlerordens 4. Classe; Mitglied der K. Aeadcmieen der Wissenschaften zu Berlin und zu Stockholm, Correspondent der K. Academie des Wissenschaft en zu St. Petersburg, der K. Academie der Wissenschaften zu Turin, Mitglied der K. Soc. d. Wissensch. zu G\u00f6ttingen, Copenhagen und Upsala.\n/avciier hand.\nM i t K \u00f6 u i g 1 i c h W iir t c m 1\u00bb c r g i s c h c n Privilegien,\nC,o h I e n z,\nVerlag von J. H\u00f6lscher.\ni 840,","page":0},{"file":"a0002.txt","language":"de","ocr_de":"r~\u2014\t..............-,\nMAX-PLANCK-INSTITUT \u00bbA* WISSCmSCHAFTSOESCHICMTE\nBibliothek\nt-","page":0},{"file":"a0003content.txt","language":"de","ocr_de":"Inhalt\nDer speciellen Physiologie Viertes Buch. y0n den Bewegungen, von der Stimme und Sprache.\nSeito\n/ Abschnitt. Von den Organen, E rs cli exnu n g en und Ursa-\nchen der t hierisch en Bewegung.\nI.\tVon den verschiedenen Formen der Bewegungsorgane ....\t3\nII.\tVon der Wimperbewegung.................................... 7\nIII.\tVon der Muskelbewegung und den verwandten Bewegungen .\t.\t19\nIV.\tVon den Ursachen der thxerischen Bewegung................46\n//. Abschnitt, Von den verschiedenen Muskelbewegungen.\nI.\tVon\tden\tunwillk\u00fchrlichen und willk\u00fchrlichcn Bewegungen\t...\t63\nII.\tVon\tden\tzusammengesetzten Bewegungen..................100\nIII.\tVon\tder\tOrtsbewegung..................................112\n1IL Abschnitt. Von der Stimme und Sprache.\nI.\tVon\tden\tallgemeinen Bedingungen der rI onerzeugung ....\t133\nII.\tVon\tder\tStimme.........................................179\nIII.\tVon\tder\tSprache.......................................... 229\nDer speciellen Physiologie f\u00fcnftes Buch.\nVon den Sinnen.\nVorbegriffe . ...................................................249\nI.\tAbschnitt. Vom Gesichtssinn.\nI.\tVon den physikalischen Bedingungen des Sehens.............276\nII.\tVom Auge als optischem Werkzeuge..........................305\nIII.\tVon den Wirkungen des Sehnerven und der Nervenhaut .\t. . 349\nII.\tAbschnitt. Vom Geh\u00f6rsinn.\nI.\tVon\tden\tphysikalischen Bedingungen des Geh\u00f6rs.........393\nII.\tVon\tden\tFormen und Eigenschaften der Geh\u00f6rwerkzeuge\t. . .\t411\nIII.\tVon\tden\tWirkungen des Geh\u00f6rnerven.....................468\nIII.\tAbschnitt. Vom Geruchssinn.\nI.\tVon den physikalischen Bedingungen des Geruchs...........483\nII.\tVom Geruchsorgane............... .........................485\nin. Von den Wirkungen des Gertichsnerven......................488\nIV.\tAbschnitt. Vom Geschmackssinn.\nI. Von den physikalischen Bedingungen des Geschmacks .... 489\nII.\tV om Geschmacksorgane.....................................490\nIII.\tVon den Wirkungen der Geschmacksnerven\t49t\nI* Abschnitt. Von* Gef\u00fchlssinn . . . ............................494","page":0},{"file":"a0004.txt","language":"de","ocr_de":"Seite\nDer speciellen Physiologie sechstes Buch.\nVom Seelenleben.\n1.\tAbschnitt. Von der Natur der Seele im Allgemein eu.\nI.\tVom Vcrh\u00e4ltniss der Seele zur Organisation und zur Materie . . 505\nII.\tVom Seelenleben ira engem Sinne...........................514\nIL Abschnitt. Von den Seelen\u00e4usserungen.\nI.\tVom\tVorstellen.........................................525\nII.\tVom\tGero\u00fcth.......................................... 537\nIII,\tAbschnitt. Von der Wechselwirkung der Seele und des\nOrganismus.\nI.\tVon der Wechselwirkung der Seele und des Organismus im Allgemeinen ........................................... 553\nII.\tPh\u00e4nomene der Wechselwirkung . . '................... . 559\nII\u00cf. Von\tden Temperamenten................................  575\nIV.\tVom\tSchlaf ............................................579\nDer speciellen Physiologie siebentes Buch.\nVon der Zeugung.\nI.\tAbschnitt. Von der gleichartigen oder ungeschlechtlichen\nZeugung.\nI. Multiplication der organischen Wesen durch das Wachsthum . 589\nII.\tVermehrung durch Theilung eines entwickelten Organismus .\t. 598\nI1L Knospenbildung . . .\t......................... 604\nIV. Theilung zwischen Knospe und Stamm ..........\t610\nV.\tTheorie der ungeschlechtlichen Fortpflanzung.............612\nII.\tAbschnitt. Von der geschlechtlichen Zeugung.\nI.\tVon\tden\tGeschlechtern..................................617\nII.\tVon\tden\tGeschlechtsorganen.............................624\nIII.\tVom\tEi..............................................  629\nIV.\tVom\tSamen..............................................633\nV.\tVon\tder\tPubert\u00e4t, Begattung und Befruchtung...........639\nVI.\tTheorie der geschlechtlichen Zeugung......................652\nDer speciellen Physiologie achtes Buch.\nVon der Entwickelung.\n/. Abschnitt. Von der Entwickelung des Eies und der Frucht.\nT. Entwickelung der Fische und nackten Amphibien ......\t662\nII. Entwickelung der V\u00f6gel und beschuppten Amphibien ....\t680\nIII.\tEntwickelung der S\u00e4ugethiere und des Menschen.............701\nIV.\tEntwickclungsverschiedenheitcn der Eierlegenden und Lebendiggeb\u00e4renden ....................................................718\nII.\tAbschnitt. Von der Entwickelung der Organe und Ge-\nwebe des F\u00f6tus.\nI. Entwickelung\tder\torganischen Systeme und Organe ..... 730\nII. Entwickelung\tder\tGewebe................752\nIII.\tAbschnitt. Von der Geburt und den Entwickelungen nach\nder Gehurt.\nI. Die Geburt............................................  760\nII. Die Lebensalter.....................................   764\nScb lussberaerkungen \u00fcber die Entwickelungsvariationen der thierischen und menschlichcn Lebensformen auf der Erde 768","page":0},{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"Der\nspeciellen Physiologie\nViertes Buch.\nVon den Bewegungen, von der Stimme und Sprache.\nM\u00fcller\u2019s Physiologie. 2r Bd, I,\n1","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"I.\tAbschnitt. Von den Organen, Erscheinungen und Ur-\nsachen der thierischen Bewegung.\nI.\tYon den verschiedenen Formen der Bewegungsorgane.\nII.\tVon der Wimperbewegung.\nIII.\tVon der Muskelbewegung und den verwandten Bewegungen.\nIV.\tVon den Ursachen der thierischen Bewegung.\nII.\tAbschnitt. Von den verschiedenen Muskelbewe-\ngungen.\nI.\tVon den unwillk\u00fchrlichen und willk\u00fchrlichen Bewegungen.\nII.\tVon den zusammengesetzten Bewegungen.\nIII.\tVon der Ortsbewegung.\nIII.\tAbschnitt. Von der Stimme und Sprache.\nI.\tVon den allgemeinen Bedingungen der Tonerzeugung.\nII.\tVon der Stimme.\nIII.\tVon der Sprache.","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Der s p e c \u00ee e 1 1 e n Physiologie\nViertes Buch.\nVon den Bewegungen, von der Stimme und Sprache.\n/. Abschnitt. Von den Organen, Erscheinungen\nI. Capitel. Von den verschiedenen Formen der Bewegung und Bewegungsorgane.\nMan kann hei den Thieren im Allgemeinen zweierlei Art der lebendigen Bewegung fester Theile unterscheiden, welche durch die Natur ihrer Organe, ihrer Erscheinungen und Ursachen ganz verschieden .sind; die Bewegung durch Zusammenziehung von Fasern, und die Bewegung von Wimpern mit freien Enden durch Oscillation derselben, ohne deutlich nachweisbare organische Apparate als die Wimpern selbst. Im ersten Falle bewegen sich an beiden Enden fixirte Fasern oder cirkelf\u00f6rmig in sich zuriicklau-fende Faserschleifen durch Verk\u00fcrzung ihrer Fasern, und durch diese Verk\u00fcrzung werden die fixirten Theile einander gen\u00e4hert. Die meisten dieser Bewegungen werden durch Muskelfasern, einige wenige durch Fasern bewirkt, die sich ihrer Structur und chemischen Eigenth\u00fcmlichkeit nach von den Muskelfasern unterscheiden. Bei der zweiten Classe thierischer Bewegungen schwingen mikroskopisch feine Wimpern, womit die Oberfl\u00e4chen gewisser H\u00e4ute besetzt sind, in bestimmter Richtung, so dass die freien Enden dieser Wimpern Bogenabschnitte um ihre fixirten Basen zur\u00fccklegen. In diesem Fall ist nur das Basilarende des Bewegungsorganes fixirt. Durch die Bewegung der Fasern und namentlich durch die Muskelbewegung werden theils feste Theile einander gen\u00e4hert, theils Fl\u00fcssigkeiten in muskelh\u00e4utigen R\u00f6hren fortgetrieben; durch die Wimperbewegung werden nur Fl\u00fcssigkeiten und mikroskopisch feine festere Theilchen an den W\u00e4nden der \u25a0H\u00e4ute fortgeleitet, ohne dass die fortgeleiteten Fl\u00fcssigkeiten die ganze H\u00f6hle der Schl\u00e4uche, wie im ersten Fall, anf\u00fcllen, und ohne nass die W\u00e4nde, worauf diese Ph\u00e4nomene Vorkommen, sich zu-\n1 *","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Absclin. Thier. Beweg, im Allg.\nsammerteiehen. Die Bewegung durch Fasern ist viel ausgebreiteter als die \"Wimperbewegung. Alle Bewegungen fester Theile zwischen der Haut und dem Knochenger\u00fcst, alle Bewegungen ganzer Schl\u00e4uche oder ihrer Theile werden, so weit sie von Lehensactionen und nicht durch physicalische Elasticit\u00e4t bewirkt werden, durch Zusammenziehungen von Faserlagen hervorgebracht. Die Wimperbewegung ist ein in Hinsicht seiner Verbreitung viel beschr\u00e4nkteres Ph\u00e4nomen. Es wird nicht allein nur auf, der Oberfl\u00e4che von Membranen beobachtet, auch nur wenige Membranen zeigen diese Erscheinung, wie bei den niederen Thieren \u00f6fter die \u00e4ussere schleimabsondernde Haut, bei den h\u00f6heren die Schleimh\u00e4ute im Innern des K\u00f6rpers; ja sie ist nicht einmal allen Schleimh\u00e4uten gemein. Die Ausbreitung des contractilen Fasergebildes, namentlich des Muskelgewebes, bildet drei Schichten, deren Anordnung mit der ersten Formation des Organismus zusammenh\u00e4ngt. Alle Systeme entstehen n\u00e4mlich aus den Bl\u00e4ttern der Keimhaut, die anfangs scheibenf\u00f6rmig den Dotter bedeckt; und indem sich das \u00e4ussere und innere Blatt, oder das ser\u00f6se und Schleimblatt und das zwischen beiden sich bildende Gef\u00e4ss-blatt der Keimbaut zu einer H\u00f6hlung w\u00f6lben und der Embryo-naltheil der Keimbaut, diese H\u00f6hlung bildend, von der \u00fcbrigen Keimhaut durch Einschn\u00fcrung in der Gegend des sp\u00e4tem Nabels sich absondert, entstehet aus dem \u00e4usseren Blatte der animalische willk\u00fchrlich bewegliche, aus dem inneren der organische unwill-k\u00fchrlich bewegliche Theil des K\u00f6rpers, aus dem Gef\u00e4ssblatte das Herz mit allen zum Blutgef\u00e4sssystem geh\u00f6renden Theilen, welche sp\u00e4ter sich in die Bildungen des \u00e4usseren und inneren Blattes verzweigen. Der animalische Theil des Leibes, urspr\u00fcnglich aus dem \u00e4usseren Blatte der Keimhaut entwachsen, sondert sich wieder in die verschiedenen Formationen des animalischen Nervensystems, des Knochensystems, des willk\u00fchrlichen Muskelsystems und der \u00e4ussern Haut. Der organische Theil des Leibes, urspr\u00fcnglich aus dem innern Blatte der Keimbaut entsprossen, sondert sich wieder in die verschiedenen Formationen, die dazu geh\u00f6ren, als da sind die das Ger\u00fcst bildenden fibr\u00f6sen H\u00e4ute (tunica fibrosa des Darm-schlauches, tunica nervea der Alten), die ser\u00f6sen H\u00e4ute, die Schleimh\u00e4ute, welche letztem die innere Grenze mit der Aussenwelt communicirender Schl\u00e4uche bilden, die Muskelschicht, zwischen Tunica fibrosa und der ser\u00f6sen Haut, und das organische Nervensystem. Siehe v. Baer Entwickelungsgeschichte. Scholien. Zu diesem organischen Theil des Leibes geh\u00f6ren dann der Tractas intestinalis, die Harnwerkzeuge und Geschlechtstheile, an deren Schl\u00e4uchen fast durchg\u00e4ngig wieder eine Muskelschicht vork\u00f6mmt. Ueberall, wo an diesen Schl\u00e4uchen Bewegungen Vorkommen, geschieht es durch die blosse Muskelschicht des organischen Systems, wovon indess die willk\u00fchrlich beweglichen eigentlichen Schlundmuskeln und die Dammrnuskeln ausgeschlossen sind, welche dem animalischen Theil des Leibes angeh\u00f6ren; auch an den Ausf\u00fchrungsg\u00e4ngen der dem organischen System adnexen Dr\u00fcsen setzt sich eine muscul\u00f6se Schicht als Fortsetzung der Muskelschicht jener Schl\u00e4uche fort; und w'enn auch wegen der Zart-","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"1. Verschiedene Formen der Bewegung und Bewegungsorgane. 5\nheit der Tlieile das Muskelgewebe an diesen G\u00e4ngen noch nicht so sicher wie andere Hautfortsetzungen hat anatomisch nachgewiesen werden k\u00f6nnen, so ist es gleichwohl gewiss vorhanden, weil der gemeinschaftliche Gallengang, die Ureteren, die Sameng\u00e4nge theils selbstst\u00e4ndig, theils auf angebrachte Reize sich zusammenziehen, wie fr\u00fcher Bd. I. p. 457. bewiesen worden. In der That bilden sich auch die Ausf\u00fchrungsg\u00e4nge und ihre Dr\u00fcsen bei der ersten Formation aus den W\u00e4nden der Schl\u00e4uche hervor, in welche sie ausm\u00fcnden, was wenigstens von den dr\u00fcsigen Apparaten des Tractus intestinalis bestimmt erwiesen ist. Siehe Bd. I. p. 863. Die Muskeln des animalischen Leibes unterscheiden sich nicht allein durch ihre willk\u00fchrliche Bewegung und ihre R\u00f6the und Derbheit von den blassen und umvillk\u00fcbrlich beweglichen Muskelschichten des organischen Leibes; auch die mikroskopische Structur derselben ist ganz verschieden. Wir werden sp\u00e4ter sehen, dass nur die Muskelh\u00fcndel des animalischen Systems, unter dem Mikroskop untersucht, Querstreifen zeigen, dass die Primitivfasern dieser Muskeln regelm\u00e4ssige, dicht auf einander folgende varicose Anschwellungen haben, w\u00e4hrend die Muskelb\u00fcndel des Tractus intestinalis, tier Urinblase, des Uterus von jenen Querstreifen entbl\u00f6sst sind und ihre Primitivfasern ganz gleichf\u00f6rmige F\u00e4den bilden. Am Oesophagus grenzen beiderlei Systeme dicht an einander, die Muskeln des Pharynx geh\u00f6ren dem animalischen Systeme, die des Oesophagus schon dem organischen Systeme an; erstere zeigen die mikroskopischen Querstreifen und ihre Primitivfasern sind varic\u00f6s, letztere haben keine Querstreifen und ihre Fasern sind gleichf\u00f6rmig; aber das erste Viertel des eigentlichen Oesophagus ist noch bis zu einer scharfen Grenze mit bogenf\u00f6rmig herab- und aufsteigenden B\u00fcndeln varic\u00f6ser Fasern belegt, die Schwakn entdeckt hat und welche, zum Apparat der eigentlichen Schlundmuskeln geh\u00f6rend, an der \u00fcbrigen Speiser\u00f6hre nicht Vorkommen. Am After grenzt das animalische System der Dammmuskeln mit dem Sphincter ani an das organische System des Tractus intestinalis. Dasselbe findet an der Urinblase statt. Denn die urn die pars membranacea der Harnr\u00f6hre gehenden rothen Muskelb\u00fcndel enthalten nach meiner Beobachtung Querstreifen, und ihre Primitivfasern sind varic\u00f6s, die Muskelfasern der Harnr\u00f6hre sind blass, ohne Querstreifen, und ihre Primitivfasern denen des Darmkanals gleich.\nAus dem mitllern Blatte der Reimhaut bildet sich der Apparat des Gef\u00e4sssystems mit dem Herzen aus. Diese Schicht, welche \u00bbsich sp\u00e4ter in die \u00fcbrigen verzweigt, ist nur an einzelnen Stellen mit contractilen Fasern belegt, wie am Herzen, am Anfang der Hohlvene und Lungenvene (siehe Bd. I. p. 153.) und an den Lymphherzen der Amphibien (siehe Bd. I. p. 258.). Alle \u00fcbrigen Theile des Gef\u00e4sssystems sind ohne Muskelfasern, aber das ganze Arteriensystem enth\u00e4lt in seiner mitllern Haut einen h\u00f6chst elastischen Apparat, dessen ausserordentliche Eiasticit\u00e4t mit der lebendigen Zusammenziehungskraft der Muskeln nicht verwechselt werden darf, da dies elastische Gewebe, wie alles \u00fcbrige elastische Gewebe, selbst wenn es viele Jahre in Wein-","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6 IV. Buch, Von d. Bewegungen. I. Abschn. Thier. Beweg, im Allg.\ngeist gelegen hat, seine physicalische Elasticit\u00e4t nicht verliert. Das in dem Gef\u00e4ssblatte der Keimhaut sich entwickelnde Muskelgewebe geh\u00f6rt, obgleich es sich nur unwillk\u00fchriicli bewegt, so viel das Herz lehrt, nicht in eine Kategorie mit den \u00fcbrigen unwillk\u00fcrlichen Muskeln des organischen Leibes; es ist nicht allein roth, sondern auch ganz wie alle willk\u00fchrlichen Muskeln des animalischen Leibes gebaut, d. h. seine Muskelb\u00fcndel enthalten mikroskopische Querstreifen und seine Primitivfasern sind varic\u00f6s.\nDie Muskelfasern sind nicht die einzigen lebendig contraction Fasern; es giebt noch eine ganz andere Art derselben, welche in Hinsicht ihrer mikroskopischen Form, so wie in Hinsicht ihrer chemischen Zusammensetzung mit den Zellgewebefasern \u00fcbereinstimmen, in chemischer Hinsicht sich aber ganz vom Muskelgewebe entfernen. Die Theile, worin diess Gewebe vork\u00f6mmt, zeigen einen geringen und unmerklichen Grad von Contractiiit\u00e4t, und Zuckungen, wie an den Muskeln, lassen siel) an ihnen nicht hervorrufen; auch wirkt die Electricit\u00e4t nicht auf diese Theile zur Zusammenziehung, dagegen die K\u00e4lte und auch mechanische Reize die schwache Contractilif\u00e4t dieser Theile oft ziemlich schnell anregen. Als Beispiel kann hier vorl\u00e4ufig die Tunica dartos des Hodensackes angef\u00fchrt werden; es geh\u00f6ren aber noch mehrere andere Theile hieher, von denen sp\u00e4ter im Einzelnen die Rede seyn wird. Vorl\u00e4ufig soll hier nur bemerkt werden, dass diese Art des contractilen Gewebes, welches nur eine geringe Verbreitung, n\u00e4mlich theils in der Haut, theils an den kleinsten Arterien hat, so viel die Beschaffenheit der Tunica dartos lehrt, in chemischer Hinsicht ganz mit den heim Kochen Leim gebenden K\u00f6rpern, nicht aber mit eiweissartigen K\u00f6rpern, zu welchen beiderlei Arten der Muskeln geh\u00f6ren, \u00fcbereinstimmt. Wie weit die unmerkliche Contractiiit\u00e4t auch anderen Geweben zukomme, hat noch nicht gen\u00fcgend untersucht werden k\u00f6nnen, indem die Kleinheit der durch unmerkliche Contractiiit\u00e4t oder Tonus bewirkten Resultate, \u00fcberall wo die Ph\u00e4nomene weniger deutlich sind, der Untersuchung un\u00fcberwindliche Schwierigkeiten setzt. Es scheint indess, dass, gleichwie die F\u00e4higkeit, gegen arzneiliche chemische Einwirkungen ihre Coh\u00e4renz zu ver\u00e4ndern, den wenigsten zellgewebehaltigen Geweben abgesprochen werden kann, einige Contractiiit\u00e4t in sehr geringem Grade auch diesen Geweben zukomme. W\u00e4hrend des Lebens lassen die f\u00fcr Fl\u00fcssigkeiten durchdringlichen Membranen diese gleichwohl nicht durch; in Krankheiten erscheint dieser Widerstand oft aufgehoben, und nach dem Tode geschieht es immer. Unsere Begriffe von vermehrter Laxit\u00e4t der Gewebe, von Adstringentia, setzen, insofern sie sich auf Thatsacheu gr\u00fcnden, auch eine Variabilit\u00e4t des Verm\u00f6gens voraus, dem passiven Durch dringen der Fl\u00fcssigkeiten nach physicalischen Gesetzen das Gleichgewicht zu halten.\nDie zweite fundamentale Art thierisclier Bewegung durch freie Wimpern ist an dem animalischen und organischen Theil des Leibes auf gewissen H\u00e4uten beobachtet, und es ist einigermaassen wahrscheinlich, dass sie wenigstens bei einigen niederen Thieren auch in der Gef\u00e4ssschicht, n\u00e4mlich im Innern der Gef\u00e4sse an","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"2. Wimperbewegung. Geschichtliches.\t7\nden W\u00e4nden vorkomme. Am animalischen Theile des Leibes k\u00f6mmt sie bei vielen niederen Tbieren, n\u00e4mlich auf der ganzen Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers vor. Bei h\u00f6heren Thieren hat man sie auf der Oberfl\u00e4che der Haut nur im Embryonenzustande derselben, wie bei Froschembryonen, und bei einigen auch im Larvenzustande, n\u00e4mlich auch bei Froschlarven beobachtet. Im organischen Theile des Leihes erscheint sie an den Schleimh\u00e4uten (nicht an allen) und wird bis zum Menschen herauf leicht beobachtet, nachdem sie hei den h\u00f6heren Wirbelthieren vouPurkinje und Valentin entdeckt worden. In der Regel ist diess Ph\u00e4nomen nur an Schleimh\u00e4uten beobachtet, auch die \u00e4ussere Haut der Froschlarven und der niederen Thiere geh\u00f6rt in diese Kategorie. Doch hat es Sharpey an den inneren W\u00e4nden der Cavit\u00e4t der Seesterne, welche ihre Eingeweide enth\u00e4lt, und zu welcher das Wasser Zugang hat, bei Aphrodite an der \u00e4usseren Oberfl\u00e4che des Darms und seiner Blindd\u00e4rmchen, und an den W\u00e4nden der R\u00fcckenzellen, in welchen die Blindd\u00e4rme liegen, beobachtet, und es k\u00f6nnte wohl seyn, dass alle Bewegungen von Nahrungss\u00e4ften, die man bei niederen Thieren ohne Herz und ohne deutliche Zusammenziehung der Gef\u00e4sse beobachtet hat (siehe Bd. I. p. 154.), nur durch Wimperbewegung erfolgen, wie denn die Circularbewegung der S\u00e4fte in den Zellen mehrerer Pflanzen (Bd. I. p. 44.) auf dieselbe Art geschehen kann. Die hieher geh\u00f6rigen Erscheinungen brauchen, da sie fr\u00fcher beschrieben sind, hier nicht wiederholt zu werden; es ist auch schon dort bemerkt worden, dass sie zur Erh\u00e4rtung der Hypothese von einer freiwilligen Bewegung der S\u00e4fte durchaus nicht benutzt werden k\u00f6nnen. Die vorz\u00fcglichsten Schriften \u00fcber die .Wimperbewegung sind: Purkinje und Valentin in Mueller\u2019s Archiv I. 391. II. 159. Purkinje und Valentin de phaenomeno generali et fundamentali motus vibr\u00e2torii conti-nui in membranis etc. Vratisl. 1835. 4. Shartey in Edinb. med. Journ. 34. und ein sp\u00e4terer Aufsatz in Edinb. new phil. Journ. 19. N. 37. Jul. 1835. Grant Edinb. new phil. Journ. 1826. Isis 1832. Froriep\u2019s Not. 1826. N. 329. Isis 1830. Edinb. Journ. of sc. N. 13. Jul. 1827.\nII. Capitel. Von der Wimperbewegung.\nSchon DeHkide, Leeuwenhoek, Baker, Swammerdam, Baster haben bei den Mollusken das Ph\u00e4nomen gekannt, dessen Ursachen in viel sp\u00e4terer Zeit aufgekl\u00e4rt worden. De Heide, Leeuwenhoek kannten schon die Str\u00f6mungen an den Kiemen der Muscheln, Swammerdam, Leeuwenhoek, Baster die Rotation des Embryos der Mollusken im Ei, welche von derselben Ursache herr\u00fchrt. Die regelm\u00e4ssigen Str\u00f6mungen an den Kiemen der Muscheln wurden in neuerer Zeit von Erman (Abh. d. Acad. zu Berlin. 1816. 1817.) und Sharpey a. a. ()., die Rotationen des Embryos der Mollusken von Carus (Nov. Act. N. C. 16.) ausfiihr\u00fcch beschrieben. Steinbucii hatte die Cilien an den Armen der Federbuschpolypen und auch Meyen sie beschrieben. Gruithuisen entdeckte sie an den Planarien und an einer S\u00fcsswasserschnecke,","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Alschn. Thier. Beweg, im Allg.\n{Sahb. med. Z. 1818. 4. 286. JSov. Act. N. C. 10.) und Grant hat sie zuerst als Ursache der Rotation der Embryonen der Mollusken im Ei und der Eier (wohl Embryonen) der Polypen entdeckt. Unter den \u00fcbrigen Wirbellosen ist die Wimperbewegung von Ehrenberg in der ganzen Gruppe der Thiere, die er Turbelkrien nannte (Gordius, Nemertes, Planaria etc.), auf der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpersund auch im Darm der R\u00e4derthiereundNaiden entdeckt. Derselbe ber\u00fchmte Forscher hat die mannigfaltige Anordnung der Wimpern hei den Infusorien auf das trefflichste beschrieben. Die ersten Reobachtungen \u00fcber das fragliche Ph\u00e4nomen an Wirbel-thieren hat Steinbuch angestellt (siehe oben Bd. I. p. 298.); er entdeckte die Bewegung des Wassers um die Kiemen der Batra-chier, kannte aber die Ursache nicht und suchte vergebens nach Wimpern. Gruithuisen entdeckte es am Schw\u00e4nze der Froschlarven. Sharpey beschrieb dasselbe Ph\u00e4nomen nicht allein an den Kiemen dieser Thiere, sondern auch an der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers; \u00e4hnliche Beobachtungen wurden an den Kiemen von Huschke, von Raspajl und mir angestellt. Es blieb indess Purkinje und Valentin die gr\u00f6sste Entdeckung Vorbehalten, dass das fragliche Ph\u00e4nomen nicht allein bei den Batrachiern, wie bei den Wirbellosen, von oscillirenden Wimpern herr\u00fchrt, sondern dass es auch in den Schleimh\u00e4uten der Amphibien, V\u00f6gel und S\u00e4ugethiere mit gleicher Lebendigkeit und von denselben Ursachen herr\u00fchrend vork\u00f6mmt. Diese Entdeckung erschien zuerst in Mueller\u2019s Archiv 1834, und die Erscheinung wurde darauf in dem grossem Werke: de phaenomeno generali et funda-mentali etc. Vratisl. 1835. 4. in ganzer Vollst\u00e4ndigkeit durch fast alle Thierklassen beschrieben. Bei den Fischen konnte sie bisher nicht gefunden werden. Sie ist aber dennoch vorhanden, wie ich finde. Die wichtigsten Thatsachen werde ich aus diesen Schriften nun ausziehen, und mit einigen Bemerkungen begleiten.\na. Vorkommen der Wimperbewegung.\nDie Wimperbewegung ist bei verschiedenen Thieren an der \u00e4ussern Haut, im Darmkanal, Athmungssystem und Geschlechtssystem beobachtet.\n1. Hautsystem. Die Wimperbewegung der Haut zeigt sich bei Infusorien, Corallenthieren (Bryozoa im Gegensatz der Anthozoa Ehrenberg), Acalephen, am Mantel der Muscheln, auf der ganzen Oberfl\u00e4che der Gasteropoden, sowohl der Land- als Wasserschnek-ken, und der Turbellarien von Ehrenberg. Unter den h\u00f6heren Thieren k\u00f6mmt die Wimperbewegung auf der Oberfl\u00e4che nur bei den Embryonen und ganz jungen Larven der Batrachier vor. Ganz zu Anfang flimmert ihre ganze K\u00f6rperoberfl\u00e4che, wie Sharpey, Purkinje und Valentin fanden , sp\u00e4ter aber zieht sich diess Ph\u00e4nomen auf einen immer kleinern Theil der Oberfl\u00e4che zur\u00fcck, so dass nur die Basis des Schwanzes, die Seiten des Kopfes flimmern. Nach der Bildung der Extremit\u00e4ten zeigt sich auf der Oberfl\u00e4che ihres K\u00f6rpers keine Wimperbewegung mehr.","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"2.\tWimperbewegung. Vorkommen derselben.\ny\n2.\tDarmkanal. Bei den Amphibien k\u00f6mmt die Wimperbewe-\u201eun\u201e nur im obern Theile des Verdauungsscblauches vor, wie Purkinje und Valentin entdeckt haben. N\u00e4mlich die innere Haut des ganzen Mundes, der Tuba Eustacbii und des Pharynx flimmert, bei den Schildkr\u00f6ten und Schlangen auch die Speiser\u00f6hre bis auf eine Grenze. Die Wimperbewegung h\u00f6rt nach Purkinje und Valentin im Oesophagus der Schlangen da auf, wo die erhobenen L\u00e4ngenfalten der innern Haut den Magen anzei-\u201een; auch bei den Schildkr\u00f6ten h\u00f6rt diese Bewegung am Magen mit scharfer Grenze auf. Bei den Saugethieren und V\u00f6geln flimmert dagegen die Mundh\u00f6hle, der Schlund und die Speiser\u00f6hre nicht.\nBei den Mollusken hingegen flimmert nach Puriunje und Valentin die innere Flache des ganzen Darmkanals, ja seihst die Galleng\u00e4nge; bei den B\u00e4derthieren und Naiden ist diess Ph\u00e4nomen auf der innern Fl\u00e4che des Darms schon von Ehrenberg beobachtet, und Sharply hat cs im Magen und in den Blindd\u00e4rmen der Seesterne, im Darm der Anneliden, im Magen der Actinien gesehen, und die im Verdauungsschlauch der Polypen von Me yen und Lister beobachteten Bewegungen der K\u00f6rnchen geh\u00f6ren wohl auch hieher. Lister, Philos. Transact. 1834.\n3.\tAthmungsorgane. Die Schleimhaut des Kehlkopfes, der Luftr\u00f6hre, der Bronchien flimmert nach Purkinje und Valentin\u2019s Entdeckung bei allen lufthathmenden Wirhelthieren. Bei den S\u00e4ugethieren und V\u00f6geln beginnt die Bewegung an der Stimmritze, da die Mundh\u00f6hle und der Schlund keine Spur davon zeigen. Bei den V\u00f6geln zeigt sich das Ph\u00e4nomen nicht bloss auf der innern Fl\u00e4che der Luftr\u00f6hre und ihren Aesten, sondern nach Purkinje\u2019s und Valentin's Entdeckung auch auf der innern Fl\u00e4che der von den Lungen ausgehenden Lufts\u00e4cke. Die \u00e4usseren Kiemen der Larven der nackten Amphibien flimmern, aber nur die \u00e4usseren Kiemen; die inneren Kiemen der Froschlarven, welche sie allein im zweiten Stadium der Entwickelung zeigen, flimmern nicht, wie bereits Sharpey fand. Auch bei den Fischen flimmern die Kiemen nicht, was bereits Sharpey fand. An den \u00e4ussern Kiemen der Embryonen der Haifische und Rochen kann man die Bewegung ver-muthen.\nAn den Kiemen der Mollusken, auch an den Nebenkie-men der zweischaligen Muscheln ist die Bewegung allgemein. Dagegen zeigt sich das Flimmern auf der innern Fl\u00e4che der Lungen der Lungenschnecken nach Purkinje\u2019s und Valentin\u2019s Beobachtungen nicht. Auch die Kiemen der eigentlichen Krebse zeigen nach denselben Beobachtern keine Spur der Bewegung. An den Armen der Federbuschpolypen sah schon Steinbuch die Bewegung, an den Kiemen der Sabellen sahen sie Henle und ich.\n4.\tNasenh\u00f6hle. In der Nasenh\u00f6hle ist das Ph\u00e4nomen allgemein und von Purkinje und Valentin entdeckt. Nicht bloss die Nasenh\u00f6hle der Amphibien, V\u00f6gel, S\u00e4usjethiere flimmert auf ihrer \u00e4usseren und inneien Wand. Purkinje und Valentin haben die","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Ahsc/in. Thier. Beweg, im All\u201d.\nErscheinung auch an der Schleimhaut der Nebenh\u00f6hlen der Nase der S\u00e4ugethiere, wie der Stirnh\u00f6hlen, Kieferh\u00f6hlen und in der Eustachischen Trompete beobachtet. Im Thr\u00e4nenkanal und Thr\u00e4nensack des Kaninchens scheint keine Wimperbewegung vorzukommen, dagegen die Schleimhaut der Nase sie zeigt; auch die Conjunctiva flimmert nicht. Dicss ist allerdings gegen Erwartung, da die Wimperbewegung, wenn sie an der Conjunctiva oder auch nur an den Thr\u00e4nenkan\u00e4lchen und im Thr\u00e4nensack vork\u00e4me, leicht die Aufnahme der Thr\u00e4nen in die Thr\u00e4nenkan\u00e4lchen erkl\u00e4ren w\u00fcrde. Die Nasenh\u00f6hle der Fische zeigt auch die Wimperbewegung sehr deutlich.\n5.\tGeschlechtsthei/e. Unter den Wirbelthieren k\u00f6mmt die Wimperbewegung bloss an den weiblichen Geschlechtstheilen vor, wie Purkinje und Valentin entdeckt haben. Sie erscheint an der innern Fl\u00e4che der Eierleiter, des Uterus und der Scheide der S\u00e4ugethiere (nicht bei den j\u00fcngeren); sie fehlt selbst nicht zur Zeit der Schwangerschaft an dem vom Chorion freien Thei-len des Uterus. Bei den V\u00f6geln und Amphibien ist die Bewegung auch bis zum Ende der Tuben vorhanden. Ich habe das Ph\u00e4nomen selbst sowohl bei S\u00e4ugethieren, als V\u00f6geln und Amphibien gesehen. Vielleicht bat die Wimperbewegung an der Abdominalm\u00fcndung der Trompete Antheil an der Aufnahme des Eies in die Tuba bei den Amphibien; cs ist bekanntlich bis jetzt noch ganz r\u00e4thselhaft, wie beim Frosch und Salamander die Eier von dem Ovarium in die viel h\u00f6her gelegene Abdominal-\u00f6ffnung der Tuba gelangen , welche den Eierstock bei diesen Thieren nicht umfassen kann. Es w\u00e4re indess m\u00f6glich, dass sich zu jenem Zw\u2019eck auch die Schleimhaut des Eierleiters am Abdominalende ausst\u00fclpte und die flimmernde Oberfl\u00e4che dem Ovarium oder den in die Bauchh\u00f6hle fallenden Eiern zukehrte. Bei den Fischen kommt die Wimperbewegung auch in den weiblichen Geschlechtstheilen vor; n\u00e4mlich auf der innern Fl\u00e4che des aus dem Eierstock ausf\u00fchrenden Eierlciters, wie beim Karpfen, und sehr deutlich bis zur Geschlechtsm\u00fcndung.\nBei den Mollusken fand Henle die Flimmerbewegung in den weiblichen Geschlechtstheilen deutlich, n\u00e4mlich im Eierstocke der Schnecken nach Cuvier, und auf der innern Fl\u00e4che der H\u00f6hlungen des Eierstocks der Muscheln. Die m\u00e4nnlichen Geschlechtstheile flimmern bei den Wirbelthieren nicht; auch bei den Wirbellosen ist die Bewegung noch nicht mit Sicherheit in definitiv m\u00e4nnlichen Geschlechtstheilen beobachtet.\n6.\tHarnwerkzeuge. Bei den Wirbelthieren fehlt die Flimmerbewegung in den Harnwerkzeugen ganz. Dagegen kommt sie, nach Purkinje und Valentin, im sogenannten Saccus calcareus der Schnecken vor, einem Organ, dessen Ausf\u00fchrungsgang sich neben dem After m\u00fcndet, und das man wegen seines harnsauren Inhalts f\u00fcr die Niere dieser Thiere halten kann. Die Bewegung ist hier auch von Henle gesehen. Bei den zweischaligen Muscheln flim-","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"2. JVimperbewegung. Ph\u00e4nomene derselben.\n11\nmert nach Purkinje und Valentin die innere Oberfl\u00e4che des neben der Oeffnung der Eierst\u00f6cke ausm\u00fcndenden BojANus\u2019schen sackf\u00f6rmigen Organes, welches von Einigen mit der Niere verglichen wird, das aber zugleich auch als Hoden betrachtet werden k\u00f6nnte, so lange nicht ein anderes Organ als Hoden der Muscheln definitiv nachgewiesen werden kann.\nMan sieht aus dieser Uehersicht, dass die Wimperbewegung ein allgemeines Ph\u00e4nomen der Thierwelt ist, dass sie aber eine verschiedene Ausbreitung in den verschiedenen Classen hat. Am seltensten ist sie \u00fcber die ganze Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers verbreitet, wie bei den Mollusken, Turbellarien und bei dem Embryo und der ganz jungen Larve der Batrachier. Constant ist sie an den Geruchswerkzeugen bei Wasser- und Luftatbmern und an den weiblichen Genitalien, meist an den Athemwerkzeugen, mit Ausnahme der Fischkiemen und der inneren Kiemen der Frosch-/ larven, selten im Darmschlauch, wie bei den Mollusken, in der Speiser\u00f6hre und im Munde der Amphibien; sie fehlt in den Harnwerkzeugen und m\u00e4nnlichen Geschlechtstheilen der Wirbelthiere. Keine einzige Thierclasse ist des Antheils der Wimperbewegung ganz beraubt. Purkinje und Valentin glaubten es von den Fischen; aber sie entbehren sie so wenig als andere Classen; bei den Fischen fehlt sie an den Kiemen, aber sie ist sehr deutlich an der Schleimhaut der Nasenh\u00f6hle und weiblichen Geschlechts-theile.\nDie Wimperbewegungen sind auch die Ursache der Bewegung der Embryonen im Ei bei mehreren Thieren, ja der freien Eier (richtiger Embryonen) bei mehreren niederen Thieren, Radiarien und Corallenthieren. Cavolini beobachtete die Bewegung der Eier der Gorgonien, Tilesius die der Eier der Milleporen, Grant die Bewegung der Eier der Campanularien, Gorgonien, Ca-ryophyllien, Spongien und Plumularien. Die aus den Capsein entfernten Eier bewegen sieb, mit dem einen Ende voran. Rapp fand die Cilien ebenfalls an den Eiern der Corynen. Grant bat auch die Wimpern an den Embryonen der Gasteropoden entdeckt, welche die Ursache ihrer Rotation im Ei sind.\nb. Ph\u00e4nomene der W im p e r b ewcgu n g.\nDie Wimperbewegung wird bei den meisten Thieren nur bei starker Vergr\u00f6sserung erkannt. Von einer Schleimhaut, worin sie vorhanden ist, pr\u00e4parirt man ein ganz kleines St\u00fcckchen ab, befeuchtet es ein wenig mit Wasser und bedeckt es mit einem kleinen Glaspl\u00e4ttchen, wodurch das Schleimhautst\u00fcckchen ausgebreitet wird und seinen Rand scharf erkennen l\u00e4sst. Mit den Objectivlinsen 1.2.3. der ScHiEK\u2019schen Mikroskope erkennt man die Wimperbewegung sogleich am Rande. Man sieht anfangs den Ausdruck einer undulirenden Bewegung und wie die kleinen Partikelchen ; die im Wasser schweben, Schleimk\u00fcgelchen, am Rande iw bestimmter Richtung vorbeigetrieben werden. Bei st\u00e4rkerer ergr\u00f6sserung erkennt man zuweilen die Wimpern selbst, jedoch selten sehr deutlich, wegen der sehr schnellen Bewegung dersel-","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. \u00c4bschn. Thier. Beweg, im Allg.\nben. Oft ist der Effect der Bewegung zahlloser Bewegungsorgane so gross, dass man die Beobachtung beeilen muss, wenn das ganze Schleimhautst\u00fcckchen nicht unter dem Sehfelde vorbeipassiren soll. Den Einfluss der Wimperbewegung auf die Forttreibung der die W\u00e4nde ber\u00fchrenden Fl\u00fcssigkeiten und kleinen K\u00f6rperchen kann man auch sehr gut an aufgestreutem feinen Pulver \u25a0erkennen. An den Kiemen der Salamanderlarven und Muscheln ist die Bewegung so stark, dass abgeschnittene kleine Theilchen derselben im Wasser seihst regelm\u00e4ssig herumgetrieben werden.\nDurch die gleichf\u00f6rmige Richtung der Bewegung der Wimpern enstehen nun an den Schleimh\u00e4uten regelm\u00e4ssige Str\u00f6mungen, die an den meisten Theiten bereits durch Sharpey\u2019s, Purkin-Je\u2019s und Valentin\u2019s Bem\u00fchungen bekannt sind. Die Str\u00f6mungen des Wassers, welche auf diese Art an den Kiemen der Muscheln und Salamanderlarven und am K\u00f6rper der jungen Froschlarven hervorgebracht werden, sind schon im ersten Bande p. 298. beschrieben worden. Die Direction der Str\u00f6mung war in Pur-kinje\u2019s und Valentin\u2019s Beobachtungen hei einer Henne in der Luftr\u00f6hre von aussen nach innen, im Eierleiter von innen nach aussen ; dass der Samen durch die Wimperbewegung zum Ei gelange, l\u00e4sst sich daher mehr vermuthen als erweisen. Shar-pey bestimmte die Str\u00f6mung auf der untern Muschel des Kaninchens; sie war von hinten nach vorn gegen die Nasen\u00f6ffnung, in der Kieferh\u00f6hle schien die Direction der Str\u00f6mung nach der Oeffnung derselben zu gehen. In der Mundh\u00f6hle der Batrachier geht die Str\u00f6mung von vorn nach hinten, sowohl an der ohern als untern Fl\u00e4che gegen den Oesophagus. An der Gauinenseite der Nasengaumen\u00f6ffnung einer Eidechse wurden die Partikelchen an der innern Seite in die Oeffnung, an der \u00e4ussern Seite aus der Oeffnung gef\u00fchrt. Bei der Kr\u00f6te hat Siiarpey die Direction so abgebildet, als wenn die Str\u00f6mungen sowohl an der \u00e4ussern als innern Seite der Nasengaum\u00f6ffnung bloss aus der Nase in den Mund stattfinden.\nc. Organe der Wimperbewegung.\nWas die Organe der Wimperbewegung betrifft, so sind sic nach Purkinje\u2019s und Valentin\u2019s Untersuchungen feine durchsichtige F\u00e4den und haben eine L\u00e4nge von 0.000075\u2014000908 par. Zoll. Ihre Basis ist meist st\u00e4rker als ihr Ende, so sah ich sie auch meist an Schleimh\u00e4uten. An den Kiemen einer Sabella verwandten neuen Gattung der Anneliden aus der Ostsee sah ich sie mehr kolbig. Die Form der Wimpern ist \u00fcberaus schwer zu bestimmen, ihr Daseyn ziemlich leicht zu sehen. Ich habe sie bei Anodonten, an den Kiemen jener Annelide, im Munde der Fr\u00f6sche, Eierleiter der Kaninchen und Fr\u00f6sche, Fische, in der Luftr\u00f6hre der V\u00f6gel und S\u00e4ugethiere sehr deutlich gesehen, und kann mir nicht erkl\u00e4ren, warum L. Cur. Treviranus sie nicht hat finden' k\u00f6nnen. Die Oberfl\u00e4che der H\u00e4ute, in welchen Wimperbewegungen Vorkommen, zeigte sich nach Purkinje und Valentin aus mikroskopischen geraden parallelen Fasern zu-","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"2. TVimperbewegung. Organe derselben.\n13\nsamniengesetzt, die durch Bindestoff vereinigt waren. Doch fand sich eine solche Schicht von Fasern auch in der nicht vibriren-den Schleimhaut des Leerdarms der Schildkr\u00f6te. Verstehen wir die Verfasser recht, so sind diese Fasern auf der Ebene der Schleimhaut senkrecht oder aufrecht stehende Cylinderchen. Dergleichen mikroskopische Cylinderchen finden sich nach Henle\u2019s Beobachtung sehr h\u00e4ufig und fast in der Begel in der Galle des Menschen und h\u00e4ufig auch hei den Thieren. Sie liegen meist zu kleinen Schichten zusammen, so dass man an der einen Seite des H\u00e4ufchens die Enden derselben in einer Ebene sieht. Diese Cylinderchen in der Galle haben nach Henle 0,0171 engl. Lin. L\u00e4nge und 0,0031 Breite; sie sind viel gr\u00f6sser als die Cilien der Schleimh\u00e4ute, und sollten in den vibrirenden Schleimh\u00e4uten die Wimpern auf diesen Cylinderchen stehen, so m\u00fcssten viele von einem Cylinder getragen werden. Henle hat auch einmal dergleichen K\u00f6rperchen, in der Harnblase angetroffen, und es ist mehr als wahrscheinlich, dass es die Theile sind, welche Purkinje und Valentin meinen. Henle bat bei der Auster abgel\u00f6ste Cilien untersucht, und sie so gebildet gesehen, dass auf dem Ende eines kleinen Cylinders ein oder mehrere Wimperhaare aufsassen. Einigemal wurde in dem Basaltheile gegen die Stelle, wo die Wimper damit in Verbindung stand, ein K\u00fcgelchen beobachtet. Gruit-huisen hat die Wimpern der Planarien auch im abgel\u00f6sten Zustande beobachtet, und gesehen, dass sie, wo die Thiere zerfliessen, sich noch bewegen. Am genauesten sind die Wimpern von den Infusorien durch Ehreneerg\u2019s Untersuchungen bekannt. Er sah bei den grossen Gattungen Stylonychia und Kerona die Basis jedes wirbelnden H\u00e4rchens zwiebelf\u00f6rmig, und hat sich \u00fcberzeugt, dass eine geringe schwankende Drehung der Zwiebel auf ihrem St\u00fctzpunkte gr\u00f6ssere kreisf\u00f6rmige Schwingungen der Spitze der H\u00e4rchen veranlasst, wodurch jedes dieser H\u00e4rchen bei der Bewegung eine conische Fl\u00e4che beschreibt, deren Spitze die Zwiebel ist. Bei den Magenthierchen sah Ehrenberg die Wimpern oft \u00fcber den ganzen K\u00f6rper verbreitet, zuweilen fehlen sie, zuweilen ist nur der Mund damit umstellt. Wenn der ganze K\u00f6rper behaart erscheint, fand sie Ehrenberg sehr regelm\u00e4ssig vertheilt; sie stehen n\u00e4mlich in deutlichen Beihen, die gew\u00f6hnlich eine L\u00e4ngsrichtung, oft aber auch eine Querrichtung haben. Solche reihenweise Vertheilung haben auch Purkinje und Valentin einigemal beobachtet, und sie wird auch aus der von Purkinje und Valentin beobachteten wellenf\u00f6rmigen Bewegung der Wimperreihen wahrscheinlich. Ehrenberg vermuthet kleine L\u00e4ngen- und Quermuskeln. Die R\u00e4derorgane der B\u00e4derthiere sind nach Eh-renberg\u2019s Beobachtungen nicht wesentlich von den Wimperorganen verschieden. Iiydatina senta hat 17 B\u00e4derorgane im Kreise, ]edes besteht aus 6 Wimpern, die auf einem rundlichen Muskel aulsitzen. Diese Muskeln sind von Scheiden umgeben und durch 2 Banderfascikel an 2 Stellen der K\u00f6rperh\u00fclle befestigt. Abhandlungen der Academie zu Berlin. 1830. Das B\u00e4derorgan dieser lliiere zerf\u00e4llt daher in mehrere von einander abgeschlossene cs bringt auch die T\u00e4uschung der Badbewegung\nR\u00e4derorgane","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Abschn. Thier. Beweg, im AUg.\nnicht hervor, wie hei den R\u00e4derthieren mit zusammenh\u00e4ngenden R\u00e4derorganen. In der zweiten Abhandlung (1831) werden viele Variationen in der Bildung der R\u00e4derorgane nachgewiesen.\nd. Natur der Wimperbewegung.\nBei der Untersuchung der Natur der Wimperbewegung k\u00f6mmt zuerst ihre Dauer und ihr Zusammenhang mit den \u00fcbrigen Lebensph\u00e4nomenen zur Sprache. Die Dauer derselben nach dem Tode ist wenigstens so lange, als die Reizbarkeit der thie-rischen Theile dauert, und oft viel l\u00e4nger. Bei Fr\u00f6schen und Eidechsen h\u00f6rt sie nach Purkinje\u2019s und Valentin\u2019s Beobachtungen in 1 \u2014 2 Stunden auf, bei einer gek\u00f6pften Emys europaea dauerte sie 9\u201415 Tage nach der Entfernung des Kopfes. Es behielten zwar die Muskeln bis zum 7ten Tage ihre Reizbarkeit (wir haben bei einer Flussschildkr\u00f6te mehrere Tage nach der Durchschneidung des verl\u00e4ngerten Markes noch die Reflexionsbewegung, Einziehung der Extremit\u00e4ten hei der Ber\u00fchrung, gesehen), aber die Wimperbewegungen dauerten eben so lange in ganz getrennten, in Wasser liegenden Theilen. Bei den V\u00f6geln und S\u00e4uge-thieren dauern die Bewegungen nach Purkinje und Valentin f\u20144 Stunden. Das Licht hat keinen, wohl aber die W\u00e4rme Einfluss auf die Wimperbewegungen ; sie dauern bei S\u00e4ugethieren und V\u00f6geln noch, wenn auch die Theile einen Moment in Wasser von 65\u00b0 R. getaucht werden, wenn l\u00e4nger, nicht. Die Bewegungen bleiben hei S\u00e4ugethieren und V\u00f6geln bei 10\u00b0 R., h\u00f6ren bei 5\u00b0 auf. Der Schlag einer Leidener Flasche hebt die Bewegung bei Unio nicht auf, auch der Einfluss einer galvanischen S\u00e4ule von 30 Plattenpaaren nicht, ausser an den Stellen der Application der Poldr\u00e4hte, wo das Aufh\u00f6ren von der chemischen Zersetzung bewirkt wurde. Die Wimperbewegungen werden durch Blaus\u00e4ure, Aloe- und Belladonna-Extract, Catechu, Moschus, Morphium aceticum, Opium, Salicin, Strychnin, Decoct, capsic. ann., selbst bei den concentrirtesten L\u00f6sungen nicht gest\u00f6rt. Die Alcalisalze, Erd- und Metallsalze, Alcalien, S\u00e4uren st\u00f6ren die Bewegung bald fr\u00fcher, bald sp\u00e4ter, nach der St\u00e4rke der Solution; Blut unterh\u00e4lt die Wimperbewegung am l\u00e4ngsten, aber Blutserum von Wirbelthieren macht die Wimperbewegung der Muscheln sogleich aufh\u00f6rend und Galle zerst\u00f6rt die Bewegung. Am merkw\u00fcrdigsten ist, dass diejenigen Stoffe, welche auf das Nervensystem wirken, wie die Narcotica, die Wimperbewegung durchaus nicht st\u00f6ren, wodurch diese Erscheinung sich als eine fundamentale und nicht vom Nervensystem abh\u00e4ngige erweist. Purkinje und Valentin haben Tauben und Kaninchen vermittelst Blaus\u00e4ure und Strychnin, theils durch Einfl\u00f6ssen in den Schlund, theils durch Application dieser Stoffe in frische Hautwunden, get\u00f6dtet. Nie zeigte sich die Flimmerbewegung im mindesten ver\u00e4ndert. Sie gebrauchten die Vorsicht, dass sie die Thiere nicht nur nicht fr\u00fcher \u00f6ffneten, als bis keine Zuckungen an irgend einem Theile des K\u00f6rpers mehr wahrgenommen wurden, sondern bis selbst die gezerrten Glieder keine Reaction","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"2. Wimperbewegung. Natur derselben.\n15\ndurch automatische Bewegungen mehr aus\u00fcbten. Ja um noch sicherer zu sein, wurde bei den Experimenten mit den Tauben ein gleiches Thier desselben Alters durch Verblutung get\u00f6dtet. Die Unterschiede, welche sich bei allen diesen Versuchen vorfanden, waren nur Verschiedenheiten, welche durch die Individualit\u00e4t, das Alter und die Eigent\u00fcmlichkeiten der Thiere bedingt wurden. Der Mangel des Erfolges der Intoxication \u2022war \u00fcberall derselbe. Mueller\u2019s Archiv. 1835.\t159. Die\nletzteren Versuche sind offenbar weniger beweisend als die ersteren mit unmittelbarer Application der Gifte auf die flimmernden Theile. Denn durch Narcotica get\u00f6dtete Fr\u00f6sche behalten ihre Muskel- und Nervenreizbarkeit f\u00fcr \u00f6rtlich applicirte Reize noch lange, dagegen verlieren die Nerven und Muskeln bei \u00f6rtlicher Application eines narcotiscben Giftes auf dieselben, an dieser Stelle immer bald ihre Reizbarkeit. Nur das Herz macht davon eine Ausnahme, welches nach Anwendung von Opiumaufl\u00f6sung und Extractum nucis vomicae auf seine \u00e4ussere Oberfl\u00e4che noch lange fortschl\u00e4gt, w\u00e4hrend dasselbe Gift, auf die innere Fl\u00e4che des Herzens applicirt, seine Reizbarkeit sogleich ersch\u00f6pft. Wir halten die Kleinheit der Wimperorgane gegen die bedeutende St\u00e4rke der Primitivfasern in den Nerven f\u00fcr keinen Grund gegen die Abh\u00e4ngigkeit dieser Erscheinungen vom Nervensystem; denn die Muskelfasern sind an sich schon sehr viel feiner als die Nervenfasern, wie man sie gew\u00f6hnlich ununterbrochen in den Nerven siebt, und die Vertheilung der Nervenfasern in den Muskeln ist so sparsam, die Zwischenstellen der Muskeln zwischen dem Bereich mehrerer Nervenfasern an mikroskopisch untersuchten Muskeln so gross, dass das Ph\u00e4nomen der Nervenwirkung auf die Muskeln ohne eine Action in Distanz nicht denkbar ist. Zudem giebt es gewisse Theile (nicht eben die Muskeln), in welchen eine sehr viel feinere Verzweigung der Nervenfasern stattzufinden scheint, als wie die Primitivfasern der Nervensl\u00e4mme und Aeste sind. Dr. Schwann hat im Mesenterium der Feuerkr\u00f6te von den gew\u00f6hnlichen st\u00e4rkeren Nervenfasern F\u00e4den ausgehen gesehen und mir gezeigt, welche sich \u00fcberaus fein verzweigten und in grosser Entfernung ganz kleine spindelf\u00f6rmige Anschwellungen zeigten (wahrscheinlich dem N. sympathicus angeh\u00f6rend). Die Dauer der Flimmerbewegung nach \u00f6rtlicher Application narcoti-scher Gifte beweist indess hinl\u00e4nglich die Eigent\u00fcmlichkeit dieses Ph\u00e4nomens, und dass es in keiner unmittelbaren Abh\u00e4ngigkeit vom Nervensystem steht. Ehen so wichtig ist in dieser Hinsicht die Existenz der Wimperbewegnng an der Oberfl\u00e4che der Eier der Corallenthiere, welche ovale K\u00f6rper indess wohl die belebten, aber noch unentwickelten Embryonen sind. Gerade die Untersuchung der Extreme ist hier am interessantesten. Die Extreme bilden aber die Wimperbewegung der unentwickelten Embryonen der Corallen und die Wimperbewegung an den R\u00e4derorganen der R\u00e4derthiere. \u00c8rstere erfolgt an H\u00e4uten, die noch keine besondere Structur zeigen, und an sie schliesst sich die Wimperbewegung an den Schleimh\u00e4uten der h\u00f6heren Thiere an, die v\u00b0n Strychnin und anderen narcotischen Giften nicht get\u00f6dtet","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Ahschn. Thier. Beweg, im Allg.\nwird; die Wimperbewegung an den R\u00e4derorganen hingegen erfolgt durch offenbare Muskelaction und ist dem Willen unterworfen, also jedenfalls von dem Nervensystem abh\u00e4ngig; sie wird auch, wie Ehrenberg bewiesen, durch Strychnin get\u00f6dtet.\nEs entsteht nun die Frage: ist die Wimperbewegung in der ganzen Thierwelt auch durch muskelartige Zusammenziehungqn eines sehr feinen contractilen Gewebes an der Basis der Wimpern, wie an den R\u00e4derorganen der R\u00e4derthiere bedingt? Bildet dieses contractile Gewebe der R\u00e4derorgane, das Ehrenberg entdeckt hat, ein eigenes System, dessen mikroskopische Structur sich bis durch die flimmernden Schleimh\u00e4ute der h\u00f6heren Thiere erstreckt, so dass, wenn die \u00fcbrigen Gewebe der h\u00f6heren Thiere eihe gr\u00f6bere Structur besitzen, die viel feinere Gewebebildung und Anatomie der Infusorien sich gleichwohl bei den h\u00f6heren Thieren wenigstens in der Structur der Wimperorgane erh\u00e4lt; oder geh\u00f6rt nur die Bewegung der R\u00e4derorgane der R\u00e4derthier-cben in eine Kategorie mit den Muskelbewegungen aller h\u00f6heren Thiere, und ist die Wimperbewegung der \u00fcbrigen Thiere ihrem Wesen nach ganz von der Muskelbewegung verschieden? Ich kann nicht umhin, in Hinsicht des Mechanismus der Wimperbewegung der R\u00e4derorgane Eiirenberg\u2019s eigene Worte hier anzuf\u00fchren. \u201eBetrachtet man Thierchen, wenn sie die Bewegung anfangen, so sieht man immer deutlich ein Ausstrecken und Anziehen, ein wahres Greifen der gekr\u00fcmmten Wimpercilien, das aber alsbald in das Wirbeln \u00fcbergeht, welches eine andere Art von Bewegung ist als jenes Greifen. Das Greifen sieht man auch, wenn man die Thierchen durch Streuen von Strychnin in Wasser im Tetanus sterben l\u00e4sst und die Th\u00e4tigkeit der R\u00e4derorgane allm\u00e4hlig erl\u00f6scht. In diesem Falle h\u00f6rt vorher schon das eigentlich radmachende Wirbeln auf.\u201c Ehrenberg suchte sich die Erscheinung bisher auf folgende Weise zu erkl\u00e4ren: \u201eJede einzelne Wimper wird durch den unter ihr liegenden Muskel besonders bewegt, und leicht k\u00f6nnen einzelne Muskelstreifen an viele, vielleicht alle Wimpern derselben Reihe gleichzeitig gehen und dieselben in eine einseitige Bewegung setzen. Wirkt nun diesem Muskelstreifen ein anderer, auf der andern Seite der verdickten Basis der H\u00e4rchen auf gleiche Weise entgegen, sind dieselben in etwas verschiedener H\u00f6he den H\u00e4rchen angeheftet, und wirken sie abwechselnd, so wird eine nach vier Richtungen schwankende Bewegung entstehen, welche die Spitze jeder einzelnen Wimper in eine Kreisbewegung versetzt, und die ganze Spitze wird einen Kegel beschreiben, dessen Spitze an deren Basis ist. Bei dieser Bewegung der einzelnen Wimpern sind sie, wenn man die Organe etwas oder ganz von der Seite betrachtet, bald dem Auge etwas n\u00e4her, bald etwas ferner, und werden mithin bald etwas deutlicher, bald etwas undeutlicher an sich erkannt. Diese Abwechselung der Deutlichkeit des Wahrnehmens der einzelnen Wimpern bei ihrer conischen Kreisbewegung erscheint mir, sagt Ehrenberg, als die Ursache des Radf\u00f6rmigen im Ganzen, denn jedenfalls muss dadurch eine T\u00e4u-","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"2. Wimperbewegung. Natur derselben.\n17\nschung, gine gewisse scheinbare Lebendigkeit, in den ganzen Kreis kommen.\u201c Dass durch die von Ehrenberg supponirte Th\u00e4-tigkeit der Muskeln ein kegelf\u00f6rmiger Raum von der Wimper umschrieben werden m\u00fcsse, l\u00e4sst sich sehr gut an den Augenmuskeln der h\u00f6heren Thiere erl\u00e4utern, wovon die geraden in der That das Auge gleichwie auf einem Stiele auf diese Art bewegen k\u00f6nnen. In der That ist es bei dem willk\u00fchrlichen Einfluss der R\u00e4-derthiere auf ihre R\u00e4derorgane, und bei dem von Ehrenberg nachgewiesenen Muskelapparat kaum zu bezweifeln, dass diese Art von Bewegung in die Kategorie der wahren Muskelbewegungen geh\u00f6re. Wie verh\u00e4lt es sich aber mit den Wimperbewegungen der Schleimh\u00e4ute, die von dem Willen nicht abh\u00e4ngig sind und von der narcotischen Vergiftung der Thiere nicht modificirt werden? Das Strychnin bringt die R\u00e4derorgane nach Ehrenderg\u2019s Beobachtungen zur Ruhe, dasselbe hat, wie alle \u00fcbrigen Narco-tica, auf die Wimperbewegungen der Schleimh\u00e4ute keinen Einfluss. Wie soll man ferner erkl\u00e4ren, dass die Wimperbewegung an den Eiern der Corallen vorkommt? Haben diese noch einen Rest von Lehensenergie von der Zeit her, wo sie dem Lebenseinflusse des Eierstocks ausgesetzt waren; und behalten sie ihn und \u00e4ussern ihn eine Zeit lang, wie die abgeschnittenen Schleimhautst\u00fcckchen der h\u00f6heren Thiere? Geh\u00f6ren ihre Lebenserscheinungen in eine Reihe mit den Bewegungen der Eierbeh\u00e4lter der Cerearien, die Bojanus und v. Baer beobachtet haben? Siehe oben Bd. I. p. 17. Viel wahrscheinlicher sieht man diese Eier als belebte, aber noch unentwickelte Embryonen an. Jedenfalls, scheint es uns, ist es n\u00f6thig, die Wimperbewegungen an den R\u00e4derorganen der R\u00e4derthiere von den Wimperbewegungen der Schleimh\u00e4ute vorl\u00e4ufig zu trennen. Die ersteren sind willk\u00fchrlich ver\u00e4nderlich, die letzteren dem Einfl\u00fcsse des Willens, ja dem directen Einfl\u00fcsse des Nervensystems entzogene Erscheinungen. Bei den R\u00e4derorganen ist die Wimper, wie es scheint, passives Bewegungsorgan, das active der muscul\u00f6se Apparat. Bei den Wimperbewegungen der Schleimh\u00e4ute und auch denen der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers der Infusorien sind die Muskeln noch unbekannt; noch weiss man nicht, ob die Wimper selbst sich bewegt, kr\u00fcmmt, oder ob sie auch bloss als Ruder wirkt und das contractile Gew ebe an ihrer Basis ist. Meyen hat die abgei\u00f6sten Wimpern der Leucophrys soi sich noch bewegen gesehen. Auf der andern Seite giebt es wieder bei den Thieren noch andere, wie Ruder wirkende Or gane, die in ihren un willk\u00fchrlichen, unaufh\u00f6rlich wirkenden Bewegungen eine grosse Aehnlichkeit mit Wimpern haben, und doch durch ihre Gestalt sich davon entfernen, und deren Bewegung kaum anders, als durch contractiles Gewebe an ihrer Basis erkl\u00e4rt werden kann. Die Beroen sind nach Grant's Beobachtun-Spn vom Munde bis zum After mit B\u00e4ndern wie von Meridianli-nien besetzt. Jedes der B\u00e4nder ist mit 40 Pl\u00e4ttchen besetzt; diese Pl\u00e4ttchen sind die zur Bewegung bestimmten Cilien. Die Pl\u00e4ttchen bestehen aus parallelen Fasern, welche durch eine Haut verbunden sind. Ja selbst die gewiss nur durch Muskeln beweglichen, best\u00e4ndig schlagenden, grossen, mit blossen Augen sehr Miiller\u2019\u00df Physiologic. 2r Btl. I,\t2","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Abschn. Thier. Beweg, im Allg.\ngut sichtbaren Pl\u00e4ttchen am Unterleihe der Gammarus pul ex und anderer niederen Crustaceen m\u00fcssen liieher gezogen werden, wenn die Bewegungen dieser Organe auch durch Muskeln, durch ein anderes contractiles Gewebe bewirkt werden m\u00f6gen als die Wimperbewegungen der Schleimh\u00e4ute. Bis jetzt l\u00e4sst sich nur so -viel aufstellen :\n1.\tdass die Wimperbewegung der Schleimh\u00e4ute durch irgend ein noch unbekanntes contractiles Gewebe bedingt werden, welches\n2.\tentweder in der Substanz der Wimpern oder an ihrer Basis liegt;\n3.\twelches durch seine Contractilit\u00e4t im Allgemeinen mit dem Muskelgewebe und anderen contractilen Geweben der Thiere \u00fcbereinstimmt;\n4.\tdessen Eigenschaften darin mit dem Muskelgewebe wenigstens der unwillk\u00fchrlichen Muskeln des Herzens, den Muskeln der schwingenden Bl\u00e4tter der Crustaceen \u00fcbereinstimmen, dass sie fast unaufh\u00f6rlich sich mit gleichem Rhythmus wiederholen;\n5.\tdessen Eigenschaften darin dem Muskelgewebe des Herzens gleichen, dass sie sich auch nach der Absonderung des Theiles vom Ganzen noch lange \u00e4ussern;\n6.\twelches sich aber vom Muskelgewebe wesentlich darin unterscheidet, dass die Bewegungen von der \u00f6rtlichen Application der Narootica nicht aufgehoben werden,\n7.\tund dass die Wimperbewegung unter Umst\u00e4nden vork\u00f6mmt (an den unentwickelten Embryonen der Corallen), wo eine zusammengesetzte Organisation unwahrscheinlich ist.\nDarin, dass die Nerven hei dem Ph\u00e4nomen der Wimperbewegung nicht unmittelbar initwirken, gleichen diese Bewegungen den Oseillationen gewisser Pflanzen, namentlich der Oscillatorien. Wie weit diese Vergleichung richtig ist, kann sich erst aus weiteren Untersuchungen ergeben. Wie sich diess aber verhalten mag, jedenfalls giebt es in den flimmernden Schleimh\u00e4uten ein Agens, welches auch die Th\u00e4-tigkeit dieser mikroskopischen Organe beherrscht, indem die Wimpern so h\u00e4ufig in Reihen wirkend beobachtet werden. Es wirkt hier eine Kraft, welche \u00fcber die Selbstst\u00e4ndigkeit einer einzelnen Wimper hinausgeht, und wenn man auch dieses reihenweise Wirken, diese Wellen aus der Befestigung vieler Wimpern an einem contractilen Streifen erkl\u00e4ren k\u00f6nnte, so zeigt sich doch oft ein gewisses Abnehmen und Zunehmen in der Lebenskraft grosser Strecken einer wimpernden Haut, welches allgemeinere Ursachen haben muss. Ich habe an den Kiemen einer neuen, Sabella verwandten Gattung von Anneliden, die ich in grosser Menge im Meerwasser von Copenhagen mitgebracht, unter dem Mikroskope zuweilen ganz grosse Strecken der Wimpern lange Zeit ganz ruhen und bald wieder th\u00e4tig werden gesehen. Erscheinungen, wovon Analogien in der Pflanzenwelt oft genug Vorkommen, und die daher nicht nothwendig von der Variabilit\u00e4t des Nerveneinflusses erkl\u00e4rt werden m\u00fcssen.\nDie Erkl\u00e4rung der Str\u00f6mungen, welche durch die Wimper-","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"3. Muskelbewcgung. Contractiles P\u00dfanzengewebe.\nJ 9\nbewegung hervorgebracht werden, bat auch ihre grossen Schwierigkeiten. Eine blosse Schwingung der Wimpern von einer Seite zur andern kann keine Direction eines Fluidums bewirken. Auch die Bewegung einer Wimper in einem kegelf\u00f6rmigen Raume, wie Purkinje und Valentin meist die Bewegung sahen, kann bloss einen Cirkel des Fluidums um die Wimper bewirken. Damit Wimperbewegungen eine Str\u00f6mung in einer Richtung hervorbringen, ist es noting, dass die Wimpern nach einer Richtung schlagen und sich kr\u00fcmmen, wie Purkinje und Valentin die Bewegung zuweilen, und wie ich sie in den meisten Fallen sah. Aber auch in diesem Falle entsteht nur eine Str\u00f6mung, wenn die sich wieder aufrichtende Wimper heim Aufrichten mit kleinerer Fl\u00e4che auf die Fl\u00fcssigkeit wirkt, als beim Schlagen.\nIII. Capitel. Von der Muskelbewegung und den verwandten Bewegungen.\nI. Von den contractilen Geweben.\nSieht man von dem bis jetzt noch nicht weiter bestimmbaren contractilen Gewebe ab, welches die Ursache der Wimperbewegungen ist, so kann man 4 Formen des contractilen Gewebes unterscheiden, das contractile Pllanzengewebe, das leimgebende contractile Gewebe der Thiere, das contractile Gewebe an den Arterien und das Muskelgewebe.\na. Vom contractilen Gewebe der Pflanzen.\nDie wesentlichsten Ph\u00e4nomene der Pflanzenreizbarkeit sind bereits oben Bd. I. p. 40. erw\u00e4hnt worden. Es handelt sich hier bloss um eine Vergleichung des contractilen Gewebes der Pflanzen und Thiere. Dutrochet hat \u00fcber diess Gewebe bei den Pflanzen in seinem Werke Recherches anatom, et physiol, sur la structure intime des animaux et des v\u00e9g\u00e9taux. Paris 1824, Aufschl\u00fcsse gegeben. Die Bl\u00e4tter der Mimosa sensitiv\u00bb sind von einem langen Stiel getragen, an dessen Basis man einen den Stiel umgehenden l\u00e4nglichen Wulst bemerkt, ln diesem Wulst liegt das Princip der Bewegung. Wird dieser Wulst der L\u00e4nge nach durchschnitten und seine Durchschnitte untersucht, so sieht man mit dem Mikroskope, dass die Achse von den R\u00f6hren eingenommen ist, welche die Gef\u00e4sscommunication des Blattes mit dem Stengel bewirken. Das Gewebe desselben besteht aus einer grossen Menge rundlicher durchsichtiger Zellen, deren W\u00e4nde mit K\u00fcgelchen bedeckt sind. Dieser Bau weicht in einigen Punkten von dem Bau der Pflanze in den \u00fcbrigen Theilen ah ; das Mark der Sensitiva besteht aus Zellen, in welchen einige kleine K\u00fcgelchen enthalten sind; im jungen Zustande der Pflanze ist in den Mark-Hellen eine durchsichtige Fl\u00fcssigkeit enthalten, die von kalter Salpeters\u00e4ure gerinnt, w\u00e4hrend das Gerinnsel von warmer S\u00e4ure Wieder aufgel\u00f6st wird. Die Markscheide besteht aus Tracheen. Die Holzschichte, welche die Markscheide bedeckt, besteht aus.\n2 *","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Ahschn. Thier. Beweg, im Allg.\nden gew\u00f6hnlichen Holzfasern. Das Corticalsystem besteht wieder aus Holzfasern. Die Bl\u00e4tter der Sensitiva stehen auf einem langen Blattstiel, an dessen Basis der genannte Wulst liegt; \u00e4hnliche, aher kleinere W\u00fclste Befinden sich an der Insertion der Bl\u00e4ttchen an dem obern Theiic des Blattstieles. Diese W\u00fclste sind die Ursache, dass die Bl\u00e4ttchen sich am Blattstiel bewegen, und dass hinwieder der Blattstiel seihst sich gegen den Stengel bewegt. Der Wulst am Blattstiel enth\u00e4lt eine grosse Quantit\u00e4t von durchsichtigen kugeligen, von einander durch ansehnliche Zwischenr\u00e4ume getrennten Zellen, deren W\u00e4nde mit kleinen K\u00fcgelchen bedeckt sind. Von Salpeters\u00e4ure werden die Zellen opak. Diese Zellen gleichen darin den Zellen des Markes, aber sie sind rundlich und nicht wie jene sechseckig. Sie liegen, obgleich sie sich nicht ber\u00fchren, in Reiben der L\u00e4nge nach. Zwischen diesen runden Hellen liegt ein viel zarteres Zellgewebe, worin viele dunklere kleine K\u00f6rperchen. Heisse Salpeters\u00e4ure l\u00f6st den Inhalt der kugeligen Zellen, gleichwie den Inhalt der Zellen des Markgewebes des Stengels, ln der Achse des Wulstes verlaufen die Gef\u00e4ssb\u00fcndel, welche den Blattstiel mit dem Stengel in Verbindung setzen. Der Blattstiel selbst enth\u00e4lt \u00e4usserlich Holzfasern, sie bilden die Rinde; im Innern befindet sich articulirtes Zellgewebe mit K\u00fcgelchen und grosse K\u00f6rperchen enthaltende R\u00f6hren. Im Centrum des Blattstieles liegen Tracheen. Ber\u00fchrt man die Sensitiva oder ersch\u00fcttert sie, so legen sich die kleinen Bl\u00e4ttchen paarweise zusammen, wodurch sie sieh ihrer gemeinschaftlichen Achse, derjenigen des Blattstieles, n\u00e4hern. Der gemeinschaftliche Blattstiel hingegen bewegt sich durch seinen Wulst in entgegengesetzter Richtung nach abw\u00e4rts gegen den Stengel. In der Ruhe erheben sich beide wieder in ihre nat\u00fcrliche Lage. Wenn sich der Blattstiel senkt, so bildet der im Zustande der Ruhe gerade l\u00e4ngliche Wulst um die Basis des Blattstieles eine nach unten concave, nach oben convexe Kr\u00fcmmung.\nAls Dutuociiet das Cortical- oder Zellenparenchym eines Wulstes weggenommen, ohne das centrale Gef\u00e4ssb\u00fcndel zu verletzen, starb das Blatt davon nicht ab; nur blieben die Bl\u00e4ttchen desselben mehrere Tage unentfaltet. Der Blattstiel hatte seine Bewegungskraft verloren. Die letztere hat also nicht ihren Sitz in dem centralen Gef\u00e4ssb\u00fcndel, sondern in dem Zellenparenchym des Wulstes. Als der untere Theil eines Wulstes abgetragen worden, blieb der Blattstiel immer in seiner zur Erde gesenkten Lage, und wenn der untere Theil eines andern Wulstes weggenommen wurde, war der Blattstiel nicht mehr f\u00e4hig sich zu senken. Es schien daher durch diese mit gleichem Resultate \u00f6fter wiederholten Versuche bewiesen, dass die obere Schichte des Wulstes es ist, welche den Blattstiel nach abw\u00e4rts dr\u00fcckt, und dass die untere Lage ihn aufw\u00e4rts dr\u00fcckt. Diess wurde an abgeschnittenen Theilen des Wulstes selbst best\u00e4tigt. Die abgeschnittenen Schichten blieben zwar unbefeuclitet gerade, wenn sie aber in Wasser gelegt wurden, bogen sie sich jedesmal, und zwar immer so, dass die innere Seite concav wurde. Diese F\u00e4higkeit hatten auch die seitlichen Schichten, und es war also","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"3. Muskelbewegung. Contractiles Pflanzengewele.\n21\nerwiesen, dass der ganze l\u00e4ngliche Wulst, um die Basis des Blattstiels aus Schichten Besteht, welche durch Kr\u00fcmmung an ihrer innern Seite einen Druck auf den Blattstiel \u00fchen. Wird das Gleichgewicht dieses Druckes aufgehoben, so bewegt sich der Blattstiel und die Bl\u00e4ttchen in der einen oder andern Richtung. Dutrociiet schliesst aus seinen Versuchen p. 194., dass die Bewegung der Blattstiele und Bl\u00e4ttchen von der Kr\u00fcmmung der Schichten des Wulstes, und diese wieder aus der Ann\u00e4herung der von einander durch zartes Zellgewebe getrennten runden Zellen des Wulstes entstehen. Geht diese Erkl\u00e4rung aus seinen Versuchen hervor, so zeigt sich eine grosse Uebereinstimmung in der Contractilit\u00e4t der Pflanzen und Thiere, mit dein Unterschiede, dass die sich einander anziehenden Elemente hei den Thieren zusammenh\u00e4ngende F\u00e4den bilden, w\u00e4hrend sie bei der Mimosa sensitiva zwar linear geordnet, aber von einander durch Interstitien getrennt sind. L. C. Treviranus (Zeitschrift f. Physiol. I. 17\u00df.) und Mohl {Flora, 15. Jahrgang, p. 499.) nehmen die von Dutrociiet entdeckten anatomischen Thatsachcn an, scheinen aber eine andere Deutung des Ph\u00e4nomens daraus zu folgern; beide sagen n\u00e4mlich, dass Dutbochet\u2019s Versuche bewiesen haben, dass die vegetabilische Reizbarkeit auf Expansion des parenchymat\u00f6sen Zellgewebes beruhe. Indessen geht diese Erkl\u00e4rung aus Dutrochet\u2019s Versuchen nicht direct hervor, und Dutrochet erkl\u00e4rt die Erscheinung vielmehr umgekehrt durch die Ann\u00e4herung der von einander getrennten rundlichen Zullen, p. 194. Die Hauptfrage bleibt immer noch: entsteht die Senkung der Blattstiele durch Expansion des Wulstes an der obern Seite, wodurch der Blattstiel abw\u00e4rts gedr\u00fcckt wird, oder durch Kr\u00fcmmung des Wulstes an der obern Seite nach unten, wodurch der Blattstiel auch abw\u00e4rts gedr\u00fcckt werden muss. Da die rasche Expansion des Zellgewebes weder erwiesen, noch auch \u00fcberhaupt wahrscheinlich ist, da die Zellen nicht durch ihre W\u00e4nde so schnell die zur Expansion n\u00f6thigen Fl\u00fcssigkeiten an sich ziehen k\u00f6nnen, und da die abgeschnittenen St\u00fccke des Wulstes nach Dutrochet sich nicht expandiren, sondern im Wasser kr\u00fcmmen, so ist die Erkl\u00e4rung von Dutrociiet durch Anziehung, Zu-sammenziehung wahrscheinlicher. Wir kennen keine raschen Bewegungen durch Expansion, als die Erection, diese geschieht durch Erguss von Fl\u00fcssigkeit in fr\u00fcher collabirte H\u00f6hlungen ; ein solcher schneller Erguss ist aber bei den geschlossenen Zellen des Wulstes der Mimosa nicht wohl denkbar, und eine active schnelle Expansion der blossen Zellen w\u00e4nde nach allen Richtungen ist auch nicht denkba v. Ich muss mich daher zur Erkl\u00e4rung von Dutrociiet und zwar um so mehr hinneigen, als bei derselben die Analogie der vegetabilischen und animalischen Contractilit\u00e4t erhalten bleibt. Zugegeben, dass die Erscheinungen durch Contraction erscheinen, so sind nun wieder zweierlei Erkl\u00e4rungen m\u00f6glich.\nNach Dutrociiet ist die Erhebung des Blattstieles die Folge der Action der untern H\u00e4lfte des l\u00e4nglichen Wulstes, die Senkung die Folge der Action der obern H\u00e4lfte des Wulstes. Nach","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22 IV. Buch. Von d. Bewegungen. II. Abschn. Thier. Beweg, im Allg.\ndieser Ansicht ist im gew\u00f6hnlichen Zustande, so lange die Sen-sitiva nicht ersch\u00fcttert wird, allein die untere H\u00e4lfte des Wulstes th\u00e4tig, und nur hei der Ersch\u00fctterung \u00e4ussert die obere H\u00e4lfte ihre Reizbarkeit. Das heisst mit anderen Worten : die untere H\u00e4lfte des Wulstes, welche den \u00dflattstiel best\u00e4ndig nach oben dr\u00fcckt, ist auf \u00e4ussere Reize gar nicht afficirbar, gar nicht reizbar, sie wirkt bloss unter dem Einfluss der allgemeinen Lehensreize; gerade dann, wenn pl\u00f6tzliche Reize wirken, \u00e4ussert sie ihre Contractilit\u00e4t nicht mehr. Diese Erkl\u00e4rung der Facta geht aus den von Dutbochet entdeckten Thatsachen nicht nothwendig hervor, und einige Beobachtungen scheinen ihr zu widersprechen. Die abgeschnittenen St\u00fccke des Wulstes contrahiren sich im Wasser, sie m\u00f6gen oben oder unten oder an den Seiten des Wulstes abgeschnitten seyn; ihre Contractilit\u00e4t m\u00fcsste daher an allen Seiten des Blattstieles gleich seyn; indessen ist doch die folgende, auf einen supponirten Antagonismus von Elasticit\u00e4t und Contractilit\u00e4t beruhende Erkl\u00e4rung viel unwahrscheinlicher. Nimmt man an, dass der ganze l\u00e4ngliche Wulst rund um die Basis des Blattstiels sich ohne Unterlass nach innen zusammenzieht (wie es im Wasser die abgeschnitterien Th eile desselben thun), so wird im nicht ersch\u00fctterten Zustande der Blattstiel gegen seine Insertion hingezogen, und er ist aufgerichtet. Jede Ersch\u00fctterung soll nun, wie das Leben der ganzen Pflanze, so n\u00e4mlich die Contractilit\u00e4t des Wulstes st\u00f6ren; der Blattstiel wird sich dann, so lange die Folgen der Ersch\u00fctterung dauern, nicht mehr erhoben erhalten k\u00f6nnen, er wird sich (seiner Elasticit\u00e4t folgend?) senken. Haben die Folgen der Ersch\u00fctterung aufgeh\u00f6rt, so wirkt die Contractilit\u00e4t des ganzen Wulstes wieder, und der Stiel erhebt sich in der Richtung seiner Insertion wieder. Die Bewegung der Bl\u00e4ttchen im Momente der Ersch\u00fctterung gegen einander w\u00e4re dann auch als Zustund der Ruhe der lebendigen Contracli-lit\u00e4t zu betrachten, wie er auch iin Schlafe der Pflanze eintritt, und die Entfaltung ausser der Zeit der Ersch\u00fctterung fiele in die Zeit der Wirkung ihres Wulstes. Man sieht, dass sich die Ph\u00e4nomene auch so erkl\u00e4ren lassen. Die abwechselnden Bewegungen der Bl\u00e4ttchen von Hedysarum gyrans w\u00e4ren kein un\u00fcber-steigliches Hinderniss gegen diese Erkl\u00e4rung. Man nimmt in diesem Fall, statt des Antagonismus zweier lebendigen Kr\u00e4fte, eine rhythmisch wirkende lebendige Kraft, eine abwechselnd wirkende Contractilit\u00e4t an, w\u00e4hrend die Theile in den Zwischenzeiten der Elasticit\u00e4t allein folgen. W\u00e4re die letztere Erkl\u00e4rung richtig, so w\u00fcrde sich die Contractilit\u00e4t der Pflanzen in dem Puncte wesentlich von der der thierischen, d. h. mit Nerven begabten Wesen unterscheiden, dass st\u00f6rende Eingriffe sie auf einen Augenblick aufheben, w\u00e4hrend diese Einfl\u00fcsse bei den Thieren auf die Nerven wirkend, die Wirkung der Nerven entladen und eine Verst\u00e4rkung der Contraction, eine Zuckung hervorbringen. Ich halte indess die Erkl\u00e4rung von Dtjtrochet f\u00fcr wahrscheinlicher, weil nach mehreren Beobachtern der auf Ersch\u00fctterung gesenkte Blattstiel der k\u00fcnstlichen Erhebung widersteht, die Senkung des\nPJnftstiVU siYIi nUn als Aflivpr MYm\u00efP.nl\u2019 prwpid","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"3. Muskelbewegung. Lelm gebendes contractiles Gewebe. 23\nNiclit die unmittelbar gereizten Tbeile allein zeigen Contracti-lit'\u00e4t; die Reizung pflanzt sieb vielmehr auf eine noch unbekannte Art und wahrscheinlich durch Ver\u00e4nderung der Saftstr\u00f6mung in den Gef\u00e4ssb\u00fcndeln auf andere oder alle reizbaren Tbeile der Pflanze fort, so dass von dem gereizten Tbeile aus, seihst dann, wenn die Reizung ohne Ersch\u00fctterung durch Rrennen oder S\u00e4uren geschah, allm\u00e4hlig die n\u00e4chsten, dann die entfernten Tbeile der Pflanze aflicirt werden. Dutiiociiet hat durch Verletzung verschiedener Tbeile der Pflanze und Eeobachtung der darauf stattlindenden Erfolge der Reizung es wahrscheinlich zu machen gesucht, dass die Fortpflanzung der Reizung nicht durch das Mark und die Holzfasern, sondern durch die Saftgelasse geschehe. Die l\u00e4ngere Beraubung von dem Lichteinflusse und eine niedere Temperatur machen die Pflanze zur Aeusserung der Contractili-t\u00e4t auf pl\u00f6tzliche Reize unf\u00e4hig, w\u00e4hrend die mit dem Schlafe und Wachen zusammenfallenden Bewegungen derselben Tbeile anfangs noch fortdauern.\nb. Von dem 1 ei in g eb en <1 en contractilen Gewebe der T lue re.\nDie ersten Spuren der lebendigen Contractilit\u00e4t zeigen sich bei den Thieren in einem den Fasern des Zellgewebes sowohl durch seine Structur als durch seine chemischen Eigenschaften so \u00e4hnlichen Gewebe, dass man verleitet werden k\u00f6nnte, es f\u00fcr damit identisch zu halten, und dem Zellgewebe nicht bloss die ihm auch nach dem Tode zukommende elastische Contractilit\u00e4t, sondern auch organisches Zusammenzielmngs-Verm\u00f6gen zuzuschreiben. Wir wollen es vorl\u00e4ufig leimgehendes contractiles Gewebe nennen, ein Name, der seine Verschiedenheit von den aus Faserstoff bestehenden Muskeln hinl\u00e4nglich bezeichnet. Da es am meisten Aehnlichkeit mit dem Zellgewebe besitzt, so wollen wir zuerst einen Blick auf dessen Structur und chemische Eigenschaften werfen.\nDie Zusammensetzung des Zellgewebes ist schon oben Bd. I. p. 410. beschrieben. Es besteht aus mannigfaltig durchflochte-nen Fascikeln, die wieder aus parallelen, ganz glatten, durchsichtiger > Primitivfasern bestehen. Diese Fasern sind sehr fein und messen nach Krause -,t2'\u00efiTi\u2014TsW\u201c, nac^ J0RDAN (Mueller\u2019s Archiv 1834.) 0,0(107 englische Linien im Durchmesser. Die Beschaffenheit dieser Fasern ist so eigenth\u00fcmlich, dass sie sogleich unter dem Mikroskop jedesmal von anderen Fasern leicht unterschieden werden k\u00f6nnen. Ausser ihren glatten R\u00e4ndern und ihrer durchsichtigen Beschaffenheit haben sie in ihrer geschwungenen Lage etwas ganz Charakteristisches. Unausgespannt bilden diese Fasern keine geraden F\u00e4den, immer liegen sie bogen- oder wellenf\u00f6rmig. Doch bleiben die Fasern eines primitiven B\u00fcndels hei den Biegungen parallel. Diess Verhalten k\u00f6mmt von der grossen Elasticit\u00e4t des Zellgewebes her. So oft diese B\u00fcndel gedehnt werden, jedesmal nehmen sie, sobald die Dehnung aufh\u00f6rt, die verschlungene Lage wieder ein. ln chemischer Hinsicht geh\u00f6rt das Zellgewebe (von Blut und Lymphe ausgewaschen) in die Classe","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Abschn. Thier. Beweg, im Allg.\nder leimgebenden Gewebe (Zellgewebe, fibr\u00f6ses Gewebe, Knorpelgewebe). Es kann durch Kochen in Leim aufgel\u00f6st werden. Eigenschaften des Leims Bd. I. p. 128. Hiedurch unterscheiden sich die Zellgewebefasern durchaus von den Muskelfasern, welche in die Classe der eiweissartigen K\u00f6rper geh\u00f6ren. Das Zellgewebe li\u00e2t auch mit dem fibr\u00f6sen Gewebe, Knorpelgewebe und auch mit dem elastischen Gewebe (welches beim Kochen keinen Leim giebt) das Verhalten gegen das rothe Cyaneisenkalium gemein. Seine essigsaure Aufl\u00f6sung wird n\u00e4mlich durch Zusatz von rothem Cyaneisenkalium nicht getr\u00fcbt, w\u00e4hrend die essigsaure Aufl\u00f6sung der eiweissartigen K\u00f6rper, und also auch des Muskelgewebes, von rothem Cyaneisenkalium getr\u00fcbt wird. Das chemische Verhalten des Zellgewebes ist oft zur Erkenntniss des Zellgew'ebes von Wichtigkeit, namentlich zur Unterscheidung des contractilen Zellgewebes von derjenigen Classe der Muskelfasern, welche gleichf\u00f6rmige und nicht varicose F\u00e4den bilden. Doch fehlt auch im letzten Fall, z. B. an den nicht varic\u00f6sen Muskelfasern des Uterus, der Iris, des Darmkanals, immer die charakteristische geschwungene oder wellenf\u00f6rmige Lage der Zellgewebefasern.\nDie Contractilit\u00e4t des dem Zellgewebe vergleichbaren Gewebes ist schon seit langer Zeit bekannt; aber man hat diese Erscheinung an gewissen Theilen oft mit der Muscularcontraction verwechselt, und da eine so geringe Ver\u00e4nderung des Durchmessers, als sie diese Art der Contraction bewirkt, leicht \u00fcbersehen werden kann und schwer zu beweisen ist, so ist diese Erscheinung von Einigen ganz vernachl\u00e4ssigt oder gar gel\u00e4ugnet worden. Um diese Erscheinungen zu constatiren und zu studiren, geht man am zweckm\u00e4ssigsten von denjenigen Theilen aus, wo sie am auffallendsten sind, und wo eine genaue mikroskopische und chemische Sonderung der Gewebe m\u00f6glich ist. Am auffallendsten ist die Erscheinung an der Tunica dartos des Hodensacks, die wegen ihrer lebhaften Contractilit\u00e4t, die sie am h\u00e4ufigsten gegen K\u00e4lte \u00e4ussert, den Kamen der Fleischhaut sich erworben hat. Die Structur derselben und ihre Stellung im Systeme der Gewebe ist neuerlich von Jordan (Mueller\u2019s Ar etdo, 1834) aufgekl\u00e4rt worden.\nDas Folgende ist ein Auszug dieser Untersuchungen An der Stelle, wo an der \u00e4ussern Fl\u00e4che des Hodensacks oben die Falten ihren Anfang nehmen, ver\u00e4ndert auch das Unterhautzellgewebe sein Ansehen und seine Structur; die Fettzellen, welche am Mons Veneris noch in reichlicher Menge vorhanden sind, h\u00f6ren pl\u00f6tzlich auf, und statt ihrer erscheint bei kr\u00e4ftigen Menschen, deren Hodensack auch stark gerunzelt ist, fein r\u00f6thliches faseriges Gewebe. Die Fasern sind dehnbar und elastisch, und zu d\u00fcnneren und diese zu dickeren B\u00fcndeln vereinigt, welche s\u00e4mmtlich ihre Richtung von oben nach unten nehmen, also rechtwinklig gegen die Falten der \u00e4ussern Haut gestellt sind, mit welcher sie so innig Zusammenh\u00e4ngen, dass sie nur mit grosser M\u00fche und Vorsicht davon abpr\u00e4parirt werden k\u00f6nnen. Diese B\u00fcndel laufen aber nicht vollkommen parallel neben einander, sondern anastomosiren vielfach, indem von einem B\u00fcndel Par-","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"3. Muskelbewegung. Leim gebendes contractiles Gewebe. 25\ntien abgehen und sich an das benachbarte B\u00fcndel anlegen, wodurch viele Maschen gebildet werden, die s\u00e4mmtlich ihren l\u00e4ngsten Durchmesser von oben nach unten haben und ein sehr dichtes und festes netzf\u00f6rmiges Gewehe zusammensetzen. So wie die Falten der \u00e4ussern Haut, so ist auch dieses Gewebe an der vordem Seite des Hodensacks am deutlichsten, an der hintern meist gar nicht wahrzunehmen; man findet dasselbe schon bei kleinen Kindern und Neugebornen. Auch unter der \u00e4ussern Haut des Penis zeigen sich \u00e4hnliche r\u00f6thliche Fasern, die aber hier ein unregelm\u00e4ssigeres und viel d\u00fcnneres Gewebe bilden. Ausser den beschriebenen Fasern finden sich in diesem Gewehe noch viele lange, d\u00fcnne, gelbliche, sehr elastische und wenig verzweigte, abw\u00e4rts laufende Cylinder. Diese sind, wie sich Jordan durch In-jectionen \u00fcberzeugt hat, Arterien, an der vordem Seite des Scrotum Aeste der A. pudenda externa, an der hintern Seite des Scrotum der A. scrotales posteriores. Zwischen der \u00e4ussern Haut und der Tunica dartos fand Jordan kein verbindendes Zellgewebe, sondern die Faserb\u00fcndel dieser h\u00e4ngen unmittelbar und sehr innig mit jener zusammen; die Cutis muss daher immer den Bewegungen der innern Haut folgen. Dagegen befindet sich zwischen der innern Fl\u00e4che der Tunica dartos und den darunter liegenden Gebilden, dem Cremaster n\u00e4mlich und der Tunica vaginalis communis, ein so lockeres Zellgewebe, dass, wie Jordan aus Versuchen an Leichnamen und lebenden Thieren gesehen hat, der Hode mit seinen Scheidenh\u00e4uten durch den Cremaster in die H\u00f6he gezogen werden kann, w\u00e4hrend der untere Theil des Hodensacks leer bleibt.\nDie B\u00fcndel, aus denen die Tunica dartos besteht, lassen sich in \u00e4usserst feine elastische Fasern auseinander ziehen. Diese Primitivlasern erscheinen unter dem zusammengesetzten Mikroskope als ihrer ganzen L\u00e4nge nach gleich dicke, geschl\u00e4ngelte Cylinder, deren Durchmesser nach den von Jordan angestellten Messungen zwischen 0,0005\u20140,0009 Engl. Linien variirt, und im Mittel 0,0007 Engl. Lin. betr\u00e4gt. Ebenso fand Jordan den Durchmesser der geschl\u00e4ngelten Primitivfasern des Zellgewebes in anderen Theilen =0,0005\u20140,000.9, und in der Mehrzahl =0,0007 Engl. Lin. Die varic\u00f6sen Muskelfasern, wie sie in den willk\u00fchr-lichen Muskeln und im Herzen Vorkommen, betragen nach Schwann\u2019s genauen mit demselben Mikrometer angestellten Untersuchungen weniger im Durchmesser, n\u00e4mlich im Mittel 0,0004 Engl. Lin. Die nicht varic\u00f6sen cylindrischen Muskelfasern, wie sie im Darmkanal, Uterus des Menschen und der Thiere, und m der Iris Vorkommen, weichen im Durchmesser auch von den ellgewebefasern ab. Die Primitivmuskelfasern des Dickdarms betragen nach Schwann\u2019s Messungen 0,0007\u2014-0,0011\u20140,0013, smc also st\u00e4rker als die Fasern des Zellgewebes und der Tunica au\u2019tos. Die Primitivfasern in der Iris des Schweins fand Schwann se r fein, 0,0002 \u2014 0,0003 Engl. Lin.; sie sind also feiner als die asern des Zellgewebes und der Tunica dartos. Aber abgesehen von dem Durchmesser der Fasern gleichen die Fasern der Tu-mca dartos durch ihr geschwungenes Ansehen und durch ihre","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"126 IV. Buch. Von d. Bewegungen. II. Ahschn. Thier. Beweg, im Allg.\nElasticit\u00e4t ganz den Zellgewebefasern, und nicht den cylindri-schen Muskelfasern der vorher erw\u00e4hnten Theile.\nDa nun aber die Faserb\u00fcndel der Tunica dartos in Masse graur\u00f6thlich, die Faserb\u00fcndel des Zellgewebes vielmehr grau-weisslich aussehen, und da die B\u00fcndel der Tunica dartos, obgleich Maschen bildend, doch durchg\u00e4ngig derselben L\u00e4ngenrichtung folgen, w\u00e4hrend die B\u00fcndel der Zellgewebcfasern in den mannigfaltigsten Richtungen sich durchkreuzen, so fragt, sich, ob die mikroskopische Uebereinstiminung der Fasern der Tunica dartos mit den Zellgewebefasern hinreicht, jene Haut mit dem Zellgewebe zu vereinigen. Die Entscheidung dieser Frage wird besonders durch die grosse mikroskopische Aehnlicbkeit der Primitivfasern des Sehnengewebes mit den Zellgewebelasern schwierig, indem hinwieder das Sehnengewebe doch durchaus durch seine Eigenschaften sich von dem Gewebe der Tunica dartos unterscheidet. Sie v\\ird auch erschwert durch die Existenz jener ganzen Classe von Muskeln, deren Primitivfasern nicht wie gew\u00f6hnlich varic\u00f6s, sondern gleichf\u00f6rmig cylindrisch sind, eine Bildung, \u2022durch welche das Gewebe der Tunica dartos dem Gewebe jener Muskeln sehr nahe gestellt scheint. Hierzu k\u00f6mmt, dass die Bewegung der Tunica dartos, wenn sie gleich in der Regel auf den Reiz der K\u00e4lte geschieht, doch auch zuweilen durch innere Zust\u00e4nde des Nervensystems bedingt wird, wie denn zuweilen derselbe Zustand der Nerven sowohl die Anziehung eines wirklichen Muskels, des Cremasters, als auch die Faltenlegung und Kr\u00e4uselung des Hodensacks bewirkt; Ph\u00e4nomene, weiche, wie sich sicher beweisen l\u00e4sst, sich nicht von dem Cremaster zugleich ableiten lassen.\nAndererseits sehen wir indess in der That auch Spuren der Contractilit\u00e4t des wahren Zellgewebes in anderen Theilen, z. B. an dem Unterhautzellgewebe zwischen den Platten der Vorhaut, welche sich bei reizbaren Menschen beim Baden in kaltem Wasser oft ganz enge zu festen Runzeln zusammenzieht. Es scheint auch das Ph\u00e4nomen der G\u00e4nsehaut hieher zu geh\u00f6ren, wobei kleine rundliche Erhebungen, wahrscheinlich die B\u00e4lge der Haut, sichtbarer werden. Diess Ph\u00e4nomen tritt auch ein, wenn ein kalter Luftstrom die Haut pl\u00f6tzlich ber\u00fchrt, oder bei Schauder bewirkenden Einwirkungen auf das Nervensystem. Jedenfalls ist etwas in der Haut Ursache der Erhebung, was von dem Muskelgewebe verschieden ist, und es l\u00e4sst sich vermuthen, dass es das die Hautb\u00e4lge umgebende Zellgewebe ist. Endlich kann auch das Ph\u00e4nomen der pl\u00f6tzlichen Erhebung der Brustwarze hieher gerechnet werden. Denn dass \u2022diese Erscheinung in die Classe der Erscheinungen der Erection geh\u00f6re, und von vermehrtem Blutzufluss herr\u00fchre, wie man gew\u00f6hnlich ohne Pr\u00fcfung annimmt, muss ich aus mehreren triftigen Gr\u00fcnden bezweifeln. Denn 1. fehlt in der Brustwarze das spongi\u00f6se Gewebe der Corpora cavernosa penis, jene anastomoti-schen Venen, die sich mit Blut anf\u00fcllen k\u00f6nnen, und die Arte-riae helicinae (Bd. I. 2. Aufl. p. 214.), welche das wahre erectile Gewebe auszeichnen und in die ven\u00f6sen Sinus der Corpora ca-","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"3. Muskelbewegung. Leim gebendes contractiles Gewebe. 27\nvernosa hineinragen. 2. tritt die Erhebung nicht bloss beim weiblichen Geschlecht unter woll\u00fcstigen Ber\u00fchrungen der Brustwarze ein, sondern es ist dieselbe Erscheinung an der Brustwarze des Mannes, ohne allen Zusammenhang mit dem Geschlechtstriebe, wahrnehmbar. 3. Beim Manne erhebt sich die Brustwarze last augenblicklich und deutlich sichtbar, wenn man sie an sich selbst pl\u00f6tzlich und stark ber\u00fchrt., weniger wenn man sie mit kaltem W asser ber\u00fchrt, mehr wenn man pl\u00f6tzlich in ein kaltes Bad tritt. 4. Diese Erhebung ist mit keiner gr\u00f6sseren V\u00f6lle der Brustwarze verbunden; indem sie sich innerhalb einiger Se-cunden erhebt, wird sie vielmehr d\u00fcnner und verliert in der Breite, was sie an L\u00e4nge gewinnt. Alles Ph\u00e4nomene, welche die gr\u00f6sste Aehnlichkcit mit dem Sichtbarwerden der Hautfollikeln in der Gansehaut und mit der Zusanitnenzielmng und Run\u2014 zelung der Y orhaut im kalten Wasser haben. Diese Erhebung der Brustwarze wird daher viel passender von einer Zusammenziehung des Unterhautzellgewebes um die Brustwarze erkl\u00e4rt. Es ist merkw\u00fcrdig, dass das contractile Zellgewebe gerade vorzugsweise dort unter und in der Haut vork\u00f6mmt, wo die Haut eine dunkle b\u00e4rbung hat, wie am Penis, am H\u00f6densack, an der Brustwarze. \u00ce\u00fcgt man hierzu noch, (lass sich in der ganzen Haut des Menschen unabh\u00e4ngig von einem Hautmuskel, ein schw\u00e4cherer Grad von Zusammenziehungskrait \u00e4ussert, und erw\u00e4gt, man, dass diese Erscheinung s on eingestreuten Muskelfasern wohl nicht herr\u00fchren kann, so wird es sehr wahrscheinlich, dass alle bisher betrachteten Ph\u00e4nomene ihren gemeinsamen Grund in einem contraction Zellgewebe haben, weiches sich von dem gew\u00f6hnlichen Zellgewebe im bau seiner Primitivfasern nicht unterscheidet. Die Uebereiiistiiimmng des contraction Zellgewebes mit dem gew\u00f6hnlichen Zellgewebe, und die Entfernung von der Classe der nicht varic\u00f6sen, sondern cylindrisehen Muskelfasern, wird noch gr\u00f6sser durch die chemische Analogie zwischen dem eontractilen Gewebe der iumea dartos und dem Zellgewebe, und durch die Verschiedenheit desselben von dem Gewebe der Muskeln.\nJordan hat gezeigt, dass die Tunica dartos schon durch dreist\u00fcndiges Kochen zum Theil in Leim urngewandelt wird, und' dass ihre cssigsaure Aull\u00f6sung, wie die des Zellgewebes und al~ er leimgebenden Gewebe und des elastischen Gewebes von Cyan\u2014 eisenkalium nicht gef\u00e4llt und nicht getr\u00fcbt wird.\nUeber die Contractilit\u00e4t der Tunica dartos hat Jordan auch eisuche angestellt. Der gew\u00f6hnliche Reiz f\u00fcr ihre Zusammenziehung ist die K\u00e4lte; die W\u00e4rme erschlafft sie; der Galvanismus, wwlit nicht auf sie, und diess ist um so interessanter, als. es eim un^er*c^\u2018L'*dendes Kennzeichen der Contractilit\u00e4t des Zellgewebes un der Muskeln abgiebt. An dem Anziehen der Hoden gegen-'Uichring hat die Tunica dartos keinen Antheil; diess ge-Stl durch den Cremaster. Bei Thieren, deren H\u00f6densack - Suhltet ist, wie beim Kaninchen, beim Hunde, fand Jor-cAp\tkeine Dartos, sondern gew\u00f6hnliches Zellgewebe; beim\na Jock dagegen bei einer starken, wiewohl unregelm\u00e4ssigen unzelung der \u00e4usseren Haut auch eine sehr ausgebildete Dartos.","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Abschn. Thier. Beweg, im y tilg.\nDer Hodensack des Schafbocks runzelte sich auch in Jordan\u2019s Versuch, als er mit kaltem Wasser begossen wurde. Zugleich wurden auf denselben Reiz und eben so pl\u00f6tzlich, als die Einwirkung desselben erfolgte, die Hoden durch den Cremaster in die H\u00f6he gezogen, w\u00e4hrend der untere Theil des langsamer sich zusammenziehenden Hodensacks leer zur\u00fcckblieb. Wurde die Anwendung des kalten Wassers ausgesetzt, so entfaltete sich auch der Hodensack in der W\u00e4rme wieder; das Herabsinken der Hoden dagegen erfolgte weit fr\u00fcher und eben so pl\u00f6tzlich, wie das Anziehen derselben. Der galvanische Reiz einer S\u00e4ule von 65 Plattenpaaren zeigte auf die innere Fl\u00e4che des Hodensacks keine Wirkung, dagegen der Hoden augenblicklich durch den Cremaster erhoben wurde.\nc. Vom elastischen und contractilen Gewebe der Arterien.\nDass die elastische Faserhaut der Arterien keine Mus-cularcontractilit\u00e4t besitze, ist schon oben Bd. 1. p. 195. theils aus galvanischen Versuchen, theils aus den wahren Eigenschaften dieser Haut bewiesen worden. Diese gelben Fasern geh\u00f6ren in eine Kategorie mit allen \u00fcbrigen elastischen gelben R\u00e4ndern und elastischen gelben Faserh\u00e4uten, wie das Ligamentum nuchae der S\u00e4ugethiere, die gelben B\u00e4nder der Wirbels\u00e4ule (Ligamenta in-tercruralia), die gelben B\u00e4nder des Kehlkopfes, die gelben Fasern des h\u00e4utigen Theils der Luftr\u00f6hre und der Bronchien, das elastische Fl\u00fcgelband der V\u00f6gel, die elastischen B\u00e4nder an den Krallengliedern der F\u00fcsse in der Katzenfamilie, das von mir entdeckte elastische Band am einziehbaren und ausst\u00fclpbaren Theil des Penis des amerikanischen Strausses, das Schlossband der Muscheln. Die Elasticit\u00e4t der mittlern Haut der Arterien, wodurch sie sich, nach jeder Ausdehnung durch den Blutimpuls, bis zum n\u00e4chsten Herzschlage zusammenziehen kann, erh\u00e4lt sich jahrelang in Weingeist. Ein St\u00fcck der Aorta eines jungen Wallfisches, das ich von meinem Freunde Eschricht erhielt, ist im h\u00f6chsten Grade elastisch, obgleich es jahrelang in Weingeist gelegen. D\u00fcnne Schichten davon abgeschnilten zeigen angezogen dieselbe Elasticit\u00e4t wie Gummi elaslicum. Ganz so verh\u00e4lt sich aber alles elastische Gewebe, und mit allen oben erw\u00e4hnten B\u00e4ndern, die in Weingeist aufbewahrt worden, habe ich Versuche gemacht. Kurz die elastische Faserhaut der Arterien ist physicalisch und nicht durch eine Lebenseigenschaft contractil; sie zieht sich zusammen, wenn sie vorher ausgedehnt worden und die Ursache der Ausdehnung, wie nach einem Herzschlage, aufh\u00f6rt. Parry und Tiedemann nehmen an den Arterien, ausser ihrer Elasticit\u00e4t, auch noch einen lebendigen Tonus an, der zwar bei dem Ph\u00e4nomen der rhythmischen Blutbewegung nicht wesentlich milwirkt, aber sich doch an blossgelegten Arterien durch eine ganz ailm\u00e4h-lig eintretende Zusammenziehung \u00e4ussert, und wodurch die Arterien vor dem Stillst\u00e4nde aller Biutbewegung bei dem Tode etwas","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"S. Muskell>e<vegung. Contractiles Gewebe der Arterien. 29\ner werden, als sie nacli dem Tode durch ihre hlosse Ela-sticit\u00e4t sevn k\u00f6nnen. Man weiss l\u00e4ngst, dass kaltes Wasser zum Stillen der Blutung aus angeschnittenen Arterien geeignet Ist; es ist Dr. Schwann gelungen, diese wichtige Erscheinung durch ein sch\u00f6nes Experiment aufzukl\u00e4ren. Wenn man n\u00e4mlich kaltes Wasser auf die kleinen Arterien eines solchen durchsichtigen Theiles anwendet, wo die Arterien ganz unbefestigt und von dichtem Gewebe am wenigsten umgeben sind, so l\u00e4sst sich die ganz langsam wirkende organische Contractilit\u00e4t gegen die K\u00e4lte sehen. Am besten eignet sich hierzu das Mesenterium der Feuerkr\u00f6te, Bombinator igneus, besser als das Mesenterium des Frosches, weil dieses sich nicht so gut ausbreiten l\u00e4sst. Nachdem das Mesenterium des Thieres unter dem Mikroskope ausgebreitet war, brachte Schwans einige Tropfen Wasser von einer Temperatur einige Grade niedriger als die der Luft (im Sommer) auf dasselbe. Bald darauf begann die Verengung der kleinen Arterien, und die Gef\u00e4sse verengten sich binnen 10\u201415 Minuten allm\u00e4hlig so, dass der Durchmesser des Lumens einer Arterie der Feuerkr\u00f6te, der anfangs 0,0724 Engl. Lin. betrug, auf 0,0276 reducirt, also um das 2 \u2014 3fache verkleinert, das Lumen der Arterie selbst also um das 4 \u2014 9fache verengt wurde. Die Arterie erweiterte sich darauf wieder, und hatte nach einer-halben Stunde ihre fr\u00fchere Ausdehnung ziemlich wieder erlangt. Wurde nun' von neuem kaltes Wasser darauf gebracht, so verengte sie sich wieder, und so liess sich der Versuch an derselben Arterie mehreremal wiederholen. Die Venen dagegen verengten sich nicht. Die Beobachtung von Schwann wurde so oft wiederholt, dass an der Thatsache durchaus kein Zweifel ist. Ich selbst fand sie bei der Feuerkr\u00f6te best\u00e4tigt. Da die gr\u00f6sseren Arterien zu diesem Versuche weniger geschickt sind, so ist es von Wichtigkeit, sich den Durchmesser der gemessenen Arterie zu merken. Die mit einer Messung begleitete Beobachtung betraf eine Arterie von 0,0724 Lin. Durchmesser. Die Arterien von circa -yV Lin. Durchmesser besitzen also diesen ausserordentlichen Grad von langsam wirkender Contractilit\u00e4t gegen K\u00e4lte. Dass die \u00fcber die Contractilit\u00e4t der kleinen Arterien mit chemisch\nwirksamen Fl\u00fcssigkeiten und mit dem Galvanismus (der das Ei-weiss des Bluts gerinnen macht) angestellten Versuche keine Beweiskraft haben, ist schon oben Bd. I. p. 195. auseinandergesetzt worden. Schw-ann hat einen geringen Grad von Contractilit\u00e4t gegen K\u00e4lte auch an etwas st\u00e4rkern Arterien beobachtet. An den allerkleinsten Arterien lassen sich am Mesenterium des Frosches bei sehr starker Vergr\u00f6sserung noch zarte undeutliche Querfasern sehen, und Dr. Schwann hat dergleichen Fasern selbst an ^en Capillargef\u00e4ssen im Mesenterium des Frosches bei sehr f ar,er Vergr\u00f6sserung (Objectiv 4. 5. 6. der ScHiEK\u2019schen Mi-ros ope) entdeckt, wodurch nun entschieden bewiesen ist, dass eje apillargef\u00e4sse W\u00e4nde haben. Da diese Querfasern an den eins en Arterien dieselbe Anlage haben, als die elastischen Quer-asern a er Arterien, so ist es zweifelhaft, oh diese Querfasern Sln , welche die Contraction der kleinen Arterien von kaltem","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Alschn. Thier. Beweg, im AUg.\nWasser hervorbringen g ob das elastische Gewebe der Arterien, das seine Elasticit\u00e4t Jahre lang nach dem Tode in Weingeist erh\u00e4lt, w\u00e4hrend des Lehens auch noch die mit dem Tode verloren gehende Eigenschaft des Tonus besitzt, oder ob die unmerkliche Zusammenziehung der kleinen Arterien auf Anwendung der K\u00e4lte von noch unbekannten Elementen in ihrer Structur herr\u00fchrt. Den Tonus der Arterien von ihrer Zellgewebescheide abzuleiten, nehmen wir deswegen Anstand, weil die kleinen Venen jene Contractilit\u00e4t nicht zeigen. Von der Muscularcontractilit\u00e4t unterscheidet sich der Tonus der Arterien, dass er nicht allein keine pl\u00f6tzlichen Contractionen bewirkt, sondern auch von der Electricit\u00e4t nicht deutlich, vorz\u00fcglich aber wie die Zusammenziehung des Leim gebenden contractilen Gewebes von K\u00e4lte angeregt wird.\n<1. Vom Muskelgewebe.\n1. Chemisches Verhalten.\nIn chemischer Hinsicht geh\u00f6ren die Muskeln zur Classe derjenigen thierischen Theile, welche beim Kochen keinen Leim gehen (ausser dem die Muskelb\u00fcndel verbindenden Zellgewebe), und deren essigsaure Aufl\u00f6sung von rothem Cyaneisenkalium gef\u00e4llt wird. So verbalten sich alle eiweissartigen K\u00f6rper, als da sind das Eiweiss, der K\u00e4sestoff, der Faserstoff, das faserige Gewebe der Corpora cavernosa des Pferdes, und das faserstoffhaltige Gewebe der Muskeln. Dieser Classe der eiweissartigen K\u00f6rper ist die zweite Classe der Stoffe und Gewebe entgegengesetzt, welche sich im thierischen K\u00f6rper weniger durch Lebenseigenschaften, als vielmehr durch ihre physicalischen Eigenschaften der Coh\u00e4renz, Undehnbarkeit oder Dehnbarkeit und Elasticit\u00e4t auszeichnen. Letztere verhalten sich chemisch wieder auf gleiche Art. Ihre essigsaure Aufl\u00f6sung wird von rothem Cyaneisenkalium nicht gef\u00e4llt, und hieher geh\u00f6ren: das Zellgewebe, das Seh nengewebe, das elastische Gewebe und der Knorpel, wovon das Zellgewebe, Sehnengewebe, Knorpelgewebe beim Kochen Leim geben, w\u00e4hrend das elastische Gewebe hiebei sich nicht in Leim aufl\u00f6st. Durch dieses chemische Verhalten beider Classen der thierischen Stoffe l\u00e4sst sich die elastische Arterienfaser leicht von der Muskelfaser unterscheiden, welche erstere sich chemisch ganz so wie alles elastische Gewebe, n\u00e4mlich wie das elastische Gewebe des Ligamentum hyotbyreoideum und cricothyreoideum medium, die elastischen Fasern der hintern Haut der Luftr\u00f6hre, die Ligamenta flava der Wirbels\u00e4ule, das Band der Flughaut der V\u00f6gel, das Ligamentum nuchae der S\u00e4ugethiere verh\u00e4lt. Dagegen ist es schwer und oft unm\u00f6glich, von einem K\u00f6rper, der nach seinem chemischen Verhalten zur Classe der eiweissar-tigen K\u00f6rper geh\u00f6rt, chemisch auszumitteln, oh er Muskelsubstanz oder Eiweiss u. s. w. ist. Das ungeronnene Eiweiss l\u00e4sst sich zwar durch seine L\u00f6slichkeit in kaltem und lauem Wasser und durch seine Gerinnbarkeit bei 70 \u2014 75\u00b0 Cent., durch Alcohol, Minerals\u00e4uren, Metallsalze, der ungeronnene Faserstoff durch","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"3. Muskelbewegung. Muskelgewebe.\n3\u00ce\nseine freiwillige Gerinnung ausser dem tliierisclien K\u00f6rper, der ungeronnene K\u00e4sestoff durcli seine Aufl\u00f6slichkeit auch hei der Siedhitze erkennen; allein das geronnene Eiweiss und der geronnene Faserstoff des Blutes und der Muskeln lassen sich chemisch nicht weiter unterscheiden, als dass der Faserstoff das Wasserstoffsuperoxyd zersetzt, worauf das Eiweiss ohne Einfluss ist. Den Faserstoff des Blutes und der contractilen Muskeln zu unterscheiden giebt es keine chemischen H\u00fclfsmittel. Vergl. \u00fcber die chemische Zusammensetzung der Muskeln, Bd. I. p. 351.\nZur Unterscheidung solcher faserigen Gewehe, welche beim Kochen keinen Leim geben und deren essigsaure Aufl\u00f6sung von rothem Cyaneisenkalium gef\u00e4llt wird, die also zur Classe der eiweissartigen K\u00f6rper geh\u00f6ren, gieht es kein H\u00fclfsmittel als die Beobachtung ihrer Lebenseigenschaften. So sind das faserige Gewebe in den Corpora cavernosa des Penis des Pferdes, und die contractile Muskelsubstanz nur durch die Lebenseigenschaft der lebendigen Muskeln, sich auf Reize zusammenzuziehen, unterscheidbar, welche nach meiner am lebenden Pferde angestellten Untersuchung jenem Gewebe des Penis fehlt. W\u00e4ren alle Muskelfasern perlschnurartig oder varic\u00f6s, und g\u00e4be es nicht eine ganze Classe von gleichartigen cylindrischen Muskelfasern, so w\u00e4re jene Unterscheidung durch das Mikroskop leicht, da sie doch in der That unm\u00f6glich ist.\nAber selbst die Contractilit\u00e4t ist nicht immer hinreichend., Muskelfasern zu unterscheiden. Aus der Classe der nicht eiweissartigen K\u00f6rper besitzen einige Gewehe einen geringen Gradl von Contractilit\u00e4t, namentlich gegen K\u00e4lte. So zieht sich das Gewebe der Tunica dartos, die wesentlich aus leimgebenden Fasern besteht, auf den Reiz der K\u00e4lte zusammen, ebenso das Hautzellgewebe, namentlich um die Hautfollikeln beim Ph\u00e4nomen der G\u00e4nsehaut, das Unterhautzellgewebe des Penis, namentlich der Vorhaut, und wie Schwann durch mikroskopische Versuche (siehe oben p. 29.) an den kleineren Arterien entdeckt hat, ziehen sich diese auf den Reiz der K\u00e4lte ganz langsam zusammen, und dehnen sich sp\u00e4ter wieder aus. Hie Unterscheidung der contractilen Zellgewebefasern und der nicht perlschnurartigen Form der Muskelfasern ist jedoch durch chemische H\u00fclfsmittel, die oben angegeben sind, leicht. Die Fasern des Uterus, der Iris verhalten sich z. B. chemisch wie Muskelfasern, die Fasern der Tunica dartos wie Zellgewebefasern. Letzteres ist durch Jordan\u2019s Untersuchungen erwiesen. Siehe oben p. 27.\nDie rothe Farbe der Muskeln hat man vom F\u00e4rbestoff des hits abgeleitet, und in der That wird diese Farbe auch, wie die \u00abes F\u00e4rbestoffes des Bluts, an d er Luft erh\u00f6ht. Indessen sah chwann einmal die von Natur blassen Muskeln des Karpfen bei der aceiation in der K\u00e4lte im Winter nach einiger Zeit stark roth p.Cr, e'h was gegen die Ableitung der Farbe von einer mit dem \u2022>r estoffe des Bluts identischen Materie spricht.\n2. Bau der Muskeln.\nDie Elemente der Muskeln sind entweder perlschnurartige","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Ahschn. Thier. Beweg, im Allg.\noder cylindrisclie Fasern, welche unverzweigt und parallel b\u00fcndelweise neben einander liegen, und in den primitiven B\u00fcndeln nach Krause durch eine durchsichtige z\u00e4he Fl\u00fcssigkeit mit einander verbunden sind. Die primitiven B\u00fcndel von 500 \u2014 800 Fasern sind nach Krause ff\"\u2014\tdick. Nach Schwann\u2019s\nUntersuchungen betragen sie am Schlunde des Menschen 0,0210 \u2014 0,0250 Engl. Linien im Durchmesser. Die primitiven B\u00fcndel sind von Zellgewebescheiden eingeschlossen und \u2022 verbunden. Aus der Zusammensetzung der primitiven B\u00fcndel entstehen se-cund\u00e4re u. s. w. Selten liegen schon die B\u00fcndelchen zwischen festen fibr\u00f6sen Scheidew\u00e4nden, wie hei Petromyzon. Hier sind die Seitenmuskeln nicht allein durch sehr viele schiefe Ligamenta intermuscularia in Abtheilungen zerf\u00e4llt, wie hei den Fischen \u00fcberhaupt, sondern zwischen diesen liegen wieder parallele sehr feste Scheidew\u00e4ndchen dicht neben einander, und in den engen B\u00e4umchen dieser Scheidew\u00e4nde liegen die plattenartigen B\u00fcndel des sehr weichen Muskelfleisches. In Hinsicht der Form der Elementarfasern sind die Ansichten der Physiologen sehr verschieden. Einige halten sie f\u00fcr einfach und gleichartig, wie Schultze; Andere betrachten sie als aus K\u00fcgelchen zusammengesetzt, wie Bauer, Home, Milne Edwards, Pr\u00e9vost und Dumas, Krause; Andere sehen sie als knotig an. So widersprechend die erstcre und die letztere Ansicht sind, so sind sie doch zugleich richtig; es k\u00f6mmt n\u00e4mlich auf die Art der untersuchten Muskeln an, von denen es 2 Formen giebt.\nI. Muskeln mit varie\u00fcsem Bau der Primitivfasern und Querstreifen der primitiven B\u00fcndel. Diese Muskeln sind die am meisten untersuchten. Es geh\u00f6ren hieher die mehr rothen Muskeln der willk\u00fchrlichen und unwillk\u00fchrlichen Bewegung; von dem System der willk\u00fchrlichen Muskeln alle, mit Ausnahme der Urinblase, vom Svstem der unwillk\u00fchrlichen Muskeln die des Herzens. Es geboren jedoch nicht alle rothen Muskeln hieher; das rothe Muskelfleiscli des Vogelmagens geh\u00f6rt z. B. in die zweite Classe der Muskeln mit der Muskelschicht des ganzen Darms. Auch sind die hieher geh\u00f6renden Muskeln nicht in allen F\u00e4llen roth. Die Muskeln der Fische sind in der Regel blass, und nur die Muskeln der Kiemendeckel sind oft roth, beim Karpfen auch eine d\u00fcnne Schichte unter der Seitenlinie. Die rothen und die blassen Muskeln der Fische unterscheiden sich \u00fcbrigens durch nichts in ihrem innern Bau; sie verhalten sich unter dem Mikroskope gleich und geh\u00f6ren zur ersten Classe der Muskeln. Alle hieher geh\u00f6rigen Muskeln zeichnen sich nicht allein durch st\u00e4rkere, sondern auch durch schnellere und dem Reize augenblicklich folgende Bewegungen aus. Die primitiven B\u00fcndel zeigen immer unter dem Mikroskope dicht hinter einander folgende Querstreifen, die durchaus parallel und meist gerade, selten ein wenig gebogen sind. Am Herzen sind die Querstreifen viel schwerer zu erkennen, aber auch vorhanden, wie R. Wagner richtig bemerkt; selten sind die primitiven B\u00fcndel am Rande wellenf\u00f6rmig gekr\u00e4uselt. Die Primitivfasern dieser Muskeln zei-","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"3. Muskellewegmg. Muskelgewebe. Bau der Muskeln. 33\n\u201een regelm\u00e4ssige rosenkranzf\u00f6rmige Anschwellungen, welche et-*as dunkler sind, als die ganz kurzen dazwischen liegenden Einschn\u00fcrungen. Docli l\u00e4sst sich nicht behaupten, dass die Muskel-fssern aus einer blossen Aggregation von K\u00fcgelchen bestehen, wobei die Zwischensubstanz zwischen den Anschwellungen \u00fcbersehen wird, und ganz unhaltbar ist die Meinung, dass die Fasern durch Aggregation der Kerne der Blutk\u00f6rperchen entstehen, von denen sie sich bei vielen Thieren nach meinen und R. Wagner\u2019s Beobachtungen durch die Gr\u00f6sse unterscheiden. Vgl. oben Bd. I. p. 312. Der Durchmesser dieser Fasern betr\u00e4gt nach Pr\u00e9vost und Dumas -g-jVo \u2014 0,00012 P. Z., nach mir beim Frosch -5-gg\u2014gg-g-Lin., die feinsten heim Papagay 0,00020 P. Z. R. Wagner fand sie bei allen Wirbelthieren und Insecten, und beim Flusskrebs, sowie an der Herzkammer von Helix pomatia sehr gleichm\u00e4ssig gross, n\u00e4mlich ggg\u2014-T\u00f6\u00e4nr Lin. breit; K.rause mass sie zu ggg bis t\u00f6Vo Lin. Die Blutk\u00f6rperchen des Kaninchens sind 5 \u2014 6mal gr\u00f6sser als die Primitivfasern seiner Muskeln.\nDr. Schwann hat sich anhaltend mit der mikroskopischen Untersuchung der Muskeln w\u00e4hrend eines Winters besch\u00e4ftigt; er hat die Resultate seiner Untersuchung hier niedergelegt. Die Breite der Muskelb\u00fcndel erster Ordnung betr\u00e4gt 0,0216 \u2014 0,0250 Engl. Lin. CJm die Primitivfasern der Muskeln isolirt darzustellen, muss man die Muskeln hei einer geringen Temperatur von 1\u20148\u00b0 R. 8 \u2014 21 Tage lang maceriren. Bei einer hohem Temperatur verwandelt sich alles in einen Brei, an dem sich nichts mehr erkennen l\u00e4sst; aber auch hei der angegebenen Temperatur verhalten sich die Muskeln verschiedener Thiere heim Maceriren nicht gleich. Bald verschwinden die Querstreifen, ehe die Primitivfasern sich isoliren, bald trennt sich ein Muskel eher der L\u00e4nge nach als in seine Primitivfasern, obgleich die Querstreifen deutlich bleiben. Am besten eigneten sich die Muskeln des Kaninchens zur Untersuchung. Die Primitivfasern der Muskeln sind perlschnurartige F\u00e4den. Es erscheinen n\u00e4mlich an diesen F\u00e4den unter dem Mikroskope regelm\u00e4ssig auf einander folgende dunkle Puncte von 0,0006 \u2014 0,0008 Engl. Lin. Breite, die durch helle und etwas d\u00fcnnere St\u00fcckchen unter einander verbunden sind. Die Entfernung der einzelnen Puncte ist nicht \u00fcberall dieselbe. Sie l\u00e4sst sich sehr genau messen, indem man die L\u00e4nge eines St\u00fcckes misst, worin eine bestimmte Anzahl derselben vorhanden ist. So betrug die Entfernung von 5 dunkeln Puncten an einer Stelle von Schlunde des Menschen 0,0060 \u201d; ein einzelner dunkler Punct mit dem dazu geh\u00f6rigen hellen St\u00fcckchen mass also 0,0012\"'. Davon kommen auf den hellen Theil ungef\u00e4hr 0,0008'\u201d, auf den dunkeln 0,0004'\". Dass die Querstreifen der Muskelb\u00fcndel durch das Aneinanderlegen der unkeln Puncte der Primitivfasern entstehen, wird durch folgende 60 achtungen erwiesen. 1. Ihre Entfernung stimmt volikom-men mit einander \u00fcberein. Beim Kaninchen fand Schwann die xaitlernung von 5 Querstreifen eines Muskelb\u00fcndels 0,0045. An incr T j unitivfaser, die aus demselben B\u00fcndel hervorstand, be-un ie Entfernung von 5 dunkeln Punkten 0,0046. 2. Zuweilen Muller\u2019s Physiologie. 2r lid. J.\tQ","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Abschn. Thier. Beweg. imAllg,\ntrennen sich am Ende eines macerirten Muskelb\u00fcndels die Primitivfasern in der Breite von einander, ohne sieb in der L\u00e4nge zu verr\u00fccken. Man siebt dann an diesen ausgebreiteten St\u00fccken noch Querstreifen, welche eben so weit von einander entfernt sind, wie die Querstreifen des \u00fcbrigen B\u00fcndels, aber von dunkeln Puncten gebildet werden, die sich einzeln deutlich unterscheiden lassen und nicht mehr Zusammenh\u00e4ngen. 3. Endlich beobachtet man auch zuweilen eine Verr\u00fcckung der Primitivfasern der L\u00e4nge nach ; der Muskel erscheint dann beim ersten Anblick nicht quergestreift, sondern punctirt. Bei genauerer Betrachtung sieht man aber, dass die dunkeln Puncte, wenn man sie in der Richtung der Fasern verfolgt, regelm\u00e4ssig auf einander folgen. In der queren Richtung aber ist die Reibe unregelm\u00e4ssig unterbrochen. Da aiso die Querstreifen der Muskeln durch die dunkeln Puncte der Primitivfasern hervorgebracht werden, so braucht man bloss die Entfernung der Querstreifen des Muskels zu messen, um die Entfernung der dunkeln Puncte der Primitivfasern kennen zu lernen. An einem Muskelb\u00fcndel erster Ordnung sind die Querstreifen immer parallel, also die dunkeln Puncte der Primitivfasern gleich weit von einander entfernt. Dagegen k\u00f6nnen die Querstreifen bei zwei dicht neben einander liegenden Muskelb\u00fcndeln erster Ordnung, bei dem einen nahe zusammen, bei dem andern weit von einander entfernt liegen. Am auffallendsten ist diess beim Schlunde des Menschen der Fall. Die Entfernung von 5 Querstreifen betrug bei demselben an einer Stelle 0,0065 \u2014 0,0068, an einer andern 0,0053 \u2014 0,0056\"', an einer dritten lagen sie noch dichter zusammen, so dass man sie nicht z\u00e4hlen konnte. Bei einer andern Leiche fand Schwann am Schlunde die Entfernung von 5 Querstreifen in einem B\u00fcndel 0,0034, an einem andern, dicht daran liegenden 0,0080\"'. Beim Kaninchen ist die gew\u00f6hnliche Entfernung in den willk\u00fchrlichen Muskeln 0,0043 \u2014 0,0046 \".\nDie Verbreitung der varic\u00f6sen Muskelfasern, deren B\u00fcndel Querstreifen haben, ist beim Menschen sehr bestimmt, und nirgends giebt es Ueberg\u00e4nge. Sie finden sich in allen vom Cerebro-,spinalsvstem abh\u00e4ngigen Muskeln, und von den unwillk\u00fcrlichen bloss am Herzen, wo jedoch die Querstreifen sehr undeutlich sind. Am ganzen Darmkanale, am Uterus und an der Urinblase zeigen sich diese Muskelfasern nicht. Die Schlundmuskeln geh\u00f6ren der ersten Classe an. Ihre B\u00fcndel haben deutliche Querstreifen, und ihre Primitivfasern deutliche Varicosit\u00e4ten. Die Muskelfasern der Speiser\u00f6hre dagegen sind nicht varic\u00f6s und zeigen keine Querstreifen. Die Grenze ist ganz scharf, aber nicht, wie man glauben k\u00f6nnte, am Anf\u00e4nge der Speiser\u00f6hre, sondern in der Gegend des Endes des ersten Viertels, wie Schwank entdeckt hat. Der oberste Theil der Speiser\u00f6hre ist noch mit einer Schicht von Muskelfasern der ersten Classe belegt, mit deutlichen Quer-streifen und Varicosit\u00e4ten. Diese sind als Fortsetzung der eigentlichen Schlundmuskeln, die denselben Bau haben, zu betrachten, Die varic\u00f6sen Muskelfasern am obersten Theile der Speiser\u00f6hre bilden an der hintern Seite bogenf\u00f6rmige zarte B\u00fcndel, die an","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"3. Muskelbewegung. Muskelgewebe. Bau der Muskeln. 35\nder einen Seite herabsteigen und bogenf\u00f6rmig zur andern Seite wieder heraufsteigen. So grenzt auch am Mastdarm das System der ersten Classe in dem Sphincter a ni, dicht an das System der zweiten Classe, und dasselbe findet am Halse der Harnblase statt. Die pars membranacea der Harnr\u00f6hre ist mit zarten r\u00f6thlichen Muskelb\u00fcndeln belegt, welche nach meiner Beobachtung deutliche Querstreifen haben und der ersten Classe angeh\u00f6ren, w\u00e4hrend die blassen Muskelfasern der Harnblase und des Blasenhalses keine Spur davon zeigen.\nEines der merkw\u00fcrdigsten contractilen Organe in der Thierwelt ist das Gaumenorgan der Karpfen und anderer Cyprinen, welches in der Familie der Cyprinoiden nicht allgemein ist, da ich es beim Rapf, Cyprinus Aspius, nicht vorfand. Der contractile Theil desselben ist der oberfl\u00e4chliche, darunter liegt Zellgewebe. Es ist ausserordentlich nervenreich durch Aeste des N. vagus. E. H. Weber hat seine eigenth\u00fcmliche Art der Contraction entdeckt. Bei mechanischer Ber\u00fchrung des Organs bemerkt man eine conische Erhebung der Oberfl\u00e4che an dieser Stelle, die \u00fcber eine Minute dauert. Streicht man in einer Linie mit einem spitzen K\u00f6rper dar\u00fcber, so entsteht ein Wall; macht man parallele Striche, so entstehen parallele Erhebungen. Dr\u00fcckt man breit auf, so erfolgt eine breite Erhebung. Durch Dehnung des Organs bewirkte ich Erhebung und Zuckung in der Richtung der Dehnung. Salpeters\u00e4ure, Schwefels\u00e4ure und Alkohol wirkten in meinen Versuchen nicht, wohl aber Schwefels\u00e4ure in Weber\u2019s Versuch. Die galvanische Entladung einer S\u00e4ule von 40 Plattenpaaren brachte mir die st\u00e4rksten Zuckungen des Organs hervor, immer in der Richtung der Str\u00f6mung, Auch diess contractile Organ geh\u00f6rt zur ersten Classe der Muskelfasern. Oberfl\u00e4chlich betrachtet, sieht man an ihm gar keineFasern und B\u00fcndel. Wird aber die Schleimhaut abgezogen und das Organ gerissen, so sieht man, dass es in gewissen Richtungen leichter^ reisst, und es kommen durcheinander geschobene rolhe Fleischb\u00fcndel zum Vorschein, welche bei mikroskopischer Untersuchung deutliche Querfasern besitzen und deren Primitivfasern varic\u00f6s' sind. Die B\u00fcndel sind alle ohngef\u00e4hr so dick, wie die primitiven B\u00fcndel an den Muskeln der Menschen. Die meisten B\u00fcndel laufen von vorn nach hinten, aber schiefe B\u00fcndel schieben sich in mannigfaltigen Richtungen hindurch. Zwischen den B\u00fcndeln liegen sehr viele Oeltropfen. Hierdurch ist die eigentliche Wirkungsart des Organes aufgekl\u00e4rt.\nDie varic\u00f6sen Muskelfasern mit Querstreifen der primitiven B\u00fcndel sind nicht auf die Wirbelthiere beschr\u00e4nkt. Bei den In-secten kommen sie z. B. in den willk\u00fchrlichen Muskeln durchg\u00e4ngig vor. Jedes primitive B\u00fcndel bat eine sehr d\u00fcnne Scheide, welche als durchsichtiger Rand oft unterschieden werden kann.\nRudolph Wagner hat viele niedere Thiere in Hinsicht des Vorkommens der gestreiften Muskelb\u00fcndel untersucht. Mueller\u2019s Archiv. 1835. 318. Er fand sie, ausser allen Wirbelthieren, bei den Insecten, Crustaceen, Cirrhipeden und Arachniden.","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Abschn. Thier. Beweg, im Allg.\nII. Muskeln mit cylindrischen, nicht varic\u00f6sen Primitivfasern und ohne Querstreifen der primitiven B\u00fcndel. Im ganzen Tractus intestinalis der h\u00f6heren Thiere, vom eigentlichen Oesophagus an his zum Aftei\u2019, kommen diese Muskelfasern vor. Diess ist um so auffallender, da die willkiihrlichen Muskelfasern des Schlundes der ersten Classe angeh\u00f6ren. Im Dickdarm des Menschen war die Breite der Primitivfasern der Muskeln 0,0007, 0,0011, 0,0013 Englische Linien nach Schwann\u2019s Untersuchungen. Ihre R\u00e4nder waren ganz glatt. Auch am Muskelmagen der V\u00f6gel fand R. Wagner keine Querstreifen, obgleich dieses Muskelfleisch roth ist (Burdach\u2019s Physiologie 5.), und diess haben wir eben so gesehen. Auch im Uterus des Menschen und im schw\u00e4ngern Uterus des Kaninchens und an der Urinblase fand Schwann keine mit Querstreifen versehenen Fasern. In der Iris des Menschen und des Kaninchens konnte Schwann keine einzelnen Fasern isoliren. Doch zeigten sie, wie auch in Lauth\u2019s Untersuchungen (Institut. JSr. 57. 70. 73.), eine deutlich faserige Structur, und zwar liefen die Fasern in der N\u00e4he des Pupillarrandes concentrisch, in der Peripherie radial. Die Cir-kelfasern der Iris des Ochsen bestehen nach Lauth aus primitiven Muskelfasern in B\u00fcndel vereinigt, die durchflochten verliefen. Lauth unterschied bloss L\u00e4ngenfasern, aber keine Querfasern. In der Iris des Schweines konnte Schwann die Fasern ohne Maceration leicht darstellen, indem er sie auseinander zerrte. Sie sind sehr fein, 0,0002 \u2014 0,0003 Engl. Lin. breit, vollkommen cylindrisch, nicht perlschnurartig. Unter den Wirbellosen finden sich die Muskelfasern ohne Querstreifen, nach R. Wagner\u2019s Untersuchungen, durchg\u00e4ngig vor hei den untersuchten Mollusken (Cephalopoden, Gasteropoden, geh\u00e4usigen Acephalen, Ascidien), und ebenso hei den Ecbinodermen.\nUeber die Entstehung der Muskeln und \u00fcber Valentin\u2019s Beobachtungen hier\u00fcber siehe oben Bd. I. 362. Ueber die physicali-schen Eigenschaften der Muskeln siehe Haller Element. Uhr. XI. S. 2. \u00a7. 2. E. H. Weder\u2019s Anatomie. I. 396.\n2. Von den LebenseigenschafIen der Muskeln.\nDie Lehenseigenschaften, welche man in den muscul\u00f6sen Theilen wahrnimmt, sind, ausser den allgemeinen, allen thieri-schen Theilen zukommenden Eigenschaften, Empfindlichkeit und Contractionskraft. Erstere k\u00f6mmt nur den in ihnen sich verbreitenden Empfindungsfasern und nicht dem Muskel selbst zu, letztere ist die wesentliche Energie des Muskels, die er auf jedwede Art der Reizung \u00e4ussert, w\u00e4hrend die Lebensenergien anderer Organe auf dieselben Reize andere, z. B. Empfindungen, Absonderung u. s. w. sind. Die Empfindlichkeit der Muskeln f\u00fcr \u00e4ussere Eindr\u00fccke ist gering, wie man hei Verletzungen derselben durch Schnitte und Stiche sieht. Eine durch die Haut durchgedrungene Nadel kann ohne Schmerzen tief in einen Muskel eingestossen werden ; auch an dem blossliegenden Herzen hat man nur einen sehr geringen Grad von Empfindlichkeit bemerkt. Gleichwohl besitzen die Muskeln ein sehr feines Gef\u00fchl","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"3. Muskelbewegung. Lebenseigenschaften der Muskeln. 37\nf\u00fcr ihre Zust\u00e4nde, oder vielmehr ihre Nerven leiten vortrefflich die Zust\u00e4nde, in welche sie durch die Contraction versetzt werden, wie wir denn hierdurch nicht bloss die Erm\u00fcdung und den Krampf der Muskeln empfinden, sondern durch die Zusammenziehung der Muskeln hei unseren Tastbewegungen ein sehr bestimmtes Gef\u00fchl von der r\u00e4umlichen Anordnung der K\u00f6rper erhalten und durch die Kraft der angewandten Zusammenziehung die Schwere und den Widerstand der K\u00f6rper messen und vergleichen. Das Gef\u00fchl der Muskeln kann wohl nicht von denselben Nervenfasern abh\u00e4ngen, welche ihre Bewegung hervorrufen. Wenn man heim Frosch auf einer Seite die hinteren Wurzeln der Nerven f\u00fcr die Hinterbeine durchschneidet, die vorderen unverletzt l\u00e4sst, so verliert der Frosch alle Spur von Empfindungskraft, nicht bloss in der Haut, sondern auch in den Muskeln des Unterschenkels und Fusses, w\u00e4hrend er die vollkommenste willk\u00fchrliche Bewegung in diesen Muskeln beh\u00e4lt. Man kann ganze St\u00fccke seines Beines abschneiden, und er wird dadurch nicht zu Bewegungen veranlasst. Schnitt ich hei einem Frosch auf einer Seite A die hinteren, auf der anderen Seite B die vorderen Wurzeln durch, so behielt er in dem Bein A die Bewegung, wo er die Empfindung verlor, im Bein B die Empfindung, wo er die Bewegung einb\u00fcsste. An dem Beine B, das er nicht bewegen konnte, empfand er den Schmerz, der ihn zum Forth\u00fcpfen veranlasste, wobei er das Bein B nachschleppte.\nDie Muskeln bewegen sich, sobald sie seihst oder ihre motorischen Nerven auf irgend eine Art gereizt werden. Alle Reize bringen dieselbe Wirkung hervor, sowohl mechanische als chemische, K\u00e4lte, W\u00e4rme und electrische Reize. Alle diese Reize bewirken aber auch von ihren Nerven aus Bewegung. Die S\u00e4uren bewirken leichter diesen Erfolg, wenn sie auf den Muskel, als w\u2019enn sie auf den Nerven wirken; doch ist es nicht l\u00fcr alle F\u00e4lle g\u00fcltig, was oben Bd. I. p. 596. bemerkt wurde, dass die S\u00e4uren zwar, auf den Muskel wirkend, Bewegung hervorrufen, auf den Nerven allein wirkend, den Muskel ruhig lassen. Bisciioff und Windischaiann haben wenigstens \u00f6fter auch im letzteren Fall einen Erfolg gesehen. Haller hat die Eigenschaft des Muskels, auf jederlei Reize sich zusammenzuziehen, sich zum besondern Studium gemacht, und dieser specifischen Eigenschaft den Namen Irritabilit\u00e4t ertheilt, welche der specifischen Reizbarkeit der Nerven, Sensibilit\u00e4t, entgegen gestellt wurde. Deux m\u00e9moires sur les parties sensibles et irritables. Lausanne 1756. Es haben sich indess an den Namen Irritabilit\u00e4t, in diesem Sinne, so viele hypothetische Vorstellungen und falsche Begriffe ange-dass er besser in der Historie der Medicin, als in der \u2022Physiologie seihst ferner figurirt.\nDie Contractilit\u00e4t der Muskeln gegen Reize, die auf sie selbst \u00b0. er ihre Nerven angebracht werden, \u00e4ussert sich in ihnen noch einiSe Zeit nach dem Tode; sie bleibt in den muscul\u00f6sen Theilen 'TL- S\u00b0 |unSer5 je weniger zusammengesetzt die Structur eines Al IT5. *St\u2019 ^*ier Zusammensetzung der Structur nimmt die i J\u00e4ngigkeit der Theile von einander zu, und in demselben Grade","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Abschi. Thier. Beweg. imAllg.\nnimmt notlnvendig die Dauer der Lebensersclieinungen in den einzelnen Theilen nach dem Zerfall des Ganzen ab. Unter den Wirbelthieren zeichnen sich die kaltbl\u00fctigen in dieser Hinsicht vor den warmbl\u00fctigen aus. Viele Stunden lang erh\u00e4lt sich die Reizbarkeit des Herzens hei den Fischen und Amphibien viele Stunden namentlich in der k\u00e4lteren Jahreszeit die Reizbarkeit der \u00fcbrigen Muskeln heim Frosch, und die gek\u00f6pfte Schildkr\u00f6te zeigt noch nach einer Woche Reizbarkeit in ihren Muskeln. Bei den h\u00f6heren Thieren dauert die Irritabilit\u00e4t der Muskeln in der Regel nur eine oder zwei Stunden; indessen giebt es einzelne F\u00e4lle, wo sie nach vielen Stunden noch nicht erloschen ist, wie z. B, in den Hautmuskeln des Igels. Ny st en [Rech, de physiol, et de dum. path. 321.) fand hei seinen Versuchen an den Leichen hin-gerichteter, vorher gesunder Menschen, dass die Muskeln in folgender Ordnung ihre F\u00e4higkeit zu Zusammenziehungen verlieren. Die Aortenkammer des Herzens verliert sie am fr\u00fchesten, der Darmkanal nach 45 \u2014 55 Min , fast um dieselbe Zeit die Harnblase, der rechte Ventrikel nach einer Stunde, die Speiser\u00f6hre nach U} Stunden, die Iris 15 Min. sp\u00e4ter, noch sp\u00e4ter die Muskeln des animalischen Lehens, zuletzt die Vorh\u00f6fe des Herzens, und am sp\u00e4testen der rechte, der in einem Fall (p. 330.) nach Stund, aut galvanischen Reiz sich noch zusammenzog. Bei den V\u00f6geln erlischt die Contractilit\u00e4t der Muskeln schneller als hei den S\u00e4ugethieren, schon nach 30 \u2014 40 Min. bis 1 St. Bei den Fr\u00f6schen dauerte die Reizbarkeit des Herzens mehrere Stunden nach dem Tode, in den animalischen Muskeln 17 \u201418 Stunden; an den Vorh\u00f6fen und an den Hohlvenen wurden 14\u201420 Stunden nach dem Tode noch Spuren von Reizbarkeit bemerkt. Bei jungen Thieren dauert die Contractilit\u00e4t im Allgemeinen l\u00e4nger. Nysten sah hei neugebornen Ratzen noch nach 3 Stunden 45 Min. Contrac-tionen in den Muskeln auf Reize entstehen, und nach 6- Stunden sah er noch den rechten Vorhof auf Reize sich zusammenziehen. Im Allgemeinen kann man aus den vorliegenden Beobachtungen schliessen, dass, je einflussreicher das Athenen bei einem Thiere, je gr\u00f6sser das Athembed\u00fcrfniss ist, um so k\u00fcrzer die Reizbarkeit seiner Muskeln nach dem Tode dauert.\nManche Stoffe vermindern hei ihrer Einwirkung auf die Muskeln ihre Reizbarkeit. Die Muskeln von Thieren, die in kohlensaurem Gase, Wasserstoffgase, Kohlenoxydgase, Schwefeld\u00e4mpfen erstickt worden, ziehen sich hei Reizen nur schwach oder gar nicht zusammen, dagegen die Muskeln in atmosph\u00e4rischer Luft und im Sauerstoffgase l\u00e4nger contractil bleiben. Tiedemann\u2019s Physiol. I. 551. Vgl. Nysten 328. Das reine Wasser vermindert hei l\u00e4ngerer Ber\u00fchrung mit den Muskeln auffallend ihre Reizbarkeit. Diess ist von Nasse zuerst beobachtet und von Stannius neulich best\u00e4tigt worden. Pr\u00e4parirte Froschschenkel, die einige Zeit im Wasser gelegen haben, eignen sich zu delicaten Versuchen \u00fcber die Reizbarkeit der Nerven und Muskeln gar nicht mehr. Siehe Hecker\u2019s Annalen. 1832. Dec. Narcotische Stoffe, \u00f6rtlich auf die Muskeln applicirt, tilgen ihre Reizbarkeit; auf die Nerven der Muskeln \u00f6rtlich applicirt, tilgen sie die F\u00e4higkeit des Ner-","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"3. Muskelbeweguiig. Lebenseig enscfiaften der Muskeln. 39\nven, von der narcotischen Stelle aus den Muskel zur Contraction zu bringen, dagegen die zwischen der narcotisclien Stelle und dem Muskel liegende Strecke des Nerven ihre Reizbarkeit behalten hat. T\u00f6dten Narcotica, indem sie in den Kreislauf gelangen, so vermindern sie nicht in dem Grade die Reizbarkeit, als bei der localen Application in concentrirter Form. Man kann an Fr\u00f6schen, die durch Narcotica get\u00f6dtet sind, noch Stunden lang Zuckungen der Muskeln durch Reizung der Nerven und Muskeln bewirken. Stoffe von zersetzender chemischer Wirksamkeit, wie \u00e4tzende Alcalien, concentrirte S\u00e4uren, Chlor u. a., t\u00f6dten die Muskelreizbarkeit an der betroffenen Stelle augenblicklich. Stoffe, welche die Reizbarkeit der Muskeln erh\u00f6hen, kennt man nicht. Oxygenirte Salzs\u00e4ure und kohlensaure Alcalien machten zwar in v. Humboldt\u2019s Versuchen, wenn die Nerven damit befeuchtet waren, die Pr\u00e4parate f\u00e4higer zur galvanischen Irritation. Diese Wirkung ist jedoch, wie Pfaff gezeigt hat, nicht eine Folge der wirklichen Erh\u00f6hung der thierischen Reizbarkeit, sondern der galvanischen Processe in der geschlossenen Kette. Vergl. oben Bd. I. p. 608.\nDie Zusammenziehungskraft der Muskeln steht unter den allgemeinen Gesetzen der thierischen Reizbarkeit. Werden sie selten aus inneren Reizen bewegt, so nehmen sie an Kraft ab; aber auch auf eine jedesmalige bedeutende Anstrengung wird die F\u00e4higkeit zur Wiederholung derselben f\u00fcr den Augenblick geringer, und es tritt Erm\u00fcdung ein. Erregung und Ruhe sind also f\u00fcr die Erhaltung und Steigerung der Muskelkraft gleich n\u00f6thig. Durch die Erregung scheint die Natur bestimmt zu werden, die zur Ern\u00e4hrung und Bildung von Muskelgewebe n\u00f6thigen materiellen Ver\u00e4nderungen in der Ruhe den erregten Muskeln vorzugsweise zuzuwenden. Gleichwohl ist die Erm\u00fcdung nach jeder Anstrengung noth wendig, weil die Action und Reizung der Muskeln seihst unter materiellen Ver\u00e4nderungen ihres Gewebes erfolgt. Siehe oben Bd. I. p. 52. Diese Thatsachen lassen sich selbst noch in den Muskeln eines get\u00f6dteten Frosches einiger-maassen beobachten. Die Zusammenziehungen seiner Muskeln auf den galvanischen Reiz lassen sich durch m\u00e4ssige und periodische Anwendung desselben verst\u00e4rken, wenn sie anfangs geringe waren, aber sie lassen sich auch schnell durch zu h\u00e4ufige Reizungen ersch\u00f6pfen; und wenn wiederholte Reizungen die Abnahme der Contractionen bedingen, so stellt die Ruhe oft einigermaassen die F\u00e4higkeit zu einer Contraction wieder her.\nDie Zusammenziehung der Muskeln, welche sie fester und harter macht, ist allein der active Zustand derselben, im verl\u00e4ngerten Zustande sind sie erschlafft. Die Annahme einer acti-''en Expansion der Muskeln l\u00e4sst sich auf keine Weise rechtferti-Sen- Oesterreicher hat sie durch einen sinnigen Versuch recht gut widerlegt. Er hat n\u00e4mlich die Beobachtung gemacht, dass as aus einem lebenden Frosche ausgeschnittene Herz, mit einem einen Gewichte beschwert, das Gewicht erhebt, wenn es sich *usammenzieht, bei der Erweiterung des Herzens aber sinken","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40 IV. Buch. Von d. Bewegung. I. Abschn. Thier. Beweg, im A/lg.\nschlafft, denken. Sie sind best\u00e4ndig dem Princip der Nerven aucli im Zustande der R\u00fcbe ausgesetzt; diess siebt man deutlicb indem Zur\u00fcckziehen der durchschnittenen Muskeln, an den leisen Be-bungen blossgelegter Muskeln und an der Verstellung des Gesichts und der Zunge bei halbseitiger L\u00e4hmung.\nBeobachtet man einen Muskel im Moment der Zusammenziehung, so sieht man, dass er, indem er sich verk\u00fcrzt, sich in demselben Grade verdickt, und oft sieht man deutlich genug eine wellenf\u00f6rmige blitzschnelle Biegung seiner B\u00fcndel. Da die Muskeln bei ihrer Zusammenziehung fester werden, so liegt der Gedanke nahe, dass sie sich bei der Zusammenziehung zugleich verdichten und also ein kleineres Volumen einnehmen, obgleich die gr\u00f6ssere Festigkeit des zusammengezogenen Muskels auch von der St\u00e4rke der Anziehung gewisser Theilchen des Muskels gegen einander herr\u00fchren kann. Ohne der \u00e4lteren unvollkommneren Beobachtungen von Glisson, Swammerdam ( Haller elem. Hb. XI. S. 2. \u00a7. 22.) zu gedenken, erw\u00e4hne ich bloss die genaueren, in neuerer Zeit hier\u00fcber angestellten Untersuchungen. Man bringt zu diesem Zweck die contractilen Theile in eine mit Wasser gef\u00fcllte R\u00f6hre, die in ein feines R\u00f6hrchen ausl\u00e4uft, woran man den Stand des Wassers im Moment der durch Galvanismus erregten Contraction beobachtet. Barzellotti, Mayo, Pr\u00e9vost und Dumas, welche an kleineren Fleischmassen operirten, fanden keine Ver\u00e4nderung des Niveaus, welche hingegen von Gruit-huisen und Erman (Gilb. Arm. 40.), von Letzterem in sehr geringem Grade, beobachtet wurde. Erman brachte in ein Glas-gef\u00e4ss die untere H\u00e4lfte eines Aals ohne die Eingeweide, einen Metalldrath an das R\u00fcckenmark, den zweiten an das Fleisch des Fisches, und richtete diese so ein, dass sie mit den Polen einer galvanischen S\u00e4ule verbunden werden konnten. Das Gelass wurde dann mit Wasser gef\u00fcllt, so dass auch eine enge Glasr\u00f6hre, in welche der Apparat oben endete, damit gef\u00fcllt war. Beim Schliesscn der Kette und bei der Zusammenziehung der Muskeln fiel das Wasser in der engen R\u00f6hre jedesmal um 4 \u2014 5 Linien, und stieg wieder bei der Oeffnung. Die Verdichtung der Muskelmasse ist daher so unbedeutend, dass man hierauf bei der Erkl\u00e4rung der Ph\u00e4nomene der Muskelcontraction gar nicht rechnen kann. Vielleicht hatte diese Verdichtung auch allein ihren Grund in der Compression der durchschnittenen und daher mit Luft gef\u00fcllten kleinen Gef\u00e4sse der Muskeln; sie erkl\u00e4rt sich wenigstens hieraus vollkommen. Wenn diese Versuche wiederholt werden, so darf das St\u00fcck des Aals nur unter Wasser zubereitet, und muss ohne Ber\u00fchrung der atmosph\u00e4rischen Luft in die R\u00f6hre gebracht werden. Die Ursachen, welche die Verk\u00fcrzung des Muskels bei der Zusammenziehung bewirken, k\u00f6nnen dreierlei seyn.\n1. Zickzackf\u00f6rmige Biegung der Muskelb\u00fcndel. Ein Ph\u00e4nomen, das man an den sich contrahirenden Muskeln mit blossen Augen sehen kann, und das man mit der Loupe sorgf\u00e4ltiger beobachtet, ist, dass die B\u00fcndel der Muskelfasern zickzackf\u00f6rmige Biegungen machen. Pr\u00e9vost und Dumas (Journ. de physiol. 3.","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"3. Mus keil/ewegung. Lebenseigenschaften der Muskeln. 41\n341.) haben sich mit dem Studium dieses Ph\u00e4nomens abgegeben. Pr\u00e9vost und Dumas betrachten die Muskelfasern als zusammengesetzt aus einer gewissen Anzahl kleiner gerader Linien, die f\u00e4hig sind gegen einander sich zu neigen. An den Schenkelmuskeln eines Frosches betrug die L\u00e4nge dieser Linien 10\u201412 Mi\u00fciui., die Distanz der durch die winkelf\u00f6rmige Beugung einander gen\u00e4herten Endpuncte der Linien 16 \u201417 Millim., 16 solcher Linien betrugen zusammen 172,5 Millim. ; diess dr\u00fcckt die L\u00e4nge dieser Muskelpartie im Zustande der Ruhe aus. Die Distanz der Winkel im gereizten Zustande dieser Linien betrug 130 Millim.; die Verk\u00fcrzung betrug also 0,23 auf eine Muskelfaser. Pr\u00e9vost und Dumas massen ferner die Verk\u00fcrzung desselben Muskels im Ganzen bei der Contraction ; diese betrug 0,27. Da diese Messungen nabe \u00fcbereinstimmen, so schlossen sie, dass die Verk\u00fcrzung der Muskeln durch ihre Zusammenziehung wirklich von jenen Winkeln, welche die 10\u201412 Millim. langen Theile der Muskelfasern machen, herr\u00fchre. Mehrere Gr\u00fcnde machen indess wahrscheinlich, dass die von Pr\u00e9vost und Dumas beobachtete und so leicht mit blossen Augen zu erkennende Biegung der Muskelfasern in Winkel nicht die einzige und vielleicht nicht einmal die wesentlichste Ursache ihrer Verk\u00fcrzung ist.\n2. Lautu hat schon einige hieher geh\u00f6rige wichtige Beobachtungen gemacht. Institut. 57. 70. 73. Mueller\u2019s Archiv 1835. p. 4. Indem er unter dem Mikroskope einen noch reizbaren Muskel einer galvanischen S\u00e4ule aussetzte, beobachtete er, dass die Zusammenziehung auf eine zweifache Weise geschah. Die st\u00e4rkste Zusammenziehung war das Hervorbringen von Zickzackkr\u00fcmmungen in der ganzen secund\u00e4ren Faser; war aber die galvanische Wirkung geringer, so bemerkte er eine Verk\u00fcrzung der ganzen secund\u00e4ren Faser ohne Zickzackbiegung. Tn diesem Falle bietet die Oberfl\u00e4che der secund\u00e4ren Faser (B\u00fcndelchen ), anstatt glatt zu seyn, in ihrem ganzen Umfange Querrunzeln (rides) dar, welche man sonst auch in den im Zickzack gebogenen Fasern und ganz unabh\u00e4ngig von dieser letztem Kr\u00fcmmung bemerkt. Es ist demnach augenscheinlich, saugt Lauth, dass diese mindere Verk\u00fcrzung der Contraction der Primitivfasern zuzuschreiben ist, welche Contraction nach Lauth durch die Ann\u00e4herung der K\u00fcgelchen, die sie bilden, erhalten wird. Bei der Untersuchung der primitiven Muskelb\u00fcndelchen der Insecten habe ich eine Art von Querlinien beobachtet, welche wohl von den dicht hinter einander folgenden Querlinien unterschieden werden m\u00fcssen. Man sieht die Querlinien, welche ich hier meine, am deutlichsten an primitiven Muskelb\u00fcndelchen von Insecten, die in Weingeist gelegen haben, \u00f6lter aber auch stellenweise an irisch untersuchten Muskelb\u00fcndelchen der Insecten. Diese (secund\u00e4ren) Querlin ien sind sehr viel weiter von einander entfernt a ie primitiven Querlinien, aber ihre Distanz ist regelm\u00e4ssig, und das B\u00fcndelchen sieht an den in Weingeist aufbewahrten uskeln oft wie ganz gleichf\u00f6rmig gegliedert aus; auch brechen l\u00e7 primitiven B\u00fcndelchen leicht an den secund\u00e4ren Querlinien ei Muskeln, die in Weingeist aufbewahrt worden, ab. Die","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Abschn. Thier. Beweg, im Allg.\nEntfernung der secund\u00e4ren Linien ist etwas weniger als halb so gross als die Breite der primitiven B\u00fcndel der Insecten. 5 gr\u00f6ssere Querstreifen hatten zusammen eine Distanz von 0,010, die Distanz zweier ist also 0,002 Engl. Lin. Meist waren die secund\u00e4-ren Querlinien gerade, zuweilen ein wenig schief oder gebogen; immer aber an grossen Strecken der B\u00fcndelchen parallel. An den primitiven B\u00fcndelchen der im Weingeist aufbewahrten Muskeln sieht man deutlich, dass das primitive B\u00fcndel an den Querlinien eingeschn\u00fcrt, zwischen den Querlinien bauchig ist; die Einschn\u00fcrung und der bauchige Theil sehen hei verschiedener Beleuchtung dunkel oder hell aus. Zuweilen ist die Einschn\u00fcrung hell, der Bauch dunkler, zuweilen, hei kleiner Ver\u00e4nderung der Sehweite, umgekehrt. Der helle Theil an der Querlinie der Einschn\u00fcrung betrug 0,0007 Engl. Lin., der dunkle des Bauches 0,0013. Diese Einschn\u00fcrungen r\u00fchren keinesweges von einer blossen Runzelung der Scheide der primitiven B\u00fcndelchen her. Denn man kann deutlich die Scheide der primitiven B\u00fcndelchen am Rande als heilen Saum unterscheiden, und dieser helle Saum ist es nicht allein, der die Einschn\u00fcrungen zeigt; man sieht oft sehr deutlich, dass die Muskelsubstanz des B\u00fcndelchens, die aus dem Fascikel primitiver Fibern mit primitiven Querstreifen besteht, eben so eingeschn\u00fcrt als die Scheide ist. Da nun die Muskelfasern der Insecten mit denen der h\u00f6heren Thiere durch die Form ihrer Fasern und die primitiven Querlinien \u00fcberein-stimmen, so ist die Erscheinung der secund\u00e4ren Querlinien an den ersteren von Wichtigkeit f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der Zusammen-ziehung der Muskeln, und da die secund\u00e4ren Querstreifen an einzelnen Stellen fehlen, w\u00e4hrend sie an anderen vorhanden sind, so wird es dadurch noch wahrscheinlicher, dass sie ein Ausdruck der Zusammenziehung der primitiven B\u00fcndel sind. Diese Art der Zusammenziehung w\u00fcrde sich von der zickzackf\u00f6rmigen Zu-sammenziehung der grossem B\u00fcndel darin unterscheiden, dass das B\u00fcndelchen keine abwechselnden Biegungen macht, sondern dass die primitiven Fasern zwischen zwei secund\u00e4ren Querlinien aus einander weichen, und dadurch die Erweiterung des bauchigen Theiles bilden. Nat\u00fcrlich kann ein B\u00fcndel von Fasern auf doppelte Art sich verk\u00fcrzen: 1) durch abwechselnde Biegung des ganzen B\u00fcndels, wobei die Fasern in den Biegungen parallel bleiben, und diess findet hei der sichtbaren Verk\u00fcrzung der grossem B\u00fcndel statt, und 2) durch bausehf\u00f6rmi-ges Auseinanderweichen der Fasern des B\u00fcndels zwischen aliquoten Quertheilungeu des B\u00fcndels. Diese Art der Zusammenziehung kommt sehr wahrscheinlich neben der erstem an den Muskeln der Insecten vor, und vielleicht auch an denen der h\u00f6heren Thiere.\n3. Es ist m\u00f6glich, dass die Muskelfasern der zweiten Classe an dem organischen Theile des Leibes sich auf die erste und die zweite Art zugleich zusammenziehen ; an den Muskelfasern des animalischen Systems mit varic\u00f6sen Anschwellungen ist indess noch eine dritte Art der Contraction in noch kleineren Theil-chen m\u00f6glich, n\u00e4mlich durch Ann\u00e4herung der Anschwellungen","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"3. Muskelbewegung. Lebenseigenschaften der Muskeln. 43\nund Verk\u00fcrzung der d\u00fcnneren Stellen zwischen den Varicosit\u00e4-ten der Primitivfasern. Dass eine solche Zusammenziehung stattfinde, l\u00e4sst sich weder behaupten noch widerlegen. Da die Varicositaten in der ganzen zweiten Classe der Muskeln fehlen, so w\u00fcrde jede Theorie der Muskeleontraction fehlerhaft seyn, welche von diesen Anschwellungen der Primitivfasern allein ausgeht. Indess kann diese Ann\u00e4herung der K\u00fcgelchen sehr gut neben den \u00fcbrigen Zusammenziehungen, welche sich in den secund\u00e4ren und primitiven B\u00fcndeln zeigen, in den animalischen Muskeln Vorkommen; und es ist sogar aus einigen Gr\u00fcnden wahrscheinlich, dass sie wirklich hier stattfindet. Daf\u00fcr spricht n\u00e4mlich der Umstand, dass die \\ aricositaten seihst zur bauschf\u00f6rmigen Contraction alicpioter Tdieile der Bundelchen eben so wenig als zur zickzackf\u00f6rmigen Zusammenziehung der B\u00fcndel n\u00f6tliig sind; indem auf jede Biegung eine ganze Beihe von Varicositaten kommen ; zweitens spricht daf\u00fcr der positive Grund, dass die Varicositaten der Fasern und die primitiven Querlinien der B\u00fcndelchen des animalischen Systems nach Schwann\u2019s Untersuchungen an neben einander liegenden B\u00fcndelchen nicht immer gleich weit von einander entfernt sind. Weiter l\u00e4sst sich diese Hypothese nicht f\u00fchren. Wenn aber eine solche Ann\u00e4herung der Varicositaten stattfinden sollte, so k\u00f6nnte sie auf zweierlei Art denkbar statt-finden, entweder durch Anziehung der Anschwellungen oder K\u00fcgelchen gegen einander, wenn letztere ganz solid sind, oder durch Vergr\u00f6sserung der K\u00fcgelchen durch Anh\u00e4ufung eines Fluidums in den Varicositaten, auf Kosten der verbindenden Zwischenstellen, wenn n\u00e4mlich die Primitivfasern der Muskeln hohl seyn und ein Fluidum enthalten sollten. Hier\u00fcber mehr zu sagen ist \u00fcberfl\u00fcssig und gef\u00e4hrlich, da man sich von der Basis der Facta entfernen m\u00fcsste. Es ist hei dem jetzigen auch noch so vollkommenen Zustande der Instrumente und vielleicht niemals m\u00f6glich zu entscheiden, oh diese so unendlich zarten F\u00e4den, wie die primitiven Muskelfasern sind, solid oder hohl sind, und die Vorstellungen und k\u00fchnen Hypothesen der Alten hier\u00fcber hier zu wiederholen, kann nicht die Aufgabe dieses Werks, sondern der Geschichte der physiologischen Hypothesen seyn. Haller elem. lib. S. 3.\nRigor mortis. Nysten a. a. O. Guentz der Leichnam des Menschen. Leipz. 1827. Burdach Physiologie. Ild. 3. Nicolai, Rust\u2019s Magazin. 34. 2. A. G. Sommer diss. de. signis mortem hominis absolut am indicant ibus. Pars 2. Haimiae 1833. 8. Die Tod-tenstarre, Rigor mortis, ist eine nach dem Tode durch die Muskeln bewirkte Steifigkeit der Glieder, welche zu einer gewissen Zeit eintritt und aufh\u00f6rt. Sie beginnt gew\u00f6hnlich nach Sommer am Halse und Unterkiefer, geht dann auf die oberen Extremit\u00e4-en von oben nach abw\u00e4rts, dann auf die unteren Extremit\u00e4ten \u00fcber; seltener beginnt sie in den unteren Extremit\u00e4ten, oder in einen zugleich. Sommer fand in 200 F\u00e4llen nur einmal die \u201cJ^me, dass der Rigor nicht am Halse begann. Die Muskeln u len sich im Rigor, Beuger sowohl als Strecker, fester und lc ei an. Nach Sommer findet beim Rigor sogar eine leise Be-weSung statt. Sommer fand die Behauptung von Nysten unrich-","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Ahschn. Thier. Beweg, im A/lg.\ntig, dass bei der Steifigkeit immer die Lage der Glieder bleibe, wie sie vorher gewesen. Er fand vielmehr, dass der Unterkiefer, wenn er auch im Tode vom Oberkiefer abstand, sp\u00e4ter zu dem Oberkiefer fest angezogen wurde. Er fand auch, dass an den Extremit\u00e4ten eine st\u00e4rkere Beugung erfolge, so z. B. dass der Daumen gegen die Handfl\u00e4che angezogen, oder gar der Vorderarm ein wenig gebeugt wurde. Wird der schon in einem Theile ganz entwickelte Rigor mit Gewalt aufgehoben, so bef\u00e4llt er diesen Theil nicht wieder; geschieht diess aher w\u00e4hrend der Entwickelung des Bigors, so tritt er gleichwohl nach Sommer wieder ein. Ist z. B. am ausgestreckten Arme der allgemeine Bigor schon vorhanden, aher noch nicht ganz entwickelt, und wird die Beweglichkeit des Ellcnhogengelenks gewaltsam hergestellt, so wird es gleichwohl nach einiger Zeit wieder unbeweglich. Die Erschlaffung beginnt gew\u00f6hnlich zuerst wieder am Kopfe, dann an den oberen, am sp\u00e4testen an den unteren Extremit\u00e4ten. Der Rigor tritt nach Sommer\u2019s zahlreichen Beobachtungen (an 200 Leichen), die bei den mannigfachen Differenzen von anderen Beobachtern wohl das meiste Vertrauen verdienen, nie schneller als 10 Minuten nach dem Tode, nie sp\u00e4ter als nach 7 Stunden ein. Die Dauer ist nach Nysten und Sommer im Allgemeinen um so l\u00e4nger, je sp\u00e4ter der Rigor mortis eintritt. War die Muskelkraft vorher ungeschw\u00e4cht, wie bei Menschen, die an Asphyxie umgekommen, so tritt der Rigor auch sp\u00e4ter ein und dauert l\u00e4nger. Nach acuten Krankheiten, mit grosser Niedergeschlagenheit der Kr\u00e4fte, entsteht die Todtenstarre schneller, nach dem Typhus, nach Sommer, z. B. zuweilen schon nach 15 \u2014 20 Minuten nach dem Tode. Auch nach chronischen Krankheiten, welche die Kr\u00e4fte ersch\u00f6pft haben, wird dasselbe beobachtet. Nach pl\u00f6tzlichen Todesarten von acuten Krankheiten dauert der Rigor nach Sommer auch dann l\u00e4nger, wenn er selbst schnell eingetreten. Hunter und Himly bemerken, dass bei einem vom Blitz Get\u00f6dteten gar kein Rigor erfolge; Sommer sah ihn indess bei einem durch den electriscben Schlag get\u00f6dteten Hunde eben so schnell als gew\u00f6hnlich eintreten. Auch Orfila\u2019s Bemerkung, dass nach Asphyxie von Kohlendunst der Rigor sp\u00e4t eintrete, fand Sommer nicht best\u00e4tigt; derselbe bemerkt, dass, wenn er bei Asphy-ctischen mitunter sp\u00e4t eintrete, diess eher von dem dem Tode vorangehenden Scheintode, als von der Todesart abzuleiten sey. Auch dass die Todesstarre nach narcotischen Vergiftungen fehle, fand Sommer bei seinen Versuchen an Thieren eben so wenig als Nysten best\u00e4tigt. Schon Nysten beobachtete, dass die Todtenstarre auch die gel\u00e4hmten Muskeln bei der Hemiplegie gleich stark befalle. Diess best\u00e4tigt Sommer mit dem Zusatze, wenn die Paralysis nicht mit einer bedeutenden Ver\u00e4nderung in der Ern\u00e4hrung oder mit Wassersucht der Muskeln selbst verbunden gewesen; in welchem Falle Sommer einmal einen g\u00e4nzlichen Mangel des Rigors auf der gel\u00e4hmten Seite beobachtete. Nysten bemerkte, dass der tetanische Krampf bei am Tetanus Verstorbenen mit oder nach dem Tode schnell auf h\u00f6re, dass darauf der K\u00f6rper einige Stunden schlaff bleibe, ehe der Rigor eintrete; Som-","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"3. Muskelbewegung. Lebenseigenschaften der Muskeln. 45\nmer sah indess in einem Fall von Tetanus den tetanisclien Krampf an den Kiefern unmittelbar in den Rigor sich fortsetzen. Bei Neugebornen und Greisen tritt der Rigor im Allgemeinen schneller ein, ist nicht so stark und verschwindet fr\u00fcher. Gegen Ny-sten beobachtete Sommer in vielen Fallen, dass der Rigor schon \u25a0vor der vollkommenen Erkaltung und zuweilen schon eintritt, wenn die W\u00e4rme sich noch eih\u00e4lt. Die Todtenstarre tritt in der Luft und im Wasser ein, doch wird eine in Wasser von 0 \u2014 15\u00b0 untergetauchte Leiche st\u00e4rker und l\u00e4nger vom Rigor befallen, als in der Luft von gleicher Temperatur. In Hinsicht des Einflusses des Gehirns und R\u00fcckenmarks auf die Entwicklung des Rigors stimmt Sommer Nysten\u2019s Beobachtungen hei, dass n\u00e4mlich die Zerst\u00f6rung der Centraltheile des Nervensystems keinen Einfluss auf die Entwicklung, den Grad und die Dauer der Todtenstarre habe.\nDer Sitz des Rigors liegt nach Nysten in den Muskeln; denn er bleibt, wenn man auch die H\u00e4ute und seihst die Seitenb\u00e4nder der Gelenke durchschnitten, verschwindet aber nach Durchschneidung der Muskeln. Diess best\u00e4tigt Sommer, bemerkt aber, dass, wenn auch ein Glied nach Durchschneidung der rigiden Muskeln seine Beweglichkeit wieder erh\u00e4lt, die durchschnittenen Muskelst\u00fccke gleichwohl fest und rigide bleiben, was schon Rudolphi beobachtete. Nysten hatte die Todtenstarre von der organischen Contractilit\u00e4t der Muskelfasern abgeleitet. Unter seinen Gr\u00fcnden daf\u00fcr ist der wichtigste, dass, wenn der Rigor bei der gr\u00f6ssten Beugung eines Gliedes eintrete, die Beugemuskeln dann dieselbe Beschaffenheit haben, als wenn sie will-k\u00fchrlich zusammengezogen sind; und dass sie statt erschlafft, vielmehr verk\u00fcrzt und verdickt erscheinen. Sommer hingegen erkennt diese Thatsache nicht an. Befinde sich der eine Arm eines Todten vor dem Eintritt des Rigors in Beugung, der andere in Streckung, so werde auch der Biceps des extendirten Armes rigide, obgleich sein Rigor nicht der vitalen Contraction \u00e4hnlich sei. Zun\u00e4chst fragt sich hier, oh die Muskeln zur Zeit des eingetretenen Rigor selbst noch Spuren von organischer Contractilit\u00e4t auf angebrachte Reize zeigen. Nysten hatte schon sehr schwache Spuren derselben in diesen F\u00e4llen zuweilen beobachtet. Sommer sah in der Regel keine Wirkung auf angebrachte Reize; zuweilen sah er ganz deutliche Zusammenziehungen, obgleich diese keinen Einfluss auf die Lage der Glieder hatten. Im Allgemeinen tritt das Ph\u00e4nomen des Rigors um so fr\u00fcher ein, je schneller die Erregbarkeit der Muskeln abstirbt, so z. B. am fr\u00fchesten Jei den V\u00f6geln; hei den Amphibien, wo die Erregbarkeit der uskeln lange dauert, tritt der Rigor sp\u00e4t ein und dauert k\u00fcrzer. ommer leitet den Rigor von einer physischen (nicht organischen) ontractilit\u00e4t der Muskeln ah. Denn, sagt er, das Ph\u00e4nomen hab clam? ein? wenn alle Lebensph\u00e4nomene sich vermindert nach\u201d d 6106 \u00e4hnliche physicalische Contraction zeige sich i cm Tode auch in nicht muscul\u00f6sen Theilen, in der eila \u2019 Rim ^e%ewebe, in den H\u00e4uten und B\u00e4ndern. Or-Gerlt\tECLA\u00aeD und Treviranus leiteten den Rigor von der\ninung des Blutes ab. Sommer h\u00e4lt diese Erkl\u00e4rung f\u00fcr","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Abschn. Thier. Beweg, im A/lg.\nunrichtig, indem ein starker Rigor zuweilen vor der Gerinnung des Blutes eintrete, oder wenn die Gerinnung unvollkommen sey. Bei Ertrunkenen, wo der Rigor stark sey, bleibe oft das Blut fl\u00fcssig; eben so bei Menschen und Thieren, die durch Blaus\u00e4ure umgekommen. Gleichwohl erkennt Sommer die Aehn-lichkcit beider Ph\u00e4nomene an; die Gerinnung des Blutes sey der Tod des Blutes, der Rigor der Tod der Muskeln. Mir scheint die Erkl\u00e4rung des Ph\u00e4nomens durch die Gerinnung des Blutes in den kleinen Gef\u00e4ssen noch keinesweges widerlegt. Es l\u00e4sst sich nicht bezweifeln, dass durch die Gerinnung des Blutes und der Lymphe in den kleineren Blut- und Lymphgef\u00e4ssen sich die Coh\u00e4sion der Muskeln vermehren m\u00fcsse, und es fragt sich nur, oh d iese Vermehrung der Coh\u00e4sion allein zur Bewirkung der Erscheinungen des Rigor hinreicht. Obgleich diess nicht bewiesen werden kann, so sieht man doch bei dieser Erkl\u00e4rung sehr gut ein, wie in Folge der Gerinnung des Blutes sp\u00e4ter auch wieder eine Verminderung der dadurch vermehrten Coh\u00e4sion eintreten m\u00fcsse. Die Gerinnung des Blutes und der Lymphe ist n\u00e4mlich anfangs so, dass die ganze Masse derselben fest und gallertartig wird. Sp\u00e4ter, und oft sehr sp\u00e4t erst, zieht sich das Gerinnsel des Faserstoffs, welches die fl\u00fcssigen Theile fein vertheilt einschliesst, so zusammen, dass das Serum ausgetrieben wird. Sobald dieses in dem geronnenen Blute und der Lymphe der kleinen Gef\u00e4sse geschehe*!) ist, muss die Coh\u00e4sion aller Theile sich wieder vermindern. Die Gerinnung des Blutes und die Gerinnung des Fettes nach dem Tode der warmbl\u00fctigen Thiere machen die Theile coh\u00e4renter, aber nur durch die erstere wird die vermehrte Coh\u00e4sion sp\u00e4ter wieder aufgehoben, w\u00e4hrend das Fett seinen geronnenen Zustand beh\u00e4lt. Ich will indess die Erkl\u00e4rung des Rigor aus der Gerinnung des Faserstoffes irn Blute und in der Lymphe keineswegs als die richtige und als die meinige aufstellen, vielmehr nur aussprechen, dass mir der Stand der Sache als solcher erscheint, dass diese Erkl\u00e4rung f\u00fcr jetzt weder entschieden bewiesen, noch entschieden widerlegt werden kann. Sollte sich dereinst sicherer beweisen lassen, dass der Rigor von einer physicalischen Contractilit\u00e4t der absterbenden Muskelfasern abzuleiten sey, die mit der Zersetzung aufh\u00f6re, so w\u00fcrde das Ph\u00e4nomen mehr Aehnlichkeit mit der physicalischen Zusammenziehung des schon geronnenen Faserstoffs zu einem kleinern und festem K\u00f6rper haben.\nIV. Capitel. Von den Ursachen der thierischen Bewegung.\nBei der Untersuchung der Ursachen der Bewegung von festen organischen Theilchen muss man zuerst die Bewegungen nervenloser Theile und solcher Theile unterscheiden, welche unter Wechselwirkung der contractilen Gewebe mit dem Nervensysteme erfolgen. Im ersten Falle sind die Bewegungen der Pflanzen, und vielleicht einiger nicht muscul\u00f6ser Theile der Thiere.","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"4. Ursachen der thierisehen Bewegung.\n47\nIm einfachsten Zustande beobachten wir die ersten Spuren organischer Contractilit\u00e4t an den Oscillatorien, jenen einfachen unter einander verfilzten F\u00e4den, in denen keine Zusammensetzung der Structur gesehen wird, und welche aus einer, mit linear dicht auf einander folgenden K\u00f6rnchen gef\u00fcllten R\u00f6hre bestehen. Diese K\u00f6rnchen werden zu gewissen Zeiten der Entwickelung dieses Vegetabile axis der R\u00f6hre ausgestossen, die dadurch ihre Contractilit\u00e4t nicht verliert. Die oscillatorischen langsamen, aber deutlichen Biegungen dieser F\u00e4den habe ich unter dem Mikroskope hei Herrn Meyen gesehn; sie sind f\u00fcr die Theorie der organischen Bewegung wegen der Einfachheit der Structur von besonderer Wichtigkeit. Wenn sich diese F\u00e4den zu bewegen anfangen, kr\u00fcmmen sie sich unmerklich und langsam nach einer Seite hin, und gehen nach einiger Zeit wieder zur\u00fcck und gar zur entgegengesetzten Seite hin, wobei die im Innern enthaltenen K\u00f6rnchen vollkommen ruhig bleiben. Da diese Bewegungen ohne Anziehung von Seiten nahe gelegener F\u00e4den erfolgen, und da im Innern der F\u00e4den keine Saftcirculation oder Ortsver\u00e4nderung der S\u00e4fte bemerkt wird, so k\u00f6nnen wir uns den Process dieser Contractionen nicht anders vorstellen, als dass durch eine sich bald auf dieser, bald auf jener Seite des Fadens oder der R\u00f6hre steigernde Erregbarkeit die Theilchen der W\u00e4n le des Fadens sich ann\u00e4hern, dass die W\u00e4nde bald auf der einen, bald auf der andern Seite sich verdichten, oder dass die W\u00e4nde bald hier, bald dort mehr Wasser anziehen, festhalten und damit aufquellen. Die Idee einer Kr\u00e4uselung wird durchaus durch den Augenschein widerlegt. Die spontanen, auch ohne Reize erfolgenden rhythmischen Bewegungen der Bl\u00e4tter des Hedvsarum gyrans zeigen uns dasselbe Ph\u00e4nomen an einer hohem Pflanze. Auch hier muss sich die Erregung aus innern Ursachen bald mehr auf der einen, bald auf der andern Seite des contractilen Gewebes der Basis der Blattstiele steigern, und entweder eine Ann\u00e4herung kleiner Theilchen, oder ein Aufquellen der einen und andern Seite von innern Fl\u00fcssigkeiten herbeif\u00fchren. Bei der auf Reize erfolgenden Bewegung der Blattstiele der Mirnosa pudica durch Kr\u00fcmmung des Wulstes der Blattstiele ist diese Erregung auch durch \u00e4ussere B,eize bestimmbar, und es ist hier wahrscheinlicher, dass die Bewegung durch Anziehung der von Dutrochet entdeckten, im Zellgewebe des Wulstes linear geordneten K\u00fcgelchen entsteht, nie seihst wieder nach Dutrochet hohl sind. Die Ursachen der 'yunperbewegung der Thiere zu untersuchen, ist noch lange mcht der Zeitpunct. Wir kennen nicht einmal den Mechanis-*?us> durch welchen sie erfolgt. Das Einzige, was feststeht und *|e den vorher erw\u00e4hnten Bewegungen n\u00e4her stellt, ist ihre grosse nabh\u00e4ngigkeit von dem Nervensystem. An diese Bewegungen, \"ne che von der Wechselwirkung mit einem Nervensystem unab-\nlangig sind, schliessen sich einigermaassen schon die Bewegungen lrn 7 II\td\to o\nrp, . ellgewebe, oder leimgebenden contractilen Gewebe der\nfe d6re an\u2019- m\u2018t Leichtigkeit auf die das Gewebe selbst tref-n en Reize, namentlich K\u00e4lte und W\u00e4rme und mechanische","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Ahschn. Thier. Beweg, im Allg.\nReize, erfolgen. Diese haben auch noch das Aehnliche mit den Pflanzenbewegungen, dass beide von dem electrischen Reize nicht merklich erregt werden. Doch sind jene Bewegungen vom Nervensysteme der Thiere nicht mehr ganz unabh\u00e4ngig. Die Con-tractilit\u00e4t der Haut und der Tunica dartos \u00e4ussert sich nicht bloss auf \u00e4ussere Reize, sondern \u00f6fter auch aus innern im Nervensystem liegenden Gr\u00fcnden. Die Dartos ist oft gerunzelt, wo nerv\u00f6se Reizung in den Genitalien unverkennbar ist, wo auch der Cremaster angezogen ist, und die Contractilit\u00e4t der Haut \u00e4ussert sich oft genug unter eben so offenbaren Affectionen des Nervensystems, z. B. mit Schauder (als Gef\u00fchl und als Muskel-Bewegung zugleich.) Da wir indess bei diesen schwer zu ana-lysirenden Bewegungen die Wechselwirkung mit dem Nervensystem nicht leicht erforschen werden, so ist unsere ganze Aufmerksamkeit auf die Muskeln gerichtet, hei welchen die entschiedenste Wechselwirkung des contraction Gewebes mit dem Nervensystem klar ist. Die Art, wie die Verk\u00fcrzung des leimgebenden contractilen Gewebes erfolgt, ist wahrscheinlich Kr\u00e4uselung, durch Anziehung aliquoter Thcilchen der Fasern gegen einander.\nDie F\u00e4higkeit der Muskeln sich zusammenzuziehen, steht mit zweierlei Einfl\u00fcssen in dem innigsten Zusammenh\u00e4nge, mit dem Einfl\u00fcsse des Blutes und der Nerven.\n1) Einfluss des Blutes. Stenson hat zuerst gezeigt, dass die Muskeln ihre Bewegungen einstellen, wenn der Strom des Blutes (namentlich des arteriellen Blutes) zu ihnen gehemmt ist. Man beobachtet dieses Ph\u00e4nomen zuweilen auch nach der Unterbindung eines grossen Arterienstammes heim Menschen. Die Bewegungen der Muskeln auf den Einfluss des Willens durch das Nervensystem verlieren sich zum Theil oder ganz, bis sich allm\u00e4hlig der Collateralkreislauf ausgebildet hat. Arnemann, Bichat, Emmert haben diess best\u00e4tigt. Siehe das N\u00e4here in Treviranijs Biologie. 5. p. 281. Segalas ( Journ. d. physiol. 1824.) beobachtete nach Unterbindung der Aorta abdominalis bei Thieren eine Schw\u00e4che der Hinterbeine, so dass das Thier nach 8 \u201410 Minuten die Hinterbeine kaum hinter sich her schleppen konnte. Oh das Blut hei dieser nothwendigen Wechselwirkung mit den Bewegungsorganen mehr n\u00f6thig ist, in wiefern es die Contractilit\u00e4t der Muskeln oder den Einfluss der Nerven, welche dem Willen dienen, erh\u00e4lt, ist von den Beobachtern nicht beachtet worden. Tbeviranus erkl\u00e4rt sich gegen Percy f\u00fcr die Nothwen-digkeit des Blutes f\u00fcr die Muskeln, insofern das Zerfallen der Arterienst\u00e4mme der Glieder in viele anastomosirende Reiser hei einigen viel kletternden Thieren (Lemur, Bradypus) f\u00fcr die Erhaltung eines ungest\u00f6rten Laufes des Blutes hei den Anstrengungen der Muskeln berechnet zu seyn scheint *). Wahrscheinlich\nDie Wundernetze kommen eben so oft an nicht muscul\u00f6sen Theilen als an muscul\u00f6sen vor, zu den ersteren geh\u00f6rt das Wundernetz der Carotis interna der Wiederk\u00e4uer, und das von ESCHIUCHT und mir entdeckte gr\u00f6sste aller Wundernetze an der Pfortader des Thunfisches.","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"4. Ursachen der thierischen Bewegung. Nerven.\n49\n\u25a0wird es beider Beziehung nothwendig seyn, indess ist es ge-wiss, dass selbst nach g\u00e4nzlichem Stillst\u00e4nde des Blutumlaufes bei get\u00f6dteten Thieren und an abgeschnittenen Gliedern sowohl die Nerven noch f\u00e4hig sind, gereizt, die Muskeln zur Contraction zu bestimmen, als auch die Muskeln f\u00e4hig sind, unmittelbar gereizt, sich zusammenzuziehen. Die Unterbindung einer Arterie hemmt den Einfluss des Blutes .nicht allgemein, Blut ist dabei in den kleinsten Gef\u00e4ssen der Muskeln noch vorhanden; die Unterbindung hemmt aber den Zufluss neuen arteriellen Blutes zu den Muskeln und Nerven. Segalas Versuche zeigen auch, dass hei voller Anf\u00fcllung der Capillargef\u00e4sse durch blosse Hemmung der Circulation nach Unterbindung des untersten Theils der Vena cava die Bewegungskraft vermindert wird. Es ist also gewiss, dass das arterielle Blut in den Bewegungsorganen eine Ver\u00e4nderung erleidet, wodurch es ven\u00f6s geworden, die F\u00e4higkeiten derselben nicht mehr so wie vorher unterh\u00e4lt, und dass die Bewegungsorgane nur unter dem best\u00e4ndigen Einfl\u00fcsse des arteriellen Blutes ihre volle Contractilit\u00e4t behalten. Man sieht diess auch aus den bei den Blaus\u00fcchtigen beobachteten Erscheinungen, bei welchen wegen Offenbleibens des ovalen Loches im Septum atriorum, oder wegen Oifenbleibens des Ductus Botalli, oder wegen Enge der Arteria pulmonalis etc. beide Blutarten gemischt werden, oder das arterielle Blut sich nur unvollkommen bildet. Diese Menschen sind zu gr\u00f6sseren Muskelanstrengungen unf\u00e4hig. Bei den Amphibien ist der Einfluss des Blutes auf die Nerven und Muskeln weniger nothwendig zur Ausf\u00fchrung der willk\u00fchr-liclien Bewegungen. Die Fr\u00f6sche behalten den Einfluss des Willens auf ihre Muskeln nach Ausschneidung des Herzens; ja sie bewegen sogar ihre bis auf die Nerven allein amputirten Glieder willk\u00fchrlich ; ich fand auch die Muskeln eines Frosches noch reizbar, selbst nachdem ich alles Blut durch einen in die Arterien getriebenen und aus den durchschnittenen Venen ausflies-senden Wasserstrom aus den Gef\u00e4ssen ausgetrieben hatte.\n2. Einfluss der Nerven auf die Contractionsf\u00e4higkeil der Muskeln. Von der Wirkung der Nerven auf die Erregung der Muskeln zu Bewegungen muss man wohl ihren Einfluss auf die Erhaltung ihrer Contractionsf\u00e4liigkeit unterscheiden. Haller betrachtete die Contractionskraft der Muskeln als eine ihnen, unabh\u00e4ngig von den Nerven, zukommende Lebenseigenschaft, die er Irritabilit\u00e4t nannte. Fontana, Soemmerring, Nysten, Bichat u. A. folgten Haller. Dieser grosse Physiolog lehrte, dass alle Beize auf die Muskeln wirkend, ihre Zusammenziehungskraft anregen, und nicht zuerst durch die Nerven auf die Muskeln zu wirken brauchen, dass der Reiz der Nerven vielmehr nur eine pecies unter den vielen Reizen der Contractionskraft der Mus-e \" sey- Seine und seiner Nachfolger Beweise sind l\u00e4ngst er-sc uttert. Das Herz bewegt sich nicht unabh\u00e4ngig von allein erveneinfluss, und seine Nerven sind nicht, wie man ehemals P\tunemP^in^^cb\tdie \u00e4usseren Reize. Siehe oben Bd. I.\nP-\t\u2022 Das Herz verh\u00e4lt sich nicht anders als andere vom Ner-\nUS syrnpatlncus abh\u00e4ngige Muskeln. Nicht allein wird das Herz M\u00abner\u2019s Physiologie. 2r Bd. I,\t4","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50 IV. Buch. Von at. Bewegungen. I. Abschn. Thier. Beweg, im A\u00fcg.\ndurch Galvanismus zu Contractionen gereizt, wie v. Humboldt, Pfaff, Fowler, Wedemever und ich sahen. Humboldt und Burdach haben auch den Herzschlag durch Reizung der Nervi cardiaci ver\u00e4ndert. Siehe oben Bd. I. p. 181. 647. Am deutlichsten l\u00e4sst sich nach meinen Versuchen der motorische Einfluss des N. sympathies auf die organischen Muskeln an dem Ganglion coeliacum erweisen. Wird n\u00e4mlich nach Er\u00f6ffnung der Bauchh\u00f6hle eines Kaninchens der Zeitpunct abgewartet, wo die an der Luft sich verst\u00e4rkenden peristaltischen Bewegungen wieder nachlassen, und dann das Ganglion coeliacum mit Kali causticum betupft, so folgen nach einigen Secunden sehr verst\u00e4rkte peristaltische Bewegungen. Auch Scarpa\u2019s neuere Meinung, dass der N. sympathies gar nicht mit den vorderen oder motorischen Wurzeln der Spinalnerven und den motorischen Hirnnerven Zusammenh\u00e4nge, ist durch meine eigenen Untersuchungen und diejenigen von Wutzer, Retzius, Mayer hinl\u00e4nglich widerlegt. Siehe oben Bd. I. p. 650. Aus allem diesem geht jedoch nur hervor, dass die Nerven des Herzens eben so den motorischen Einfluss leiten, als die Nerven anderer Muskeln, und die Frage, oh diese Nerven am Herzen des unversehrten K\u00f6rpers und am ausgeschnittenen Herzen zur Erhaltung der Contractionskraft desselben nolhwen-dig sind, bleibt hiebei ungel\u00f6st.\nAndere Physiologen, wie Whytt, A. Monro, Prochaska, Legallois, Beil, bestritten die flALLER\u2019sche Lehre und behaupteten, dass die Bewegungskraft von der Wechselwirkung mit den Nerven abh\u00e4nge. In diesem Falle w\u00fcrde die Contractilit\u00e4t der Muskeln sich wesentlich von der Contractilit\u00e4t der Pflanzen unterscheiden, welche ohne Mittelwirkung von Nerven von den \u00e4usseren Reizen unmittelbar angeregt wird. Diese M\u00e4nner beziehen sich darauf, dass die Nerven gereizt die Bewegung der Muskeln hervorrufen, dass die Narcotica, welche doch vorzugsweise auf das Nervensystem wirken, die Contractilit\u00e4t der Muskeln vernichten, dass die Zerst\u00f6rung des Gehirns und R\u00fcckenmarkes die Contractilit\u00e4t der Muskeln vermindere. Man muss indess gestehen, dass diese Beweise nichts weniger als triftig sind. Die Muskeln bleiben nach Zerst\u00f6rung des Gehirns und R\u00fcckenmarkes so lange reizbar, als \u00fcberhaupt nach dem Tode die Reizbarkeit der Muskeln dauert, und die Vergiftung eines Thieres durch Narco-tioa vernichtet nur den Einfluss des Gehirns und R\u00fcckenmarkes auf die Muskeln. Die Reizbarkeit der Nerven und Muskeln wird nach narcotischer Vergiftung der Fr\u00f6sche so wenig aufgehoben, dass ich die l\u00e4ngste Zeit die gew\u00f6hnlichen Ph\u00e4nomene nach angebrachten Reizen auf Nerven oder Muskeln der Fr\u00f6sche beobachtete. Treviranus hat den Mittelweg eingeschlagen, und glaubt, bestimmt durch die Analogie der Pflanzen, die durch den Lichteinfluss Reizbarkeit besitzen, aber doch auch f\u00fcr andere Reize erregbar sind, dass die Nerven Bedingung der Muskelreizharkeit sind, dass aber nicht alle Reize durch ihre Mittelwirkung auf die Muskeln wirken. Tiedemann (Physiol. 1. 517.) sieht mit Haller die Eigenschaft der Muskeln, sich zusammenzuziehen, allerdings f\u00fcr eine denselben inh\u00e4rirende Kraft eigent\u00fcmlicher Art","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"4. Ursachen der tiderischen Bewegung. Nerven.\n54\nan, deren Bestehen aber von der Ern\u00e4hrung und dem Nerveneinflusse abh\u00e4ngig ist, und lehrt, dass die Nerven nicht bloss die Reize zur Erregung der Contraction der Muskeln zuleiten, sondern dass sie noch eine wesentliche Bedingung f\u00fcr ihre Lebens\u00e4usserungen abgeben m\u00fcssen. Diese besteht eines Theils darin, dass die Muskelnerven den Muskeln die F\u00e4higkeit ertheilen, durch Reize afl\u2019icirt zu werden, sich f\u00fcr Reize empf\u00e4nglich zu zeigen, oder dass die die Muskeln treffenden zun\u00e4chst auf ihre Nerven wirken, und erst mittelst einer Action dieser die Contraction der Muskt'fasern hervorrufen. Die Frage zerf\u00e4llt offenbar, wie auch in diesdn Worten von Tiedemann unterstellt ist, in zwei ganz verschiedene: 1. sind die Nerven nothwendig, dass sich die F\u00e4higkeit der Muskeln zur Zusammenziehung als Lebenseigenschaft derselben erh\u00e4lt, und verliert sich diese Eigenschaft nach aufgehobenem Nerveneinflusse? 2. sind die Nerven die Leiter, durch welche alle Reize auf die Muskeln zun\u00e4chst wirken, und wirken selbst die auf die Muskeln scheinbar allein angewandten Reize zun\u00e4chst nur durch die in den Muskeln sich verbreitenden Nervenzweige? Das Erstere kann bejaht werden, ohne dass damit nothwendig das Zweite bejaht wird; aber das Zweite kann nicht bejaht werden, ohne dass auch das Erste zugegeben wird.\n1. Sind die Nerven nothwendig, dass sich die Contractilit\u00e4t der Muskeln gegen Reize als Lebenseigenschaft derselben erh\u00e4lt? Nysten hatte beobachtet, dass die Muskeln kurze Zeit nach einem apoplcctischen Anfalle, trotz der Hirnl\u00e4hmung, auf galvanischen Reiz sich zusammenzogen, und Wilson, sich auf Brodie st\u00fctzend, behauptete noch mehr, dass ein Nerve, dessen Communication mit dem Gehirne und R\u00fcckenmarke unterbrochen ist, lange seine Empf\u00e4nglichkeit f\u00fcr Reize zur Erregung der Muskelbewegung behalte. Philos, transact. 1833. p. 1. 62. Ich hatte einige Gr\u00fcnde zu vermuthen, dass diese Dauer der Empf\u00e4nglichkeit, wenn der Nerve sich nicht reproducirt, beschr\u00e4nkt ist. Mehrere von mir mit Dr. Sticker \u00fcber diesen Gegenstand ange-stellte Versuche haben diesen Gegenstand aufgekl\u00e4rt. Mueller\u2019s Archiv. 1834. 202. An zwei Kaninchen und einem Hunde wurde der N. ischiadicus durchschnitten, und die Vereinigung der Nervenst\u00fccke durch Ausschneidung eines grossen St\u00fcckes verhindert. Zwei Monate und drei Wochen nach der Durchschneidung wurde an dem ersten Kaninchen beobachtet, dass der untere Theil des Nerven durch den galvanischen Reiz eines einfachen Plattenpaares erregt, keine Spur von Zuckung in den Muskeln des Unterschenkels und Fusses bewirkte; aber auch die Muskeln hatten ihre Erregbarkeit f\u00fcr den Reiz des einfachen Plattenpaares und den mechanischen Reiz ganz verloren, w\u00e4hrend der Nerve des gesunden Schenkels und die Muskeln, in welchen er sich verbreitet, f\u00fcr Reize lebhaft empf\u00e4nglich waren. Bei dem Hunde hatte. 2^ Monate nach der Durchschneidung des Nerven dieser ln seinem untern St\u00fcck alle Reizempf\u00e4nglichkeit f\u00fcr die einfache galvanische Kette und den mechanischen R.eiz verloren; nur die luskeln, an denen er sich verbreitet, zeigten leise Spuren von usammenziehung bei unmittelbarer Reizung, w\u00e4hrend an dem\n4 *","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"20 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Abschn. Thier. Beweg, im Allg.\nUnterschenkel cler gesunden Seite auf dieselben Reize der Nerven sowohl als der Muskeln allein die heftigsten Zusammenziehungen eintraten. An dem zweiten Kaninchen hatte der Nerve nach 5 Wochen alle Empf\u00e4nglichkeit sowohl f\u00fcr den galvanischen als mechanischen und chemischen Reiz von Kali causticum verloren; eben so wenig war eine Spur von Contractilit\u00e4t an den Muskeln selbst durch diese Pieize hervorzurufen, w\u00e4hrend auf der andern Seite die Muskeln auf dieselben Reize sich kr\u00e4ftig zusammenzogen. Die gegenw\u00e4rtigen Versuche erweisen jedenfalls, dass die Kr\u00e4fte der Nerven, die Muskeln zu Bewegungen zu veranlassen, nach g\u00e4nzlich aufgehobener Communication mit den centralen Theilen des Nervensystems nicht allein verloren gehen, dass auch die Reizbarkeit der Muskeln selbst sich nach so langer L\u00e4hmung der Nerven verliert. Sie w\u00fcrden indess ein noch entscheidenderes Resultat geliefert haben, wenn man zur Pr\u00fcfung der Reizbarkeit der Nerven und Muskeln nicht bloss ein einfaches Plattenpaar, sondern eine kleine galvanische S\u00e4ule angewendet h\u00e4tte. Nur dadurch h\u00e4tte sich mit Bestimmtheit unterscheiden lassen, ob alle Kraft in den Muskeln in zweien der F\u00e4lle erloschen war. Indessen beweisen die Versuche deutlich genug, dass die Reizbarkeit der Muskeln mit dem Verluste der Reizbarkeit der Nerven auf die Dauer sich nicht erh\u00e4lt.\n2. Sind die Nerven allein die Leiter, durch welche alle Reize auf die Muskeln zun\u00e4chst wirken? Die Gr\u00fcnde, welche diess beweisen, sind folgende.\na.\tDie Reize, -welche auf die Muskeln seihst angewandt ihre Bewegung veranlassen, sind dieselben, wie diejenigen, welche auf die Nerven angewandt die Muskeln zur Contraction erregen. Ich beobachtete zwar \u00f6fter einen Unterschied, indem die mineralischen S\u00e4uren und der Weingeist auf die Nerven applicirt keine Zuckungen hervorbrachten, w\u00e4hrend sie an den Muskeln selbst angewandt diess thaten. Indess scheint diess keine constante Verschiedenheit zu seyn; denn A. v. Humboldt hat durch Alcohol, oxygenirte Salzs\u00e4ure, Arsenikoxyd, und selbst Metallsalze hei ihrer Anwendung auf die Nerven eine zitternde Bewegung in den Muskeln hervorgebracht, und Bischoff und C. Windischmann haben, wie ich aus brieflicher Mittheilung w'eiss, einzelne F\u00e4lle gesehen, wo die Minerals\u00e4uren, auch auf die Nerven der Fr\u00f6sche applicirt, Zuckungen hervorbrachten.\nb.\tDie Stoffe, welche den Muskeln ihre Reizbarkeit nehmen, tilgen sie auch in den Nerven. Obgleich die Narcotica, wenn sie in den Kreislauf kommen und durch Alteration des Gehirns und R\u00fcckenmarkes t\u00f6dten, die Reizbarkeit der Nerven und Muskeln nicht unmittelbar auf heben, die Muskeln und Nerven bei auf diese Art get\u00f6dteten Fr\u00f6schen noch lange erregbar bleiben: so hat doch die \u00f6rtliche Application der Narcotica auf die Nerven und Muskeln die Vernichtung der Reizbarkeit in so viel Theilen eines Nerven oder Muskels zur Folge, als mit dem Gifte in Ber\u00fchrung kommen. Nerven in Opiuml\u00f6sung eine Zeitlang getaucht, verlieren dieReizbarke.it an der benetzen Stelle, w\u00e4hrend die zwischen dieser und dem Muskel liegenden Stellen noch reiz-","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"4. Ursachen der thlerischen Bewegung. Nerven.\n53\nbar sind. Vergl. Bd. 1. p. 613. Der Muskel in Opiuml\u00f6sung getaucht wird auch, so weit diess geschieht, todt; diese gleichartige Wirkung der Narcotica auf die Nerven und Muskeln macht es wahrscheinlich, dass die Narcotica, indem sie bei der Benez-zung des Muskels die Beizbarkeit der in ihnen verbreiteten Nervenzweige vernichten, dadurch auch die F\u00e4higkeit des Muskels auf heben, f\u00fcr Beize empf\u00e4nglich zu seyn.\nc.\tAlexander v. Humboldt pr\u00e4parirte und schnitt die Nerven muscul\u00f6ser Theile bis in die feinsten Zweige heraus (an den oberen Theilen von Froschschenkeln oder an den Flossen der Fische), und diese hatten aufgeh\u00f6rt, vom Metallreize afficirt zu werden.\nd.\tSehr heftige electrische Schl\u00e4ge, die entweder die Muskeln oder die Nerven allein treffen, sollen sehr schnell die Con-tractionsf\u00e4higkeit der Muskeln f\u00fcr \u00e4ussere Beize aufheben. Tiedemann Physiol. I. 551.\ne.\tAuch das von mir beobachtete verschiedene Verhalten der sensoriellen und motorischen Nerven hei galvanischen und mechanischen Beizen gegen Muskeln, die Zweige von beiden erhalten, kann hier angef\u00fchrt werden. Durch den N. linguaiis konnte ich keine Zuckungen in den Zungenmuskeln, durch den Infraorbitalis keine Zuckungen in den Schnauzenmuskeln bewirken. Man sieht daher, dass nicht der blosse Nerveneinfluss im Allgemeinen Beiz f\u00fcr die Contraction der Muskeln gleich andern B.eizen ist, und dass ein specifisches Verh\u00e4ltnis einer be-sondern Classe von Nerven, der motorischen, zur Erregung der Muskeln noth wendig ist.\nf.\tEndlich beweist das Erl\u00f6schen der Beizbarkeit der Muskeln nach langer L\u00e4hmung der durchschnittenen Nerven, deren gl\u00fcckliche Beproduction verhindert worden, auch und vielleicht am meisten und entschiedensten von allen Gr\u00fcnden, dass zur Erregung der Muskeln die Integrit\u00e4t der in ihnen sich verbreitenden Nerven noting ist, die Muskeln aber nicht durch sich f\u00fcr Beize empf\u00e4nglich sind. So gewiss diess nun scheint, so kann doch die F\u00e4higkeit der Zusammenziehung nur eine Eigenschaft der Muskeln seyn, und Tiedemann bemerkt mit Beeilt, dass ihnen die lebenden Nerven nicht eine Kraft mittheilen k\u00f6nnen, die sie selbst nicht haben. Aber die den Muskeln inh\u00e4rente F\u00e4higkeit der Zusammenziehung setzt zu ihrer Aeusserung die Mitwirkung der Nerven voraus, und wohl ist die von den Nerven ausgehende Entladung eines imponderabeln Agens eben so noting, die Primitivfasern der Muskeln zur Anziehung ihrer kleinsten oder gr\u00f6sseren Theile gegen einander zu bringen, als die Anziehung derselben noting ist, um die Verk\u00fcrzung hervor zu bringen.\neiche Arten der Anziehung in den von dem Nervenagens im-pr\u00e4gmrten Muskeln statt finden, ist im vorigen Capitel schon aus\natsachen aufgekl\u00e4rt worden. Wie stark diese Anziehung a ei zwischen den Winkeln der gebog enen Muskelfasern ist, l\u00e4sst Mu kT u-eS.ten auS ^er F\u00e4lligkeit ableiten, welche die lebenden La t ^ besitzen> >m Zustande der Zusammenziehung der gr\u00f6ssten as j der gr\u00f6ssten Ausdehnung zu widerstehen, w\u00e4hrend sie nach","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"54 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Abschn. Thier. Beweg, im Allg.\nVerlust des Anziehungsverm\u00f6gens ihrer Theilchen nach dem Tode so sehr leicht zerreisbar sind. Vergl. Tiedemann a. a. O. p. 553.\nTJeber die Art der Wechselwirkung der Nerven und Muskeln bei der Contraction derselben ist man noch ganz im Dunkeln. Pr\u00e9vost und Dumas (Magendie de physiol. T. 3.) wollen beobachtet haben, dass die feinen Nervenzweige in querer Richtung \u00fcber die B\u00fcndel der Muskelfasern verlaufen, und zwar gerade an denjenigen Stellen, wobei der Zusammenziehung derselben die Winkel der zickzack f\u00f6rmigen Biegungen entstehen, so dass diejenigen Theile des Muskels, \u00fcber welche die Nerven hergehen, die Punkte seyen, gegen welche die Anziehung der \u00fcbrigen statt finde, oder aueb, welche sich unter einander anz\u00f6gen. Sie glauben auch beobachtet zu haben, dass die Nerven auf diese Art Schlingen bilden, und dass die Nervenfasern dieser Schlingen einerseits zu der Schlinge hingehen und andererseits wieder aus der Schlinge in den Stamm zur\u00fccklaufen. Schwann hat das Verhalten der Nerven in den Muskeln an einem der seitlichen Bauchmuskeln des Frosches untersucht. Es ist hier m\u00f6glich, eine so d\u00fcnne Muskelschicht unter das Mikroskop zu bringen, dass man bei 450facber Vcrgr\u00f6sserung noch hinl\u00e4nglich Licht hat, um Alles sehr deutlich zu unterscheiden. Es war aber nur eine lOOfache Vergr\u00f6s-serung notbwendig. Schw'ann beobachtete nun Folgendes: der in den Muskel eindringende Nervenstamm entsendet zahlreiche Nervenb\u00fcndel, die sieb sehr bald wieder in feinere B\u00fcndel tbei-len, und so fort, bis zuletzt aus den d\u00fcnnen B\u00fcndeln einzelne Pri-mitivfasern abgehn. Sowohl die feineren B\u00fcndel als auch die einzelnen Primitivfasern gehen oft unter rechten Winkeln von ihrem Stamme ab. ln ihrem Verlaufe kommen sehr h\u00e4ufig die B\u00fcndel und auch die meisten einzelnen Primitivfasern mit anderen B\u00fcndeln zusammen und zwar sowohl mit solchen, die in derselben Richtung, als auch mit solchen, die in entgegengesetzter Richtung verlaufen. Wegen dieses Umstandes war es unm\u00f6glich zu entscheiden, oh wirklich einige Fasern, eine Schlinge bildend, wieder zum Stamm zur\u00fcckkehren. Das Aneinanderlegen der Fasern und B\u00fcndel ist so h\u00e4ufig, dass dadurch der Muskel wie mit einem sehr unregelm\u00e4ssigen Netze von Nervon durchflochten erscheint. Die dieses Netz bildenden Nervenf\u00e4den liegen aber zu den Muskelb\u00fcndeln in gar keiner bestimmten Lage. Dagegen beobachtete Schwann einigemal folgendes Verhalten. Ein Nervenb\u00fcndel von wenigen, z. B. 4 Primitivfasern, lief quer \u00fcber die Muskelb\u00fcndel. Davon lief zuerst eine primitive Nervenfaser unter einem rechten Winkel ab, zwischen 2 d\u00fcnnste Muskelb\u00fcndel, dann lief eine zweite Faser, ebenfalls unter einem rechten Winkel, zwischen das vorige zweite und ein daneben liegendes drittes Muskelb\u00fcndel, eine dritte Faser lenkte zwischen dem dritten und einem daneben liegenden vierten Muskelb\u00fcndel ab und nur die eine \u00fcbrig bleibende vierte Nervenfaser verband sich mit anderen Nervenb\u00fcndeln. Jene einzelnen Fasern nun liefen parallel mit den Muskelb\u00fcndeln eine Strecke weit und verschwanden dann, ohne dass sich entscheiden liess, was aus ihnen wurde. Es w\u00e4re m\u00f6glich, dass sie sich in viel feinere F\u00e4den theilten, die sich","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"4. Ursachen der thierischen Bewegung. Electriciiiit.\n55\nunter einander netzf\u00f6rmig verbinden. Wenigstens hat Schwann dieses Verhalten in einem nicht muscul\u00f6sen, vom Sympathicus versehenen Theile, im Mesenterium des Frosches und der Feuerkr\u00f6te beobachtet. Die hier das Netz bildenden Fasern sind ausserordentlich viel feiner, als die gew\u00f6hnlichen Primitivfasern oder die st\u00e4rkeren Nervenfasern im Mesenterium, von welchen die feinen Fasern abgehen. Dass die von Schwann im Mesenterium beobachteten feinen Fasern wirklich Nervenfasern sind, wird durch den Habitus der st\u00e4rkeren Fasern gewiss, von denen sie abgehen; aber diese st\u00e4rkeren Fasern im Mesenterium waren, selbst wenn sie die Dicke der gew\u00f6hnlichen Primitivfasern der Nerven hatten, doch wieder in ihrem Inneren undeutlich gefasert, gerade so als wenn die sehr feinen Fasern, welche sie abgeben, schon in ihnen vorgebildet w\u00e4ren. Hier entstellt nun die Frage, oh diese so feine elementare Structur der Nervenfasern erst in den peripherischen Enden derselben eintritt, da dergleichen feine Elemente in den gew\u00f6hnlichen Primitivfasern der Nerven, wie man sie in jedem Nerven unter dem Mikroskope sieht, durchaus nicht enthalten sind.\nDie Theorie der Muskelbewegung von Pr\u00e9vost und Dumas gr\u00fcndet sich nun auf die Beobachtung, dass die Nervenfasern quer \u00fcber die Muskelb\u00fcndelchen verlaufen, da w'o die Winkel der zickzackf\u00f6rmigen Biegungen sind, und auf die Voraussetzung, dass die queren Schlingen der Nervenfasern sich gegenseitig anziehen und dadurch die Muskelfasern verk\u00fcrzen. Schon bei dem Versuch, die Beobachtung von Pr\u00e9vost und Dumas an lebenden Muskelb\u00fcndelchen zu wiederholen, sieht man, dass bei dem Uebereinstimmen querer Nervenfasern mit den Biegungswinkeln der Muskelfasern nicht die Primitivfasern der Nerven, sondern nur ganze B\u00fcndel von Nervenfasern gemeint seyn k\u00f6nnen. Denn an einem so dicken Muskelb\u00fcndel, woran man durch Reizung noch eine Contraction hervorbringen kann, ist cs nicht m\u00f6glich, Primitivfasern der Nerven zu sehen ; diese in den Muskeln zu verfolgen, ist nur m\u00f6glich, wenn man die d\u00fcnnsten Durchschnitte von Muskelsubstanz macht, und diese mit dem zusammengesetzten Mikroskop untersucht. Auch beweisen die Abbildungen von Pr\u00e9vost und Dumas deutlich, dass sie nur mit der Loupe untersucht haben. Ihre Theorie geht also nicht von der Wechselwirkung der Elemente der Muskeln und Nervensubstanz aus. Pr\u00e9vost und Dumas setzen nun eine electrische Str\u00f6mung in den Nerven voraus, gestehen indess gleichwohl, dass sie mit dem Galvanometer nie eine electrische Str\u00f6mung an den Nerven haben nachweisen k\u00f6nnen. Um electrische Str\u00f6mungen in den Nerven durch das Galvanometer nachzuweisen, ist es nicht zu-l\u00e4ssig, dass man die Dr\u00e4the des Galvanometers auf Nerven und Muskeln zugleich an wende ; denn da eine Rette von heterogenen thierischen Substanzen, wie Nerve und Muskel und von Metall schon Electricit\u00e4t erzeugt, so w\u00fcrde man hei jenem Versuche wit dem Galvanometer nicht allein die etwa in den Nerven wirkende, sondern auch die durch die Rette erst erzeugte Electri-eit\u00e4t pr\u00fcfen. Man muss daher bei solchen Versuchen die Dia-","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"56 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Abschn. Thier. Beweg, im Al/g.\nthe des Galvanometers auf die Nerven allein anwenden und beobachten, ob ein Nerve, der mit dem Gehirne in Verbindung stellt, bei den willk\u00fchrlichen Bewegungen Schwankungen der Magnetnadel bewirkt. Pbevost und Dumas haben allerdings so verfahren, indem sie bei gesunden Tbieren den Nervus vagus und den Plexus iscliiadicus bei einem Thiere im tetaniseben Zustande untersuchten; sie fanden keine mit dem Galvanometer nachweisbare Spur von Electricit\u00e4t. Diesen Mangel an Erfolg kann ich best\u00e4tigen. Um die Unempfindlichkeit des Galvanometers zu erkl\u00e4ren und den Haupteinwurf gegen ihre Hypothese zu beseitigen, nehmen Pr\u00e9vost und Dumas wieder hypothetisch an, dass der galvanische Strom in den Nerven doppelt sey, dass sich beide Str\u00f6me neutralisiren, so dass die Wirkung auf die Magnetnadel aufgehoben werde. Sie vergleichen die Magnetnadel des Galvanometers mit den von den Nervenschlingen umgebenen Muskelb\u00fcndeln; beide erfahren die Wirkungen entgegengesetzter Str\u00f6me, und gerathen dadurch in Schwankungen. Man sieht, dass, so ingeni\u00f6s diese Idee ist, sie doch durchaus keine erfah-rungsm\u00e4ssige Basis hat. Wenn nun diese Erkl\u00e4rung schon sehr gewagt ist, so ist der Versuch von Pr\u00e9vost und Dumas, die Wirkung des Feuers und der chemischen Einfl\u00fcsse auf die Nerven der Muskeln auf eine electrische zu reduciren, noch gewagter. Was sie daf\u00fcr angef\u00fchrt haben, ist schon fr\u00fcher in der Nervenphysik Bd. I. 621. erw\u00e4hnt und erkl\u00e4rt worden. Endlich ist zu erw\u00e4gen, dass nach der Hypothese von Pr\u00e9vost und Dumas die Anziehung der Nervenschlingen in den Muskeln gegen einander die Ursache der Verk\u00fcrzung ist, und dass in dieser Hypothese die Masse des Muskels als Nebensache betrachtet wird. Freilich liesse sich die Hypothese so reformiren, dass dieser Vorwurf wegfiele, indem man annimmt, dass die Muskeln mit einer der Electricit\u00e4ten best\u00e4ndig geladen sind, und dass ihnen die andere durch die Nerven zugef\u00fchrt wird, wodurch die Anziehung der Muskelfasern gegen die Nervenschlingen und umgekehrt bewirkt werde. Indessen w\u00fcrde hier das von Pr\u00e9vost und Dumas benutzte Element der Erkl\u00e4rung, das von der Vergleichung der Muskelfasern mit magnetischen K\u00f6rpern hergenommen ist, aufgehoben werden, und es l\u00e4sst sich hierbei nicht einsehen, warum diese Anziehung der verschieden geladenen Muskel- und Nervenfasern stattflnden soll, und warum sich die Str\u00f6me nicht wie in anderen thierischen Theilen neutralisiren, ohne eine Anziehung der Theilclien gegen einander zu bewirken.\nDasselbe gilt auch von der neulich von Meissner {System d. Heilkunde aus allgemeinen Naturgesetzen. Wien 1832) vorgetragenen Ansicht. Nach Meissner n\u00e4mlich str\u00f6me das in den Nerven nach ihm hypothetisch vorhandene electrische Fluidum in die Muskeln, bilde um alle einzelnen, der L\u00e4nge nach fadenartig aneinander haftenden Atome des Muskels electrische Atmosph\u00e4ren, treibe dadurch die Muskelfasern, welche an beiden Enden fest verbunden sind, in der Mitte aus einander, und bewirke eben darum die Verk\u00fcrzung; wie wenn man Hollundermarkk\u00fcgelchen auf einen Bindfaden reiht, mehrere solcher F\u00e4den an beiden En-","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"4. Ursachen der thierischen Bewegung. Electricit'dt. 57\nden verbindet, und das B\u00fcndel an den electrischen Conductor h\u00e4ngend electrisirt, worauf das Ganze sich verk\u00fcrzt, indem die F\u00e4den auseinander fahren. Eine solche Erkl\u00e4rung w\u00fcrde zwar nicht auf die zickzackf\u00f6rmige Biegung der Muskelfasern, aber mehr auf die an den Muskelfasern der Insecten von mir beobachteten Querabtheilungen der primitiven B\u00fcndelchen passen, wo die B\u00fcn-delchen an den Quertheilungen sich bauchig ein wenig erweitern. (S. oben p. 41.) Diese Ansicht w\u00fcrde von der vorhergehenden nicht wesentlich verschieden seyn. Nach der erstem w\u00e4ren die Muskeln in der Ruhe best\u00e4ndig schon in einem electrischen Zustande + oder \u2014, die Bewegung k\u00e4me zu Stande, indem ein entgegengesetzt electrischer Strom von den Nerven ausgeht und beide sich im Muskel neutralisiren; nach der zweiten, wo ein electrischer Zustand in den Nerven vorausgesetzt wird, w\u00fcrde sich von seihst der entgegengesetzte electrische Zustand nach dem Gesetze der electrischen Vertheilung in den Muskeln entwickeln m\u00fcssen. Beide Ansichten haben eine un\u00fcberwindliche Schwierigkeit in der schon vorher gemachten Bemerkung, dass sich nicht einsehen l\u00e4sst, warum hei der Vereinigung beider Str\u00f6me, des der Nerven und der Muskeln, sich die peripherischen Enden der Nerven und die Muskelfasern gegenseitig anziehen soHen, oder warum nach Meissner die Primitivfasern der Muskeln sich von einander entfernen sollen. Wenn n\u00e4mlich durch Electricit\u00e4t Bewegungen von Theilchen gegen einander entstehen sollen, ist es nicht bloss noting, dass sie electrisch sind. Sind sie entgegengesetzt electrisch, aber nicht isolirt, so werden sich die Str\u00f6me vereinigen, aber die Theilchen unbewegt bleiben. Papierschnitzchen werden von dem geriehenen Electron deswegen angezogen, weil sie im trocknen Zustande nur Halbleiter sind. In der N\u00e4he des geriehenen Bernsteins oder Siegellacks entsteht durch Vertheilung an ihnen die entgegengesetzte Electricit\u00e4t. Beide Electricit\u00e4ten streben sich zu vereinigen, und das Papierschnitzchen wird zum schwerem K\u00f6rper hingezogen, weil es die Electricit\u00e4t zugleich in einem gewissen Grade, so lange die Vereinigung hei der Ber\u00fchrung nicht zu Stande gekommen ist, bindet. Sobald das Papierschnitzchen nass ist, h\u00f6rt es auf, angezogen zu werden, weil es im nassen Zustande vollkommener Leiter ist. In diesem Zustande nimmt es die Electricit\u00e4t des geriebenen Siegellacks auf) ohne angezogen zu werden. Ein vollkommener, sehr leichter Leiter wird auch dann zu einem electrischen K\u00f6rper hingezogen, wenn der erstere isolirt ist. So bewegt sich das isolirle Goldpl\u00e4ttchen zu dem electrischen K\u00f6rper hm, aber die Bewegung h\u00f6rt auf, sobald die Isolation aufgehoben ist. Ebenso ist es mit dem von Meissner gew\u00e4hlten Beispiele. Die am Conductor der Electrisirmaschine aufgehangenen Schn\u00fcre von Korkk\u00fcgelchen entfernen sich von einander, indem sie die \u25a0Hectricit\u00e4t des Conductors aufnehmend, gleichnamig electrisch geworden, sich ahstossen. Auch diese Bewegung kommt nur so ange zu Staude, so lange Korkk\u00fcgelchen im trocknen Zustande nicht vollkommene Leiter sind.\nWenden wir diess auf die Muskeln an, so werden sich die","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"58 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Abschn. Thier. Beweg, im Allg.\nNervenenden und Muskelfasern nur dann anziehen k\u00f6nnen, oder die Muskelfasern nach der zweiten Hypothese nur dann auseinander weichen k\u00f6nnen, wenn sie keine Leiter sind. Das sind sie aber. Sie leiten die Electricit\u00e4t im nassen Zustande vortrefflich, und so gut, als irgend ein nasser thierischer Theil. Man k\u00f6nnte f\u00fcr die Hypothese, dass die Muskeln doch unvollkommene Leiter seyen, eine Beobachtung von A. v. Humboldt anf\u00fchren, dass, wenn der loso unterbundene Nerve eines Froschschenkels \u00fcber der Unterbindung mit einem, der Muskel mit dem andern Pole armirt wird, eine Zuckung nur dann erfolgt, wenn von der Unterbindungsstelle des Nerven bis zu seinem Eintritte in den Muskel noch ein St\u00fcck freiliegenden Nervens ist. Unterbindet man den Nerven gleich bei seinem Eintritte in den Muskel, und armirt den Muskel und Nerven \u00fcber der Unterbindung, so folgt keine Zuckung. Diese letztere erfolgt aber, wenn man den Nerven jetzt eine Strecke aus dem Muskel herauspr\u00e4parirt, auch h\u00f6rt die Zuckung auf, wenn zwischen Unterbindung und Muskel zwar ein St\u00fcck Nerve frei liegt., dieses St\u00fcck aber von einem St\u00fcckchen Muskelfleisch umgeben wird. Man k\u00f6nnte auf den ersten Blick daraus scbliessen, dass der Muskel ein unvollkommener Leiter ist. Aber bei genauerer Betrachtung sieht man, dass der Erfolg des Versuchs eben von der vortrefflichen Leitung des Muskels abh\u00e4ngt. Denn zur Umh\u00fcllung des Nerven kann, wie A. v. Humboldt fand, auch eben so gut und mit demselben Erfolge nasser Schwamm oder Metall angewandt werden. Wie gut das nasse Muskelfleisch leite, davon kann man sich bei jedem Versuche an Froschschenkeln mit der einfachen galvanischen Kette \u00fcberzeugen, sobald man als Conductor des schwachen electrischen Stromes ein abgeschnittenes St\u00fcck frisches oder altes Muskelfleisch nimmt.\nErw\u00e4gt man \u00fcberdiess, dass die ganze Hypothese von der Aehnlichkelt des elektrischen und Nervenfluidums keine empirische Basis hat, und dass, wie oben Bd. 1. p. 616 bewiesen worden, beide Fluida durchaus nach den K\u00f6rpern, welche sie leiten und welche sie isoliren, verschieden sind, so bleibt kein Grund mehr f\u00fcr die Annahme der Theorie von Pbevost und Dumas oder irgend einer anderen modificirten Theorie der Muskelbewegung, die auf die Electricitat begr\u00fcndet w\u00e4re, \u00fcbrig.\nDa die Muskelfasern zwischen den Nervenschlingen der .Muskeln verk\u00fcrzt zu werden scheinen, so ist es wahrscheinlich, dass diese Stellen des Muskels, welche dem Einfl\u00fcsse des Nervenprin-cips vorzugsweise ausgesetzt werden, sich anziehen und dadurch die zickzackf\u00f6rmige Biegung der Fasern hervorbringen. Die regelm\u00e4ssigen Anschwellungen der primitiven B\u00fcndel der Muskeln, die ich oft an den Muskeln der Insecten unter dem Mikroskope gefunden, zeigen auch, dass noch zwischen viel kleineren Theil-chen der Muskelfasern Anziehungen der L\u00e4nge nach gegen einander stattfinden. Auch diese Anziehung wird davon abh\u00e4ngen, dass die Muskelfasern durch das Nervenprincip in diesen anziehungsf\u00e4higen Zustand ihrer aliquoteu Theile versetzt werden. So weit und nicht weiter l\u00e4sst sich indess bei dem jetzigen Zu-","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"4. Ursachen der thierischen Bewegung. Versuche.\n59\nst\u00e4nde der Wissenschaft gehen. Die F\u00e4higkeit des contraction Gewebes der Oscillatorien, der Mimosen u. s. w. des leimgeben-den contractilen Gewebes der Tliiere, sich zu krummen, sich zusammenzuziehen, sich zu verk\u00fcrzen, scheint diesen wie den Muskeln durch ihren Lehenszustand eigen. Aber die Muskelfasern unterscheiden sich von jenen, dass dieser Lehenszustand jedesmal erst durch eine Wirkung oder Entladung des Nervenprincips in Act tritt.\nSchwann ist mit Versuchen besch\u00e4ftigt, um auszumitteln, nach welchem Gesetz die Kraft eines Muskels mit der Contraction desselben ah- oder zunimmt. Er bedient sich dazu des Musculus gastrocnemius heim Frosch, und zwar mit H\u00fclfe folgender Vorrichtung. Ein Frosch wird auf einem Brettchen mit seinem Oberschenkel horizontal befestigt, der Unterschenkel senkrecht in die H\u00f6he gerichtet und der Fuss wieder horizontal gebogen. Beide werden in dieser Lage unbeweglich festgebunden. Dann wird der N. ischiadicus hoch am Oberschenkel abgeschnitten und, mit m\u00f6glichster Schonung der grossen Gef\u00e4sse, bis zum Unterschenkel herauspr\u00e4parirt, so dass er seitw\u00e4rts heraush\u00e4ngt und hier \u00fcber zwei Anfangs horizontal laufende, dann aber senkrecht sich hinunter biegende und das Brettchen durchbohrende Dr\u00e4the gelegt werden kann. Von diesen unter sich nicht zusammenh\u00e4ngenden Dr\u00e4then geht der eine zu dem einen Pol eines galvanischen Plattenpaares, der andere kann, durch leichtes Andr\u00fccken eines von dem andern Pol kommenden Drathes, mit diesem in Verbindung gesetzt werden. Die Haut am Unterschenkel des Frosches bleibt unverletzt, bis auf einen kleinen Einschnitt in der Ferse, durch den die Sehne des M. gastrocnemius, nachdem sie am Fusse abgeschnitten worden, geleitet wird. An diese Sehne wird ein Faden gebunden, der senkrecht in die H\u00f6he geht zu dem einen Arm einer dar\u00fcber h\u00e4ngenden Wage, wo er festgebunden wird. An dem andern Arm der Wage h\u00e4ngt eine Wageschale. Der erste Arm, mit dem der Muskel in Verbindung steht, wird durch Anbinden eines geraden Drathes um das Sechsfache verl\u00e4ngert, damit eine kleine Contraction des Muskels eine grosse Bewegung dieses Wagebalkens hervorbringt. Die Wageschale wird nun so viel beschwert, dass s\u00bbe ein kleines Ueber-gewicht \u00fcber den andern Wagehalken hat. Das Ende dieses verl\u00e4ngerten Wagebalkens wird durch ein horizontales St\u00e4bchen, gegen das es nach oben dr\u00fcckt, so niedergehalten, dass sich der Wagebalken nach unten, aber nicht nach oben bewegen kann. Dieses St\u00e4bchen kann, vermittelst einer eigenen Vorrichtung, sehr genau h\u00f6her oder niedriger geschraubt werden und die Gr\u00f6sse dieser Ver\u00e4nderung kann an einer Skale abgelesen werden. Ist mm der Apparat so vorgerichtet, dass der lange Wagehalken et-Yas hoher steht als in der horizontalen Richtung, ist ferner der en Muskel mit demselben verbindende Faden so gew\u00e4hlt worden, dass er in dieser Stellung ein wenig gespannt wird, so l\u00e4sst inan den Reiz eines Plattenpaares von IQ\" Oberfl\u00e4che auf den s? *la(heus wirken. Durch die Zusammenziehung des Muskels 'vv'rd der Wagehalken nach unten gezogen. Man schraubt nun","page":59},{"file":"p0060.txt","language":"de","ocr_de":"60 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Abschn. Thier. Beweg, im Allg.\ndas horizontale St\u00e4bchen so tief, dass der Muskel hei seiner Contraction den Wagebalken nur um ein Minimum von dem St\u00e4bchen weiter nach unten zu ziehen vermag. Das geringe Ueber-gewicht der Wageschale = 0 betrachtet, ist diess der st\u00e4rkste Grad der Zusammenzielmng. Schwann beobachtete nun, dass, wenn er jetzt Gewichte auf die Wageschale legte, der Wagebalken nicht mehr bewegt wurde. Auf diesem Puncte der Contraction war also die Kraft des Muskels = 0. Wurde aber das horizontale St\u00e4bchen etwas in die H\u00f6he geschraubt, so liess sich wieder ein Punct finden, wo der Wagebalken eben bewegt wurde. Bei diesem geringen Grade der Contraction war also die Kraft des Muskels gleich dem aufgelegten Gewichte. Das Quantum der Verk\u00fcrzung aber war der sechste Theil von dem, um was das St\u00e4bchen h\u00f6her geschraubt worden war. Wurde nun das Doppelte des vorigen Gewichts aufgelegt, so musste das St\u00e4bchen noch h\u00f6her geschraubt werden, wenn der Muskel den Wagebalken bewegen sollte. Auf diesem Puncte war dann die Kraft des Muskels doppelt so gross als im vorigen Fall und der Grad der Verk\u00fcrzung konnte wieder an der Skale des Messinstrumentes gefunden werden. So liess sich also die durch den Muskel bei einem bestimmten Reize sich \u00e4ussernde Kraft mit dem Grade der Verk\u00fcrzung desselben vergleichen. Schwann beobachtete noch die Vorsicht, dass er die Reize in gleichen Zwischenzeiten einwirken liess und dass er nach jedem Cyclus von Versuchen nachher wieder pr\u00fcfte, ob sich der Muskel ohne Gewichte wieder auf denselben Punct wie vorher zusammenzog, oder dass er den Versuch in umgekehrter Ordnung wiederholte, z. B. erst den Stand des Messinstruments bei 0, dann bei 50, dann bei 100, dann wieder bei 50 und zuletzt bei 0 Gran Gewicht beobachtete und zwischen den bei demselben Gewicht sich ergebenden Zahlen das Mittel nahm. So fand er bei einem Frosche, wo die Versuche (im Winter) innerhalb 12 Stunden mit Unterbrechung zwischen den einzelnen Versuchen angestellt wurden, Folgendes:\nI.\tVersuch. Bei 0 Gran Gewicht stand dass Messinstrument auf 14,1, bei 60 Gr. auf 17,1, bei 120 Gr. auf 19,7, bei ISO Gr. auf 22,6. Nahm also die Kraft des Muskels von seiner st\u00e4rksten Contraction bis zu einer geringen Zusammenziehung jedesmal um 60 Gran zu, so betrug der L\u00e4ngenunterschied des Muskels, nach den einzelnen diesen Kr\u00e4ften entsprechenden Puncten zwischen 0 und 60 Gr. 3,0, zwischen 60 und 120 Gr. 2,6, zwischen 120 und 180 Gr. 2,1. Nach dem Versuch verk\u00fcrzte sich der Muskel wieder, wenn kein Gewicht auf der Wageschale lag, bis auf 13,7.\nII.\tVersuch. Wenn kein Gewicht aufgelegt wurde, contra-hirte sich der Muskel so, dass das Messinstrument auf 13,5 stand, bei 100 Gran auf 18,8, bei 200 Gran auf 23,4. W\u00e4hrend also die Kraft von 0 auf 100 zunahm, verl\u00e4ngerte sich der Muskel um 5,3, w\u00e4hrend sie von 100 auf 200 wuchs, um 4,6. Nach dem Versuch verk\u00fcrzte sich der Muskel ohne Gewichte bis auf 14,4.\nIII.\tVersuch. Das Messinstrument zeigte bei 0 Gr. Gewicht\n13.7,\tbei 50 Gr. 18,7, bei 100 Gr. 20,3, dann wieder bei 50 Gr.\n17.7,\tendlich wieder bei 0 Gr. 14,1. Nimmt man hier aus den","page":60},{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"4. Ursachen der thierischen Bewegung. Versuche.\n61\nden einzelnen L\u00e4ngen entsprechenden Zahlen das Mittel, so ersieht sich, dass der L\u00e4ngenunterschied des Muskels da, wo er 0 und wo er 50 Gr. Gewicht betrug 4,3, zwischen 50 und 100 Gr. aber 2,1 war.\nTV. Versuch. Eei 0 Gr. Gewicht stand das Messinstrument auf 13,5, hei 100 Gr. auf 19,1, hei 200 Gr. auf 23,2. Der L\u00e4ngenunterschied des Muskels zwischen den Puncten, wo er 0 und 100 Gran trug, verhielt sich also zu dem, wo er 100 und 200 Gr. trug, wie 5,7 : 3,1.\nV. Versuch. Das Messinstrument stand bei 100 Gr. Gewicht auf 10,8, hei 10 Gr. auf 12,7, dann hei 100 Gr. auf 16,1, bei 200 Gr. auf 18,7, wieder hei 100 Gr. auf 16,1, endlich wieder bei 0 Gr. auf 11,7. Die mittleren Differenzen in der L\u00e4nge zwischen den Puncten, wo der Muskel 0 und 100 Gr. und denen, wo er 100 und 200 Gr. betrug, verhielten sich also =4,1: 2,4.\nIn den beiden ersten Versuchen nahm also, w\u00e4hrend die Kraft des Muskels sich um ein Gleiches vermehrte, die L\u00e4nge desselben n\u00e4herungsweise um ein Gleiches zu. In den drei zuletzt angestellten Versuchen verl\u00e4ngerte sich der Muskel, wie seine Kraft um ein Gleiches zunahm, nicht in demselben Verh\u00e4ltnis, sondern in einem st\u00e4rkeren, wenn weniger Gewicht auf der Wageschale lag. Die \u00fcbrigen von Schwann angestellten Versuche gaben ein ganz \u00e4hnliches Resultat, ln den Versuchen n\u00e4mlich, die m\u00f6glichst bald nach der Operation des Frosches angestellt wurden, wo also der normale Zustand am wenigsten gest\u00f6rt war, stellte sich das Gesetz heraus, dass die Kraft des Muskels in demselben Verh\u00e4ltnisse zunahm, in welchem der Muskel weniger sich contrahirte, oder dass sie in geradem Verh\u00e4ltnisse mit der Contraction des Muskels ahnahm. Je sp\u00e4ter nach der Operation die Versuche angestellt wurden, um so mehr wichen die Resultate ah. Man kann daher schliessen, dass das Gesetz im normalen Zustande ziemlich genau gelte. Dieses Gesetz ist dasselbe, welches hei den elastischen K\u00f6rpern gilt. Durch dieses Gesetz wird zun\u00e4chst jede Erkl\u00e4rung der Muskelkraft als eine Anziehung der Theilchen desselben durch eine der uns bekannten anziehenden Kr\u00e4fte widerlegt, welche so wirken, dass die anziehende Kraft w\u00e4chst, je mehr sich die sich anziehenden Theilchen n\u00e4hern und zwrar umgekehrt nach dem Quadrate der Entfernung. Denn, ist die Anziehungskraft der Theilchen des Muskels so gross, dass sie sich schon n\u00e4hern k\u00f6nnen, wenn sie weit von einander entfernt sind, so wird die Anziehungskraft noch vermehrt, wenn sich die Theilchen schon etwas gen\u00e4hert haben, d. h. wenn der Muskel sich schon etwas verk\u00fcrzt hat. Der Muskel m\u00fcsste daher hei seiner normalen L\u00e4nge die geringste Kraft \u00e4ussern, diese m\u00fcsste wachsen mit seiner Verk\u00fcrzung und im st\u00e4rksten Grade der Contraction am gr\u00f6ssten seyn. Die Versuche von Schwann beweisen aber, dass es sich gerade umgekehrt verh\u00e4lt, indem die Kraft des Muskels hei seiner normalen L\u00e4nge am gr\u00f6ssten, hei dem st\u00e4rksten Grade der Contraction = 0 ist. Auch die Erkl\u00e4rung von Pr\u00e9vost und Dumas l\u00e4sst sich nicht mit diesem Gesetz vereinigen. Der electrische Strom, den sie in den","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"62 IV. Buch. Von d. Bewegungen. I. Abschn. Thier. Beweg, im AUg.\nNerven voraussetzen, erregt einen magnetischen Strom in der queren Richtung und von diesem wird die Muskelfaser angezogen. Sie muss aber um so st\u00e4rker angezogen werden, je mehr sie sich der Richtung des Stroms schon gen\u00e4hert hat, weil auch die magnetische Anziehung zunimmt, je mehr sich der angezogene Gegenstand n\u00e4hert. Mithin m\u00fcsste auch hier die Kraft des Muskels mit seiner Verk\u00fcrzung wachsen. Die Erkl\u00e4rung von Meissner stimmt schon genauer mit diesem Gesetz \u00fcberein. Bei derselben bewirkt nicht eine directe Anziehung die Verk\u00fcrzung des Muskels, sondern eine Abstossung der Theilchen in der queren Richtung des Muskels. Je mehr sich also der Muskel verk\u00fcrzt, um so mehr entfernen sich die sich abstossenden Theilchen, und um so geringer wird die Kraft sich weiter abzustossen. Hier nimmt also wirklich mit der Verk\u00fcrzung die Kraft ab. Allein Schwann hat mathematisch berechnet, dass nach dieser Erkl\u00e4rung die Kraft nicht in gleichem Verh\u00e4ltnis mit der Verk\u00fcrzung abnehmen k\u00f6nnte.\nAm Schl\u00fcsse dieser Er\u00f6rterung scheint es noting, darauf aufmerksam zu machen, dass jede pl\u00f6tzliche Ver\u00e4nderung des Zustandes der Muskelnerven, durch was immer f\u00fcr eine Ursache, die Ersch\u00fctterung des Muskels zur Folge hat. Die Schliessung, die OelFnung der galvar.ischen Kette, die pl\u00f6tzliche Zerst\u00f6rung des Nerven, das Brennen, der chemische Einfluss, die mechanische Zerrung, alles diess scheint dem imponderabeln Principe der Nerven einen Impuls zu geben, durch welchen es entweder in Str\u00f6mung oder in Oscillation nach den Muskeln ger\u00e4th, mag nun der \u00e4ussere Einfluss die Lebenskraft des Nerven erh\u00f6hen oder vermindern. Deswegen k\u00f6nnen Zuckungen hei jedem, auch dem schw\u00e4chsten Zustande der Lebenskr\u00e4fte Vorkommen, indem das Nervenprincip auch vor dem Erl\u00f6schen seiner Wirksamkeit zu jener Bewegung oder Schwingung f\u00e4hig ist, und in Bewegung ger\u00e4th, sobald der Zustand des Nerven ver\u00e4ndert wird. Man hat hier Gelegenheit, die in den Prolegomena schon er\u00f6rterte Thatsache zu best\u00e4tigen, dass Reizen von Vermehren der Lebenskr\u00e4fte ganz verschieden ist, dass man einen thierischen K\u00f6rper zu Tode reizen kann, und dass auch jene den materiellen Zustand der Nerven so gewaltsam ver\u00e4ndernden Narcotica (Alterantia nervina), w\u00e4hrend sie das Lebensverm\u00f6gen der Nerven zerst\u00f6ren, doch in gleichem Grade noch Reizungssymptome hervorbringen k\u00f6nnen.","page":62},{"file":"p0063.txt","language":"de","ocr_de":"If. Abschnitt. Von den verschiedenen Muskelbewegungen. 63\nII. Abschnitt. Von den verschiedenen Muskel-b ewegun gen.\n/. Capitcl. Von den un willk\u00fcli rliehen und willk\u00fclirlich en Bewegungen.\nUnter den verschiedenen Classen der Muskelbewegungen f\u00e4llt der Unterschied der unwillk\u00fchrlichen und willk\u00fchrlichen Bewegungen zun\u00e4chst auf. Diese Eintheilung ist jedoch bei n\u00e4herer Betrachtung weniger nat\u00fcrlich als es anfangs scheint. Die verschiedenen anatomischen Formen des Muskelgewebes sind ihr nicht g\u00fcnstig; es giebt \u00fcberdiess viele unwillk\u00fchrliche Bewegungen von Muskeln, die dem Willen unterworfen sind, Bewegungen, die zum Theil so rhythmisch wie die des Herzens erfolgen. Wenn gewisse Muskeln dem Einfl\u00fcsse des Willens ganz entzogen sind, so sind sie doch nicht unabh\u00e4ngig von Seelenzust\u00e4nden, und endlich verliert jene Eintheilung sehr viel von ihrem Interesse, seitdem man eingesehen hat, dass die Nerven auf die unwillk\u00fchrlichen Bewegungen einen eben so grossen Einfluss als auf die willk\u00fchrlichen haben. Dass die Eintheilung der Muskeln in unwillk\u00fchrliche und wiilk\u00fchrliche aus anatomischen, von dem Muskelgewebe selbst hergenommenen Gr\u00fcnden nicht durchf\u00fchrbar ist, hat schon fr\u00fcher p. 34. bewiesen werden k\u00f6nnen. Wenn auch die Muskeln des organischen Leibes durch den Mangel der Querstreifen an den primitiven B\u00fcndeln und ihre cylindrischen Fasern sich auszeichnen und unwillk\u00fchrlieh sind, so geh\u00f6rt doch die Urinblase in Hinsicht der Structur der letztem Classe an, w\u00e4hrend sie doch einiger willk\u00fchrlichen Bewegung f\u00e4hig ist. Die B\u00fcndel der Irisfasern sind auch ohne Querstreifen, und doch kann die Iris mittelbar hei der Stellung des Auges nach innen willk\u00fchrlich bewegt werden. Siehe oben Bd. I. p. 765. Und wenn hinwieder die Muskeln des animalischen Leibes sich durch die Querstreifen ihrer primitiven B\u00fcndel und die Perlschnur form ihrer Primitivfasern auszeichnen, und dem Willen unterworfen sind, so macht doch wieder das Herz eine Ausnahme, welches in Hinsicht der Structur der Muskelfasern mit den animalischen Muskeln, in Hinsicht der unwillk\u00fchrlichen Bewegung mit den organischen zusammengeh\u00f6rt. Siehe oben p. 34. Auch die Farbe der Muskeln stimmt eben so wenig mit jener Eintheilung. Die willk\u00fchrlichen Muskeln sind in der Regel roth ; aber die der Fische sind zum kleinern Theile roth, zum grossem blass. Die un-willk\u00fchrlich beweglichen Muskeln sind meist blass, wie die des Darms, aber die des Muskelmagens der V\u00f6gel und die des Herzens sind stark roth, und die willk\u00fchrlich bewegliche Muskelhaut der Urinblase ist so blass wie die des Darms. Dieser Unterschied der Farbe r\u00fchrt gewiss auch nicht von dem grossem oder geringem Reichthum an Blutgef\u00e4ssen und von dem F\u00e4rbestoffe des Blutes her. he Substanz der Muskelfasern selbst, welche mit dem F\u00e4rbe-","page":63},{"file":"p0064.txt","language":"de","ocr_de":"64 IV. Euch. Bewegung. II. Abschn V. d. verschied. Muskelbewegg.\nstoff des Bluts gemein hat, dass sie sich an der Luft st\u00e4rker roth f\u00e4rbt, scheint die Ursache dieser Eigenth\u00fcrnlichkeit zu sejn. Freilich st\u00fctzt sich die Eintheilung der Muskeln in willk\u00fchrliche und unwillk\u00fchrliche mehr auf die vom Nervensystem, als auf die von den Muskeln seihst hergenommenen Gr\u00fcnde, aber auch hier finden sich hei der Iris und der Urinblase Schwierigkeiten. Bedenkt man endlich, dass manche an sich dem Willen unterworfene Muskeln doch best\u00e4ndig auch gegen den Willen zusammengezogen werden, wie der Sphincter ani, dass einige zum System der animalischen Muskeln geh\u00f6rende hei den wenigsten Menschen will-k\u00fchrlicb bewegt werden k\u00f6nnen, wie der Cremaster u. a., dass alle willk\u00fchrlich beweglichen Muskeln aber oft den unwillk\u00fchr-lichen Bewegungen, sey es durch Reflexion oder Association, blosse Vorstellungen, wie heim Lachen, G\u00e4hnen, Seufzen, noch mehr aber durch Leidenschaften, unterworfen sind, so sind Gr\u00fcnde genug vorhanden, hier eine Eintheilung zu w\u00e4hlen, bei welcher die inneren Ursachen der verschiedenen Bewegungen mehr \u00fcbersichtlich werden. Da die Aufstellung der Ordnung \"der unwillk\u00fchrlichen Bewegungen von einem negativen Character hergenommen ist, so haben Einige die thierischen Bewegungen in automatische und willk\u00fchrliche besser eingetheilt. Indessen giebt es so viele in Hinsicht der Ursachen sehr verschiedene Arten der unwillk\u00fchrlichen Bewegung, dass uns diese Eintheilung auch nicht ganz n\u00fctzlich scheint. Denn welche Unterschiede sind zwischen den automatischen, rhythmischen Bewegungen des Herzens und der Athemmuskeln, und den Reflexionsbewegungen? Die verschiedenen Ursachen der Muskelbewegungen scheinen durch folgende Classen am meisten zur Uebersicht gebracht zu werden.\nI. Durch heterogene, \u00e4ussere oder innere Reize bedingte Bewegungen. Unter heterogenen Reizen verstehen wir hier alle Ursachen zu Bewegungen ausser dein blossen Impuls des Nervenprincips selbst, ln der Regel wirken solche Reize im gesunden Zustande nicht ein; es giebt jedoch einige F\u00e4lle, wo sie auch normal sind, wie der Reiz der Galle, der Excremente auf die Bewegungen des Darmes, des Urins auf die Urinblase etc. Zur Bewegung ist eine Ver\u00e4nderung des Zustandes der Muskelnerven noting. Es ist gleichg\u00fcltig, oh diese dem Nerven aus seinen anatomischen Verbindungen mit den Centralorganen, oder aus seinen Gelassen, oder ganz von aussen zufliesst. Dieser Bewegungen sind alle, die animalischen und organischen Muskeln gleich f\u00e4hig; sie erfolgen unwillk\u00fchrlich, m\u00f6gen die Muskeln sonst dem Einfl\u00fcsse des Willens entzogen seyn oder nicht. Der Ort, wo die Reizung geschieht, kann dreifach seyn.\na. Der Muskel selbst. In diesem Falle werden die im Muskel selbst sich verbreitenden Nerven zun\u00e4chst aflicirt, in dessen Folge erst die Convulsion eintritt. Siehe oben p. 52. Das Herz zieht sich bei \u00e4usserer Reizung, ebenso der Darmkanal, die Urinblase, alle unwillk\u00fchrlichen gleich gut wie die willk\u00fchrlichen Muskeln zusammen. Es findet nur der Unterschied statt, dass die \u00e4usseren Reize an den organischen vom N. sympathicus abh\u00e4ngigen","page":64},{"file":"p0065.txt","language":"de","ocr_de":"65\n1. Unwillk\u00fcJirliehe und willkiihrliche Bewegungen.\nMuskeln nicht immer eine rasche lind augenblicklich erfolgende Convulsion zur Folge haben, wie an den animalischen Muskeln, dass die erfolgende Contraction vielmehr entweder langsam ein-tritt und sich verst\u00e4rkt, wie am Darmkanale und Uterus der Thiere, und dass sie lange nach dem Aufh\u00f6ren des Reizes ihr Maximum erreicht, und dauert, oder dass der Reiz hei den rhythmisch sich zusammenziehenden Organen, wie am Herzen, den Modus und die Schnelligkeit des Rhythmus auf einen ganzen Zeitraum ver\u00e4ndert. Siehe das N\u00e4here oben Bd. I. p. 711, Es scheint daher, dass die Fortpflanzung der Bewegung des Nervenprincips in dem N. sympathicus viel langsamer geschieht als in den animalischen Nerven, deren Reizung augenblickliche Wirkung hervorbringt, die gerade nur so lange dauert, als der Reiz wirkt.\nb. Der Nerve. Die Reizung des Nerven ausserhalb des Muskels hat dieselbe Folge, wie innerhalb desselben hei der Irritation des Muskels seihst. Bei den animalischen Nerven sieht man diess jedesmal, hei den organischen ist es erst in neuerer Zeit entdeckt worden. A. v. Humboldt ver\u00e4nderte den Herzschlag durch Galvanisiren der N. cardiaci, Burdacu durch Befeuchten\ndes untern Halsknotens mit Kali causticum. Siehe oben Bd. I. p. 647. Ich verst\u00e4rkte die Bewegung des hlossgelegten Darmes des Kaninchens, nachdem er schon wieder ruhig geworden, durch Galvanisiren des Ganglion coeliacum mittelst der S\u00e4ule. Am entschiedensten und leichtesten l\u00e4sst sich aber das Factum beweisen durch Betupfen des Ganglion coeliacum mit Kali causticum. Diess ist eines der besten physiologischen Experimente. Ist der blossgelegte Darm eines Kaninchens, dessen Bewegungen sich an der Luft anfangs sehr verst\u00e4rken, wieder ruhig geworden, und wird dann das Ganglion coeliacum mit Kali causticum betupft, so verst\u00e4rkt sich sehr schnell darauf die Bewegung wieder. Auch hierbei sieht man wieder, dass die Bewegung des Nervenprincips im N. sympathicus langsamer und nachhaltiger erfolgt. Die Bewegung des Darms erreicht erst nach einiger Zeit ihr Maximum und dauert sehr lange fort.\nc. Die Centralorgane. Die Application der Reize auf die Centralorgane hat denselben Erfolg. Die Bewegungen erfolgen jedesmal in den Muskeln, deren Nerven von dem gereizten Theile des Gehirns und R\u00fcckenmarkes abh\u00e4ngig sind. Die hierbei stattfindenden Gesetze sind in Hinsicht der animalischen Nerven schon oben Bd. I. p. 838., in Hinsicht der organischen Nerven Bd. I. P- 711. auseinandergesetzt worden. Nach Wilson Philip\u2019s Versuchen kann die Bewegung des Herzens von jedem Theile des Gehirns und R\u00fcckenmarkes aus ver\u00e4ndert werden, dahingegen gewisse Theile des Gehirns und R\u00fcckenmarkes immer mit gewissen Muskeln im Zusammenh\u00e4nge stehen. Ein wichtiger Unterschied in Hinsicht der materiellen Reize ist nun aber folgender. Manche Einfl\u00fcsse bewirken Zuckungen, m\u00f6gen sie an den Musein, an den Nerven oder an den Centralorganen applicirt wer-en, wie mechanische Reize, die W\u00e4rme, die Electricit\u00e4t, die\ncalien und andere. Gewisse Materien bewirken bloss Zuckungen, wenn sie auf den Wegen des Kreislaufes die Centralorgane\nMiillcr\u2019s Physiologic. 2r Bil. I.\tg","page":65},{"file":"p0066.txt","language":"de","ocr_de":"66 IV. Buch. Bewegung. IT. \u00c4bschn. V. den verschied. Muskelhecvegg.\ndes Nervensystems ver\u00e4ndern, wie die Narcotica. Ein Narcoticum kann zwar, auf einen Muskel oder Nerven \u00f6rtlich applicirt, die Reizbarkeit beider \u00f6rtlich aufbeben, aber es bewirkt an den Nerven oder Muskeln applicirt nie Zuckungen. Dieselben Stoffe bewirken die heftigsten Zuckungen, wenn sie mit dem Blute aufj das R\u00fcckenmark und Gehirn einwirken, und dass die Ursache dieser Zuckungen in den Centralorganen liegt, siebt man deutlich beim Durchschneiden der Nerven eines zuckenden Gliedes; der Tetanus h\u00f6rt in allen Theilen auf, deren Nerven vom R\u00fccken-marke getrennt sind. Siebe oben Bd. 1. p. 612.\nII. Automatische Bewegungen.\nUnter den automatischen Bewegungen werden liier alle Bewegungen verstanden, welche, von Seelenaetionen unabh\u00e4ngig, entweder anhaltend sind oder in einem regelm\u00e4ssigen Rhythmus erfolgen, und welche beide aus gesunden, nat\u00fcrlichen, in den Nerven oder Centralorganen liegenden Ursachen erfolgen. Die rhythmischen zerfallen in zwei Classen, |e nachdem das Princip der rhythmischen Bewegung im N. sympatbicus oder in den Centralorganen des Nervensystems residirt. In den bloss animalischen Nerven selbst ist die Ursache der regelm\u00e4ssigen rhythmischen Bewegung nie vorhanden.\na, \\om N. sympathicus abh\u00e4ngige \u00abautomatische Bewegungen.\n1.\tMuskeln mit Querstreifen der primitiven B\u00fcndel. Das Herz.\n2.\tMuskeln ohne Querstreifen der primitiven B\u00fcndel. Darmcanal, Uterus, Urinblase,\nDie automatischen Bewegungen der ersteren sind rasch, augenblicklich und schnell aufeinander folgend, wie an den animalischen Muskeln mit Querstreifen. Die automatischen Bewegungen der Muskeln der zweiten Reihe sind langsam, nie Zuckungen, erreichen nur allm\u00e4lig ihr Maximum, dauern l\u00e4nger, und die Perioden der Robe sind viel l\u00e4nger. Ob der Unterschied in der Structur der Muskelfasern liegt, oder im Nerveneinflusse, ist nicht bekannt. F\u00fcr das Erstere spricht einigermaassen der Umstand, dass die Urinblase, obgleich willk\u00fchrlich beweglich, von den animalischen willk\u00fchrlichen Muskeln sieb doch dadurch unterscheidet, dass ihre Bewegungen nicht zuckend seyn k\u00f6nnen. Die Bewegungen der Urinblase werden \u00fcbrigens nur in sofern hier unter die automatischen Bewegungen aufgenommen, als ihre Bewegungen hei voller Blase periodenweise sich verst\u00e4rken. Bei den automatischen Bewegungen des organischen Leibes bemerkt man durchg\u00e4ngig eine gewisse Folge der Contractionen; der eine Theil des Organes zieht sich fr\u00fcher zusammen als der andere, und die Bewegung schreitet regelm\u00e4ssig in einer gewissen Richtung fort, worauf ein Periodus vollendet ist. Am Froschherzen beginnt die Bewegung an den contractilen Hohlvenen, dann folgen die Vorh\u00f6fe, dann der Ventrikel, dann der Bulbus aortae. Am Darme schreitet die Bewegung wurmf\u00f6rmig von oben nach unten fort, aber ein Periodus ist noch nicht bis unten abgelaufen, wenn der n\u00e4chste beginnt und die Tbeile wieder in dersel-","page":66},{"file":"p0067.txt","language":"de","ocr_de":"j Unwillk\u00fchrliche und willk\u00fchrlichc Bewegungen.\n67\nben Ordnung sich zusammenziehen. Die rhythmische Bewegung beginnt schon an der Speiser\u00f6hre, deren unterer Theil, wie Ma-gkwdie und auch ich beobachteten, von /eit zu Zeit sich zusammenzieht und wieder erweitert. Am Morgen ist die Bewegung verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig sehr schwach. Auch am Uterus der Thiere ist die Bewegung wurmf\u00f6rmig, wenigstens auf angebrachte Beize, wie ich bei der Ratte sali. Die periodischen Bewegungen des Uterus werden sonst nur w\u00e4hrend der Gehurt, selten schw\u00e4cher und krampfhaft w\u00e4hrend der Schwangerschaft beobachtet. Wirken Reize auf Organe mit automatischen Bewegungen ein, so bleibt die Folge der Bewegungen in der P\u0153gel; nur bei sehr zunehmender Reizung ver\u00e4ndert sich die Folge und es entsteht antiperistaltische Bewegung; die letztere kann aber auch bei gehemmtem Nerveneinflusse unter Hirnzuf\u00e4llen eintreten. Bei Reizungen der Organe mit automatischen Bewegungen ver\u00e4ndert sich auch der Periodus und die Bewegungen verst\u00e4rken sich ; das Herz schl\u00e4gt hei Reizungen von aussen oder innen st\u00e4rker und h\u00e4ufiger. Machen heftige acute Krankheiten eine starke Impression auf die Centralorgane, deren Folge man Fieber nennt, so bewegt sich das Herz nicht allein h\u00e4ufiger, sondern auch der Modus der Zusammenziehung der Fasern ist ver\u00e4ndert, was den Puls hart macht; so lange die Kr\u00e4fte noch unversehrt sind, ist der Puls daher hart, stark und h\u00e4ufig. In dem Maasse, als die Kr\u00e4fte abnehmen und die Impression der Krankheit auf die Centralorgane fortdauert, bleibt der ver\u00e4nderte Schlag des Herzens zwar und der Puls daher hart, aber die St\u00e4rke des Herzschlages verliert sich, und der Puls wird also schwach, w\u00e4hrend die H\u00e4ufigkeit des Pulses zunimmt. Ein harter, voller und h\u00e4ufiger Puls ist daher in acuten Krankheiten das Zeichen einer heftigen Impression auf die Centralorgane, ohne wesentliche Ver\u00e4nderung der Lebenskr\u00e4fte; ein harter, schwacher und h\u00e4ufiger Puls in dem Maasse, als diese Symptome zunehmen, Zeichen der zunehmenden Schw\u00e4che der Kr\u00e4fte. Bei vielen Affectionen ohne Entz\u00fcndung wird der Herzschlag seltener, wenn die Functionen der Centralorgane gehemmt sind, wie in syncoptischen und apoplecti-schen Zuf\u00e4llen. Die Bewegungen des Darmcanales werden von \u00e4usseren oder inneren Reizungen st\u00e4rker, schneller, so an dem blossgelegten Darme, oder bei inneren Reizungen auf die Schleimhaut (Diarrhoe).; bei der Spinalirritation treten krampfhafte automatische Bewegungen des Darmcanales, Uterus ein. Dieselbe Ver\u00e4nderung wird wenigstens am Darmcanale hei Reizung des sympathischen Verven beobachtet, wie ich durch Application von Kali causticum auf das Ganglion coehacum des Kaninchens zeigte.\nMehrere der Organe mit automatischen Bewegungen haben Sphincteren. W\u00e4hrend die Zusammenziehungen dieser Organe sich periodisch verst\u00e4rken, sind die Sphincteren best\u00e4ndig geschlossen, wie der Sphincter vesicae, der Muttermund vor der Geburt. Indem die periodisch verst\u00e4rkten Bewegungen der Schl\u00e4uche zunehmen und ihren Inhalt immer st\u00e4rker gegen den Sphincter treiben, wird dieser zuletzt \u00fcberwunden und ausge-\n5*","page":67},{"file":"p0068.txt","language":"de","ocr_de":"CS IV. Buch. Bewegung. II. Abschn. V. den perschied. Muskelbewegg,\ndehnt; er verstreicht. Der Antagonismus der Schl\u00e4uche und der Sphincteren ist offenbar weniger in den muscul\u00f6sen Apparaten, als in der Art der Nervenwirkung auf beide begr\u00fcndet. Diese ist die Ursache, dass der Muttermund, der Sphincter vesicae anhaltend geschlossen ist, w\u00e4hrend sich die Bewegungen der Schl\u00e4uche periodisch (beim Uterus in der Form der Wehen, hei der Urinblase als Harndrang) verst\u00e4rken. Eine Polarit\u00e4t zwischen Fundus und Cervix uteri mit Reil (Reil\u2019s Archiv 7.) anzunehmen, macht die Sache nicht deutlicher. Die Ausdehnung der Sphincteren scheint gr\u00f6sstentheils in Folge des Druckes zu erfolgen, der Muttermund dehnt sich dem zu Folge aus, verstreicht, wie der Sphincter ani heim Drucke der Excremente von oben verstreicht. Wach dem Austreiben des Inhaltes ziehen sich Schlauch und Sphincter wieder allm\u00e4hlig zusammen. Diese Zusammenziehung scheint an den Sphincteren auch wieder ohne Periodus, an den Schl\u00e4uchen periodisch verst\u00e4rkt zu erfolgen; die Nachwehen nach der Gehurt sind der Ausdruck dieser rhythmischen Contractionen.\nDie letzte Ursache der rhythmischen Contractionen der organischen Muskeln liegt in der Art der Wechselwirkung zwischen den Muskeln und den sympathischen Nerven, nicht den Centralorganen. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied dieser automatischen Bewegungen von den automatischen Bewegungen der animalischen Muskeln. Das Herz setzt seine rhythmischen Bewegungen auch ausgeschnitten fort; sie h\u00e4ngen nicht vom Reize des Blutes ab, denn sie erfolgen noch eben so regelm\u00e4ssig am blutleeren Herzen; sie h\u00e4ngen auch nicht vom Reize der Luft ab, denn sie setzen sich auch im luftleeren Raume fort. Der Darmcanal zieht sich auch ausgeschnitten noch peristaltisch zusammen, und an dem ausgeschnittenen Eierleiter einer Schildkr\u00f6te hat man diese Bewegungen bis zum Austreiben der Eier erfolgen sehen.\nD ass die in der Muskelsubstanz sich verbreitenden organischen Nerven hei diesen automatischen Bewegungen der abgeschnittenen Theile eine Hauptrolle spielen, und dass diese Muskeln nicht unabh\u00e4ngig von den Nerven sich rhythmisch zusammenziehen, wie Haller einst glaubte, ergiebt sich aus den Resultaten der fr\u00fcher gef\u00fchrten Untersuchung (p. 52.), wonach die Wechselwirkung der Nerven und Muskeln zum Acte der Muskelcontraction \u00fcberhaupt noting ist, ferner auch aus der Thatsache, dass auf Reize, welche auf das Ganglion coeliacum angebracht werden (Kali causticum), sich der Modus der Zusammenziehung des Darmes auf l\u00e4ngere Zeit ver\u00e4ndert. Die Ursache des Rhythmus kann entweder in den Muskelfasern oder in den Nervenfasern liegen. Liegt sie in den Muskelfasern, so wird die Einwirkung des Nervenprincips best\u00e4ndig seyn, aber die Muskelfasern des Herzens verlieren nach jeder augenblicklichen Zusammenziehung ihre F\u00e4higkeit sich zusammenzuziehen, und erhalten sie durch kurze Ruhe w\u00e4hrend der Einwirkung des Nervenprincips wieder. Liegt die Ursache des Rhythmus in den Nervenfasern, so ist die Empf\u00e4nglichkeit der Muskelfasern dauernd, und das Nervenprincip str\u00f6mt, aus in den Nerven liegenden Ursachen, nur periodisch","page":68},{"file":"p0069.txt","language":"de","ocr_de":"69\n1. Unwjllkiihrliclic mul willkithrliche Bewegungen.\nauf diese ein. Die erstere Hypothese, dass das Herz jeden Augenblick, oder SOmal in der Minute seine Empf\u00e4nglichkeit finden percnnircnden Einfluss des Nervenprincips \u25a0verlieren und SOmai in der Minute sie wieder gewinnen sollte, ist unwahrscheinlich, da alle \u00fcbrigen Muskeln sich dauernd bewegen, wenn der Heiz dauernd ist. Eine so schnelle Herstellung der verlornen Reizempf\u00e4nglichkeit durch blosse Ruhe ist eben so unwahrscheinlich, da zur Herstellung der Reizempf\u00e4nglichkeit der erm\u00fcdeten Muskeln nicht bloss die Ruhe, sondern die Einwirkung des Blutes w\u00e4hrend der Circulation noting ist. Das Herz setzt aber seinen Rhythmus auch im blutleeren Zustande seiner H\u00f6hlen und ausgeschnitten fort, wo das arterielle Blut seine Capil-largef\u00e4sse nicht mehr durchstr\u00f6men kann. Die erste Hypothese ist daher unwahrscheinlich und die zweite wahrscheinlicher, dass die Reizempfanglichkeit des Herzens dauernd, die Wirkung des Nervenprincips in den Nerven des Herzens periodisch ist.\nWir wollen diese zweite Hypothese nun n\u00e4her zergliedern. Durch Wirkung auf das Ganglion coeliacum kann man die schon erloschene Bewegung des Darmes wieder peristaltisch, also auch rhythmisch hersteilen und sehr verst\u00e4rken. Diess macht es wahrscheinlich, dass dieses Ganglion an der Erzeugung der rhythmischen Bewegung Anthcil hat; da aber das Ganglion hei jenem Versuche durch Kali causticum zerst\u00f6rt und todt wird, die hervorgerufenen rhythmischen Bewegungen aber lange fortdauern, so m\u00fcssen auch die dem Ganglion zun\u00e4chst liegenden Theile der im Darme sich verbreitenden Nerven jene F\u00e4higkeit besitzen, und sie besitzen sie in der That, da ja seihst der blosse vom Mesenterium abgeschnittene Darm noch seine peristaltische Bewegungskraft in sich hat. Der Einfluss, den das Ganglion coe-liacum auf Hervorbringung periodischer Bewegungen erweislich hat, wird auch den in den organischen Muskeln sich verbreitenden organischen Nervenzweigen um so mehr zukommen, als man bei feinerer Untersuchung der Zweige des Sympathicus in ihnen selbst noch \u00f6fter sehr kleine secund\u00e4re Anschwellungen ohne Regelm\u00e4ssigkeit zerstreut findet. Retzius hat dergleichen sehr kleine Ganglien an den auf den Trigeminus \u00fcbergehenden Zweigen des Sympathicus beobachtet. (Isis 1827.) Ich habe einmal ganz kleine mit der Loupe zu beobachtende Anschwellungen im Ramus communicans des Sympathicus und eines Dorsalnerven beobachtet. Die von mir gefundenen Zweige des Plexus hypoga-stricus, welche sich beim Pferde und Menschen in den hintersten Theil der Corpora cavernosa penis begeben, zeigen auch weit von diesem Eintritte entfernt kleine gangli\u00f6se Anschwellungen, beim Menschen in der Gegend des hintern Endes der Prostata, gleichwie beim Pferde. Bei feinerer Untersuchung gr\u00f6sserer Strecken des Nervus sympathicus sieht man nicht seilen kleine, leicht zu \u00fcbersehende Kn\u00f6tchen eingestreut, wenn man die einzelnen Faserb\u00fcndel von einander in gr\u00f6sserer L\u00e4nge trennt. Remak. hat im Laufe der sympathischen Nerven \u00f6fter solche kleine Anschwellungen isolirt, die man","page":69},{"file":"p0070.txt","language":"de","ocr_de":"70 IV. Buch. Bewegung. II. Ahschn. V. d. verschied. Muskclhewcgg.\nmit blossen Augen sehr gut erkennen kann. Dr. Schwann bat an den feinsten mikroskopischen Zweigen des N. symputhieus im Mesenterium der Feuerkr\u00f6te, von grossen Zwischenr\u00e4umen unterbrochen, kleine Anschwellungen gesehen. Diese kleinen Anschwellungen des N. symputhieus sind wohl von den von Eiiren-bebg beobachteten Varicosit\u00e4ten der Primitivfasern des N. sym-pathicus zu unterscheiden*).\nFasse ich nun alles Vorausgeschickte zusammen, so ist mein Schluss folgender: Die automatische Bewegung der organischen Muskeln h\u00e4ngt, wie alle Muskelbewegung, zuerst von dem Impuls des Nervenprincips ab, was bewiesen wurde; die Ursache des Rhythmus dieser automatischen Bewegungen liegt nicht in der Natur der Muskelfasern, sondern des eigenth\u00fcmlicben Nervensystems der organischen Muskeln, was bewiesen wurde; das Ganglion coeliacum hat die F\u00e4higkeit, gereizt, peristaltische Bewegungen des Darms hervorzubringen, was bewiesen wurde; die gun-gli\u00f6se Natur des Sympathicus scheint sich ferner auch bei feinerer Verzweigung zu erhalten, und die F\u00e4higkeit des Darms zu peristaltischen Bewegungen erh\u00e4lt sich auch am vom Mesenterium abgetrennten Darme. Schluss: folglich besitzen auch die kleineren in dem Darmkanal selbst verbreiteten Zweige des N. sympathicus noch die Wirkung, periodische Bewegungen hervorbringen, wie es vom Ganglion coeliacum erwiesen wurde.\nWas von den peristaltischen Bewegungen des Darms gilt, muss auch von den rhythmischen Bewegungen des Herzens gellen; die erste Bewegung des noch schlauchf\u00f6rmigen Herzens ist auch eine peristaltische.\nEs scheint daher aus allem Erw\u00e4hnten hervorzugehen, dass die F\u00e4higkeit des N. sympathicus, periodische Bewegungen hervorzubringen, nicht bloss seinen grossen Ganglien, sondern seinen kleinsten Tbeilen noch zuk\u00f6mmt, welche sich innerhalb der Organe verzweigen; und daher ist es zu erkl\u00e4ren, warum das ausgeschnittene Herz, der ausgeschnittene Darm, der ausgeschnittene Eierleiter der Schildkr\u00f6te noch einen bestimmten Rhythmus der Bewegung beobachten.\nHypothese. Es fragt sieh, ob es nicht m\u00f6glich ist, durch eine klare Hypothese gen\u00fcgend zu erl\u00e4utern, wie es kommt, dass der Im-\n*} Die von Schwann beobachteten Fasern, welche in sehr grossen Zwischenr\u00e4umen kleine Anschwellungen bilden, sind ausserordentlich viel keiner als die gew\u00f6hnlichen Primitivfasern oder die st\u00e4rkeren Nervenfasern im Mesenterium, von welchen die feinen Fasern abgehen. Dass die von Schwann beobachteten leinen Fasern wirklich Nervenfasern sind, wird durch den Habitus der st\u00e4rkeren Fasern gewiss, von denen sie abgehen. Aber diese st\u00e4rkeren Fasern im Mesenterium waren, selbst wenn sie die Dicke der gew\u00f6hnlichen Primitivfasern der Nerven batten, doch in ihrem Innern undeutlich gefasert, gerade so, als wenn die sehr feinen Fasern, welche sie abgeben, schon in ihnen vorgebildet w\u00e4ren. Die gew\u00f6hnlichen sogenannten Primitivfasern der Nerven in anderen Tbeilen sind nicht im Innern gefasert, sondern mehr oder weniger klar. Ob auch diese Cylinder nicht noch feinere Elemente enthalten, ist noch ungewiss.","page":70},{"file":"p0071.txt","language":"de","ocr_de":"1. UnwiUk\u00fchrlkhe und willkiihrliehe Bewegungen.\n71\npuls des Nervenprincips in den vom N. sympathicus versehenen Theilen mit Unterbrechung rhythmisch wirkt. Hypothesen sind in einer exacten und auf Facta sich st\u00fctzenden Wissenschaft dann erlaubt, wenn eine definitive Erkl\u00e4rung zur Zeit unm\u00f6glich ist, wenn die hypothetische Erkl\u00e4rung den Facten nicht zuwider ist, vielmehr damit \u00fcbereinstimmt, und wenn die Hypothese ein neues Feld zu ferneren Untersuchungen er\u00f6ffnet. Bas Folgende scheint eine Hypothese von dieser Art zu seyn.\nMan nehme an, dass in dem N. sympathicus best\u00e4ndig Str\u00f6mungen des imponderabeln Nervenprincips von dem Centrum (der Ursprungsstelle) nach der Peripherie, nach den Organen stattfinden. Wie k\u00f6mmt es, dass die continuirliche Bewegung in die periodische mngewandelt wird.' Die Mechanik zeigt uns viele Beispiele einer solchen Umwandlung. Wir wollen ein Bild von einem imponderabeln Fluidum hernehmen. Wird ein mit Electricit\u00e4t geladener K\u00f6rper dem BouNESEEROERsehen Electrometer auf einige Entfernung gen\u00e4hert, so zeigt das Goldbl\u00e4ttchen desselben eine Neigung, gegen eine der S\u00e4ulen hinzufahren, und ist der electrische dein Electrometer zugeleitete Strom stark genug, so wird das Goldbl\u00e4ttchen gegen die S\u00e4ule bis zur pl\u00f6tzlichen Ber\u00fchrung hingezogen. War der electrische Strom nicht stark genug, so bleibt das Goldbl\u00e4ttchen geladen und schwebt der einen S\u00e4ule des Electrometers zu, ohne sie zu erreichen. Die Electricit\u00e4t bleibt in ihm gebunden, trotz dem Streben nach Vereinigung beider Electricit\u00e4ten. Erst wenn neue Quantit\u00e4ten von Electricit\u00e4t dem Bl\u00e4ttchen von aussen zugef\u00fchrt werden, tritt das Maximum ein, wo das Bl\u00e4ttchen die Electricit\u00e4t, womit es geladen ist, nicht mehr zu halten im Stande ist und pl\u00f6tzlich an die S\u00e4ule abgiebt. Noch instructiver ist in dieser Hinsicht das funkenweise periodische Abgeben der Electricit\u00e4t von der best\u00e4ndig erregten Maschine, an einen in einiger Entfernung gen\u00e4herten Leiter. Der zwischen dem Conductor der Maschine und dem gen\u00e4herten Leiter befindliche Halbleiter, die trockene atmosph\u00e4rische Luft, hindert das best\u00e4ndige Ueberstr\u00f6men der doch best\u00e4ndig in der Maschine erregten Electricit\u00e4t; daher geht diese in periodischen Entladungen aut den Leiter \u00fcber, |e nachdem sie in der Quantit\u00e4t angell\u00e4uft ist, den Halbleiter zu durchbrechen. Was wir hier anf\u00fchren, ist bloss ein Bild; es f\u00e4llt uns nicht ein, das in den Nerven wirkende Prineip mit der Electricit\u00e4t zu vergleichen; diese Idee ist hinl\u00e4nglich (Bd. I. p. 616.) bestritten und widerlegt worden. Aber das Bild giebt ein Mittel an die Hand, uns eine vorl\u00e4ufige hypothetische Vorstellung von der Art der Bewegung des Nervenprincips in den sympathischen Nerven zu machen. Man hat Hie Ganglien des Sympathicus \u00f6fter mit Halbleitern verglichen. Wir haben gesehen, dass das Nervenprincip in den sympathischen Nerven sich viel langsamer als in den animalischen Nerven bewegt. Diess ist eine Thatsacbe. Denn wenn das Ganglion coeliacum des Kaninchens, dessen blossgelegter Darm seine an der Luft anfangs verst\u00e4rkten Bewegungen wieder eingestellt hatte, mit Kali causticum betupft wurde, so entstanden nach einigen Secunden erst verst\u00e4rkte peristaltische Bewegungen des","page":71},{"file":"p0072.txt","language":"de","ocr_de":"72 IV. Buch. Bewegung. II. Ahsclin. V. den verschied. Muskelhecvegg.\nDarms, welche viel sp\u00e4ter erst ihr Maximum erreichten und \u00fcberhaupt sehr lange dauerten. Diese langsame Bewegung des Ner-venprineips in dem sympathischen Nerven zeigt \"ein Hinderniss der Leitung an, welches in den animalischen Nerven nicht vorhanden ist, hei denen die Reaction des Muskels mit unmessbarer Geschwindigkeit auf die Reizung des Nervens folgt. Man kann also die sympathischen Nerven in der That mit Halbleitern oder Halbisolatoren vergleichen, mag nun die aufhaltende oder isoli-rende Ursache in den Ganglien oder in den Nervenfasern selbst liegen. Diess zugegeben, so ist auch ersichtlich, warum der Ue-bergang des Fluidums periodisch erfolgt oder periodisch sich verst\u00e4rkt. Die als Halbleiter wirkenden gangli\u00f6sen Theile des Sympathicus werden das Nervenfluidum als Halbleiter zu binden suchen. Der allgemeine, der peripherischen Verbreitung der Nerven folgende Strom strebt hingegen zum Impuls auf die organischen Muskeln. Haben nun gewisse als Halbleiter wirkende Thcilchen des N. sympathicus eine gewisse Quantit\u00e4t des Nervenprincips gebunden, so behalten sie dieselbe so lang\u00e9, bis das ihnen zugeleitete Nervenprincip das Maximum erreicht hat, das sie zu binden verm\u00f6gen, dann geben sie dieses pl\u00f6tzlich an die organischen Muskeln ab, und das Spiel wiederholt sich von neuem. Wenn ein solcher Process in dem N. sympathicus bis zu seiner peripherischen Verbreitung in den Muskeln stattfindet, so m\u00fcssen die im Kleinen sich \u00f6fter wiederholenden Ganglien als Halbleiter und unvollkommene Isolatoren des Nervenprincips eine Hauptrolle dabei spielen. Ich bemerke nochmals, dass ich mich gegen eine Identificirung des Ncrvenfluidums und des galvanischen Fluidums durchaus verwahre. Denn um es nochmals zu wiederholen, die Isolatoren des Nervenprincips sind nicht die des electri-schen, die Leiter des letztem nicht die des wirksamen Princips der Nerven.\nNicht alle vom N. sympathicus abh\u00e4ngige Bewegungen haben einen Typus intermittens, einige wie die der hieher geh\u00f6rigen Schliessmuskeln haben einen Typus continens. Hier wird die ununterbrochene Leitung des Nervenprincips gestattet seyn. Der Sphincter vesicae urinariae ist fast immer th\u00e4tig, und seine Th\u00e4-tigkeit wird nur in kleinen Zwischenzeiten unterbrochen. Es ist merkw\u00fcrdig, dass diess grade an einem Organe stattfindet, dessen Nerven nicht bloss organische, sondern auch animalische sind, welche den continuirlichen Strom des Nervenprincips gestatten. Die Urinblase erh\u00e4lt ihre Nerven nicht bloss vom Plexus hypo-gastricus, sondern auch von dem 3. und 4. Sacralnerven. Diese continuirliche Zusammenziehung des Sphincters der Urinblase ist in der That auch weniger vom Sympathicus, als von dem animalischen Nervensystem und von den Centralorganen abh\u00e4ngig. Die Contractionskraft desselben wird bei Krankheiten des Gehirns und R\u00fcckenmarks aufgehoben. W\u00e4hrend die bloss vom N. sympathicus abh\u00e4ngigen Bewegungen sich sehr lange unabh\u00e4ngig vom Gehirn und R\u00fcckenmark, ja sogar an ausgeschnittenen Theilen erhalten, wird der Sphincter vesicae urinariae sogleich","page":72},{"file":"p0073.txt","language":"de","ocr_de":"1. Unwillk\u00fcrliche und willkiihrliche Bewegungen.\n73\nbei Durchschneidung des R\u00fcckenmarkes gleich dem willk\u00fchrlich beweglichen Sphincter ani gelahmt.\nWenn die organischen Nerven die F\u00e4higkeit haben, das Nervenprincip auf l\u00e4ngere Zeit zu binden und nicht schnell aus-zustr\u00f6men, so erkl\u00e4rt sich daraus, warum die vom N. sympathies versehenen Organe ihre Bewegungen noch lange Zeit unabh\u00e4ngig vom Gehirne und R\u00fcckenmarke fortsetzen. Siehe oben Bd. I. p. 186. 710. Ganz und auf die Dauer unabh\u00e4ngig von den Centralorganen sind diese Organe gleichwohl nicht. Nach h\u00e4ufigen Nachtwachen und in acuten Krankheiten mit heftiger Impression auf die Centralorgane wird dieser Einfluss sp\u00e4ter merklich, der in k\u00fcrzeren Zeitr\u00e4umen nicht so merklich seyn kann, wie an den von animalischen Leitern versehenen Theilen; dann n\u00e4mlich wird auch die Kraft des Herzens und anderer organischen Muskeln ersch\u00f6pft.\nb. Von denCentralorgancn ab h\u00e4ngige autom a tisch eBe wegungen.\nDa dieselben Muskeln beim unwillk\u00fchrlichen Athmen und bei willk\u00fchrlichen Bewegungen th\u00e4tig sind, so musste man auf den Gedanken kommen, ob nicht beiderlei Bewegungen in denselben Muskeln durch verschiedene Nerven ausgef\u00fchrt werden. Ch. Bell suchte zu zeigen, dass die eine Art der Bewegung in diesen Muskeln aufgehoben seyn kann, w\u00e4hrend die andere fortdauere. Liess er einen Hemiplegicus die Schultern aufheben, so konnte dieser, trotz aller Anstrengung, nur die Schulter der gesunden Seile liehen. Die willk\u00fchrlichen Bewegungen der Brust waren auf der kranken Seite aufgehoben, und doch hob sich, wenn Bell den Kranken stark einathmen liess, die Schulter auf der kranken Seite so gut wie auf der gesunden. C. Bell\u2019s physiol, u. pathol. Untersuchungen des Nervensystems. Berlin 1832. p. 113. (Diess beweist freilich nur, dass, wer das Verm\u00f6gen hat, stark einzuath-men, auch noch die Willk\u00fchr \u00fcber diese Muskeln besitzt.) Cu. Bell erkl\u00e4rte jene Thatsacben daraus, dass der Nervus accessorius, welcher den cucullaris und levator scapulae versieht, als Respirationsnerven gel\u00e4hmt seyn k\u00f6nnen, w\u00e4hrend die zu diesen Muskeln gehenden Zweige der Spinalnerven th\u00e4tig bleiben; und so k\u00f6nne der Antheil, den jene Muskeln beim Athmen haben, indem sie die Brust vom Gewichte der Schultern befreien, w\u00e4hrend der willk\u00fchrlichen Bewegung verloren seyn, und umgekehrt. Bell hat auch beim Esel den N. accessorius durchschnitten und gesehen, dass die Bewegung des cucullaris und levator scapulae beim Athmen aufh\u00f6rte, die willk\u00fchrlichen Bewegungen dieser Muskeln aber noch vorhanden waren. In Beziehung auf den N. accessorius kann man das Angef\u00fchrte zugehen, obgleich es nicht mnreichend erwiesen ist, und der N. accessorius gewiss eben so gut als die Spinalnerven den cucullaris zur bloss willk\u00fchrlichen ewegung anregen kann. Viele Respirationsmuskeln, wie namentlich das Zwerchfell, haben nur einerlei Nerven, und es !st nicht entfernter Weise wahrscheinlich, dass in diesen Ner-ven besondere Fasern vorhanden sind, welche die Atheinbewe-","page":73},{"file":"p0074.txt","language":"de","ocr_de":"74 IV. Buch. Bewegung. II. Ahschn. V. denverschied. Muskelbewegg.\ngung, und andere, welche die willk\u00fchrlichen Bewegungen verursachen. Wir wirken auf dieselben Nervenfasern, wenn wir unwillk\u00fcrlich nach bestimmtem Rhythmus athmen, und wenn wir nach Willk\u00fchr den Rhythmus ver\u00e4ndern.\nDie Ursache des Typus und Rhythmus dieser Bewegungen liegt nicht in den Nerven der animalischen Muskeln, sondern in dein Gehirn und R\u00fcckenmark. Die Gehirn- und R\u00fcckenmarksnerven verhalten sich zu ihnen als blosse Leiter der vom Gehirn und R\u00fcckenmark ausgehenden Bestimmungen; werden diese Leiter durchschnitten, so h\u00f6rt die automatische Bewegung auf. So verh\u00e4lt sich die Th\u00e4tigkeit des Zwerchfells und aller Athemmuskeln zu ihren Nerven, so die Wirkung des Sphincter ani u. a. Die hieher geh\u00f6rigen animalischen automatischen Bewegungen sind auch wieder theils von intermittirendem, theils von continuirendem Typus. Im erstem Falle befinden sich die Athembewegungen, im letztem die Bewegungen der animalischen Sphincteren. Alle hieher geh\u00f6rigen Bewegungen werden von Muskeln ausgel\u00fchrt, die ausser der automatischen Bewegung auch dem Willen unterworfen sind.\n1. Automatische Bewegungen des animalischen Systems mit iri-termittirendem Typus.\na. Athembewegungen. Zu den Athembewegungen geh\u00f6ren die Bewegungen des Zwerchfells, der Bauchmuskeln, Brustmuskeln, der Kehlkopfmuskeln, welche die Stimmritze \u00f6ffnen und sch Hessen. Hiezu kommen unter Umst\u00e4nden auch Athembewegungen im Gesicht und am Gaumensegel hei mehreren Menschen im Schlafe. Die dabei implicirten Nerven sind f\u00fcr gew\u00f6hnlich der N, phreni-cus, accessorius Willisii, vagus, ein grosser Theil der Spinalnerven, und f\u00fcr die Athembewegungen des Gesichtes der N. facialis. Der N. vagus hat an den Athembewegungen, obgleich er das Organ des chemischen Athemprocesses, die Lungen, versieht, einen nur geringen Theil. Sein Antheil an den Athembewegungen beschr\u00e4nkt sich nur auf seine Herrschaft \u00fcber die Bewegungen der kleinen Muskeln des Kehlkopfes, und vielleicht r\u00fchrt seihst diese nur von dem Uehergange eines Theils des N. accessorius Willisii auf den Vagus her. Siehe oben Bd. I. p. 639. Die Lungen haben mit den Athembewegungen gar nichts zu thun; der ganze untere gr\u00f6ssere Theil des N. vagus besitzt gar keine motorische Kraft, nicht einmal aut den Magen (siehe oben Bd. I. p. 773.), und die Functionen des N. vagus in den Lungen sind offenbar, die Empfindungen der Lungen zu leiten, und einen Theil organischer Fasern vom N. sympatlneus zur Regulirung des chemischen Processes in den Lungen zu diesen zu f\u00fchren. Alle Athembewegungen einer Art, von so vielen Nerven sie auch ausgef\u00fchrt werden, geschehen zu gleicher Zeit; sie m\u00fcssen eine gemeinschaftliche Ursache haben. Legallois hat bewiesen, dass diese Ursache in der Medulla oblongata residirt. Siehe oben Bd. 1. p. 331. Das von der Medulla oblongata getrennte R\u00fcckenmark unterbricht diesen Einfluss zu allen unter dieser Stelle vom R\u00fcckenmarko entspringenden Athemnerven; jede \u00fcber dem Urspr\u00fcnge des i. Ilaisnerven stattfindende Verletzung des R\u00fcckenmarkes hebt den Antheil des","page":74},{"file":"p0075.txt","language":"de","ocr_de":"1. Un wittk\u00fchr liehe und willk\u00fchrliche Bewegungen.\n75\nN. phrenicus an den Athernbewegungen auf. Der Antheil des Vagus an dem Athmen bleibt, so lange sein Ursprung von der Medulla oblongata nicht betheiligt ist; durchschneidet man ihn, so ist die Bewegung der Stimmritze gehemmt (siehe oben p. 338.). Aber die Quelle aller gleichzeitigen Athernbewegungen ist mit der Verletzung der Medulla oblongata zerst\u00f6rt, dahingegen die Verletzungen der vor der Medulla oblongata liegenden Hirntheile die rhythmischen Athernbewegungen nicht aufbeben. Die Ursache der rhythmischen Affection aller dieser Nerven, die sonst auch der willkiihrlichen Bestimmung f\u00e4hig sind, liegt also in der Medulla oblongata, m\u00f6gen die einzelnen nun vom Gehirn oder B\u00fcckenmark entspringen. Wie soll man sich diesen Rhythmus vorstellen? Besteht er in einer einzigen periodisch wirkenden Erregung der Inspiratoren, oder in zweien auf einander folgenden und abwechselnden Erregungen zuerst der Inspiratoren, dann der Exspiratorcn? Das Problem w\u00fcrde einfacher sevn, wenn nur das Erstere stattf\u00e4nde. ln der That besteht das gew\u00f6hnliche Athmen eines ganz ruhigen Menschen, in sofern es durch lebendige Bewegungen hervorgebracht wird, nur aus periodischen Inspirationen durch das Zwerchfell, die Brustmuskeln und Kehlkopfmuskeln. Die Exspiration geschieht dabei durch die Elasticity und das von selbst erfolgte Senken der vorher ausgedehnten und erhobenen Theile. Der Druck der Muskeln, z. B. der Bauchmuskeln, hat hierbei Antheil; aber vielleicht nur so viel, als der best\u00e4ndige Druck dieser Muskeln auf die Baucheingeweide betr\u00e4gt, welche dadurch zur\u00fcckgedr\u00e4ngt werden und das Zwerchfell mit Verengerung der Brusth\u00f6hle liehen. Zuweilen, wenn dasEinath-men abrupt und pl\u00f6tzlich aus innern Ursachen erfolgt, bleibt sich das Ausathmen doch gleich, und erfolgt allm\u00e4hlig wie gew\u00f6hnlich. Indessen tritt jedenfalls bei jedem h\u00e4ufigem und heftigem Athmen in gereizten Zust\u00e4nden eine active Bewegung der Exspira-toren ein, und der in der Medulla oblongata bewirkte Rhythmus der Athernbewegungen hat also dann zwei verschiedene Momente, wie der Herzschlag; hei den Fr\u00f6schen hat der Rhythmus des Ath-mens sogar regelm\u00e4ssig drei Momente (siehe oben Bd. I. p. 163.), w\u00e4hrend ihr Herzschlag vier Momente von der Bewegung der Hohlvenen bis zur Bewegung des Bulbus aortae hat. Dr\u00fcckt man das bisher Entwickelte in physiologischen Termen aus, so findet bei dem Athmen in der Medulla oblongata eine periodische Entladung und Bewegung des Nervenprincips nach allen Inspiratoren, und bald darauf wenigstens h\u00e4ufig eine Bewegung des Nervenprincips, sey es Str\u00f6mung oder Schwingung, nach den Exspi-ratoren statt. Die Untersuchung \u00fcber die Ursachen dieser Bewegung betrifft zwei Fragen :\n1. Was erregt die Medulla oblongata zu den Entladungen des Nervenprincips nach den respiratorischen Nerven beim geborenen Menschen, da sie beim F\u00f6tus nicht stattfinden? Die Untersuchung \u00fcber diesen Gegenstand ist schon fr\u00fcher Bd. I. p. 337. gef\u00fchrt. Entweder liegt die erregende Ursache in Empfindungen, welche von den Athemorganen ausgehen und durch den Vagus eine Impression auf die Medulla oblongata machen, oder","page":75},{"file":"p0076.txt","language":"de","ocr_de":"76 IV. Buch. Bewegung. II.Ahschn. V. den verschied. Muskelhewegg.\nsie liegt in dem Eindr\u00fccke des arteriellen Blutes auf diesen so h\u00f6chst reizbaren Thcil des Nervensystems. Dass die Empfindung der atmosph\u00e4rischen Luft in den Lungen, und das in den Lungen empfundene Athembed\u00fcrfniss weder beim ersten Ath-inen, noch sp\u00e4ter die Ursache seyn kann, geht aus den von mir angestellten Versuchen hervor, wo ich diese Empfindungen beim Kaninchen durch Durchschneidung des N. vagus auf beiden Seiten, durch Durchsclineidung auch des h\u00f6her entspringenden Ra-mus laryngeus superior auf beiden Seiten, ja durch g\u00e4nzliche Abl\u00f6sung des Kehlkopfes unm\u00f6glich machte, und der Rhythmus der Athembewegungen viele Stunden bis zum Tode des Thieres fortdauerte. Die Theorie von Kind, dass hingegen der Reiz der atmosph\u00e4rischen Luft auf die Hautnerven, der auf das R\u00fcckenmark geleitet werde, das Athmen als Reflexionsbewegung errege, ist nicht sehr wahrscheinlich. Ein von der Haut ganz befreiter Frosch athmet ungest\u00f6rt fort. Ein Frosch athmet gleich gut mit dem Kopfe in der Luft, mag die Haut seines K\u00f6rpers von Wasser oder Luft umgeben seyn. W\u00e4re der Hautreiz von Wasser zur Incitation der Athembewegungen hinreichend, so m\u00fcsste auch der F\u00f6tus der S\u00e4ugethiere im Uterus Athembewegungen machen. Es ist daher offenbar, dass die Ursache des ersten wie fernem Athmens eine solche ist, welche auf den F\u00f6tus nicht wirken konnte und nach der Geburt sogleich auf das Kind wirkt, und diese Ursache liegt nicht in dem Empfindungsreize der atmosph\u00e4rischen Luft weder auf die Lungen, noch auf die Haut. Sie kann keine andere seyn als das arterielle Blut, welches bei dem ersten Eindringen der Luft in die Athemwerkzcuge entsteht, und in weniger als einer Minute schon bis zum Primuin rnovens aller Athembewegungen im Gehirne, zur Medulla oblongata gelangt und diese zu Entladungen des Nervenprincips in die von ihr abh\u00e4ngigen Bahnen der respiratorischen Nerven erregt. Dass diess die fortdauernde Ursache der Athembewegungen w\u00e4hrend des ganzen Lebens ist, ergiebt sich sehr sch\u00f6n aus den von mir angestellten Versuchen mit Fr\u00f6schen, die ich einige Stunden in Wasserstoflgas athmen Hess, wobei sie nach einiger Zeit zu ath-rnen auf h\u00f6rten, obgleich sie noch lebten. Ihre Athembewegungen treten anfangs wieder auf kurze Zeit ein, wenn man sie r\u00fcttelt in dem verschlossenen Gelasse, sp\u00e4ter werden die Thiere scheintodt. Nimmt man sie nach 2 \u2014 3 Stunden aus dem Gef\u00e4sse an die atmosph\u00e4rische Luft heraus, so scheinen sie wie vollkommen todt; keine Spur von Bewegung oder Empfindung ist an ihnen zu bemerken. Man lege nun ihr Herz bloss. Schl\u00e4gt es gar nicht mehr, so leben sie auch nicht mehr an der atmosph\u00e4rischen Luft auf. Schl\u00e4gt es noch, wenn auch in sehr grossen Pausen, von \u2014 1 Minute, so lasse man den Frosch nur liegen; er lebt in der Regel wieder auf, ohne alle Reizung von aussen, als die all\u2014 m\u00e4hlige Oxydation des Blutes in den Lungengef\u00e4ssen, deren Mangel die Ursache des Scheintodes war. Das mit Oxygen geschw\u00e4ngerte Blut k\u00f6mmt, so schwach und so selten die Herzschl\u00e4ge auch seyn m\u00f6gen, doch zuletzt wieder ins Gehirn, zur Medulla oblongata; die Medulla oblongata f\u00e4ngt wieder an das Nerven-","page":76},{"file":"p0077.txt","language":"de","ocr_de":"1. Unwillk\u00fchrliche und willk\u00fchrliche Bewegungen.\t77\nprincip auszustr\u00f6men. Die ersten Spuren des Wiederauflebens zeigen sich an dein ganz ruhig in der atmosph\u00e4rischen Luft liegenden Frosch daran, dass er auf Kneipen der Haut die Extremit\u00e4ten einzieht; nach einiger Zeit sieht man ihn von Zeit zu Zeit athmen, und nach einigen Stunden sitzt er frisch wieder da. Also die Ursache der ersten und dauernden Erregung der Medulla oblongata zur Entladung des Nervenprincips nach den respiratorischen Muskeln ist das arterielle Blut.\n2. Was ist der Regulator des Rhythmus der Athembewegun-gen? Die Incitation der Medulla oblongata durch das arterielle Blut ist continuirlich, und wenn auch das Blut, isochronisch mit dem Herzschlag, mit st\u00e4rkerem Impuls in die kleinen Arterien str\u00f6mt, so steht doch diese stossweise verst\u00e4rkte Bewegung in keinem Verh\u00e4ltnisse mit den Perioden der Athembewegung. Wie geht nun die best\u00e4ndige Erregung der Medulla oblongata in die periodische Bewegung des Nervenprincips von dieser aus \u00fcber? Die Frage scheint anf\u00e4nglich auch durch eine \u00e4hnliche Supposition l\u00f6slich, wie hei den automatischen Bewegungen des organischen Systems. Befindet sich in der Medulla oblongata irgend eine Isolation, wodurch das sich dort entwickelnde Nervenprincip aufgehalten wird, sich in dem Maasse zu entladen, als es durch die Wirkung des arteriellen Blutes auf die Nervensubstanz entbunden wird, so wird sich dasselbe bis zu dem Momente anh\u00e4ufen , wo es die Isolation durchbricht und in die respiratorischen Nerven \u00fcbergeht. Eine andere L\u00f6sung der Frage w\u00fcrde sieh auf die Thatsaclie gr\u00fcnden, dass entweder die F\u00e4higkeit eines Nerven, einen Strom oder eine Schwingung des Nervenprincips zu leiten, oder die F\u00e4higkeit, der Muskeln, dem vorhandenen Nervenimpuls zu gehorchen, eine begrenzte ist und nach einer gewissen Zeit so lange aufh\u00f6rt, bis sich diese F\u00e4higkeit durch den Le-bensprocess in den Capillargef\u00e4ssen wieder hergestellt hat. In den Muskeln der Extremit\u00e4ten ist diese F\u00e4higkeit offenbar viel gr\u00f6sser, als in den Muskeln, welche dem Athmen dienen ; w'ir sehen diess an der Dauer der willk\u00fchrlichen Bewegungen. Wir k\u00f6nnen sehr lange stehen, ein Gewicht tragen, aber nur kurze Zeit einathmen, nur kurze Zeit ausathmen. Wollen wir das Eine oder Andere l\u00e4nger fortsetzen, so f\u00fchlen wir die Grenze der willk\u00fchrlichen Anstrengung. Jede Muskelbewegung kann aber die l\u00e4ngste Zeit fortgesetzt weiden, wenn sie mit anderen Bewegungen abwechselt. Es fehlt hier nicht an dem Nervenprincip, denn es wird zu anderen Bewegungen verwandt; es fehlt entweder an der Leitungsf\u00e4higkeit der Nerven oder Contractionskraft der Muskeln, wovon die eine oder die andere oder beide vielleicht durch die Bewegung ersch\u00f6pft werden. Die regelm\u00e4ssige Aufeinanderfolge von Einathmen und Ausathmen, die regelm\u00e4ssige Folge von 3 Momenten hei den Fr\u00f6schen deuten ziemlich deutlich an, dass weder die erste, noch die zweite Erkl\u00e4rungsart hinreicht, dass vielmehr in der Medulla oblongata eine unbekannte Ursache bewirkt, dass nach jeder Bewegung des Nervenprincips nach den Inspiratoren, jedesmal die Bewegung desselb en nach den Exspira-toren erfolgt, und umgekehrt, so dass die eine Direction, wie heim","page":77},{"file":"p0078.txt","language":"de","ocr_de":"78 IV. Buch. Bewegung. II. Abschn. V. den verschied. MuskeU/ewegg.\nPendel und bei der Wage, die nothwendige Ursache der entgegengesetzten ist. In der That f\u00fchlt sich am Ende des willk\u00fchrlichen langen Einathmens nicht bloss eine Ersch\u00f6pfung der Athemmuskeln, sondern auch die N\u00f6thigung einer andern Gewalt, welche mit dem Einathmen im Widerspruch stellt; und ebenso findet nach langem Ausathmen die N\u00f6thigung zum Einathmen statt, was wir nur momentan durch Erh\u00f6hen der einen Kraft aufschieben, aber nicht auf die Dauer auf halten k\u00f6nnen. W\u00e4re die Ursache der abwechselnden Bewegung nicht schon in der Medulla oblongata begr\u00fcndet, l\u00e4ge sie bloss in der momentanen Ersch\u00f6pfung der Nerven und Muskeln, so w\u00fcrden Einathmer und Ausathmer willk\u00fchrlich von uns zugleich angestrengt werden, zu gleicher Zeit ausruhen, und zu gleicher Zeit wieder th\u00e4tig werden k\u00f6nnen. Die Ursache der Abwechselung kann auch nicht in dem Gef\u00fchl des Bed\u00fcrfnisses liegen, die mit Kohlens\u00e4ure impr\u00e4gnirte Luft auszutreiben und die reine Luft einzuathmen. Denn nach Durchschneidung des N. vagus am Halse und seines Ramus laryngeus superior auf beiden Seiten, sind alle Athmungsgef\u00fchle noch mehr als im Schlafe aufgehoben, und die periodischen Bewegungen dauern doch bei den Thieren fort. Es ist daher in der Medulla oblongata eine unbekannte Ursache vorhanden, welche das best\u00e4ndig sich entwickelnde Ner-venprincip, abwechselnd in der einen und andern Richtung, entladet. Man hat wohl daran gedacht, dass die von der Verengerung und Erweiterung der Brust herr\u00fchrende Verschiedenheit der V\u00f6lle der Blutgef\u00e4sse in den grossen Venenst\u00e4mmen und den Venen des Gehirns die Ursache jenes Rhythmus seyn k\u00f6nne. Vergl. oben Bd. I. p. 338. Indess bewegt man sich sich bei dieser Hypothese offenbar im Grkel. Ueberdiess zeigen uns die Fische mit ihren periodischen Bewegungen der Kiemendeckel, welche keinen Druck auf die Venen aus\u00fcben k\u00f6nnen, die vollkommene Unabh\u00e4ngigkeit dieser Impulse von \u00e4usseren Einfl\u00fcssen. Die continuirliche Irritation der Medulla oblongata durch das arterielle Blut geht also durch eine noch unbekannte Ursache in eine periodische abwechselnde Entladung des Nervenprincips nach den Nervenfasern der Inspiratoren und Exspiratoren \u00fcber, wovon die eine Entladung immer die Ursache ist, dass die andere antagonistische cintrilt. Empfindungsreizungen in den Respirationswerkzeugen k\u00f6nnen durch Reflexion von der Medulla oblongata zuweilen St\u00f6rungen in dieser Folge hervorbringen; so dass z. B. beim Husten mehrere Ausathmungen Vorkommen, ohne dass jede derselben ein Einathmen hervorruft. Ausser den gew\u00f6hnlichen Athembewegungen treten bei gewissen Zust\u00e4nden des Nervensystems, namentlich bei der Erm\u00fcdung und nach und vor dem Schlafe, zuweilen andere, vom Gehirn abh\u00e4ngige periodische Athembewegungen ein, wie das G\u00e4hnen, welches in einem tiefen Ein- und Ausathmen mit Affection des N. facialis besteht, wobei die im Gesicht sich verbreitenden Aeste Contrac-tionen der Gesichtsinuskdn und der Ast zum Musculus digastri-cus maxillae inf. das weite Oeffnen des Mundes verursacht. Hie-her geh\u00f6rt auch das in Aervenaffectionen periodisch eintretende Seufzen, Schluchzen.","page":78},{"file":"p0079.txt","language":"de","ocr_de":"1. Unwillk\u00efdirlinhe und willkiihrliche Bewegungen.\n79\nDie Atliembewegungen sind nicht die einzigen periodischen, zum t\u00e4glichen Lehensverlauf geh\u00f6renden automatischen Bewegungen, die von den Centraltheilen des Nervensystems abh\u00e4ngig sind. Ein anderes Beispiel bieten uns die Augenmuskeln und die iris im Schlafe dar. Bei dem Schlafenden ist das Auge etwas nach einw\u00e4rts und aufw\u00e4rts gestellt, und die Iris sehr eng, obgleich ganz beschattet. Schon vor dem Einschlafen nimmt das Auge diese Stellung an, und dass die Augen sich nach innen stellen, l\u00e4sst sich deutlich aus der Lage der Doppelbilder erweisen, die der Schl\u00e4frige sieht, wenn er sich, im Begriff'einzuschlafen, mit der Beobachtung \u00fcberrascht. Sie liegen so wie heim Convergiren der Augen vor dem Objecte, das Doppelbild des rechten Auges liegt rechts, des linken Auges links. Es ist oben schon bewiesen worden, dass bei der willk\u00fchrlichen oder unwillk\u00fcrlichen Bewegung der Augen nach innen jedesmal die Iris verengt wird (Bd. I. p. 66.3). Beide vom N. oculomotorius abh\u00e4ngige Ph\u00e4nomene treten nun auch im Schlafe zusammen ein. Es tritt daher im Schlafe jedesmal eine automatische Bewegung dm-Augenmuskeln und der Iris ein, die w\u00e4hrend des Wachens nur willk\u00fchr-Iich hervorgebracht wird. Das Princip der Nerven, w\u00e4hrend des Wachens auf so viele Functionen vertheilt, wird bei diesem Ph\u00e4nomen einer besonderen Provinz des Gehirns und den Leitern jener Bewegungen zugewendet. Vielleicht r\u00fchrt indess die Stellung der Augen nach innen beim Einschlafen und die Verengerung der Pupille im Schlafe bloss von einem antagonistischen Verhalten der verschiedenen Aeste des N. oculomotorius her, so dass diese Bewegungen deswegen jedesmal eintreten, wenn der Levator palpebrae superioris zu wirken auf h\u00f6rt.\n2. Automatische Bewegungen des animalischen Systems mit Typus continens.\nNicht bloss periodisch unwillk\u00fchrliche Bewegungen des animalischen Systems sind von den Centraltheilen des Nervensystems abh\u00e4ngig, gewisse unaufh\u00f6rlich th\u00e4tige Bewegungen, die selten durch Gegendruck eine Unterbrechung erleiden, sind auch von jenen Theilen abh\u00e4ngig. Dahin geh\u00f6ren die Sphincteren des animalischen Systems. Obgleich wir die Action dieser Muskeln will-l\u00fchrlich verst\u00e4rken k\u00f6nnen, so sind sie gleichwohl fortdauernd im Schlafe wie im Wachen contrahirt; wir k\u00f6nnen ihre Th\u00e4tig-keit nicht w illk\u00fchrlich unterbrechen, es sey denn, dass wir durch ihre Antagonisten einen Gegendruck gegen sie aus\u00fcben. Es geh\u00f6rt hieher vorz\u00fcglich der Sphincter ani, auch der Sphincter vesicae, so weit n\u00e4mlich das animalische Nervensystem auch auf diesen Einfluss hat. Die Kraft und die Zusammenziehung dieser Muskeln h\u00e4ngt vom R\u00fcckenmarke ab. Verletzungen desselben sind die Ursache ihrer best\u00e4ndigen Erschlaffung und des un willk\u00fchrlichen AI >gangs der Excremente und des Harns, eine Wirkung, die auch bei deprimirenden Leidenschaften, welche die Kraft des R\u00fck-kenmarks schw\u00e4chen, zuweilen eintritt. Marshall Hall hat ge-zeigt, dass der Sphincter ani der Schildkr\u00f6te noch seine Kraft beh\u00e4lt, so lange nicht der untere Theil des R\u00fcckenmarkes zerst\u00f6rt ist. Die Wirkung der Sphincteren muss von einer unauf-","page":79},{"file":"p0080.txt","language":"de","ocr_de":"80 IV. Buch. Bewegung. II. Absclm. V. den verschied. Muskellewegg.\nli\u00f6rliclien motorischen Erregung der betreffenden Nerven abh\u00e4ngen. Wir werden jedoch bei der Lehre von den antagonistischen Bewegungen Thatsachen kennen lernen, welche beweisen, dass nicht bloss die Sphincteren, sondern eigentlich alle animalischen Muskeln dieser best\u00e4ndigen motorischen Erregung ausgesetzt sind.\nWir sehen nach den bisher betrachteten Thatsachen theils periodische, theils dauernde unwillkiihrliche Bewegungen, vom Gehirne und R\u00fcckenmarke abh\u00e4ngig. Dasselbe beobachten wir in den Krankheiten dieser Organe; sowohl best\u00e4ndige Contractu-ren, als abwechselnde, oft sehr regelm\u00e4ssige Zuckungen, best\u00e4ndiges Wanken des Kopfes, Zittern, und die auch in Perioden eintretenden tonischen Kr\u00e4mpfe sind Ausdruck der Zust\u00e4nde dieser Organe. Die Ursachen dieser Typen sind unbekannt, man weiss nur, dass best\u00e4ndige Contracturen mehr bei ganz \u00f6rtlichen und unver\u00e4nderlichen Degenerationen beobachtet sind, obgleich jede Degeneration auch periodische Krampfanf\u00e4lle verursachen kann. Im Allgemeinen kann man sagen, dass last alle mit Bewegungen verbundene Nervenkrankheiten Anf\u00e4lle machen, und selbst die R\u00fcckenmarksentz\u00fcndung bewirkt, bei gleich fortschreitender Ursache, ihre tetanischen Kr\u00e4mpfe doch in Anf\u00e4llen. Diese Erscheinungen, so wie die Perioden der epileptischen Anf\u00e4lle bei gleichbleibenden Ursachen, scheinen uns zu lehren, dass die Excitabilit\u00e4t der Centralorgane durch dauernde Krankheitsursachen von der dauernden Impression eben so sehr erlischt, wie die Excitabilit\u00e4t der Nerven f\u00fcr Sinneseindr\u00fccke durch die damit verbundene materielle Ver\u00e4nderung der Nerven momentan aufh\u00f6rt, und dass die Reactionsf\u00e4higkeit gegen Einfl\u00fcsse in beiden F\u00e4llen von der w\u00e4hrend der Zeit der Ruhe hergestellten Excitabilit\u00e4t abh\u00e4ngt. Ph\u00e4nomene, welche f\u00fcr alle solche gesunde oder krankhafte Symptome typisch sind, sind das Vergehen des Eindrucks eines lange betrachteten farbigen Fleckens und sein Wiedererscheinen, und jene im Sensorium sich t\u00e4glich erneuende Periodicit\u00e4t des Wachens und Schlafes; denn auch hier h\u00f6ren die Reactionen auf, obgleich die Impressionen fortdauern, und die Reactionen erscheinen gegen die fortdauernden Eindr\u00fccke von selbst wieder.\nIII. Antagonistische Bewegungen. Die Muskelbewegungen treten nicht bloss von Zeit zu Zeit, auf die vom Nervensystem aus erfolgenden Entladungen des Nervenprincips ein. Es sind Gr\u00fcnde vorhanden, anznnehmen, dass besonders im animalischen Muskelsystem die leise Contraction der Muskelfasern niemals ganz auf h\u00f6rt und dass sie auch in den sogenannten Zeiten der Ruhe schw\u00e4cher fortdauert. Man kann diess nicht allein aus der Retraction der durchschnittenen Muskeln des lebenden K\u00f6rpers ersehen, sondern noch entschiedener aus dem Umstande, dass Muskeln von selbst noch einen bedeutenden Grad von Contraction \u00e4us-sern, wenn nur ihre Antagonisten durchschnitten oder gel\u00e4hmt sind. Bei der einseitigen L\u00e4hmung der Gesichtsmuskeln ziehen die Gesichtsmuskeln der entgegengesetzten Seite von selbst die Gesichtsz\u00fcge nach ihrer Seite hin. Bei der halbseitigen L\u00e4hmung der Zunge wird diese best\u00e4ndig nacli der andern Seite","page":80},{"file":"p0081.txt","language":"de","ocr_de":"1, UnwUIk\u00fchrliche und ivillkiihr liehe Bewegungen.\n8:1\nhingezogen. Nach der Exstirpation des mittlern Tlieiies der Unterkinnlade, wodurch die Muskeln ihre Fixation verlieren, welche das Zungenbein vorw\u00e4rts ziehen (vorderer Bauch des digastri-cus, mylohyoideus, geniohyoideus) und welche die Zunge vorw\u00e4rts ziehen (genioglossus), wird das Zungenbein durch den Stylohyoi-deus, und die Zunge durch den Styloglossus so kr\u00e4ftig nach r\u00fcckw\u00e4rts gezogen, dass die gr\u00f6sste Gefahr der Erstickung entsteht. Man sieht aus allem diesem, dass die ruhige Lage verschiedener Tlieile unseres K\u00f6rpers nicht der Ausdruck einer absoluten Ruhe der Muskeln ist, dass vielmehr die verschiedenen Muskelgruppen durch gleiche Gegenwirkung sich das Gleichgewicht halten, und dass jedesmal, wenn die Lage eines Theiles aus seiner mittlern Stellung des sogenannten Zustandes der Ruhe ver\u00e4ndert wird, die Bewegung eines der im Antagonismus begriffenen Muskeln oder mehrerer derselben verst\u00e4rkt wird. Fast an allen Theilen des K\u00f6rpers giebt es antagonistische Gruppen von Muskeln. An den Extremit\u00e4ten sind es die Flexoren und Extensoren, die Supinatoren und Pronatoren, die Abduc.toren und Adductoren, die Rotatoren nach ausw\u00e4rts und einw\u00e4rts. H\u00e4ufig sind auch die B\u00fcndel der Nervenfasern f\u00fcr diese Gruppen in besonderen Nerven vereinigt. Die Beuger der Hand und Finger werden z. B. vom N. medianus und ulnaris, die Strecker vom N. radialis versehen; die Beuger des Vorderarms sind vom N. musculo-cutaneus, die Strecker vom Radialis mit Nervenzweigen versorgt. Die Strecker des Unterschenkels sind vom N. cruralis, die Beuger vom N. ischiadicus abh\u00e4ngig. Die Musculi peronaei, welche den \u00e4ussern Fussrand heben, sind vom N. peronaeus abh\u00e4ngig; der Tibialis posticus ist vom N. tibialis versehen. Die Motoren des Fusses und der Zehen nach r\u00fcckw\u00e4rts abw\u00e4rts sind vom N. tibialis, die Motoren des Fusses und der Zehen in entgegengesetzter Richtung vorriN. peronaeus abh\u00e4ngig. Die h\u00e4ufig in einer Pachtung erfolgenden Kr\u00e4mpfe bei Affectionen des R\u00fcckenmarkes, wie der Opisthotonus, Em-prosthotonus, und Pleurotonus im Wundstarrkrampf zeigen auch, dass in der Anordnung der Fasern in den Centrait!]eilen die gleichzeitige Bewegung der Extensoren oder der Flexoren etc. erleichtert seyn muss; wiewohl Bellingeri\u2019s Ansicht, dass die vorderen Str\u00e4nge des R\u00fcckenmarks der Flexion, die hinteren der Extension dienen, keine erfahrungsm\u00e4ssige Basis hat. Man darf diese Bemerkung jedoch nicht in zu grosser Ausdehnung gelten lassen. Das oben erw\u00e4hnte Factum von der Vertheilung der Nerven ist nicht allgemein. Zuweilen giebt derselbe Nerve Zweige an Antagonisten, wie der Hypoglossus an die Abw\u00e4rtszieher des Zungenbeins und an einen Vorw\u00e4rtszieher desselben; der N. peronaeus an die Musculi peronaei, die den \u00e4ussern Fussrand heben, und an den Tibialis anticus, welcher ihnen entgegen wirkt. Mit der gr\u00f6ssten Leichtigkeit k\u00f6nnen sich antagonistische Muskeln in ihren Wirkungen verbinden. Die Peronaei und der Tibialis anticus werden zu Hebern des Fusses, wenn sie zugleich wirken. Der Plexor radialis und die Extensores radiales der Hand werden Abductoren der Hand, wenn sie zusammen wirken. Auch hat sich der von Ritter angenommene Gegensatz derFlexo-Muller\u2019s Physiologie. 2r IStf, 1,","page":81},{"file":"p0082.txt","language":"de","ocr_de":"S2 IV. Buch. Bewegung. II. Abschn. V. <1. verschied. Muskelbeweg.\nren und Extensoren in Beziehung auf den galvanischen Reiz nicht best\u00e4tigt. Vergl. oben Bd. I. p. 602.\nManche Muskeln sind so angelegt, dass sie nur geringe oder gar keine Antagonisten haben ; in diesem Falle wirken diese Muskeln auch best\u00e4ndig f\u00fcr eine bestimmte Lage der Theile. So sind viele Muskeln vorhanden, um den Oberschenkel nach ausw\u00e4rts zu rollen, wie die Ges\u00e4ssmuskeln, die Obturatoren, der Pyriformis, die Gemelli, der Quadra tus fernoris; die Rollung des Schenkels nach einw\u00e4rts ist nur schwach dem Tensor fasciae latae anvertraut. Daher die unwillk\u00fchrliche Neigung zur Ausw\u00e4rtswendung der ganzen Extremit\u00e4t heim Gehen, Sitzen, Liegen. Muskeln ohne eigentliche Antagonisten sind auch die Sphincteren. Man kann daher die best\u00e4ndige Verschliessung der Oeffnungen durch die Sphincteren allein aus der Thatsache ableiten, dass das Contractionsspiel aller Muskeln auch im Zustande der Ruhe nicht aufh\u00f6rt. Diese Muskeln m\u00fcssen, ohne dass vorzugsweise nach ihnen ein best\u00e4ndiger Strom des Nervenprincips stattfindet, schon deswegen geschlossen seyn, weil sie eigentlicher Antagonisten ermangeln. Sic \u00f6ffnen sich, wenn der Inhalt der Blase, des Mastdarms sich angeh\u00e4uft hat und die dadurch erregte st\u00e4rkere Zusammenziehung der W\u00e4nde den Inhalt gegen sie hintreibt. Die Iris, auch ein Sphincter zieht sich best\u00e4ndig im Wachen und noch st\u00e4rker im Schlafe zusammen. Auch hei gleichem Lichteinflusse im Wachen sieht man best\u00e4ndig die Iris unduliren. Siche Hehle, Eneyclop. IV\u00d6rter b. d. med. Wissensch. Art. Ged\u00e4chtniss.\nDer Antagonismus der Muskelbewegungen ist von grosser pathologischer Wichtigkeit. Durch Aufhebung des Gleichgewichts der Muskelbewegungen k\u00f6nnen Kr\u00fcmmungen entstehen. Der Klumpfuss z. B., welcher sowohl heim F\u00f6tus nach den ersten Monaten der Schwangerschaft, als nach der Gehurt entstehen kann, hat in vielen F\u00e4llen in dem aufgehobenen Gleichgewichte der Muskeln, w'elche den innern und \u00e4ussern Fussrand heben, seine Ursache, und wird auch durch Herstellung dieses Gleichgewichtes oft geheilt. Entweder befinden sich die Muskeln, welche den \u00e4ussern Fussrand heben, Peronaei, in einem halbgel\u00e4hmten Zustande; oder die Muskeln, welche den innern Fussrand heben, in l\u00e4hmungsartiger Contractur. In beiden Fallen muss der \u00e4ussere Fussrand auftreten und der Fuss durch den Tibialis posticus nach einw\u00e4rts gezogen werden. Allm\u00e4hlig \u00e4ndert sich auch die Stellung der Skelettheile in den Gelenken; so dass das Os navi-culare in der Regel nach einw\u00e4rts gewendet wird und der zum Theil enthl\u00f6sste Kopf des Astragalus auf dem R\u00fccken des Fusses eine Hervorragung bildet. Beim Pferdefusse, wo die Ferse hoch erhoben ist und der Fuss auf den Zehen auftrilt, sind die Gastrocnemii in straffer Contractur und doch zuweilen atrophisch. Contractur undAtrophie der Muskeln schliessen sich nicht aus. Es gieht eine l\u00e4hmungsartige Schw\u00e4che der Muskeln mit Contractur derselben (siehe Oli.ivier trait\u00e9 de la moelle \u00e9pini\u00e8re et de ses maladies II. p. 70.9.), und wir haben seihst Contractur der Gastrocnemii mit Atrophie derselben verbunden gesehen.\nWenn auch die Verkr\u00fcmmungen der Wirbels\u00e4ule oft ihren","page":82},{"file":"p0083.txt","language":"de","ocr_de":"1. Unwillkiihrlichc und wiUk\u00fchrliche Bewegungen.\n83\nGrund in scrophul\u00f6ser Entz\u00fcndung der Intervertebralbander und Wirbel mit Erweichung, Aufsclnvellung, Eiterung und Substanzverlust ihren Grund haben, so entstehen sie doch noch h\u00e4ufiger durch das gest\u00f6rte Gleichgewicht der Muskeln des Rumpfes . Dergleichen Skoliosen gehen sich z. B. daran zu erkennen, dass keine Zeichen von Rliachitis vorhanden sind und dass die Verkr\u00fcmmung durch gymnastische Uebungen verbessert wird. Diese Erscheinungen sind also denjenigen analog, welche man hei dem Klumpfuss und Pferdefuss beobachtet. Bei der Vereiterung einer Lunge ist die L\u00e4hmung der Brustmuskeln auf dieser Seile nur scheinbar. Die Brust hebt sich hier nicht, weil die Lunge nicht ausgedehnt werden kann.\nIV. Reflexionsbewegungen.\nDie Natur der Reflexionsbewegungen ist bereits im ersten Bande ( p. 688.) ausf\u00fchrlich erl\u00e4utert; es geh\u00f6ren hieher alle Bewegungen, welche auf urspr\u00fcngliche Erregung von Empfindungsnerven entstehen und wo die Vermittelung der centripetalen und centrifugalen Str\u00f6mung durch das Gehirn und R\u00fcckenmark entsteht. Man kann zwei Hauptgruppen dieser Ph\u00e4nomene unterscheiden.\nA. Reflexionsbewegungen des animalischen Systems.\nHieher geh\u00f6ren die Reflexionsbewegungen der von Gehirn-und Spinalnerven versehenen Muskeln, mag nun die centripetal\u00bb Erregung in den animalischen oder organischen Nerven, z. B. in der \u00e4ussern Haut oder im Darmcanal, entstanden seyn. Der Husten von Reizung der Schleimhaut der Lungen und des Kehlkopfes; das Erbrechen von Reizung der Schleimhaut des Schlundes, Magens, Darms; das Harndr\u00e4ngen und der Stuhlzwang, so weit sie mit ausgebreiteten Muskclbewegungen verbunden werden, von Reizung der Schleimhaut der Urinblase, des Mastdarms; das Niesen von Reizung des Sehnerven und der Nnsennerven; die Bewegung der Iris von Reizung des Sehnerven; die Zusammenziehung des Schlundes von der Ber\u00fchrung der Schleimhaut desselben, und so viele, ja unz\u00e4hlige Ph\u00e4nomene, die fr\u00fcher hei der Lehre von den Reflexionsbewegungen ihre Erkl\u00e4rung gefunden, geh\u00f6ren hieher. Desgleichen jene Menge der sogenannten sympathischen Kr\u00e4mpfe in Krankheiten, die Emplindungsreizungen bewirken, und jene so leicht und von so vielen Orten ans erregbare Conv\u00fclsibiiit\u00e4t der Kinder, der Weiber etc. Die Reflexionsbewegungen auf Empfindungsreize sind mcistentheils vor\u00fcbergehende oder auch anhaltende Zusammenziehungen der will-k\u00fchrlichen Muskeln. Bei einem hohen Grade der Irritation des R\u00fcckenmarkes durch Einplindungsreize k\u00f6nnen die unw\u00fclk\u00fchrli-ehen Reflexionsbewegungen der willk\u00fchrlichen Muskeln auch schnell wiederholte rhythmische Contractionen seyn. So z. B. das Zittern bei Application der Moxen, bei langem Aufenthalt im kalten Bade, das eben dann auch erfolgende Z\u00e4hneklappern. Am merkw\u00fcrdigsten sind indess in dieser Hinsicht die rhythmischen Contractionen der Dammmuskeln nach woll\u00fcstiger Reizung der-\n<U","page":83},{"file":"p0084.txt","language":"de","ocr_de":"SI IV. Buch. Bewegung. U. Absr.hn. V. d. verschied. Muske/hetveg.\nGenitalien, die rhythmische Austreibung des Samens durch diese Bewegungen. Diess ist um so merkw\u00fcrdiger, als die Samenblasehen sich nicht rhythmisch, sondern anhaltend wurmf\u00f6rmig zu bewegen scheinen. Durch die letztere Bewegung gelangt der Inhalt ununterbrochen in die Harnr\u00f6hre; durch die rhythmischen Contraclionen des M. bulbocavernosus wird der Inhalt in der Harnr\u00f6hre weiter bef\u00f6rdert.\nB. Reflexionsbewegungen des organischen Systems.\nHieher geh\u00f6ren die Reflexionsbewegungen der nur unwill-k\u00fchrlich beweglichen Muskeln, mag nun die centripelale, zuerst auf das Gehirn und R\u00fcckenmark verpflanzte Erregung von Gehirn- und R\u00fcckenmarksnerven oder von Organen ausgegangen seyn, die vom organischen Nervensystem versehen sind. Die hieher geh\u00f6rigen Ph\u00e4nomene sind auch bereits oben Bd. I. p. 71b. u. f. in extenso untersucht. Von allen Stellen des K\u00f6rpers aus kann die Bewegung des Herzens durch Reflexion einer Empfindungsreizung ver\u00e4ndert werden, wobei das R\u00fcckenmark auch wieder die Mittelsperson spielt. Eine Bemerkung, die wir fr\u00fcher hei dieser Materie nicht gemacht haben, muss jedoch hier hervorgehoben werden. Es handelt sich um den Antheil der Reflexion an dem, was wir Fieber nennen. Diese Umbra morbi, welche sich in so vielen Theilen des K\u00f6rpers ausspricht und doch in der Regel, vielleicht immer einen ganz localen Grund hat, ist nicht allein mit Ver\u00e4nderungen des Herzschlages (und deswegen auch des Pulses) verbunden, sie spricht sich in einem Complex von Symptomen aus, die ihre Verbindung nur durch das R\u00fcckenmark finden. Die allgemeine Empfindung der Heftigkeit einer Krankheit, diese Lassitudo kann nichts anders als der Ausdruck der Impression seyn, welche eine heftige \u00f6rtliche Krankheit auf das R\u00fcckenmark macht. Die Gef\u00fchle der Hitze und K\u00e4lte, die Schauder, sind Symptome, welche sich auf den Zustand jenes Organes gr\u00fcnden. Die Ver\u00e4nderung der meisten Absonderungen vom organischen sowohl als animalischen Theil des Leibes kann auch nur in jenen, wenn nicht beide Systeme gleich beherrschenden, aber doch regulirenden Centralorganen ihre Erkl\u00e4rung finden. Dass Delirien dabei Vorkommen oder nicht, dr\u00fcckt nur die St\u00e4rke der Impression auf die Centralorgane aus. Wenn nun alle diese Erscheinungen von einer \u00f6rtlichen Ursache ihre Erkl\u00e4rung nicht in den r\u00e4thselhaften Eigenschaften des Svmpathicus, sondern in der bekannten Reilexionsf\u00e4higkeit des R\u00fcckenmarks und Gehirns finden, so ist auch die hei dem Fieber constante Ver\u00e4nderung des Herzschlags und seine H\u00e4ufigkeit als Ausdruck der Reflexion zu betrachten. Die \u00f6rtlichen Affectionen der Gehirn- und R\u00fcckenmarksnerven erregen nicht leicht eine solche Impression auf das R\u00fcckenmark, die wir Fieber nennen; sie bewirken zwar auch oft Reflexionserscheinungen, z. B. Kr\u00e4mpfe, aber nicht jenen Complex von Erscheinungen des h\u00e4ufigen Herzschlags, der ver\u00e4nderten Absonderungen, Empfindungen und W\u00e4rmeerzeugung bis zum Delirium. Dagegen entstehen die Fiebersyrnplome durch nichts","page":84},{"file":"p0085.txt","language":"de","ocr_de":"1. Unwillk\u00fchrliche und wUlkiihrliche Bewegungen.\n85\nleichter, als durch eine heftige Ver\u00e4nderung der organischchemischen Actionen in den Capillargef\u00e4ssen irgend eines Thei-les, sey es nun Ver\u00e4nderung des Zustandes der Schleimh\u00e4ute oder Entz\u00fcndung in irgend einem Organe. Da nun bei diesen Ver\u00e4nderungen das organische Nervensystem nicht allein eine Rolle spielen, sondern noch sicherer die Impression auf das R\u00fck-kenmark und Gehirn verpflanzen muss, so liegt es sehr nahe anzunehmen, dass die bei dem Fieber von einem Organ aus auf das R\u00fcckenmark oder auch zugleich auf das Gehirn verpflanzte und von dort aus weiter reflectirte Impression von einer heftigen Mitleidenschaft der organischen Nerven irgend eines Organes bei Entz\u00fcndung und anderer Reizung ausgehe. Siehe \u00fcber Fieber \u00fcbrigens auch den Artikel Harn.\nV. Associirte Bewegungen, Mitbewegungen.\nDie hieb er geh\u00f6rigen Ph\u00e4nomene sind auch bereits in der Nervenpliysik Bd. I. p. 6\u00d62. zergliedert worden. Das Eigenth\u00fcm-liche derselben besteht darin, dass der Impuls zu einer an sich willk\u00fchrlichen Bewegung eine unwillk\u00fchrliche zugleich hervorruft; wie die Bewegung der Iris mit der Stellung des Auges nach Innen eintritt. Die Association der Bewegungen ist um so gr\u00f6sser, je weniger ausgebildet das Nervensystem ist. Durch die Erziehung erst lernen wir den Nerveneinfluss bei der willk\u00fchrlichen Bewegung auf eine gewisse Summe der vom Gehirn abgehenden Primitivfasern isoliren. Der Ungeschickte macht viele associirte Bewegungen mit einer intendirten willk\u00fchrlichen. Der Clavierspieler hingegen zeigt uns das andere Extrem, wo die Isolation des Nerveneinflusses auf gewisse Gruppen der Bewegungen den h\u00f6chsten Grad erreicht hat. Der Mangel der Isolation bedingt im Gesicht den ungebildeten Ausdruck; die Ausbildung derselben hingegen ist zum grossen Theil Ursache der Bestimmtheit, Sch\u00e4rfe und des Ausdruckes der Gesichtsz\u00fcge. Bewegungen, welche sich leicht associiren, sind theils die gleichnamigen der einen und andern Seite, theils die von demselben Nervenstamme abh\u00e4ngigen. Ein Beispiel der erstem ist die immer gleichzeitige Bewegung der Iris in beiden Augen; selbst im Gesicht und an den Extremit\u00e4ten ist die Tendenz zu dieser Mitbewegung vorhanden. Die einseitige Bewegung des Augenliedes, der Ohrmuskeln ist schwer und manchem unm\u00f6glich, und bei der Aus\u00fcbung schnell aufeinander folgender entgegengesetzter Rotationen mit beiden Armen f\u00fchlen wir einen innern Widerstand, der diese Bewegungen best\u00e4ndig st\u00f6rt, so dass sie unwill-k\u00fchrlicli in gleichartige Bewegungen beider Extremit\u00e4ten \u00fcbergehen.\nEinige der merkw\u00fcrdigsten Tbatsachcn von Mitbewegung und Antagonismus finden an den Augenmuskeln statt. Die gleich namigen Zweige der N. oculomotorii beider Augen sind n\u00e4mlich in einer angebornen und aus Uebung nicht zu erkl\u00e4renden Tendenz zur Mitbewegung. Wir k\u00f6nnen immer nur beide Augen zugleich nach oben, oder beide nach unten, oder beide nach innen drehen, und niemand vermag das eine Auge nach abw\u00e4rts und zugleich das andere nach aufw\u00e4rts zu wenden. Da diese","page":85},{"file":"p0086.txt","language":"de","ocr_de":"S6 IF. Buch. Bewegung. ll. Ahschn. V. d. verschied, Muskelbeweg.\nTendenz zur Mitbewegung von der Geburt an und vor der Erziehung des Gesichtssinnes stattfindet, so kann sie nur in der Organisation der Urspr\u00fcnge der N. oculomotorii liegen. So auffallend nun die Tendenz zur Mitbewegung in den gleichnamigen geraden Augenmuskeln, welche vom N. oculomotorius versehen werden, ist, so merkw\u00fcrdig ist der Mangel dieser Tendenz zur Mitbewegung in den geraden \u00e4usseren Muskeln beider Au\u00e7en und in den beiden N. abducentes. Wir k\u00f6nnen zwar in einem gewissen Grade beide N. abducentes und dadurch die \u00e4usseren geraden Muskeln beider Augen zugleich wirken lassen, indem wir die Convergenz der Sehachsen vermindern und die Augen bis zur parallelen Stellung der Sehachsen f\u00fchren; aber hier ist auch die Grenze; und niemand vermag, hei noch so grosser Anstrengung die Augen zur Divergenz zu bringen. Der Grund davon liegt nicht in der Schw\u00e4che der Musculi recti extend, noch in der Art ihrer Insertion, denn diese sind gerade, wie hei den \u00fcbrigen geraden Augenmuskeln; diese Erscheinung entspringt auch nicht aus der Angew\u00f6hnung; denn sie ist auch angeboren und der Neugeborne, obgleich er noch nichts zu fixiren vermag, kann seinen Augen jede Stellung, aber keine divergirende gehen. Aus dem Antagonismus des Rectus internus, der vom N. oculomotorius versehen ist, kann die Erscheinung auch nicht erkl\u00e4rt werden. Der Rectus externus eines einzelnen Auges kann durch Wirkung des N. ahducens dieses Auge ganz nach aussen stellen ; der Ahducens des andern Auges kann es auch an diesem Auge allein ; aber beide Abducentes k\u00f6nnen durchaus nicht zugleich die Wirkung ausf\u00fchren, die jeder einzelne allein aus\u00fcben kann. Kurz es ist Thalsache, dass die gleichnamigen Aeste des N. oculomotorius beider Augen eine angeborne Tendenz und N\u00f6thigung zur Mitbewegung haben, und dass diese Tendenz den N. abducentes beider Augen nicht allein fehlt, dass vielmehr die starke Wirkung des einen die Wirkung des andern ausschliesst. Diese pr\u00e4stabilirten Gewalten in beiderlei Nerven sind f\u00fcr die Bewegungen der Augen zum Zweck des Sehens von der gr\u00f6ssten Wichtigkeit. Wir wollen einmal die Voraussetzung machen, die Natur h\u00e4tte statt des N. ahducens einen Ast des N. oculomotorius zum Musculus rectus externus gehen lassen, so w\u00fcrde hei der Tendenz zur Mitbewegung in gleichnamigen Aesten der Oculomotorii beider Augen allerdings die Divergenz der beiden Augen so leicht sevn, wie sie es jetzt nicht ist, so leicht, als jetzt die Convergenz ist; aber die gleichzeitige Bewegung beider Augen, des einen nach aussen, des andern nach innen, mit Parallelismus oder Convergenz der Sehachsen, wie wir die Augen hei dem schiefen Blick auf seitliche Gegenst\u00e4nde richten, w\u00fcrde dann nicht m\u00f6glich sevn. Der Musculus rectus externus des einen Auges wird mit dem Rectus externus des andern Auges die Tendenz zur Mitbewegung haben, gerade so, wie es hei den gleichnamigen Aesten des Oculomotorius beider Augen ist. Beide Augen w\u00fcrden also gleichzeitig entweder nach oben durch den Rectus superior, oder gleichzeitig nach unten durch den Rectus inferior, oder gleichzeitig nach innen durch den Rectus internus,","page":86},{"file":"p0087.txt","language":"de","ocr_de":"1. Un lu Ulk \u00e4hr lie h c und willkiihrliehe Bewegungen.\n87\noder gleichzeitig nach aussen durch den Rectus externus gezogen werden; die Wendung des einen Auges nach innen, des andern nach aussen w\u00e4re dann gar nicht m\u00f6glich. Dass diese Bewegung m\u00f6glich wird, war ein eigener Nerve der N. ahducens noting, der keine Tendenz zur Mitbewegung mit dem der andern Seite hat. Nun kann das eine Auge A durch den Ahducens nach aussen, das andere B durch den Rectus internus nach innen bewegt werden. Bei der Tendenz zur Mitbewegung beider Recti intend wird zwar auch in dem Auge A eine Tendenz zur Stellung nach innen entstehen; diese wird aber durch die st\u00e4rkere Wirkung des N. ahducens auf A \u00fcberwuuden. Diese nolhwendige st\u00e4rkere Bewegung des Musculus ahducens f\u00fchlen wir in der That bei der mit Anstrengung verbundenen Bewegung eines Auges ganz nach aussen. Diese aus sicheren Thatsacben folgende Theorie erkl\u00e4rt vollkommen die bisher f\u00fcr unerkl\u00e4rlich gehaltene Thatsache, dass der Musculus rectus externus hei allen Wirbelthieren einen eigenen Nerven, den N. ahducens erh\u00e4lt. Vgl Jessen, Beitr\u00e4ge z. Erkenntnis d. psychisch. Lehens. 1831. 183.\nAuf diese Art l\u00e4sst es sich auch erkl\u00e4ren, warum der obere schiefe Augenmuskel einen eigenen Nerven, den N. trocldearis, erhalten musste, der gleichfalls nicht die Tendenz zur Mitbewegung mit dem der andern Seite hat. Wir m\u00fcssen zuerst die Wirkung der Musculi obliqui feststellen. Der Musculus obliquus inferior zieht das Auge nach innen und oben, wie man sich leicht an der Leiche, hei unversehrter Augenh\u00f6hle \u00fcberzeugen kann, wenn man den Obliquus inferior von vorn pr\u00e4parirt und dann gegen seinen Ursprung anzieht. Der Obliquus superior dreht oder rollt das Auge nach unten und etwas aussen. Bell hat diess schon aus Versuchen an Thieren und an Leichen bewiesen. Untersuchungen des Nervensystems, p. 153. Bei einem von mir angestellten Versuche, wo ich den Muskel ohne gr\u00f6ssere Verletzung von oben blosslegte, ohne dass das Auge von seinem Fettpolster verr\u00fcckt wurde, und dann den Muskel anzog, sah ich immer das Auge sich im Segment eines Cirkels nach unten und ein wenig nach aussen rollen. Die Ausw\u00e4rtsbewegung ist viel geringer als die Einw\u00e4rtsbewegunng durch den Musculus obliquus inferior. Wirken beide Muskeln zusammen oder zieht man sie zugleich gegen ihre Urspr\u00fcnge an, so wird das Auge vorgezogen und nach innen gestellt. Der Musculus obliquus superior hat keine Tendenz zur Mitbewegung mit dem der andern Seite, sein Nerve verh\u00e4lt sich in dieser Hinsicht, wie der N. ahducens. Bei der Bewegung des einen Auges nach aussen und unten, geht das andere Auge nicht auch nach aussen und unten, sondern nach innen und unten; diess Verh\u00e4ltnis ist ange-bo ren; cs beweist, dass die Bewegung des Musculus obliquus superior in einem Auge durch den N. trochlearis die Th\u00e4tigkeit des Trochlearis des andern Auges ausschliesst. Mit dem Obliquus inferior ist es ganz anders; er stellt das Auge nach innen und oben durch einen zur Mitbewegung geneigten Zweig des N. ocu-lornotorius; diese Bewegung ist hei beiden Augen gemeinschaftlich leicht und erfolgt sogar unwillk\u00fchrlich im Schlafe. Man","page":87},{"file":"p0088.txt","language":"de","ocr_de":"88 IV. Buch. Bewegung. II. Alschn. V. d. verschied. Muskelhecveg.\nkann diese Stellung des Auges im Sclilai'e und in Nervenzufallen als den Ausdruck der gleichzeitigen Bewegung aller Zweige der Aeste des N. oculomotorius zu den Augenmuskeln versehen. Die Muskeln sind auch im Zustande der Ruhe ein wenig contrahirt. (Siche oben p. 81.) Denkt man sich nun alle Aeste des N. oculomotorius zu den Augenmuskeln schwach incitirt, so m\u00fcssen Leide Augen nach innen und oben gestellt werden. Der Rectus superior und inferior halten sich das Gleichgewicht; der Rectus internus zieht cs nach einw\u00e4rts und der Ohliquus inferior nach oben und einw\u00e4rts, und da die gleichnamigen Aeste des N. oculomotorius f\u00fcr beide Augen die Tendenz zur Mitbewegung haben, so ist diese Stellung beider Augen gleichzeitig nach innen und oben. Wir wollen nun wieder den Fall zergliedern, wenn die Natur statt des N. ahducens einen Ast des N. oculomotorius zum Piectus externus abgegeben h\u00e4tte; dann w\u00e4re die gleichzeitige Bewegung des einen Auges nach innen und oben, des andern nach aussen und oben, wie sie so oft geschieht, nicht m\u00f6glich. Der Ohliquus inferior des Auges A und die gleichzeitige Wirkung des Rectus internus und superior w\u00fcrden das Auge nach innen und oben steilen. Die zur Mitbewegung tendirenden Mus-culi rectus internus und superior des Auges B w\u00fcrden dieses auch nach innen und oben stellen, also die senannte Stellung nicht m\u00f6glich seyn.\nEs war also auch f\u00fcr diese Bewegung ein eigener Nerve, der N. ahducens, noting, der keine Tendenz zur Mitbewegung mit dem des andern Auges bat. Wirken am Auge A Muscuius ob-lifjuus inferior, Rectus internus und superior und wird es nach innen und oben gestellt, so kann das Auge B trotz der gleichzeitigen Bewegungstendenzen dieser Muskeln an diesem Auge durch verst\u00e4rkte Wirkung des N. ahducens nach aussen, und durch Zusammen Wirkung des Rectus externus und Rectus superior nach oben und aussen gef\u00fchrt werden. Ehen so ist es hei der gleichzeitigen Stellung des einen Auges nach unten und innen, des andern nach unten und aussen. 1st das Auge A durch den Rectus internus und Rectus inferior nach innen und unten gestellt, so drehen der zur Mitbewegung geneigte Rectus inferior und der N. ahducens das Auge B nach aussen und unten. Diese letztere Bewegung wird verst\u00e4rkt durch den N. troch-learis, der keine Tendenz zur Mitbewegung in dem gleichnamigen des andern Auges hervorruft. Der N. trochlearis geh\u00f6rt \u00fcbrigens auch zu den pbysiognomiseben Nerven.\nDie Mithewegung der Iris mit der verst\u00e4rkten Action des N. oculomotorius haben wir schon oben Bd. 1. p. 663. erl\u00e4utert. Wenn die von diesem Nerven abh\u00e4ngigen Muskeln an beiden Augen auch nur schwach unwillk\u00fchrlieh sich zusammenziehen, wie es alle Muskeln im Zustande der sogenannten Ruhe noch thun, so werden beide Augen nach innen und oben gestellt, denn der B.ectus superior und inferior halten sich das Gleichgewicht, der Rectus internus und ohliquus inf. stellen cs nach innen und oben. Diese Action des Oculomotorius ist immer mit der Tendenz zur Mithewegung in der vom N. oculomotorius kommenden kurzen","page":88},{"file":"p0089.txt","language":"de","ocr_de":"1. Vnwillkiihrliehe und w\u00fclk\u00fchrliche Bewegungen.\n89\nWurzel des Ganglion ciliare und daher mit Zusammenziehung der Iris verbunden. Da der Nervus ahducens mit dem der andern Seite keine Tendenz zur Mitbewegung hat und eben so wenig der N. trochlearis, so muss das Auge im Zustande des Schlafes durch die zur Mitbewegung geneigten Muskeln beider Augen nach innen und oben gestellt werden und eben so noth-wendig die Iris im Schlafe zusammengezogen seyn. Die will-k\u00fchrliehe Stellung der Augen nach innen und nach innen und oben durch Mitbewegung beider Augen, macht auch die Iris zusammengezogen, weil sie sich jedesmal mit der verst\u00e4rkten Action des Oculomotorius zusammenzieht. Siehe oben Bd. I. p. 663. Der N. ahducens steht hingegen mit der Action des N. oculomotorius im Antagonismus. Wird das Nervenprincip dem N. ahducens zugewandt; wird auch nur ein Auge nach ausw\u00e4rts gezogen, so wird auch die Iris regelm\u00e4ssig wieder weit und noch mehr, wenn beide Augen bis zum Parallelismus der Sehachsen abgezogen werden.\nAuch die organischen Muskeln sind den Gesetzen der Association oder Mitbewegung einigermassen unterworfen. Je mehr Muskeln unseres K\u00f6rpers willk\u00fcbrlich und je l\u00e4nger sie angestrengt werden, um so mehr tritt eine Ver\u00e4nderung des Herzschlages ein; die dabei erfolgende H\u00e4ufigkeit des Herzschlages l\u00e4sst sich n\u00e4mlich nicht allein aus der St\u00f6rung des Kreislaufes erkl\u00e4ren, wie bereits oben Bd. I. p. 722. mit Gr\u00fcnden bemerkt wurde. Die Bewegung der willk\u00fchrlichen Muskeln hat auch Einfluss auf die des Darmcanals; je mehr wir die Muskelbewegung vers\u00e4umen, um so leichter tritt auch ein Zustand der Tor-pidit\u00e4t im Tractus intestinalis ein, und jedermann ist bekannt, wie vortheilhaft die Muskelbewegungen des animalischen Systems auf die Regelm\u00e4ssigkeit der Bewegungen des Darmcanals und die Regelm\u00e4ssigkeit der Excretionen einwirken.\nVI. Bewegungen, welche von Zust\u00e4nden der Seele ahh\u00fcngen.\nDie hieher geh\u00f6rigen Bewegungen bilden 3 Classen ; Bewegungen, die durch blosse Vorstellungen bedingt werden; leidenschaftliche Bewegungen; w\u00fclk\u00fchrliche Bewegungen.\nA. Bewe gungen auf Vorstellungen.\nGewisse Gruppen der Muskeln des animalischen Systems sind best\u00e4ndig in einer Disposition zu unwillk\u00fchrlichen Bewegungen wegen der Leichtigkeit der Affection ihrer Nerven, oder vielmehr der Reizbarkeit der Hirntheile, von welchen sie entspringen. In diesem Falle befinden sich alle respiratorischen Nerven, den N. facialis eingeschlossen. Diese Reizbarkeit, diese Neigung zu Entladungen zeigt sich schon in dem von Zeit zu Zeit aus inneren Ursachen eintretenden Niesen; aber auch die Zust\u00e4nde der Seele k\u00f6nnen die Entladung des Nervenprincips nach den Athemmus-keln bedingen. Jeder schnelle Uebergang in den Zust\u00e4nden der Seele ist im Stande eine Entladung nach diesen Nerven von der Medulla oblongata aus zu bewirken. Das Sensorium wirkt hier gerade so, wie der einzelne Nerve, in dem jede schnelle Ver\u00e4nderung seines Zustandes, auf was immer f\u00fcr eine Art, das Nervenprincip in Th\u00e4tigkeit setzt (Vergl. p. 62.). Hiernach ist es zu beurtheilen, dass selbst ohne alle Leidenschaft ein so schneller","page":89},{"file":"p0090.txt","language":"de","ocr_de":"DU IV. Buch. Bewegung. II. Ahschn. V. d. verschied. Muskelbeweg.\nUebergang der Vorstellungen, wie er bei dem Eindruck des L\u00e4cherlichen stattfindet, jene Entladung bewirkt, die sich dann in den Gesichtsmuskeln und Athernmuskeln \u00e4ussert.\nHieher geh\u00f6rt auch das G\u00e4hnen, insofern es durch die Vorstellung des G\u00e4hnens oder durch das H\u00f6ren oder Sehen des G\u00e4hnens veranlasst werden kann. Die Disposition zu den respiratorischen und Gesichtsbewegungen des G\u00e4hnens ist n\u00e4mlich dann schon vorher da gewesen; sie tritt in Erscheinung, indem durch die Vorstellung die Bewegung des Nervenprincips die bestimmte Direction erh\u00e4lt. Auch bei dieser Bewegung wirken die Respirationsnerven und der N. facialis sowohl mit seinen Gesichts\u00e4sten, als dem sich \u00fcber den Musculus digastricus verbreitenden Aste. Pl\u00f6tzlich hervorgerufene Vorstelbingen von furchtbaren oder ver-absclieuungsw\u00fcrdigen Gegenst\u00e4nden erregen, auch wenn sie durch blosse erdichtete Erz\u00e4hlungen hervorgerufen werden, bei reizbaren Menschen zuweilen die Muskelbewegung des Schauders, und dasselbe geschieht zuweilen bei der blossen Vorstellung eines ekelhaften Arzneistoffes; ja die Vorstellung des ekelhaften Geschmackes kann sogar Vomiturition hervorbringen.\nB. Bewegungen durch Leidenschaften.\nDer respiratorische Theil des Nervensystems ist auch voxzugsweise der unwillk\u00fcbrlicben Bestimmung durch leidenschaftliche Seelenzust\u00e4nde unterworfen. Es best\u00e4tigt sich hier wieder, dass jede schnelle Ver\u00e4nderung im Gehirn, welche aut die Medulla oblongata sich fortpflanzt, sogleich den Modus der Athem-bewegungen, die Wirksamkeit aller Athemnerven mit Einfluss des respiratorischen Nerven des Gesichts ver\u00e4ndert. Die Natur der Leidenschaften, welche Spinoza im 3. und 4. Theil seiner Ethik aufgekl\u00e4rt hat, wird erst im 6. Buch dieses Handbuchs untersucht werden. Man kann hier nur so viel erw\u00e4hnen, als zum Verst\u00e4ndniss des Folgenden n\u00f6thig ist. Der Grund aller Ge-ln\u00fcthsbewegung ist nach Spinoza, dessen un\u00fcbertrefflicher und von Niemand erreichter Zergliederung der Leidenschatten wir durchaus folgen, das Streben der Seele, einen bestimmten Zustand zu behaupten, und was diesem Zustand gem\u00e4ss ist, zu erzielen. Wird diese best\u00e4ndig in der Seele vorhandene Affirmation, was ihrem jedesmaligen Zustand n\u00fctzlich ist, zu behaupten, durch ein Object gef\u00f6rdert, so ist die Gem\u00fcthsbewegung Fr eu de, und indem das Object, was so wirkt, was. f\u00fcr n\u00fctzlich und in diesem Sinne gut gehalten wird, bald h\u00f6herer, bald niederer Art und nach seiner Natur wieder sehr verschieden ist, entstehen -verschiedene Leidenschaften, deren Grundzustand allgemein derselbe ist, und welche bloss nach dem Object, welches dem Beharrungsstreben der Seele angemessen ist, verschieden sind. Alle Gem\u00fcthsbewegungen oder Leidenschaften dieser Art kann man reizende, incitirende nennen. Wird hingegen die best\u00e4ndig in der Seele vorhandene Affirmation, einen bestimmten Zustand, den sie f\u00fcr n\u00fctzlich, gut h\u00e4lt, zu behaupten, durch irgend etwas gehemmt, so ist die Gem\u00fcthsbewegung Niedergeschlagenheit, und je nachdem das Object, was f\u00fcr gut gehalten wird, verschieden ist, entstehen aus dieser zweiten Grund-","page":90},{"file":"p0091.txt","language":"de","ocr_de":"1. Unwillk\u00fcrliche und willk\u00fchrlichc Bewegungen.\n91\nleidensehaft wieder verschiedene Gem\u00fcthsbewegungen. Das Streben selbst, das f\u00fcr gut und einem gewissen Seelenzustande f\u00fcr zweckmassig Erscheinende zu erzielen, ist das Begehren, welches wieder nur nacli seinen Objecten verschieden ist. Viele Leidenschaften sind zusammengesetzt, theils durch den Kampf mehrerer der obigen elementaren Gem\u00fcthsbewegungen, theils durch die Objecte. Spinoza hat sie sammtlich nach einer mathematischen Methode analysirt und eine Art Statik der Leidenschaften gegr\u00fcndet, welche uns mit der gr\u00f6ssten Bestimmtheit zeigt, was hei einem Menschen in dem Conflict der Leidenschaften geschehen muss, so lange er als bewegt und unfrei gedacht wird. Die kalte Vernunft allein wirkt allen Leidenschaften zugleich entgegen, sie allein affirmirt nur das Vern\u00fcnftige, der Seelenzustand in der Leidenschaft nur das augenblicklich f\u00fcr zweckm\u00e4ssig, n\u00fctzlich, f\u00fcr relativ gut Gehaltene, welches in Beziehung auf die Forderungen der Vernunft bald gut, bald auch schlecht seyn kann.\nDass das affective Princip in einer besondern Provinz des Sensoriums residire, von wo aus es seine Wirkungen ausstrahle, l\u00e4sst sich bei dem Mangel aller Gr\u00fcnde weder beweisen, noch widerlegen. Die Wirkungen erfolgen \u00fcbrigens nach allen Richtungen der motorischen Leiter, welche je nach dem Zustande der Leidenschaft entweder excitirt oder geschw\u00e4cht und gar pa-ralysirt werden.\nIn den excitirenden Leidenschaften erfolgen Spannungen und oft seihst convulsivische Bewegungen, namentlich der von den respiratorischen Nerven und dem N. facialis abh\u00e4ngigen Muskeln. Nicht allein wird das Gesicht verzerrt, auch die Athembewegun-gen werden bis zum Weinen, Seufzen, Schluchzen ver\u00e4ndert. Jede heftige Leidenschaft, von was immer f\u00fcr einer Art, kann Weinen und Schluchzen hervorbringen. Man kann vor Freude, Schmerz, Zorn, Wuth weinen. In den deprimirenden Leidenschaften, wie in der Angst, in der Furcht, im Schrecken sind alle Muskeln des ganzen K\u00f6rpers abgespannt, indem der motorische Einfluss des Gehirns und R\u00fcckenmarkes abnimmt. Die F\u00fcsse tragen nicht, die Gesichtsz\u00fcge werden hangend, das Auge starr, der Blick wie gebannt und kaum der ausweichenden Bewegung f\u00e4hig, die Stimme wird unterdr\u00fcckt und vergeht. Manche Gem\u00fcthsbewegungen sind gemischt, indem die Seele von einer deprimirenden Vorstellung nicht frei werden kann, aber das Selbsterhaltungsstreben excitirend wirkt auf Entfernung der bedr\u00e4ngenden Einfl\u00fcsse. In diesen gemischten Leidenschaften kann der Ausdruck der Abspannung in gewissen Muskeln, namentlich des Gesichts, mit der Th\u00e4tigkeit anderer verbunden seyn; m\u00f6gen nun die durch Abspannung gewisser Muskeln frei gewordenen Antagonisten die Gesichtsz\u00fcge in einer Richtung bewegen oder diese Muskeln selbst convulsivisch bewegt werden. Oft auch, sowohl in den gemischten als in den deprimirenden Leidenschaften, tritt ein Zittern, Beben einzelner Gesichtsmuskeln ein. Die willk\u00fchrliche Bewegung eines in der Leidenschaft halb gel\u00e4hmten Muskels wird auch zitternd werden m\u00fcssen, weil er nicht mehr ganz dem Einfl\u00fcsse des Willens gehorcht. Wir erfahren diess na-","page":91},{"file":"p0092.txt","language":"de","ocr_de":"\u00ce12 IV. Buch. Bewegung. II, Ahsclm. V. d. verschied. Muskelbecveg.\nmentlicli an den Gesichtsmuskeln, wenn wir sie in einer depri-mirenden oder gemischten Leidenschaft bewegen wollen; diese Muskeln zittern dann und auch die Muskeln des Stimmorganes Lehen, und die versuchte Sprache wird behend.\nDer sensibelste Leiter leidenschaftlicher Zust\u00e4nde ist der N. facialis; es ist der physiognomische Nerve, und sein Umfang nimmt schon bei den S\u00e4ugethieren in dem Maasse ab, als die Gesichtsz\u00fcge an beweglichem Ausdruck verlieren. Bei den V\u00f6geln hat er keinen Einfluss mehr auf den Ausdruck des Gesichtes ; nur seine in den Zungenheinmuskeln und im Hautmuskel des Halses sich verbreitenden Zweige sind noch \u00fcbrig, und die Str\u00e4u-Lung der Haut des Halses oder bei einigen V\u00f6geln der Ohrfedern ist der einzige Ausdruck, wodurch er noch leidenschaftliche Zust\u00e4nde darstellt. Ausser dem N. facialis werden die respiratorischen Nerven, sowohl die inneren, wie die Kehlkopfnerven und der Zwerchfellncrve, als die \u00e4usseren, der Brust- und Bauchmuskeln, in den Leidenschaften leicht aflicirt. Bei st\u00e4rkeren Gemiiths-bewegungen verbreitet sich jedoch die Wirkung auf alle K\u00fcckenmarksnerven bis zur unvollkommenen L\u00e4hmung und zum Zittern.\nDer so \u00e4usserst verschiedene Ausdruck der Gesichtsz\u00fcge in den verschiedenen Leidenschaften zeigt, dass je nach der Art der Seelenzust\u00e4nde ganz verschiedene Gruppen der Fasern des N. facialis in Th\u00e4tigkeit oder Abspannung gesetzt werden. Die Gr\u00fcnde dieser Erscheinung, dieser Beziehung der Gesichtsmuskeln zu besondern Leidenschaften sind g\u00e4nzlich unbekannt. Ueber die mimischen Bewegungen siehe Huschke mimices et physiognomices fragment, physiol. Jen. 1821.\nC. Willk\u00fchrliche Bewegungen.\nZur Erregung der willk\u00fchrlichen Bewegung sind nur die animalischen Nerven, die Gehirn- und R\u00fcckenmarksnerven f\u00e4hig. Die Geschichte der R\u00fcckenmarksverlctzungen zeigt, dass die Spinalnerven bloss dadurch der willk\u00fchrlichen Bestimmung f\u00e4hig sind, dass die Fasern der R\u00fcckenmarksnerven in dem R\u00fcckenmarke aufw\u00e4rts steigen und in der Quelle aller willk\u00fchrlichen Bewegungen, der Medulla oblongata, dem Willenseinflusse ausgesetzt werden. Anderseits beweist sowohl der Ursprung der meisten Hirnnerven von der Medulla oblongata und die M\u00f6glichkeit, die von anderen Hirntheilen entspringenden motorischen Hirnnerven bis zur Medulla oblongata k\u00fcnstlich zu verfolgen, so wie die Geschichte der Hirnverletzungen, dass auch die Th\u00e4tigkeit der motorischen Hirnnerven den Impuls zu willk\u00fchrlichen Bewegungen von der Medulla oblongata erh\u00e4lt. Siehe oben Bd. I. 842.\nMan kann sich vorstellen, dass in diesem Hirnthcile die Fasern aller motorischen Hirnnerven und R\u00fcckenmarksnerven explicit werden. Der Wille setzt diese Faserurspr\u00fcnge, wie die Tasten eines Claviers, in Th\u00e4tigkeit. Zur willk\u00fchrlichen Bewegung geh\u00f6rt nur die Erregung einer Str\u00f6mung oder einer Oscillation in den Urspr\u00fcngen einer gewissen Summe von Fasern der Medulla oblongata. Alles Uebrige ist blosser Mechanismus. Der Wille kann nicht bis durch den ganzen Verlauf der Nervenfasern fortwirken; diese vollf\u00fchren von selbst die motorische","page":92},{"file":"p0093.txt","language":"de","ocr_de":"1. UniviUk\u00efdi fliehe und w\u00fclk\u00fch fliehe Bewegungen.\n<>3\nAction ]>is in die entferntesten Tlieile. Eine gespannte Saite, ein elastischer Faden gerathen in ihrer ganzen Lange in Bewegung, sobald sie in irgend einem Tlieile ihrer Lange angesprochen werden. Ebenso ist es mit den Nervenfasern ; das in ihnen wirksame Prin-cip hat eine solche Tension, dass die geringste Oscillation des Nervenprincips, in irgend einem Tlieile der L\u00e4nge einer Faser erregt, die ganze Faser auf der Stelle in Tli\u00e4tigkeit setzt, und die Bewegung des Muskels am peripherischen oder Muskelende der Faser erfolgt. Also nur die Urspr\u00fcnge der Gehirn- und R\u00fcckenmarksnerven werden von dem Willenseinflusse seihst in Tli\u00e4tigkeit gesetzt. Alles Uehrige ist blosser Mechanismus der motorischen Nervenwirkung. Bei der Zergliederung der willk\u00fcbrli-chen Bewegung k\u00f6nnte es also bloss darauf ankommen, zu erkl\u00e4ren, wie es k\u00f6mmt, dass bei der willk\u00fchrlichen Bestimmung in der Medulla oblongata die Urspr\u00fcnge der Nervenfasern in Action gerathen; wie es k\u00f6mmt, dass augenblicklich hier Str\u00f6mungen oder Oscillationen entstehen. Die L\u00f6sung dieser Aufgabe ist bei dem jetzigen Zustande der Wissenschaft und vielleicht immer unm\u00f6glich. Das Einzige, was wir thun k\u00f6nnen, ist, die Thatsa-cne in der gr\u00f6ssten Einfachheit hinzustellen.\nMan k\u00f6nnte sich vorstellen, dass die willk\u00fchrliclie Bewegung von der Intensit\u00e4t einer im Sensorium bewusst gewordenen Vorstellung vom Zwecke und der Nothwendigkeit ihrer unmittelbaren Ausf\u00fchrung abh\u00e4nge. Jedesmal, wenn diese Vorstellung ein Maximum der Intensit\u00e4t erreicht h\u00e4tte, w\u00fcrde dann die zur Erreichung des Zweckes n\u00f6thige Bewegung eintreten. Diese Ansicht widerlegt sich leicht; denn dann m\u00fcsste die Bewegung mit beschleunigter Geschwindigkeit wachsen, wie die Intensit\u00e4t jener Vorstellung zun\u00e4hme. Man k\u00f6nnte sich ferner vorstellen, die willk\u00fchrliclie Bewegung erfolge jedesmal dann, wenn das Sensorium von der Vorstellung ihrer unmittelbaren Nothwendigkeit zur Erreichung eines Zwecks ganz eingenommen und wenn diese Vorstellung von keiner andern neutralis\u00e2t ist; sie erfolge, wenn im Sensorium nichts, als der einzige Gedanke von der unmittelbaren Nothwendigkeit derselben, und durchaus kein Zweites oder Drittes vorhanden ist. Wenn ich sage, ich will jetzt dless oder jenes tliun, und ich thue es doch nicht, so ist entweder bloss die Vorstellung des Wollens und nicht das Bewusstseyn der unmittelbaren Nothwendigkeit der Ausf\u00fchrung vorhanden gewesen; oder die Ausf\u00fchrung ist durch irgend etwas neutralisirt worden. Ist aber die absolute Gewissheit von der unmittelbaren Nothwendigkeit einer Bewegung vorhanden und nichts Neutralisirendes da, so entstehe, k\u00f6nnte man sagen, auch nothwendig die zur willk\u00fchrlichen Bewegung n\u00f6thige Str\u00f6mung oder Oscillation des Nervenprincips. Wollen w\u00e4re dann nichts anders, als dass etwas als absolut nothwendig vorgestellt, den Ausschlag des Seelenzustandes giebt, und die entstehende Str\u00f6mung in der Medulla oblongata w\u00e4re dem Senken des Wagebalkens zu vergleichen, dessen Gleichgewicht von dem Gleichgewichte der Actionen der Seele abh\u00e4nge. Indessen l\u00e4sst sich leicht beweisen, dass die Bewegung nicht bloss dann eintritt, wenn nur die eine Vorstellung von der absoluten","page":93},{"file":"p0094.txt","language":"de","ocr_de":"94 IV. Buch. Bewegung. II. Abschn. V. d. verschied. Muskelbeweg.\nNothwendigkeit einer Bewegung und keine andere vorhanden ist. Denn wir sind im Stande, drei und mehr verschiedene Bewegungen, die nicht den geringsten Zusammenhang haben, lange neben einander fortzuf\u00fchren. Wir lesen, singen, spielen; pr\u00e4pariren und singen und rauchen gar dazu. Dann aber h\u00e4ngt der letzte Grund der willk\u00fchrlichen Bewegung von keiner Vorstellung eines Zweckes ah; denn die willk\u00fchrlichen Bewegungen erfolgen schon beim F\u00f6tus, ehe irgend ein Zweck vorgestellt wird, ehe eine Vorstellung von dem, was durch die willk\u00fchrliche Bewegung vollbracht wird, m\u00f6glich ist; wir m\u00fcssen uns die Sache durchaus einfacher machen.\nWie werden die ersten willk\u00fchrlichen Bewegungen heim F\u00f6tus veranlasst? Die ganze Zusammensetzung der Zust\u00e4nde, unter welchen bei Erwachsenen willk\u00fchrliche Bewegungen eingeleitet werden, fehlt hier. Der eigene K\u00f6rper des F\u00f6tus ist hier allein die WTelt, w'elche dunkele Vorstellungen in ihm hervorbringt und auf welche er zur\u00fcckwirkt. Er bewegt seine Glieder anfangs nicht zur Erreichung eines \u00e4ussern Zweckes; er bewegt sie bloss, weil er sie bewegen kann. Da indess zur willk\u00fchrlichen Bewegung eines einzelnen Theiles bei dieser Voraussetzung kein Grund vorhanden ist, vielmehr der F\u00f6tus hiernach gleichviel Grund hat, alle seine Muskeln zugleich zu bewegen, so muss irgend eine Ursache bestimmen, dass gerade diese oder jene willk\u00fchrlichen Bewegungen eintreten, dass jetzt dieser, dann jener Fuss oder Arm angezogen wird.\nDie Kenntniss der Lagever\u00e4nderungen, welche durch bestimmte Bewegungen hervorgebracht werden, wird erst allrn\u00e4hlig und durch die Bewegungen selbst erworben ; das erste Spiel des Willens auf einzelnen Gruppen der Faserurspr\u00fcngen der motorischen Nerven in der Medulla oblongata kann daher offenbar noch keinerlei Zweck der Lagever\u00e4nderung haben; es ist ein blosses Spiel ohne alle Vorstellung von den Wirkungen, welche davon in den Gliedern hervorgebracht werden. Durch diese zwecklose willk\u00fchrliche Excitation der Faserurspr\u00fcnge entstehen bestimmte Bewegungen, Lagever\u00e4nderungen, Empfindungen davon; die Excitation gewisser Fasern erregt immer dieselben Bewegungen , Lagever\u00e4nderungen und ihre zum Bewusstseyn kommenden Empfindungen. Hierdurch entsteht die Verkn\u00fcpfung gewisser Empfindungen mit gewissen Bewegungen im dunkeln Bewusstseyn. Wird hernach ein gewisser Theil des K\u00f6rpers von aussen zu einer Empfindung angeregt, so ist schon so viel Erfahrung im Sensorium vorhanden, dass die darauf erfolgende willk\u00fchrliche Bewegung auch an dem gereizten Gliede sich \u00e4ussern wird, dass das ungeborne Kind das gedr\u00fcckte Glied auch bewegt und nicht alle Glieder zugleich reagirend bewegt. Auf diese Art m\u00fcssen sich die willk\u00fchrlichen Bewegungen auch hei den Thieren ausbilden. Ein Vogel, der zu singen anf\u00e4ngt, setzt aus einer innern instinctm\u00e4ssigen N\u00f6thigung willk\u00fchrlich die Urspr\u00fcnge der Nerven seiner Kehlkopfmuskeln in Action; hierdurch entstehen T\u00f6ne. Durch die Wiederholung dieses Spiels lernt erst der Vogel die Art der Ursache mit der Art der Wirkung","page":94},{"file":"p0095.txt","language":"de","ocr_de":"1. Unmllk\u00fclirlidie und wiUk\u00fchrliehe Bewegungen.\n95\nverkn\u00fcpfen. Der Instinct dieser traumartig und unwillk\u00fcrlich wirkenden Impulse im Sensorium hat auch heim Menschen gleich anfangs Antheil an der Hervorrufung gewisser an sich willk\u00fchr-licher Bewegungen. Im Sensorium des neugeboruen Kindes ist eine N\u00f6thigung zu Saughewegungen der Mundtheile; aber die Ausf\u00fchrung dieser Bewegungen im Einzelnen ist wieder ein ganz willk\u00fchrliches Spiel. Aus dieser Betrachtung ergiebt sich, dass die willkiihrliclie Excitation der motorischen Nervenurspr\u00fcnge etwas Unmittelbares und Urspr\u00fcngliches, mit der Ausbildung des Thieres Gegebenes ist, und dass die Ursache der willk\u00fchrlichen Bewegungen von keinem vorgestellten Zwecke, wie heim Erwachsenen, abh\u00e4ngig ist.\nWir haben schon aus vielen anderen Thatsachen gesehen, dass das in der Medulla oblongata wirksame Nervenprincip in einem ausserordentlichen Grade von Spannung ist, dass die geringste Ver\u00e4nderung des Status quo das Gleichgewicht der Ver-tbeilung aufhebt und Entladungen hervorbringt, wie sie sich durch Lachen, Niesen, Schluchzen etc. \u00e4ussern, So lange das Gleichgewicht sich erh\u00e4lt, sind wir zu allen wdllk\u00fchrlichen Bewegungen aller K\u00f6rpertheile gleich geschickt, und das ist der Zustand der Ruhe. Jede Bewegungstendenz, welche von der Seele ausgeht, st\u00f6rt diess Gleichgewicht und bewirkt eine Entladung in bestimmter Richtung, d. h. erregt eine gewisse Summe Fasern des motorischen Nervenapparates.\nDer Einfluss des Willens auf die Fasern des motorischen Apparates ist nicht das einzige Factum dieser Art. Die Central-theile aller Gehirn- und R\u00fcckenmarksnerven, auch der sensibeln und der Sinnesorgane, sind der willk\u00fchrlichen Intention f\u00e4hig. Es ist f\u00fcr die Theorie der willk\u00fchrlichen Bewegungen von Wichtigkeit, diese Erscheinungen zu zergliedern. Unsere Sinneserscheinungen sind gew\u00f6hnlich mit einer best\u00e4ndigen Mitaction des Willens verbunden. Indem wir eine zusammengesetzte Figur erblicken, pr\u00e4gen wir uns bald diesen, bald jenen Theil derselben lebhafter ein; wir nennen diess Aufmerksamkeit. Wir sehen z. B. eine architectonische Piose, ein Vieleck, dessen Winkel durch Linien verbunden sind. Obgleich nun das Bild dasselbe bleibt, empfinden wir bald diesen, bald jenen Theil der Figur lebhafter, bald sehen wir die Peripherie, bald einzelne Dreiecke, bald Vierecke, welche in das Ganze hineingelegt sind, lebhafter. Diess geschieht nicht bloss, indem wir durch Bewegungen der Augen mit den Sehachsen diese Figuren verfolgen und gleichsam beschreiben, sondern hei unverwandtem Blick pr\u00e4gt die Intention, die Aufmerksamkeit bald diesen , bald jenen Theil der Figur der Anschauung lebhafter ein, w\u00e4hrend die \u00fcbrigen zwar empfunden werden, aber unbeachtet bleiben. Durch die Mitwirkung dieser die Gesichtsempfindungen begleitenden Intention k\u00f6mmt es, dass wir zuweilen aus sehr dunkeln Gesichtseindr\u00fccken doch eine ganz bestimmte Gestalt zu erkennen glauben, wobei wir uns oft t\u00e4uschen. Dasselbe findet heim Geh\u00f6rsinn statt, und hier ist es noch deutlicher, dass diese Ver\u00e4nderung der Sinneseindr\u00fccke durch die Intentio nicht von Muskelbewegungen abh\u00e4ngt. Bei","page":95},{"file":"p0096.txt","language":"de","ocr_de":"96 IV. Buch. Bewegung. II. Abschn. V. d. verschied. Muskelbeweg.\ndem Spiel eines ganzen Orchesters sind wir selten so passiv, dass wir alle T\u00f6ne, die gleichzeitig geh\u00f6rt werden, bloss nach der St\u00e4rke derselben lebhaft empfinden. Im Gegentheil, wir sind iin Stande, das Spiel eines schwachem Instrumentes durch die st\u00e4rkeren T\u00f6ne der anderen zu verfolgen, wobei wir diese unbeachtet lassen. Sagen uns zwei Personen verschiedenes in beide Ohren, so k\u00f6nnen wir den Worten des Einen mit Aufmerksamkeit folgen, w\u00e4hrend wir die des Andern \u00fcberh\u00f6ren. Was hei einem und demselben Sinnesorgane stattfindet, kann auch hei gleichzeitiger Affection verschiedener Sinnesorgane geschehen. Je nach der Richtung der Intentio \u00fcbersehen wir etwas, w\u00e4hrend wir dabei etwas lebhaft h\u00f6ren, und umgekehrt; denn die Intention kann nur ein Object auf einmal lebhaft zur Anschauung bringen.\nDiese Zergliederung der Sinnesempfindungen durch die Aufmerksamkeit geschieht h\u00e4ufig ganz unwillk\u00fchrlich, ohne alle Absicht nach den Gesetzen der Association der Vorstellungen. Allein wir k\u00f6nnen die Intention auch willk\u00fchrlich bei den Sinnesempfindungen wirken lassen. Sagen uns zwei Personen zugleich etwas ins Olir, so h\u00e4ngt es ceteris paribus von unserm Willen ab, welche von beiden wir verstehen. Es liegt in unserer Wahl, zwischen gleichzeitig stattfindenden Gesichtsempfindungen, Geh\u00f6rempfindungen, Geschmacksempfindungen u. s. w., eine derselben allein lebhaft zu empfinden, w\u00e4hrend die anderen so dunkle Eindr\u00fccke hervorbringen, dass sie nicht zu unserm Bewusstsevu kommen. Und dasselbe findet wieder hei einer einzigen Sinnesempfindung statt; wir k\u00f6nnen sie willk\u00fchrlich zergliedern; wir k\u00f6nnen willk\u00fchrlich das Spiel der Geige unter dem ganzen Orchester lebhafter empfinden, willk\u00fchrlich die einzelnen durch das Ganze durchstrebenden Theile der architektonischen Rose lebhafter ansebauen. Kurz der Wille wirkt hier eben so stark, wie hei den Bewegungsnerven. Der einzige Unterschied ist nur, dass der Wille hei den Bewegungen die ruhige Nervenfaser excitiren kann, w\u00e4hrend bei der Mitwirkung des Willens in den Sinneserscheinungen die Empfindung durch die willk\u00fchrliehe Intention nur lebhafter wird.\nDie willk\u00fchrliehe Intention ist auch nicht bloss auf Bewe-gungsnerven und Empfindungsnerven beschr\u00e4nkt; sie wirkt auch bei den Seelenactionen des Sensoriums. Unser Vorstellungsverm\u00f6gen ist zwar ohne alle willk\u00fchrliehe Direction tb\u00e4tig; die Phantasie producirt, wenn die anderen Seelen\u00e4usserungen ruhen, unaufh\u00f6rlich Gestalten, Bilder farblos, lichtlos, weil sie ohne Empfindung sind; ja diese Bilder werden durch Wechselwirkung mit den Centralorganen der Sinnesorgane selbst leuchtend und farbig. Denn wer sich aufmerksam beobachtet, sieht aus dem Traum erwachend, obgleich wach, zuweilen doch die Traumbilder noch wirklich blasslicht mit offenen Augen, wie ich gar oft mich \u00fcberzeugt habe und schon Spinoza einmal an sich beobachtete. Siehe J. Mueller \u00fcber die phantastischen Gesichtserscheinungen. Coblenz 1826. Sind wir auch nicht im Stande w\u00e4hrend des Wachens willk\u00fchrlich leuchtende Bilder bei geschlossenen Augen zu produciren, so verm\u00f6gen wir doch willk\u00fchrlich unsere Vorstei-","page":96},{"file":"p0097.txt","language":"de","ocr_de":"1. Un ivillk\u00fchr/ich e und willk\u00fchrliche Bewegungen.\n97\nlungen zu dirigiren. Kurz wir sehen, dass die willk\u00fchrliche Intention vom Sensorium aus nach allen Richtungen auf motorische Nerven, sensorielle Nerven und die Seelenactionen wirkt; die willk\u00fchrliche Hervorrufung von Actionen ist eben nichts anders, als die spontane, mit Bewusstsein verbundene Intention des Ner-venprincips im Gehirn auf verschiedene Apparate, von deren Natur es abh\u00e4ngt, ob das willk\u00fchrlich Hervorgerufene eine Bewegung, oder eine lebhaftere Empfindung, oder eine Vorstellung ist. Man kann sich diese willk\u00fchrliche Intention vorl\u00e4ufig als eine spontane, mit Bewusstseyn hervorgerufene Str\u00f6mung oder Schwingung des Nervenprincips nach jenen Apparaten vorstellen.\nMan kann, wie in Hinsicht der Freiheit des Willens \u00fcberhaupt, so in Hinsicht der willk\u00fchrlicben Bewegung auf den Gedanken kommen, dass es gar keine freie Willk\u00fchr hierbei g\u00e4be, und das, was man so nennt, nur eine Verkettung von Noth Wendigkeiten sey, die kein anderes Endresultat, als das Gewollte haben k\u00f6nnen. Bald ist es, k\u00f6nnte man sagen, eine Empfindung, bald ein leidenschaftlicher Zustand, bald eine Vorstellung und die Association mehrerer Vorstellungen, die uns Bewegungen so nothwendig ausf\u00fchren lassen, dass sie gleichsam nur das letzte Resultat dieser Verkettung und so unvermeidlich sind, wie der Schluss aus den Pr\u00e4missen folgt. Die Leidenschaft kann eine Bewegung bewirken; die N\u00f6tbigung zu dieser Bewegung kann, da die Leidenschaft die Seele ganz occupirt, den h\u00f6chsten Grad erreicht haben, und wenn die Vernunft sie nun widerr\u00e4th und unterbleiben l\u00e4sst, so liegt es doch wieder, kann man sagen, in der Verkettung dieser Facta, dass die Bewegung unterbleibt. Was geschieht, k\u00f6nnte man sagen, ist der blosse factische Schluss von dem, was im Bewusstseyn liegt. Kennte man die ganze Entwickelung des Menschen, alle Anteacta vor einer Handlung, alle Einwirkungen vor derselben, die St\u00e4rke seiner Leidenschaften und den Grad der Entwickelung der Vernunft-Prmcipien in ihm, so k\u00f6nnte man wahrscheinlich seine Handlungsweise in jedem Moment seines Lebens berechnen. Nach dieser Ansicht w\u00e4re die willk\u00fchrliche Bewegung die von dem selbstbewussten Ich vom Sensorium aus ausgef\u00fchrle Intention des Nervenprincips auf die motorischen Nerven, deren Direction von der augenblicklichen Bestimmung des Ichs durch irgend einen klar vorgestellten oder verborgen wirkenden Grund abh\u00e4ngt. Eine unwillk\u00fchrliehe Bewegung kann auch ins Bewusstseyn fallen, aber nur nachdem sie geschehen ist, durch die Empfindungen, die sie hervorbringt; hierdurch w\u00fcrden sich willk\u00fchrliche und unwillk\u00fchrliehe Bewegungen in gleichen Muskeln des animalischen Systems unterscheiden. Da die Art und der Ort der willk\u00fchrlicben Bewegung nach dieser Ansicht jedesmal von der Bestimmung des Iclis durch irgend einen klar vorgestellten oder verborgen wirkenden Grund abh\u00e4ngt, so scheint diese Ansicht alle Freiheit des Willens aufzuheben und es bliebe nur die Freiheit des Willens im hohem moralischen Sinne, n\u00e4mlich dass die Seele nicht an und f\u00fcr sich gen\u00f6thigt ist, den \u00e4usseren oder inneren leidenschaftlichen Bestimmungen zu folgen, dass sie vielmehr in dem Grade von der Muller\u2019s Physiologie. 2r Bel, I.\t7","page":97},{"file":"p0098.txt","language":"de","ocr_de":"!)8 IV. Huch. Bewegung. II. Absehn. V. d. verschied. Muskelbeweg.\nVernunft selbst bestimmt werden kann, als das Vern\u00fcnftige in ilir schon zum Bewusstscyn gekommen ist. Diess ist bekanntlich der Begriff der Freiheit im Sinne Simkoza\u2019s, nie er ihn im letzten Buche der Elhik entwickelt.\nBei der Durchf\u00fchrung dieser Ansicht finden sich grosse Schwierigkeiten. Zu jeder Kr\u00fcmmung eines Wurmes w\u00fcrde ein blosses spontanes Spiel des Nervenprincips nicht hinreichen. Es m\u00fcsste jedesmal das Sensorium desselben von irgend einem Grunde bestimmt werden, dass dieser und nicht ein anderer Theil der Nerven dirigirt werde, und eben so ist es heim F\u00f6tus, dessen im 5. Monate schon beginnende Bewegungen ohne Absicht und ohne Kenntniss der Wirkungen, die sie haben, villk\u00fchrlich erfolgen. Hier w\u00fcrden also die Gr\u00fcnde, die das Ich bestimmen, bald diesen, bald jenen Theil des Nervenapparates in Thatigkcit zu setzen, ganz unbekannt sevn. Das Einzige, was man sich hier als Veranlassung zur Bestimmung des Ichs f\u00fcr Intention bestimmter Nervenfasern vorstellen k\u00f6nnte, ware, dass diejenigen Gruppen von Nervenfasern, die eine Zeitlang der Intention nicht ausgesetzt waren, zur Intention am meisten pr\u00e4disponirt sind. Erw\u00e4gt man die lebhaften willk\u00fcrlichen Bewegungen des Neugebornen, die noch ohne Kenntniss ihres Erfolges geschehen, so muss man alle Gedanken aufgehen, Gr\u00fcnde f\u00fcr die Bestimmung des Ichs zu diesen Intentionen des Nervenprin-cips nachzuweisen, wenn man nicht etwa eine instinctm\u00e4ssig wirkende Macht auf das Sensorium einwirken lasst, von deren Impulsen die Direction und Folge der vom Ich bewusst iniendir-ten Bewegungen eingegeben werden. Diejenigen, welche dieser Ansicht folgen, k\u00f6nnen sich darauf berufen, dass jede F\u00e4higkeit zu ihrer Aeusserung in einer bestimmten Art unter vielen m\u00f6glichen Arten auch bestimmende Gr\u00fcnde nothwendig habe. Es liegt in der Natur einer Pflanze, so und solche Blatter und Stengel zu haben, dass aber das Individuum einer Pflanze seine Aeste so, das andere so treibt, in ungleicher Zahl und Stellung, kann von keiner gesetzlosen Spontaneit\u00e4t, sondern nur von bestimmten inneren Ursachen, die im Fortschritte der Entwickelung zum Vorschein kommen, ahh\u00e4ngen.\nBleibt man hei der Ansicht, dass das Princip der willk\u00fchr-lichen Bestimmung im selbstbewussten Ich gelegen, proteusartig ohne Grund und \u00e4ussere Bestimmung |ede Bewegung intendiren kann und nur deswegen auch auf veranlassende Ursachen bestimmte Bewegungen hervorruft, weil es eben jede'Bewegung aus sich seihst hervorrufen kann, wie der gew\u00f6hnliche Begriff der Willk\u00fchr ist, so sind alle jene Schwierigkeiten abgeschnitten ; aber damit ist auch der Versuch einer wissenschaftlichen Erkl\u00e4rung aufgegeben.\nDie Bestimmung der Quantit\u00e4t des Nerveneinflusses bei der willk\u00fchrlichen Bewegung, oder die St\u00e4rke der Oscillation und die St\u00e4rke der Bewegung h\u00e4ngen von denselben Ursachen, wie die Bestimmung der Oertlichkeit der willk\u00fchrlichen Bewegung ah. Beide haben eine gewisse Grenze. Am leichtesten ist die will-k\u00fchrliche Bewegung ganzer Muskelgruppen (obgleich hei der An-","page":98},{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"99\n1. Unwillk\u00fchrlirhe und a'illh Uhr Helte Bewegungen.\nstrengung vieler Muskeln zugleich auch die Kraft fr\u00fcher ersch\u00f6pft), mul man kann im Allgemeinen sagen, dass eine will\u2014 k\u00fchrliche Bewegung um so schwieriger auszuf\u00fchren ist, je weniger Nervenfasern dal)ei wirken sollen und je kleiner der bewegte Thei! seyn soll. Das Nervenprinciji setzt viel leichter viele Nervenfasern, als wenige in Thatigkeit.; daher die Leichtigkeit der Mitbewegungen. Viele Menschen sind nicht einmal im Stande, einzelne Gesiehtsmnskeln, einzelne Abzieher oder Anzieher der Finger, einzelne Ohrmuskeln zu bewegen; sie k\u00f6nnen es nur, wenn sie andere Muskeln mitbewegen. Dagegen sind alle iin Stande, die einzelnen Bauche des Flexor sublim\u00e9s und profundus der Finger zu bewegen. Ob wir einzelne Strecken eines langen Muskels f\u00fcr sich willk\u00fchrlich in Thatigkeit setzen k\u00f6nnen, ist sehr zweifelhaft. Die Localisation der Einwirkung des Ncrven-princips bei dem willkiihrliehen Einfluss ist hier jedenfalls viel geringer, als bei gelegentlichen unwillk\u00fcrlichen Beizungen. Aus inneren Ursachen zuckt oft eine ganz kleine Strecke eines Muskels, z. B. des Biceps brachii. Diess k\u00f6mmt bei willk\u00fchrli-chen Bewegungen nie vor. Durch vielfache Uebung nimmt un-ser Verm\u00f6gen die Intention des Nervenprincips auf einzelne Gruppen von Nervenfasern zu isoliren zu; und je h\u00e4ufiger gewisse Nervenfasern die Str\u00f6mungen oder Oscillationen des Nervenprincips aus willkiihrliehen Bestimmungen erfahren, um so mehr bildet sich ihre F\u00e4higkeit zur isolirten Wirkung, wie beim Clavierspielen u. dgl. aus. Nach oft wiederholter Bewegung einzelner Muskeln in kurzer Zeit tritt jedoch ein Hinderniss ein und es entsteht auch bei dem Ge\u00fcbten ein Ungeschick, so wie die Kraft unserer Bewegungen durch unterbrochene Anstrengungen verst\u00e4rkt wird, aber nach jeder grossen Anstrengung f\u00fcr kurze Zeit scheinbar abnimmt. Die Erkl\u00e4rung dieser Ph\u00e4nomene ergiebt sich aus den Bd. I. p. 52. angestellten Betrachtungen. Die irritation des Nerven und Muskels ver\u00e4ndert seinen Zustand und macht ihn augenblicklich ungeschickt, wie die Betina f\u00fcr einen langem Eindruck unempfindlich wird, in dem Maasse, als sie dadurch materiell ver\u00e4ndert wird. Aber die Intention des Nervenprincips auf bestimmte Fa-seigiuppen ist auch die Ursache, dass diese gerade vorzugsweise w\u00e4hrend der Ruhe sich restauriren und an React ionskraft zunehmen. Abwechselung von Ruhe und Anstrengung ist daher das Gehcirnniss, wodurch wir unsere Organe f\u00fcr die Anstrengung st\u00e4rken. Dagegen Muskeln und Nerven,' denen die Intention des Nervenprincips sehr selten zu Theil wird, wie die Ohrmuskeln, an Bewegungsf\u00e4higkeit auch verlieren.\nDie Frage, warum die dem N. sympathieus unterworfenen Theile dem Willen entgegen sind, ist schon in der Nervenphysiklld. I. p. 721. untersucht und ebendaselbst sind auch die Thatsaehen er\u00f6rtert worden, welche beweisen, dass willk\u00fchrliche Entladungen des Nervenpi incips nach den willk\u00fchrlichen Muskeln nicht ganz ohne gleichzeitigen Einfluss auf die unwillk\u00fcrlichen sind. Die Bewegung der fris mit gewissen Stellungen des Auges, die H\u00e4ufigkeit des Herzschlages bei langer Anstrengung von vielen Muskeln und der wohllh\u00e4tige Einfluss der K\u00f6rperbewegungen auf die Rewe-","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"100 IV. Buch. Bewegung. II. Ahscim. V. d. verschied. Muskelbeweg.\njungen des Darmcanals sind Beispiele, die p. 722. erl\u00e4utert worden sind.\nSehr gewohnte Bewegungen erfolgen zuletzt Lei der geringsten Intention, wie die mimischen Bewegungen der Ilande Leim Sprechen. Aus allem diesem folgt, dass sich die Leitungsf\u00e4higkeit der Nervenfasern mit tier H\u00e4ufigkeit ihrer Erregung ausbildet. Daher dunkle Vorstellungen ohne deutliches Bewusstscvn oft ganz bestimmte und zweckm\u00e4ssige Bewegungen hervorrufen, wenn sie nur \u00f6fter in dieser Folge dagewesen sind.\nII. Capiid. Von den zusammengesetzten wi 11 k \u00fchr 1 i ch e n Bewegungen.\nWir verstehen hierunter alle Verbindungen von Bewegungen zu Bestimmten Gruppen unter Mitwirkung des Seelenorganes. Die im vorigen Capitel ahgehandelten Arten der Bewegung k\u00f6nnen hier als Elemente in die Zusammensetzung eingehen. Namentlich geh\u00f6ren hieher die gleichzeitigen Reihen der willk\u00fchr-lichen Bewegungen nach mehreren Reihen von Vorstellungen, die Associationen der Bewegungen und der Vorstellungen mit den Bewegungen, die instinctartigen Bewegungen, die coordinir-ten Bewegungen Lei der Ortsver\u00e4nderung.\n1) Gleichzeitige Reihen von Bewegungen.\nDie willk\u00fchrliche Bewegung f\u00fcr einen gewissen Zweck kann an den verschiedensten Theilen des K\u00f6rpers zugleich stattfinden ; aber es k\u00f6nnen auch willk\u00fchrliche Bewegungen f\u00fcr ganz verschiedene Zwecke zugleich ausgef\u00fchrt werden. Es schreibt einer und raucht zugleich; man liest die Noten unter Bewegungen der Augenmuskeln, sowohl die f\u00fcr den Gesang, als die f\u00fcr das Spiel, und sangt und spielt zugleich. Wie soll man sich die Gleichzeitigkeit dieser Th\u00e4tigkeiten erkl\u00e4ren? Sind wir in der That im Stande, verschiedene Reihen von Vorstellungen, die keinen Zusammenhang haben, zu gleicher Zeit zu verfolgen, oder kann zu einer Zeit immer nur eine Vorstellung ins Bewusstsevn fallen, und entsteht eine so zusammengesetzte Action, wie das scheinbar gleichzeitige Notenlesen, Singen und Spielen, doch durch ein best\u00e4ndiges schnelles Abspringen der Intention auf die verschiedenen Reihen von Acten, die zu jener Action geh\u00f6ren? Das Erste ist, zu erfahren, ob \u00fcberhaupt die Seele zwei Reihen von Vorstellungen nebeneinander verfolgen kann. Wenn sie diess kann, so werden auch die zweckm\u00e4ssigen Bewegungen beiden entsprechend hervorgebracht werden k\u00f6nnen. Die willk\u00fchrliche Bewegung verschiedener motorischer Apparate, z. B. der Stimmmuskeln und der Finger zugleich, bat \u00fcberhaupt keine Schwierigkeit der Erkl\u00e4rung. Denn es ist gleich, ob mehrere zugleich bewegte Muskeln an einem und demselben Gliede liegen oder sehr entfernt von einander sind; in beiden F\u00e4llen ist die Intention des Nervenprincips auf eine gewisse Summe von Nervenfaserurspr\u00fcngen gerichtet. Die Schwierigkeit liegt darin, zu entscheiden, ob die zwei Reihen von Vorstellungen als Ursachen der Intention der","page":100},{"file":"p0101.txt","language":"de","ocr_de":"2. Zusammengesetzte willkiihrliche Bewegungen.\n101\nNervenfasern zugleich stattfinden k\u00f6nnen. Ein einfaches Beispiel zur n\u00e4hern Zergliederung ist das gleichzeitige lebhafte Durchdenken einer Angelegenheit hei einem damit gar nicht in Verbindung stehenden Gang. Wir wollen Jemand besuchen, sind auf der Strasse so vert ieft in anderen Gedanken, dass wir die Begegnenden nicht einmal bemerken und die Gr\u00fcssenden nicht sehen, und doch kommen wir an dem Orte an, an den wir uns gleich anf\u00e4nglich begeben wollten. W\u00e4hrend der Vertiefung in einer besondere Reihe von Gedanken folgten wir doch zugleich der Pieihe von Bildern der H\u00e4user und Strassen, durch welche wir uns fast unbewusst in Hinsicht der aufzusuchenden Wohnung orientirten.\nDas beste Beispiel zur Aufl\u00f6sung dieser Frage liefert aber der Unterricht in den Bewegungen. Hier sind sie noch so langsam, ihre Verbindung noch so schwer und ungeschickt, dass wir die Natur bei ihrem Vorg\u00e4nge belauschen k\u00f6nnen. Soll ein Anf\u00e4nger im Spiel der Guitarre oder des Claviers zugleich singen und spielen, so sieht man deutlich, dass er die Gesang- und Spielnoten nicht zugleich lesen kann. Ist die Gesangnote aufgefasst und soll sie gesungen werden, so fehlt oft noch die Clavier-note und das Spiel des Claviers stockt, w\u00e4hrend der Gesang bereit ist und umgekehrt. Es liegt hierbei weniger am Lesen, als am Transponiren des Gelesenen in Bewegungsideen. Jede Note wird in unserm Sensorium zur Bewegungstendenz dieser oder jener Muskeln der Finger und des Kehlkopfes transponirt, und neben diesen zweien gleichzeitigen Reihen von Transpositionen der gelesenen Noten in Bewegungsintentionen, l\u00e4uft noch die drille nebenher, die Umsetzung der gelesenen W\u00f6rter in Bewegungsintentionen f\u00fcr die Spruchwerkzeuge. Die letztere macht uns keine Schwierigkeit beim Ges\u00e4nge, weil wir darauf von Jugend auf einge\u00fcbt sind; aber die Schnelligkeit der ersteren Transpositionen, wird erst durch Uebung erlangt. Aus dem vorher erw\u00e4hnten Beispiel sieht man sehr deutlich, dass die von mehreren Vorstellungen abh\u00e4ngigen willk\u00fchrlichen Bewegungen zwar gleichzeitig ausgef\u00fchlt, aber nicht gleichzeitig concipirt werden k\u00f6nnen. Auch der Ge\u00fcbte liest fast mit Bhtzesschuelligkeit dann die Gesangnoten, dann die Musiknoten; dadurch entsteht die Vorstellung von ihrem Zeitverh\u00e4ltniss zu einander, und die nun im Sensorium entstandene Transposition in Bewegungsintentionen wird dann gleichzeitig ausgef\u00fchrt. Man k\u00f6nnte einwerfen, dass da zur verschiedenen Ausdauer der den zweierlei Noten entsprechenden Bewegungen die volle Erinnerung an ihren Werth geh\u00f6re, w\u00e4hrend sich das Sensorium schon mit den folgenden Noten besch\u00e4ftigt, also das Sensorium zweierlei Dinge zugleich im Ged\u00e4chtniss festhalten. und ein drittes conci-piren k\u00f6nne, auch die gleichzeitige Conception von mehreren, Bewegungsreihen, die von verschiedenen Vorstellungen abh\u00e4ngig send, zugleich m\u00f6glich seyn m\u00fcsse. Dieser Einwurf ist jedoch nur scheinbar richtig; denn die Ausdauer einer Bewegung, dem Werthe einer Note entsprechend, erfordert keine Intention des Sensoriums; cs wird vielmehr hierbei jede Bewegung solange","page":101},{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"102 11 Ihich. Bewegung. II. AL.Am. ? . din verschied. Muskclbcweg.\nfortgr.f\u00fchrt, Lis sie durch cine neue Bewegungsintention, die durch eine gelesene Note erfordert wird, abgebrochen wird. Die Gleichzeitigkeit der verschiedensten Bewegungen hat, um es nochmals zu sagen, gar keine Schwierigkeit; denn es ist nicht schwerer, Kehlkopfs- und Fingernuiskeln zugleich zu bewegen, als mehrere Armmuskeln zugleich zu bewegen; aber die Conception dieser Bewegungen aus verschiedenen Reihen von Vorstellungen kann, wie es scheint, nur hinter einander, wenn auch mit Blitzesschnelligkeit, geschehen. Wir kommen jetzt auf das fr\u00fcher erw\u00e4hnte Thema zur\u00fcck. Wir gehen in Gedanken vertieft durch viele verschlungene Strassen zu einem Freunde; unterwegs sind wir so vertieft, dass wir auf nichts achten, das Gr\u00fcssen vergessen oder den Gr\u00fcssenden nicht bemerken, und zuletzt treffen wir an der bewussten Stelle ein, ohne dass wir wissen, wie wir, innerlich leidenschafthell bewegt, oder in Gedanken vertieft, dabin gekommen sind. Die wilik\u00fchrliche Ortsbewegung allein, diese best\u00e4ndig ange\u00fcbte Abwechselung von Beugungen und Strek-kungen kann, da sie eine einfache rhythmische Wiederholung zweier Bewegungen ist, einmal eingeleitet, so gut wie eine einzige Bewegung anhaltend neben einem best\u00e4ndigen Gedanken Wechsel fortgesetzt werden. Schwieriger ist einzusehen, wie wir uns durch die viel verschlungenen Strassen oiientircn und in gleicher Zeit einem innern Gedanken Wechsel folgen. Diess l\u00e4sst sich jedoch sehr gut aus kleinen Abspr\u00fcngen von dem einen zum andern Thema erkl\u00e4ren. Die Gesetze der Ideenassociation kommen hierbei vielfach in Betracht. Sind zwei Reihen von Vorstellungen beide von gleich geringem Interesse, so kann man leicht von der einen zur andern wechselseitig \u00fcbergehen oder durch eine dritte Vorstellung ganz davon abkommen. Ist aber eine Reihe von Vorstellungen im Scnsorium herrschend, z. B. in einem leidenschaftlichen Zustande, so kann zwar jede neue, durch die Sinne angeregte Vorstellung uns auf Augenblicke von der herrschenden Reihe abbringen; aber das Scnsorium kehrt nach jeder Unterbrechung doch immer leichter zu dem Grundthema zur\u00fcck, als es zu entfernten Associationen abgef\u00fchrt wird.\n2) Association der Bewegungen und Vorstellungen.\nDie Schnelligkeit und Reihenfolge der Bewegungen wird durch die H\u00e4ufigkeit gef\u00f6rdert. Diess ist, was wir tlebung nennen. A\\ er nicht ge\u00fcbt ist, kann nicht mit grosser Schnelligkeit in best\u00e4ndigem Wechsel dieselbe Bewegung abbrechen und wie-der erneuern, oder zusammengesetzte Bewegungen regelrecht volll\u00fchreu. Aus der Thatsache der Uebung folgt, dass, |e h\u00e4ufiger das Nervenprincip in gewissen Fasern in Schwingung gesetzt wird, um so leichter diese Schwingung oder Str\u00f6mung wird. Nach einer gew issen Zeit wird zwar auch ein ge\u00fcbter Arm m\u00fcde, obgleich jetzt die Bewegung des Nervenprincips oft wiederholt worden, weil n\u00e4mlich durch die Action f\u00fcr den Augenblick eine materielle Ver\u00e4nderung in den Nerven erfolgt. Aber die so angestrengten Glieder ersetzen auch vor den anderen ihre Verluste wieder, und die erholten Theile sind zufolge der staltgci\u00fcndenen","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"2. Zusammengesetzte willk\u00fchrliehe Bewegungen.\n103\nh\u00e4ufigen Str\u00f6mungen oder Schwingungen des Nervenprincips in gewissen Fasern nun viel geneigter zu denselben Bewegungen.\nDie Gesetze der Association der Bewegungen sind schon so \"oft erl\u00e4utert worden, dass sie sehr allgemein auch in den \u00e4rztlichen Schriften bekannt sind. Darwin hat sich besonders damit besch\u00e4ftigt.. Darwin, Zoonomie. Leipz. 1795. I. Bd. Vergl. Reil, Fiebertehre. II'. p. 609. Reil, von der Lebenskraft. Reil\u2019s Archiv. I. Brandis Versuch \u00fcber die Lebenskraft. Hannover 1795. Die Association k\u00f6mmt hier in doppelter Weise in Betracht.\na. Als Association von Bewegungen zu Bewegungen. Man li\u00e2t fr\u00fcher h\u00e4ufig die Mitbewegungen und die Association der Avillk\u00fchrlichen Bewegungen verwechselt. Das Wesentliche der Mitbewegungen, die wir Bd. I. p.\tBd. II. p. 85. erl\u00e4utert ha-\nben, liegt darin, dass die willk\u00fchrliehe Intention auf einen Nerven die unwillk\u00fchrliche auf einen andern hervorruft. Es ist nicht m\u00f6glich, das eine Auge willk\u00fclirlieh zu erheben, ohne dass das andere derselben Bewegung folgt; es ist nicht m\u00f6glich, das Auge nach innen zu stellen, ohne dass die Iris enger wird. Der Unge\u00fcbte vermag nicht einen einzelnen Finger allein zu strecken. Diese Erscheinungen sind nicht ange\u00fcbt, sie sind angeboren. Die Mitbewegung ist bei dem Unge\u00fcbten am gr\u00f6ssten, und der Zweck der Uebung und Erziehung der Muskelbewegungen ist zum Theil, das Nervenprincip auf einzelne Gruppen von Fasern isoliren zu lernen. Das Resultat der Uebung ist daher in Hinsicht der Mitbewegungen Aufhebung der Tendenz zur Mitbewegung. Bei den Associationen der willk\u00fchrlichen Bewegungen ist cs ganz anders. Hier werden durch Uebung Muskeln zur schnellen Folge oder Gleichzeitigkeit der Bewegung ausgebildet, die an sich noch wenig Neigung zu dieser Association haben. Das Resultat der Uebung bei der Association der IleAvegungen ist daher gerade das umgekehrte, als bei den Milbewegungen. Durch Uebung verlieren die Muskeln die angeborne Tendenz zur Mitbewegung; durch Uebung Avird die willk\u00fchrliehe Mitbewegung mehrerer Muskeln erleichtert. Darwin und Reil haben diese ganz verschiedenen Zust\u00e4nde des Nervensvstems hier und da ver-wechselt. Das Gesetz, welch.es Darwin p. 49. ausspricht, ist: alle thierisclie Bewegungen, welche oft zu gleicher Zeit oder in einer unmittelbaren Folge erregt sind, werden so mit einander verbunden, dass, wenn die eine wieder hervorgebracht wird, die anderen eine Neigung haben, diese zu begleiten oder ihr zu folgen. Iin Allgemeinen kann man diess zugeben, obgleich cs nicht ganz richtig ausgedr\u00fcckt ist; aber die von Darwin und Reil zur Erl\u00e4uterung dieses Gesetzes gew\u00e4hlten Beispiele geh\u00f6ren zum Theil unter das Gesetz der Milbewegungen. Ueberdiess dr\u00fcckt das \u00dcARwiN\u2019sche Gesetz die Thatsachen nicht ganz richtig aus. W\u00e4re es wirklich so, so w\u00fcrden wir durch die Erziehung und Uebung ungeschickter. Mitbewegungen w\u00fcrden oft hinderlich werden, die die Uebung uns zum Hinderniss anerzogen, statt dass wir uns durch Uebung der angebornen Tendenz zur Milbewegung enl\u00e4usseru. Das von Darwin und Heil gew\u00e4hlte Bei-","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104 IV. Buch. Bewegung. II. Abschn. V. den cerschied. Muskc/bcwcg.\nspiel, dass wir nicht gut mit dem einen Arm die Luft horizontal durchschneiden, mit dem andern eine Kreisbewegung machen k\u00f6nnen, erl\u00e4utert die Association der Bewegungen von Uebung nicht ; die Tendenz zur symmetrischen Bewegung ist hier wie hei den Augen angeboren. Durch Uebung erwerben wir vielmehr die entgegengesetzte F\u00e4higkeit, diese heterogenen Bewegungen wirklich gleichzeitig auszuf\u00fchren. Ein anderes von Darwin und Reit, gew\u00e4hltes Beispiel ist geeigneter die Association der willk\u00fchrlichen Bewegungen zu erl\u00e4utern. Wer drechseln lerne, bestimme im Anf\u00e4nge jede Richtung des Meisseis durch Vorstellung, in der Folge sitze sein Wille auf der Spitze seines Meisseis. Hier werden in der That Muskelbewegungen zu schneller, willk\u00fchrlicher Folge associirt; aber keine ist die Ursache der andern und nur ihre schnelle Verbindung ist erleichtert, und eben so ist es mit aller Association willk\u00fchrlicher Bewegungen. Haben wir die Bewegungen in gewissen Folgen oft associirt, so wird ihre willk\u00fchr-liche Association immer leichter, so dass der Wille dann die ganze Reihe mit Schnelligkeit hervorruft, ohne dass jedoch ein Glied derselben gegen unsern Willen erscheint. Dass aber, wie Reil sagt, die Intention des Willens auf ein einziges Glied der Reihe zur Hervorrufung aller \u00fcbrigen gen\u00fcge, scheint mir durch die Thatsachen nicht erwiesen zu seyn. Es giebt freilich sehr viele, rein angew\u00f6hnte Bewegungen, die hei jeder Gelegenheit wiederkehren, wie die ausdruckslosen Bewegungen der Arme bei den Schauspielern und S\u00e4ngern, das Agiren mit den H\u00e4nden bei den meisten lebhaften Menschen ; aber diese angew\u00f6hnten Bewegungen erl\u00e4utern nicht das Gesetz der Association von Bewegungen zu Bewegungen, sondern das Gesetz der Verkettung von Vorstellungen und Bewegungen.\nb. Association von Vorstellungen und Bewegungen. Die Verkettung der Vorstellungen und Bewegungen kann so innig werden, wie die der Vorstellungen unter sich, und hier ist es in der That der Fall, dass, wenn eine Vorstellung und Bewegung oft verbunden gewesen sind, die letztere sich oft unwillk\u00fchrlich zu der erstem gesellt. Durch diese Verkettung geschieht, dass wir bei einer drohenden Bewegung vor den Augen, selbst beim Herabfahren der Hand eines Andern vor unseren Augen unwillk\u00fchrlich die Augen schliessen; dass wir uns angew\u00f6hnen, gewisse Vorstellungen nicht ohne gewisse Gesticulation auszusprechen, dass wir unwillk\u00fchrlich nach einem uns entfallenden K\u00f6rper mit den H\u00e4nden hinfahren; \u00fcberhaupt je h\u00e4ufiger Vorstellungen und Bewegungen willk\u00fchrlich zusammen Vorkommen, um so leichter werden letztere bei dem Anlass der ersteren mehr durch Vorstellung, als durch Willen bestimmt oder dem Einfl\u00fcsse des Willens entzogen. Diese Art der Verkettung spielt eine eben so grosse Rolle in den mechanischen Fertigkeiten und K\u00fcnsten, als die Association der Bewegungen unter einander. Die Association der Bewegungen unter sich l\u00e4sst sich nicht anders, als durch die Ausbildung einer leichtern Leitung des Gehirns in einer gewissen Direction erkl\u00e4ren und die Verkettung der Vorstellungen und","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"2. Zusammengesetzte willk\u00fchrUche Bewegungen.\n105\nBewegungen scheint darauf hinzudeuten, dass hei jeder Vorstellung eine Bewegungstendenz im oder nach dem Apparat ihrer Darstellung durch Bewegung entsteht, eine Tendenz zu Bewegungen, die durch Uebung und Gew\u00f6hnung einen solchen Grad der Leichtigkeit erhalt, dass die in gew\u00f6hnlichen F\u00e4llen vorhandene blosse Disposition jedesmal in Action tritt. Das G\u00e4hnen kann in dieser Hinsicht als Beispiel dienen. Man g\u00e4hnt oft nach der blossen Vorstellung des G\u00e4hnens, wenn die Disposition zum G\u00e4hnen vorhanden ist. Welcher Zusammenhang bestellt zwischen dem im Sensorium entstehenden Bilde eines G\u00e4hnenden und der auszuf\u00fchrenden unwillk\u00fchrlichen Bewegung des G\u00e4hnens? Wie k\u00f6mmt es, dass unter so unz\u00e4hligen Bildern nur dasjenige von den Bewegungen des G\u00e4hnens diese hervorruft? Diess beweist offenbar, dass die Vorstellung einer Bewegung allein schon hinreicht, um eine Tendenz in dem Apparate ihrer Ausf\u00fchrung, eine Str\u00f6mung des Nervenprincips in dieser Direction hervorzubringen. Dergleichen Beispiele sind aber mehrere anzuf\u00fchren. Ich habe schon hei andern Gelegenheit bemerkt, dass die Zuschauer von Fechtspielen oder Duellen die Streiche mit leisen unwillk\u00fchrlichen Bewegungen ihres K\u00f6rpers begleiten. Man kann dieselbe Bemerkung an einer Kegelbahn machen. Daher k\u00f6mmt es auch, dass wir auf bedeutendem H\u00f6hen und bei gef\u00e4hrlichem Stande in uns eine Art Hang empfinden, uns herabzust\u00fcrzen. Der Trieb zur Nachahmung der Bewegungen geh\u00f6rt auch liieher. Wenn man sich ernst halten will und immerfort an das Lachen denkt, so lacht man endlich; wie die Kinder, die sich ernst ins Gesicht sehen, ob eines zuerst lache. Lange, nachdem etwas L\u00e4cherliches stattgefunden, ger\u00e4th man \u00f6fter noch ins Leihen, wenn man Andere verstohlen lachen oder das Lachen unterdr\u00fck-ken sieht. Endlich ist auch das Entstehen der Kr\u00e4mpfe bei Krampfhaften zu erw\u00e4hnen, wenn sie Kr\u00e4mpfe sehen. In Hospit\u00e4lern, wo Krampfhafte in einem Saal zusammenliegen, bekommen zuweilen mehrere ihre Kr\u00e4mpfe, wenn einer erst angefangen.\nChevreul bat die Tendenz zu Bewegungen, die durch Vorstellungen von Bewegungen entsteht, aufgekl\u00e4rt und an einem verwickelten Fall, n\u00e4mlich an den Schwingungen eines mit der Hand gehaltenen Pendels erl\u00e4utert. Die Bewegung des Pendels bei scheinbar unbewegtem Arme wird n\u00e4mlich nach seinen Untersuchungen durch eine unbewusste leichte Muskelbewegung ausgef\u00fchrt, in die man unwiilk\u00fchrlich ger\u00e4th, wenn man, indem man das Pendel h\u00e4lt, zugleich darauf sieht, die aber hei verbundenen Augen wegf\u00e4llt. Die beiden Hauptthatsachen hierbei sind, dass ein in der Hand gehaltenes Pendel durch so leichte Bewegungen, wie sie selbst dem Bewusstseyn entgehen, in Bewegung gerathen kann, und dass das Betrachten der einmal entstandenen Bewegung unwiilk\u00fchrlich eine Reihe unbew\u2019usster Bewegungen zu ihrer Verst\u00e4rkung verursachen kann. Chevreul hat die That-sache auch zur Erkl\u00e4rung des G\u00e4hnens angewandt. b roriep?s iW. N. 831. Behn bat \u00fcbrigens gezeigt, dass eine der vorz\u00fcg-","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106 IV. Buch. Bewegung. II. Ahsclin. V. den verschied. Muskelbeweg.\nliebsten Ursachen zur Unruhe des in der Hand Gehaltenen Pendels die leisen Bewegungen sind, welche unseren K\u00f6rpertheilen durch den Puls mitgethcilt werden. Siche Muei.i.er\u2019s Archiv 18-15.\nDas Factum, dass Bewegungen sich mit Vorstellungen asso-ciircn, ist nicht isolirt, selbst wenn man von dem reichsten Felde der Associationen, n\u00e4mlich der Vorstellungen unter sich, absieht. Vorstellungen wirken nicht bloss auf die Bewegungsapparate, welche mit dem Inhalt der Vorstellungen Zusammenh\u00e4ngen, sie wirken auch eben so oft auf die Sinnesorgane, in welchen die Sinneseindr\u00fccke dieser Vorstellungen pr\u00e4sentirt werden. Es ist ein grosser Unterschied zwischen der Vorstellung einer ekelhaften Empfindung und der Empfindung des Ekels seihst, und doch kann ein ekelhafter Geschmack bei der blossen Vorstellung desselben bis zur Vomiturition entstehen. Die Qualit\u00e4t der Empfindung ist eine Energie des Empfindungsnerven, welche hier ohne eine \u00e4ussere Ursache durch die blosse Vorstellung derselben erregt wird. Schon Darwin hat das Beispiel angef\u00fchrt, dass der blosse Anblick eines Menschen, der mit scharfen Instrumenten \u00fcber Porzellan oder Glas fahren wolle, die bekannte Empfindung in den Z\u00e4hnen erregen k\u00f6nne. Blosse Vorstellungen von gar nicht vorhandenen Gegenst\u00e4nden, welche vorhanden Schauder erregen k\u00f6nnen, bewirken bei Reizbaren im Uebermaasse das kalte Ueberlaufen. Die Energien der h\u00f6heren Sinne, des Gesichtssinnes, Lichtempfindung, des Geh\u00f6rsinnes, Tonempfindung, werden nur in seltenen Fallen im wachenden Zustande, desto h\u00e4ufiger aber im Schlafe und Traum erregt. Denn dass die Traumbilder wirklich oft gesehen und nicht bloss vorgcstellt werden, kann ein aufmerksamer Selbstbeobachter an sich erl\u00e4hren, wenn er sich methodisch angew\u00f6hnt, nach dem Traum erwachend, die Augen zu \u00f6ffnen. Zuweilen sind n\u00e4mlich die Traumbilder noch in den Augen und verschwinden sichtlich. Diess hat schon Spinoza gewusst und an sich erfahren, und ich habe es oft an mir beobachtet. Siehe Gruithuisen Beil r\u00fcge zur Physiu-gnosie u. Eautognosie. M\u00fcnchen 1812, und J. M itei.i.f.h \u00fcber die phantastischen Gesichtserscheinungen. Coblenz 1826. Lieber diese Gegenst\u00e4nde wird \u00fcbrigens ausf\u00fchrlicher in dem 6. Buch von den Seelcnfunctionen gehandelt.\n3) Insiinctarlige Bewegungen.\nDie zusammengesetztesten Bewegungen, deren Ursachen am verborgensten sind, sind unstreitig die instinctartigen. Instinct-artige Handlungen - der Tbiore sind alle, welche zwar willkiihi-licli ausgef\u00fchrt werden, deren letzte Ursache aber nicht der blosse Wille des Thieres ist und deren vern\u00fcnftiger Zweck dem Thiere nicht bewusst wird, deren verborgene, nach dem letzten Endzweck des Thieres wirkende Triebfeder dem Senso-rium des Thieres nur das von dem Willen im Einzelnen auszuf\u00fchrende Thema der willk\u00fclirlichen Bewegung antreibend vorspiegelt. Nur Gef\u00fchle und Triebe zu bestimmten Handlungen sind es, was wir von dieser Gewalt empfinden. Die instinctartigen Triebe zu Handlungen sind bei dem Menschen selten, wie der Trieb zu Saugebewegungen bei dem S\u00e4ugling. Die Handlungen, welche","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"2. Zusammengesetzte mUk\u00fchrllche Bewegungen.\n107\nzur Aus\u00fcbung des Geschlechtstriebes f\u00fchren, werden bei den Thieren s\u00e4mmtlich instinctartig ausgef\u00fchrt, beim Menschen gewiss nur zum Theil. Ist auch das Umfassen der Liebe erregenden Formen triebartig eingegeben, so werden doch die ersten Menschenkinder das \u00fcbrige erst selbst erfahren haben. Bei den Thieren nimmt die Menge der instinctartigen, zweckm\u00e4ssigen Handlungen in dem Grade zu, als sie zur Erzielung des Endzwecks der Gattung und Art durch ihre Seelenfunctionen nicht bef\u00e4higt sind. Es kann hier nicht die Aufgabe seyn, die Menge dieser Thatsachen, welche sich auf die Wanderungen, den Nestbau, den Bau der Wohnungen, Gespinnste, die Zucht der Jungen beziehen, aufzuz\u00e4hlen.\nDie Ursache des Distinctes scheint dieselbe, welche die ganze Entstehung des Thieres bedingt und seine selbstst\u00e4ndige Organisation nach ewigem Gesetze vollbringt. Die Begriffe, die wir von der Natur eines organischen Gesch\u00f6pfes uns bilden, sind ruhig , schaffen nichts und sind unfruchtbar. Die organisirende Kraft, die viel sicherer nach vern\u00fcnftigen Ideen und nach g\u00f6ttlichem Plane wirkt, organisirt ihre Producte selbst und erscheint in jedem Producte wieder. Vor ihr sind alle R\u00e4thsel der Physik gelost, vor jener Kraft, welche das Auge des Menschen und Insectes schafft. Diese Kraft, die Endursache eines Gesch\u00f6pfes, ist es auch, welche die Verluste wieder ersetzt und die Heilung nach einer Krankheit m\u00f6glich macht, und welche, uranf\u00e4nglich in dem befruchteten Keimstoll des neuen Individuums enthalten, erst das Organ erschafft, in welchem sp\u00e4ter unfruchtbare Abbilder der Dinge, die Vorstellungen und Begriffe entstehen. Da diese Kraft vor der Entstehung aller Organe aus der structur-losen Masse des Keimes alle schafft, so ist sie auch an kein O rgan gebunden; sie \u00e4ussert sich in der Ern\u00e4hrung noch hei dem hirnlosen F\u00f6tus; sie ver\u00e4ndert das Nervensystem, wie alle \u00fcbrigen Organe bei der sieh verwandelnden Insectenlarve, so dass mehrere Knoten des Nervenstranges verschwinden und andere sich vereinigen; sie bewirkt, dass bei der Umwandlung des Frosches das R\u00fcckenmark sich verk\u00fcrzt, in dem Maass die Organisation des Schwanzes eingeht und die Nerven der Extremit\u00e4ten entstehen. Aus den instinctartigen Handlungen der Thiere sehen wir ferner, dass die nach ewigem Gesetz f\u00fcr einen bestimmten Zweck wirkende Kraft, dieses nicht in unser Bewusstsevn fallende g\u00f6ttliche Denken (um im Sinne Spinoza\u2019s zu reden) auch \u00fcber die Entstehung und Organisation der organischen Wesen hinaus th\u00e4tig ist und auf die willk\u00fchrlichen Handlungen Einfluss hat. Was in der instinctartigen Bewegung erzielt wird, ist auch durchaus zweckm\u00e4ssig, f\u00fcr die Existenz der Gattung und Art so nothwendig, als die Organisation selbst; aber das Erzielte liegt hier ausser dem Organismus, bei der Organisation ist es ein Theil desselben, und jenes Vorstellen des thierischen Wesens, das wir das unfruchtbare nannten, wird selbst von jener Kraft bestimmt, etwas Besonderes vorzustellen und zu erzielen. Die letzte Ursache des lnstinctes liegt daher wohl auch nicht in einem besondern Organe, sondern ist eins","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108 IV. Buch. Bewegung. II. Ahschn. V. den verschied. Muskelbeweg.\nmit der nach nothwendigem Gesetz und nach vern\u00fcnftigem Prin-cip wirkenden Kraft der Organisation. Die Wirkungen dieser Kraft werden indess zuerst im Sensorium offenbar. Cuvier dr\u00fcckt sich dar\u00fcber sehr verst\u00e4ndlich aus. Er sagt: dass die Tbiere hei den instinctartigen Handlungen von einer angeborenen Idee, von einem Traume verfolgt werden. Die Verwirklichung der im Sensorium erscheinenden Vorstellungen, Bilder, Triebe ist \u00fcbrigens durch die Organisation der Thiere selbst ausnehmend erleichtert. Da Beides, das Innere und Aeussere, von derselben Endursache abh\u00e4ngt, so ist auch die Gestalt des Thieres seinen Trieben durchaus entsprechend; es will nichts, als was es durch seine Organe ausf\u00fchren kann, und es wird durch seine Organe nichts zu thun veranlasst, zu welchem nicht der Trieb vorhanden ist. Der Maulwurf, seinen inneren Trieben nach zu unterirdischem Leben bestimmt, hat in seinen Organen keine Aufforderung, von dieser inneren Bestimmung abzugehen. Wenn er gleich sieht und sein Auge nicht von der Haut bedeckt ist, vielmehr Augenlieder bat, so ist doch sein Gesiebt undeutlich, sowohl wegen der Kleinheit des Auges, als der' Umstellung desselben mit dichten Haaren. Seine Vorderf\u00fcs.se sind ganz zum Graben organisirt, so, als wenn er damit nicht gehen, sondern nur w\u00fchlen sollte; und in der That ist die Bildung der Hand und ihre Stellung zum Vorderarme so, dass er kaum geben kann, ohne von selbst schon zu w\u00fchlen. Die Faulthiere, welche mit eingezogenen Zehen mehr mit dem \u00e4ussern Fussrande auftreten, sind auf ebener Erde \u00e4usserst langsam und unbeh\u00fclflich, und haben daher die unrichtige Vorstellung erregt, als habe die Natur sie vor allen Thieren vernachl\u00e4ssigt; diese Gesch\u00f6pfe sind dagegen in ihrer Art so vollkommen, wie alle \u00fcbrigen, ihre Extremit\u00e4ten sind zum Klettern, zum Leben auf B\u00e4umen eingerichtet, wo sie auch die Nacht zubringen, und hier sind sie, wenn auch langsam, wie einige andere Kletterer, z. B. das Cham\u00e4leon, doch sehr geschickt und kr\u00e4ftig. Die Spinne ist in der Insertion der Beine und in der Organisation der letzteren so eingerichtet, dass ihre Bewegung auf ebenem Boden auch ungeschickt und krabbelnd ist. Ihre Beine sind bestimmt auf eine Linie zu wirken, d. h. an einem Faden zu klettern. Sie f\u00fchrt das Material f\u00fcr die auszuspannenden F\u00e4den mit sich, und ihre inneren instinctartigen Triebe spiegeln ihr traumartig das Thema zum Handeln, zum Netzbau vor. Der Gepard, Felis jubata, kann zum Jagen gebraucht werden, gegen das Naturel der Katzen, welche sonst selbst das Geschenkte erst wie Geraubtes wegnehmen und auf ihre Beute im Hinterhalt lauern. Der Gepard ist aber auch vor allen anderen Thieren des Katzengeschlechtes durch seine geraden, nicht zur\u00fcckziehbaren und vorstreckbaren N\u00e4gel ausgezeichnet.\nEs ist bewunderungsw\u00fcrdig, wie der Instinct den Thieren F\u00e4higkeiten, Fertigkeiten und Anschauungen mittheilt, die wir auf dem m\u00fchsamen Wege der Erfahrung und Erziehung uns erwerben m\u00fcssen. Wenn wir anfangen zu sehen, haben wir noch nicht das Verm\u00f6gen die Bilder der Gegenst\u00e4nde in unserm Auge","page":108},{"file":"p0109.txt","language":"de","ocr_de":"2. Zusammengesetzte w!llkiihr/iche Bewegungen.\n109\nin Beziehung auf Ferne und N\u00e4he der Gegenst\u00e4nde zu beur-theilen. Da alle Gegenst\u00e4nde des Sehfeldes so gut wie einer Malerei heim Sehen in einer Fl\u00e4che concipirt werden, so bedarf es einer langen Erfahrung und der Mitwirkung des Fastens und der Bewegungen, um die Art der bildlichen Darstellung eines Gegenstandes im Sehfelde mit Vorstellungen von seiner Entfernung, Gr\u00f6sse, Form zu begleiten. Das Thier wird so geboren, als h\u00e4tte es diese Erziehung schon durchgemacht. Das Kalb geht bald nach der Gehurt nach der Zitze der Mutter hin. Wir lernen gehen durch eine m\u00fchsame Uebung, wobei die Gesetze des Gleichgewichts, der Schwerkraft u. s. w. jeden Augenblick in Betracht kommen; wir lernen es erst, nachdem wir das Maass der Contraction unserer Muskeln f\u00fcr jedes Thema der Bewegung durch Erfahrung und Irren kennen gelernt haben. Die neugeborenen Thiere, wenigstens die Einhufer und Wiederk\u00e4uer, haben diese Kenntnisse schon. Sie stellen sich bald auf, gehen auf die Mutter und die Zitzen zu. Alles diess kann nur durch Mitwirkung der instinctartigen Kraft geschehen, vor welcher alle Probleme der Physik gel\u00f6st sind. Im Sensorium des neugebor-nen Thieres muss eine Kraft wirken, welche die Hebel der ortsbewegenden Glieder in voller Zweckm\u00e4ssigkeit wirken l\u00e4sst. Von den instinctartigen Handlungen muss man gewisse andere trennen, welche manche Thiere in Schlafesruhe noch mit vieler Kunst aus\u00fcben, wenn sie dazu die F\u00e4higkeiten allm\u00e4hlig erworben haben. Viele V\u00f6gel schlafen auf einem Beine stehend. Sie halten mit der gr\u00f6ssten Sicherheit das Gleichgewicht, und die Kraft zu diesen Handlungen ruht nicht, wenn auch die sensoriellen Wirkungen des Sensoriums ganz ausruhen. Der Nachtwandler befindet sich in einem \u00e4hnlichen Fall. Es ist nicht der Instinct, der ihn leitet, sondern die w\u00e4hrend des Lehens gewonnene Erfahrung, sicher zu gehen, \u00fcber die er noch w\u00e4hrend des Schlafes gebietet. Er benutzt alle w\u00e4hrend seines Lehens durch Erziehung und Erfahrung gewonnenen Kenntnisse in Hinsicht der Erhaltung des Gleichgewichtes; seine Seelenaction allein und nicht der Instinct ist es, die ihn vor dem Fall sichert; aber sein Sensorium ist nur in einer Direction th\u00e4tig, in allen \u00fcbrigen verschlossen; und dass er in dieser Beschr\u00e4nkung die Gefahr nicht erkennt, macht ihn sicher und f\u00fchrt ihn am Abgr\u00fcnde vorbei. Diese Erscheinungen haben in der That f\u00fcr die Erkl\u00e4rung nicht so viel Schwierigkeit, als es scheint. Dass Jemand auf einer massig schiefen Fl\u00e4che mit Sicherheit geht, h\u00e4ngt ganz davon ab, dass er weiss, dass die Fl\u00e4che nicht hoch von der Erde entfernt ist. Dieselbe schiefe Ebene, auf der man nahe der Erdoberfl\u00e4che leicht einhergehen w\u00fcrde, erscheint uns auf einer j\u00e4hen Anh\u00f6he gefahrvoll und schwierig zu ersteigen. Wer die Gefahr im letztem Fall nicht einsieht, wird auch eben so sicher, als bei geringer Entfernung von der Erdoberfl\u00e4che darauf hergehen.\nDa es hei den Thieren offenbar instinctartige, angeborene Gef\u00fchle und Anschauungen giebt, die sich sogleich nach der Gehurt oder sp\u00e4ter \u00e4ussern, so entsteht die Frage, oh nicht auch der Mensch angeborene Ideen habe, die f\u00fcr ihn auf h\u00f6herer","page":109},{"file":"p0110.txt","language":"de","ocr_de":"110 IV. Buch. Bewegung. II. /llsclm. V. den verschied. Muskrlheweg.\nStufe dieselbe bindende Gewalt haben, wie die instinetnrtigen Triebe und Gef\u00fchle der Thiere auf diese. Wir werden auf diese Frage im 6. Buch von den Seelenfunctionen zur\u00fcckkornmen. Einige haben Hoffnungen daran gesetzt, dass das instinclm\u00e4ssige, vern\u00fcnftige Wirken der organisirenden Kraft in gewissen Zust\u00e4nden dem Bewusstseyn etwas mittheilen k\u00f6nnte, was auf dem Wege der Seelentb\u00e4tigkeiten nicht zu erkennen w\u00e4re, und haben das instinctmassige Walten f\u00fcr den Menschen \u00fcbersch\u00e4tzt. Hierzu ist kein Grund vorhanden, und mir ist nicht bekannt, dass das ausser dem Bewusstseyn still wirkende Naturwalten und Schallen im Menschen nach freilich vern\u00fcnftigem und h\u00f6herem Gesetz dem Bewusstseyn etwas vertraut h\u00e4tte, oder dass das g\u00f6ttliche Denken, welches schallend ist, sich in unsere vorstellungsm\u00e4ssi-gen Abbilder der Gegenst\u00e4nde eingemengt h\u00e4tte. Was davon verlautet ist, aus sogenannten magnetischen Zust\u00e4nden, verdient den Glauben nicht, den ihm leichtgl\u00e4ubige Aerzte geschenkt haben, und hat sich zu oft als Betrug oder Thorheit erwiesen. Die Aufschl\u00fcsse, die auf diese Art an uns gekommen, sind aber nic hts anders, als oft noch gar sehr verwirrte, vorstellungsm\u00e4ssige Bilder gewesen, deren Inhalt der Capacit\u00e4t des Vorstellenden und der Gl\u00e4ubigen angemessen war.\n4) Cuordinirte Bewegungen.\nSo abh\u00e4ngig die Ortsbewegungen von dem Willen sind, so ist doch die zweckm\u00e4ssige Verbindung der einzelnen Bewegungen zur Ortsver\u00e4nderung, wie es scheint, durch innere Einrichtungen in den Gentralorganen erleichtert; und es scheint zwischen gewissen Theilen der Centralorgane des Nervensystems und den Muskelgruppen und ihren nerv\u00f6sen Leitern eine pr\u00e4stabilirte Harmonie stattzulinden. Man k\u00f6mmt auf diese Vorstellung sowohl hei Versuchen \u00fcber die Kr\u00e4fte des kleinen Gehirnes, als hei Versuchen \u00fcber die des R\u00fcckenmarkes. Man hat schon gesehen, dass enthauptete V\u00f6gel noch allerhand Versuche zur Ortsbewegong machten. Dasselbe hat man hei Fr\u00f6schen gesehen. Dergleichen Bewegungen haben nicht das Ansehen von willk\u00fchrlichen Bewegungen, zu welchen die Mitwirkung des Gehirns nolhwendig ist; aber es herrscht eine gewisse Uebereinstimmung in den einzelnen Acten solcher tumultuarischen Bewegungen, welche enthauptete G\u00e4nse machen. Sie schlagen mit den Fl\u00fcgeln; hierzu ist aber die gleichzeitige und \u00fcbereinstimmende Wirkung vieler Nervenfasern noting, und es scheint also, dass die coordinate Wirkung derselben durch irgend eine organische Einrichtung in den Central-theilen erleichtert ist. Blosse Zuckungen aller vom R\u00fcckenmark abh\u00e4ngigen Muskeln sind es nicht. Denn wenn alle Nervenfasern des verletzten R\u00fcckenmarks in Irritation gerat lien, so m\u00fcssen auch alle Muskeln des Rumpfes gleich angezogen werden; daraus k\u00f6nnen aber keine Fl\u00fcgelsehl\u00e4ge erfolgen; man sieht wenigstens nicht ein, warum der enthauptete Vogel nicht eben so gut die Fl\u00fcgel dicht und krampfhaft an den Leih anlegen sollte. Ils geh\u00f6rt hieher auch das Winden enthaupteter Aale und Schlagen des Schwanzes hei enthaupteten anderen Fischen. Bei den wirbellosen Thieren geschehen die Ortsbewegifhgen nach der Ent-","page":110},{"file":"p0111.txt","language":"de","ocr_de":"2. Zusammengesetzte wiUkiihrlirhe Bewegungen.\nIll\nH\u00e4uptling zuweilen sogar in ganz gew\u00f6hnlicher Folge. Ein Ca-rahus granulatus lief in Treviranus Versuchen nach der Enthauptung nach wie vor herum; eine Bremse, auf den R\u00fccken gelegt, strengte sich an, auf die Beine zu kommen. Treviranus f\u00fchrt auch die Beobachtung von Waixkenaer \u00fcber Cerceris or-nata an, welche einer in L\u00f6chern lebenden Biene nachstellt. Waixkenaer stiess einer solchen Wespe im Augenblicke, wo sie in lias Loch der Biene eindringen wollte, den Kopf ah; sie setzte ihre Bewegungen fort und suchte umgekehrt dahin zur\u00fcckzukehren und einzudringen. T .eviranus Erscheinungen und Gesetze des organischen Lehms. 2. 194. Getheiite Blutegel setzen die Ortsbewegungen in der Art, wie fr\u00fcher fort. Es erhellt hieraus, dass gruppenweise Bewegungen der Muskeln hei den Wirbellosen und Wirhelthieren nach der Enthauptung m\u00f6glich sind. Bei den Wirbellosen scheint freilich hierbei selbst der Willenseinfluss noch stattzufinden.\nFlourens Versuche \u00fcber das kleine Gehirn zeigen ferner, dass nicht bloss im R\u00fcckenmark eine pr\u00e4stabilirtc Harmonie gewisser gruppenweiser Bewegungen residirt, dass vorz\u00fcglich das kleine Gehirn die gruppenweise Wirkung der Muskeln f\u00fcr die Ortsbewegung beherrscht. Nahm derselbe bei V\u00f6geln Schnitt f\u00fcr Schnitt das kleine Gehirn weg, so trat nicht bloss Schw\u00e4che der Muskelbewegungen, sondern auch ein Mangel an Ueberein-stimmung derselben ein. Schon nach der Wegnahme der oberfl\u00e4chlichen Lagen wurden die Thiere unruhig; ohne Convulsio-nen zu erleiden, machten sie heftige und ungeregelte Bewegungen; dabei waren ihre Sinnesfunctionen ungest\u00f6rt. Nach Wegnahme der tieferen Lagen des kleinen Gehirns verloren die Thiere die F\u00e4higkeit zum Springen, Fliegen, Gehen, Stehen, zur Erhaltung des Gleichgewichtes. Wurde ein Vogel in diesem Zustande auf den R\u00fccken gelegt, so konnte er sich nicht umkehren; er flatterte best\u00e4ndig und war nicht bet\u00e4ubt; den nach ihm gef\u00fchrten Streich suchte er zu vermeiden. Flourens schloss daraus, dass Wille, Empfindung, Besinnung geblieben sey, dass aber die F\u00e4higkeit, die Muskeln gruppenweise zu Ortsbewegungen zu verbinden, verloren gegangen sey. Andererseits zeigen seine Versuche \u00fcber die Verletzungen der grossen Hemisph\u00e4ren, dass das coordinirende Princip in ihnen nicht residirt. Denn die Thiere werden nach der Wegnahme eines grossen Theils der Hemisph\u00e4ren nur bet\u00e4ubt und kraftlos, aber f\u00e4hig zu allen willk\u00fchrlicben und gruppenweisen Bewegungen; wie denn die V\u00f6gel in diesem Zustande, in die Luft geworfen, noch mit Fl\u00fcgelschlag auf die Luft wirken und zu fliegen verm\u00f6gen. Indess zeigt selbst das Flattern nach der Wegnahme des kleinen Gehirns noch eine Spur von coordinirter Bewegung an, die, xvie wir nach der Enthauptung der G\u00e4nse sehen, von dem R\u00fcckenmark allein abh\u00e4ngig seyn kann. Diese Coordination der Bewegungen muss den Thieren bei dem ersten Gebrauch ihrer Extremit\u00e4ten, wobei sie sich so geschickt zeigen, sehr zu statten kommen, und \u00fcberhaupt gehen die coor-dinirten Bewegungen als Elemente in die Zusammensetzung der instinctartigen Bewegungen vielfach ein. Im S\u00e4ugling ist ein in-","page":111},{"file":"p0112.txt","language":"de","ocr_de":"112 IV. Buch. Bewegung. II. Absehn. V. den verschied. Muskelbewrg.\nnerer Stimulus im Gehirn zu coordinirten Saugbewegungen vorhanden, und selbst der Kopf eines enthaupteten K\u00e4tzchens zeigt, wie Mayer beobachtete, nach an dem in den Mund gehaltenem Finger noch Saugbewegungen.\nIII. Capitel. Von den Ortsbewegungen.\nEs giebt viele Thiere, die mit einem Theile ihres K\u00f6rpers festsitzend oder liegend der Ortsbewegung gr\u00f6sstentheils ermangeln und nur eine relative Ortsbewegung einzelner Theile ihres K\u00f6rpers haben.\nIm ersten Falle befinden sich die zusammengesetzten Eingeweidew\u00fcrmer, wie Coenurus cerebralis, dessen W\u00fcrmchen durch eine gemeinsame Blase verbunden, auf dieser sich nur erheben und sich zur\u00fcckziehen k\u00f6nnen. Ferner geh\u00f6ren dahin die zusammengesetzten Polypen, deren Ortsbewegung sich auf Hervorstrecken und Zur\u00fcckziehen des Polypenkopfes und seiner Arme in den Kelch des Polypen beschr\u00e4nkt. Auch die Seefedern, von denen man lange glaubte, dass sie sich frei im Meere bewegen, stecken im Boden gleich den Veretillen und nur ihre einzelnen Polypen k\u00f6nnen sich entwickeln und zur\u00fcckziehen. Einfl\u00fcsse, welche auf einzelne Polypen des Stammes wirken, veranlassen auch nur das Zur\u00fcckziehen der einzelnen Polypen. Rapp \u00fcber die Polypen. S. 8. Doch hat Rapp auch am Stamme der Veretillen tr\u00e4ge Kr\u00fcmmungen beobachtet. Ein Veretillum, das Rapp in den Canal von Cette warf, pflanzte sich in den Boden ein. Den Bau und die Lebensverh\u00e4ltnisse des Stammes kennt man noch nicht von mehreren Polypen gleich gut. Der Stamm der Sertularien enth\u00e4lt einen Canal, in vvelchem nach den Beobachtungen von Meyen und Lister abwechselnde, aufw\u00e4rts und wieder abw\u00e4rts gehende Str\u00f6mungen des Saftes stattfinden. Nach Lister b\u00e4ngt der Canal des Stengels mit dem Magen zusammen und ebenso die Str\u00f6mungen beider, was Meyen l\u00e4ugnet. Lister phil. Trans. 1835. 2. In der Acbse des dicken Polypenstammes von Veretillum verlaufen nach Rapp 4 gerade Can\u00e4le, die mit queren Muskelfasern umgehen sind; sie sind mit Seewasser gef\u00fcllt. Die Mundh\u00f6hle jedes einzelnen Polypen f\u00fchrt in einen braunen engen Canal, der sich in die durchsichtige, \u00fcber einen Zoll lange R\u00f6hre des Polypen \u00f6ffnet. Diese ist der Magen; sie setzt sich im Hauptstamme in einer Zelle fort, welche mit den in der Achse verlaufenden Can\u00e4len zusammenh\u00e4ngt. Die 4 Can\u00e4le des Stammes \u00f6ffnen sich am untern Ende mit 4 Oeffnungen ; \u00fcberdiess h\u00e4ngen die Can\u00e4le durch kleine L\u00f6cher mit der schwammigen Substanz des Hauptstammes zusammen. Nov. Act. Hat. Cur. XIV. 2. 650. In welchem innern Zusammenh\u00e4nge die selbstst\u00e4ndigen Bewegungen der einzelnen Polypen zu den tr\u00e4gen Kr\u00fcmmungen des Stammes von Veretillum stehen, ist noch nicht recht klar geworden, wie denn \u00fcberhaupt die Aufkl\u00e4rung des physiologischen Zusammenhanges zwischen den Polypen und ihrem Stamm eine der vervvickeltsten Aufgaben ist. Zufolge","page":112},{"file":"p0113.txt","language":"de","ocr_de":"3. Von den Ortsbewegungen.\t113\nEurenberg\u2019s Untersuchungen, der hier so viel beobachtet hat, ist \u201eder.Corallenb.au weder ein blosser Bau vieler willk\u00fchr-1 ich vereinter Tliiere, noch ein einziges vielk\u00f6pfiges oder einfach gespaltenes Ihier, noch ein Pflanzenstamm mit Thierbl\u00fc-then, sondern ein Familienk\u00f6rper, ein lebender Stammbaum, dessen einzelne auf den Urahnen fort und fort entwickelte Tliiere in sich abgeschlossen und der vollen Selbstst\u00e4ndigkeit f\u00e4hig sind, ohne sie selbst herbeifiihren zu k\u00f6nnen.\u201c Ehrenberg, die Corallen-thiere des rothen Meeres. Berlin 1834. p. 27.\nDie Armpolypen sind theils der freien Ortsbewegung f\u00e4hig, wie die Hydren, theils festsitzend, wie die Corynen. Unter den Annularien giebt es einzelne, welche einer freien Ortsbewegung ermangeln, wie die in K\u00f6chern lebenden Serpulen. Unter den Mollusken leben die Tubnlibranchien, wie die Vermetus Sihquaria, in festsitzenden R\u00f6hren. Auch die Ostreaceen unter den zwcischaligen Muscheln, theils mit ihrer Schale an Felsen festsitzend, theils frei, ver\u00e4ndern m beiden F\u00e4llen kaum den Ort, und ihre Bewegung beschr\u00e4nkt sich auf das Schl\u00fcssen der Schale\u2019 die durch das elastische Schlosshand von selbst ge\u00f6ffnet wird. Andere dieser Familie, wie die Pinnen, heften sich mit dem aus dem Fussrudiment kommenden Byssus an feste K\u00f6rper und bedienen sich des Byssus, wie Cuvier sich ausdr\u00fcckt, zum Anker: Auch die Myliiaceen bedienen sich ihres lungern Fusses mehr zum Anhefter, des Byssus, als zum Kriechen. Andere Aluschein bedienen sich des Fusses z\u00fcrn Kriechen, wie die Anodonten, Unionen u. A. Die Ascidien sind an Felsen geheftet und ermangeln ullei Oi tshewegung. Ihre willkiihrlichen Bewegungen bestehen mit im Ausspritzen des Wassers aus der dazu bestimmten Ali\u00fci-dung des Alanteis. Unter den zusammengesetzten Ascidien sitzen die Botryllen auf K\u00f6rpern auf, zu sternf\u00f6rmigen Alassen vereinigt. Cu\\ 1er bemerkt, dass, wenn man eine Al\u00fcndung eines einzelnen liners reize, sich nur ein Thier zusammenziehe, wenn man das entrum reize, alle sich contrahiren. In derselben Abtheilung bilden die Pyrosomcn zusammengesetzte Mollusken, die zu einem lolilen, an einem Ende offenen Cylinder vereinigt sind. Sie sind lrci im Meere, und man sagt, dass diese Cylinder durch die gemeinschaftlichen Zusammenziehungen aller einzelnen Thiereben umlierschwninnen. Cuv. regne animal. Das N\u00e4here einer physiologisch so merkw\u00fcrdigen Erscheinung ist unbekannt. Das Erloschen der Phosphoresenz von einem einzigen verletzten Tlieile \u00ab|es Cylinders aus spricht allerdings auch f\u00fcr eine gemeinschaft-lc le Action dieser Wesen. Die zusammengesetzten Polypen bie-en uns von einem so merkw\u00fcrdigen Verh\u00e4ltniss kein Beispiel car. Mehrere Tliiere sein- verschiedener Classen sind w\u00e4hrend emes iheils ihres Lebens frei, w\u00e4hrend des andern festgeheftet\u00ab mige sind in der ersten Zeit festgeheftet, sp\u00e4ter frei; dahin ge-loren nach Ehrenderg\u2019s Beobachtungen die Vorticellen. Sie \u2018\u201cY\u201c \u2019'mlmi durch Stiele an gemeinsamer kriechender Wur-si t ^J<l\tsich der K\u00f6rper des Thierchens in 2, welche\n\u25a0 c i von cm Stiele trennen, der nun die fr\u00fchere Beweglichkeit. i zusammenzuziehen und a\u00fcszudehnen, verloren hat. Vom M\u00fc 11 ci\u2019s Physiologie. 2r Bd. 1.\tc","page":113},{"file":"p0114.txt","language":"de","ocr_de":"114 IV. Buch. Bewegung. II. Alschn. V. den verschied. Mtiskelbeweg.\nStiele getrennt schwimmt nun jedes der Thierchen frei umher. Andere Thiere sind in der Jugend frei und sp\u00e4ter angeheftet, und ohne Ortshewegung. Von diesem merkw\u00fcrdigen Verh\u00e4ltnisse gehen uns die sch\u00f6nen Beobachtungen von v. Nordmann \u00fcber die Lerneaceen, von Dimes \u00fcber die Hydraebnen und von Burmeister \u00fcber die Cirripeden Beispiele. Die Lern\u00e4en sind jin der Jugend crustaceenartig gebildet und frei, sp\u00e4ter ver\u00e4ndern die Weibchen ihre Gestalt so sehr, dass man sie f\u00fcr Eingeweidew\u00fcrmer gehalten hat. ln diesem Zustande sitzen sie als Parasiten an anderen Thieren (Fischen) lest. Die M\u00e4nnchen sitzen an dem Hinterleibe der Weibchen angeklammert, v. Nordmann micrographische Beitr\u00e4ge.\nDie Hydrachnen sind als Larven sechsf\u00fcssig; sie befestigen sich sp\u00e4ter als Parasiten aufWasserinsecten. Nun verl\u00e4ngert sieb der Hinterthed ausserordentlich und das Thier wird zu einer langgezogenen Ellipse; dann ist das Thier Nymphe. Unter der Haut der Nymphe bilden sieb die Glieder und Augen des vollkommenen Thiers. Das Thier tritt hervor und schwimmt, ist aber noch nicht vollkommen; nach einigen Wochen heftet es sich mit dem S\u00e4ugr\u00fcssel in ein Blatt von Potamogeton und wird unbeweglich; die Beine verschwinden abermals und nun entwickeln sich erst die Beine des vollkommenen Thiers. Ann. d. sc. na/. 1834. Das ausgeschl\u00fcpfte Junge der Cirripeden gleicht den Jungen der Lern\u00e4en und schwimmt umher. Der K\u00f6rper besitzt schon 3 Paar Bauchf\u00fcsse; \u00e4ltere Junge haben schon eine leder-artige Schale. Durch einen fleischartigen Fortsatz, der zwischen den Klappen hervortritt, wird das Junge nun an den Tang befestigt. Tn diesem Zustande besitzt das Junge selbst ein Auge; erst in der folgenden Periode erh\u00e4lt es die doppelte Zahl der Eusse, und beim H\u00e4uten geben Auge und die fr\u00fcheren F\u00fchler verloren. Burmeister, Beitr\u00e4ge zur Naturgeschichte der Ranken-fiisser. Berlin 1834. Die Bewegungsorgane der frei den Ort ver\u00e4ndernden Thiere sind tlieils Wimpern, Borsten, Bl\u00e4ttchen, Flossen, tHeils articulirte Glieder, theils geschieht die Bewegung durch Austreibung von Fl\u00fcssigkeiten, die vorher aufgenommen worden, theils durch wellenf\u00f6rmige Bewegungen der K\u00f6rpertheile, die bald fixirt, bald nachgezogen, bald vorgestreckt werden, theils durch abwechselnde Ausdehnung und Contraction der ganzen Masse des K\u00f6rpers.\nUeber die Bewegungsorgane der Infusorien bat Ehrenberg ausf\u00fchrliche Aufschl\u00fcsse gegeben. Zur Erkenntniss der Organisation in der Richtung des kleinsten Raums. Berlin 1832. p. 28. Unter die einfacheren Bewegungsorgane geh\u00f6ren theils ver\u00e4nderliche, an vielen Stellen des K\u00f6rpers hervorzutreibende Forts\u00e4tze, wie in der Gattung Amoeba, dem ehemaligen Proteus; theils Borsten, wie auf dem It\u00fccken der Chaetonotus, theils Wimpern, die bei den Magenthierchen oft \u00fcber den ganzen K\u00f6rper verbreitet sind, theils Haken. Die zusammengesetzten Bewegungsorgane sind die R\u00e4derorgane in der Classe der R\u00e4dertliiere und bei einzelnen Magenthierchen. Von diesen Organen hat Ehrenberg mehrere Variet\u00e4ten beschrieben. Was derselbe \u00fcber ihren Bau entdeckt, hat, ist schon oben p. J3. ber\u00fchrt worden. Die Vibrationen","page":114},{"file":"p0115.txt","language":"de","ocr_de":"3. Von den Ortsbewegungen.\n115\ndieser Organe dienen nicht bloss zur Erzeugung von Strudeln im Wasser, wodurch Nahrungsstoffe zugef\u00fchrt werden, sondern auch zum Schwimmen. Die R\u00e4derthiere k\u00f6nnen \u00fcbrigens auch kriechen hei abwechselndem Fixiren des vordem und hintern K\u00f6rperendes, indem der letztere bald gegen den erstem angezogen, bald vom hintern Ende aus der K\u00f6rper gestreckt wird'.\nDie Acalephen von Scheiben- oder Glockengestalt ver\u00e4ndern den Ort durch abwechselnde Zusammonzi-ehutigen und Ausdehnungen des K\u00f6rpers, wodurch das in dem Raum der Glocke enthaltene Wasser f'ortgetrieben wird. Die Reroen bewegen sich zum Tlieil durch Schwingung der Bl\u00e4ttchen, womit die 8 Rippen ihres kugelf\u00f6rmigen K\u00f6rpers besetzt sind. Die R\u00f6hrenquallen haben zu Schwimmorganen zum Theil Schwimmh\u00f6hlen, die wie die Glocke derMedusen wirken, wie die Diphyiden. Die Blasenquallen haben an ihrem weichen K\u00f6rper eine mit Luft angef\u00fcllte Schwimmblase, vermittelst welcher sie sich an der Oberfl\u00e4che des Meeres erhalten k\u00f6nnen. Bei den Physalien ist neben der grossem Schwimmblase noch ein segelartig wirkender Theil, indem \u00fcber die Schwimmblase ein h\u00e4utiger Kamm verl\u00e4uft, der mit Luft gef\u00fcllt, aber auch davon entleert werden kann. Die Schwimmblase hat an beiden Enden eine Oeffnung, die durch einen Sphincter verschlossen wird. Eschscholtz Syst. d. Acalephen. Herl.\nUnter den Echinodormen k\u00f6nnen sich die Holothurien durch Austreiben des in das Athemorgan aufgenommenen Wassers fortbewegen, ihr ganzer K\u00f6rper ist durch starke L\u00e4ngsmuskeln der Verk\u00fcrzung f\u00e4hig. Aber diese Thiere besitzen, wie ihre Classen-verwandten, die Seesterne und Seeigel, noch das besondere, von Tiedemann entdeckte System der Wasserrohren, die mit einem con-tractilen Beh\u00e4lter einerseits, und den hohlen, durch Anf\u00fcllung vorstreckbaren und ihre Contractilit\u00e4t zur\u00fcckziehharen F\u00fcsschen in Verbindung stehen. Tiedemann, Anatomie der R\u00f6hrenholothurie etc.\nDie 1 reien W\u00fcrmer bewegen sich im Wasser schwimmend durch wellenf\u00f6rmiges Schlagen des K\u00f6rpers, die Salpen unter den Mollusken, indem sie durch die hintere, mit einer Klappe versehene Oeffnung Wasser eingehen und durch die Oeffnung beiseits vom Munde wieder austreten lassen. Das Kriechen der W\u00fcrmer und Raupen geschieht, indem sie aliquote Theile des K\u00f6rpers befestigen und die anderen nachziehen, dann wieder das Ende der nachgezogenen aufsetzen und die vor ihnen liegenden Theile aus der Biegung vorw\u00e4rtsstrecken. Zur Befestigung dienen tlieils die Mund-theile, theils Fussstummeln, wie bei den Raupen, tlieils Saugn\u00e4pfe, wie bei den Saugw\u00fcrmern, Egeln u. a. Statt der Strek-kungen und Beugungen von Bogen geschieht das Kriechen bei anderen W\u00fcrmern und bei Mollusken allgemein durch abwechselnde Zusammenziehungen und Ausdehnungen des K\u00f6rpers oder Fusses. Die Regenw\u00fcrmer kriechen nicht wie die Egel, indem sie Bogen ihres K\u00f6rpers strecken und von Neuem bilden; sondern indem Theile ihres geringelten K\u00f6rpers sich aufstemmen, die folgenden einfach angezogen werden, wodurch dieser Theil des K\u00f6rpers breiter und k\u00fcrzer wird. Durch die Fixation des hintern Endes des nachgezogenen Theils kann dieser nun sich quer con-\nS *","page":115},{"file":"p0116.txt","language":"de","ocr_de":"11\u00c7 IV. Euch. Bewegung. II. Abschn. V. den verschied. Muskelhewegg.\ntraliircn und sicli demzufolge nach vorw\u00e4rts ausdelinen. liei den Egeln k\u00f6mmt aucli diese Form der Bewegung vor. Bei den Gn-steropoden unter den Mollusken sind die Momente dieser Art der Bewegung so zahlreich, dass man, wenn eine Schnecke auf einer Glastafel kriecht, nur den Ausdruck sehr kleiner, hinter einander folgender Wellen sieht, w\u00e4hrend die Schnecke ununterbrochen weiter r\u00fcckt. Ein solches Unduiiren sieht man aucli an dem Fusse der Lvmnaeen, wenn sic auf dem .B\u00fccken liegend gleichsam an der Oberfl\u00e4che des Wassers h\u00e4ngen. Wie hei einer so glatten Oberfl\u00e4che, als der Fuss der Schnecke ist, doch aliquote Theile des Fusses sich fixiren k\u00f6nnen, ist schwer zu begreifen.\nUebrigens besteht das Wesentliche der Ortsbewegung bei fast allen Thieren und bei den verschiedensten Formen der Ortsver\u00e4nderung durch Schwimmen, Kriechen, Gehen, Fliegen, darin, dass Theile ihres K\u00f6rpers Bogen bilden, deren Schenkel gegen einen fixen Punct gestreckt werden. Bald werden diese Bogen durch den wurmf\u00f6rmigen K\u00f6rper selbst gebildet, wie beim Kriechen und Schwimmen, bald wird das Strecken und Beugen durch N\u00e4hern und Entfernen zweier Schenkel eines Winkels ersetzt, wo denn auch wieder der eine dieser Schenkel an seinem Ende durch den Widerstand, den er an festen oder fl\u00fcssigen K\u00f6rpern findet, den fixen Punct bildet, von unliebem aus durch Streckung der Schenkel des Winkels oder OelTnen desselben die \u00fcbrigen Theile vorw\u00e4rts gebracht werden. Hierauf reducirt sich die Bewegung der Thiere mit Gliedern, seyen es Flossen, oder Fl\u00fcgel, oder Beine, im Wasser, in der Luft, auf der Erde. Denn auch die Luft und das Wasser leisten Widerstand gegen K\u00f6rper, welche sie aus der Lage dr\u00e4ngen, und die Kraft, welche sie zu verdr\u00e4ngen strebt, wirkt in dem Maass, als sie Widerstand leisten, auf den K\u00f6rper des Thiers zur\u00fcck, und ertheilt ihm eine Projection in bestimmter Richtung. Die Gesetze des Hebels kommen hierbei in Betracht. So mannigfaltig die Hebel auch an den Thieren mit Gliedern angebracht sind, so sind sie doch mehrenthcils mit Verlust von Kraft angewandt, indem die Muskeln in vielen, ja den meisten F\u00e4llen in sehr schiefer Richtung auf die Hebel wirken, und \u00fcberdiess ihre Insertion so h\u00e4ufig nahe dem St\u00fctzpuncte und fern von dem Ende des Hebels angebracht ist. H\u00f6here R\u00fccksichten haben diess erfordert, nicht die Sch\u00f6nheit der Formen allein. H\u00e4tte die Natur an jedem Glicde die Gesetze der besten Hebeleinrichtung befolgt, so w\u00e4re eine Complication, eine Eckigkeit und Unbeh\u00fclflichkeit der Form des K\u00f6rpers entstanden, dass durch das Wachsthum der Hindernisse f\u00fcr ein harmonisches Zusammenwirken der Aufwand der Kraft bei aller scheinbaren Ersparnis doch am Ende h\u00e4tte gr\u00f6sser seyn m\u00fcssen, als er jetzt ist. lieber die Ortsbewegungen siehe Borelh de motu animalium. Lugd. liatav. 1685. 4. Barthez neue Mechanik, der willkiihrlichen Bewegungen des Menschen und der Thiere. Halle 1800. 8.\nSchwimmen. (Borelli a. a. O. Muncke in Gehler.\u2019s physikal. Wiirterh.)\nDieOrtsbewegungen der Thiere im Wasser und in der Luft","page":116},{"file":"p0117.txt","language":"de","ocr_de":"3. Ortsbewegungen. Schwimmen.\n117\nhaben mit einander gemein, dass das Widerstand leistende Medium dasselbe ist, als in welchem sich das Thier bewegt. Beim Gehen und Kriechen, geschehe es im Wasser oder an der Luft, wird das Wasser und die Luft durchschnitten, aber ein fester K\u00f6rper, die Erde, leistet die St\u00fctze f\u00fcr die Projection des Sehwerpunctes; beim Schwimmen und Fliegen st\u00fctzen das Wasser und die Luft, die doch seihst von dem schwimmenden und fliegenden K\u00f6rper durchschnitten werden. In beiden Fallen ist das der Bewegung zur St\u00fctze dienende Medium nachgiebig, w\u00e4hrend es heim Gehen und Sprung fest ist; die Bewegung ist um so gr\u00f6sser, je gr\u00f6sser die Kraft ist, womit das Bewegungsorgan gegen das Wasser oder die Luft dr\u00fcckt, im Verh\u00e4ltniss der zu bewegenden Masse und des Widerstandes, welche Wasser oder Luft dem vordringenden K\u00f6rper darbieten. Unter Widerstand versteht man aber hierbei den Verlust von Bewegungskraft, den ein im fl\u00fcssigen Medium sich bewegender K\u00f6rper dadurch erleidet, dass er Theile der Fl\u00fcssigkeit vor sich her treiht. Er verliert n\u00e4mlich so viel an eigener Bewegung, als er anderen mittheilt.\nBei den Schwimmern ist das Hauptmoment der Bewegung, dass ein gebildeter Bogen, indem er sich streckt, das Wasser dr\u00fcckt. Denkt man sich, dass eine biegsame und elastische Ruthe, von \u00fcberall gleicher Masse, im Wasser liegend in der Mitte gebogen und dann gestreckt werde, so schlagen ihre beiden Schenkel das Wasser in schiefer Richtung gleichstark und die gestreckte Ruthe wird in der Richtung ihrer L\u00e4nge im Wasser nicht vorw\u00e4rts geworfen. Ebenso ist es, wenn zwei durch ein Charnier verbundene Schenkel, von gleicher Masse, sich gegen einander neigen und dann strecken. Bei gleicher Masse an beiden Schenkeln und gleichem Widerstand wird die in der Mitte wirkende Kraft der Beugung beide Schenkel gleichstark gegen einander bei. gen und die an derselben Stelle wirkende, streckende Gewalt beide Schenkel gleichstark von einander entfernen. Liegt aber an einem der Schenkel die Hauptmasse des K\u00f6rpers, so wird die an der Beugungsstelle wirkende Gewalt des auf dem Wasser schwimmenden K\u00f6rpers eher den leichten Schenkel gegen die Masse des andern Schenkels, als diese gegen jenen bewegen. W\u00e4hrend die Hauptmasse des einen Schenkels ihre Lage im Wasser behauptet, wird der andere Schenkel sowohl bei der Beugung, als Streckung seine Lage zur grossem Masse ver\u00e4ndern. In diesem Fall belindet sich sowohl das mit dem Steuerruder versehene Schilf, als der Fisch. An beiden im Wasser liegend bewegt sich durch eine Kraft, die die Lage des Steuerruders oder des Schwanzes zur Hauptmasse ver\u00e4ndert, zun\u00e4chst nur der leichtere Tbeii gegen den schwerem und von diesem ab. Indem mm aber das gegen das Schilf gewendete Steuerruder in gerade Richtung gebracht wird, dr\u00fcckt dieses gegen das hinter ihm liegende Wasser. W\u00e4re das gestossene Wasser ein fester unverr\u00fcckbarer K\u00f6rper, so w\u00fcrde das Schill' mit der ganzen Kraft der Bewegung des Steuerruders in der entgegengesetzten Richtung, d. In schiel vorw\u00e4rts gehen. Der Druck des Steuerruders theilt indess dem Wasser einen Theil seiner eigenen Bewegungskraft mit, mit die-","page":117},{"file":"p0118.txt","language":"de","ocr_de":"118 IV. Buch. Bewegung. II. Ab sehn. V. den verschied. Muskelbewegg.\nser weicht das gedr\u00fcckte Wasser von der Stelle; der ganze \u00fcbrige Theil der Kraft des Steuerruders entfernt das gedr\u00fcckte Wasser und die Masse des Schilfes von einander, und dieses geht nun in schiefer Richtung vorw\u00e4rts. Der entgegengesetzte Schlag des Steuerruders giebt dem Schilf die Projection in entgegengesetzt schiefer Richtung, und eine schnelle Folge von Schl\u00e4gen des Steuerruders ertheilt dem Schiff die mittlere gerade Richtung. Da d asSteuerruder nach jedem Schlag sich wieder f\u00fcr den neuen Schlag in einen Winkel gegen die Achse des Schilfes stellen muss, so w\u00fcrde diese Vorbereitung zum folgenden Schlag, da sie in entgegengesetzter Richtung geschieht, als der Schlag selbst, die Projection des Schiffes wieder auf liehen, wenn diese Rewegung von gleicher St\u00e4rke als der Schlag des Steuerruders seihst w\u00e4re; wie in der That ein bloss im Wasser mit gleicher Kraft hin und her bewegtes Ruder dem Kahn keine Bewegung mittheilt. Die Bewegung des Fisches heim Schwimmen gleicht ganz der eines Kah lies, der nur durch die Bewegung des Steuerruders vorw\u00e4rts getrieben wird; der Schwanz ist das Ruder. Zwei schnell auf einander folgende Schl\u00e4ge des Schwanzes nach der einen oder andern Seite sind hei vielen Fischen mit k\u00fcrzerm Schw\u00e4nze, wie bei Karpfen, hinreichend, um dem Fisch die mittlere Richtung mitzutheilen. Man sieht indess h\u00e4ufig beim langsamem Schwimmen, dass der Fisch durch die abwechselnden Schl\u00e4ge nach der einen und andern Seile eine mehr abwechselnd schiefe, als gerade Richtung erh\u00e4lt. Fische mit l\u00e4ngerm Schwanz k\u00f6nnen zu gleicher Zeit zwei Bogen nach entgegengesetzten Seiten mit ihrem Schwanz machen und strecken; wodurch der K\u00f6rper in der mitt-lern Richtung sogleich fortgetrieben wird. Die Schollen und die Cetaceen schlagen das Wasser in senkrechter Richtung. Das Schwimmen der Rochen geschieht tlieils durch die Schl\u00e4ge ihres Schwanzes und mit diesem wohl auch wie bei den meisten Fischen. Da ihre Brustflossen aber fl\u00fcgelartig ausgehreitet sind, so k\u00f6mmt hier vorzugsweise die Bewegung dieser Flossen in Betracht, deren Antheil beim Schwimmen dem Werk der Fl\u00fcgel der V\u00f6gel gleicht. Bei den \u00fcbrigen Fischen haben die Flossen an den Ilauptbewegungen zum Schwimmen nur einen untergeordneten Antheil, wie schon Borf.lli bewies. De motu animalium. Lugd. Bat. lfiS5. p. 257. Die Flossen dienen ihnen, durch Druck gegen das Wasser sich aufrecht im Wasser zu erhalten, gleich F\u00fcssen, und ihr Wanken zu eorrigiren. Nach Cuvier dienen sie ihnen auch, um Seitenbewegungen zu machen, wozu indess, wie man bei Karpfen sieht, das einseitige Beugen des Schwanzes viel wirksamer ist.\nDie Vierf\u00fcsser schwimmen mittelst der F\u00fcsse als Raider; w'ie die K\u00e4hne durch Ruder bewegt werden. Der Widerstand des mittelst des Ruders gedr\u00fcckten Wassers ist die Ursache, dass, indem der Winkel zwischen dem Ruder und dem Kahn sich vergr\u00f6ssert, der Kahn selbst fortgeschoben wird. W\u00fcrde ilas Ruder mit gleicher Kraft und Stellung im Wasser vor und zur\u00fcck bewegt werden, so w\u00fcrde der Kahn nicht von der Stelle kommen. Die Bewegung nach einer Richtung kommt dadurch","page":118},{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":"\u25a0J. Ortsbewegungen. Schwimmen.\n119\nzu Stande, dass die Reposition des Ruders entweder in der Luft und nicht im Wasser, oder, wenn im Wasser, mit der Schneide des Ruders geschieht. In demselben Fall befinden sicli die Schwimmer mit F\u00fcssen. Die Reposition der H\u00e4nde und F\u00fcsse geschieht so, dass sie mit kleinerer Fl\u00e4che aut' das Wasser dr\u00fccken, als hei der Schwimmbewegung. Der Mensch bringt die Arme mit schneidendem Rande der Finger in ihre Stellung und wirkt auf das Wasser mit der Fl\u00e4che der H\u00e4nde. Auch beim Schwimmen der Vierf\u00fcsser ohne breite Hand, wie beim Pferd, ist die Wirkung der biisse beim Schlagen des Wassers gr\u00f6sser als bei der Reposition und darum kommen sie vorw\u00e4rts; beim R\u00fcckw\u00e4rtsbewegen ihrer Beine wirken sie mit einer grossen Oberfl\u00e4che derselben, beim Vorstrecken ist die Oberfl\u00e4che, womit sie auf das Wasser stossen, viel kleiner. Die Vierf\u00fcsser sind meist von Natur Schwimmer, weil sie die Beine beim Schwimmen in \u00e4hnlicher Art wie beim Gehen brauchen und weil sie bei der L\u00e4nge der Schnautze und Kleinheit des Hirnsch\u00e4dels, durch Erheben der Schnautze das Luftloch zum Athmen so hoch stellen k\u00f6nnen, dass es den obersten Theil \u00fcber dem Wasser bildet. Beim Menschen liegt der Eingang in die Athemwerkzeuge, nur wenn er auf dem R\u00fccken im Wasser liegt, oben; der Mensch muss \u00fcberdiess eine ihm nicht gew\u00f6hnliche zweckm\u00e4ssige Bewegung der Arme und Beine zum Schwimmen erst lernen, n\u00e4mlich diejenige, w'obei die Reposition der Extremit\u00e4ten in ihre Stellung zum Schlag mit kleinerer Oberfl\u00e4che auf das Wasser wirkt, als die Schwimmbewegung derselben. Zur Erhaltung auf der Oberfl\u00e4che des Wassers ist bei dem ge\u00fcbten Schwimmer ausser dem Einathmen nur eine geringe Bewegung noting; er wird getragen so lange als seine von Luft ausgedehnten Lungen ihn leichter machen als das Wasser. Der Mensch ist, wie die Thiere, an sich schwerer als das Wasser, und sinkt darin, wenn er keine Bewegung dagegen macht, von selbst unter, sobald er ausathmet. So lange seine Brust aber von Luft weit ausgedehnt ist, erh\u00e4lt er sich, wenn der K\u00f6rper ausgestreckt auf dem Pi\u00fccken liegt. W\u00fcrden wir nicht n\u00f6thig haben auszuathmen, w\u00fcrden wir die Brust in Einem fort von Luft ausgedehnt erhalten k\u00f6nnen, so w\u00fcrden wir auch ohne alle Bewegungen nicht untergehen. So aber m\u00fcssen wir das beim Ausathmen regelm\u00e4ssig erfolgende Sinken durch Bewegungen, durch Stossen gegen das Wasser nach unten, corrigiren. Die V\u00f6gel werden auf dem Wasser erhalten, wegen der Luft, welche ihre mit den Lungen communicirenden Unterleibszellen und ihre Knochen enthalten. Zum Tauchen haben die V\u00f6gel n\u00f6thig stark auszuathmen. Die Schwimmv\u00f6gel brauchen ihre F\u00fcsse als Ruder, die Schw\u00e4ne bedienen sich ihrer ausgespannten Fl\u00fcgel auch zum Segeln.\nDie Schwimmblase vieler Fische, welche sich nach v. Baer\u2019s Untersuchung (Mueller\u2019s /Irchio 1835. p. 231.) wie die Lunge aus dem Schlund entwickelt, erleichtert das Schwimmen in den oberen Regionen des Wassers, und durch die Zusammendr\u00fcckbarkeit der in jllr enthaltenen Luft verm\u00f6ge der Seitenmuskeln sind die Fische f\u00e4hig, in verschiedenen H\u00f6hen, je nach dem grossem oder geringem Druck zu schweben. Ueber die Structur der Schwimmblase siehe","page":119},{"file":"p0120.txt","language":"de","ocr_de":"120 IV. Buch. Bewegung. II. Alschn. V. den verschied. Muskelbewcgg.\noLen B. I. 2. Aufl. p. 298. Da dieses Org an im obcrn Theil der Bauchh\u00f6hle liegt, wo wegen der starken R\u00fccken- und Seitenmuskeln sonst der Schw\u2019crpunct des Fisclies liegen w\u00fcrde, so dient es auch dazu, dass die Fische aufrecht iin Wasser sich erkalten, obgleich es hierzu nicht unumg\u00e4nglich nothwendig ist. Fische, deren Schwimmblase zerrissen ist, kommen nicht mehr an die Oberfl\u00e4che des Wassers und fallen leicht auf die Seite.\nFliegen. (Borelt.i a. a. O., Cuvier Vergl. Ana/. I. p. JO., Fuss Net>. act. soc. sc. Fcirop. XV. 1806., Sii.berscht.ag Schriften der Herl. Ges. naturf Freunde. 1781. II., Horner in Gehi\u00e6r\u2019s phfsik. Wort erb. IV. p. 477.)\nDer klug beruht darauf, dass die sich blattartig ausbreiten-den vorderen Extremit\u00e4ten eines Thiers mit m\u00f6glichst grosser Oberfl\u00e4che auf die Luit schlagend wirken. Die durch ihren Widerstand und durch ihre Elasticit\u00e4t gegen die ihr mitzutheilende Bewegung r\u00fcckwirkende Luft ist die Ursache, dass der K\u00f6rper des Thiers gehoben wird. Die Ausf\u00fchrung einer solchen Bewegung erfordert eine ausserordentliche Verst\u00e4rkung der Brustmuskeln, einen eigentb\u00fcmlichen Bau der Brust, welche in ihrem R\u00fcckcntheil unbeweglich ist, und durch den Kiel des Brustbeins einen grossen Raum zum Ansatz der Pectoralmuskeln darbietet, w\u00e4hrend die Schultergelenke nicht bloss durch die starken Schl\u00fcsselbeine, sondern auch durch die beide Schulter-gelenke verbindende Gabel eine St\u00fctze erhalten. W\u00fcrde die Reposition des Fl\u00fcgels in die Stellung zum Schlagen mit gleich grosser Oberfl\u00e4che, wie beim Schlagen geschehen, so w\u00fcrde die Wirkung wieder aufgehoben werden ; indem aber der Vogel den Fl\u00fcgel nach jedem Schlag zusammenschl\u00e4gt und ihn dann wieder ausbreitet, wird die Projection in einer Richtung m\u00f6glich. Damit der Fl\u00fcgel beim Schlag nicht nachgebe gegen den Widerstand der Luft und steif ausgedehnt wirke, ist es noting, dass die Beugung und Streckung der Hand gegen den Vorderarm wegfalle. Die Hand des \\ogels ist nur der Abduction und Adduction f\u00e4hig, Bewegungen, durch welche die Hand bald gegen den Vorderarm umgeschlagen und angelegt, bald entfaltet wird. Eine Folge von Schl\u00e4gen der Fl\u00fcgel f\u00fchrt den Vogel hei wagereebter Stellung der Fl\u00fcgel senkrecht in die H\u00f6he, wie es bei den Lerchen der Fall ist. Bei einer geneigten Lage der Fl\u00fcgel, wo seine untere Fl\u00e4che zugleich nach hinten sieht, muss der Vogel schief aufsteigen, der Wurflinie folgen und in \u00e4hnlicher schiefer Richtung fallen, als er aufgestiegen ist; bei regelm\u00e4ssig wiederholtem Schlag der Fl\u00fcgel wird er in einer Wellenlinie horizontal fortscbweben. Die Neigung der Fl\u00fcgel zu der horizontalen Bewegung braucht jedoch nicht stark zu seyn, denn selbst bei einem wagerechten Schlag des IT\u00fcgels m\u00fcssen die biegsamen Schwungfedern durch den Widerstand der Luft sogleich eine schiefe Ebene gegen den vordem nicht beweglichen Band des Fl\u00fcgels bilden. Borelli bat schon diesen Einfluss nachgewiesen. Beugungen des Fl\u00fcgels nach der Seite geschehen durch ungleiche Schwingungen beider Fl\u00fcgel, nicht durch Seitw\u00e4rtsheugung des Schwanzes, indem Tauben, der Schwanzfedern beraubt, noch gut zu schwenken verste-","page":120},{"file":"p0121.txt","language":"de","ocr_de":"3. Ortslewegungen. Fliegen.\t121\nhen. Durch die Beugung des Schwanzes wird der hintere Theil des K\u00f6rpers gehoben, der -vordere gesenkt.\nIn der Unbeweglichkeit des Biickens der V\u00f6gel erh\u00e4lt der Rumpf, in dessen unterm Theile der Schwerpunkt liegt, die n\u00f6-thige Festigkeit zur Ausf\u00fchrung der Schwungbewegungen der Fl\u00fcgel; sein zugespitzter Kopf macht den Vogel zum Durchschneiden der Luft geschickt, und in dem langen Halse besitzt er ein Mittel, durch Verk\u00fcrzung und Verl\u00e4ngerung den Schwerpunct zu ver\u00e4ndern. Zur Vermehrung der Oberfl\u00e4che des Fl\u00fcgels dienen nicht bloss die Schwungfedern, sondern auch die Haut, in sofern sie heim Ausstrecken des Fl\u00fcgels im Winkel zwischen dem vordem Rande des Oberarms und Vorderarms, durch einen Muskel, den Spanner der Flughaut, als eine Falte ausgebreitet wird. Im vordem Rande dieser Falte liegt ein elastisches Band, welches in der Ruhe den Vorderarm von der Handwurzel aus gegen den Oberarm anzieht. Der Spanner der Flughaut geht in eine doppelte Sehne \u00fcber, wovon die eine fibr\u00f6ser Natur, mit dem Musculus radialis externus longus und der fascia antibrachii zusammenb\u00e4ngt, die andere das elastische Band im vordem Rande derFl\u00fcgelfalte ist, welches sich an die Handwurzel und Hand befestigt. Lauth mein, de la svc. d\u2019hist. nat. de Strasb. T. I. Die straussartigen Thiere, Struthio camelus, Rhea americana, Casua-rius indicus, Dromaius novae Hollandiae, und einige Wasserv\u00f6gel wie die Aptenodytes und Alca fliegen hei der Kleinheit ihrer Fl\u00fcgel gar nicht.\nDie Luft in den Knochen der V\u00f6gel hat offenbar den Zweck, diese Knochen leichter zu machen, als sie es seyn w\u00fcrden, wenn sie Mark enthielten. Die Anf\u00fcllung der Lufts\u00e4cke der V\u00f6gel, die mit den Lungen in Verbindung stehen, kann \u00fcbrigens den Vogel nicht specifisch leichter machen, als er sonst ist, da diese Luft fast dieselbe Dichtigkeit wie die atmosph\u00e4rische Luft hat. Siehe oben 1. 2. Auf!, p. 2S.9. Bei vielen Insecten scheint die Anf\u00fcllung ihrer sonst zusammengefalteten Fl\u00fcgel mit Luft, innerhalb der sich darin verzweigenden Luftgef\u00e4sse, zur Steifigkeit und Straffheit der Fl\u00fcgel beizutragen.\nAusser den V\u00f6geln giebt es unter den \u00fcbrigen Classen der Wirbelthiere auch einzelne Thiere, welche fliegen oder sich wenigstens mittelst Fl\u00fcgelh\u00e4ute oder langer Flossen einige Zeit in der Luft zu erhalten verm\u00f6gen. Unter den S\u00e4ugethieren besitzt die Ordnung der Flederm\u00e4use eine vollkommene Einrichtung ihrer vorderen Extremit\u00e4ten zum Flug. Die zum Schlagen der Luft bestimmte flache wird hier durch eine, zwischen den verl\u00e4ngerten vier fingern und Mittelhandknochen ausgespannte Haut gebildet, welche auch den Winkel zwischen Oberarm und Vorderarm aus-f\u00fclit und auch zwischen den verl\u00e4ngerten Armknochen und den Seiten des K\u00f6rpers bis zu den Hinterfussen und von diesen bis zum Schw\u00e4nze sich hinzieht. Die Flughaut der Flederm\u00e4use enth\u00e4lt, auch elastisches Gewebe. Unter den Amphibien waren die vorzeitlichen Pterodaetylus eigentliche Flieger ; von ihren Fingern ist jedoch nur der \u00e4usserste sehr lange ein Fl\u00fcgelfinger, w\u00e4hrend die vier \u00fcbrigen kurz und mit Krallen bewaffnet sind, wie hei den Flederm\u00e4usen der Daumen.","page":121},{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"122 IV. Buch. Bewegung. II. Abschn. V. den verschied. Muskelbewegg.\nAndere Thiere verschiedener Classen haben zwar eine Flughaut zwischen den kurzen, s\u00e4mmtlich mit Krallen bewaffneten Fingern, zwischen Oberarm und Vorderarm, zwischen den Armen und Beinen, aber diese Haut ist hier nur Fallschirm, wie beim Galeopitbecus. Von \u00e4hnlicher Art ist die zwischen den vorderen und hinteren Extremit\u00e4ten der fliegenden Eichh\u00f6rnchen (Ptero-mys), der fliegenden Phalanger (Petaurus) und die zwischen den verl\u00e4ngerten hinteren Rippen der Amphibien mit Fallschirm, Draco, ausgespannte Flughaut.\nEinige Fische (Dactylopterus, Exocoetus) verm\u00f6gen sich, mittelst ihrer verl\u00e4ngerten Brustflossen, ein St\u00fcck \u00fcber das Wasser zu erheben.\nKriechen.\nBeim Kriechen und Gehen leistet ein fester K\u00f6rper den Widerstand. Beide unterscheiden sich nicht wesentlich, als dass beim Gehen besondere Extremit\u00e4ten die Last des K\u00f6rpers sowohl st\u00fctzen als projiciren, w\u00e4hrend heim Kriechen diess nur von aliquoten Theilen des wurmf\u00f6rmigen K\u00f6rpers geschieht. Beim Gehen werden Winkel der Beine gestreckt und gebogen, beim Kriechen wird der wurmf\u00f6rmige K\u00f6rper seihst gebogen und gestreckt. Beide Bewegungen k\u00f6nnen sowohl im Wasser als in der Luft als Medium vor sich gehen. Die Art zu kriechen kann sehr mannigfaltig seyn. Dem Gehen sich ann\u00e4hernd ist dasjenige Kriechen, wo nur zwei Puncte des K\u00f6rpers auftreten, die \u00fcbrigen vom Boden erhoben sind. Die Blutegel z. B. befestigen das hintere Ende ihres K\u00f6rpers an den Boden durch die Saugscheibe, verl\u00e4ngern den K\u00f6rper, halten sich dann mit dem vordem Ende an, ziehen das Hinterende nach, befestigen dann letzteres wieder und strecken den K\u00f6rper wieder vorw\u00e4rts aus. Bei anderen W\u00fcrmern, z. B. beim Regenwurm, findet dieses Spiel vielfach am K\u00f6rper statt, und so kann auch der Blutegel kriechen. Da giebt es viele Theile, die sich aufst\u00fctzen, w\u00e4hrend andere von der St\u00fctze aus vorgeschoben werden. Zum Aufst\u00fclzen dienen entweder sich anlehnende Ringe oder Borsten, oder Fussstummel mit Rauhigkeiten wie hei den Raupen. Am merkw\u00fcrdigsten und r\u00e4thselhaft ist das Kriechen der Schnecken auf der Fl\u00e4che ihres Fusses, besonders wenn es auf glatten K\u00f6rpern, z. B. Glas, geschieht. Hier sieht man, bei ganz gleichm\u00e4ssigem Fortr\u00fccken des K\u00f6rpers auf der flatten Fl\u00e4che, nur ein Spiel der kleinsten Theile des muskul\u00f6sen Fusses und eine wellenf\u00f6rmige Bewegung \u00fcber die Fl\u00e4che des Fusses hingehen. Da keine anderen Apparate zum St\u00fctzen, wie es f\u00fcr die Bewegung in einer Richtung notbwendig ist, vorhanden sind, so bewirkt wahrscheinlich die Sohle durch Erheben einzelner Theile oder Ansaugen, die schnell vor\u00fcbergehende Fixation, die bald wieder anderen Theilen \u00fcbertragen wird.\nDas Kriechen der Schlangen ist sehr eigenth\u00fcmlich, indem der K\u00f6rper best\u00e4ndig und schnell in einer horizontalen Wellenlinie fortr\u00fcckt, so dass jeder Punct des K\u00f6rpers dieser Wellenlinie folgt. Das St\u00fctzen und Stemmen geschieht durch Aultreten mittelst des Endlheils der Rippen, wobei die sich aufstemmenden Schuppen mitwirken, w\u00e4hrend die hinter den St\u00fctz-","page":122},{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"3. Orlslewegungen. Gehen.\n123\npuncten liegenden Theile gegen die gest\u00fctzten nacligezogen und andere vorgeschoben werden.\nGehen und Laufen. (Nach W. und E. Weber.)\nBeim Schwimmen wird der K\u00f6rper ganz oder zum Theil vom Wasser getragen und seine Kraft gr\u00f6sstentheils nur f\u00fcr die Projection der Masse in Anspruch genommen. Beim Flug tr\u00e4gt das Medium den K\u00f6rper nicht, und es wird so viel Kraft in Anspruch genommen, dass das jedesmalige Fallen nach einer Projection wieder aufgehoben wird. Beim Gang wird der K\u00f6rper durch seine Kraft getragen und fortbewegt, und das Eigent\u00fcmliche dieser Bewegung liegt noch darin, dass der K\u00f6rper abwechselnd durch die eine auf den Boden gest\u00fctzte Extremit\u00e4t getragen wird, w\u00e4hrend er durch die andere projicirt wird. Ein Kahn, der vom Wasser durch Stemmen eines Stabs gegen den Boden bewegt wird, w\u00fcrde die eine H\u00e4lfte dieser Bewegung repr\u00e4sen-tiren. Was hier das Wasser zum Tragen der Last thut, muss, hei der Bewegung des Ganges in der Luft durch eine Extremit\u00e4t geschehen. Beim Sprung, wo der K\u00f6rper auf einen Zeitabschnitt, durch die ihm mitgetheilte Projection, schwebend erhalten wird, f\u00e4llt dieses zweite Moment der Bewegung bis zum Ende des Sprunges aus. Hier erh\u00e4lt sich der K\u00f6rper, wie beim Flug, durch dieselbe Bewegung, die ihn projicirt; w\u00e4hrend das zur St\u00fctze dienende Medium verschieden, n\u00e4mlich fester K\u00f6rper ist. Am Ende der Wirkung eines Fl\u00fcgelschlags wird der K\u00f6rper des Vogels durch eine neue Projectionsbewegung vor dem Fallen gesichert, am Ende der Sprungbewegung hindert den K\u00f6rper die eigene Unterst\u00fctzung seiner seihst vor dem Fallen.\nDas Mittel, durch welches diese Bewegungen ausgef\u00fchrt werden, ist die Streckung zweier in entgegengesetzter Bichtung gebogener Gelenke, namentlich des Fussgelenks und Kniegelenks. Hierdurch wird die Projection des Schwerpuncts ausgef\u00fchrt, w\u00e4hrend die zweite Extremit\u00e4t die Last gegen das Ende dieser Projection tr\u00e4gt. Beide Extremit\u00e4ten wechseln im Tragen und Bewegen der Last ah. Da diese Bewegungen jedesmal von der Seite ausgehen, so erh\u00e4lt der Rumpf von der sich streckenden Extremit\u00e4t nicht bloss den Impuls nach vorw\u00e4rts, sondern auch etwas nach der entgegengesetzten Seite. Dagegen f\u00e4llt der Arm jedesmal auf der Seite vor, wo die Extremit\u00e4t in der Streckung begriffen ist.\nDie Untersuchungen von Eduard Weber \u00fcber die Gelenke, und diejenigen von E. Weber und W. Web-er \u00fcber die Bewegungen des Gehens und Laufens haben uns noch mit vielen bisher \u00fcbersehenen, diese Ortsbewegungen betreffenden, merkw\u00fcrdigen physikalischen Thatsachen und ihren Gesetzen bekannt gemacht. Durch die Entdeckungen dieser Forscher ist die Physik dieser Bewegungen erst zu einer rationellen Sch\u00e4rfe gebracht worden. Die wuchtigsten Aufschl\u00fcsse, welche sie geliefert, theile ich hier in kurzem Auszuge aus ihrem Werke mit.\nObenan und als Schl\u00fcssel zu vielen anderen merkw\u00fcrdigen Thatsachen steht die Entdeckung von E. Weber, dass der Schenkelkopf durch die blosse Schwere der Extremit\u00e4t von der ihm","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124 IV. Buch. Bewegung. II. Ahschn. V. den verschied. Muskcllewegg.\ngenau anpassenden Fl\u00e4che der Pfanne nicht entfernt, dass er vielmehr durch den blossen Luftdruck, dicht an der Pfanne anliegend zur\u00fcckgehalten wird und in dieser Lage seine Bewegungen ausf\u00fchrt. Werden die Muskeln um das H\u00fcftgelenk s\u00e4mrntlich durchschnitten, so f\u00e4llt der Kopf von dem Gewichte der Extremit\u00e4t nicht aus der Pfanne. Sobald aber der Luftdruck auf die Oberfl\u00e4che des Schenkelkopfes wirken kann, indem ein Loch vom Becken aus in die Pfanne gebohrt worden ist, f\u00e4llt der Kopf sogleich herab. Die drei Gebr\u00fcder Weber haben auch den Einfluss der Luftpumpe auf das Gelenk untersucht; Prof. Macnus und ich waren hei diesen Versuchen zugegen. Das H\u00fcftgelenk eines Menschen ward rein pr\u00e4parirt, das Oberschenkelbein bis unter die Trochanteren abgeschnitten, darauf die Kapsel vorsichtig rundum ge\u00f6ffnet; das Schenkelst\u00fcck mit einem Gewicht von zwei Pfund beschwert und das H\u00fcftgelenk in einer Glocke aufgeh\u00e4ngt. Als die Luft aus dieser Glocke bis auf einen Zoll Druck entfernt war, senkte sich der Kopf ziemlich lasch sieben Linien, ohne jedoch das Labium cartilagineum zu verlassen; und als die Luft wieder zugelassen wurde, stieg er schnell wieder auf. Selbst als man den Kopf mit Gewalt aus der Pfanne entfernt und ihn dann wieder fest eingedr\u00fcckt hatte, so dass die Luft zwischen Pfanne und Kopf entwich, haftete er fest und konnte durch senkrechten Zug schwer ausgezogen werden. Das Gelenk, wieder dem luftleeren Raum ausgesetzt, zeigte dieselben Erscheinungen; aber nun fiel der Kopf bei einem Zoll Luftdruck wirklich aus. Dasselbe Verhalten scheint bei allen Nussgelenken Statt zu linden. Es geht aus dieser wichtigen Entdeckung hervor, dass die frei schwebende Extremit\u00e4t ihr Verh\u00e4ltniss zum Gelenk bei allen Rotationen durch den blossen Luftdruck beh\u00e4lt; daher eine Ausweichung des Schenkelkopfes durch blosse Erschlaffung der Muskeln nicht m\u00f6glich ist. Beim Ersteigen der h\u00f6chsten Gebirge, wo die Luft sehr verd\u00fcnnt ist, muss dagegen die Kraft der Muskeln n\u00f6thiger 'werden, die K\u00f6pfe der Gelenke in ihren Pfannen zu erhalten, und es scheint, dass die eigene Art von M\u00fcdigkeit, welche auf hohen Gebirgen Reisende an sich beobachtet haben, auf diese Rechnung kommt. Also erst im luftverd\u00fcnnten Raum k\u00f6nnen die Gelenke schlaff und schlotternd werden.\nDie Gebr\u00fcder Weber haben ferner auf die Wichtigkeit der Pendelschwingungen der Extremit\u00e4ten beim Gehen aufmerksam gemacht. Steht der K\u00f6rper durch das eine Bein auf einer erhobenen Unterlage, so kann das andere Bein, in Bewegung gesetzt, wie ein Pendel hin und her schwingen. Diese Schwingungen k\u00f6nnen auch statt finden, wenn man mit dem einen Beine auf ebenem Boden steht, sofern das andere Bein dann so viel gebeugt wird, dass es nicht aufst\u00f6sst. Die Dauer dieser Schwingungen h\u00e4ngt, wie die Schwingungsdauer eines Pendels, von der L\u00e4nge des Beins und davon ab, wie die Masse desselben vertheilt ist. Die Schwingungen erfolgen also bei Menschen mit kurzen Beinen geschwinder, mit langen Beinen langsamer; bei demselben Menschen ist aber die Zahl dieser Schwingungen in einer Zeit immer dieselbe. Durch diese Eigenschaft der Beine und dadurch,","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"3. Ortslewegungen. Gehen.\n125\ndass der Schritt des vorher gestreckten hintern Fusses mit einer Pendelschwingung anhebt, ist die gr\u00f6sste Regelm\u00e4ssigkeit der Schritte m\u00f6glich, selbst wenn unsere Aufmerksamkeit nicht gerade auf das Gehen gerichtet ist. Beim Gehen ist das in der Pendelschwingung begriffene Bein etwas gebeugt, um nicht an-zustossen.\nIm Allgemeinen ist nun der Mechanismus des Gehens folgender. Beide Beine wechseln in der Function, den Rumpf zu tragen, ab, und der Moment, wo die Extremit\u00e4t tr\u00e4gt, geht also-bald in denjenigen \u00fcber, wo sie durch Erhebung der Ferse den Rumpf zugleich projicirt. Im Moment, wo die Projectionsbewe-gun'g von dem hintern Fuss A vollf\u00fchrt ist, ist der K\u00f6rper auf dem Beine B gest\u00fctzt, aber diese st\u00fctzende Extremit\u00e4t r\u00fcckt w\u00e4hrend der Projectionsbewegung des K\u00f6rpers in eine schiefe Richtung, um, w\u00e4hrend das Bein A die Pendelschwingung nach vorw\u00e4rts zum neuen Schritte macht, sich durch Abwickeln der Fusssohle vom Boden zu verl\u00e4ngern und dem K\u00f6rper einen neuen Impuls zu geben. Die in der Schwingung nach vorw\u00e4rts befindliche Extremit\u00e4t A wird nun die st\u00fctzende, u. s. f. Die Gebr\u00fcder Weber vergleichen die Abwickelung der Fusssohle vom Boden mit einem auf dem Boden fortrollenden Rade. Durch diese Abwickelung der Sohle wird der Schritt um die ganze L\u00e4nge des Fusses verl\u00e4ngert. Man kann bei jedem Schritte zwei Zeitr\u00e4ume unterscheiden, einen, wo der K\u00f6rper mit dem Boden nur durch ein Bein, und einen k\u00fcrzern, wo er durch beide Beine in Verbindung steht. Nur beim schnellsten Gehen, wo das Gehen an das Laufen grenzt, findet ein solcher Wechsel statt, dass das eine Bein zu tragen anf\u00e4ngt, wenn das andere zu tragen aufh\u00f6rt. Beim gew\u00f6hnlichen Gehen giebt es zwischen beiden Zust\u00e4nden einen Uebergangszustand, und dieser dauert von da an, wo das vordere Bein aufgesetzt wird, bis da, wo das hintere Bein den Boden verlassen hat. Nach Weber ist dieser Zeitraum beim langsamen Gehen ungef\u00e4hr halb so gross als der, wo man auf einem Beine steht. Je geschwinder man geht, um so kleiner wird er.\nDer B.umpf bleibt beim Geben vorw\u00e4rts geneigt, und diess ist nothwendig zum leichten Gehen, denn es ist unm\u00f6glich, einen senkrechten, auf den Fingern balancirten Stab vorw\u00e4rts zu bewegen, ohne dass er falle. Wollte man bei senkrechter Haltung des K\u00f6rpers gehen, so m\u00fcsste eine Muskelkraft in jedem Augenblicke das Gleichgewicht, das durch den Widerstand der Luft gest\u00f6rt wird, wieder herstellen. Beim geschwinden Geben k\u00f6mmt Folgendes zusammen: eine gr\u00f6ssere Neigung des Rumpfes, ein kleiner oder gar kein Zeitraum, wo man auf beiden Beinen steht, Gr\u00f6sse und Geschwindigkeit der Schritte. Die Grundbedingungen zu allen diesen Wirkungen liegen, wie W. und E. Weber zeigen, in der geringem H\u00f6he, in welcher man die beiden Schenkelk\u00f6pfe \u00fcber dem Boden hin tr\u00e4gt. Die Schritte sind, wenn jene niedrig getragen werden, gr\u00f6sser, weil das Bein, welches auftreten soll, beim Gehen nur wenig sich von der verticalen Lage entfernen kann, wenn sein oberes Ende hoch liegt. Die Schritte sind also hei einer niedrigen Lage der Schcnkelk\u00f6pfe gr\u00f6sser. Aber auch","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126 IV. Buch. Bewegung. II. Ahschn. V. den verschied. Muskdhe.ivegg.\n<ler Schritt hat unter diesen Umst\u00e4nden k\u00fcrzere Dauer; denn je tiefer die Schenkelk\u00f6ple beim Gehen liegen, desto geneigter wird die Lage des stemmenden Beines und desto gr\u00f6sser, geschwinder die Bewegung, welche es dem Rumpfe mittheilt. Was ferner die Zahl der Schritte betrifft, die man beim Gehen in gegebener Zeit macht, so h\u00e4ngt sie theils von der L\u00e4nge des pendelartig nach vorn schwingenden Beines, theils von der fr\u00fchem oder sp\u00e4tem Unterbrechung dieser Schwingung durch das Aufsetzen des schwingenden Beines ab. Je l\u00e4nger das Bein ist, um so langsamer erfolgen seine Schwingungen, abgesehen von einer durch Muskelanstrengung beschleunigten Bewegung des nach vorn schwingenden Beines. Abgesehen von dieser m\u00f6glichen Beschleunigung giebt es daher bei jedem Menschen eine gewisse gr\u00f6sste Zahl der Schritte, die beim bequemen Gang nicht \u00fcberschritten werden kann. Sie tritt dann ein, wenn das schwingende Bein nach Zur\u00fccklegung der H\u00e4lfte seiner Schwingung schon aufgesetzt wird. Aber die Aufeinanderfolge der Schritte kann verlangsamt werden, wenn man dem schwingenden Beine Zeit l\u00e4sst, vor dem Auftreten einen grossem Theil seines Schwingwngsbogens, als die H\u00e4lfte zur\u00fcckzulegen.\nEs liegt in der Natur des Ganges, dass der K\u00f6rper je nach den Zeitmomenten der Impulse sich etwas heben und dann wieder senken m\u00fcsse. Diese verticalen Schwankungen sind indess, weil die Beine sich verl\u00e4ngern und verk\u00fcrzen k\u00f6nnen, sehr klein und betragen nach Weber nur etwa 32 Millimeter.\nDie Schwingungen der Arme geschehen immer in entgegengesetzter Richtung von den Schwingungen der Beine. Das stemmende Bein ertheilt dem Rumpfe einen Impuls, dessen Folge das Vorf\u00e4llen des entgegengesetzten Beines und beider Arme seyn k\u00f6nnte. Indess f\u00e4llt mit dem entgegengesetzten Bein immer nur der mit dem stemmenden Bein gleichnamige Arm vor, w\u00e4hrend der andere Arm in der R\u00fcckw\u00e4rtsschwingung ist. Diese Vertheilung der Schwingungen, die wir uns so angew\u00f6hnen, dass sie ungerufen eintritt, tr\u00e4gt zur Erhaltung einer guten Haltung und des Gleichgewichts nicht wenig bei. So f\u00e4llt n\u00e4mlich auf jeder Seite gleichzeitig ein Glied, einerseits ein Bein, anderseits ein Arm vor, und es werden dadurch dieFehler cor-rigirt, welche in der Bewegung des Rumpfes durch die Vorw\u00e4rtsschwingung des Beines entstehen k\u00f6nnen.\nBeim Laufen ist das characteristisch, dass immer nur ein Bein den Boden ber\u00fchrt, statt dass es beim Gehen einen Zeitpunct giebt, wo beide Beine auf dem Boden stehen. Bei schnellerm Raufen tritt sogar ein Zeitpunct ein , wo der K\u00f6rper weder von dem einen, noch von dem andern Bein gest\u00fctzt wird und eine kurze Zeit verm\u00f6ge einer ihm ertheilten Wurfbewegung in der Luft schwebt.\nDas Gehen der Vierf\u00fcsser findet im Allgemeinen nach denselben Principien statt, wie das Gehen der Zweifiisser; nur giebt es hier eine gr\u00f6ssere Zahl von Modificationen in Hinsicht der Art, wie die Thiere auftreten, und in Hinsicht der Folge oder Gleichzeitigkeit der Actionen der Glieder. Manche Thiere, wie die Affen und Plantigraden (Ursus, Procyon, Nasua u. a.), treten","page":126},{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"3. Ortsbewegungen. Gehen und Laufen.\n127\nmit tier Sohle auf. Bei den Beutelthieren erhebt sich die Fuss-wurzel schon; die Digitigraden unter den Carnivoren und die Nager gehen ganz auf den Zehen allein; unter den Digitigraden das Ratzengeschlecht auf den zwei hinteren Phalangen, w\u00e4hrend die Krallenglieder durch elastische B\u00e4nder heim Gehen zur\u00fcckgezogen sind. Die Schweine, Einhufer, Wiederk\u00e4uer treten nur mehr auf dem letzten Zehengliede auf; hei den Wiederk\u00e4uern sind cs die letzten Glieder zweier Zehen, w\u00e4hrend die Rudimente zweier anderen den Boden nicht erreichen, und bei den Pferden ist nur eine einzige, mit dem \u00e4ussersten G\u00fcede auftretende Zehe \u00fcbrig geblieben.\nAber auch die Zusammenwirkung der vier Extremit\u00e4ten ist beim Gange \u00e4usserst verschieden. Der Hauptantrieb der Bewegung geschieht hier durch die Ilinterf\u00fcsse und durch die Entwicklung ihrer Gelenke. Die Vorderf\u00fcsse dienen haupts\u00e4chlich zur St\u00fctze, seltner bei unvortheilhaft zum Gehen organisirter Structur der Ilinterf\u00fcsse, um ihnen, wenn sie ausgestreckt sind, den K\u00f6rper nachzuziehen, wie bei den Faultbieren.\nI.\tSchrill. Er besteht aus vier verschiedenen Actionen, und die vier Fiisse treten nach einander in bestimmter Ordnuna vor\nil l)\t\u00d6\t1\nc Zuerst z. B. a, dann d, dann b, dann c. Also die diagonalen Fiisse treten nach einander vor, sie bilden im n\u00e4chsten Augenblick die St\u00fctzen, wenn n\u00e4mlich durch die Entwicklung der Gelenke des andern aufsichenden Hinterfusses, desjenigen der zuhinterst steht, der K\u00f6rper den Impuls erh\u00e4lt. W\u00e4hrend dieser Projection nach vorn, auf die St\u00fctze der diagonalen Vorgesetzten F\u00fcsse wird der mit dem stemmenden Hinterfuss diagonale Vorderfuss vorgesetzt, und der in der Stemmung gewesene Hinterfuss r\u00fcckt ihm sogleich nach. Nun \u00fcbernehmen die diagonalen st\u00fctzenden Extremit\u00e4ten die Rolle der anderen. Der vorher st\u00fctzende Hinterfuss ist nun der hinterste und wird jetzt der stemmende. Diess ist die gew\u00f6hnlichste Gangart sowohl bei den S\u00e4ugethieren als bei den Amphibien.\nII.\tPass. Beim Passgang wird der K\u00f6rper abwechselnd auf die beiden F\u00fcsse derselben Seite geschoben und wankt daher von einer zur andern Seite. Man sieht diese Gangart zuweilen bei jungen und schwachen Pferden, auch bei der Giraffe.\nIII.\tTrab. Er hat nur zwei Momente, indem jedesmal zwei Extremit\u00e4ten, n\u00e4mlich die diagonalen, zugleich auftreten. Die gew\u00f6hnliche schnellere Gangart unter den S\u00e4ugethieren, zuweilen auch bei Amphibien, z. B. Salamandern.\nIV.\tGalopp. Drei Momente. Auf den Hinterbeinen erhebt sich der ganze K\u00f6rper und wird durch Stemmung derselben vorw\u00e4rts geworfen. Die Vorderf\u00fcsse treten in zwei Momenten, n\u00e4m, lieh nach einander, von der Rechten zur Linken (Galopp zur Rechten), oder von der Linken zur Rechten (Galopp zur Linken) aut, darauf springt das Hintertheil durch Entwickelung der Gelenke vom Boden auf und beide Ilinterf\u00fcsse werden vorgesetzt u. s. w. Je h\u00f6her die Hinterfiisse sind, um so mehr muss das Thier bei dem Stemmen der Ilinterf\u00fcsse, wodurch die Bewegnng des Rumpfes nach vorn geschieht, den vordem Theil des K\u00f6r-","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128 IV. Buch. Bewegung. II.Abschn. V. den verschied. Muskelhewegg.\npers lieben, damit dieser nicht \u00fcberfalle. Dieses B\u00e4umen haben z. B. die Hasen und M\u00e4use u. a. n\u00f6thig. Diese Tbiere w\u00fcrden wie die anderen Vierf\u00fcsser unbequem gehen. Ihr Gang ist dem Tempo des Sprunges \u00e4hnlich. Die Nager, auf der Ebene gehend schreiten mit den Vorderf\u00fcssen und setzen die Hinterf\u00fcsse im n\u00e4chsten Tempo nach. Eine Art der Bewegung, die auch hei den Fr\u00f6schen vorkommt.\nV. Galopp forc\u00e9. Zwei Momente. Unterscheidet sich von dem vorhergehenden dadurch, dass auch die Vorderf\u00fcsse gleichzeitig aufgesetzt werden.\nCuvier macht bereits darauf aufmerksam, dass die Gelenke der S\u00e4ugethiere hei ihren Gangbewegungen sich in Ebenen beugen und strecken, welche der Wirbels\u00e4ule fast parallel sind. Bei den eierlegenden Vierf\u00fcssern, wie Eidechsen und anderen, sind dagegen die Kniegelenke und Ellenbogengelenke mehr, oft sehr ausw\u00e4rts gerichtet, was wieder Einfluss auf die Stellung der Fiisse hat. Daher denn die Spur dieser Tbiere schon aus der Stellung der F\u00fcsse von der eines S\u00e4ugethiers zu unterscheiden ist.\nSprung. (Treviranus Zeilshrift f. Physiol. IV. 1. 87.)\nDer Sprung ist eine Ortsbewegung des thierischen K\u00f6rpers, die durch l\u00e4ngere g\u00e4nzliche Erhebung vom Boden sich auszeichnet. Sie geschieht, bei vollem Sprunge, durch Entwickelung oderStrecken dreier Gelenke, die hinter einander in entgegengesetzten Richtungen vor dem Sprunge gebogen sind, des H\u00fcftgelenks, des Kniegelenks und Fussgelenks. Vor dem Sprunge steht entweder die ganze Sohle auf, oder nur die Zehen; im ersten Fall wird bei der Streckung des Fussgelenks die ganze Sohle abgewickelt, im zweiten Fall das in der Vorbereitung zum Sprung schon gestreckte Fussgelenk noch st\u00e4rker gestreckt. Der K\u00f6rper ist immer gegen den Oberschenkel vorher geneigt. Eine gleichzeitige Entwickelung dieser drei Gelenke ist n\u00f6thig zu einer so kr\u00e4ftigen Bewegung, die den K\u00f6rper vom Boden bedeutend zu erheben vermag. W\u00e4re kein Widerstand vorhanden, so w\u00fcrde die Streckung eine Verl\u00e4ngerung des K\u00f6rpers an beiden entgegengesetzten Enden hervorbringen. Das Hinderniss des Bodens ist die Ursache, dass, indem der Impuls dem Schwerpuncte des K\u00f6rpers mitgetheilt wird', dieser eine Wurfbewegung in der mittlern Richtung der sich entwik-kelnden Gelenke beschreibt. Die Richtung des Sprunges h\u00e4ngt nicht allein von der Neigung eines der Glieder der Extremit\u00e4ten ab, und es ist z. B. nicht n\u00f6thig, um senkrecht zu springen, dass der Unterschenkel eine fast senkrechte Richtung gegen den Fuss-boden erhalte, wie Treviranus a. a. O. behauptet. Die Neigung des Unterschenkels gegen den Boden kann eine ganz beliebige seyn, und doch l\u00e4sst sich dabei sowohl nach vorn als nach r\u00fcckw\u00e4rts und aufw\u00e4rts springen. Die H\u00fclfsmittel, welche wesentlich beim Sprung nach hinten dienen, werden deutlicher, wenn man diesen Sprung mit den allereinfachsten H\u00fclfsmitteln zu machen sucht. Man kann n\u00e4mlich ohne allen Antheil des Fussgelenks nach hinten springen oder h\u00fcpfen, wenn man sich auf die Kanten der Abs\u00e4tze der Schuhe stellt und eine kr\u00e4ftige Streckung des vorher gebogenen Kniegelenks vollzieht, ohne eine Bewegung","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"12.9\n3. Ortslewegungen. Sprung.\nim H\u00fcftgelenk walirznnehmen. In diesem Fall erh\u00e4lt der K\u00f6rper eine schiefe Bewegung in der Richtung einer zwischen der Ferse und dem H\u00fcftgelenk gezogenen Linie, und da diese Linie hinter den vom Schwerpunct auf die entstehenden Hacken fallenden Perpendikel f\u00e4llt, so erh\u00e4lt der K\u00f6rper im H\u00fcftgelenk einen Impuls nach aufw\u00e4rts und r\u00fcckw\u00e4rts.\nSo kann man auch hei aufstehender ganzer Sohle, ohne dass sich das Fussgelenk streckt, nach hinten durch Streckung des Kniegelenks springen. Der Fall, wo man auf den Zehen stehend nach hinten springt, ist ganz derselbe, der St\u00fctzpunct ist nur ein anderer; der Impuls erfolgt auch durch das Kniegelenk. Daher kann man, sobald das H\u00fcftgelenk bis in den Perpendikel des Schwerpunctes oder des St\u00fctzungspunctes gebracht wird, nicht mehr nach hinten springen.\nMan kann auch auf den Hacken stehend nach vorw\u00e4rts springen , so dass die Entwickelung des Fussgelenks keinen Antheil am Sprung hat. Beobachtet man sich dabei, so sieht man, dass das Knie auch seine gebeugte Stellung beim Sprung fast unver\u00e4ndert behauptet, dass aber der Winkel zwischen Rumpf und Oberschenkel jedesmal sehr stark gestreckt wird und dass der ganze Rumpf an diesem Sprung oder H\u00fcpfen Antheil hat. Die beiden Schenkel des sich streckenden Bogens sind hier, der eine die ganze steifgehaltene Extremit\u00e4t von der Hacke bis zum Sehen\u2014 kelkopf, der andere Schenkel der ganze Rumpf; beide Schenkel dieses Winkels streben sich in eine Direction zu strecken, die vor den Perpendikel des St\u00fctzpunctes f\u00e4llt.\nMan kann ferner mit steifgehaltenem, gebeugtem Kniegelenk durch blosse Entwickelung des Fussgelenks vorw\u00e4rts springen oder li\u00fcpfen, wenn die Linie, welche die beiden Schenkel dieses Gelenks zu erzielen streben, sich nach vorw\u00e4rts \u00fcber den Perpendikel des St\u00fctzpunctes neigt.\nEndlich kann man mit Gebrauch aller Gelenke vorw\u00e4rts und r\u00fcckw\u00e4rts springen, sobald die mittlere Direction, welche die verschiedenen Gelenke dem K\u00f6rper ertbeilen, vorw\u00e4rts oder r\u00fcckw\u00e4rts, ist, oder die Richtung ihrer Entwickelung \u00fcber den St\u00fctzpunct hinaus f\u00e4llt.\nDas senkrechte Springen kann bei jeder Neigung der verschiedenen Gelenke erfolgen, mag aus der Lage des einen oder andern die Direction nach vorw\u00e4rts oder r\u00fcckw\u00e4rts folgen, wenn die verschiedenen Impulse sich nur compensiren, so dass die mittlere Direction nach aufw\u00e4rts hervorgeht.\nBei den Vierf\u00fcssern k\u00f6mmt der Sprung in doppelter Weise vor: als Sprung bei Unterst\u00fctzung des K\u00f6rpers durch die Vorderbeine und ohne diess. Im ersten Fall wird der K\u00f6rper auf den Hinterbeinen aufgeb\u00e4umt, durch Stemmung derselben vor w\u00e4rts geworfen, die Vorderf\u00fcsse sodann aufgesetzt und die Hin-terfusse nachgezogen.\nSpiinger, ohne Gebrauch der Vorderf\u00fcsse, sind mehrere S\u00e4u-gethiere mit sehr langen Hinterbeinen und sehr kleinen Vorder! leinen, zum Theil aus der Ordnung der Nager, wie die Spring-Miiller\u2019s Physiologie. 2r Hil, l,\t\u00df","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"130 IF. Buch. Bewegung. II. Ahsrhn. V. den verschied. Muskelbewegg.\nmause, Dipus, Pcdetes, zum Tbeil aus der Ordnung der lusecten-fresser, wie Macroscelides, zum Tbeil aus der Ordnung der Beu-telthiere, wie Ilalmaturus. Ferner geh\u00f6ren hieher viele h\u00fcpfende V\u00f6gel, namentlich Passerinen, unter den Amphibien die Fr\u00f6sche.\nKlettern.\nDer Mechanismus des Kletterns ist hinl\u00e4nglich bekannt. Die Kletterer hxiren sich zum Tbeil durch ihre N\u00e4gel, wie die Katzen, Eichh\u00f6rnchen, Didelphen, Phalangisten, und die Kletterv\u00f6gel mit einer oder zwei nach hinten gerichteten Zehen, einige, wie die Didelphen und Phalangisten, durch einen Greifschwanz und sogar einen abgesonderten entgegensteilbaren Hinterdaumen. Andere Thiere werden durch die L\u00e4nge und Freiheit der Zehen, \\@e die Affen, deren Vorder- und Hinterdaumen zugleich entgegenstellbar ist oder zugleich durch ihren Greifschwanz, wie die Heulaffen Mycetes und die Cebus zum Umfassen der K\u00f6rper geschickt. Die daumenlosen Affen, Ateles, sind heim Klettern durch die Lange ihrer Finger und Zehen und durch ihren Greifschwanz nicht weniger geschickt. Unter den Zahnlosen sind einige Ameisenfresser und die Faulthiere Kletterer durch die F\u00e4higkeit ihre langen Krallenglieder einzuschlagen , die Kletterer unter den Ameisenfressern auch durch ihren Rollschwanz. Sowohl die Ameisenfresser als die Faulthiere gehen wegen der L\u00e4nge der Krallen schlecht; auch treten sie vorzugsweise mit der \u00e4ussern Seile des Fusses auf. Die Faulthiere sind wegen der unverh\u00e4ltnissm\u00e4s-sigen L\u00e4nge der Arme und Vorderarme zum Gehen auf den F\u00fcssen so ungeschickt, dass sie sich heim Gehen auf ihre Ellenbogen st\u00fctzen. Gleichwohl ist' es fehlerhaft diesen Thieren eine stiefm\u00fctterliche Ausstattung von Seiten der Natur zuzuschreiben, da ihre Glieder zum Heben und zur Bewegung auf B\u00e4umen durchaus geschickt gebildet sind. Unter den Amphibien sind diesen Thieren die Cham\u00e4leone zu vergleichen, deren Finger gar, nie hei den Kletterv\u00f6geln, in eine vordere und hintere Abtheilung zum Greifen zerfallen. Sie haben einen Wickelschwanz.\nWelchen mannigfaltigen Ver\u00e4nderungen die Extremit\u00e4ten der Wirbelthiere f\u00fcr den verschiedenen Zweck des Fliegens, Schwimmens, Greifens, Kletterns, Gehens, Grabens unterworfen sind, hat die vergleichende Anatomie ausf\u00fchrlicher zu entwickeln. Welche Verschiedenheit zwischen der Hand des Rochens und des Einhufers! Dort \u00fcberwiegende Zahl der zur Flosse verbundenen Finger und \u00fcberwiegende Z\u201ebl der Phalangen, ohne Oberarm und Vorderarm, w\u00e4hrend bei den fischartigen S\u00e4ugethieren vermehrte Zahl der Phalangen wiedererscheint, aber zugleich ein verk\u00fcrzter Oberarm und Vorderarm vorhanden sind; bei den Einhufern an dem andern Extrem Reduction der Hand und des Fusses auf einen einzigen Finger. Ueher die physiologische Bedeutung der Hand in den verschiedenen Thierordnungen, siehe Ch. Bell the hand. Loud. 1831.\nEin Blick auf die Gliederthicre in Hinsicht auf ihre Bewegungen, insbesondere ihre Gangbewegungen, nimmt zuletzt das Interesse des Naturforschers in Anspruch. Bedienen sich viele ihrer Gangf\u00fcsse (Hydrophiles u. a.) oder gewimperter Ruder-","page":130},{"file":"p0131.txt","language":"de","ocr_de":"3. Ortsbewegungen. Insecten.\n131\nfiisse (Dytiscus, Notonecta u. a.) als Ruder, so erheben sich die llydroinetren auf die \u00fcberdache des Wassers und bieten uns das merkw\u00fcrdige Schauspiel dar, dass ein leichter Thierk\u00f6rper auf der Oberfl\u00e4che des Wassers forth\u00fcpft, w\u00e4hrend seine F\u00fcsse auf das Wasser auftreten. Der Gang der Insecten auf dem Lande erscheint so hebende und regelrecht, als man es auf den ersten Blick bei der vermehrten. Zahl der Extremit\u00e4ten nicht erwarten sollte. Jede Action, an der viele Glieder theilnehmen, wird durch eine bestimmte Ordnung derselben gef\u00f6rdert; so sehen wir auch den Gang der Insecten trotz der sechs Extremit\u00e4ten ganz einfach. Beobachtete ich den Gang langsam gehender Insecten, so sah ich deutlich, dass jedesmal drei Extremit\u00e4ten gleichzeitig vor- und auftreten , sie werden vorgesetzt und st\u00fctzen, w\u00e4hrend die drei anderen durch Stemmung den K\u00f6rper des Insects fortschieben. Zugleich treten n\u00e4mlich der hinterste und vorderste Fuss der einen Seite und der Mittelfuss der andern Seite auf, im n\u00e4chsten Moment werden die \u00e4ussersten F\u00fcsse dieser Seite und der Mittelfuss jener Seite aufgesetzt; so dass bei zwei Schritten alle F\u00fcsse des Insects in Th\u00e4tigkeit gewesen sind. Beim Gehen der Spinne, mit acht F\u00fcssen, scheinen jedesmal vier Extremit\u00e4ten aufzutreten, w\u00e4hrend die vier anderen sich erheben; die Beobachtung ist liier viel schwieriger als hei den Insecten, doch scheint es, dass zwischen zwei aufgesetzten st\u00fctzenden F\u00fcssen immer ein abtretender und sofort sich erhebender liegt. Ja selbst hei den Asseln mit 14 F\u00fcssen scheint eine ganz regelm\u00e4ssige Ordnung in der gleichzeitigen Action einer gewissen Anzahl Glieder stattzufinden, w\u00e4hrend die schnell ablaufende Action der Glieder den Gesammtausdruck einer wellenf\u00f6rmigen Bewegung darbietet.\nManche leichten Thiere, namentlich Insecten, sind mit Organen an den F\u00fcssen bewaffnet, die ihnen zum Festhalten an selbst glatten, senkrechten Fl\u00e4chen oder gar zum Halten an der Decke ^ dienen. Home philos. Transact. 1824. lect. on comp. anal. 4. T. 81. Ilieher geh\u00f6ren die Organe an den Sohlen der Fliegen, welche vielleicht in der Mitte eingezogen werden k\u00f6nnen und als Saugwerkzeuge dienen, und mehrere \u00e4hnliche Apparate bei anderen Insecten, die entweder eine innige Ber\u00fchrung und Adh\u00e4sion oder ein wirkliches Ansaugen vermitteln. Unter den Amphibien beobachten wir ein \u00e4hnliches Beispiel an den Gecko, deren Finger und Zehen an der Unterseite mit regelm\u00e4ssigen Querfalten (wie das Ansaugungsorgan am Kopfe der Eclieneis) besetzt sind, durch deren Aufrichtung wahrscheinlich ein hohler Raum und das Anheften bewirkt wird. Diese Thiere sollen an senkrechten Fl\u00e4chen und selbst an der Decke hinlaufen k\u00f6nnen. Hier ist auch der Ort des Mechanismus zu erw\u00e4hnen, durch welchen manche Thiere in einer Stelluug, die viele Muskelanstrengung zu erfordern scheint, sich mit Leichtigkeit erhalten k\u00f6nnen. Das Stehen der Thiere und des Menschen geschieht durch eine fortdauernde Anstrengung der Streckmuskeln; in dess ist das Stehen bei einigen Thieren durch mechanische Vorrichtung sehr erleichtert und kann dann Tag und Nacht ohne Erm\u00fcdung geschehen. Die St\u00f6rche und mehrere andere V\u00f6gel stehen oft unausgesetzt\n9*","page":131},{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"132 IV. Buch. Bewegung. II. Ahschn. V. den verschied. Muskclbewegg.\nauf einem Beine, .schlafen sogar in dieser Stellung. Cuvier erw\u00e4hnt bereits die eigenlhiimliche Bildung des Fussgelenks beim Storch, wodurch diess erzielt wird, ln der Mitte der vordem Fl\u00e4che des untern Endes des Unterschenkels befindet sich n\u00e4mlich eine Grube, welche einen Vorsprung der Fusswurzel aufnehmen kann. Erst indem dieser Vorsprung, der bei der Strek-kung unter der Grube zwischen den Verl\u00e4ngerungen der Rolle des Unterschenkels liegt, in jene Vertiefung ausweicht, tritt das Fussgelenk in Beugung. Dieser Beugung wirken B\u00e4nder gleich Federn entgegen. Macartney in Transact ions of the Royal Irish Academy. XIII. 20. Dieser Mechanismus, welcher das Stehen der langf\u00fcssigen V\u00f6gel erleichtert, ist indess von der Natur nicht \u00fcberall angewandt worden, wo wir doch die Thiere zum langen Stehen auf einem Beine f\u00e4hig sehen. So z. B. schlafen die Enten auf einem Beine stehend und haben jenen Mechanismus nicht. Diess \u00fcberzeugt uns, dass im Schlafe selbst eine mit Erhaltung des Gleichgewichtes stattfindende Action der Streckmuskeln von der Provinz der Centralorgane, von welcher alle Ortsbewegungen ausgehen, beherrscht werden kann.\nDas Festhalten der F\u00fcsse beim Sitzen auf denselben, wird denjenigen V\u00f6geln, die in dieser Stellung schlafen, durch eine Einrichtung erleichtert, auf welche Borelt.i zuerst aufmerksam macht. Vicq d\u2019Azyr hatte diese Erkl\u00e4rung in Zweifel gezogen. Cuvier hat sie und offenbar mit Recht in Schutz genommen. Die Sehnen der Zehenbeuger geben nicht allein unter dem Fussgelenk hin und ziehen die Zehen bei der Beugung des Fussgelenks an, sondern sie k\u00f6nnen auch noch durch einen an der innern Seite des Schenkels liegenden accessorischen Muskel (Beimuskel der Zehenbeug er), dessen Sehne \u00fcber das Knie weggeht, angezogen werden. Die Beugung beider Gelenke durch das Gewicht des K\u00f6rpers, muss daher zugleich die Zehen beugen und das Festhalten der Fiisse bewirken, vvie denn selbst im Tode diese \"Wirkungen durch Beugen der Gelenke erfolgen.\nMan kann an ein \u00e4hnliches Verh\u00e4ltniss anderer Muskeln beim Hunde erinnern. Wird der Schenkel des Hundes im Knie gestreckt, so wird zugleich der Gastrocnemius gespannt und die Ferse angezogeu. Daher ein Hund selbst nach Durchschneidung des Nervus is'chiadicus noch etwas auftreten kann, sobald die Streckmuskeln des Oberschenkels, die von der Durchschneidung jenes Nerven nicht betheiligt sind, den Unterschenkel strecken.","page":132},{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"1. Bedingungen der Tunerzeugung.\nm\nIII. Abschnitt. Von der Stimme und Sprache.\nI. Capitel. Von den allgemeinen Bedingungen der Tonerzeugung.\nDie Ursache von der Stimme und Sprache angegebener Tone sind zwar an und f\u00fcr sich keine Muskelbewegungen, sondern die Schwingungen eines eigenth\u00fcmlichen und einem musikalischen Instrumente vergleichbaren Werkzeuges; in sofern aber die zum Tonangeben n\u00f6thige Spannung des Instrumentes und die H\u00f6he und Folge dieser T\u00f6ne durch Muskelbewegungen bestimmt werden, geh\u00f6rt die Untersuchung der Stimme und Sprache zun\u00e4chst unter den Abschnitt von den Bewegungen. Es ist zuerst n\u00f6thig, die allgemeinen Bedingungen der Tonerzeugung kennen zu lernen, ehe wir in die Untersuchung der menschlichen Stimme cingehen k\u00f6nnen.\nEin pl\u00f6tzlicher mechanischer Impuls auf das Geh\u00f6rorgan kann eine Geh\u00f6rempfindung liervorrufen, wie des Knalles, wenn die Einwirkung heftig war, oder des Ger\u00e4usches, wenn sie schwach war. Das schnelle Ausstr\u00f6men der comprimirten Luft, das schnelle Einstr\u00f6men der Luft in einen luftverd\u00fcnnten Raum bringen den Eindruck des Schalles auf das Geh\u00f6rorgan hervor, wenn diese Ersch\u00fctterung der Luft dem Geh\u00f6rorgan mitgethedt wird. Dass aber T\u00f6ne von gleichbleibendem und vergleichbarem Werthe empfunden werden sollen, dazu ist nur eine gewisse Art des mechanischen Impulses hinreichend, n\u00e4mlich eine schnelle Wiederholung des gleichen Impulses in sehr kurzer Zeit. Von der H\u00e4u-ligkeit dieser Impulse oder St\u00f6sse hangt die Empfindung der Tonh\u00f6he ah. Die pendelartigen Schwingungen eines t\u00f6nenden K\u00f6rpers sind in den meisten Fallen, indem diese Schwingungen bis zum Innern des Geh\u00f6rorgans und Geh\u00f6rnerven geleitet werden, die Ursache zum H\u00f6ren 1er T\u00f6ne. Geht man von der Thatsa-che aus, dass die t\u00f6nenden K\u00f6rper elastisch sind, enhveder durch Coh\u00e4renz, wie die steifen t\u00f6nenden K\u00f6rper, oder durch ihren Druck oder Expansionsstrebenf wie die Gase, oder durch Spannung, wie die Saiten, und dass alle diese t\u00f6nenden K\u00f6rper beim Tonangehen schwingen, so liegt die Vorstellung nahe, dass die Schwingungen allein die wesentliche Ursache des T\u00f6nen:; sind. Man w\u00fcrde sich jedoch eine falsche Vorstellung von der Vatur des Tons machen, wenn man glaubte, dass die pendelartige Bewegung oder die Schwingung, zuletzt dem Geh\u00f6rnerven selbst mitgetheilt, zur Erzeugung der Tonemplindung in diesem Kerven nothwendig w\u00e4re. Es scheint vielmehr, dass auch hei den T\u00f6nen, die durch Schwingungen der t\u00f6nenden K\u00f6rper entstehen, die in Folge der Schwingung regelm\u00e4ssig sich wiederholenden St\u00f6sse, welche dem H\u00f6rnerven mitgetheilt werden, die n\u00e4chste Ursache zur Tonemplindung sind. Diess ergieht sich aus der Untersuchung derjenigen T\u00f6ne, welche gar nicht durch Schwingungen eines elastischen K\u00f6rpers, sondern durch blosse schnell aufeinanderfolgende St\u00f6sse entstehen. Wird ein Splitter Holz gegen die Z\u00e4hne eines schnell umlaufenden Rades gehalten, so wird","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"134 IV. Buch. Bewegung. IlI.Abschn. Von d. Stimme u. Sprache.\njeder Stoss der Z\u00e4line als Impuls auf das Geh\u00f6rorgan die Empfindung des Ger\u00e4usches hervorbringen. Wird aber das Rad sehr schnell gedreht, dass die St\u00f6sse des Rades nicht mehr unterschieden werden, so wird statt der einzelnen St\u00f6sse ein Ton vernommen, dessen H\u00f6he mit der Schnelligkeit der St\u00f6sse zunimmt. Von noch gr\u00f6sseren Interesse l'\u00fcr die Kenntniss der wesentlichen Ursache der Tonerzeugung, als einer schnellen Folge von St\u00f6ssen, sind die T\u00f6ne, welche durch einen schnell mit Regelm\u00e4ssigkeit unterbrochenen Strom einer gasf\u00f6rmigen oder tropfbaren Fl\u00fcssigkeit, wie Wasser oder Quecksilber, hervorgebracht werden k\u00f6nnen, um so mehr als die letzteren tropfbaren Fl\u00fcssigkeiten unelastisch, wie sie sind, zur unmittelbaren Erzeugung der T\u00f6ne durch pendelartige Schwingungen nicht geeignet sind. Diese Bedingungen finden sich in der von Cagniard la Tour erfundenen Sirene vereinigt. Der Strom einer Fl\u00fcssigkeit aus einer Oeffnung wird hier w\u00e4hrend dem raschen Umlauf eines Rades durch jeden Zahn desselben augenblicklich aufgehalten. Befindet sich auch das schwingende Rad unter Wasser und hemmt es nur den Strom des von unten durch Druck zugef\u00fchrten Wassers in regelm\u00e4ssigem schnellem Wechsel, so erzeugen die dadurch hervorgebrachten St\u00f6sse, wenn sie schnell genug aufeinander folgen, einen klaren Ton, dessen H\u00f6he mit der Schnelligkeit der Unterbrechungen oder St\u00f6sse zunimmt.\nIn Beziehung auf das menschliche Stimmorgan oder Tonwerkzeug interessiren uns n\u00e4her diejenigen K\u00f6rper, welche durch Schwingungen die n\u00f6thige Anzahl der schnell wiederholten St\u00f6sse, Pulsus, geben. Dieser Art der Tonerzeugung sind nur die elastischen K\u00f6rper f\u00e4hig. Ein Anstoss gegen einen Theil dieser K\u00f6rper theilt sich dem Ganzen mit und versetzt den K\u00f6rper in pen-delartige Schwingungen ; die durch die Schwingungen erzeugten St\u00f6sse tbeilen sich den ber\u00fchrenden K\u00f6rpern mit und gelangen auf diese Art zum Geh\u00f6rorgan.\nMit der H\u00f6he der T\u00f6ne nimmt die Zahl der Schwingungen zu. Der tiefste gebr\u00e4uchliche Ton , das 32f\u00fcssige C der Orgel, giebt z. B. 32 Schwingungen der Luft der Orgelpfeife in der Secunde, d:e Octave davon giebt 64 Schwingungen, die n\u00e4chste Octave giebt 128 Schwingungen, die n\u00e4chste oder das ungestrichene c giebt 256 Schwingungen in der Secunde. Da es gleich ist, ob die St\u00f6sse durch den Anstoss der Z\u00e4hne eines Rades oder durch die Schwingungen eines K\u00f6rpers erfolgen, so hat man jetzt in dem von Savart erfundenen Instrumente, wo die T\u00f6ne durch die St\u00f6sse der Z\u00e4hne eines Rades an einen K\u00f6rper hervorgebracht werden, ein leichtes Mittel, die Zahl der Schwingungen f\u00fcr jeden Ton mit Bestimmtheit zu ermitteln.\nDie Schwingungen eines t\u00f6nenden K\u00f6rpers k\u00f6nnen in seiner ganzen Ausdehnung stattfinden; er kann sich aber in Abschnitte tbeilen, die nach entgegengesetzten Richtungen schwingen, w\u00e4hrend die Theilungsstellen, Schwingungsknoten, ruhig bleiben. An den Stellen der Schwingungsknoten bleiben aufgelegte Papierschnitzel ruhig. Die Schwingungen k\u00f6nnen auch in der Richtung verschieden seyn, transversale, longitudinale, oder drehende. Eiu","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"1. Bedingungen der T\u00f6ne. Saiten.\n135\nBeispiel der Transversalschwingungen bildet eine zwischen zwei Punclen gespannte, hin und lier nach den Seiten schwingende Saite oder ein an einem Ende befestigter Stab von Metall. Bei den longitudinalen Schwingungen der Luft, der Saiten und St\u00e4be, die man an beiden letzteren durch Reiben der L\u00e4nge nach hervorbringt, schreitet ein Zusammendr\u00fccken und Ausdehnen von einem Theilchen des K\u00f6rpers zum andern, bis zum Ende oder Schwingungsknoten fort und kehrt dann um. Drehende Schwingungen hat Chladni bloss an St\u00e4ben beobachtet.\nDie durch Schwingungen t\u00f6nenden K\u00f6rper sind theils elastische Fl\u00fcssigkeiten wie die Luft, theils durch Spannung elastische K\u00f6rper, wie gespannte Saiten, theils an und f\u00fcr sich elastische feste K\u00f6rper, wie Metallst\u00e4be, Metall- und Glasscheiben. Die Gesetze, nach welchen die Tonschwingungen in diesen verschiedenen Classen der t\u00f6nenden K\u00f6rper erfolgen, sind f\u00fcr die zu ermittelnde Theorie der menschlichen Stimme von grosser Wichtigkeit. Wir wollen einen kurzen Blick auf dieselben werfen, um zu erkennen, zu welcher Classe der Tonwerkzeuge das menschliche Stimmorgan geh\u00f6re. Wir folgen hierbei zun\u00e4chst vorz\u00fcglich den Untersuchungen von Chladni (Akustik. Leipz. 1802. 4.), Biot, Savart und W. Weder. Ueber diejenigen Tonwerke, Welche die n\u00e4chste Verwandtschaft mit dem menschlichen Stimmorgan haben, werden wir eigene Beobachtungen beibringen.\nI. Feste elastische K\u00f6rper.\nSie sind theils durch Spannung elastisch, wie die Saiten und Trommelfelle, theils an und f\u00fcr sich elastisch, wie Metallst\u00e4be und Scheiben. Bei jeder dieser Arten fester elastischer K\u00f6rper kommt bald nur die Dicke und L\u00e4nge in Betracht, dicss sind die fadenf\u00f6rmigen, bald mehrere Dimensionen, diess sind die membranenf\u00f6rmigen. Beispiele durch Spannung elastischer fadenf\u00f6rmiger K\u00f6rper sind die Saiten, membranf\u00f6rmiger die Paukenfelle. Beispiele an und f\u00fcr sich elastischer fadenf\u00f6rmiger K\u00f6rper sind die geraden oder gekr\u00fcmmten Metallst\u00e4be, membranenf\u00f6rmiger die geraden oder gekr\u00fcmmten Scheiben, Glocken u. a. Chladni a. a. O. p. 64.\nA. Durch Spannung elastische K\u00f6rper.\na. Fadenf\u00f6rmige durch Spannung e I a s t i s c h e K \u00f6 r-per, Saiten. Mit der K\u00fcrze der Schwingungsbogen nimmt die Zahl der Schwingungen, wie beim Pendel mit' der K\u00fcrze desselben zu, und mit der Zahl der Schwingungen die H\u00f6he der T\u00f6ne.\nSchwingt eine gespannte Saite mit ihrer ganzen L\u00e4nge, so giebt sie ihren tiefsten oder Grundton an, wird sie bei gleicher Spannung durch einen untergebrachten Steg in zwei gleiche Theile ge-theilt, und einer derselben angestossen, so ist der hervorgebrachte Ton die Octave des Grundtons, die noch einmal so viel Schwingungen als der Grundton hat. Wird i der Seite bei gleicher Spannung isolirt und angesprochen, so giebt diese die zweite Octave des Grundtons, die viermal so viel Schwingungen als der Grundton hat. Ueberhaupt verh\u00e4lt sich bei gleich dicken und gleich gespannten Saiten von derselben Substanz die Menge der Schwingungen umgekehrt wie die L\u00e4nge der Saiten. Bei gleich lau gen und un","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"13(i IV. Buch. Bewegung. III. Alschn. Von d. Stimme u. Sprache.\ngleich gespannten Saiten verhalten sich die Schwingungsmomente wie die Quadratwurzeln aus den sie spannenden Kr\u00e4ften. Biot Lelirb. d. Experimentalphys. 2. 30.\nDie Schwingungsmengen f\u00fcr die T\u00f6ne zwischen dem Grundton und der ersten Octave werden erhalten hei gleicher Spannung durch Verk\u00fcrzung der Saite auf die zwischen 2 und 1 liegenden Br\u00fcche. Wenn z. B. die Schwingungsmengen des Grundtons zu dem der Octave wie 1 zu 2 sich verhalten^so werden sich die Schwingungsmengen der T\u00f6ne nach der allgemein angenommenen einfachen musicalischcn Scala unsers heutigen Systems der Musik folgendermassen verhalten:\ni *9\t5\t4\t3\tf>\tl 5\tw>\nX 8\t4\t3\t2\t3\tH\tL\ncd\te\tf\tg\t(l\th\t<:\nGrundton Terz Quinte\tOctave.\nEine Saite kann, wahrend sie in ganzer Lange die dem Grundton eigenen Schwingungen macht, auch zugleich mit aliquoten rheilen schnelle auf einander folgende Schwingungen machen, die anderen T\u00f6nen, h\u00f6her als der Grundton, entsprechen. In der That h\u00f6rt man heim Anschl\u00e4gen einer einzigen und isolirten Saite, oder des Monochords, wo die T\u00f6ne mitklingender anderer Saiten nicht in Betracht kommen, hei einiger Aufmerksamkeit ausser dem Grundton auch noch einige andere T\u00f6ne, besonders solche, die in einfachen numerischen Verh\u00e4ltnissen zum Grundton stehen, z. B. die Quinte der Octave, die Terz der zweiten Octave.\nWird eine gespannte Saite am Ende von -j oder oder ! u. s. w. ihrer L\u00e4nge durch leise Ber\u00fchrung ged\u00e4mpft und hier ein Schwingungsknoten bedingt, so entstehen heim Streichen derselben mit dem Violinbogen, auch zwischen den \u00fcbrigen J oder oder | Schwingungsknoten und die Saite giebt dann statt des Grundtons vielmehr den diesen L\u00e4ngen und ihren Schwingungsmengen entsprechenden hohem sogenannten Flageoletton.\nDa bei den Saiten f\u00fcr tiefe T\u00f6ne durch die geringere Spannung ersetzt werden kann, was ihnen an L\u00e4nge gebricht, um nur eine geringere Zahl Schwingungen in einer bestimmten Zeit zu machen, so w\u00fcrden sich der Theorie nach auch auf einer sehr kurzen Saite noch alle T\u00f6ne durch ver\u00e4nderte Spannung hervorbringen lassen. Indessen schwingen die Saiten, wenn sie sehr abgespannt sind, wegen Mangel an Elasticit\u00e4t zu unregelm\u00e4ssig, als dass sie sehr verk\u00fcrzt und abgespannt noch einen tiefen Ton hervorbringen sollten. Dagegen werden sehr kurze Saiten, wenn sie auch im abgespannten Zustande nicht alle Elasticit\u00e4t verlieren, z. B. Saiten von Kautschuck noch zur Hervorbringung von tiefen T\u00f6nen geschickt seyn, und elastische Bl\u00e4tter, die in einer Richtung gespannt sind, k\u00f6nnen bei sehr bedeutender K\u00fcrze noch sehr reine T\u00f6ne hervorbringen, wenn sie eine feine Spalte begrenzen und die an dem Blatte vorbeigepresste Luft das Blatt in Schwingung erh\u00e4lt. Davon bei den Zungenwerken.\nb. Membranenf\u00f6rmige durch Spannung elastische K\u00f6rper. Membranen, die bloss in einer Richtung gespannt sind, ver\u00e4ndern ihre T\u00f6ne nach den Gesetzen wie die Saiten. Das Gesetz, nach welchem die Schwingungsmengen nach der Gr\u00f6sse","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"4. Bedingungen der T\u00f6ne. St\u00e4be, Glucken, Fl\u00f6tenwerke. 137\nuncl Spannung bei den allseitig gespannten Paukenfellen abneh-men, ist noch nicht n\u00e4her gekannt. Es ist bekannt, dass die H\u00f6he des Tons im Allgemeinen mit zunehmender Spannung zunimmt. Eine n\u00e4here Kenntniss der Schwingungsart dieser Tonwerkzeuge w\u00fcrde f\u00fcr die Theorie der menschlichen Stimme von keinem Gewicht seyn. Die Stimmb\u00e4nder stellen nach einer Richtung gespannte Membranen dar, ob aber bei ihrer Kleinheit durch sie allein ohne Mitwirkung der Luft klare T\u00f6ne entstehen k\u00f6nnen, werden wir sp\u00e4ter untersuchen.\nB. An und f\u00fcr sich elastische, K\u00f6rper.\na.\tFadenf\u00f6rmige gerade und gebogene St\u00e4be. Die Schwingungen sind \u00e4hnlich wie bei den Saiten, und die Elasti-cit\u00e4t dieser K\u00f6rper ersetzt die Spannung der Saiten, sie schwingen daher, sowohl kn einem als beiden Enden befestigt. Dergleichen Metallst\u00e4be oder Bl\u00e4tter werden durch Anschl\u00e4gen zum T\u00f6nen gebracht; sind Bl\u00e4ttchen von Metall oder Holz d\u00fcnn genug, so k\u00f6nnen sie auch durch Luftstrom in Schwingung gesetzt werden, wenn n\u00e4mlich die Luft zwischen der Platte und einem Rahmen, in welchem sie befestigt sind, durebgepresst wird. Diess sind die Zungen der Zungenwerke. Die an solchen Zungen allein hervorzubringenden T\u00f6ne richten sich nach denselben Gesetzen, wie die an freien St\u00e4ben hervorgebrachten T\u00f6ne. Wir werden darauf bei den Zungenwerken zur\u00fcckkommen. Ein Beispiel einer einfachen, durch den Luftstrom in Schwingung gesetzten Zunge ohne Rohr bietet die Mundharmonica dar, deren Bl\u00e4ttchen auch durch einen Blasebalg angesprochen werden k\u00f6nnen.\nDie H\u00f6he der T\u00f6ne oder die Schwingungsmengen ver\u00e4ndern sich bei den St\u00e4ben nach einer andern Regel als bei den Saiten. Die H\u00f6he der T\u00f6ne oder Zahl der Schwingungen steht n\u00e4mlich in geradem Verh\u00e4ltnis mit der Dicke der St\u00e4be und in umgekehrtem Verh\u00e4ltnis mit den Quadraten der L\u00e4nge der St\u00e4be.\nb.\tMembranenf\u00f6rmige gerade und gebogene steife K\u00f6rper, Scheiben, Glocken. Weder mit den fadenf\u00f6rmigen noch mit den membranenf\u00f6rmigen an sich elastischen K\u00f6rpern hat das Stimmorgan einige Aehnlichkeit; daher wir diese Tonwerkzeuge sogleich verlassen k\u00f6nnen.\nII. Elastische Fl\u00fcssigkeiten. Luft.\nDie Schwingungen der Luft beim T\u00f6nen bestehen in abwechselnden Verdichtungen und Verd\u00fcnnungen, we'che in den Fl\u00f6tenwerken in longitudinaler Richtung erfolgen. In den meisten Blaseinstrumenten ist die Luft das T\u00f6nende, indem sie der L\u00e4nge des Instrumentes nach vor und wieder r\u00fcckw\u00e4rts in Schwingung ger\u00e4th. Die Geschwindigkeit der Wellen oder Verdichtungen und Verd\u00fcnnungen bleibt sich im Allgemeinen gleich, mag die R\u00f6hre weit oder enge seyn, und h\u00e4ngt bloss, wenigstens haupts\u00e4chlich, von der L\u00e4nge der Wellen oder des zu durchlaufenden Raumes ab. Doch ist es eine Erfahrung der Orgelbauer, dass man die R\u00f6hren der Fl\u00f6tenwerke etwas verk\u00fcrzen muss, wenn sie bei gr\u00f6sserer Weite denselben Ton behalten sollen, und Savart hat","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138 IV. Buch. Bewegung. III. Ahschri. Von d. Stimme u. Sprache.\ngefunden, dass die Lufts\u00e4ule in weichen elastischen K\u00f6hren bei gleicher L\u00e4nge viel tiefer t\u00f6nt, als in festen R\u00f6hren. Bei Erschlaffung der W\u00e4nde durch Wasserd\u00e4mpfe kann ihr Ton sogar um zwei Octaven von ihrer sonstigen Tonh\u00f6he sinken.\nFl\u00f6tenwerke. Das Princip einer Pfeife liegt darin, dass eine in einer R\u00f6hre enthaltene Lufts\u00e4ule in Schwingungen versetzt wird durch Blasen \u00fcber einen Theil ihrer Oberfl\u00e4che. Am einfachsten geschieht dieser Anspruch beim Wegblascn \u00fcber die M\u00fcndung einer R\u00f6hre, eines Schl\u00fcssels; ganz \u00e4hnlich ist der Anspruch der Fl\u00f6te, nur wird hier die Lufts\u00e4ule nicht an ihrem Ende, sondern vor diesem an der Seite in Schwingung gesetzt. Bei den Pfeifen wird die Luft durch einen engen Kanal des Mundst\u00fccks geblasen, und indem sie an der Seiten\u00f6lfnung heraustritt, setzt sie zugleich die im Rohr der Pfeife enthaltene Lufts\u00e4ule in schwingende Bewegung. Eine \u00e4hnliche Construction haben die cylindrischen oder vierkantigen Orgelpfeifen, die zu dem Fl\u00f6tenwerke der Orgel geh\u00f6ren und auch Labialpfeifen genannt werden. Nur die Luft t\u00f6nt in diesen Werken. Pfeifen von gleicher L\u00e4nge, von Holz, Metall, Pappe, geben dieselbe Tonh\u00f6he hei verschiedenem Klange. Ist die Lufts\u00e4ule einmal durch Einblasen \u00fcber ihre Oberfl\u00e4che in schwingende Bewegung gesetzt, so muss der Strom der Luit fort-dauern, um die zum H\u00f6ren n\u00f6thigen Schwingungen zu erhalten. Bei diesen Werken findet \u00fcbrigens niemals eine Str\u00f6mung der Luft durch die R\u00f6hre, sondern nur die Schwingung der Luft im Innern der R\u00f6hre statt, daher die Fl\u00f6tenwerke auch an ihrem Ende verschlossen seyn k\u00f6nnen. Die einfachste Schwingungsart der Luft in den Pfeifen mit geschlossenem Ende ist diejenige, wo die L\u00e4nge der Wellen der L\u00e4nge der R\u00f6hre gleich ist und keine Schwingungsknoten im Innern der R\u00f6hre entstehen. Der geschlossene Boden der R\u00f6hre ist hier der Schwingungsknoten. Ist die R\u00f6hre an ihrem Ende often, so giebt sie hei gleicher L\u00e4nge mit einer geschlossenen (gedeckten) einen um eine Octave hohem Grundton als diese und es befindet sich in der Mitte der R\u00f6hre ein Schwingungsknoten. lieber die Theorie dieses Unterschiedes der gedeckten und offenen Orgelpfeifen siehe Biot Lelirh. d. Experimentalphysik, iihers. v. Fechneb. 2. 100.\nDie H\u00f6he derT\u00f6fte \u00e4ndert sich im Uebrigen im directen Ver-h\u00e4ltniss mit der L\u00e4nge einer gedeckten oder offenen R\u00f6hre; in-dess giebt dieselbe Lufts\u00e4ule h\u00f6here T\u00f6ne bei st\u00e4rkerm Blasen; durch Entstehung von Schwingungsknoten in der Lange der Lufts\u00e4ule. Biot und Hamel haben gezeigt, wie die Starke des Anspruchs auf die Vermehrung der Schwingungsknoten Einfluss hat. Die T\u00f6ne, welche sich auf diese Weise aus einer gedeckten R\u00f6hre hervorbringen liessen, waren\nC\tg\te\tais +\td\tfis \u2014\tas +\th\n1\t3\t5\t7\t9\t11\t13\t15\nderen Schwingungsmengen der Reihe der ungeraden Zahlen entsprechen. Bei einer am Ende offenen R\u00f6hre waren die durch st\u00e4rkeres Blasen und Vermehrung der Schwingungsknoten zu erzeugenden T\u00f6ne dagegen der einfachen Reihe der nat\u00fcrlichen","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"1. Bedingungen der T\u00f6ne. Fl\u00f6tenwerke,\n139\nZahlen entsprechend = 1, 2, 3, 4, 5, 6 u. s. w. Nur heim schwachen Anblasen erhielten sie den Grundton einer Glasr\u00f6hre von 1 Zoll Durchmesser und 37 Zoll L\u00e4nge, g. Die T\u00f6ne, welche sie durch Ver\u00e4nderung des Anblasens erhielten, waren _\t_\nggdghdf ged\n1\t2\t3\t4\t5\t6\t7|\t8 lOf 12\nDie T\u00f6ne, die auf einer offenen R\u00f6hre durch, verschiedenes Blasen hervorgebracht werden k\u00f6nnen, liegen, wie man aus dieser Reihe sieht, um so weiter auseinander, je n\u00e4her sie dem Grundton sind; mit zunehmender H\u00f6he r\u00fccken die T\u00f6ne zusammen. Zwischen dem Grundton 1 und der ersten Octave, welche der Zahl 2 entspricht, liegt kein Ton dazwischen. Zwischen der ersten Octave 2 und der zweiten Octave, deren Schwingungsmenge 4 ist, liegt schon ein Ton. Zwischen der zweiten Octave 4 und der dritten Octave, deren Schwingungsmenge 8 ist, liegen schon 3 T\u00f6ne, u. s. w.\nDie vorhererw\u00e4hnten Gesetze gelten im Allgemeinen nicht bloss f\u00fcr die atmosph\u00e4rische Luft, sondern f\u00fcr die Gase \u00fcberhaupt; doch ist zu bemerken, dass die Grundt\u00f6ne der Lufts\u00e4ulen nach der Schwere und Dichtigkeit der Luft verschieden sind, denn nach der Erfahrung der Orgelbauer selbst eine lange wie in den H\u00e4nden gehaltene Pfeife ihren Grundton schon ein wenig modificirt. Die T\u00f6ne verhalten sich der Theorie nach bei gleichen L\u00e4ngen umgekehrt, wie die Quadratwurzeln der Dichtigkeit der Gasarten bei gleichem Druck und Temperatur. Die Erfahrung weicht etwas ab. Siehe Riot a. a. O. 107.\nVon einigem Einfluss auf die Ver\u00e4nderung des Grundtons ist auch die Embouchure der Rohre, wie Biot und Hamel gezeigt haben. Letztere wandten eine 4 Fuss lange, vierkantige, 4 Zoll breite, an einem Ende verschlossene Pfeife an. Die Oefl-nung nahm die ganze Breite ein und konnte durch einen Schieber von oben verl\u00e4ngert werden.\nDie erzeugten T\u00f6ne waren folgende:\nGr\u00f6sse der Oeffnung:\t66,0\t36,5\t26,0\t20,5\t16,5\t14,0\t3,8\nErzeugte T\u00f6ne :\t.\t. c g e\th d f\tf.\n66,00 Theile der Oeffnung machen einen Quadratzoll aus. Die erzeugten T\u00f6ne entsprechen den Zahlen oder Schwingungsmengen 1, 3, 5, 7, 9, 11, 43. Der Erfolg der Verengerung der Embouchure ist also bei der gedeckten Fl\u00f6te derselbe, wie der durch Ver\u00e4nderung des Blasens bewirkte ; auf diese Art sind also keine Octaven zu erhalten.\nDer Einfluss der Embouchure auf den Ton der Pfeife scheint mir aus den Erfahrungen noch nicht ganz aufgekl\u00e4rt zu seyn. Es giebt n\u00e4mlich eine Art der Bedeckung der Embouchure, wodurch man den Ton der Pfeife ziemlich bedeutend tiefer machen kann. Lege ich \u00fcber die obere Lippe einer cylindrischen, messingenen Labialpfeife eine Karte fest an, so dass ein Theil der Oeffnung bedeckt wird, so kann ich den Ton um mehr als einen Ton unter","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140 IV. Buch. Bewegung. III. Ahschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nden Grandton erniedrigen; bedecke ich aber die Oeffnung durch eine auf die obere Lippe angedr\u00fcckte Karte so, dass die Karte dachf\u00f6rmig \u00fcber die Oeffnung liegt, so lasst sich der Ton noch viel tiefer machen und um so tiefer, je mehr die dachf\u00f6rmige Karte gegen die Oeffnung niedergedr\u00fcckt wird. Die T\u00f6ne, die sich auf diese Art erhalten lassen, sind alle beliebigen n\u00e4chsten unter dem Grundton der Pfeife bis auf einige ganze T\u00f6ne, also keineswegs die mit den Zahlen 1, -j, 4-, i \u00fcbereinstimmenden T\u00f6ne. Stiess ich den Stempel der Pfeife so tief ein, dass das Rohr der Pfeife nur zwei Zoll betrug, so konnte der Grundton der zwei Zoll langen Pfeife durch dachf\u00f6rmige Bedeckung der Embouchure von d bis zu dem n\u00e4chsten tiefem gis, also fast um eine Quinte herabgedr\u00fcckt werden, und die dazwischen liegenden T\u00f6ne entstanden leicht je nach der grossem oder geringem Neigung des \u00fcber die Embouchure gebildeten Daches. Auch bei einer vierkantigen einf\u00fcssigen Pfeife liess sich der Ton durch dachf\u00f6rmige Bedeckung der Embouchure herabdr\u00fccken.\nAlles bisher Bemerkte gilt von R\u00f6hren ohne Seitenl\u00f6cher, die eigentlichen Fl\u00f6ten lassen sich aber darnach beurtheilen; es sind ungedeckte R\u00f6hren, auf welchen man, wenn alle Seitenl\u00f6cher geschlossen sind, durch verschiedene St\u00e4rke des Anblasens die mit den Schwingungsmengen 1, 2, 3, 4, 5 \u00fcbereinstimmenden T\u00f6ne hervorbringen kann. Durch successive Oeffnung der Seitenl\u00f6cher lassen sich auch die dazwischen liegenden T\u00f6ne hervorbringen. Die Oeffnung jeder derselben f\u00fchrt eine Erh\u00f6hung des Grundtons herbei, und diese Erh\u00f6hung ist verschieden nach der verschiedenen Gr\u00f6sse der Seitenl\u00f6cher und ihrer Entfernung vom Anfang des Instrumentes. Siehe das N\u00e4here \u00fcber die Theorie der Fl\u00f6tenwerke in Biot, Lehrh. d. Experimentalphysik, \u00fcbers, v. Fechker, von 87 \u2014112., und Muncke, Artikel Schall in Geh-ler\u2019s physikal. TV\u00f6rterh. 8. Bd. p. 349 \u2014 360.\nEs entsteht zuletzt die Frage, ob sich durch Anwendung der verschiedenen Mittel, durch welche sich der Grundton einer Pfeife von gegebener L\u00e4nge herabdr\u00fccken l\u00e4sst, so tiefe T\u00f6ne hervorbringen lassen, dass selbst eine R\u00f6hre von sehr geringer L\u00e4nge noch T\u00f6ne von einiger Tiefe bei sehr schwachem Anblasen hervorbringen k\u00f6nne. Ist eine R\u00f6hre theilweise geschlossen, so n\u00e4hert sie sich einer gedeckten, deren Grundton um eine ganze Octave tiefer ist, und durch eine Bedachung der Embouchure l\u00e4sst sich der Ton, wie wir fr\u00fcher sahen, fast um eine Quinte herabdr\u00fccken. Die Schw\u00e4che des Anblasens macht den Ton einer gew\u00f6hnlichen Pfeife nicht tiefer, als bis zu dem sogenannten Grundton ; vielleicht giebt es abjer Mittel, bei deren Anwendung ein noch schw\u00e4cheres Anblasen noch langsamere Schwingungen mit solcher Regelm\u00e4ssigkeit erfolgen l\u00e4sst, dass diese Schwingungen als T\u00f6ne geh\u00f6rt werden. Ein bei den J\u00e4gern \u00fcbliches Pfeifchen, das zwischen den Lippen angeblasen, ihnen zum Nachmachen der Stimmen der V\u00f6gel dient, scheint dieses zu leisten, obgleich die Mittel hier ganz andere sind als die bei den gew\u00f6hnlichen Pfeifen anzuwendenden, um tiefere T\u00f6ne zu erzeugen. Diese Pfeife","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"1. Bedingungen der T\u00f6ne. Fl\u00f6tcmverke, J\u00e4ger/feifcn. 141\nvon Elfenbein oder Messing ist breiter als lang, n\u00e4mlich 4 Linien lang, S \u2014 9Linien breit. Ihr vorderes und hinteres Ende sind durch eine d\u00fcnne Platte gedeckt, in deren Mitte eine Oeffnung sich befindet, durch welche die Luft str\u00f6mt, so dass der Luftstrom durch die Achse der H\u00f6hle der Pfeife durchgeht. Savart hat diese Art von Pfeifen untersucht. Magendie, J. de physiol. V. 367. Nach ihm entsteht der Ton in diesen Pfeifen dadurch, dass der Luftstrom, der durch die beiden Oeffnungen durchgeht, indem er die kleine Masse der in der H\u00f6hle der Pfeife enthaltenen Luft mit sich fortreisst, ihre Elasticit\u00e4t vermindert und sie unf\u00e4hig macht, dem Druck der atmosph\u00e4rischen Luft das Gleichgewicht zu halten, die, indem sie gegen jene zur\u00fcck wirkt, sie zur\u00fccktreibt und zusammendr\u00fcckt, bis wieder eine neue Verd\u00fcnnung erfolgt. An diesem Instrument kann man durch verschiedene St\u00e4rke des Anblasens die T\u00f6ne in einem Umfang von ~\u20142 Octaven, von e 6\u2014c 4 variiren; durch Uebung im Beherrschen des Luftstroms l\u00e4sst sich die Tiefe und H\u00f6he der T\u00f6ne noch viel wei--weiter treiben. Man kann das Volum des Instrumentes verdop-j peln, vervierfachen oder verkleinern, ohne dass die Resultate auffallend variiren. Bei gr\u00f6sseren Dimensionen und d\u00fcnneren W\u00e4nden ' ist es leichter tiefere T\u00f6ne zu erhalten; doch hat jedes Instrument* einen Ton, den es am leichtesten giebt. Die Direction der R\u00e4nder der Oeffnung \u00e4ndert den Ton. Sind sie nach einw\u00e4rts schief gegen das Innere der H\u00f6hlung gerichtet, so sind die T\u00f6ne im Allgemeinen tiefer. Die Gr\u00f6sse der Oeffnungen des Instrumentes hat auf den Ton Einfluss ; die T\u00f6ne sind tiefer, wenn die Oeffnungen weiter sind. Eine Theorie der Schwingungen f\u00fcr dieses Instrument ist noch nicht vorhanden ; es ist auch noch nicht ausgemacht, ob die Luft wirklich das primitiv schwingende ist und ob das Instrument nicht vielmehr in die Categorie der Zungen geh\u00f6rt, von denen weiter unter gehandelt wird. Bei den gew\u00f6hnlichen Zungen kommen zwei Dimensionen, die Dicke und L\u00e4nge des Zungenbl\u00e4ttchens, in Betracht; wenn eine der durchl\u00f6cherten Platten als Zunge wirkt, so w\u00fcrde sie eine Zunge darstellen, wobei wie bei den t\u00f6nenden Scheiben drei Dimensionen, die der L\u00e4nge, Dicke, Breite, in Betracht kommen. Das Instrument kann \u00fcbrigens, wie eine Zunge, mit einer Ansatzr\u00f6hre verbunden werden, und die dadurch hervorzurufenden T\u00f6ne verhalten sich wie bei der Verbindung wirklicher Zungen mit R\u00f6hren. N\u00e4mlich der Ton ist dann nicht der der Zunge, sondern einer der m\u00f6glichen T\u00f6ne des Rohrs, der dem Zungenton am n\u00e4chsten ist. Die Folge der T\u00f6ne bei verschiedenem Anblasen ist bei jeder Combination der J\u00e4gerpfeife mit einem Rohr, wie bei einer offenen Pfeife, 1, 2, 3, 4, 5 u. s. w.\nIII. Tonwerke, hei denen die Eigenschaften der festen und fl\u00fcssigen elastischen K\u00f6rper zugleich in Betracht kommen. Zungenwerke.\nEs giebt Tonwerkzeuge, die aus einer einfachen schwingenden Zunge bestehen, welche durch Str\u00f6mung comprimirter Luft in Bewegung gesetzt wird, wie das Metallbl\u00e4ttchen der Maultrommel und die Bl\u00e4ttchen oder Zungen der Mundharmonica-\no","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142 IV. Buch. Bewegung. III. Abschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nDie Erfahrung lehrt, dass nicht bloss die durch Coh\u00e4renz elastischen K\u00f6rper, wie Metalle und Hol/., Zungenbl\u00e4ttchen bilden k\u00f6nnen. Man kann diesen Platten auch durch Spannung elastische Platten oder Membranen substituiren, wie sich im Folgenden zeigen wird. Auch diese membran\u00f6sen Zungen geben, durch einen Strom comprimirter Luft in Bewegung gesetzt, ohne eine Ansatzr\u00f6hre reine T\u00f6ne von sich, so gut wie die Zungen der Maultrommel und der Mundharmonica es thun. Durch Ansatz einer R\u00f6hre vor den Zungen der ersten und zweiten Art entsteht ein complicirteres Instrument, hei welchem die Luft der R\u00f6hre zur Modification der Schwingungen der Zunge mitwirkt. Instrumente dieser Art mit festen Zungen von Metall oder Holz sind l\u00e4ngst unter dem Namen der Zungenwerke bekannt; die Orgel besitzt ein ganzes Register dieser Apparate unter dem Namen der Zungenwerke oder Rohrwerke. Eine Classe von anderen Blasinstrumenten ist nach demselben Priucip gebildet, wie die Clarinette, die Hoboe, das Fagot, der Serpent, die Schalmey, welche s\u00e4mmtlich ausser der R\u00f6hre eine Zunge enthalten und dadurch sich von den Fl\u00f6tenwerken, bei welchen der Ton lediglich durch die Lufts\u00e4ule erzeugt und durch ihre L\u00e4nge ver\u00e4ndert wird, unterscheiden. Aber auch das, was wir membran\u00f6se Zunge nennen, kann mit einer R\u00f6hre verbunden zu einem \u00e4hnlichen, von einer einfachen Zunge verschiedenen Werke werden, wie wir bald sehen werden. Die Theorie dieser Instrumente ist f\u00fcr die Untersuchung der menschlichen Stimme von der gr\u00f6ssten Wichtigkeit.\nErste Classe der Zungen werke.\nZungenwerke mit einer Zunge von einem steif elastischen K\u00f6rper: Metall, Holz.\nA. Zungen nach Analogie der St\u00e4be.\na. Einfache Zungen ohne Rohr.\nDie einfachste Zunge dieser Art ist die Maultrommel, wo ein zwischen zwei st\u00e4hlernen Schenkeln liegendes, an einem Ende befestigtes, ebenfalls st\u00e4hlernes Zungenbl\u00e4ttchen durch die zwischen der Zunge und den Schenkeln durchgetriebene Luft in Be-wegung gesetzt wird. Die Mundharmonica stellt eine Zusammenstellung mehrerer Zungen in demselben Rahmen dar. Sie besteht bekanntlich aus einer kleinen Metallplatte, worin l\u00e4ngliche rectan-gul\u00e4re L\u00f6cher, jedes zur Aufnahme seines Zungenbl\u00e4ttchens, eingeschnitten sind. In diese Oeifnungen passen d\u00fcnne Pl\u00e4ttchen von Metall, die an dem einen Ende angel\u00f6thet sind. Sie m\u00fcssen so in ihrem Rahmen vibriren k\u00f6nnen, dass sie denselben nicht ber\u00fchrst), und werden in Schwingung gesetzt dadurch, dass man die Platte oder den gemeinsamen Rahmen gegen die Lippen andr\u00fcckt und die Luft gegen die Zungen bl\u00e4st, wodurch ein klarer Ton, nach der L\u00e4nge und St\u00e4rke der Zunge verschieden, entsteht.\nDie sogenannten Mundst\u00fccke (anche) beruhen auf demselben Mechanismus. Ein messingener oder st\u00e4hlerner hohler Halbcylin-der ist an seinem einen Ende offen, an dem andern geschlossen;","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"1. Bedingungen der T\u00f6ne. Zungenwerke.\n143\ndie (lache Seite bildet gegen das geschlossene Ende eine elastische Platte, die den Halbcylinder an diesem Theil der Hachen Seite nicht ganz seldiesst und seihst in die H\u00f6hle des Ilalbcy-linders hinein schwingen kann; so kann die Luit zwischen den R\u00e4ndern der Platte und der Lade in die H\u00f6hle des Halbcy linders eindringen oder aus demselben ausdringen. Es ist hier, wie bei der Maultrommel und Mundharmonika ein Rahmen und eine darin passende, bewegliche, elastische Zunge gegeben. Von den letztgenannten Instrumenten unterscheidet sich diese Art von Mundst\u00fcck nur, dass der Rahmen hier zugleich ein Rohr bildet, aus welchem die Luft, die zwischen Rahmen und Zunge durchgegangen, ausstr\u00f6mt, oder von welchem aus auch die Luft gegen die Zunge getrieben werden kann. Ein solches Mundst\u00fcck kann von der einen oder andern Seite angeblasen werden. Nimmt man das Ende, woran die Zunge, in den Mund und bl\u00e4st, so dass die Zunge im Munde frei schwingen kann, so dr\u00e4ngt sich die Luft mit Unterbrechungen zwischen der Zunge und dein Rahmen in den Halbcylinder. Bl\u00e4st man von dem offenen Ende her, so dringt sie zwischen der Zunge und ihrem R\u00fchmen aus. Man sieht hier wieder deutlich, dass die Hauptsache eines Zungenst\u00fccks nur dieses seihst, und ihr Rahmen, wie bei der Maultrommel, das Uebrige aber Zugabe ist. Eine so gebaute Zunge kann auch mittelst eines Pfropfes, durch den sie durchgebt, wie bei den Zungenpfeifen der Orgel, in einen hohlen Cylinder gesetzt werden, durch dessen eine Oeflnung die Luft zugeblasen wird.\nDie Art, wie die Zunge in Schwingung gesetzt wird, scheint mir bisher nicht gen\u00fcgend erkl\u00e4rt, wie auch Fechiser bemerkt; sie ist meines Erachtens diese: So wie man bl\u00e4st, wird die Zunge aus der Oeff\u2019nung des Rahmens getrieben. Sie entfernt sich nach dem Gesetze der Tr\u00e4gheit von dem stussenden K\u00f6rper, bis die Elasticit\u00e4t der Zunge, die im Maass ihrer Beugung w\u00e4chst, ihrer Geschwindigkeit das Gleichgewicht h\u00e4lt. Da der Druck der Luft itidess fortdauert, so w\u00fcrde die Zunge bei anhaltendem Blasen in dieser Lage verharren; indess ist der Druck der Luft bei abgewendeter Zunge viel geringer als vorher, da die Zunge noch im Rahmen stand, die Zunge wird also durch ihre Elasticit\u00e4t, wie ein Pendel, zur\u00fcckgehen, sie w\u00fcrde sogar bei der anhaltend wirkenden Elasticit\u00e4t mit beschleunigter Geschwindigkeit zur\u00fcckgehen, wenn der anhaltende Druck der Luit sie nicht etwas retardirte. Im Rahmen angelangt treibt sie der nun wieder st\u00e4rkere Druck der Luft wieder ab. W\u00e4re kein Unterschied in dem Druck der Luft, so w\u00fcrde die Zunge durch den Druck der Luft in gleicher Lage best\u00e4ndig erhalten werden, in derjenigen Lage, welche ihr Widerstand zul\u00e4sst. Nicht bloss der eingeschlossene, auch der freie Strom der Luft kann eine Zunge in Bewegung setzen, wenn sie fein genug ist, wie z. B. die zarten Zungen in der Mundharmoniea, und wenn der Strom der Luft stark ist. Bl\u00e4st man z. B. mittelst eines feinen R\u00f6hrchens von feiner M\u00fcndung frei gegen eine Zunge der Mundharmoniea, aber heftig, so ger\u00e4th sie in Schwingung; ja es ist mir sogar einigemal gelungen, eine ohne Rahmen befestigte feine Zunge durch","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144 I \u00ef. Buch. Bewegung. III. Abschn. Von <1. Stimme u. Sprache.\nden freien Strom der Luft aus einem feinen R\u00f6hrchen zum T\u00f6nen zu bringen. Diess gelingt nur an den sehr d\u00fcnnen und l\u00e4ngsten Zungen der Mundharmonica. Die l\u00e4ngste Zunge einer Muncl-harmonica isolirte ich von ihrem Rahmen, so dass sie ganz frei war bis auf ihr hinteres befestigtes Ende. Ich blies mittelst des feinen R\u00f6hrchens am Ende eines ihrer R\u00e4nder stark vorbei; blies ich sehr stark in senkrechter Richtung auf die Oberfl\u00e4che der Zunge, aber nicht auf ihre Fl\u00e4che, sondern auf ihren Rand, so gelang es mir einigemal, die t\u00f6nende Schwingung des Rl\u00e4tt-chens hervorzubringen, die aber sehr viel schw\u00e4cher ist, als wenn die Luft zwischen den R\u00e4ndern derselben Zunge und einem Rahmen hindurchstr\u00f6men muss. Die sp\u00e4ter hier zu beschreibenden membran\u00f6sen Zungen gerathen dagegen beim Anblasen mittelst eines R\u00f6hrchens in ganz vollkommene Schwingung mit vollem Klang. Die Art, wie durch den freien Strom der Luft eine leicht bewegliche Zunge in Schwingung gesetzt werden kann, scheint mir folgende zu sein: Der Strom der comprimirten Luft gegen den Rand der freien Zunge treibt diese vor sich hin, \"die Zunge entfernt sich verm\u00f6ge des Gesetzes der Tr\u00e4gheit von dem stossenden Strom, gelangt aus der Direction des Stroms heraus, und geht so weit, bis die mit der Dehnung der Zunge wachsende Elasticit\u00e4t derselben ihrer Geschwindigkeit das Gleichgewicht h\u00e4lt. Sie geht nun verm\u00f6ge der Elasticit\u00e4t und zwar, da diese fortdauernd wirkt, mit beschleunigter Geschwindigkeit zur\u00fcck, bis sie wieder in den Strom k\u00f6mmt, welcher sie wieder abtreibt. Die M\u00f6glichkeit, an einem ganz frei stehenden Zungenbl\u00e4ttchen durch den Strom der Luft einen Ton hervorzubringen, beweist deutlich, dass man bei der Erkl\u00e4rung des T\u00f6nens der Zungen nicht zu viel Gewicht auf den gew\u00f6hnlichen Bau derselben und auf den Durchgang der Luft zwischen Zunge und Rahmen legen darf.\nUeber die Natur der T\u00f6ne, welche auf den Zungenst\u00fccken erzeugt werden, hat W. Weber Aufschl\u00fcsse gegeben. \u201eLeges oscillationis oriundae si duo corpora diversa celeritate osclilan-tia ita conjunguntur, ut oscillare non possint nisi simul et syn-chronice, exemplo illustratae tuborum linguatorum. \u201c Auszug von Chladni in Kastner\u2019s Archiv X. 443. Im Auszug ebenfalls in Muncke\u2019s Aufsatz \u00fcber den Schall, in Geheer\u2019s physik. IV\u00d6rter h. VIII. und Fechner\u2019s Bearbeitung von Bior\u2019s Experimental-Physik 2. 112. Vergl. Weber in Poggend. Annalen. XVII. 193. Weber zeigte, dass der Ton der Zunge eines Mundst\u00fccks, die durch Anblasen in Schwingung versetzt wird, sich nach denselben Gesetzen mit ihrer L\u00e4nge \u00e4ndert, als wenn die Zunge ohne Anblasen durch Anstossen oder Zerren in Schwingung versetzt wird, und zwar schwingen die Zungen nach demselben Gesetz wie die klingenden St\u00e4be. Diess Gesetz ist, dass die Schwingungsmenge\u00bb zweier St\u00e4be von gleicher Dicke und gleichem Stoff, sich umgekehrt wie die Quadrate ihrer L\u00e4ngen verhalten. Weber zeigte ferner, dass der beim Anblasen des Mundst\u00fccks ohne Ansatzr\u00f6hre erzeugte Ton auch in der H\u00f6he ganz mil dem Ton \u00fcberein kommt, den die Zunge ohne Anblasen durch Anstoss hervorbrinst. Dann ist","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"1. Bedingungen der T\u00f6ne. Zungenwerke.\n145\ndie H\u00f6he des Tons eines Mundst\u00fccks ziemlich unabh\u00e4ngig von der St\u00e4rke des Luftstroms; die St\u00e4rke des Tons kann durch die St\u00e4rke des Anblasens vermehrt werden. Biot hatte schon gezeigt, dass die chemische Beschaffenheit der Gasart, welche zum Anblasen benutzt wird, keinen Einfluss auf die H\u00f6he des Tons hat. Diess Verhalten der metallenen oder festen Zungen ist um so merkw\u00fcrdiger, als, wie ich gefunden, die membran\u00f6sen Zungen sich ganz anders verhalten, indem die H\u00f6he des Tons sich bei diesen um einige halbe T\u00f6ne durch st\u00e4rkeres Anblasen erheben l\u00e4sst.\nDie Dimensionen des Schlitzes zwischen Zunge und Rahmen sind nach W. Weber von geringerer Wichtigkeit. Sind die Dimensionen der Oelfnung etwas st\u00e4rker, so spricht der Ton schwerer an, und kann schwerer verst\u00e4rkt und geschw\u00e4cht werden. Die H\u00f6he des Tones aber bleibt sich gleich.\nDie von den Meisten angenommene Theorie der durch Zungen hervorgebrachten T\u00f6ne ist folgende. Die Schwingungen der Zungen richten sich zwar, wie es scheint, ganz nach den Gesetzen, nach welchen die St\u00e4be schwingen und T\u00f6ne geben ; aber zwischen den t\u00f6nenden St\u00e4ben und t\u00f6nenden Zungen findet der Unterschied statt, dass bei den ersteren der Stab, bei den letzteren die Luft das eigentlich T\u00f6nende ist. Und derselbe Unterschied findet statt, wenn eine Zunge durch Anstoss oder durch Anblasen in Schwingung versetzt wird. Im erstem Fall n\u00e4mlich ist es die Zunge allein, welche t\u00f6nt, im zweiten wird zwar auch die Zunge t\u00f6nen m\u00fcssen, aber f\u00fcr die Hauptursache des eigen-th\u00fcmlichen Tons halten Viele die Luft seihst und zwar aus folgenden Gr\u00fcnden.\nDer Ton einer durch Anstoss in Schwingung versetzten Zunge ist schwach; der Ton der Zunge beim Anblasen stark; aber auch ein qualitativer Unterschied der T\u00f6ne findet statt; der Klang der Zunge beim Anstossen ist ein ganz verschiedener vom Klang der Zunge, welchen sie beim Anblasen hervorbringt. Daraus schliesst man, dass die Luft, wenn sie auch bei verschiedener Weite des Schlitzes die H\u00f6he des Tons nicht modificiren kann, doch einen wesentlichen Einfluss auf die Erzeugung der durch Zungen hervorgebrachten T\u00f6ne haben muss, indem die Luft unter den Bedingungen, unter welchen Zungen beim Anblasen schwingen , regelm\u00e4ssig gestossen wird, ohne selbst Schwingungsknoten zu bilden. Man weiss, dass zur Erzeugung eines Tones nur eine gewisse Anzahl St\u00f6sse, pulsus, noting sind, welche auf das Geh\u00f6rorgan fortgepflanzt werden, und dass auch die Schwingungen nur dadurch T\u00f6ne hervorbringen, weil sie pulsus hervorbringen. Bei der Art, wie eine Zunge in ihrem Rahmen schwingt, m\u00fcssen nun, sagt man, \u00e4hnliche pulsus, wie bei der Sirene entstehen ; indem die Luft bei jeder Schwingung der Zunge durch die Oeffnung einen Moment aufgehalten wird. Ganz unter denselben Bedingungen sehen wir durch schnell aufeinander folgende Unterbrechungen des Stroms der Luft, bei der Sirene einen Ton entstehen. Die H\u00f6he dieses Tons der Luft h\u00e4ngt von der Zahl der Unterbrechungen ah, und diese Zahl wird, da die Unterbrechungen von den Schwingungen des Zungenbl\u00e4ttchens bewirkt werden, mit Willi er\u2019s Physiologie. 2r Bl. I,\tJ.0","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"HO IV. Buch. Bewegung. III. Alschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nder Zahl der Schwingungen des Bl\u00e4ttchens gleich seyn. Diese Theorie der Zungent\u00f6ne ist indess keineswegs als erwiesen anzunehmen. Schon die T\u00f6ne, die sich durch einen Luftstrom an einer von ihrem Rahmen entld\u00f6ssten, befestigten, hinl\u00e4nglich langen und d\u00fcnnen Zunge der Mundharmonica durch freien starken Strom der Luft aus einem d\u00fcnnen R\u00f6hrchen hervorbringen lassen, beweisen, dass die Zungent\u00f6ne keineswegs allein von den pulsus der Luft abh\u00e4ngen, obgleich der heftige Strom der Luft aus dem d\u00fcnnen Pi\u00f6hrchen gegen den Rand des Zungenbl\u00e4ttchens bei jeder Riickschwingung des Bl\u00e4ttchens etwas aufgehalten werden muss, w\u00e4hrend der Strom frei ist zur Zeit, wo das Bl\u00e4ttchen ausser dein Strom der Luft schwingt. Wir regen diesen Zweifel vorl\u00e4ufig an und werden sp\u00e4ter nach Abhandlung der inemhra-n\u00f6sen Zungen ausf\u00fchrlicher darauf zur\u00fcckkommen.\nh. Zungen mit einem den Ton modificirenden Rohr.\nDer Ton eines Mundst\u00fccks oder einer Zunge wird sehr in der H\u00f6he ver\u00e4ndert, wenn das Mundst\u00fcck mit einer Ansatzr\u00f6hre verbunden wird, wie es bei der Iloboe. der Clarinette, dem Fagot der Fall ist. In diesem Fall muss die Luft statt in die Atmosph\u00e4re auszulaufen, vielmehr erst die Ansatzr\u00f6hre durchlaufen, und das Instrument ist zusammengesetzt aus zweien, die nach verschiedenen Gesetzen schwingen. Der Ton des Mundst\u00fccks f\u00fcr sich und der Ton der Pfeife f\u00fcr sich k\u00f6nnen ganz verschieden seyn ; sind aber Mundst\u00fcck und Pleife verbunden, so wirken sie gegenseitig aufeinander ein, d. h. accommodiren sich, so dass die Schwingungen der Zunge durch die Schwingungen der Lufts\u00e4ule, die Schwingungen der Lufts\u00e4ule durch die der Zunge bestimmt werden. Immer wird nur ein Ton geh\u00f6rt, und dieser ist weder constant derjenige, den das Zungenst\u00fcck f\u00fcr sich allein, noch derjenige, den die Lufts\u00e4ule des Rohrs f\u00fcr sich allein geben w\u00fcrde. Es muss also nicht bloss vollkommene Gleichzeitigkeit in beiderlei Schwingungen stattfinden, sondern auch beide sich einander accommodiren.\nW. Weber (Poggend. Ann. XVI. XVII.) hat sich mit dem Problem besch\u00e4ftigt, nach w'elchen Bedingungen sich dieser ein-iache Ton richtet. Einen sehr ausf\u00fchrlichen Auszug dieser clas-sischen Untersuchungen hat Feciiner in seinem Repertorium der Experimentalphysik. I. 314 \u2014 334. gegeben.\nEine sichere Theorie der Zungenpfeifen verdankt man ganz nur den Forschungen des ber\u00fchmten deutschen Physikers.\nEs ist hier nicht der Ort, die Resultate dieser Arbeiten, welche zu den wichtigsten der neuern Physik geh\u00f6ren, ausf\u00fchrlich mitzutheilen. Einige der von Weber entdeckten Thatsachen m\u00fcssen indess hier angef\u00fchrt werden, da sie die Grundlage bilden f\u00fcr die Untersuchungen \u00fcber die Zungenpfeifen mit mem-bran\u00f6sen Zungen, mit welchen das Stimmorgan die meiste Aehn-lichkeit hat.\n1.\tDie Verbindung einer R\u00f6hre mit einem Mundst\u00fcck kann den Ton des Mundst\u00fccks vertiefen, nicht erh\u00f6hen.\n2.\tDiese Vertiefung betr\u00e4gt im Maximum nur eine Octave.\n3.\tBei weiterer Verl\u00e4ngerung der R\u00f6hre springt der Ton","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"1. Bedingungen der T\u00f6ne. Zungenwerke. Scheibenf\u00f6rmige Zungen. 147\nwieder auf den urspr\u00fcnglichen Grundton des Mundst\u00fccks zur\u00fcck, und dieser lasst sich nun auch wieder nur um ein Gewisses vertiefen.\n4.\tDie L\u00e4nge der Ansatzr\u00f6hre, die noting ist, um eine gewisse Vertiefung zu erhalten, h\u00e4ngt jedesmal von dem Verh\u00e4ltnis der Schwingungszahlen der Zunge f\u00fcr sich und der Lufts\u00e4ule f\u00fcr sich ah.\n5.\tSo vertieft sich der Ton der Zungenpfeife allm\u00e4blig mit Verl\u00e4ngerung der Ansatzr\u00f6hre, bis die Lufts\u00e4ule der R\u00f6hre so lang geworden ist, dass sie f\u00fcr sich allein denselben Ton gehen w\u00fcrde, als das Mundst\u00fcck allein. Bei weiterer Verl\u00e4ngerung springt der Ton auf den Grundton des Mundst\u00fccks zur\u00fcck; von da an kann er wieder durch Verl\u00e4ngerung der R\u00f6hre um eine Quarte vertieft werden, bis die L\u00e4nge der R\u00f6hre das Doppelte betr\u00e4gt von der L\u00e4nge der Lufts\u00e4ule, die denselben Ton als das Mundst\u00fcck haben w\u00fcrde. Hier springt der Ton wieder auf den Grundton des Mundst\u00fccks zur\u00fcck. Von da an ist wieder eine Vertiefung um eine kleine Terz m\u00f6glich durch Verl\u00e4ngerung der R\u00f6hre, bis der Ton wieder auf den Grundton der Zunge \u00fcberspringt. Im Uebergange k\u00f6nnen je nach der Kraft des Anblasens zwei verschiedene T\u00f6ne hervorgebracht werden. (Diese Entdeckungen lassen sich, wie wir hernach versuchen werden, sehr gut auf die Zungenpfeifen mit membran\u00f6sen Zungen anwenden.)\n6.\tLiegt der Ton des f\u00fcr sich t\u00f6nenden Mundst\u00fccks in der\nReihe der harmonischen T\u00f6ne der f\u00fcr sich t\u00f6nenden offenen R\u00f6hre, so \u00e4ndert sich der Ton des Mundst\u00fccks nicht noth wendig durch Verbindung mit der R\u00f6hre bei schwachem Blasen. Durch starkes Blasen kann aber dann der Ton entweder um eine Octave, oder Quarte, oder kleine Terz, oder um andere Intervalle, welche den Zahlen\tentsprechen, unter den Ton\ndes Mundst\u00fccks erniedrigt werden.\nF\u00fcr die Vergleichung der Stimmorgane oder anderer Tonwerkzeuge mit Labialpfeilen und Zungenpfeifen ergeben sich aus diesen Entdeckungen die sicheren, leitenden Kennzeichen. W\u00fcrde z. B. an einem Blaseinstrument bei gleichem Anspruch durch angesetzte R\u00f6hren jede beliebige Vertiefung erreicht werden k\u00f6nnen, und zwar im Verh\u00e4ltniss der L\u00e4nge der R\u00f6hren, so w\u00fcrde das Instrument entschieden eine Labialpfeife seyn und die Luft allein darin t\u00f6nen; w\u00fcrden hingegen hei unver\u00e4nderter Embouchure die R\u00f6hren nur eine Vertiefung von einer Octave oder weniger zu Stande bringen k\u00f6nnen, so w\u00fcrde man es mit einer Zungenpfeife zu thuri haben.\nUnter die Instrumente mit Zungen geh\u00f6ren die Zungenpfeifen der Orgel, oder das Register der Vox hurnana der Orgel. Die Clarinette, lloboe, Fagot sind auch Zungenwerke, und hier geschieht die Erzeugung verschiedener T\u00f6ne beim Schliessen oder Oeffnen einer empirisch gefundenen Reihe von L\u00f6chern, w\u00e4hrend m den Zungenwerken der Orgel f\u00fcr jeden Ton eine besondere Pfeife bestimmt ist.\nB. Scheibenf\u00f6rmige Zungen von Metall.\nDa d\u00fcnne Bl\u00e4ttchen von Metall und Holz, nach den Gesetzen der St\u00e4be schwingend, als Zungen wirken, so l\u00e4sst sich schon\n10*","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148 IV. Buch. Bewegung. III. Ahschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nerwarten, dass auch scheibenf\u00f6rmige d\u00fcnne Metallst\u00fccke nach den Gesetzen f\u00fcr die Scheiben schwingend, als Zungen dienen k\u00f6nnen, wenn sie in der Mitte fixirt sind und die Luft zwischen dem scharfen Rand eines peripherischen Rahmens und dem Rand der d\u00fcnnen Scheibe durchstr\u00f6mt. Gewisse von Clement und Hachette angeslellle Versuche, die von Savart best\u00e4tigt worden, scheinen Richer zu geh\u00f6ren. Scuweigg. J. 51. 314. Clement hat n\u00e4mlich entdeckt, dass, wenn ein Luftstrom .durch eine Oeffnung in einer ebenen Wand geht und eine d\u00fcnne Platte dieser Oeifnung gen\u00e4hert wird, diese in Schwingung ger\u00e4th, wobei sehr tiefe dumpfe T\u00f6ne entstehen. Die T\u00f6ne entstehen zun\u00e4chst durch die Eigenschwingungen der Platte und werden wahrscheinlich durch die Luft, wie bei den Zungenpfeifen, verst\u00e4rkt. Denn wenn man vor die Oeffnung Kreisscheiben von gleicher Dicke, aber von verschiedenen Durchmessern h\u00e4lt, so verhalten sich die Schwingungszahlen umgekehrt als die Quadrate der Durchmesser, wie hei t\u00f6nenden Kreisscbeiben. Die H\u00f6he der T\u00f6ne ist auch dieselbe, wie wenn man dieselben Kreisscheiben mittelst des Violinbogens in Schwingung bringt. Wahrscheinlich werden sich auch, wie bei den T\u00f6nen, die unmittelbar an scheibenf\u00f6rmigen festen K\u00f6rpern hervorgebracht werden, eben so gut glockenf\u00f6rmig gekr\u00fcmmte, als ebene Kreisscheiben benutzen lassen.\nWir haben scheibenf\u00f6rmige Zungen nach dem Princip der gew\u00f6hnlichen Zungenwerke verfertigen lassen. Eine messingene Kreisscheibe von -g- Millim. Dicke und 35 Millim. Durchmesser ist in ihrer Mitte durch eine Stange so gegen den scharfen Rand eines entsprechenden Rahmens gehalten, dass die Luft durch das mit dem Rahmen verbundene Anspruchsrohr zwischen dem Rahmen und dem Rande der kreisf\u00f6rmigen Zunge durchgetrieben wird. Die T\u00f6ne erfolgen leicht, wie hei gew\u00f6hnlichen Zungenpfeifen. Oft h\u00f6rt man aber mehrere T\u00f6ne, tiefe und hohe T\u00f6ne zugleich, z. R. den Grundton und die Quinte, und noch h\u00f6here. Durch Einziehen der Luft entstehen auch T\u00f6ne, wie bei den gew\u00f6hnlichen Zungen. Ein ebenso gebautes Instrument mit glockenf\u00f6rmiger Zunge spricht nicht an, wahrscheinlich weil die Zunge durch die Kr\u00fcmmung der Scheibe zu steif geworden und nun nicht gross genug ist.\nEine ganz d\u00fcnne metallene Kreisscheibe, die in der Mitte eine Oeffnung hat und an einem ganz kurzen Anspruchsst\u00fcck durch ihre Peripherie befestigt ist, k\u00f6nnte auch unter den Gesichtspunct einer Zunge kommen. Es w\u00e4re der umgekehrte Fall, wie der vorhergehende; dort findet der Anspruch am Rande, hier an der centralen Oeffnung statt; der Durchgang der Luft durch die Oeffnung w\u00fcrde hier so wirken, wie der Stab, der durch die Mitte eines an der Peripherie gespannten belles hin und her getrieben wird und T\u00f6ne erzeugt. Diess scheint sogar auf den ersten R\u00fcck auf die fr\u00fcher p. 141. beschriebene J\u00e4gerpfeife anwendbar, welche Savart nient unter die Zungenpfeifen rechnete. Damit w\u00fcrde \u00fcbereinstimmen, dass diese Pfeifen mit einem Rohr 'verbunden werden k\u00f6nnen und dass die T\u00f6ne nach dem Ansatzrohr sich ver\u00e4ndern.","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"149\n1. Bedingungen der T\u00f6ne. \u25a0 Membran\u00f6se Zungen.\nDagegen spricht aber, dass die Oelfnung bei diesem Instrument viel weiter ist, als die Spalte an Zungen von Metall seyn muss, wenn T\u00f6ne entstehen sollen; zwar geben sehr d\u00fcnne lange Zungenbl\u00e4ttchen der Mundharmonica, wie oben gezeigt wurde, selbst ohne Rahmen in der freien Luft ihren Ton schwach an, wenn ein starker Luftstrom aus einem feinen R\u00f6hrchen an ihrem Rande vorbeigetrieben wird. Indessen hat doch die von Savart beschriebene J\u00e4gerpfeife mehr Aehnlichkeit mit einer Labialpfeife. Ich erhalte schon T\u00f6ne, wenn ich eine dicke Elfenbeinscheibe mit einem Centralloch mit den Lippen umfasse und die Luft einziehc. Diese Scheibe kann so dick sevn, dass ihre R\u00e4nder nicht mehr schwingen k\u00f6nnen und also nicht als Zunge wirken.\nZweite Classe der Zungen werke.\nZun gen werke mit einer membra nos en oder durch Spannung elastischen Zunge.\n(Nach eigenen Untersuchungen.)\nDas Studium dieser Art von Zungen ist bisher vernachl\u00e4ssigt worden, und diess ist um so mehr zu bedauern, als in der Kenntniss dieser Art der Zungenwerke der Schl\u00fcssel zur Theorie der menschlichen und Vogelstimme liegt. Riot und Cagmard la Tour halten die membran\u00f6sen Zungenbl\u00e4tter des Kehlkopfes, die Stimmb\u00e4nder durch elastische Membranen von Kautsclmck, die sie \u00fcber eine R\u00f6hre spannten, nachzubilden gesucht und auf diese Art einen k\u00fcnstlichen Kehlkopf gemacht: Urvle hat thierische Membranen mit Erfolg zu demselben Zw7eck benutzt. Bis jetzt ist dieser Gegenstand nicht weit genug verfolgt, um eine vollkommene Parallele zwischen diesen Zungenwerken und dem Slimmorgan zu begr\u00fcnden. Ich habe mir das Verhalten der B\u00e4nder und Membranen, wenn sie als Zungen wirken, zum besondern Studium gemacht, und werde hier die Beobachtungen mittheilen, die ich dar\u00fcber gemacht. Den Leser, dem die sp\u00e4tere Anwendung auf die menschliche Stimme und d'e am Kehlkopf des Menschen angestellten Versuche verst\u00e4ndlich werden sollen, muss ich angelegentlichst ersuchen, den ganzen nun folgenden Abschnitt wohl zu beachten; eben so sehr muss ich den geneigten Leser bitten, die vorhergehende Zusammenstellung der Hauptpuncte der Theorie der musikalischen Instrumente zu ber\u00fccksichtigen, weil ohne das Vorhergeschickte das N\u00e4chstfolgende nicht verst\u00e4ndlich ist.\t1\nDass es Zungenwerke oder sogenannte Mundst\u00fccke mit mein-hran\u00f6seu Zungen gehen wird, l\u00e4sst sich schon von vorn herein erwarten. Das Zungenwerk beruht darauf, dass ein K\u00f6rper, der liir sich durch Anst\u00f6sse entweder gar keine oder schwache und klanglose T\u00f6ne hervorbringt, durch den continuirlichcn Stoss der Luit einen seiner Elasticit\u00e4t und L\u00e4nge entsprechenden Ion erzeugt. Die bisher betrachteten Zungen waren feste, metallische oder h\u00f6lzerne Bl\u00e4ttchen, die hei ihrer K\u00fcrze an und l\u00fcr sieh klanglos schwingen, w\u00e4hrend ihre Sehwingungsgescl-e","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"150 IV. Buch. Bewegung. III.Ahschn. Von d. Stimme u. Sprache.\ndie der schwingenden St\u00e4be sind. Durch Spannung elastische K\u00f6rper, die sehr verk\u00fcrzt f\u00fcr den Anstoss klanglos werden, aber ihre Schwingungsgesetze beibehalten, werden ebenso durch fortdauernde St\u00f6sse der Luft klangreiche T\u00f6ne erzeugen k\u00f6nnen. Dergleichen Zungen w\u00fcrden sich von den festen, durch sich selbst elastischen dadurch unterscheiden, dass sie, wie die Saiten, an zwei Stellen oder wie die Felle allseitig befestigt seyn m\u00fcssen, von wo aus sie gespannt werden, w\u00e4hrend die durch sich elastischen, metallenen Zungen wie die St\u00e4be an einem Ende befestigt sind. Die Erfahrung best\u00e4tigt diese Idee sogleich; denn wenn man \u00fcber die M\u00fcndung eines Rohrs von Holz eine elastische Haut (von Kaut-schuck) spannt, so dass sie die H\u00e4lfte der M\u00fcndung bedeckt, die andere H\u00e4lfte der M\u00fcndung aber durch eine steife Platte von Holz oder Pappe so schliesst, dass zwischen der elastischen Membran und dem Rande des steifen K\u00f6rpers eine schmale Spalte \u00fcbrigbleibt, so hat man eine membran\u00f6se Zunge, und man erh\u00e4lt einen reinen, starken und klangreichen Ton, wenn man das Rohr von der andern Seite anbl\u00e4st.\nWir tbeilen die Zungenwerke mit durch Spannung elastischen Zungen, wie die im vorhergehenden Capitel betrachteten Zungenwerke, auch wieder in zwei Arten ein, in einfache Zungenwerke ohne Ansatzr\u00f6hre und in zusammengesetzte Zungenwerke mit einer Ansatzr\u00f6hre, welche den Ton modilicirt.\nA. Einfache membran\u00f6se Zungen ohne Ansatzrohr.\na. Saitenartig gespannte Zungen.\nDie einfachen Zungenwerke dieser Art entsprechen der Maultrommel und der Mundharmonica der vorigen Abtheilung. Ich schneide von einer, zur d\u00fcnnen Membran ausgetriebenen Kaut-schuckplatte einen schmalen Riemen ab, der 1-*\u20142 Linien breit ist, und spanne ihn \u00fcber einen Ring von Holz oder einen viereckigen Rahmen quer hin. Wird er nun wie eine Saite gezerrt, so gieht er zwar einen schwachen und klanglosen Ton, aber dieser Ton ist so schlecht, wie der durch Anstossen erregte Ton einer metallenen Zunge. Wird aber auf den Ring zu beiden Seilen des elastischen platten Fadens eine steife Platte von Pappe oder Holz befestigt, so dass diese Platten nahe an den elastischen Streifen grenzen und nur eine schmale Spalte jederseits \u00fcbrig-blcibt, so hat man eine Mundharmonica, deren Zunge aus Kaut-schuck besteht; dieses Instrument giebt, ebenso wie die Mundharmonica ge handhabt, nun einen reinen, starken und klangreichen Ton. Man kann aber auch an einer solchen gespannten Zunge, ohne dass sie von einem Rahmen begrenzt wird, und ohne dass die Luft durch Spalten an ihren Seiten durchstr\u00f6mt, verm\u00f6ge desselben Princips auf eine andere Art klangreiche T\u00f6ne hervorbringen. Ich habe schon bei den metallenen Zungen erw\u00e4hnt, dass die von ihrem Rahmen befreite, an einem Ende befestigte Zunge einer Mundharmonica, wenn sie nur recht lang ist, durch einen auf ihren Seitenrand dicht vor dem Ende gef\u00fchrten, heftigen und feinen Luftstrom aus einem ganz d\u00fcnnen R\u00f6hrchen in t\u00f6nende Schwingung versetzt werden kann. Diess gelingt unless an den metallenen Zungen sehr schwer, weil sie zu steif sind. Au","page":150},{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"1. Bedingungen der T\u00f6ne. Memfiran\u00f6se Zungen.\n151\nden vorherbeschriebenen Zungen von Kautschuck gelingt es sehr leicht. Man spanne einen platten schmalen Kautschuckstreifen auf einen Rahmen von 8\u201d' bis 1\" Durchmesser; man blase dann mittelst eines feinen Tubulus in senkrechter Richtung gegen die Flache des kleinen Riemens auf den einen Rand desselben, so schwingt er t\u00f6nend von einer Seite zur andern ; oder noch besser, man blase von der Seite her quer \u00fcber die Flache des Fadens, so entstehen sogleich Schwingungen nach oben und unten mit starkem reinem Ton, von demselben Klang, wie wenn die Zunge zwischen zwei festen Schenkeln liegt und durch die Spalte durchgeblasen wird. Dieser Ton entsteht offenbar auf dieselbe Art wie bei den metallenen Zungen. Wird ein feiner Strom von Luft gegen den Faden getrieben, so entfernt sich dieser von dem stossenden K\u00f6rper; da aber die Elasti\u00e7itat des Fadens in dem Grade zunimmt, als der Faden ausgedehnt wird, so tritt ein Zeitpunct ein, wo die Elasticit\u00e4t des Fadens der Geschwindigkeit desselben das Gleichgewicht h\u00e4lt und der Faden macht die r\u00fcckkehrende Schwingung, wodurch er wieder in so grosse N\u00e4he des Stroms k\u00f6mmt, dass er wieder abgetrieben wird. K\u00f6mmt der Strom der Luft quer \u00fcber die Mitte des Fadens, oder zwischen die Mitte und die End-pnncte, so kann in beiden F\u00e4llen der Grundton des Riemens entstehen; zuweilen wenn der Strom heftig mehr von der Mitte ab \u00fcber den j Riemen weggeht, k\u00f6mmt ein anderer Ton als der Grundton zum Vorschein. Der Ton h\u00e4ngt aber auch einigermassen von der St\u00e4rke des Rlasens ab. Lege ich die Kante eines Spatels \u00fcber die Mitte des Riemens in einer gegen den Riemen senkrechten Richtung, so dass die Kante des ,Spatels auf dem Ringe zugleich an zwei Stellen aufliegt, und blase ich dann gegen die H\u00e4lfte des Fadens, so entsteht die Octave des Grundtons. Durch st\u00e4rkere Spannung wird der Ton erh\u00f6ht und er bleibt bei grosser H\u00f6he noch rein und voll. Die St\u00e4rke des Anblasens dagegen vermag den Grundton der Saite um einen halben Ton und mehr zu erh\u00f6hen. Im Allgemeinen ver\u00e4ndern jedoch diese durch Spannung elastischen Zungen ganz wie die Saiten ihre Schwingungen, n\u00e4mlich die Schwingungsmengen nehmen im umgekehrten Verh\u00e4ltniss der L\u00e4ngen zu, und dem zufolge wahrscheinlich auch im geraden Verh\u00e4ltniss mit, den Quadratwurzeln der spannenden Kr\u00e4fte. Es ist diess schon ein wichtiger Unterschied von den metallischen Zungen, die sich wie die St\u00e4be verhalten. Bei diesen stehen die Schwingungsmengen bei gleicher Dicke der Zungen im umgekehrten Verh\u00e4ltniss mit den Quadraten der L\u00e4nge derselben. Von den Saiten unterscheiden sich die membfan\u00f6sen Zungen nur dadurch, dass die Art des Anspruchs den Ton etwas \u00e4ndert, w\u00e4hrend doch die Zunge so gut wie die Saite in ganzer L\u00e4nge schwingt. Spreche ich eine \u00fcber ein Rohr gespannte, von einem Rahmen eingefasste membran\u00f6se Zunge durch das R.ohr an, so entsteht sowohl beim Ausstossen als Anziehen der Luit ein Ton; beide sind bei m\u00f6glichst gleichem Anspruch verschieden, der letztere ist meist um einen halben bis ranzen Ton","page":151},{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152 IV. Buch. Bewegung. III. Abschn. Von d. Stimme u. Sprache.\ntiefer. Die Weite der Spalte zwischen den Schenkeln und der elastischen Zunge hat auf die H\u00f6he des Tons keinen sehr merklichen Einfluss; aber das Anblasen spricht leichter an, wenn die Spalte enger ist. Die Starke des Anblasens kann den Ton etwas erh\u00f6hen, z. B. um einen halben Ton, und ebenso kann auch die Starke des Einziehens den beim Einziehen der Luft entstehenden Ton um etwas erh\u00f6hen. St\u00f6sst die Zunge an irgend einer Stelle an eine Ungleichheit der Kante der Seitenschenkel, welche sie einfassen, an, so entsteht hier ein Schwingungsknoten und man h\u00f6rt einen viel h\u00f6hern Ton als den Grundton.\nDie Zungenblatter, die durch Spannung elastisch sind, k\u00f6nnen nun aber in mannigfaltigerer Form, als wir bisher dargestellt, realisirt werden. Es giebt n\u00e4mlich folgende Formen der Zungen.\n1.\tEin saitenartig gespannter elastischer Streifen, der von zwei festen Schenkeln eingefasst ist; hier sind zwei Spalten, eine zu jeder Seite des platten Streifens. Diess war der bisher betrachtete Fall.\n2.\tEine elastische Membran deckt das Ende eines ganz kurzen Rohrs zur H\u00e4lfte oder zu irgend einem Theil zu; der andere von der Membran unbedeckte Theil wird von einer festen Platte gedeckt, so d\u00e4ss zwischen beiden eine Spalte \u00fcbrig bleibt.\n3.\tZwei elastische Membranen sind \u00fcber das Ende eines ganz kurzen Rohrs so ausgespannt, dass jede einen Theil der Oeflnung verdeckt und zwischen ihnen eine Spalte \u00fcbrig bleibt.\nWird die Spalte einerseits von der elastischen Membran, anderseits von einer festen Platte mit scharfem Rande, z. B. Pappe oder Holz, begrenzt, so ist der Erfolg ganz derselbe, wie auf einer nach beiden Seiten freien Zunge. Der Ton war beim Blasen durch das R.ohr um einen halben bis ganzen Ton h\u00f6her, als wenn auf der Membran selbst ein Ton hervorgebracht wurde durch Antreiben eines feinen Luftstroms gegen den Rand. Der beim Blasen angegebene Ton liess sich in allen F\u00e4llen durch st\u00e4rkeres Anblasen auf zwei halbe T\u00f6ne h\u00f6her treiben, aber nicht weiter. Der Ton beim Einziehen der Luft ist h\u00f6her, nur dann tiefer, wenn die feste Platte etwas nach einw\u00e4rts steht und ihr Rand hinter dem der Membran liegt. Wurde eine runde R\u00f6hre angewandt, so wurde die Membran, wie bei einer vierkantigen, nur in einer der Spalte parallelen Richtung gespannt. Membranen, die in einer Richtung gespannt werden, schwingen bekanntlich nach denselben Gesetzen wie die fadenf\u00f6rmigen durch Spannung elastischer K\u00f6rper. Man sieht diess auch bei diesen Versuchen, denn wenn man ein H\u00e4utchen von Kautschuck so \u00fcber einen quadratischen Rahmen spannt, dass es nur in einer Direction gespannt ist, w\u00e4hrend einer der R\u00e4nder frei ist, der diesem entgegengesetzte aber auf dem Rahmen aufliegt, so giebt die ganze Platte, wenn ihr Rand mit einem feinen R\u00f6hrchen stark angeblasen wird, den Grundton, wird aber ein Faden quer \u00fcber die Platte gelegt, so kann man an der H\u00e4lfte der Platte durch Anblasen die Octave hervorbringen.","page":152},{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"1. Bedingungen der T\u00f6ne. Memlran\u00fcse Zungen.\t153\nDa in einer Richtung gespannte Membranen ihre Schwingungen, wie die fadenf\u00f6rmigen durch Spannung elastischen K\u00f6rper ver\u00e4ndern, so wird also hei gleicher Spannung und gleichem Anspruch die H\u00f6he des Tons zunehmen im umgekehrten Verh\u00e4lt-niss der L\u00e4nge der Membran oder der Spalte zwischen der elastischen und der festen Platte.\nDie Breite der Spalte hat, so viel ich sehen kann, keinen grossen Einfluss auf die H\u00f6he des Tons, wie hei den metallischen Zungen, aber das Anblasen spricht nicht mehr an, sobald die Spalte zu breit ist.\nVon Wichtigkeit ist aber die Stellung des Rahmens gegen die Zunge. Liegt der Rand der festen Lamelle von Pappe dem Rande der membran\u00f6sen Zunge gerade gegen\u00fcber, so kann der Ton um das Intervall von c\u2014j oder weniger h\u00f6her seyn, als wenn die feste Platte etwas weiter vor als die elastische Platte ger\u00fcckt ist.\nAm interessantesten wird der Fall, wenn zwei elastische Membranen die Spalte wie eine Stimmritze begrenzen, diese k\u00f6nnen entweder gleich stark oder ungleich stark gespannt seyn.\nDadurch, dass man beim Anblasen der R\u00e4nder vom gespannten Kautschuckh\u00e4utchen einen Ton h\u00f6rt, hat man ein Mittel, die gleiche Spannung von zwei Membi'anen von Kautschuck, die von gleicher L\u00e4nge sind, herbeizuf\u00fchren, indem man die Spannung derselben so lange ver\u00e4ndert, bis sie denselben Ton beim Anblasen ihres Randes mit einem feinen R\u00f6hrchen geben. Um die eine ohne die andere hiebei t\u00f6nen zu lassen, dr\u00fcckt man diejenige, welche nicht t\u00f6nen soll, etwas nieder oder bedeckt sie mit einer d\u00fcnnen Pappplatte. Nach vorheriger gleicher Spannung von zwei nebeneinander \u00fcber dem Ende einer vierkantigen R\u00f6hre ausgespannten Membranen, konnte nun der von ihnen gemeinschaftlich gegebene Ton gepr\u00fcft werden. Er war, in diesem Fall, tiefer als der Grundton, den jede einzelne* Lamelle beim Anblasen mit einem R\u00f6hrchen gab. Waren beide Lamellen f\u00fcr das Anblasen jeder einzelnen mit dem R\u00f6hrchen auf a gestimmt, so war der gemeinschaftliche Ton beim Anblasen des Rohrs, auf dem sie ausgespannt waren, g is. Bei einer zweiten Probe war der Ton jeder Platte beim Blasen mit dem R\u00f6hrchen c; beider zusammen h. Bei einer dritten Probe waren beide auf h gestimmt und der gemeinschaftliche Ton war ais. Sind beide' Platten verschieden hoch gestimmt durch ungleiche Spannung, so scheint oft keine solche Accommodation stattzufinden, wie zwischen den Schwingungen der metallenen Zunge und der Luft eines Ansatzrohrs. Selten gelingt es, die T\u00f6ne beider Lamellen beim Anblasen zu geben. Der Ton, den man beim Anblasen h\u00f6rt, ist gew\u00f6hnlich nur einer, so als wenn die st\u00e4rker oder die schw\u00e4cher gespannte Platte nicht t\u00f6ne, oder wie man ihn h\u00f6rt, wenn man das eine gespannte Blatt durch eine aufgesetzte Pappplatte d\u00e4mpft und diese Platte zur festen macht. H\u00e4ufig \u201cschwingt die wegen zu tiefer Stimmung schwer ansprechende Platte nur schwach mit und wird etwas vorgetricben. Folgende Versuche","page":153},{"file":"p0154.txt","language":"de","ocr_de":"154 IV. Buch. Bewegung. III. Abschn. Von d. Stimme u. Sprache. '\nerl\u00e4utern das einseitige T\u00f6nen. Z. B. Leide Platten waren so gestimmt, dass sie zwei um eine Octave verschiedene T\u00f6ne f\u00fcr sich gaben. Wurde die eine durch das Anspruchsrohr, auf dem sie gespannt war, w\u00e4hrend auf der andern Seite der Spalte eine feste Platte aufgelegt wurde, angeblasen, so gab sie d. Wurde die feste Platte weggenommen, so dass die um eine Differenz von einer Octave verschieden gespannten Platten die Spalte begrenzten, so war der Ton gleichfalls, wie wenn die eine Membran fest w\u00e4re, d, und dieser Ton konnte durch starkes Blasen bis dis, e, f hinaufgetrieben werden. War der unmittelbar ohne Bohr durch einen feinen Luftstrom angegebene Ton des tiefer gespannten Bandes\ne,\tder des h\u00f6her gespannten h, so dass beide um eine Quinte auseinander lagen, so war der Ton, der entstand, wenn das h\u00f6her gespannte Band durch eine aufgedr\u00fcckte Pappplatte ged\u00e4mpft wurde, durch das Anspruchsrohr g; wurde die Platte weggenommen, so dass beide B\u00e4nder die Spalte begrenzten, so war der Grundton durch das Rohr auch g. Gab die eine Lamelle a gegen eine feste Platte, die andere st\u00e4rker gespannte Lamelle dis, so erhielt ich beim ganz leisen Anblasen der R\u00f6hre a, also den Grundton der tiefer gestimmten Platte. Im letztem Fall musste die h\u00f6her gestimmte Lamelle mehr passiv seyn, und nicht bestimmend auf die Schwingungen der tiefer (gestimmten einwirken. Zuweilen scheint wirklich eine gegenseitige Einwirkung der Schwingungen aufeinander stattzu-linden. Cagniard la Tour hat schon bei einem \u00e4hnlichen Versuch diess Resultat erhalten, n\u00e4mlich dass sich die Schwingungen der beiden verschieden gestimmten Platten einander accom-modiren. Waren sie z. B. um das Intervall einer Quinte verschieden gestimmt, so war der Ton die dazwischen liegende Terz. Magendie, Physiologie, \u00fcbers. t>. Heusinger. Eisenach 1834. I. p. 246. Ich kann diess Resultat nicht in Zweifel ziehen; ich muss aber auf eine Quelle von Irrthum bei dergleichen Versuchen aufmerksam machen. Oefter glaubt man eine Accommodation wahrzunehmen, wo sie doch eigentlich nicht vorhanden ist. Z. B. bei einem von mir angestellten Versuch waren beide Bl\u00e4tter um eine Octave verschieden gespannt; das Instrument gab angesproeben h, das h\u00f6her gespannte gab gegen eine ihm gegen\u00fcber liegende feste Platte J \u00fcber h. Hier schien also eine Accommodation stattgefunden zu haben, und das allein / gebende Blatt schien mit dem eine Octave tiefer gestimmten Blatte h zu geben. Aber die Accommodation war hier nur scheinbar. Denn wenn ich die tiefer gestimmte Lamelle zur\u00fcckzog und eine feste Platte von Pappe so gegen die h\u00f6her gestimmte Lamelle stellte, dass die beiden R\u00e4nder nicht mehr ganz gegen\u00fcber lagen, sondern die feste Platte etwas vor der elastischen Lamelle vorragte, so gab diese allein angesprochen nicht mehr\nf,\tsondern h, wie sie gegeben hatte, als die Spalte von zwei Lamellen begrenzt war. Die feste Platte batte hiebei ganz dieselbe Stellung, welche die tiefer gestimmte Platte beim Blasen erh\u00e4lt, wenn sie ungleich die Spalte begrenzt. Diese wird n\u00e4mlich beim Blasen etwas vorgetrieben und schwingt nur schwach.","page":154},{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"1. Bedingungen der T\u00f6ne. Membran\u00f6se Zungen. 155\nDie Regel ist diese: diejenige Lamelle t\u00f6nt, wclclie bei dem jedesmaligen Anspruch des Blasens am leichtesten in Schwingung versetzt werden kann, und ist der Anspruch der Bewegung beider Lamellen angemessen, so k\u00f6nnen sogar beide schwingen und sich zu einem einfachen Ton accommodiren ; sie k\u00f6nnen aber auch verschiedene T\u00f6ne, oder der Anspruch, wenn er sich ver\u00e4ndert, hintereinander beide T\u00f6ne hervorbringen.\nDie metallischen Zungen der Mundharmonica accommodiren sich, wenn sie zusammen von derselben Windlade des Mundes angesprochen werden, nicht.\nDie elastischen H\u00e4ute k\u00f6nnen \u00fcbrigens mit ihren R\u00e4ndern auch \u00fcbereinander gelegt werden. Auch dann entstehen beim Blasen reine T\u00f6ne.\nSehr kann man die T\u00f6ne modificiren durch D\u00e4mpfen des schwingenden Blattes an verschiedenen Stellen mit dem Finger. Diese Versuche wurden an den Kautschuckh\u00e4utchen angestellt, die \u00fcber das Ende eines Cylinders gespannt waren. Ber\u00fchrte ich den \u00e4ussern Umfang eines der Bl\u00e4tter mit dem Finger, so nahm die H\u00f6he des Tons etwas zu, und brachte ich den Druck des Fingers mehr und mehr noch gegen die Spalte hin an, so nahm die H\u00f6he der durch Anblasen erzeugten T\u00f6ne immer mehr zu.\nDie membran\u00f6sen Zungen unterscheiden sich vop den metallischen in Hinsicht der Tonver\u00e4nderung bei st\u00e4rkerm Anspruch. Ein longitudinal schwingender K\u00f6rper, wie eine Lufts\u00e4ule, hebt seinen Ton etwas hei Verst\u00e4rkung des Anblasens, ein transversalschwingender K\u00f6rper t\u00f6nt etwas tiefer bei grossen Excursionen, wie die Saiten und die metallischen Zungenbl\u00e4tter. W. Weber in Poggend. Ann. XIV. 402. Daher wird der Ton eines Zungenst\u00fccks mit metallischer Zunge etwas tiefer bei starkem Anblasen. (Diess Verhalten der metallischen Zungen hat vielleicht seinen Grund darin, dass bei schwachem Anspruch die metallene Zunge an der Basis nicht mitschwingt.) Die membran\u00f6sen Zungen verhalten sich indess hiebei nicht anderen transversal schwingenden K\u00f6rpern, z. B. Saiten, gleich. Denn bei st\u00e4rkerm Blasen erhebt sich jedesmal der Ton, wie ich constant h\u00f6re. (Mir scheint jedoch auch der Ton einer Mundharmonica mit metallischer zarter Zunge beim sehr starken Blasen sich etwas zu heben, und der Ton der ganz zarten Zunge einer Kinderschalmei geht, mag man das St\u00fcck, worin sie steckt, allein anblasen oder die ganze R\u00f6hre anblasen, bei successiv st\u00e4rkerm Blasen durch den ganzen Umfang von Octaveu ohne Intervalle durch.\nb. Paukenfellartig gespannte Zungen.\nZwei \u00fcber das Ende einer R\u00f6hre nach mehreren Richtungen, nicht nach zwei Seiten allein gespannte Membranen, die eine Spalte zwischen sich haben, geh\u00f6ren schon zur Analogie der Paukenfeile; ebenso eine \u00fcber das Ende einer R\u00f6hre allseitig gespannte einlache Membran mit mittlerer runder Oeffnung zum Durchgang der Luit Zungen der letztgenannten Art sprechen","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"156 IV. Buch. Bewegung. III. Abschn. Von d. Stimme u. Sprache.\njedoch in der Regel nicht an und gehen nur selten einen schwachen Ton.\nEs fragt sich nun noch, oh die durch membran\u00f6se Zungen erzeugten T\u00f6ne auch durch Ansatz von R\u00f6hren verschiedener L\u00e4nge vor ein Mundst\u00fcck in der H\u00f6he ver\u00e4ndert werden k\u00f6nnen, wie bei den Mundst\u00fccken von metallener Zunge.\nIch habe bald vor den Rahmen, worin die Kautschuckplat-ten gespannt waren, bald hinter denselben R\u00f6hren von verschiedener L\u00e4nge angebracht. Die Ansatzr\u00f6hre sowohl als die Windlade haben auf die H\u00f6he des Tons grossen Einfluss.\nB. Membran\u00f6se Zungen mit Ansatzrohr.\nUm den Einfluss des Ansatzrohrs zu untersuchen, bediente ich mich zuerst der R\u00f6hre einer Clarinette, bei der der Einfluss der Lufts\u00e4ule der R\u00f6hre auf den Ton des Mundst\u00fccks und der Einfluss der einzelnen L\u00f6cher auf die Modification des Tones bekannt ist. Ich nahm n\u00e4mlich das gew\u00f6hnliche Mnndst\u00fcck der Clarinette ab und ersetzte es durch ein einlippiges Mundst\u00fcck mit membran\u00f6ser Zunge von Kautschuck. Die Stimmung der Platte wurde bei den verschiedenen Versuchen verschieden hoch genommen. Der Erfolg blieb sich jindess im Allgemeinen ziemlich gleich.\n1st die Clarinette so vorbereitet, so versuche ich das Oeffnen und Schl\u00fcssen der Seitenl\u00f6cher. Hiebei zeigt sich bald, dass das Ansatzrohr der Clarinette den Grundton der membran\u00f6sen Zunge f\u00fcr sich tiefer macht, dass aber der Einfluss der Seitenl\u00f6cher viel geringer ist, als wenn das gew\u00f6hnliche Mundst\u00fcck einer Clarinette dieser aufgesetzt wird. Durch successives OefF-nen der Seitenl\u00f6cher und Klappen von unten nach oben, l\u00e4sst sich bei einer gew\u00f6hnlichen Clarinette der Ton successiv um halbe T\u00f6ne erh\u00f6hen. Ist aber das Mundst\u00fcck mit membran\u00f6ser Zunge aufgesetzt, so wird die H\u00f6he des Tons durch successives Oeffnen der L\u00f6cher von unten nach oben nur ganz unmerklich und bis zu den obersten L\u00f6chern und Klappen nur um einen Ton erh\u00f6ht, nur die obersten Seitenl\u00f6cber haben einen erheblichen Einfluss. Vach dem Oeffnen der obersten Seitenl\u00f6cher war der Ton nur um einen ganzen Ton h\u00f6her, als er bei Schliessung aller Seitenl\u00f6cher war.\nUm den Einfluss der Ansatzr\u00f6hren an membran\u00f6sen Zungen bestimmter kennen zu lernen, liess ich von einem Orgelbauer zu einem Mundst\u00fcck mit membran\u00f6ser Zunge cylindrische Ansatzr\u00f6hren vonPappe von verschiedener L\u00e4nge verfertigen, die aneinander geschoben werden konnten. Der Querdurchmesser dieser R\u00f6hren betrug einen Zoll. Die erste dieser R\u00f6hren war zur Aufnahme des Mundst\u00fccks mit membran\u00f6ser Zunge bestimmt. Die Membranen waren \u00fcber das Ende eines kurzen Rohrs gespannt. Die Mundst\u00fccke waren verschieden. Eines war mit zwei Holzpl\u00e4ttchen gedeckt, die eine Spalte zwischen sich liessen, in welche ein Streifen von d\u00fcnnem Kautschuck als Zunge eingespannt werden konnte. Ein anderes Mundst\u00fcck war nur zur Hallte mit","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"2. Bedingungen der Time. Membran\u00f6se Zungen.\n157\neiner Holzplatte gedeckt, so dass die offene H\u00e4lfte mit einer gespannten Kautschuckplatte bedeckt werden konnte. Ein drittes Mundst\u00fcck war ohne Holzplatten und mit gespannten Kautsclmck-platten gedeckt, die dicht aneinander lagen. Ein viertes Mundst\u00fcck war auch mit zwei Knutschuckplatten gedeckt; an diesem Mundst\u00fcck war die Oeffnung, \u00fcber welche die Platten gespannt wurden, seitlich, so dass die Spalte parallel mit der L\u00e4nge des Mundst\u00fccks verlief, wie an den gew\u00f6hnlichen Mundst\u00fccken der Zungenpfeifen. An den drei ersten Mundst\u00fcck\u00e9n war hingegen die Spalte in entgegengesetzter Richtung von der Achse des Mundst\u00fccks. Das Rohr des Mundst\u00fccks diente zum Anblasen. Das andere Ende, woran die Zunge, passte in das eine Ende der ersten Ansatzr\u00f6hre von Pappe. Der Ansatzr\u00f6hren waren 5. Die erste diente als Fuss zur Aufnahme des Mundst\u00fccks; diess Fussst\u00fcck war so eingerichtet, dass der Grundton seiner Lufts\u00e4ule e bildete. Ein zweites .St\u00fcck konnte an das Fussst\u00fcck angeschoben werden, es war von dem Orgelbauer so mensurirt,\ndass es mit dem Fussst\u00fcck zusammen c bildete. Das dritte Ansatzst\u00fcck gab mit dem Fussst\u00fcck die Quinte g. Das vierte St\u00fcck war so mensurirt, dass es mit dem Fuss e bildete. Das f\u00fcnfte St\u00fcck war so lang , dass es mit dem vorhergehenden und dem Fuss c bildete. Hiernach konnten die St\u00fccke so aneinander gesetzt werden, dass sie f\u00fcr sieb ohne Mundst\u00fcck den T\u00f6nen c der Octave desselben c, der Quinte des letzteren g, der Octave des vorletzten c und der Octave dieses c entsprachen.\nDas mit membran\u00f6ser Zunge versehene Mundst\u00fcck wurde nun mit diesen R\u00f6hren verschiedener L\u00e4nge verbunden und der Einfluss der Ansatzr\u00f6hren auf den Ton des Mundst\u00fccks untersucht. Die Versuche fielen sehr ungleich aus. Der Grundton des Mundst\u00fccks wurde durch den Fuss meist etwas tiefer, bald weniger als einen halben Ton, bald einen halben bis ganzen Ton. Eine feste Regel liess sich jetzt noch nicht einsehen. Bei Ansatz der n\u00e4chsten R\u00f6hre zum Fuss wurde der Ton einen oder mehrere halbe T\u00f6ne tiefer, oder erhob sich wieder; auch in dieser Hinsicht liess sich jetzt noch keine feste Regel herausbringen. Um einen festem Punct der Vergleichung bei so schwierigen und schwer auszulegenden Versuchen zu erhalten, wurde immer der bei dem schw\u00e4chsten Anspruch entstehende Ton zur Grundlage angenommen; die h\u00f6heren Tone, die sich bei st\u00e4rkerm Anblasen durch Entstehung von Schwingungsknoten in der Ansatzr\u00f6hre bildeten, aber bei der Vergleichung ausgeschlossen. In einigen F\u00e4llen wurde selbst beim Ansatz des zweiten St\u00fccks, wodurch der Ansatz um eine Octave vermehrt wurde, kein Herabdr\u00fccken des Tons merklich. In diesem Fall trat dann bei dem n\u00e4chsten Ansatzst\u00fccke zuweilen eine kleine Vertiefung um einen halben oder ganzen Ion ein; in anderen F\u00e4llen hingegen erhielt sich der T\u00b0n des Mundst\u00fccks, den es hei dem ersten Ansatzst\u00fcck hatte, selbst beim Ansatz des zweiten, dritten und der \u00fcbrigen St\u00fccke unver\u00e4ndert.","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158 IV. Buch. Bewegung. III. Ahschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nWenn der Ton bei Ansatz des zweiten St\u00fccks lierabgedr\u00fcckt wurde, so erhob er sicli beim Ansatz eines der folgenden St\u00fccke gew\u00f6hnlich wieder um so viel, dass er dem Ton sich n\u00e4herte oder gleich war, den das Mundst\u00fcck mit dem Fussst\u00fcck allein gab, und dann blieb der Ton bei Ansatz der letzten St\u00fccke sich gleich oder fast gleich, oder aber senkte er sich unbedeutend bei Ansatz des letzten St\u00fccks wieder. Zur Basis der Vergleichung der T\u00f6ne des Mundst\u00fccks allein mit den T\u00f6nen, welche die Ansatzst\u00fccke allein zu geben f\u00e4hig waren, diente eine besondere Labialpfeife, die denselben Grundton hatte, wie\ndas Fussst\u00fcck mit dem ersten Ansatzst\u00fcck c. Der Ton des Mundst\u00fccks und die T\u00f6ne, welche das Mundst\u00fcck mit den Ansatzr\u00f6hren zusammen gab, wurden jedesmal an einem gut gestimmten Clavier bestimmt. Da die Versuche so ganz ungleich ausfielen, das Verh\u00e4ltnis des Tons des Mundst\u00fccks zum Ton des Ansatzrohrs, ferner die verschiedene St\u00e4rke und Art des Anblasens, die theils nicht zu vermeiden sind, theils aber n\u00f6thig werden, um bei gewissen Ans\u00e4tzen noch einen tiefen Ton hervorzubringen, keine Gleichheit des Resultats aufkomrnen lassen, so w\u00fcrde eine Mittheilung aller einzelnen Versuche, die sehr oft angestellt wurden, kaum der M\u00fche verlohnen. Ich will nur einige Beispiele von einem einlippigen Mundst\u00fcck anf\u00fchren, um zu zeigen, wie ungleich das Resultat war.\nI.\tDas Mundst\u00fcck war durch Spannung so gestimmt, dass\nes allein durch ein R\u00f6hrchen angeblasen den Grundton c der Labial pfeife angab.\nMundst\u00fcck durch das kurze Anspruchsrohr angeblasen, allein oline Ansatz a der vorhergehenden Octave.\nMit dem Fuss gis einen halben Ton tiefer.\nVerl\u00e4ngerung des Fusses von 1 zu 2 oder Fuss mit dem Ansatzst\u00fcck, das mit dem Fuss die tiefere Octave des Fusses oder c bildete, c.\nMit dem n\u00e4chsten Ansatz hob sich der Ton wieder auf g.\nII.\tMundst\u00fcck mit Anspruchsrohr ais unter dem Grundton c der Labialpfeife.\nMit Fuss ais.\nMil._Verdoppelung des Fusses durch den Ansatz das n\u00e4chst\ntiefere g is.\nFuss mit dem Quintenst\u00fcck wieder ais, wie beim Fuss.\nVerl\u00e4ngerung des Fusses von 1 zu 4 wieder a.\nVerl\u00e4ngerung des Fusses von 1 zu 8 wieder ais, wie beim Fuss.\nIII.\tMundst\u00fcck aus dem Anspruchsrohr allein das a unter dem Grundton c der Labialpfeife.\nMit Fussst\u00fcck a.\nVerl\u00e4ngerung des Fusses von 1 zu 2 das n\u00e4chst tiefere \u00ff/7.\nVerl\u00e4ngerung des Fusses durch das Quintenst\u00fcck, bleibt \u00dfs.","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"\\. Bedingungen der T\u00f6ne. 'Membran\u00f6se Zungen.\n15!)\nVerl\u00e4ngerung des\tFusses\tvon\t1\tzu\tI\tdas n\u00e4chste g is.\nVerl\u00e4ngerung des\tFusses\tvon\t1\tzu\t8\twieder fis.\nIV.\tMundst\u00fcck aus dem Anspruchsrohr allein giebt e der Octave unter dem Grundton c der Labialpfeife.\nMit Fuss das n\u00e4chst tiefere dis.\nVerl\u00e4ngerung des Fusses von 1 zu 2 wieder e.\nFuss mit dem Quintenst\u00fcck wieder dis.\nVerl\u00e4ngerung des\tFusses\tvon\t1\tzu\t4\twieder e.\nVerl\u00e4ngerung des\tFusses\tvon\t4\tzu\t8,\te bleibt.\nV.\tMundst\u00fcck aus dem Anspruchsrohr allein giebt e unter dem Grundton c der Labialpfeife^_\nMit Fuss das n\u00e4chst tiefere d.\nVerl\u00e4ngerung des Fusses von 1 zu 2, kein Ton. Verl\u00e4ngerung des Fusses durch das Quintenst\u00fcck dis derselben Octave.\nVerl\u00e4ngerung des\tFusses\tvon\t1\tzu\t4, e derselben\tOctave.\nVerl\u00e4ngerung des\tFusses\tvon\t1\tzu\t8, kein Ton in\tderselben\nOctave, schwankendes h der n\u00e4chst li\u00f6hern Octave hei st\u00e4rkerm Anspruch.\nVI.\tMundst\u00fcck aus dem Anspruchsrohr allein eis n\u00e4chst unter c der Labialpfeife.\nMit Fuss das n\u00e4chst tiefere c, ein halber Ton tiefer. Verl\u00e4ngerung des Fusses von 1 zu 2 wieder eis. Verl\u00e4ngerung des Fusses durch das Quintenst\u00fcck wieder eis. Verl\u00e4ngerung des\tFusses\tvon\t1\tzu\t4 ais - tiefer.\nVerl\u00e4ngerung des\tFusses\tvon\t1\tzu\t8 wieder eis.\nVII.\tMundst\u00fcck aus dem Anspruchsrohr \u00fcbereinstimmend mit dem Grundton c der Labialpfeife.\nMit Fuss h, ein halber Ton tiefer.\nVerl\u00e4ngerung des Fusses von 1 zu 2 / tiefer.\nVerl\u00e4ngerung des Fusses durch das Quintenst\u00fcck wieder/. Verl\u00e4ngerung\tdes\tFusses\tvon\t1\tzu\t4 g is.\nVerl\u00e4ngerung\tdes\tFusses\tvon\t1\tzu\t8 fis.\nVIII.\tMundst\u00fcck aus dem Anspruchsrohr allein eine Octave h\u00f6her als der Grundton c der Labialpfeife.\nMit Fuss bleibt c.\nVerl\u00e4ngerung des Fusses auf das Doppelte, bleibt e. Verl\u00e4ngerung des Fusses durch das Quintenst\u00fcck, wieder^e. Verl\u00e4ngerung\tdes\tFusses\tvon\t1\tzu\t4, das\tn\u00e4chst tiefere h.\nVerl\u00e4ngerung\tdes\tFusses\tvon\t1\tzu\t8, wieder\tc.","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"160 IV. Huch. Bewegung. III. Ahschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nIX. Mundst\u00fcck aus dem Anspruchsrolir d der Octave \u00fcber c dem Grundton der Labialpfeife.\nMit Fuss bleibt d.\nVerl\u00e4ngerung des Fusses von 1 zu 2, dasselbe d.\nVerl\u00e4ngerung des Fusses durch das Quintenst\u00fcck, dasselbe d.\nVerl\u00e4ngerung des Fusses von 1 zu 4, \u2014dis.\nVerl\u00e4ngerung des Fusses von 1 zu 8, dasselbe unreine dis.\nDie Widerspr\u00fcche der einzelnen Versuche sind auffallend. Ursachen davon sind das verschiedene Verh\u00e4ltniss des Grundtons des Mundst\u00fccks zu dem Grundton des Ansatzrohrs, und die verschiedene Art des Anspruchs, die noting war um den Ton hervorzulocken, und welche sogleich den Ton modified!. So viel ergiebt sich dagegen als Gewissheit, dass ein kurzes Rohr, dessen eigener Ton ohne Mundst\u00fcck viel h\u00f6her seyn w\u00fcrde, als der Ton des Mundst\u00fccks allein, bei kurzer Windlade den Ton nicht zu sich in die H\u00f6he zieht, sondern gew\u00f6hnlich etwas vertieft, und dass eine Vermehrung des Ansatzes, wenn der Ton gefallen war, zuletzt wieder in die N\u00e4he des urspr\u00fcnglichen Tons zur\u00fcckf\u00fchrt.\nBei den vorher angef\u00fchrten Versuchen war der Anspruch der Zungenwerke mit membran\u00f6ser Zunge mit dem Mund geschehen. Ganz interessant wird der Fall, wenn man das auf eine Ansatzr\u00f6hre gesetzte Mundst\u00fcck nicht mit dem Munde anbl\u00e4st, wobei der Strom der Luft nothwendig durch das Ansatzrohr durchgeht, sondern die membran\u00f6se Zunge durch Hinwegblasen mit einem feinen R\u00f6hrchen \u00fcber dieselbe anspricht. In diesem Fall geht gar kein Strom der Luft durch die Ansatzr\u00f6hre durch. Die Ver\u00e4nderung des Tons des Mundst\u00fccks durch das Ansatzrohr blieb auch hier nicht ganz aus. Ich f\u00fchre einige der auf diese Art angestellten Versuche an.\nI.\tTon der Kautschuckzunge des Mundst\u00fccks ohne allen Ansatz beim Anspruch mit einem feinen R\u00f6hrchen h.\nMit dem Fuss, Anspruch der Zunge mittelst des feinen R\u00f6hrchens fit's.\nAnsatz eines Rohrs von c, Anspruch der Zunge wie vorher, Ton h, spricht schlecht an.\nVerbindung des Fusses mit dem Quintenst\u00fcck, h.\nAnsatz des Rohrs von c giebt mit der Zunge den^ Ton gis.\nAnsatz eines Rohrs von c giebt mit der Zunge ais.\nII.\tTon einer Zunge bei 3' Zoll Ansatzrohr c,\n* beim Ansatzrohr von c giebt c,\nbeim Ansatzrohr von c giebt c,\nFussst\u00fcck mit dem Quintenst\u00fcck c,","page":160},{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"161\n1. Bedingungen der T\u00f6ne. Membran\u00f6se Zungen.\nbeim Ansatzrohr von c giebt c, beim Ansatzrohr von c giebt h.\nIII.\tTon einer Zunge bei 3^ Zoll Ansatzrohr dis,\nbeim Ansatzrohr von c giebt d, beim Ansatzrohr von c giebt d,\nFussstiick mit dem Quintenst\u00fcck cis, beim Ansatzrohr von c giebt dis, beim Ansatzrohr von c giebt d.\nIV.\tTon der Kautschuckzunge bei 2\u2019- Zoll Ansatzrohr h,\nbeim Ansatzrohr von c giebt ais, beim Ansatzrohr von e giebt h schwach, beim Ansatzrohr von c giebt h schwach, beim Ansatzrohr von c giebt h schwach.\nDie bisherigen Pieihen der Versuche geben nur einen unvollkommenen Begriff von der Modification des Zungentons durch das Ansatzohr. Die angewandten R\u00f6hren von bestimmtem Maass k\u00f6nnen in einzelnen F\u00e4llen den Ton wenig ver\u00e4ndern und doch w\u00fcrden es andere Verh\u00e4ltnisse der R\u00f6hren sehr gut thun k\u00f6nnen. Es ist diess ein Hauptgrund, warum die bisher angewandten Ansatzr\u00f6hren bei gewissen T\u00f6nen des Mundst\u00fccks nur geringe, bei anderen aber grosse Ver\u00e4nderungen hervorgebracht haben. Um einem bestimmten Gesetz, welches hierbei obwaltet, auf die Spur zu kommen, wandte ich R\u00f6hren von 1 Zoll Durchmesser an, die durch Verschiebung von kleinen Dimensionen bis zu 4 Fuss ganz successiv verl\u00e4ngert werden k\u00f6nnen.\nMit dieser Vorrichtung wurde der'Einfluss des Ansatzrohrs auf den Ton des Mundst\u00fccks von den kleinsten Dimensionen an gemessen.\nFolgende Versuche wurden damit angestellt.\nI. Grundton einer einlippigen Kautschuckzunge (durch ein\nWindrohr von 3\") cis.\nAnsatz.\tTon.\tBemerkungen.\n0 6\u201d\tCIS c\tDer Ton f\u00e4llt.\n6\" 9'\"\tk\t\u00ab\nr~ll ryiM l O\tais\t((\n9\u201d\ta\t\u00ab\n9\" 6\"'\ta und cis\tDer Ton springt von a auf cis, cis bleibt bis gegen 18 ' Ansatz.\n\t\t\t\nIS\u201d\tc\tF\u00e4llt.\n20\u201d\tcis\t\u00ab\n22\" 6\"'\ta und cis\tDer Ton springt von a auf cis und bleibt\n\t\tdann cis bis gegen 30\u201d Ansatz.\nM \u00fc 11 c r\tPhysiologie\u00ab -\tr f!:l. I.\ti 1","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162 IV. Buch. Bewegung. III. Ahschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nAnsatz.\tTon.\tBemerkungen.\n30\"\tc\tF\u00e4llt.\n31\u201d\th und cis\tDer Ton springt von h auf cis.\n36\u201d\tcis\t\n40\"\tc\tF\u00e4llt.\n45\"\th und cis\tSpringt.\n48\"\tcis\t\nII. Grundton einer einlipjw'gen Kautschuckzunge durch den Anspruch des Mundes ohne Windrohr dis.\n0\tdis\t\n3\"\t~d\tDer Ton fallt.\n4\" 6\"'\tcis\t\u00ab\n5\u201d\tc\t\u00ab\n6\u201d 6\u201d'\tTi\t\u00ab\n7\u201d\t(lis\t\u00ab\n8\"\ta\t\u00ab\n9\" 6\"'\tgis \t\t\u00ab\n10\"\tgis und cis\tDer Ton springt von gis\n11\u201d\tcis\tF\u00e4llt.\n13\"\tc\t<(\n17\" 6\"'\th\t\u00ab\n20\u201d 6\"\u2019\tciis\t((\n22\"\ta\t\u00ab\n23\u201d 6\u201d\u2019\tgis\t\u00ab\n26\u201d 6 \"\tgis und h\tHintereinander. Sprung.\n31\u201d\tais\t\n35\u201d\ta\tDer Ton f\u00e4llt.\n39\u201d\tgis\t\u00ab\n41\u201d\tgis und h\tHintereinander.\n45\u201d\tais\tF\u00e4llt.\nIII. Einlippige Zunge ohne Windrohr.\n3\" 6'\"\t/\n4\"\te\n4\u201d 6'\u201d\tdis\n5\u201d\t~d\n6\"\tcis\n6\u201d 8\"'\tc\n7\" 6\u2019\u201d\th\nDer Ton f\u00e4llt.","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"163\n1. Bedingungen der Tilne. Membran\u00f6se Zungen.\nAnsatz.\tTon.\tBemerkungen.\n8\u201d\tais\tDer Ton f\u00e4llt.\n8\u201d 6\u2019\"\ta\t\u00ab\n9\"\tgis\t((\n9\" 6'\"\tg\t((\n10\"\tfis\t\u00ab\n11\u201d 3\"'\tf\t((\n12\"\te\t\u00ab\n12\" 6'\"\tdis\t\u00ab\n14\u201d\t~d\t\u00ab\n17\" 6\"' 19\"\tdis dis und c\tHintereinander. Sprung.\n20\" 3'\u201d\th\tDer Ton f\u00e4llt.\n21\u201d\ta\u00efs\t\u00ab\n22\" 6\"'\ta\t\u00ab\n24\"\tgis\t\u00ab\n25\u201d\tg\t\u00ab\n29\" 9'\"\tfis\t\u00ab\n33\"\tf\t\u00ab\n34\" 3\u201d'\te\t\u00ab\n35\" 6\u201d'\tdis\t\u00ab\n38\" 6\"'\tdis und c\tHintereinander. Sprung.\n40\"\tdis\tDer Ton f\u00e4llt.\n42\"\t~d\t\u00ab\n42\u201d 9\"'\tcis\t\u00ab\n43\" 4\"'\tc\t\u00ab\n44\u201d 4\"\u2019\th\t1 \u00ab\n44\" 6\"\u2019\tais\t\u00ab\n45\"\ta\t\u00ab\n46\"\tgis\t\u00ab\nIV. Ton einer einlippigen Zange (durch den Mund ohne Windrohr) h.\n0\th\t\n1\" 2'\"\tais\tDer Ton f\u00e4llt.\n2\u201d\ta\t\u00ab\n3\"\tgjs\t\u00ab\n7\" 6'\"\t8\tw\n9\"\tfis\t\u00ab\n10\"\tf\t\u00ab\n13\"\te\t\u00ab\n17\u201d\tdis\t\u00ab\n11*","page":163},{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"164 IV. Bush. Bewegung. III.Abschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nAnsatz.\tTon.\tBemerkungen.\n22\u201d 4\u201d'\t\u25a0 | \u201d (llS\tSprung.\n23\"\tg\tDer Ton f\u00e4llt.\n25\" 6\"'\tfis\t\u00ab\n27\" 6'\"\t7\t\u00ab\n32\"\te\t<t\n39\u201d 6'\"\tdis\t\u00ab\n40\"\tg\tSprung.\n42\u201d 3'\"\tfis\tDer Ton f\u00e4llt\n45\"\tf\t\u00ab\nV. Ton einer einlippigen Kautschuckzungc durci\u00bb den Mund ohne Windrohr angesprochen e.\n3\"\tdis\tF\u00e4llt.\n3\" 9\u2019\"\t~d\t\u00ab\n4\" 9\"'\tris\t((\n5\u201d 6\u201d'\tc\t\u00ab\n6\" 2'\"\tT\t\u00ab\n7\u201d 4\u2019\"\tals\t\u00ab\n10\"\ta\t((\n13\" 6'\"\te\tSpringt.\n15\"\tT\tF\u00e4llt.\n\ty\u00bb \u2014-\t\n15\" 8\"'\tris\t\u00ab\n17\" 6'\"\tc\t\u00ab\n20\"\tT\t\u00ab\n24\"\ta\t\u00ab\n28\"\tdis\tSpringt,\n29\" 6 \"\th\tF\u00e4llt.\n30\"\tc\t\u00ab\n30\" 6\"\u2019\tTi\t\u00ab\n34\"\tais\t\u00ab\n35\"\ta\t\u00ab\n41\" G\"\tdis \u2014 e\tSpringt.\n42\"\tc\t\u00ab\n43\"\th\t\u00ab\nVI. Ton einer einlippigen Kautschuckzunge hei 5 Zoll Ansatz, rohr g. Der Rahmen der Zunge liegt etwas auf der Holzplatte oder dem Rahmen auf. Der Ton f\u00e4llt Lis 21 Zoll Ansatz, springt hei 21, f\u00e4llt wieder bis 42, springt und f\u00e4llt wieder.\nDiese Versuche wurden noch \u00f6fter wiederholt und gaben \u00e4hnliche Resultate.","page":164},{"file":"p0165.txt","language":"de","ocr_de":"1. Bedingungen der T\u00f6ne. Membran\u00f6se Zungen.\n165\nDass die Ver\u00e4nderung des Tons einer membran\u00f6sen Zunge nicht gleichm\u00e4ssig von der absoluten L\u00e4nge der Ansatzr\u00f6hre abh\u00e4ngt, ergab sich schon aus der ersten Reihe der Versuche mit gleicbbleiben-clen Ans\u00e4tzen bei verschieden hoch gestimmten Zungen. Aus der gegenw\u00e4rtigen Reihe der Versuche ergiebt sich noch bestimmter dass diese Ver\u00e4nderung ahh\u00e4ngt vom Verh\u00e4ltniss des Grundtons der Zunge zum Grundton der Ansatzr\u00f6hre. Unsere Ansatzr\u00f6hren waren ein Zoll im Durchmesser. Eine Ansatzr\u00f6hre dieser Art von\n11 Zoll 4 lin. Par. hat c zu ihrem Grundton. Hiernach lassen sicli die Grundt\u00f6ne der jedesmal angewandten Ans\u00e4tze berechnen. Gew\u00f6hnlich f\u00e4llt der Ton durch successive Ans\u00e4tze oder Verl\u00e4ngerung der Ansatzr\u00f6hre durch aile halbe T\u00f6ne bis die R\u00f6hre eine solche L\u00e4nge erreicht, dass ihr Grundton allein dein Grundton der Zunge sich ann\u00e4hert, und schon vorher hat die Vertiefung ihre Grenze; denn nicht um eine ganze Octave l\u00e4sst sich der Ton leicht auf diese Art vertiefen, z. B. nur\nvon cis bis a (Versuch I.) von dis\u2014g is (II.) e \u2014 a (V.). An einer bestimmten Grenze springt er zum Grundton der Zunge oder in dessen N\u00e4he wieder in die H\u00f6he und f\u00e4llt jetzt durch Aveitere Ans\u00e4tze bis ohngef\u00e4hr. diese das doppelte erreicht haben, nun springt er wieder in die H\u00f6he, f\u00e4llt Avieder durch neue Ans\u00e4tze. In mehreren F\u00e4llen (III.) dauerte das Fallen l\u00e4nger fort bis in die N\u00e4he einer Octave herab. Der Sprung in die H\u00f6he trat dann nicht da ein, Aveun der Ansatz ohngef\u00e4hr so lang war, dass sein Grundton dein der Zunge nahe war, sondern der Sprung trat erst hei dem doppelten dieser L\u00e4nge ein. Die Ursachen dieser Verschiedenheit sind mir nicht bekannt geworden. Soviel ergiebt sich aber schon jetzt aus diesen Versuchen, dass sich die Zungenpfeifen mit membran\u00f6ser Zunge ohngef\u00e4hr auf \u00e4hnliche Weise wie die Zungenpfeifen mit metallischer Zunge beim Ansetzen von Rohren verhalten. Bei den letzteren lassen die Versuche eine viel gr\u00f6ssere Praecision zu, weil sich der Ton der metallischen Zungen durch Ver\u00e4nderung der St\u00e4rke des Anspruchs nur \u00e4usserst Avenig ver\u00e4ndert, w\u00e4hrend diese Ver\u00e4nderung (um einen halben seihst ganzen Ton) hei den membran\u00f6sen Zungen so leicht ist. Durch Ansprechen der Zungen mittelst eines Blasebalges, der durch Gewichte beschwert ist, w\u00fcrde mau wohl diesem Uehelstande einigermassen abhelfen k\u00f6nnen, indessen hat das Anblasen mit dem Munde mittelst des schw\u00e4chsten tongehenden Anspruchs doch gewisse Vorz\u00fcge und ist kaum zu vermeiden, Aveil oft nur eine bestimmte Art des Anspruchs und Lage der Lippen (ohue Ver\u00e4nderung der St\u00e4rke des Blasens) einen Ton hervorlockt.\nUeber die Ver\u00e4nderung der T\u00f6ne der Zungenpfeifen mit metallischen Zungen durch Ansatzr\u00f6hl en besitzen wir die classiscbeu Untersuchungen von W. Weber. Poggend. Annal. XVI. XVII. Weber hat dar\u00fcber folgende Aufschl\u00fcsse gegeben:\nA sey der vierte Theil der L\u00e4nge einer Ansatzr\u00f6hre deren Lufts\u00e4ule eineu mit der isolirteu Zunge gleichen Grundton hat","page":165},{"file":"p0166.txt","language":"de","ocr_de":"166 IV. Buch. Bewegung. III. Ab sehn. Von d. Stimme u. Sprache.\nJe tiefer oder h\u00f6her daher der Ton der isolirten Zunge ist, desto l\u00e4nger oder k\u00fcrzer ist a.\n1.\tEine Ansatzr\u00f6hre, die bis a. verl\u00e4ngert wird, vertieft den Ton unmerklich.\n2.\tBei Verl\u00e4ngerung von a his 2 a w\u00e4chst die Tiefe merklich; indessen w\u00e4chst die Dauer der Schwingungen langsamer als die L\u00e4nge der Lufts\u00e4ulen.\n3.\tW\u00e4hrend die L\u00e4nge der Lufts\u00e4ule von 2 a his 3 a zunimmt, vertieft sich der Ton schnell und die Tiefe w\u00e4chst fast ehen so schnell als die L\u00e4nge der Lufts\u00e4ule.\n4.\tBei der Verl\u00e4ngerung von 3 a bis 4 a wird der Ton noch schneller tief, bis er zuletzt eine Octave tiefer als der Ton der Zunge allein ist; die Vertiefung w\u00e4chst dabei vollkommen gleich schnell als die L\u00e4nge der Lufts\u00e4ule. Bei fortgesetzter Verl\u00e4ngerung springt der Ton pl\u00f6tzlich auf den hohen Ton der isolirten Platte zur\u00fcck und dieser wird durch weitere Verl\u00e4ngerung wieder auf dieselbe Weise tiefer und wird bei einer L\u00e4nge von 8 a um eine Quarte tiefer als der Ton der isolirten Zunge. Bei weiterer Verl\u00e4ngerung springt der Ton wieder in die H\u00f6he auf den Ton der Zunge, dieser wird durch Verl\u00e4ngerung der Ansatzr\u00f6hre bis auf 12 a bis zur kleinen Terz des Tons der Zunge vertieft. Dann springt der Ton wieder zur\u00fcck. Poggend. Annal. XVI. 425.\nDer Ton der Zungenpfeifen mit membran\u00f6ser Zunge kann ausser den Ansatzr\u00f6hren noch durch zwei Mittel, durch die St\u00e4rke des Blasens und durch die theilweisc Verschliessung der End\u00f6ffnung des Ansatzrohrs ver\u00e4ndert werden.\nWurde das Mundst\u00fcck mit membran\u00f6ser Zunge mit Ansatzr\u00f6hren von einiger L\u00e4nge, z. B. 4 Fuss versehen, so konnte der Ton durch st\u00e4rkeres Anblasen und andere Art des Anblasens fast bis zur Octave in halben T\u00f6nen steigen. Was nicht durch einfache Verst\u00e4rkung des Anblasens erreicht werden konnte, konnte durch Blasen mit engerer Lippen\u00f6ffnung erzielt werden; so z. B. war der Ton der Zungenpfeife von 4 Fuss mit membran\u00f6ser Zunge c; durch st\u00e4rkeres Anblasen mit oder ohne Zusammenziehen der Lippen stieg er mit Leichtigkeit anf cis, d, dis, e, sehr schwer war f, dann wieder leicht fis, g, gis, a, ais, sehr schwer aber A und unrein.\nNach den Gebr\u00fcdern Weber (Wellenlehre. 526.) k\u00f6nnen auch die Zungenpfeifen mit metallischen Zungen Flageolett\u00f6ne (Schwingungen mit Schwingungsknoten) hervorbringen und der Ton, den eine Zungenpfeife hervorbringt, wenn sie einfach schwingt, ist um eine Octave und eine Quinte tiefer als wenn sie so schwingt, dass sich ein Schwingungsknoten bildet; so dass sich in dieser Hinsicht die Zungenpfeifen wie Pfeilen verhalten, deren eines Ende offen, deren anderes verschlossen ist. Aber diess ist bloss den Zungenpfeifen mit membran\u00f6ser Zunge eigen, dass sich der Ton der Zunge allein sowohl, wie in ihrer Verbindung mit dem Ansatzrohr durch St\u00e4rke des Blasens in einigen halbe\u00ab T\u00f6nen beben l\u00e4sst. Nehme ich statt trockner elastischer Zungen nasse elastische H\u00e4ute, z. B. von Arterienhaut, so l\u00e4sst sich der Ton ohne Ansatz noch viel h\u00f6her treiben, in halben T\u00f6nen bis gegen die Quinte.","page":166},{"file":"p0167.txt","language":"de","ocr_de":"1. Bedingungen der T\u00f6ne. Membran\u00f6se Zungen.\n167\nDie End\u00f6ffnung des Ansatzrolirs hat auf den Ton der Zungenpfeife mit membran\u00f6ser Zunge Einfluss. Bei einem Ansatzrohr von 3 Zoll am Mundst\u00fcck, konnte ich den Ton durch gr\u00f6sser werdende Bedeckung der Oeffnung um eine ganze Quinte herabdr\u00fccken. Beim Ansatz des St\u00fccks von 6 Zoll fiel der Ton des Mundst\u00fccks hei der halben Bedeckung um einen halben Ton, durch Einbringen des Fingers von c bis f. In demselben Maass als der Ton sich erniedrigt, verliert er an St\u00e4rke. In manchen F\u00e4llen war der Erfolg des Einbringens des Fingers ein ganz entgegengesetzter; der Ton erhob sich n\u00e4mlich etwas, so z. B. war der Ton der Zungenpfeife von 24 Zoll, deren Mundst\u00fcck d gab, dis, durch Einbringen des Fingers konnte der Ton etwas gehoben werden, und Aehnliches kam \u00f6fter vor.\nDie Ursache dieses letztem widersprechenden Verhaltens war mir lange unklar gehlieben, bis ich ihr n\u00e4her auf die Spur kam. So lange der Ton durch Ans\u00e4tze sich noch vertieft, wird er durch Bedeckungen der End\u00f6ffnung immer tiefer. Wenn aber die Verl\u00e4ngerung einen Punct erreicht, wo der Ton nahe ist am Sprung auf den hohen Ton zur\u00fcck, dann kann die Bedek-kung den Ton etwas erheben und sogar den Sprung herbeif\u00fchren. So z. B. fiel der Ton von 5 Zoll Ansatz bis 15 Zoll fortw\u00e4hrend, n\u00e4mlich von g zu d. Bei L\u00e4ngen der Ans\u00e4tze zwischen 5 und 15 Zoll bewirkte die Bedeckung der End\u00f6ffnung immer eine Vertiefung. Bei 21 Zoll Ansatz war der Ton auf dem Sprunge von dis auf g in die H\u00f6he und bei dieser L\u00e4nge des Rohrs konnte der Ton durch Bedeckung der End\u00f6ffnung auf e gebracht und der Sprung auf g leichter herbeigef\u00fchrt werden.\nBefindet sich eine bedeutende Verengerung (Stopfen) am andern Theil des Ansatzrohrs, n\u00e4mlich dicht vor der Zun\u00e7e, so wird der Ton meist h\u00f6her, als durch das Ansprachsrohr ohne Verengerung.\nC. Einfluss des IVindruhrs auf den Tun der membran\u00f6sen Zungen.\nDen Einfluss des Windrohrs auf die H\u00f6he des Tons einer Zungenpfeife mit metallischer Zunge hat, wie es scheint, zuerst Greni\u00e9 beobachtet. Muncke in Gehlers physik. IVorterb. VIII. 376. Dieser Einfluss ist bisher noch nicht hinreichend er\u00f6rtert worden. Ich finde dass das Windrohr, durch welches eine membran\u00f6se Zunge angeblasen wird, einen ebenso grossen Einfluss auf Vertiefung des Tons der Zunge als das Ansatzrohr bat. Dieser Gegenstand ist auch wieder in Beziehung auf das Stimmorgan von der gr\u00f6ssten Wichtigkeit und muss hier ausf\u00fchrlich erkl\u00e4rt werden.\nIm allgemeinen giebt es 5 Zust\u00e4nde, in welchen eine Zunge zum T\u00f6nen gebr\u00e4cht wird. 1. Sie wird ohne Ansatzrohr und Windrohr und ohne Rahmen durch den freien Strom der Luft aus einem feinen R\u00f6hrchen angeblasen ; der Ton ist wie wir gesehen schon verschieden von dem, den sie in einem Rahmen gespannt giebt, wenn der Rahmen mit den Lippen umfasst und der Anspruch durch den Mund geschieht. 2. Die Zunge ist von","page":167},{"file":"p0168.txt","language":"de","ocr_de":"168 IV. Buch. Bewegung. III. Ah sehn. Von d. Stimme u. Sprache.\neinem Rahmen begrenzt und wird ohne Ansatzrohr und ohne \"VVindrohr durch den Mund angesprochen, wobei die Atbem-organe allein die Windlade sind. 3. Die Zunge ist mit einem Ansatzrohr versehen, und der Anspruch geschieht ohne besonderes Windrohr durch den Mund. 4. Die Zunge ist ohne Ansatzrohr und wird durch ein W indrohr auf dem sie gespannt ist, angeblasen. 5. Die Zunge ist mit Anspruchsrohr und zugleich mit Windrohr versehen. ln allen diesen F\u00e4llen ist der Grundton der Zunge verschieden.\nWas die Verbindung der Zunge mit einem Windrohr betrifft, so ist der einfachste Fall zun\u00e4chst zu untersuchen, wenn die Zunge ohne Anspruchsrohr ist, und sich am Ende des Windrohrs an ihrem Rahmen befindet. Die Ver\u00e4nderung der T\u00f6ne hei verschiedener L\u00e4nge des Windrohrs ist hier eine ganz \u00e4hnliche wie bei den Ansatzr\u00f6hren verschiedener L\u00e4nge. Eei Verl\u00e4ngerung des Windrohrs vertieft sich der Ton durch alle halben T\u00f6ne bis zu einer gewissen Grenze, indem auch die Vertiefung keine Octave erreicht. Bei weiterer Verl\u00e4ngerung springt der Ton wieder zur\u00fcck und wird hoch, vertieft sich von dort aus w'ieder mit fortschreitender Verl\u00e4ngerung, springt nochmals auf denselben hohen Ton zur\u00fcck, vertieft sich von da an wieder, springt wieder zur\u00fcck und so weiter. Doch findet keine vollkommene Uebereinstimmung zwischen den L\u00e4ngen eines Ansatzrohrs und eines Windrohrs, die zur Erzielung eines gewissen Tons n\u00f6thig sind, statt. Ich habe eine \u00fcber eine R\u00f6hre von i Zoll L\u00e4nge gespannte einlippige Kautschuckzunge zu diesen Versuchen benutzt. Dem Rande der Zunge lag eine feste Holzplatte gegen\u00fcber, wie in der vorhergehenden Reihe der Versuche. Diese Zunge mit bestimmter gleichbleibender Stimmung wTurde in dem einen Fall mit einem Ansatzrohr versehen und durch den Mund angeblasen, indem der Umfang des Rahmens mit den Lippen umfasst wurde; im zweiten Fall wurde dieselbe Zunge ohne Anspruchsrohr mit einem Windrohr angeblasen, das beliebig so wie im ersten Fall das Ansatzrohr verl\u00e4ngert werden k\u00f6nnte. Die folgende Tabelle enth\u00e4lt die L\u00e4ngen des Ansatzrohrs und Windrohrs, welche n\u00f6thig waren, um aus derselben gleichgestimmten Zunge dieselben T\u00f6ne zu erhalten. Die Stimmung der Zunge allein war h (f\u00fcr den Anspruch mit dem Mund.)\nT\u00f6ne.\tWindrohr ohne Ansatzrohr.\tT\u00f6ne.\tAnsatzrohr ohne Windrohr.\nais\t4\" 6\u201d'\t\tais\t1\" 2\u2019\"\na\t9\u201d Iff\" ....\ta\t2\"\ngis\t13\"\t\tgis\t3\"\u2014 5\" 6\u2019\"\ng\t15\" 6 \"\t\tg\t7\u201d 6\"'\nfis\t17\" 6'\" . . . . . \u2022\tfis\t9\"\ni\t19\" \t\t\tfi\t10\"\n1\t\te\t13\u201d\n\t\tdis\t17\u201d","page":168},{"file":"p0169.txt","language":"de","ocr_de":"1. Bedingungen der T\u00f6ne. Memlran\u00dcse Zungen. 169\nT\u00f6ne.\tWindrohr ohne 1\tAnsatzrohr.\tT\u00f6ne.\tAnsatzrohr ohne Win droh r.\nJ u. als\t'20'' Sprung des Tons.\t\t\n\t\tais -f-\t22\u201d 4\"' Sprung d. Tons.\na\t24\" 6\"' .\t.\t.\t\t\ngis\t27\u201d 6\u201d' ....\t\t\n$\t29\u201d\t\tff\t23\u201d\nfis\t32\u201d .\tfis\t25\u201d 6\"'\n\t\tf\t27\u201d 6\u201d'\n\t\tc\t32\u201d\n\t\tdis\t39\u201d 6\u201d'\nJ u. (lis\t35\u201d Sprung des Tons.\t\t\na\t37\"\t\t\t\ngis\t42\u201d\t\t\t\n8\t46\u201d\t\tg\t40\u201d dis springt auf g.\n\t\tfis\t42\u201d\n\t\tf\t45\u201d\nBei einem zweiten vergleichenden Versuch erhielt ich folgende Resultate. Grundton der Zunge allein e.\n\t\te\tl\"\n\t\tdis\t3'\nd\t4\" 9\"\u2019\t\td\t3\u201d 9\u201d\u2019\ncis\t6\"\t\tcis\t4\u201d 9\u201d\u2019\nc\t7\u201d 6'\u201d\t\tc\t5\u201d 6'\"\nii\t9\" 6\u201d'\t\th\t6\" 2\u201d'\n\t\tais\t7\" 4\"'\na\t10\"\t\ta\t10\u201d\n\t\te \u2014 dis\t13\u201d 6\u201d Sprung\n7\t15 ' 9 \" Sprung. .\t.\t7\t15\"\ncis\t18\" 9'\"\t\tcis\t15\" 8\"'\n\t\tc\t17\" 6'\"\n7\t22\"\t\t7\t20\"\n\t\ta\t24\"\n\t\tdis\t28\" Sprung.\n~d\t24\u201d 9 \" Sprung. .\t.\td\t29\" 6\"'\nC\t30\" 6'\"\t\tc\t30\"\n\tSpricht nicht mehr an.\th\t30\" 6 \"\n\t\tais\t34\"\n\t\ta\t35\"","page":169},{"file":"p0170.txt","language":"de","ocr_de":"170 IV. Buch. Bewegung. III. Ahschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nWindrohr ohne Ansatzrohr.\tT\u00f6ne.\tAnsatzrohr ohne Windrohr.\n\tdis \u2014 e\t41\" 6\"' Sprung.\n\tc\t42\"\n\tTi\t43\" 6\"'\nEndlich ist aucli die Modification des Tons der Zunge durch Verengung des Windrohrs an dem einen oder andern Ende zu erw\u00e4hnen. Wurde in einem kurzen Windrohr gegen das Ende, wo die Zunge, ein Stopfen angebracht, der in der Mitte durchbohrt allein den Luftstrom durchliess, so wurde dadurch der Ton h\u00f6her. Dieser Einfluss wirkt wie die Verk\u00fcrzung des Stimmrohrs.\nWurde hingegen die Verengung des Windrohrs an dem der Zunge entgegengesetzten Ende, wo die Lippen angesetzt wurden, angebracht, durch Verengung der Lippen\u00f6ffnung, so wurde der Ton tiefer, wenn der Ton nicht durch die L\u00e4nge des Windrohrs vertieft war; hatte das Windrohr den Ton sehr vertieft, so \u00e4nderte die enge Lippen\u00f6ffnung entweder nichts, oder erhob sogar den Ton ein wenig.\nI). Membran\u00f6se Zungen mit Ansatzrohr und Windrohr.\nDie L\u00e4ngen, welche Windrohr und Ansatzrohr allein haben m\u00fcssen, um eine gewisse Vertiefung des Tones einer Zunge zu erhalten, sind nicht allein ungleich, es findet auch keine Compensation des einen durch das andere statt. F\u00e4nde eine Compensation statt, so w\u00fcrde man, wenn eine L\u00e4nge n des Ansatzrohrs mit der Zunge ohne Windrohr den Ton x giebt, eine kleinere L\u00e4nge des Ansatzrohrs n\u2014\u00df, mit einem Windrohr a wieder den Ton x gehen m\u00fcssen. Dies ist aber nicht der Fall. z. B. eine Ans\u00e4tzr\u00f6hre von 12^- Zoll gab mit der Zunge fis, wurden aber diese 12~ Zoll Rohr auf Ansatz und 6* Windrohr vertheilt, so war der Ton gis. Eine Ansatzr\u00f6hre von 7 Zoll gab mit einer Zunge ais, diese 7- Zoll Rohr auf Ansatz und Windrohr vertheilt, gab d.\nMache ich Ansatz- und Windrohr jedes so lang, dass das Ansatzrohr mit der Zunge, (die Zunge vom Munde angeblasen) denselben Ton giebt, wrie die Zunge mit dem vom andern Ende angeblasenen Windrohr allein, so giebt die Verbindung der Zunge mit dem Ansatz vorn, mit dem Windrohr hinten, jetzt denselben Ton. Dieser Versuch wurde oft wiederholt, das Resultat blieb sich gleich. Daraus und aus dem obigen scheint hervorzugehen, dass die Lufts\u00e4ulen des Ansatzrohrs und des Windrohrs f\u00fcr sich bestimmend auf den Ton der Zunge einwirken, so dass, wenn Windrohr und Ansatzrohr mit der Zunge allein verschiedene T\u00f6ne geben w\u00fcrden, sie auch verschieden bestimmend auf die Zunge wirken. Die Zungenpfeife wird also durch den Ansatz eines Windrohrs noch complicirter als sie durch den Ansatz des Ansatzrohrs schon geworden ist; und da hei jedem","page":170},{"file":"p0171.txt","language":"de","ocr_de":"1. Bedingungen der Tone. Membran\u00e4se Zungen. 171\nAnspruch, geschehe er auch durch den Mund allein, oder durch einen Blasebalg, die Windlade immer schon als Windrohr zu betrachten ist, so ist bei dem einfachsten Versuch mit einer Zunge mit Ansatzrohr, die durch den Mund allein angesprochen wird, der Ton schon durch ein Windrohr modificirt. Die gegenseitige Einwirkung dieser Einfl\u00fcsse zu kennen, w\u00e4re f\u00fcr die Theorie der Stimme von der gr\u00f6ssten Wichtigkeit, da man hier mit einem Ansatzrohr (Raum vor den unteren Stimmb\u00e4ndern) und einem Windrohr (Luftr\u00f6hre und Bronchien) zugleich zu thun hat. Diess ist indess eines der schwierigsten Probleme der Akustik, und es hat mir durchaus nicht gelingen wollen, etwas, was einer Regel nahe k\u00e4me, heraus zu bringen. Ich sehe nur die constante Best\u00e4tigung der Beobachtung, dass hei einer gewissen L\u00e4nge des Ansatzrohrs, die Verl\u00e4ngerung des Windrohrs den Ton immer \u00e4ndert, bis die gegenseitigen Einwirkungen gleich sind. Hat das Windrohr eine bestimmte L\u00e4nge, und wird das Ansatzohr verl\u00e4ngert, so erh\u00e4lt man auch wieder eine Vertiefung bis zu einer bestimmten Grenze, bei weiterer Verl\u00e4ngerung springt der Ton wieder nach der fr\u00fchem H\u00f6be zur\u00fcck, f\u00e4llt jetzt nach der Verl\u00e4ngerung wieder bis zu einer Grenze und springt wieder, was sich regelm\u00e4ssig wiederholt. Einige der fr\u00fcher angef\u00fchrten Versuche, bei denen die Zunge mit Ansatz durch ein kurzes Windrohr angesprochen wurde, geh\u00f6ren schon hieher.\nBei einem Mundst\u00fcck von 6 Zoll L\u00e4nge fiel der Grundton d bei 4 Zoll Ansatz auf eis, hei 4^ Zoll war er wieder dis, fiel bei 5 Zoll und erreichte d vor 6 Zoll. Von 6 Zoll fiel der Ton wieder und war hei 8t\u2018 Zoll cis, was bis 16? Zoll blieb. Bei 16^ Zoll stieg der Ton wieder auf d, bei 48 bis 24 Zoll w^ar der Ton wieder tiefer cis, hei 27^ Zoll stieg er wieder auf d, hei 32? war er w'ieder gefallen cis, so blieb er bis 4 Fuss.\nE. Musikalische Instrumente mit membran\u00e4sen Zungen.\nDie bisher erl\u00e4uterten k\u00fcnstlichen Vorrichtungen bilden eine eigene Abtheilung der Zungenwerke, wovon indess bis jetzt kein Gebrauch in der Musik gemacht wurde. In dieselbe Kategorie geh\u00f6rt, wie wir sehen werden, das menschliche Stimmorgan und das Stimmorgan der V\u00f6gel. Bei dem ersten sind die Stimmb\u00e4nder zweilippige Zungen. Das Ansatzrohr ist der Raum von den unteren Stimmb\u00e4ndern bis zur Mund- und Nasen\u00f6ffnung, das Windrohr Luftr\u00f6hre und Bronchien. Am Stimmorgan der V\u00f6gel bilden die Stimmb\u00e4nder des untern Kehlkopfes an der Thei-lungsstelle der Luftr\u00f6hre jederseits Zungen. Die Lufts\u00e4ule des Ansatzrohrs ist hier die Luftmasse der ganzen Luftr\u00f6hre von . der Theilungsstelle an bis zur Kehle, und die Luft der Mundh\u00f6hle. Die Lufts\u00e4ule des Windrohrs ist hier hingegen bloss die Luft der Bronchien von der Theilungsstelle der Luftr\u00f6hre bis zu den Lungen.\nAber auch die Lippen des Menschen k\u00f6nnen als Zungen wir-","page":171},{"file":"p0172.txt","language":"de","ocr_de":"172 IV. Buch. Bewegung. III. Abschi. Von d. Stimme u. Sprache.\nkcn, wenn sie eine Spannung erhalten durch Muscularcontra-ction ; an und f\u00fcr sich unelastisch erhalten sie ein Aequivalent der Elasticit\u00e4t durch die Muscularcontraction des Sphincters. Presst man die Luft zwischen den durch den Sphincter in Tension gebrachten Lippen durch, so entstehen T\u00f6ne, welche in die Classe der Zungent\u00f6ne geh\u00f6ren. Die Mundh\u00f6hle und die Atheinwerkzeuge bilden hier das Windrohr. Das Instrument ist ein Zungenwerk mit Windrohr ohne Ansatzrohr. F\u00fcgt man den Lippen ein Ansatzrohr von Pappe oder Metall an, so wird der Ton nicht allein klangreicher, sondern kann auch durch das Rohr modifient werden.\nAm Sphincter ani findet dasselbe statt. Er bringt die Haut des Afters in Tension und wirkt wie eine Zunge mit Windrohr (Gase im Masldarm) ohne Ansatzrohr.\nAn die bisher erl\u00e4uterten Zungenwerke mit membran\u00f6ser Zunge schlossen sich die Trompeten und H\u00f6rner an, bei welchen die Lippen durch Blasen als membran\u00f6se Zungen in Bewegung gesetzt werden, w\u00e4hrend die Lufts\u00e4ule 'des Rohrs wie bei den Zungenwerken mitschwingt Bei den \u00fcbrigen Blasinstrumenten, die unter die Zungenwerke geh\u00f6ren, ist die Zunge ein besonderes St\u00fcck, welches vom Instrument abgenommen noch T\u00f6ne f\u00fcr sich giebt. Bei den H\u00f6rnern, Trompeten, Posaunen l\u00e4sst sich auf dem sogenannten Mundst\u00fcck allein durch blosses Anblasen kein Ton hervorbringen. Vielmehr m\u00fcssen die Lippen selbst dergleichen Zungenst\u00fccke der Trompeten und H\u00f6rner zu einer Zunge erg\u00e4nzen, und die Lippen sind hier die membran\u00f6sen Zungen, zwischen welchen der Strom der Luft durchgepresst wird. Ihr Sphincter ersetzt diesen h\u00e4utigen Thei-lcn die Elasticit\u00e4t durch seine Reaction gegen die fein durchstr\u00f6mende Luft; es entstehen T\u00f6ne von ganz bestimmtem Wertlie, und diese T\u00f6ne sind h\u00f6her, je st\u00e4rker sich die Lipjien Zusammengehen. Es scheint zwar, als wenn die Gr\u00f6sse der Oeffnung auf den Ton dieser Zungen, wie auch beim Mundpfeifen, einen Einfluss h\u00e4tte, und in der That wird der Mundpfeifenton, welcher nicht hieher zu geh\u00f6ren scheint, bei gr\u00f6sserer Lippen\u00f6lFnung tiefer. Da indess mit engerer Lippen\u00f6lFnung eine gr\u00f6ssere Zusarn-menziehung des Sphincter oris stattfindet, so bewirk t, bei der Stellung der Lippen zum Brompetenblasen, die engere Oeffnung ganz dasselbe, was an den elastischen membran\u00f6sen Zungen die st\u00e4rkere Spannung thut.\nDas Mundst\u00fcck der Trompete ist am Anfang becherf\u00f6rmig ausgeh\u00f6hlt, worauf es sich verengt. Der Rand dieser H\u00f6hlung wird beim Blasen auf die Lippen aufgesetzt und die Luft durch die enge Lippen\u00f6lFnung, deren R\u00e4nder durch den Sphincter eine bestimmte lension haben, durchgetrieben. Die H\u00f6he des Tons muss zunehmen mit der Starke der Tension der Lijipen, welche sie durch die Zusammenziehung des Sphincters erhalten. Vor den Lippen muss em licier Raum seyn, denn sonst w\u00fcrde ihr gcsjiannter Rand nicht wie ein Zungenblatt wirken k\u00f6nnen. Wird daher die H\u00f6hle des Mundst\u00fccks an der becherf\u00f6rmigen Aush\u00f6hlung des Mundst\u00fccks","page":172},{"file":"p0173.txt","language":"de","ocr_de":"1. Bedingungen der T\u00f6ne. Memlranase Zungen.\n173\naus\u00abef\u00fcllt bis auf einen mittlern engen Durchgang, so geben die fest angedr\u00fcckten Lippen beim Blasen keinen Ton mehr. Dass diess die wesentliche Ursache des Tons der Trompete ist, siebt man daran, dass man auch ohne Mundst\u00fcck der Trompete auf den blossen durch die Zusammenziehung des Sphincters in Tension gebrachten Lippen einen trompeten\u00e4hnlichen Ton hervorbringen kann. Ja selbst eine einzige Lippe ist hinreichend, Behlingen hervorzubringen, die als Ton geh\u00f6rt werden; z. B. wenn man die Oberlippe weit \u00fcber die Unterlippe her\u00fcberlegt und nun die Luft zwischen der vibrirenden Oberlippe und festen Ober-ll\u00e4che der Unterlippe durchtreibt. Das Mundst\u00fcck des Horns unterscheidet sich von dem der Trompete noch, dass an ihm sich vorn keine becherf\u00f6rmige sondern eine conische Aush\u00f6hlung befindet, sonst ist der Ansatz der Lippen an das Mundst\u00fcck \u00e4hnlich wie bei der Trompete; der Lippenrand darf nicht aufliegen.\nBiot handelt die Trompeten und H\u00f6rner bei den Fl\u00f6tenwerken ab, und erkl\u00e4rt die verschiedenen T\u00f6ne, welche sie angeben, aus der vei'schiedenen St\u00e4rke des Anblasens der Lufts\u00e4ule der Trompete, so wie die Lufts\u00e4ule einer Pfeife bei st\u00e4rkerm Blasen die mit den Zahlen 1, 2, 3, 4, 5 (offen) oder 1, 3, 5, 7, (gedeckt) giebt. Allein die St\u00e4rke des Blasens hebt hier den Ton wenig und macht ihn nur st\u00e4rker; die Verschiedenheit der T\u00f6ne h\u00e4ngt von der Tension der Lippen ah. Die Trompeten und H\u00f6rner m\u00fcssen richtiger, wie Muncre thut, zu den Zungenwerken gerechnet werden und sind, wie aus dem Vorhergehenden erhellt, offenbar Zungenpfeifen mit membran\u00f6ser Zunge, wobei das Timbre des Tons durch das Metall des Ansatzrohrs und die H\u00f6he des Tons des Mundst\u00fccks durch die mitt\u00f6nende Lufts\u00e4ule des Ansatzrohrs ver\u00e4ndert wird. Die T\u00f6ne der Trompete und des Horns nehmen auch nicht an H\u00f6he mit der L\u00e4nge des Piohrs im umgekehrten Verh\u00e4ltnisse ab, wie bei den Fl\u00f6tenwerken, vielmehr hat die Verminderung oder Vermehrung der L\u00e4nge des Rohrs bei den Trompeten bekanntlich nur einen geringem und untergeordneten Einfluss auf die H\u00f6he des Tons, gerade so wie bei den Zungenpfeifen. Die hiedurch zu erzielende Ver\u00e4nderung des Tons wird bei den Trompeten und H\u00f6rnern durch eingesetzte Einschiebsel, bei den Posaunen durch Ausziehen ihrer verschiebbaren R\u00f6hre bewirkt. Man hat hei den H\u00f6rnern und Trompeten fast so viele Einschiebsel als Tonarten. Dagegen l\u00e4sst sich die H\u00f6he des Tons dieser Instrumente durch zwei andere Mittel wie bei den Zungenpfeifen \u00e4ndern; erstens durch verschiedene Tension der Lippen, mit deren Tension die H\u00f6he des Tons so zunehmen muss, wie wenn man an einer Zungenpfeife mit membran\u00f6ser Zunge die Membran st\u00e4rker spannt; zweitens l\u00e4sst sich der Ton durch Verstopfen gerade so wie bei den Zungenwerken mit membran\u00f6ser Zunge vertiefen.\nDas Horn umfasst hei einem ge\u00fcbten Bl\u00e4ser 3 Octaven, in dieser Folge ohne Stopfen C G, c e g, c d c g h c; die ganze","page":173},{"file":"p0174.txt","language":"de","ocr_de":"174 IV. Buch. Bewegung. III.Alschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nTonfolge mit den durch Stopfen hervorzubringenden T\u00f6nen ist\nCFGHcdefg ah cd e j g a h c. Das Sternchen be-***\u00bb!,** * \u25a0\u00ab deutet, dass der Ton durch Stopfung hervorgebracht wird, h* halbe Stopfung. Die halben T\u00f6ne k\u00f6nnen zumTheil noch durch halbe Stopfung hervorgebracht werden. Da das Hauptmittel Spannung der Lippen durch Muskelcontraction ist, so verliert der Bl\u00e4ser durch lange Anstrengung auf einige Zeit die F\u00e4higkeit. Die Anstrengung ist bei den hohen T\u00f6.ien am st\u00e4rksten, nicht wegen St\u00e4rke des Blasens, sondern wegen Spannung der Lippen.\nDie in neuerer Zeit an den Trompeten und H\u00f6rnern angebrachten, durch Klappen zu verschliessenden Seitenl\u00f6cher haben hier eine ganz \u00e4hnliche Bedeutung wie hei anderen Zungenwerken, den Clarinetten, Hoboen und dem Fagot.\nSchlussbemerkungen \u00fcber die Theorie der Zungent\u00f6ne.\nNachdem die verschiedenen Arten der Zungenwerke, sowohl die mit steif elastischen als die mit membran\u00f6sen elastischen Zungen untersucht worden, ist hier der Ort, auf die Theorie der durch Zungen hervorgebrachten T\u00f6ne zur\u00fcckzukommen. Es handelt sich hier jedoch nicht um die Schwingungen der Luft in dem Ansatzrohr, sondern um die an der einfachen Zunge selbst.\nDa in neuerer Zeit die durch blosse Pulsus von Fl\u00fcssigkeiten auf der Sirene, oder durch schnell folgende St\u00f6sse eines festen K\u00f6rpers, wie durch die St\u00f6sse der Z\u00e4hne eines Rades hervorgebrachten T\u00f6ne bekannt geworden, hat man sich zu der Ansicht geneigt, dass auch die T\u00f6ne der Zungen durch St\u00f6sse der Luft entstehen, indem die Zunge den Austritt der Luft aus dem Rahmen der Zunge bei jeder Schwingung unterbricht. Der Umstand, dass die durch Anstoss oder Zerrung an Zungen ohne Blasen erregten T\u00f6ne klanglos sind, scheint diese Ansicht zu rechtfertigen, indess ist diese Theorie keineswegs erwiesen und mehrere Gr\u00fcnde sprechen entschieden dagegen. Die Er\u00f6rterung dieses Gegenstandes ist f\u00fcr die Theorie der menschlichen Stimme von grosser Wichtigkeit, es fragt sich n\u00e4mlich hier zumal, was beim Tonangeben der Stimme primitiv t\u00f6nt, die B\u00e4nder der Stimmritze oder die Luft.\nW. Weber, dessen classischen Untersuchungen wir eine sichere Kenntniss der Wirkungen in den Zungenpfeifen verdanken , spricht sich bestimmt f\u00fcr jene Ansicht aus. Poggeind. Ann. XVI. 421. Er sagt: Der volle und starke Ton einer isolirt in ihrem Rahmen ohne Ansatz schwingenden metallenen Platte beim Blasen kann nicht von der schwingenden Platte hervorgebracht seyn; denn in diesem Fall w\u00fcrde es nicht n\u00f6thig gewesen seyn, den Ton der Platte durch einen Luftstrom zu erregen, sondern sie w\u00fcrde einen in Hinsicht der H\u00f6he und des Klanges ganz gleichen Ton gegeben haben, wenn sie, ohne in ihrer Lage und Verbindung ge\u00e4ndert zu werden, auf irgend eine andere Weise in Schwingung gesetzt wird, was aber nicht der Fall ist. Denn Weber hat die Platte, w\u00e4hrend sie mit den \u00fcbrigen Theilen des","page":174},{"file":"p0175.txt","language":"de","ocr_de":"1. Bedingungen der T\u00f6ne. Theorie der Zungent\u00f6ne. 175\nInstrumentes verbunden blieb, durch Streichen mit dem Violinbogen in die heftigste Schwingung gesetzt, ohne im Stande zu seyn einen mit jenem vollen und starken irgend vergleichbaren Ton hervorzubringen ; indess finde ich den Ton einer Maultrommel am Munde beim Anschl\u00e4gen und beim Einziehen der Luft gleich. Jener Beweis scheint mir nicht entscheidend, und mir scheinen jedenfalls bei den mernbran\u00f6sen Zungen, die Unterbrechung des Luftstroms oder die St\u00f6sse nur einen untergeordneten Einfluss bei dem Tongeben zu haben, und nur den Ton mehr zu verst\u00e4rken und voller zu machen als ihn zu bilden.\nIch halte die Erkl\u00e4rung der Zungent\u00f6ne der mernbran\u00f6sen Zungen aus pulsus der Luft f\u00fcr unwahrscheinlich aus folgenden Gr\u00fcnden.\n1.\tEs ist kein Grund vorhanden, die T\u00f6ne der einfachen Zungen von den Unterbrechungen des Luftstroms abzuleiten , da die T\u00f6ne, welche die Zungen selbst bei ihren Schwingungen angeben m\u00fcssen, allein zur Erkl\u00e4rung der Zungent\u00f6ne hinreichen. Es ist zwar bemerkt, dass die T\u00f6ne der mernbran\u00f6sen Zungen, welche durch Anstoss bewirkt werden, klanglos sind, und sich auch im Timbre von den Zungent\u00f6nen unterscheiden. Der erste Unterschied l\u00e4sst sich aber hinreichend daraus erkl\u00e4ren, dass der blosse einmalige Anstoss nicht zur Unterhaltung der Schwingungen hinreicht. Was den Unterschied des Timbre\u2019s anbelangt, so ist dieser zwar nicht zu l\u00e4ugnen. Indessen geben auch andere Instrumente T\u00f6ne von verschiedenem Timbre, wenn sic in dem einen Fall durch einmaligen Anstoss, im zweiten Fall durch fortdauernde St\u00f6sse angesprochen werden. Der Ton einer Saite ist z. B. im Klang verschieden, wenn sie durch Zerrung einmal oder durch Streichen mit dem Fidelbogen angeregt wird, und so unterscheiden sich auch die Zungent\u00f6ne, wenn der Anstoss momentan oder dauernd ist. Manche Membranen geben zwar durch Anstoss gar keine T\u00f6ne, wie die Lippen, der Sphincter ani und geben beim Anblasen starke Zungent\u00f6ne. Es k\u00f6mmt jedoch f\u00fcr Entstehung eines Tons nur auf die erforderliche Anzahl der Bebungen an; und aus jener Erfahrung folgt nur, dass die regelm\u00e4ssige Folge der Bebungen an solchen Membranen bloss m\u00f6glich ist, wenn solche schlaffe Membranen beim Stossen durch die Luft auch zugleich einigermassen ausgespannt erhalten werden, was beim blossen Anstoss sogleich wegf\u00e4llt.\n2.\tDie von mir auf den d\u00fcnnen metallischen und noch besser auf mernbran\u00f6sen Zungen ohne Rahmen durch Anblasen mit einem feinen R\u00f6hrchen erzeugten T\u00f6ne lassen sich nicht durch Unterbrechungen des Luftstroms allein erkl\u00e4ren, sind aber im Timbre ganz mit den T\u00f6nen dieser metallischen und membran\u00f6-sen Zungen \u00fcbereinstimmend, wenn sie in einem Rahmen als wirkliche Zungen schwingen. Es liesse sich zwar hier anf\u00fchren, dass auch der Luftstrom aus dem feinen R\u00f6hrchen bei den R\u00fcckschwingungen der Zunge einigermassen gehindert w\u00f6rde. Aber diess kann man schwerlich eine Unterbrechung nennen, da der Luftstrom in dem Maass in anderer Richtung abgeht, als die","page":175},{"file":"p0176.txt","language":"de","ocr_de":"176 IV. Buch. Bewegung. III. Abschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nZunge zur\u00fcckkelirt. Der feine Luftstrom ist vielmehr als fortdauernd wirkendes Anspruchsorgan ganz dasselbe, was der Fidelbogen bei der Saite ist.\n3.\tEs ist auch nicht n\u00f6thig, dass der Rahmen bei den Schwingungen einer Zunge periodisch geschlossen werde; wenigstens bei den membran\u00f6sen Zungen. Selbst bei einer bleibenden Breite der Spalte von 1 Lin. geben die membran\u00f6sen Zungen oft noch klare T\u00f6ne an, und diese T\u00f6ne sind nicht im Timbre verschieden von denjenigen, welche dieselben Zungen bei ganz enger Spalte geben.\n4.\tIst die Erkl\u00e4rung der Zungent\u00f6ne' von den Unterbrechungen des Luftstroms richtig, so m\u00fcssen die T\u00f6ne im geraden Verh\u00e4ltniss mit der Zahl der Unterbrechungen zunehmen, was keineswegs erwiesen ist. Es giebt eine Stellung der Zunge gegen den Rahmen, -wo sie gerade noch einmal so viel Unterbrechungen des Luftstroms bewirkt, als sie selbst Schwingungen macht, wenn sie n\u00e4mlich durch die Oeffnung des Rahmens durchschl\u00e4gt; auf dem Weg durch den Rahmen und wieder zur\u00fcck, unterbricht sie zweimal den Luftstrom; die Zahl dieser Unterbrechungen ist wenigstens doppelt so gross, als wenn die Zunge nicht durchschl\u00e4gt, sondern bloss einschl\u00e4gt, d. h. nur his in die Oeffnung des Rahmens schl\u00e4gt und dann sogleich zur\u00fcckkehrt. Der Ton einer durchschlagenden Zunge m\u00fcsste daher ceteris paribus um eine Octave h\u00f6her seyn, als der Ton derselben Zunge als einschlagenden, was nicht der Fall ist. Man k\u00f6nnte zwar hierauf erwiedern, dass eine durchschlagende Zunge ganze Schwingungsbogen mache, eine vor dem Rahmen schwingende nur halbe Schwingungsbogen mache, indem sie entweder von dem Rahmen selbst oder von dem Strom der Luft aufgehalten werde, so dass die letztere noch einmal so schnell als die erstere schwinge und die Unterbrechungen des Luftstroms bei beiden gleich bleiben; allein bei Untersuchung der Verh\u00e4ltnisse der membran\u00f6sen Zungen zeigen sich wieder Schwierigkeiten. Lege ich gegen eine membran\u00f6se Zunge, die auf dem Ende eines Windrohrs ausgespannt ist, eine feste Platte von Pappe oder Holz, so ist der Ton derselbe, mag die feste Platte gerade der Zunge gegen\u00fcber, d. h. in einer Ebene mit derselben seyn, oder nach einw\u00e4rts gegen das Windrohr gedr\u00fcckt werden. In diesem Fall macht die Zunge so gut ganze Bogen, wie wenn die Zunge in einer Ebene mit der testen Platte liegt. Wird aber die Platte so aufgelegt, dass ihr Rand vor der Ebene der Zunge liegt, so ist der Ton vom Windrohr aus erregt, viel tiefer, oft um das Intervall von c und / tiefer. Mag die feste Platte vor oder hinter der Zunge vorragen, die Schwingungsbogen werden sich gleich bleiben und doch sind die T\u00f6ne verschieden. Dieser Unterschied h\u00e4ngt aber von der verschiedenen Art des Anspruchs der Luft in dem einen und andern Fall und von dem verschiedenen Widerstand ab, den der continuirliche Luftstrom in beiden F\u00e4llen der r\u00fcckkehrend schwingenden Zunge darbietet.\nAus diesen Gr\u00fcnden wird es wahrscheinlich, dass die Zungen nicht durch Unterbrechungen des Luftstroms, sondern durch ihre","page":176},{"file":"p0177.txt","language":"de","ocr_de":"i. Bedingungen der T\u00f6ne. Theorie der Zungen.\n177\nEigenschwingungen t\u00f6nen und dass die der Luft mitgelheil ten St\u00f6sse den Ton nur einigernmssen verst\u00e4rken. Die metallischen Zungen verhalten sich dabei im Allgemeinen wie die Stahe, die mem-Lran\u00f6sen wie die Saiten und Felle, und der Ton entsteht um so leichter, je mehr ein solcher K\u00f6rper noch hei grosser K\u00fcrze Elasticit\u00e4t besitzt. Man hat sich hei dein Studium der Schwingungen gespannter elastischer K\u00f6rper viel zu sehr an die eine Species solcher K\u00f6rper, die Darmsaiten und \u00e4hnliche gehalten. Diese verlieren allerdings hei bedeutender Verk\u00fcrzung mit gleichzeitiger Abspannung fast alle F\u00e4higkeit zu klangvollen Schwingungen. H\u00e4tten abgespannte Saiten noch Elasticit\u00e4t, so w\u00fcrden auch noch ganz kurze Saiten tiefe T\u00f6ne gehen k\u00f6nnen. Andere elastische K\u00f6rper behalten aber hei grosser Abspannung noch Elasticit\u00e4t genug, um regelm\u00e4ssig schwingen zu k\u00f6nnen, wie Kautschuck im trocknen Zustande und elastisches thierisches Gewebe (wie Arterienhaut) im nassen Zustande, und man kann daher an ganz kurzen St\u00fccken solcher K\u00f6rper noch tiefe T\u00f6ne hei geringer Spannung und hohe T\u00f6ne hei starker Spannung, beides sowohl durch Anstoss als Blasen hervorbringen. Die Schwingungen dieser K\u00f6rper \u00e4ndern sich hei gleicher Spannung ganz wie die der Saiten, d. h. nehmen zu im umgekehrten Verli\u00e4ltniss der L\u00e4nge, wie oben gezeigt wurde.\nSo richtig dieser Vergleich ist, so weicht doch ein durch Spannung elastischer K\u00f6rper, wenn er als Zunge schwingt, in mehreren wesentlichen Puncten von einer Saite ab. Nicht bloss darin, dass die Saite heim blossen Anstoss sieh seihst \u00fcberlassen bleibt, beim Anblasen die Zunge aber fortdauernd gestossen, bald inehr, bald weniger gestossen wird, denn auch der Anstoss der Saite durch einen Fidelbogen erneuert sich fortw\u00e4hrend* Das Eigent\u00fcmliche einer Zunge besteht eben darin, dass der anhaltende Stoss hei verschiedener St\u00e4rke Einwirkungen auf die Dauer der Schwingungen der Zunge hat und den Grundton, den die Zunge beim Anstoss giebt, bedeutend ver\u00e4ndert. Ich habe oben gezeigt, dass eine Kautschuckzunge seihst mit einem feinen R\u00f6hrchen ohne allen Rahmen angesprochen, ihren Grundton um einen halben Ton und mehr erhebt, wenn der Anspruch st\u00e4rker wird. Eine Saite t\u00f6nt aber bei starkem einmaligen Anstoss etwas tiefer (siehe oben p. 155.) als bei schwachem einmaligen Anstoss, Diese letztere Wirkung l\u00e4sst sich iheils aus der Ver\u00e4nderung der Saite durch die starke Dehnung erkl\u00e4ren, indem sie l\u00e4nger geworden, nicht sogleich ihren vorigen Zustand wieder annimmt; Iheils k\u00f6mmt auch hier vielleicht ein Her\u00fcberziehen von Theil-chen der Saite, die auf dem Steg liegen, in Betracht. Bei dem Il\u00f6herwerdeu des Tons einer Zunge ist diese Erkl\u00e4rung aber unanwendbar; denn der Erfolg ist gerade der entgegengesetzte wie hei der Saite. Bei einer in einem Rahmen schwingenden mem-bran\u00f6sen Zunge erh\u00f6ht die St\u00e4rke des Blasens den Ton noch mehr, und wie oben gezeigt wurde, um mehrere halbe T\u00f6ne, und hei nassen elastischen, thierischeu Membranen l\u00e4sst sich der Ton, wie ich zeigte, durch starkes Blasen durch die halben T\u00f6ne um eine ganze Quinte in die H\u00f6he treiben. Diese Erh\u00f6hung ist\nMiille.r\u2019s Physiologie. 2r Ktl. \u00cf,","page":177},{"file":"p0178.txt","language":"de","ocr_de":"178 IV. Buch. Bewegung. III. Ahschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nkeine Folge der Bildung von Schwingungsknoten, wie bei einer t\u00f6nenden Lufts\u00e4ule, denn sie erfolgt ganz successiv durch die Intervalle der halben T\u00f6ne, und wenn man successiv st\u00e4rker bl\u00e4st, durch alle Zwischenstufen der halben T\u00f6ne auf heulende Art; sie h\u00e4ngt also nicht von der Zunge zun\u00e4chst, sondern von dem stossenden K\u00f6rper, der Luft ab. Wahrscheinlich k\u00f6mmt die Erh\u00f6hung dadurch zu Stande, dass die Luft bei st\u00e4rkerm Blasen, da sie fortdauernd wirkt, der Zunge eine mehr beschleunigte Bewegung mittheilt, bis diese aus dem Strome gelangt, dagegen bei der R\u00fcckschwingung die Saite fr\u00fcher als bei schwachem Antrieb wieder forttreibt, so dass die Zunge keine vollen r\u00fcckkehrenden Ex-cursionen macht, sondern vor Vollendung derselben wieder abgetrieben wird.\nDie metallischen Zungen verhalten sich zwar dem Anschein nach umgekehrt wie die membran\u00f6sen, indem sie bei schwachem Blasen h\u00f6her t\u00f6nen als bei st\u00e4rkerm Blasen. Weder, Poggend. Ann. XVII. Diess scheint mir indess bloss davon abzuh\u00e4ngen, dass bei schwachem Blasen nicht die ganze L\u00e4nge der Zunge bis zu der Befestigung in Schwingung gesetzt wird. Denn wenn ich die Zunge einer Mundharmonica sehr stark anblase, so erbebt sich der Ton zuletzt wieder ganz merklich, so dass hierin wieder beide Zungenarten \u00fcbereinstimmen.\nEs geh\u00f6rt daher zur Natur der Zungen, dass, obgleich sie sich im Allgemeinen wie die St\u00e4be und Saiten verhalten, sie doch ihre T\u00f6ne nach Maassgabe der Wirkung des ansprechenden K\u00f6rpers, der Luft ver\u00e4ndern, und m\u00fcssen die Zungen hiernach immer als eine besondere Classe der Tonwerkzeuge betrachtet werden, bei denen die Eigenschaften der festen und fl\u00fcssigen elastischen K\u00f6rper zugleich in Betracht kommen.\nDie \u00fcbrigen Tonwerkzeuge zeigen uns nur in einigen Punc-ten Ann\u00e4herungen zu den Zungen, in sofern die T\u00f6ne auch ei-nigermassen von dem stossenden K\u00f6rper abh\u00e4ngig werden, besonders wenn dieser anhaltend wirkt. Eine solche Ann\u00e4herung zeigt sich bei den Saiten, wenn sie anhaltend mit dem Fidelbogen angesprochen werden. Duhamel (L\u2019institut 186.) zeigt, wie man bei einer gewissen F\u00fchrung des Fidelbogens durch Ver\u00e4nderung der Reibung und Schnelligkeit auch tiefere T\u00f6ne als den Grundton erhalten kann. Er will n\u00e4mlich die Secunde, Quarte, Quinte, Duodezime und Quatuordezime unter dem gew\u00f6hnlichen Grundton der Saite erhalten haben. Vergl. Pelisow in Poggend. Ann. XIX. 251. Ein anderes Beispiel entgegengesetzter Art kann ich selbst aus meiner Erfahrung von den Labialpfeifen anf\u00fchren. Man kann bekanntlich durch st\u00e4rkeres Blasen an einer offenen Pfeife die den Zahlen 1, 3, 5, 7, 9 u. s. w. entsprechenden, an einer gedeckten die den Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, 6 entsprechenden T\u00f6ne hervorbringen. Diese T\u00f6ne entstehen durch Bildung von Schwingungsknoten in der Lufts\u00e4ule der Pfeife und geh\u00f6ren nicht hieher. Eine ganz andere Erh\u00f6hung des Tons habe ich aber an hinreichend kleinen Labialpfeifen bemerkt. Stosse ich den Stempel einer einl'\u00fcssigen Pfeife bis auf 2 Zoll ein, so giebt die zweiz\u00f6llige Pfeife bei Verst\u00e4rkung des Blasens vom schw\u00e4chsten bis st\u00e4rksten Anspruch sue-","page":178},{"file":"p0179.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stimme. Slimmorgan des Menschen.\n179\ncessiv durch alle Nuancen alle T\u00f6ne das ganzen Intervalls von c\u2014f, und wende ich eine einz\u00f6llige Pfeife an, so geht das Steigern noch viel h\u00f6her. Bei den Zungen kommen zu der Steigerung der T\u00f6ne durch Verst\u00e4rkung des Blasens noch andere Modificationen der H\u00f6he der T\u00f6ne durch den stossenden K\u00f6rper hinzu, wie z. B. die Ver\u00e4nderung des Tones in der H\u00f6he, je nachdem die Zunge ohne Rahmen durch ein R\u00f6hrchen oder in einem Rahmen durch ein Windrohr angesprochen wird, die Modification der T\u00f6ne durch Ausstossen und Einziehen der Luft, durch die Art des Anspruchs, wie z. B. die T\u00f6ne hei derselben Zunge um einige halbe T\u00f6ne vertieft werden, wenn man das Windrohr mit enger Lip-pen\u00f6tTnung anspricht, dagegen erh\u00f6ht werden, wenn im Windrohr vor der Zunge ein Stopfen liegt, welcher den Durchgang der Luft nur in der Mitte durchl\u00e4sst. Siehe oben p. 170. Alle diese Modificationen lassen sich ohne Zweifel darauf zuriickf\u00fcb-ren, dass die Art der Einwirkung des stossenden K\u00f6rpers auf die Zunge ver\u00e4ndert wird.\nII. Capdel. Von der Stimme, vom Stimmorgan und anderen Tonwerkzeugen der Menschen und Thiere.\nDie vorhergehenden Untersuchungen gehen uns eine Grund-lage, um die Mittel, welche bei der Stimme des Menschen und bei der Bildung anderer T\u00f6ne von Seiten des Menschen und der Thiere mitwirken, richtig zu beurtheilen. Wir werden haupts\u00e4chlich drei Hauptformationen musicalischer T\u00f6ne betrachten.\nI.\tDie Stimme des Menschen und der S\u00e4ugethiere, 2. die Mundt\u00f6ne des Menschen, 3. die Stimme der V\u00f6gel. Das Tongeben geschieht n\u00e4mlich bei diesen drei Arten des T\u00f6nens durch andere H\u00fclfsmittel und an verschiedenem Orte. Die verschiedenen T\u00f6ne der Stimme der S\u00e4ugethiere entstehen im Kehlkopf und werden durch die vor dem Kehlkopf liegenden Theile, durch welche die Luft durchgeht, im Timbre und Ton etwas modificirt. Im Mundpfeifen besitzt der Mensch ein ganz anderes Register von f\u00f6nen, deren Quelle in den Lippen und der Luft der Mundh\u00f6hle liegt. Die Stimme der V\u00f6gel entsteht wieder an einem andern Ort, nicht im obern Kehlkopf, sondern in dem am untern Ende der Luftr\u00f6hre liegenden untern Kehlkopf, an der Theilungsstelle der Luftr\u00f6hre. Die Stimme der w enigen \u00fcbrigen Wirbefthiere unter den V\u00f6geln, welche noch eine Stimme haben, bildet sich wieder im eigentlichen Kehlkopf, wie beim Menschen und den S\u00e4ugethieren ; dahin geh\u00f6rt z. B. die Stimme der Fr\u00f6sche, Kr\u00f6ten u. a. Ausser den allgemein verbreiteten Stimmorganen giebt es noch einzelne Organe zum T\u00f6nen bei gewissen, auch den niederen Thieren, deren Untersuchung als zu weit von unserm Ziele abf\u00fchrend, hier ausgeschlossen wird. Ueber die Stimme des Menschen haben geschrieben: Dodart, mcm. de l\u2019acad. de Paris 1700. 1706. 1707. Fer-rein Ebend. 1741. Magekdie, pr\u00e9cis cl\u00e9ment, de physiol. Biot, trait\u00e9. T. II. p. 190. Vergl. Fechser in Biot\u2019s Experimentalphysik.\nII.\t149. Savart in Magesdie J. de physiol. V. Liscovius Theo-\n12*","page":179},{"file":"p0180.txt","language":"de","ocr_de":"180 IF. Buch. Bewegung. III. Abschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nrie der Stimme. Leipz. 1811. Chladni in Gilb. /Inn. LXX VI. 187. Mayer in Meckel\u2019s Archiv. 1826. Benwati, recherches sur le m\u00e9canisme de la noix humaine. Paris 1832. Muncke in Gehler\u2019s physik. JV\u00f6rterh. VIII. 373. Mayo in Outlines of human physiology. Ch. Bell, Philos. Trans. 1832. 2. Malgaigne, arch. gen. de mcd. 25. Auszug von IIeusinger in Magendie\u2019s Ilandh. d. Physiol. E. Willis, Transact, oj ihr. Cambridge phil. soc. IV. 1833. Bishop in Land. a. Iidinb. philos. Mag. 1836. Leiifeldt, Hiss, de vocis formatione. Berol. 1835. Ueber die Stimme der V\u00f6gel Cuvier, t\u2019crgl. Anat. Bd. III. Savart, Fror. Not. 331. 332.\nI. Von der Stimme des Menschen.\nA. Von dem menschlichen Stimmorgan im Allgemeinen.\nWenn eine Frage in der Erkl\u00e4rung der menschlichen Stimme mit Bestimmtheit sogleich beantwortet werden kann, so ist es die, in welchem Theile der Luftwege die Stimme gebildet wird. Sowohl die Beobachtungen an lebenden Menschen, als die Versuche an Kehlk\u00f6pfen aus menschlichen Leichen zeigen, dass die Stimme in der\tStimmritze\tund weder \u00fcber ihr noch\tunter ihr in der\tLuftr\u00f6hre gebildet wird. Befindet sich eine\tOeffnung in der\tLuft-\nr\u00f6hre eines Menschen oder macht man eine solche bei einem Saugethier, so h\u00f6rt die Stimme auf und kehrt mit der Verschliessung der Oeffnung wieder. Diess ist eine Erfahrung, die sehr oft gemacht worden und fest steht. Dagegen hebt eine Oeffnung \u00fcber der\tStimmritze\tim obern Theil der Luftwege die Stimme\tnicht\nauf.\tMagendie\that sich auch \u00fcberzeugt,\tdass die Stimme\tfort-\ndauert, wenn der Kehldeckel, die oberen Stimmb\u00e4nder und der obere Theil der Cartilagines arytaenoideae verletzt sind. Derselbe Beobachter hat sich an lebenden Thieren, deren Stimmritze blossgelegt wurde, \u00fcberzeugt, dass die Stimmb\u00e4nder, welche die Stimmritze einschliessen, beim Tonangeben in Schwingungen gerathen. Ebenso weiss man, dass die Verletzung der Kehlkopfnerven, von welchen die kleinen Muskeln abh\u00e4ngig sind, welche die Stimmritze ver\u00e4ndern und die Stimmb\u00e4nder spannen, auch die Bildung der T\u00f6ne auf hebt, und dass diese L\u00e4hmung vollst\u00e4ndig ist, wenn beide Kehlkopfnerven auf beiden Seiten verletzt sind. Versucht man am Kehlkopf von menschlichen Leichen durch Anblasen von der Luftr\u00f6hre her T\u00f6ne zu erzeugen, was bei einiger Spannung der Stimmb\u00e4nder und enger Stimmritze dem Unge\u00fcbtesten gelingt, so erfolgen die T\u00f6ne, mag das St\u00fcck der Luftr\u00f6hre, welches als Anspruchsrohr dient, lang oder kurz seyn, mag es ganz fehlen und der Anspruch am untern Ende des Kehlkopfs selbst geschehen. Dergleichen ausgeschnittene Kehlk\u00f6pfe kann man von allen vor der Stimmritze liegenden Theilen befreien. Man kann den Kehldek-kel, die oberen Stimmb\u00e4nder, die Ventrikel zwischen den oberen und unteren Stimmb\u00e4ndern, den grossem obern Theil der Cartilagines arytenoideae Yvegnehmen, wenn nur die Stimmritze zwischen den unteren Stimmb\u00e4ndern noch vorhanden, so giebt das Stimmorgan reine T\u00f6ne beim Anblasen durch die Luftr\u00f6hre, sobald nur die Stimmritze eng ist. Aus allem diesem folgt, dass","page":180},{"file":"p0181.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stimme. Stimmorgan des Menschen.\n181\ndie wesentliche Ursache der Stimme in der Stimmritze und ihrer n\u00e4chsten Begrenzung durch die unteren Stimmb\u00e4nder liegt, dass sich die Luftr\u00f6hre als Windlade eines durch Blasen angesprochenen Tonwerkzeuges, das Rohr vor der Stimmritze aber mit Inbegriff des obern Theils der Kehlkopf holde, zwischen den Ventriculi Morgagni, den unteren und oberen Stimmb\u00e4ndern und dem Kehldeckel bis zur Mund- und Nasen\u00f6ffnung als Ansatzrohr eines Tonwerkzeuges verh\u00e4lt, durch welches der Ton zwar modi-Jicirt, aber nicht erzeugt wird. Hierin unterscheidet sich das Stimmorgan des Menschen und der S\u00e4ugethiere wesentlich von dem der V\u00f6gel. Bei den letzteren wird die Stimme in dem ihnen eigent\u00fcmlichen untern Kehlkopf an der Theilungsstelle der Luftr\u00f6hre erzeugt, der obere Kehlkopf hat keine Stimmb\u00e4nder, an ihm l\u00e4sst sich kein Ton hervorbringen; dagegen t\u00f6nt der untere Kehlkopf der V\u00f6gel, wenn man ihre Luftr\u00f6hre ge\u00f6ffnet oder durchschnitten hat und nach aussen leitet, fort, und durch Anblasen des ausgeschnittenen untern Kehlkopfes durch die Bronchien lassen sieh ebenso T\u00f6ne hervorbringen, wie durch Anblasen des menschlichen Kehlkopfes. Bei den V\u00f6geln sind also nur die Bronchien als Windlade oder Anspruchsrohr zu betrachten; dagegen geh\u00f6rt hier die ganze Luftr\u00f6hre vom untern Kehlkopf an mit dem obern Kehlkopf und der Mundh\u00f6hle und Nasenh\u00f6hle zum Ansatzrohr.\nDie Begrenzungen der Stimmritze, die Stimmb\u00e4nder des Menschen nehmen unsere Aufmerksamkeit zuerst in Anspruch. Sie sind elastisch und durch die Bewegung des Schildknorpels gegen den Ringknorpel durch die Musculi crico-thyreoidei, so wie durch Bewegung der Cartilagines arytenoideae verm\u00f6ge der Muse, crico-arytenoidei postici (hei gleichzeitiger Ann\u00e4herung jener Knorpel durch die Muse, arytenoidei proprii) nach r\u00fcckw\u00e4rts verschiedener Spannung f\u00e4hig; se}7 es, dass die letzteren die Cartilagines arytenoideae fixiren und die ersteren spannen, oder dass diese lixiren und' jene spannen. Je nach dem Grade dieser Spannung wird die Stimmritze l\u00e4nger oder k\u00fcrzer. Die Stimmritze wird enger durch die Ann\u00e4herung der Cartilagines arytenoideae verm\u00f6ge der Musculi arytenoidei proprii, sie wird weiter durch die Entfernung dieser Knorpel verm\u00f6ge der Musculi crico-arytenoidei postici. Die Elasticit\u00e4t der Stimmb\u00e4nder macht dieselben zu regelm\u00e4ssigen Schwingungen nach Analogie der an zwei Enden gespannten Membranen f\u00e4hig (siehe oben p. 150.). Die Elasticit\u00e4t dieser B\u00e4nder r\u00fchrt von ihrer Zusammensetzung aus dem auch an vielen anderen Theilen des thierischen K\u00f6rpers vorkommenden eigenthiimlichen elastischen Gewebe her. Diess Fasergewebe zeichnet sich vor allen \u00fcbrigen nicht bloss durch seine gelbe Farbe, sondern haupts\u00e4chlich durch seine Fasern aus, die einzigen bis jetzt bekannten Fasern, welche nach den Beobachtungen von Lautii (Muell. Areh. 1835. p. 4.) und Scuwahn (Eulenbe\u00e4g, de tela clastica. lierol. 1830. Muell. Arch. 1836. Jahrcsb. XXV.) sich theilen und anastomosiren. Die Structur des elastischen Gewebes verh\u00e4lt sich im Wesentlichen \u00fcberall gleich, wo es vorkommt, im Ligamentum nuchae der S\u00e4ugethiere, in den Liga-","page":181},{"file":"p0182.txt","language":"de","ocr_de":"182 IV. Buch. Bewegung. III. Abschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nmenta flava der Wirbelbogen, in den gelben L\u00e4ngsfasern der Luftr\u00f6hre des Menschen und der S\u00e4ugethiere, in dem Ligamentum stilohyoideuin, im elastischen Bande der Flughaut der V\u00f6gel, im Kehlsack des Pelecans, in den elastischen B\u00e4ndern des Nagelglie-des der Katzen, im elastischen K\u00f6rper, welcher die Ruthe des Strausses kr\u00fcmmt, im elastischen Bande, welches die ausst\u00fclphare Ruthe der Enten und G\u00e4nse, der Rhea americana und der Ca-suare zur\u00fcckzieht. Endlich hat diess Gewebe seine gr\u00f6sste und allgemeinste Verbreitung in allen Classen der Wirbelthiere in der mittlern Haut der Arterien. Auch die chemischen Eigenschaften dieses Gewebes bleiben sich gleich. Es giebt \u00e4usserst schwer und erst bei viele Tage lang fortgesetztem Kochen etwas Leim, wie Eulenberg fand; dieser Leim entfernt sich von dem gew\u00f6hnlichen Leim und n\u00e4hert sich der von mir beobachteten Leimart der Knorpel und Cornea an, welche von Alaun, Essigs\u00e4ure, essigsaurem Bleioxyd ur.d schwefelsaurem Eisenoxyd f\u00e4llbar ist. Poggend. Ann. XXXVIII. Darin stimmt diess Gewebe mit den niederen oder leimgebenden Geweben (Zellgewebe, ser\u00f6ses Gewebe, Haut, Sehnengewebe, Knorpel) \u00fcberein, dass seine saure Aufl\u00f6sung von Cyaneisenkalium nicht gef\u00e4llt wird, w\u00e4hrend die Materie der Gewebe mit eiweissartiger Grundlage von jenem Salze aus ihrer sauren Aufl\u00f6sung gef\u00e4llt wird, wie Berzelius entdeckte. Die Elasticit\u00e4t des elastischen Gewebes ist nach meiner Erfahrung so stark und dauernd, dass alles elastische Gewebe selbst nach tagelangem Kochen und jahrelangem Liegen in Weingeist seine Elasticit\u00e4t nicht verliert.\nDas elastische Gewebe beschr\u00e4nkt sich indess nicht am Kehlkopfe auf die Stimmb\u00e4nder. Schon lange weiss man, dass das Ligamentum hyo-thyreoideuin und crico-thyreoideum medium gelbe elastische B\u00e4nder sind. Das letztere muss auch ohne Wirkung des Musculus crico-thyreoideus die entsprechenden R\u00e4nder des Schildknorpels und Ringknorpels einander gen\u00e4hert halten; daher die R\u00fcckw\u00e4rtsbewegung der Cartilagines arytenoideae durch Muskelwirkung bei dem Spannen der Stimmb\u00e4nder auch ciniger-rnassen diesem Bande entgegenzuwirken hat, und einige Spannung der Stimmb\u00e4nder bei der Fixation der Cartilagines arytenoideae schon allein durch Ann\u00e4herung der vorderen Theile des Ring-und Schildknorpels durch das Ligamentum crico-thyreoideum medium geschieht. Lautu hat indess im Innern des Kehlkopfes eine noch viel gr\u00f6ssere Verbreitung des elastischen Gewebes nachgewiesen. Mein, de L\u2019acad. r. de med. Muell. Arch. 1830. Jahresb. CLVII. Nach Laut\u00ab hat das elastische Gewebe im Kehlkopf die folgende Verbreitung. Die gr\u00f6sste Portion des elastischen Gewebes entspringt von der untern H\u00e4lfte des Winkels des Schildknorpels zwischen der Insertion der Musculi thyreo-arytenoidei. Von da strahlen die Fasern nach abw\u00e4rts, schief r\u00fcckw\u00e4rts, selbst etwas aufw\u00e4rts aus, indem sie eine zusammenh\u00e4ngende Membran bilden, die sich am ganzen obern Rande des Ringknorpels mit Ausnahme der Einlenkungsstelle der Cartilagines arytenoideae befestigt. An der letztem Stelle befestigen sich die elastischen Fasern an die vordere Ecke der Basis der Cartilagines arytenoideae und au ihre","page":182},{"file":"p0183.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stimme. Slirnmorgan des Menschen.\n183\nvordere Kante. Die strahlige elastische Haut zeigt drei Verst\u00e4rkungsb\u00fcndel, ein herabsteigendes (Lig. crico-thyreoideum medium), die anderen sind die Lig. thyreo-arytenoidea inferiora. Die Membran bildet auch die oberen Stimmb\u00e4nder; die oberen und unteren Stimmb\u00e4nder h\u00e4ngen durch eine den MoRGAGNischen Ventrikel deckende, \u00e4usserst d\u00fcnne Schiebt elastischen Gewebes zusammen. Auch das Lig. hyo-thyreoideum laterale ist elastisch, und dasselbe Gewebe befindet sich im Lig. thyreo-epiglotticum, hyo-epiglotticum und glosso-epiglotticum. Rechnet man hierzu noch die elastischen L\u00e4ngsfasern an dem membran\u00f6sen Theil der Luftr\u00f6hre und an den Bronchien, so erh\u00e4lt man einen Begriff von der grossen Ausdehnung der zur Mitschwingung und Resonanz geeigneten W\u00e4nde in den Umgebungen des Stimmorganes.\nUnsere n\u00e4chste Aufmerksamkeit nehmen sofort die m\u00f6glichen Formen der Stimmritze und ihre wirklichen heim Tonangeben in Anspruch. Nach den Untersuchungen von Lauth kann die Stimmritze im Allgemeinen folgende verschiedene Formen annehmen. Die Stimmritze ist im Zustande der Ruhe ausser dem Tongehen lanzenf\u00f6rmig. Bekanntlich erweitert sie sich heim Einathmen, verengert sich beim Ausathmen. Die Seiten der Stimmritze sind hinten durch die innere Fl\u00e4che und den vordem Fortsatz der Basis der Cartilagines arytenoideae, vorn und im grossem Theile durch die Stimmb\u00e4nder gebildet, die sich an jenem vordem Fortsatz der Basis der Cartilagines arytenoideae befestigen. Der hintere Theil der in ganzer L\u00e4nge offenen Stimmritze betr\u00e4gt bei einer Stimmritze von 11 Linien L\u00e4nge 4, der vordere 7 Linien. Bei der gr\u00f6ssten Erweiterung der Stimmritze (Muse, crico-aryt. post.) bildet sie eine Raute, deren hinterer Winkel abgeschnitten ist. Die Seitenwinkcl entsprechen den genannten Forts\u00e4tzen der Cartilagines arytenoideae, deren Distanz von einander bis auf 5 J Linien gebracht werden kann. Im Zustande der Enge kann die Stimmritze eine dreifache Form haben, entweder n\u00e4hern sich bloss die vorderen Forts\u00e4tze der Basen der Cartilagines arytenoideae durch Wirkung der Musculi crico-arytenoidei laterales, und indem sich jene ber\u00fchren, ist die Stimmritze doppelt; oder die verengerte Stimmritze ist in ihrer ganzen L\u00e4nge offen. Endlich kann sich der hintere Theil der Stimmritze durch Ann\u00e4herung der Cartilagines arytenoideae bis zu ihren vorderen Forts\u00e4tzen, woran die Stimmb\u00e4nder befestigt sind, ganz schliessen. Diess geschieht durch die vereinte Wirkung der Musculi arytenoidei proprii und crico-arytenoidei laterales; in diesem Fall ist die Stimmritze auf den Zwischenraum ihrer elastischen und scharfen R\u00e4nder beschr\u00e4nkt. Ihre Form ist in diesem Fall vorn und hinten zugespitzt; ihre L\u00e4nge und Weite ist in diesem Fall auch sehr verschieden, je nachdem die Stimmb\u00e4nder zugleich gespannt sind oder nicht. Die Abspannung und Verk\u00fcrzung der Stimmb\u00e4nder geschieht durch die Musculi thyreo-arytenoidei. Letztere verengern auch den Raum \u00fcber und unter den unteren Stimmb\u00e4ndern.\nDie Form der Stimmritze beim Tonangeben im lebenden Menschen ist noch nicht ganz genau bekannt. Man weiss aller-","page":183},{"file":"p0184.txt","language":"de","ocr_de":"184 IV. Buch. Bewegung. III. Abschn. Von d. Stimme u. Sprache.\ndings, dass sie hierbei verengt ist. Da nur der vordere Theil der Stimmritze, welcher von elastischen und scharfen R\u00e4ndern eingeschlossen ist, der primitiven Schwingung f\u00e4hig ist, der hintere Theil der Oeffnung also nicht in Betracht kommt, so k\u00f6nnte die Oeffnung des hintern Theils, indem sie den ganzen Fl\u00e4cheninhalt der Stimmritze bedeutend vermehrt, den Anspruch nur st\u00f6ren, Mayo hat die Stimmritze hei einem Menschen beobachtet, Outlines of human physiology. Bond. 1833. Ein Mann hatte beim Versuch zum Selbstmord den Kehlkopf gerade \u00fcber den Stimmb\u00e4ndern durchschnitten; auf der einen Seite war Stimmband und Cartilago arytenoidea durch die schiefe Wunde verletzt. Beim ruhigen Athmen war die Stimmritze dreieckig. Als einmal ein Ton gelang, wurden die Stimmb\u00e4nder fast parallel und die Stimmritze linienf\u00f6rmig. Nach der Figur scheint der hintere Theil der Stimmritze nicht eben geschlossen gewesen zu seyn. Ein Anderer hatte sich \u00fcber dem Schildknorpel in den Schlund geschnitten, so dass man den obern Theil der Cartilagines arytenoideae sehen konnte. Beim Tonungeben standen diese so, wie wenn die Stimmritze ganz geschlossen wurde, Kempelen (Mechanismus d. menschl. Sprache. TV\\en 17.91. 81.) giebt an, dass die Stimmritze nicht \u00fcber tV> h\u00f6chstens jg offen seyn d\u00fcrfe, wenn noch die Stimme an-spreeben soll, und Rudolphi (Physiol. II. 1. 370.) best\u00e4tigt es aus der Beobachtung eines Mannes, dem bei fehlender Nase die Ra-\u00e7henh\u00f4hle so frei lag, dass er das Qeffnen und Schliessen der Stimmritze gut sehen konnte.\nMagendie rechnet zur Stimmritze nicht den Raum zwischen den Cartilagines arytenoideae, welche nach ihm, zufolge Beobachtungen an Thieren, beim Tonangeben dicht aneinander liegen. Auch nach Malgaigne ist der hintere Theil der Stimmritze beim Tonangeben geschlossen. Diess mag wohl in der Regel so seyn und am ausgeschnittenen Kehlkopf des Menschen spricht der Ton nicht leicht an, wenn der hintere Theil der Stimmritze nicht geschlossen ist. Indessen ist es nach meiner Erfahrung nicht absolut zum Tonangeben n\u00f6tbig, und ich erhielt bei einiger Spannung der Stimmb\u00e4nder und enger Stimmritze in, seltenen F\u00e4llen auch noch einen Ton bei ge\u00f6ffneter ganzer L\u00e4nge der Stimmritze.\nB. Thatsachen \u00fcber die Ver\u00e4nderung der T\u00f6ne des S/immorgans und ihre Ursachen.\n(Nach eigenen Beobachtungen.)\nDurch Versuche an lebenden Thieren ist bis jetzt zur Erkl\u00e4rung der Stimme des Menschen noch nicht viel geleistet worden, obgleich die Bem\u00fchungen von Magendie und Malgaigne auch in dieser Hinsicht ihr Verdienst haben. Magendie legte bei einem Ilunde die Stimmritze durch einen Einschnitt zwischen Schildknorpel und Zungenbein bloss, und beobachtete, dass die Stimmb\u00e4nder bei tiefen T\u00f6nen in ganzer L\u00e4nge schwingen , w\u00e4hrend der zwischen den Cartilagines arytenoideae gelegene Theil der Stimmritze geschlossen ist. Bei sehr hohen T\u00f6nen sollen die Schwingungen. nur im hintersten Theile der Stimmbau-","page":184},{"file":"p0185.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stimma. Stimmorgan des Menschen.\n1S5\ntier bemerklich seyn und die Luft nur durch den hintersten Theil der Stimmritze austreten. Es ist schwer einzusehen, wodurch die Verschliessung der Stimmritze in ihrem vordem Theile bewirkt werden solle. Am menschlichen Kehlkopf l\u00e4sst sich auch eine solche Art des Durchstr\u00f6mens der Luft nicht bewirken, dagegen l\u00e4sst sich sehr gut die Stimmritze von hinten her, hei gleichbleibender Spannung, etwas verk\u00fcrzen durch st\u00e4rkeres Aneinanderdr\u00fccken der vordem Forts\u00e4tze (Vocalforts\u00e4tze) der Basen der Cartilagines arytenoideae, an -welchen die Stimmb\u00e4nder befestigt sind. Die meisten Fr\u00fcchte l\u00e4sst wohl zun\u00e4chst nur ein sorgf\u00e4ltiges Erfahren am ausgeschnittenen Kehlkopfe des Menschen seihst erwarten. Im Anf\u00e4nge ist das Experimentiren am ausgeschnittenen Kehlkopfe des Menschen ungemein schwer, alles ist beweglich, wie soll man den Theilen die n\u00f6thige gleichbleibende Spannung, den Knorpeln eine bestimmte und gleiche Stellung gehen, wie es doch zur Genauigkeit der Versuche noting ist, und wie ist diese Stellung leicht f\u00fcr bestimmte Zwecke zu \u00e4ndern ? Mit einigen Kunstgriffen kommt man indess doch zum Zweck. Zun\u00e4chst kommt es darauf an, am Kehlkopf einen fixen Punct zu erhalten. Am Kehlkopf ist die vordere Wand gr\u00f6sstentheils und der obere Theil der hintern Wand beweglich. Der Schildknorpel kann gegen den Ringknorpel, die Cartilagines arytenoideae gegen den Ringknorpel bewegt werden. Durch beides wird die Spannung der Stimmb\u00e4nder ver\u00e4ndert. Da die Cartilagines arytenoideae die beweglichsten Theile sind, durch deren verschiedene Stellung am leichtesten Irrthum in die Versuche kommen kann, so suche ich zuerst ihre Stellung lix zu machen. Der Kehlkopf, mit einem St\u00fcck der Luftr\u00f6hre wird mit der hintern Wand auf ein Brettchen gelegt, die Cartilago cricoidea darauf fest angebunden, und an dieses Brettchen auch die Cartilagines arytenoideae befestigt. Diess geschieht am besten folgen-dermassen. Ich stecke durch den untern Theil der Cartilagines arytenoideae quer einen Pfriemen durch, auf welchem sie zun\u00e4chst neben einander fixirt sind. Das Durchstechen muss sehr vorsichtig geschehen, dass beide B\u00e4nder hernach hei der Spannung der Stimmb\u00e4nder vom Schildknorpel aus gleich gespannt werden. Auch muss das Aufstecken der Cartilagines arytenoideae auf den Pfriemen so geschehen, dass, wenn sie gegen einander gedr\u00e4ngt werden, die vordem oder Vocalforts\u00e4tze an den Basen dieser Knorpel sich ber\u00fchren. Auf diesem Pfriemen l\u00e4sst sich den Knorpeln jede beliebige Stellung gegen einander gehen. Sie k\u00f6nnen von einander etwas entfernt seyn, so dass auch der hintere, nicht tongehende Theil der Stimmritze offen ist, man kann sie auch dicht zusammenr\u00fccken und in dieser Lage, hei Verschliessung des hintern nicht tongehenden Theils der Stimmritze, auf den Pfriemen durch Schn\u00fcre unausweichlich befestigen. Wenn der so vorbereitete Kehlkopf auf dem Brettchen mit seiner hintern Wand befestigt ist, muss auch die von den Cartilagines arytenoideae gebildete hintere obere AVand des Kehlkopfs an das Brettchen befestigt werden ; was leicht ist, indem nun der Pfriemen, auf welchem die Cartilagines arytenoideae stecken, durch Schn\u00fcre an das Brettchen unbeweglich angezogen wird. 1st die hintere Wand","page":185},{"file":"p0186.txt","language":"de","ocr_de":"186 IV. Buch. Bewegung. III.Abschn. Von d. Stimme u. Sprache.\ndes Kehlkopfs auf diese Art fest, so lasst sich den Stimmb\u00e4ndern jede beliebige und genau messbare Spannung durch Anziehen an der vordem von der Cartilago thyreoidea gebildeten Wand geben. Hiebei ist es n\u00fctzlich, um einen Widerstand von Seiten der Befestigung der Cartilago thyreoidea an die Cartilago cricoi-dea aufzuheben, vorsichtig diese ganze Befestigung zu trennen. Durch eine an den Winkel des Schildknorpels dicht \u00fcber der Insertion der Stimmb\u00e4nder angeheftete Schnur kann man nun den Schildknorpel anziehen und die Entfernung der vordem beweglichen Wand von der hintern festen Wand des Kehlkopfs so weit vergr\u00f6ssern, als die Stimmb\u00e4nder zwischen beiden W\u00e4nden es zulassen; in dem Maass als dies geschieht, werden die Stimmb\u00e4nder gespannt. Die feine Schnur leite ich \u00fcber eine Rolle und verbinde mit ihr eine Waagschale; durch Einlegen von Gewichten in die Schale kann ich die Spannung der Stimmb\u00e4nder genau messbar ver\u00e4ndern. Da der Kehldeckel, die oberen Stimmb\u00e4nder und Ventriculi Morgagni, die Santorinischen Knorpel, die Ligamenta ary-epiglottica und selbst der obere Theil des Schildknorpels bis an die Insertionsstelle der Stimmb\u00e4nder zum Ton-angeben nicht wesentlich n\u00f6thig sind, so schneide ich alle diese Theilc bis dicht \u00fcber die unteren Stimmb\u00e4nder weg, um besser die Stimmb\u00e4nder beim T\u00f6nen und Schwingen, so wie die Stimmritze beobachten zu k\u00f6nnen. Es ist ohnehin n\u00f6thig, zuerst dasjenige kennen zu lernen, was allein durch die unteren Stimmb\u00e4nder bewirkt werden kann; sp\u00e4ter soll der Einfluss der ob\u00e9ra Kehlkopfh\u00f6hle \u00fcber den unteren Stimmb\u00e4ndern untersucht werden. In dem Luftr\u00f6hrenst\u00fcck steckt ein Rohr von IIolz zum Anblasen. Die Versuche sind von mir mittelst dieser Vorrichtung \u00f6fter wiederholt worden. Die Thatsachen, die dabei beobachtet wurden, sind folgende.\nI.\tDie unteren Stimmb\u00e4nder geben bei enger Stimmritze volle und reine T\u00f6ne beim Anspruch durch Blasen von der Luftr\u00f6hre aus. Diese T\u00f6ne kommen den T\u00f6nen der menschlichen Stimme sehr nahe, und haben eine grosse Aehnlicbkcit mit den T\u00f6nen, welche sich an nassen, aus elastischer Arterienhaut gebildeten, auf das Ende eines Rohrs aufgespannten B\u00e4ndern durch Blasen hervorbringen lassen. Der beste k\u00fcnstliche Kehlkopf wird auf die eben angegebene Weise gebildet. Nasse B\u00e4nder von elastischer Arterienhaut bestehen aus demselben Gvwebe wie die Stimmb\u00e4nder selbst, und haben dieselben physicalischen Eigenschaften. Man kann ihnen andere trockene B\u00e4nder von Kaut-schuck substituiren, die T\u00f6ne sind nicht sehr verschieden. Die B\u00e4nder werden an zwei Enden gespannt, schliessen aber sonst das Ende der R\u00f6hre bis auf die Stimmritze. Nasse elastische B\u00e4nder haben den Vorzug vor den Kautschuckb\u00e4ndern, weil jene wie das menschliche Stimmorgan, auch noch wenn die B\u00e4nder sehr klein sind, gute T\u00f6ne geben, so dass der Unterschied wegf\u00e4llt, welchen Cagniabd la Tour (Magendie, Physiol.) zwischen den Kautschuckb\u00e4ndern und Stimmb\u00e4ndern beobachtete.\nII.\tDiese T\u00f6ne unterscheiden sich von denjenigen, welche man erhalt, wenn die Ventriculi Morgagni, die oberen Stimmb\u00e4nder und","page":186},{"file":"p0187.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stimme. Stimmorgan des Menschen.\n187\nder Keiddeckel noch vorhanden sind, dass sie weniger stark sind, indem diese Theile sonst beim Anspruch, so wie die hintere Wand der Luftr\u00f6hre, stark mitschwingen und resonniren.\nIII.\tAm leichtesten und jedesmal sprechen die Stimmhiinder an, wenn der hintere Theil der Stimmritze zwischen den Carti/agines arytenoideac geschlossen ist. Doch ist diess nicht absolut nothwen-dig, und \u00f6fter, aber nicht jedesmal, spricht die Stimme auch hei ganz offener Stimmritze an, wenn die Oeffnung nur eng genug ist. In dieser Hinsicht muss ich Magendie und Malgaigne einiger-massen widersprechen. Aber diese T\u00f6ne sind schwer hervorzubringen und schw\u00e4cher.\nIV.\tHaben die Stimmb\u00e4nder eine gleichbleilende Spannung, so bleibt sich der Ton in der H\u00f6he gleich, mag der hintere Theil der Stimmritze offen seyn oder nicht; doch ist es noting, dass die Ver-schliessung des hintern Thcils der Stimmritze durch Aneinanderpressen der Cartilagines arytenoideae durchaus nicht weiter als bis zur Insertionsstelle der Stimmb\u00e4nder gehe. Man sieht hieraus schon deutlich, dass die Stimmb\u00e4nder es sind, deren Schwingungen den Ton bestimmen, und dass nicht die Luft, indem sie durch die Stimmritze durchgepresst wird, das primitiv Schwingende ist. Denn sonst m\u00fcsste der Ton hei einer Stimmritze von ganzer L\u00e4nge viel tiefer seyn, als hei einer Stimmritze von der L\u00e4nge der Stimmb\u00e4nder.\nV.\tSchliesst der hintere Theil der Stimmritze zwischen den Cartilagines arytenoideae nicht ganz, so dass die Vocalforts\u00e4tze an den Basen der Cartilagines arytenoideae zwar sich ber\u00fchren, aber ganz hinten eine kleine Oeffnung \u00fcbrig bleibt, so entsteht durch letztere kein zweiter Ton, zuweilen brodelt nur die Luft durch die enge Oeffnung zwischen den Knorpeln und der sie verbindenden h\u00e4utigen Wand durch.\nVI.\tBei gleicher Spannung der Stimmb\u00e4nder hat die gr\u00f6ssere oder geringere Enge der Stimmritze keinen wesentlichen Einfluss auf die H\u00f6he des Tons. Der Ton spricht nur schwer an, w'enn die Stimmritze weiter ist, und ist weniger klangvoll, indem man zugleich das Ger\u00e4usch des Durchstr\u00f6mens der Luft vernimmt. Diess verh\u00e4lt sich ganz so wie am k\u00fcnstlichen Kehlkopf von Kautschuckb\u00e4ndern. Siehe oben p. 152. Hiebei zeigt sich zum zweitenmal, dass die Luft nicht das primitiv Schwingende seyn kann (wie nach der Theorie von Dodart und LiscoVius, nach welcher die B\u00e4nder bloss mitschwingen sollen); denn sonst m\u00fcsste die Tiefe des Tons mit der Weite der Stimmritze zunehmen. Die Stimmb\u00e4nder verhalten sich also in dieser Hinsicht gleich wie die membran\u00f6sen und metallischen Zungen, hei welchen eine weitere Oeffnung nur den Anspruch erschwert, nicht aber die H\u00f6he des Tons ver\u00e4ndert. Siehe oben p. 145. Dass eine weitere Stimmritze nicht tiefere T\u00f6ne bedinge, hat Ferrein schon richtig heohach tet.\nVII.\tSind die Stimmb\u00e4nder ungleich gespannt, so geben sie in der Tiegel doch nur einen Ton, und nur in seltenen F\u00e4llen zwei T\u00f6ne au. Hier verhalten sich die Stimmb\u00e4nder auch wieder wie die Kautschuckbiindcr am k\u00fcnstlichen Kehlkopf. Siche oben p. 153,","page":187},{"file":"p0188.txt","language":"de","ocr_de":"188 IV. Buch. Bewegung. III.Ahschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nEs ist dort auch gezeigt worden, dass der Ton hei ungleich gespannten Kautschuckb\u00e0ndern von einem der B\u00e4nder herr\u00fchren kann und dass oft das andere schwach mitschwingt; dass dagegen nicht immer Compensation der verschiedenen Stimmungen beider B\u00e4nder eintritt. Man kann auch am Kehlkopf \u00f6fter eine einseitige Schwingung eines Stimmbandes bemerken, besonders dann, wenn sie nicht ganz in gleicher Ebene liegen. Die Thatsache, dass bei zwei ungleich gespannten Stimmb\u00e4ndern, wie bei ungleich gespannten Kautschuckb\u00e0ndern, \u00f6fter nur das eine t\u00f6nt, und dass sie in freilich seltenen F\u00e4llen zwei T\u00f6ne geben, beweist abermals, dass die Stimmb\u00e4nder das Primitive beim Tonangeben sind und nicht die Luft es ist.\nVIII.\tBei gleichbleibender Spannung der Stimmb\u00e4nder entsteht zuweilen statt des Grundtons derselben ein viel h\u00f6herer Ton, besonders wenn sie beim Schwingen in einem Thcile ihrer L\u00e4nge anstossen. Diess ist aus der Entstehung von Schwingungsknoten zu erkl\u00e4ren, und Aehnliches zeigt sich zuweilen an Kautschuckb\u00e4ndern.\nIX.\tEs k\u00f6nnen sowohl T\u00f6ne hervorgebracht werden, wenn die Stimmb\u00e4nder eine enge Oeffnung zwischen sich haben, als wenn sie sich ganz ber\u00fchren. Im letztem Fall erfolgen die T\u00f6ne besonders leicht bei ganz schlaffen Stimmb\u00e4ndern. In diesem Fall sind die Schwingungen der Stimmb\u00e4nder ungemein stark, indem der Durchgang der Luft erschwert ist und sie st\u00e4rker abgetrieben oder auseinander getrieben werden. Diess ist ein ganz \u00e4hnliches Verhalten wie bei den membran\u00f6sen Zungen von Kautsehuck. Denn der Ton entsteht hier \u00f6fter, wenn die B\u00e4nder bis zur Ber\u00fchrung aneinander liegen, ja sogar und noch besser als im letzten Fall, wenn ein Band mit seinem Rande \u00fcber dem andern liegt, oder wenn nur ein Band angewandt und dieses mit seinem Rande \u00fcber den Rand einer d\u00fcnnen Holzplatte gespannt wird. Es ist dasselbe Verhalten wie bei den nicht einschlagenden Zungen, indem die Oeffnung von Moment zu Moment geschlossen und der Luft-slrom stossvveise unterbrochen wird.\nX.\tDie T\u00f6ne, welche entstehen, wenn die Stimmb\u00e4nder bei sehr geringer Spannung einander ber\u00fchren, unterscheiden sich im Klang von denjenigen, die bei enger Oeffnung der Stimmritze erzeugt werden. Im erstem Falt ist der Schall st\u00e4rker und voller, im letztem Fall schw\u00e4cher und ged\u00e4mpfter.\nXI.\tHaben die Stimmb\u00e4nder eine bestimmte L\u00e4nge und gleich-bleibende schwache Spannung, so ist der Ton in der H\u00f6he nicht verschieden, m\u00f6gen die Stimmb\u00e4nder sich ber\u00fchren oder eine enge OefJ-nung zwischen sich haben.\nXII.\tAuch im ganz, schlaffen und nicht gespannten Zustande der Stimmb\u00e4nder lassen sich noch ganz gut T\u00f6ne hervorbringen, wenn die Stimmritze zugleich sehr verk\u00fcrzt, wird, indem man sie durch Zusammendr\u00fccken der Lippen mit der Pincette in ihrem hintern Theile schliesst; bei einer L\u00e4nge der Spalte von zwei Linien lassen sich dann noch T\u00f6ne hervorbringen, wenn die Stimmb\u00e4nder erschlafft sind und sich mit ihren R\u00e4ndern ber\u00fchren. Diese Eigenschaft der Stimmb\u00e4nder l\u00e4sst sieb an trocknen elastischen Platten, wie Kaulschuckstreifeu, nicht erl\u00e4utern, wohl aber an nassen B\u00e4n-","page":188},{"file":"p0189.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stimme. Stimmorgan des Menschen.\n189\nJerri von elastischem Gewebe, wie von Arterienhnut. Das elastische Gewebe verliert \u00fcbrigens auch im schlaffen, nicht gespannten Zustande seine elastische Gegenwirkung gegen den Strom der Luft nicht ; denn der durchgehende Strom der Luft dehnt, wenn der Durchgang sehr kurz ist und die Stimmb\u00e4nder aneinander liegen, beim Durchdrungen die schlaffen B\u00e4nder so sehr aus, dass sie wieder elastische Gegenwirkung bekommen, so dass durch die Vibrationen mit sehr grossen Excursionen die Stimmritze abwechselnd ge\u00f6ffnet und geschlossen wird. Es ist indess nicht einmal noting, dass die Elasticit\u00e4t der durch den Luftstrom ausgedehnten Stimmb\u00e4nder so gross werde, dass sie r\u00fcckschwingend die Stimmritze schliessen. Sie k\u00f6nnen auch ohne periodischen Schluss der Stimmritze im vom Luftstrom ausgedehnten Zustande schwingen, so wie eine schwach gespannte memhran\u00f6se Zunge von Knutschuck, ohne hei den itiickschwingungen die gerade Linie zu erreichen.\nXIII.\tTiefe T\u00f6ne lassen sich hei kurzer, ja sehr kurzer Stimmritze sowohl als bei langer Stimmritze, hohe T\u00f6ne hei langer sowohl als kurzer Stimmritze erzeugen, wenn nur die Stimmb\u00e4nder hei langer Stimmritze f\u00fcr hohe T\u00f6ne zugleich st\u00e4rker gespannt sind, und wenn nur die Stimmb\u00e4nder f\u00fcr tiefe T\u00f6ne bei sehr kurzer Stimmritze mit ber\u00fchrenden Lippen ganz erschlafft sind. Man kann durch Zusammendr\u00fccken der Lippen der Stimmritze mittelst einer Pincette in dem Raume vor den Vocalforts\u00e4tzen der Cartilagines aryle-noideae der Stimmritze ohne Ver\u00e4nderung der Spannung jede beliebige Verk\u00fcrzung gehen. Man kann ferner durch Zur\u00fcckdr\u00fccken des Schildknorpels den Stimmb\u00e4ndern jede beliebige Abspannung geben. Durch Anwendung dieser Vorrichtungen gelangt man zu dem vorerw\u00e4hnten Resultate.\nXIV.\tDie T\u00f6ne ver\u00e4ndern sich in der H\u00f6he, wenn die ganzen Stimmb\u00e4nder vom Winkel der Carti/ago thyreoidea bis zu den fest aneinander liegenden Vocalforts\u00e4tzen der Cartilagines arytenoideae ohne Ber\u00fchrung schwingen, mit zunehmender Spannung nicht, ganz wie die Saiten und an zwei Enden gespannten Membranen. Sie bleiben hei zunehmender Spannung meist um einige halbe oder ganze T\u00f6ne unter der nach der Theorie geforderten durch die Spannung bedingten H\u00f6he. Niemals werden sie h\u00f6her als die nach der Theorie geforderten T\u00f6ne; es sey denn, dass die Stimmb\u00e4nder ungleich gespannt sind, sich in einem Theil ihrer L\u00e4nge hei der Schwingung ber\u00fchren und secund\u00e4re Schwingungsknoten erzeugen, wTo-bei unerwartete, sehr hohe T\u00f6ne nach Analogie der Flageolet-t\u00f6ne entstehen k\u00f6nnen. Bekanntlich nehmen hei den Saiten die T\u00f6ne oder Schwingungsmengen bei gleicher L\u00e4nge der Saiten im geraden Verh\u00e4ltnisse zu, wie die Quadratwurzeln der spannenden Kr\u00e4fte. Siehe oben p. 136. D. h. wird eine Saite durch 4 Loth Gewicht gespannt und gieht sie dann c, so giebt sie bei; l\u00df Loth Gewicht die Octave von c, hei G4 Loth Gewicht die zweite Octave von c. Vermittelst der p. 1S5. beschriebenen Vorrichtung lassen sich vergleichende Proben an den Stimmb\u00e4ndern anstellen. Man erh\u00e4lt zwar hei quadratischer Zunahme der Gewichte auf der Wageschaale in der Regel keine Octaven,","page":189},{"file":"p0190.txt","language":"de","ocr_de":"190 IV. Buch. Bewegung. III. Alschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nsondern meist T\u00f6ne, die um einen halben, ganzen, anderthalb, zwei ganze oder drei ganze T\u00f6ne unter den Octaven sind, aber die Analogie ist doch immer auffallend genug, und es lasst sich wenigstens so viel durch dergleichen Versuche zeigen, dass die durch Zunahme der Spannung im Verh\u00e4ltnis von 4, 16, 64 hervorgebrachten T\u00f6ne sich einigermassen der Reihe der Zahlen 1, 2, 4 n\u00e4hern. Was allein schon beweist, dass die T\u00f6ne des menschlichen Stimmorgans, sofern sie an der Stimmritze und ihrer Begrenzung entstehen, denen der Saiten und membran\u00f6sen Zungen analog sind. Die Versuche gelingen nur dann, wenn die Stimmb\u00e4nder m\u00f6glichst gleich gespannt sind und ihre Ber\u00fchruug an aliquoten Theilen ihrer L\u00e4nge bei der Schwingung mit h\u00f6herer Spannung vermieden werden kann. Aber eine grosse Schwierigkeit liegt in der gleichen Spannung der Stimmb\u00e4nder und in der Vermeidung dieser Ber\u00fchrung der Stimmb\u00e4nder in aliquoten Theilen ihrer L\u00e4nge. Die letztere bringt statt der geforderten T\u00f6ne \u00f6fter weit h\u00f6here, schreiende Flageolett\u00f6ne hervor. Manche Kehlk\u00f6pfe zeigten sich bei der Unm\u00f6glichkeit dieses pl\u00f6tzliche Uebergehen bei st\u00e4rkerer Spannung in andere Register zu vermeiden, zu den Versuchen ganz unbrauchbar; am besten sind im Allgemeinen m\u00e4nnliche Kehlk\u00f6pfe bei gr\u00f6sserer L\u00e4nge der Stimmb\u00e4nder. Man muss die Versuche \u00f6fter wiederholen, um einen solchen Fall zu finden, wo sich die schreienden ungefor-derten T\u00f6ne vermeiden lassen. Ich f\u00fchre hier mehrere Beispiele von Kehlk\u00f6pfen an, an welchen die Versuche am g\u00fcnstigsten ausfielen. Ein Uebelstand ist, dass sich die B\u00e4nder durch Gewichte nicht gut in ganz gerader Richtung spannen lassen, ohne dass andere Theile einigen Widerstand leisten. Bei dem Ausspannen der Stimmb\u00e4nder von der Cartilago thyreoidea aus wirkte das elastische Gewebe zwischen Cartilago thyreoidea und cricoi-dea nach einer Seite hin hindernd, und bewirkteeinen Abzug der Spannung; man kann diess elastische Gewebe durchschneiden, dann wirkt noch immer das Gelenk zwischen Cartilago cricoi-dea und thyreoidea hindernd; man kann auch diese Gelenkverbindung l\u00f6sen, aber auch dann bleiben die T\u00f6ne bei st\u00e4rkerer Spannung fast immer unter den geforderten T\u00f6nen, wenn die Flageolett\u00f6ne vermieden werden. Die Spannung geschah in den als Beispiele anzuf\u00fchrenden Versuchen in etwas verschiedenen Directionen, bald gerade in der Richtung der L\u00e4nge der Stimmb\u00e4nder, bald in einer Richtung, die ein wenig vocoder r\u00fcckw\u00e4rts von dieser Richtung abwich, um die Breite der Abweichungen bei solchen Versuchen kennen zu lernen. Je nach dieser verschiedenen Richtung, in welche die durch Gewichte gespannte Schnur wirkt, ist nat\u00fcrlich auch der Grundton der B\u00e4nder ein wenig verschieden. Ein anderer Uebelstand liegt in der Unm\u00f6glichkeit, einen immer gleich starken Anspruch bei der Spannung der Stimmb\u00e4nder durch Blasen zu erhalten. Die T\u00f6ne steigen aber in der H\u00f6he bei st\u00e4rkerm Blasen. Am zweckm\u00e4ssigsten nimmt man jedoch zur Basis der Vergleichung nur diejenigen T\u00f6ne, die sich bei jeder Spannung durch den allerschw\u00e4chsten Anspruch des Blasens ergeben, oder die Grundt\u00f6ne der Stimmb\u00e4nder.","page":190},{"file":"p0191.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stimme. Stimmorgan des Menschen.\n191\nI. Versuch. Grurulton der Stimmb\u00e4nder bei 4 Loth Gewicht Spannung c.\nSpannung. T\u00f6ne.\t\t\tLoth 4 c\tLoth 16 a\tLoth 64 gis\nII.\tVersuch.\tSpannung\t4\t16\t64\n\t\tT\u00f6ne\tcis\tT\ttiis \u2014 a\nm.\tVersuch.\tSpannung\t4\t16\t64\n\t\t\t\t\t\u2014\t=\n\t\tT\u00f6ne\tg is\tcis\tC\nIV.\tVersuch.\tSpannung\t4\t16\t64\n\t\tT\u00f6ne\ta\t(1\tC\nV.\tVersuch.\tSpannung\t4\t16\t64\n\t\tT\u00f6ne\t(iis\tfis\t8\nVI.\tVersuch.\tSpannung\t4\t16\t64\n\t\tT\u00f6ne\tals\tgis\t8\nVII.\tVersuch.\tSpannung\t4\t16\t64\n\t\tT\u00f6ne\td\tC\ta\nVIII.\tVersuch.\tSpannung\t4\t16\t64\n\t\tT\u00f6ne\tdis\th\ta\nIX.\tVersuch.\tSpannung\t4\t16\t64\n\t\tT\u00f6ne\tS\tg\t\u00a7r f\u00eeie l>e\u00eei\u00bblen\n\t\t\t\t\tOctavcn unrein.\nDie T\u00f6ne wurden jedesmal an einem gut gestimmten Clavier von einer zweiten Person bestimmt.\nXV. Die vom Kehlkopf isolirten und gespannten Stimmb\u00e4nder verhalten sich nur ann\u00e4hernd wie die Sailen, mit denen die isolirt ohne Rahmen durch Luftstrum schwingenden membran\u00e4sen Zungen nach p. 151. \u00fcber einst iranien. Nach der oben angegebenen Methode , an frei gespannten Kautsehuckb\u00e4ndern ohne Rahmen Schwingungen und T\u00f6ne durch den freien Luftstrom durch ein feines R\u00f6hrchen hervorzubringen, ist es nicht schwer, auch ein ganz isolirtes, frei stehendes und gespanntes Stimmband durch Blasen zum T\u00f6nen zu bringen. Ich schneide ein Slimm-band so aus, dass vorn mit ihm ein St\u00fcck vom Winkel der Cartilago thyreoidea, hinten ein St\u00fcck der Carlilago arytenoi-dea in Verbindung bleibt. Das eine Ende wird dann auf einem Brett fixirt, an das. andere ein Faden angebunden und dieser \u00fcber eine Rolle geleitet; der Faden kann durch Gewichte in einer Wageschale angezogen werden. Blase ich dann mittelst 'eines feinen R\u00f6hrchens gegen den Rand des Stimmbandes, so-entsteht sein Grundton, schwach und klanglos. Auch in diesem.","page":191},{"file":"p0192.txt","language":"de","ocr_de":"192 IV. Buch. Bewegung. III. Ahsclm. Von d. Stimme u. Sprache.\nFall blieben die T\u00f6ne unter den nacb der Theorie geforderten Zahlen. Ein Stimmband gab bei 16 Loth Gewicht Spannung ais an, wurde das Gewicht auf 4 Loth reducirt, so fiel sein Grundton auf d; wurden wieder 16 Loth Gewicht aufgelegt, so gab cs wieder ais an.\nXVI. Durch Ver\u00e4nderung der Spannung in gleicher Direction lassen sich die T\u00f6ne am Kehlkopf ohngefiihr im Umfang von zwei Octaoen ver\u00e4ndern, hei st\u00e4rkerer Spannung entstehen unangenehme, h\u00f6here pfeifende oder schreiende T\u00f6ne. Wenn es nicht darauf ank\u00f6mmt, die Stimmb\u00e4nder durch Gewichte, welche in der Richtung der Blinder seihst ziehen, zu spannen, wie in den vorher erl\u00e4uterten F\u00e4llen, so l\u00e4sst sich die Spannung am leichtesten auf dieselbe Art, wie es von der Natur selbst geschieht, ver\u00e4ndern, n\u00e4mlich durch Herabziehen des Schildknorpels gegen den Ringknorpel, wenn die Cartilagines arytenoideae fixirt sind. Diese Art von Spannung ist hebelartig. Der Hebel ist der Schildknorpel, das Hypomochlion des Hebels die seitliche Gelenkverbindung des Schildknorpels und Ringknorpels. Auf diese Art sind die folgenden Versuche angestellt. Die Cartilagines arytenoideae werden wie vorher zuerst auf einem Pfriemen fixirt, aneinander gebunden, so dass bloss die Stimmritze zwischen den B\u00e4ndern \u00fcbrig bleibt. Dann werden sie an ein schmales Brettchen angebunden, auf welchem die Luftr\u00f6hre fixirt ist. Das Brett wird senkrecht an einem Gestell befestigt; am vordem Winkel des Schildknorpels, gerade \u00fcber der Befestigung der Stimmb\u00e4nder ist der Faden mit der senkrecht herabh\u00e4ngenden kleinen Wageschale angeheftet. Werden mehr Gewichte eingelegt, so r\u00fcckt der Schildknorpel gegen den Ringknorpel herab, und der Raum, der von dem Ligamentum crico-thyreoideum medium ausgef\u00fcllt wird, wird enger; in demselben Grade werden die Stimmb\u00e4nder gespannt. Man ahmt hierbei die Wirkung der Musculi crico-thyreoidei nach. Auch am lebenden Menschen wird der Raum zwischen Ringknorpel und Schildknorpel heim Singen vom tiefsten bis h\u00f6chsten Ton immer enger, wie Jeder sich an sich selbst \u00fcberzeugen kann, wenn er die Spitze des Fingers tief in diese L\u00fccke legt. Bei den gleich zu erw\u00e4hnenden Versuchen reichte bei den tieferen T\u00f6nen gegen ein halbes Loth Gewicht hin, den Ton um einen halben Ton zu erh\u00f6hen, bei st\u00e4rkerer Spannung wurde mehr und zuletzt sogar 3 Loth erfordert, um eine Ver\u00e4nderung von einem halben Ton hervorzubringen. Nat\u00fcrlich wirkt das Gewicht verschieden in dem Maass, als sich die Stellung des Schildknoi pels ver\u00e4ndert, ausserdem gehen bei fortdauernder Anspannung der B\u00e4nder auch kleine Ver\u00e4nderungen ihrer Elasticit\u00e4t vor sich. Zur Grundlage der Vergleichung wurden nur die beim schw\u00e4chsten Anblasen h\u00f6rbaren T\u00f6ne genommen; bei st\u00e4rkerm Blasen erh\u00f6ht sich der Ton; hieraus ergiebt sich zugleich, dass die Bestimmung des Grundtons der B\u00e4nder bei einer bestimmten Spannung nicht ganz genau seyn kann; doch glaube ich f\u00fcr gewiss annehmen zu k\u00f6nnen, dass die hierdurch entstehenden Fehler nur weniger als einen halben Ton betragen k\u00f6nnen, da man jedesmal nur die tiefsten T\u00f6ne annahm. Im Ganzen gleichen sich","page":192},{"file":"p0193.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stimme. Stimmorgan des Menschen.\n193\nsolche Fehler aus, und auch die Unreinigkeit des einen oder andern Tons hei den angewandten Gewichten, hei denen man es bewenden licss, war f\u00fcr das Ohr eines S\u00e4ngers, der die T\u00f6ne jedesmal am Clavier bestimmte, nicht gross. Die beiden Versuche wurden nach einander an demselben Kehlkopf gemacht. Die ausserordentliche H\u00f6he, welche durch Spannung hervorgebracht wurde, war um so merkw\u00fcrdiger, als der Kehlkopf ein m\u00e4nnlicher war.\nGewichte.\t\tT\u00f6ne.\tII. Versuch.\tGewichte.\t\tT\u00f6ne.\n4 Loth\t\tais\t\tA Loth\t\til\n1\t({\tn\t\t1\t\u00ab\te\nn\t((\te\t\tn\t\u00ab\teis\n2\tC(\teis\t\t2\t\u00ab\tl\u00ef\n2'\t<(\td\t\t2-i-\t\u00ab\tdis\n9JL ^10\t((\tdis\t\t3\t\u00ab\te\n3\t<(\te\t\t34\t\u00ab\t1\nH\t\u00ab\tj_\t\t4\t\u00ab\tfis\n4\t\u00ab\tJlS\t\t44\t\u00ab\tg +\n\t\u00ab\tg\t\t5\t\u00ab\tgis\n5\t\u00ab\tgis\t\tFL 1\t<(\ta\n5j\t\u00ab\ta\t\tG\t\u00ab\tais '\n6\t\u00ab\tals\t\t64\t\u00ab\tTi\n6|\t\u00ab\th\t\t\t\t\u2014\n\t\t\u2014\t\t' .\t\u00ab\tC\n7\t\u00ab\th \u2014 c\t\t\t\t=r\n\t\t\u2014\t\t*1 0\t(C\teis\nu\t\u00ab\tc\t\t9\t((\t7\ns\t\u00ab\teis\t\t10\t\u00ab\tdis\n\t<(\td\t\t11\t\u00ab\te\n9f7\u00f6\t((\tdis\t\t12\t\u00ab\tf\n\u00abhV\t\u00ab\te\t\t13\t\u00ab\tiis\n1 J _Z_ lJ10\t((\t1_\t\t15\t<(\tg\n13\t\u00ab\tJis\t\t17*\t\u00ab\tgis\n15\t\u00ab\tg\t\t18l\t\u00ab\ta\n17\t((\tgis\t\t20\t\u00ab\tais\n19\t((\ta\t\t22\t(t\tT\n22\t((\tais\t\t\t\t\u2014\n\t\t\t\t26\t\u00ab\tC\n25\t\th\t\t\t\t!\t\t\n\t\trrrr\t\t29\t\u00ab\teis\n28\t\tC\t\t\t\t=\n\t\tz=z\t\t32\t\u00ab\td\n31\t\u00ab\teis\t\t\t\t==\n\t\t\u2014\t\t37\t\u00ab\tdis\n35\t\u00ab\td\t\t\t\tKein Ton\n37\t((\tdis\t\t\t\tmehr.\n\t\tKein Ton\tmehr.\t\t\t\nM ii II er*5 Physiologie,\tBd, la\tJ 3","page":193},{"file":"p0194.txt","language":"de","ocr_de":"194 l V. Buch. Bewegung. III. Ahschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nNach dom ersten Versuch hatten sieh die Stimmb\u00e4nder nur um so viel ver\u00e4ndert, dass sie bei ' Loth Gewicht statt ais vielmehr h gaben. Es geht aus diesen Versuchen hervor, dass ohn-gef\u00e4hr 1 Pfund b\u00fcrgerl. Gewicht Muskelkraft die T\u00f6ne im Umfang von 2 Octaven hervorbringen kann.\nXVII. Ist der hintere Theil der Stimmritze nur fest geschlossen, und sind die. Cartilagmes arytenoideae fxirt, so dass die. Stimm blinder bloss durch die Elasticitiit des Ligamentum crico-t/iyreoideum medium ganz schwach gespannt sind, so lassen sich noch tiefere T\u00f6ne hervorbringen, wenn die von diesem Band bewirkte Spannung aufgehoben und eine noch gr\u00f6ssere Abspannung und g\u00e4nzliche Erschlaffung der Stimmb\u00e4nder bewirkt wird. Man bewirkt in diesem Fall die noch st\u00e4rkere Abspannung durch einen mit Gewichten beschwerten Faden, der von dem Winkel des Schildknorpels ah r\u00fcckw\u00e4rts \u00fcber eine Rolle geht und also den Schildknorpel den tixirten Cartilagines arytenoideae n\u00e4hert. Dieser Mechanismus erl\u00e4utert die Wirkung des Musculus thyreo -arytenoideus. Der Kehlkopf ist senkrecht aufgestellt und man bl\u00e4st ihn von unten durch ein gekr\u00fcmmtes Rohr an. Rei diesen Versuchen m\u00fcssen immer Mehrere zugegen seyn; Einer spricht an, Einer legt die Gewichte auf die Wageschale, Einer bestimmt die T\u00f6ne auf dem Clavier. In dem Reispiele, welches ich anf\u00fchre, war der Ton, von dem man ausging, ais bei f-5 Loth Gegengewicht Abspannung. Bei zunehmenden Gewichten der Abspannung sanken die T\u00f6ne folgendermassen :\nT\u00f6ne: dis d cis\nLoth :\nh ais a c und g'/s e dis d cis 77.\nnacheinander\n\\ 3_4 _4_ 4 1 4 7_ OJ2 04 O _\u00df O 8\t0 5 O 8\n_\t_\t110 A10 a2 A 1 0\t_ 1\u00d4 ^10 *10 *10 \u00b010 \u00b0]'0\u2019\nAuf diese Art wurden also durch immer st\u00e4rkere Abspannung der Stimmb\u00e4nder verm\u00f6ge Gegenspannung in der Art der Wirkung des Musculus thyreo - arytenoideus die tiefsten Basst\u00f6ne der Bruststimme erreicht.\nXVIII. Man kann auf dem ausgeschnittenen Kehlkopf bei sehr schwacher Spannung der Stimmb\u00e4nder zwei ganz verschiedene Register von T\u00f6nen hervorbringen; T\u00f6ne, im Allgemeinen tiefer, welche mit der Bruststimme die vollkommenste Aehnlichkeit haben, andere im Allgemeinen h\u00f6her und die h\u00f6chsten, welche im Klang ganz der Eids ei stimme gleichen. Diese verschiedenen T\u00f6ne k\u00f6nnen bei edier bestimmten gleichen Spannung hervorgebracht werden. Zuweilen spricht der Ton der Bruststimme, zuweilen hei derselben Spannung derjenige der Fistelstimme an. Bei einiger Spannung der Stimmb\u00e4nder sind die T\u00f6ne immer vom Klang der Fa/setstimme, mag man schwach oder stark blasen. Bei grosser Abspannung sind die T\u00f6ne die der Bruststimme, mag man schwach oder stark blasen. Bei sehr schwacher Spannung h\u00e4ngt es von der Art des Blasens ab, ob der eine oder andere Ton erfolgt; der Falsett on erfolgt leichter bei ganz schwachem Blasen. Beide T\u00f6ne k\u00f6nnen ziemlich weit auseinander liegen, selbst um eine ganze Octave. Zu diesen Versuchen ist es zweckm\u00e4ssig, m\u00e4nnliche Kehlk\u00f6pfe zu nehmen. Der hintere Theil der Stimmritze muss wie immer durch die oben beschriebene Vorrichtung verschlossen, und die Cartilagines arytenoideae und der ganze Kehlkopf lixirt seyn. Sind","page":194},{"file":"p0195.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stimmt:. Stimmorgan des Menschen.\n195\ndie Cartilagines arytenoideae senkrecht fixirt, so reicht die blosse Spannung der Stimmb\u00e4nder durch das Ligamentum crico-thy-reoideum medium hin, um die hier erw\u00e4hnten Ph\u00e4nomene zu bewirken; spannt man weiter k\u00fcnstlich, so endigen keine Brustt\u00f6ne mehr. Dass die Stimmb\u00e4nder bei den Brustt\u00f6nen schlaff, bei den Falsett\u00f6nen gespannt sind, ist von Liscovius zuerst entdeckt; indess l\u00e4sst sich bei einem gewissen Grade der Abspannung bei verschiedenem Anspruch sowohl ein Brustton als ein Falsetton hervorbringen, und auch bei den Brustt\u00f6nen h\u00e4ngt die H\u00f6he nicht von der Enge der Stimmritze, sondern von dem grossem oder geringem Grade von Abspannung der B\u00e4nder ab, wie ich durch viele Versuche erprobt und durch das Beispiel XVII. erl\u00e4utert habe. Die Ursache der Brust- und Falsett\u00f6ne liegt also noch in etwas ganz anderm als dem von Liscovius entdeckten Umstand.\nXIX. Haben die Stimmb\u00e4nder eine so geringe Spannung oder einen so geringen Grad von Abspannung, dass man durch verschiedene Art des Anspruchs Brustt\u00f6ne und Falsett\u00f6ne darauf hervorbringen kann, so kann man sich weiter \u00fcberzeugen, dass die Falsett\u00f6ne keine solche Flageolett \u00f6ne wie die der Saiten sind, welche bei Schwingungen a/if/uoter Theile der L\u00e4nge der Saiten entstehen; die Stimmb\u00e4nder k\u00f6nnen in beiden F\u00e4llen, bei dem hohem Falsetton und dem tiefem Brustton, in ganzer L\u00e4nge schwingen und man sieht es deutlich. Der wesentliche Unterschied beider lieg ist er besteht darin, dass bei den Falsett\u00f6nen bloss die feinen R\u00e4nder der Stimmb\u00e4nder, bei den Brustt\u00f6nen die ganzen Stimmb\u00e4nder lebhaft und mit grossen Excursionen schwingen. Diese Thatsacbe ist zuerst von Leh-feldt beobachtet. Gottfr. Weber (Caecilia I. 81.) hat die Vergleichung der Falsett\u00f6ne mit den Flageolett\u00f6nen der Saiten besonders hervorgehoben, und die Falsett\u00f6ne als durch Schwingungen der B\u00e4nder mit Schwingungsknoten entstehend angesehen. Diese Erkl\u00e4rung l\u00e4sst sich zwar, wie man sieht, nicht festhalten ; indessen ist doch die Entstehung der Falsett\u00f6ne nicht ganz un\u00e4hnlich. Sie entstehen durch Theilung der B\u00e4nder in der Breite oder Schwingung nur eines Theils der Breite der B\u00e4nder, n\u00e4mlich des Randtheils. Nat\u00fcrlich kann ein Band von einiger Breite sehr verschiedener Art der Schwingung beim Anblasen f\u00e4hig seyn. Bald schwingt der Rand, dann wird der \u00fcbrige Theil der Membran bloss vom Luftstrom ausgedehnt, bald schwingt die ganze Membran. Bei den Falsett\u00f6nen, wo der feine Rand der Stimmb\u00e4nder schwingt, kann man wegen der geringem Ex-< ursionen der Schwingungen meist sehr scharf noch die Spalte tier Stimmritze unterscheiden; bei den Brustt\u00f6nen sind die Excursionen so stark, dass der Schimmer der Schwingungen beider B\u00e4nder sich vermischt. Wesentlich ist aber nicht bloss, dass die ganzen B\u00e4nder schwingen, auch die angrenzende Membran vor den unteren Stimmb\u00e4ndern, welche mit diesen zusammenh\u00e4ngt und von dem untern st\u00e4rksten Theil des Musculus thy-reo-arytenoideus bedeckt ist, schwingt heftig mit sammt diesem Muskel. Die Brustt\u00f6ne vertiefen sich um so mehr, als mau den Schildknorpel den senkrecht feststehenden Cartilagines arytenoi-\n13 *","page":195},{"file":"p0196.txt","language":"de","ocr_de":"106 IV. Buch. Bewegung. III. Ahschn. Von d. Stimme u. Sprache.\ndeae n\u00e4hert, wie in dem Versuch p. 194., wo der tiefste Ton mit 11 erreicht wurde. Bei weiterer Abspannung sprach die Luft nicht mehr an. Durch successive Entfernung des Schildknorpels nach vorn, ohne dass jedoch die Stimmb\u00e4nder einigermassen st\u00e4rker gespannt werden, erh\u00e4lt man eine ganze Reihe von Basst\u00f6nen an einem guten m\u00e4nnlichen Kehlkopf, wenigstens im Umfang einer Octave vom tiefsten m\u00f6glichen Basston. Weiter kann man die Bruststimme auf diese Art nicht erh\u00f6hen; sie springt sonst in die Fistelstimme \u00fcber, die bei einiger Spannung der Stimmb\u00e4nder allein m\u00f6glich ist. Dass die Stimmb\u00e4nder in so abgespanntem Zustande immer noch starke T\u00f6ne geben, wird begreiflich dadurch, dass sie durch die Ausdehnung vom Luftstrom immer wieder einige Tension erhalten, wie es auch an Kautschuck-b\u00e4ndern der Fall ist. Die h\u00f6heren Brustt\u00f6ne waren nie ganz leicht an einem ausgeschnittenen Kehlkopf m\u00f6glich. Da der Ton bei einigermassen zunehmender Spannung der Stimmb\u00e4nder sogleich in die Fistelstimme \u00fcberspringt, so muss man diese st\u00e4rkere Spannung hei der Erzielung h\u00f6herer Brustt\u00f6ne jedenfalls vermeiden. Dagegen giebt es zwei Mittel, durch welche sich der auf die vorher angezeigte Weise erhaltene h\u00f6chste Brustton hei einer bestimmten L\u00e4nge und Abspannung der Stimmb\u00e4nder noch sehr erh\u00f6hen l\u00e4sst. Das eine Mittel ist das st\u00e4rkere Blasen, wodurch die successive Erh\u00f6hung bis zu einer Quinte nicht schwer ist; die h\u00f6heren auf diese Art erreichten Brustt\u00f6ne sind unangenehm schreiend und ger\u00e4uschvoll. Das zweite Mittel besteht in der Verengerung des n\u00e4chsten Raumes unter den unteren Stimmb\u00e4ndern. Dieser Raum und seine W\u00e4nde sind \u00fcberhaupt f\u00fcr die Theorie der Brustt\u00f6ne von grosser Wichtigkeit. Man ist bisher gar nicht achtsam darauf gewesen; schon der Umstand, dass die W\u00e4nde dieser Stelle zun\u00e4chst unter den unteren Stimmb\u00e4ndern einige Linien hoch seitlich von einer dicken Lage Muskelfleisch, dem untern Theil des Musculus thyreo-arytenoideus, ausgekleidet werden, muss auf seine AVichtigkeit aufmerksam machen. Es ist bekannt, dass dieser Raum an Enge zunimmt, je mehr er sich der Stimmritze n\u00e4hert, indem er zuletzt in sie \u00fcbergeht. Um den Einfluss dieser Stelle auf die Ver\u00e4nderung der Brustt\u00f6ne zu bemerken, nehme man an einem m\u00e4nnlichen Kehlkopf alles durch einen Querschnitt bis \u00fcber die unteren Stimmb\u00e4nder weg, mache die Carf ilagines arytenoideac auf die fr\u00fcher beschriebene Weise fest, schliesse den hintern Theil der Stimmritze bis an die Vocalforts\u00e4tze der Cartilagines arytenoideae auf die angezeigte Weise fest zu und pr\u00e4parire dann das Muskelfleisch des Musculus thyreo-arytenoideus zu den Seiten der unteren Stimmb\u00e4nder und weiter nach abw\u00e4rts bis auf die innere Haut des Kehlkopfs ab, wo sie den trichterf\u00f6rmig verengerten Vorraum der Stimmritze auskleidet. Die Membran ist auch noch einigermassen elastisch und h\u00e4ngt oben mit dem Gewebe der Stimmb\u00e4nder innig zusammen. Diese ganze Membran des trichterf\u00f6rmigen Vorraums der Stimmritze schwingt bei den Brustt\u00f6nen mit der ganzen Dicke und Breite der unteren Stimmb\u00e4nder mit. Wird dieser Trichter in seinem weiten, nach unten sehenden","page":196},{"file":"p0197.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stimme. Stimmorgan des Menschen.\n197\nTheil seitlich verengert, die Stimmritze also in der Richtung ihrer Tiefe von oben nach unten vergr\u00f6ssert, so nehmen die Brustt\u00f6ne ceteris paribus an H\u00f6he zu; durch diese Verengerung kann man auch das Uebergehen der Bruststimme in die Falsetstimme mehr als durch irgend etwas anderes verh\u00fcten. Die Verengerung wird, ohne die Stimmb\u00e4nder selbst zu dr\u00fccken, durch zwrei Pl\u00e4ttchen, z. B. platte Scalpelstiele bewirkt, die man convergirend von beiden Seiten so tief als m\u00f6glich gegen die Seiten der Kehl-kopfinembran einige Linien unter den unteren Stimmb\u00e4ndern eindr\u00fcckt. Eine \u00e4hnliche Wirkung m\u00fcssen am lebenden K\u00f6rper die unteren Tlieile der Musculi thyreo-arytenoidei haben, welche wie muscul\u00f6se Lippen an den Seiten dieses Isthmus liegen. Die Theorie dieser Wirkung ergiebt sich aus den Untersuchungen \u00fcber die membran\u00f6sen Zungen, s. oben p. 170., wo gezeigt wurde, dass einStopfen im Windrohr dicht vor der membran\u00f6sen Zunge, mit enger, mittlerer Oelfnung den Ton der Zunge h\u00f6her macht, als er bei der bestimmten L\u00e4nge des Windrohrs ohne den Stopfen seyn w\u00fcrde.\nDieser Muskel ist aber auch noch in anderer Hinsicht von Wichtigkeit; er kleidet nicht bloss den verengerten Zugang zur Stimmritze aus und wirkt als Obturator dieser Stelle des Windrohrs, sondern er geht auch zur Seite der Stimmb\u00e4nder, mit deren \u00e4usseren Fasern er innigst verwebt ist, ferner zur Seite der Moa-GAGNi\u2019schen Ventrikel her, und kann daher bei seiner Wirkung die mit den Stimmb\u00e4ndern mitschwingenden Membranen, ja sie selbst von aussen d\u00e4mpfen, wodurch, wie wir bei den Kautschuck-zungen sahen, eine Erh\u00f6hung des Tons entsteht. S. oben p. 155. Endlich kann dieser Muskel auch die Tension der Stimmb\u00e4nder dadurch ver\u00e4ndern, dass sich seine Fasern in den \u00e4ussern Umfang der Stimmb\u00e4nder, wie neulich Lauth zeigte, einweben, was ich best\u00e4tigt sehe. Verk\u00fcrzt sich dieser Muskel, so muss selbst ein schlaffes Stimmband, wie es f\u00fcr die tiefen Brustt\u00f6ne seyn muss, etwas straffer durch die Verk\u00fcrzung werden. Diese Wirkung des Muskels auf die schlaffen Stimmb\u00e4nder ist \u00e4hnlich, wie die des Sphincter oris auf die Tension der Lippen beim Trompetcn-blasen. Man sieht, dass die jedesmalige Elasticit\u00e4t der Stimmlippen nicht bloss von der Ausspannung der Stimmb\u00e4nder nach vorn und hinten, sondern auch von dem Grade der Tension ihres \u00e4ussern muscul\u00f6sen Umfanges abh\u00e4ngig ist. Die Stimmlippen beschr\u00e4nken sich nicht auf die elastischen B\u00e4nder, sie sind nach innen elastisch bandartig, nach aussen muscul\u00f6s.\nMan kann die Wirkung dieses Muskels auch durch seitliches Zusammendr\u00fccken des Schildknorpels (der nicht verkn\u00f6chert sevu darf) ersetzen und hierdurch kann man die Brustt\u00f6ne so hoch treiben, als es \u00fcberhaupt leicht der menschlichen Stimme m\u00f6glich ist. Sind die Stimmb\u00e4nder abgespannt, so werden die Fai-sett\u00f6nc dabei ganz vermieden,\nEin Kehlkopf gab bei der gr\u00f6ssten Abspannung der Stimmb\u00e4nder durch R\u00fcckw\u00e4rtsbewegung der Carlilago tliyreoidea bei lixirten Cartilagincs arylenoideae den Brustton c. Durch geringere Abspannung und st\u00e4rkeres' Blasen liessen sich die Brustt\u00f6ne bis /,","page":197},{"file":"p0198.txt","language":"de","ocr_de":"198 IV. Huch. Bewegung. III. Abschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nalso im Umfang einer Octave steigern, Diess war die Grenze der Brustt\u00f6ne, welche auf diese Weise erhalten werden konnten, wurde nun aber der Kehlkopf seitlich zusammengedr\u00fcckt in der Gegend der Stimmb\u00e4nder und unter dieser Gegend, so wurden die weiteren Brustt\u00f6ne mit Leichtigkeit hervorgebracht und der Brustton stieg um so h\u00f6her, je mehr die Zusammendr\u00fcckung wuchs. Auf (\u00fceseArt wurde wieder eine ganze Octave Brustt\u00f6ne\nm\u00f6glich bis c. Hier war eine un\u00fcbersteiglicbe Grenze und die Zusammendr\u00fcckung des Schildknorpels hatte den h\u00f6chsten Grad erreicht. Bemerkenswerth ist noch, dass bei dieser Zusammendr\u00fcckung die Fistelt\u00f6ne ganz ausgeschlossen wurden. Es scheint daher, wenn man die Wirkung der Zusammendr\u00fcckung des Kehlkopfs von den Seiten auf die Stimmb\u00e4nder f\u00fcr eine Nachahmung der Wirkung des M. thyreo-arytenoideus ansehen will, dass gerade dieser Muskel, indem er den Stimmb\u00e4ndern eine muscul\u00f6se Tension ertheilt, und indem er den Aditus glottidis inferior verengt, die Falsetstimme ausscldiesst, die sonst schon ziemlich tief m\u00f6glich ist. An dem vorhererw\u00e4hnten Kehlkopf z. B. war der erste m\u00f6gliche Falsetton ais vor c und von da an weiter, dennoch\nwurden alle Fistell\u00f6ne von c bis c durch die st\u00e4rkere Zusammendr\u00fcckung des Kehlkopfs ausgeschlossen, und die h\u00f6chsten Brustt\u00f6ne hei immer mehr zunehmender Zusammendr\u00fcckung noch bis\nc m\u00f6glich. Die Theorie der Brustt\u00f6ne ist demnach diese:\n1.\tDie B\u00e4nder schwingen in ganzer Breite, auch die mit ihnen verbundenen Membranen und der Muse, thyreo-arytenoideus.\n2.\tDie tiefsten Brustt\u00f6ne werden erhalten bei gr\u00f6sster Abspannung der Stimmb\u00e4nder durch R\u00fcckw\u00e4rtsbewegen des Schildknorpels.\n3.\tBei so grosser Abspannung sind die Stimmb\u00e4nder nicht allein ganz ungespannt, sondern im Zustande der Buhe auch runzelig und faltig; aber sie werden durch das Blasen ausgedehnt und dieses giebt ihnen die zum Schwingen n\u00f6thige Tension.\n4.\tIndem man die Abspannung geringer werden l\u00e4sst und dem Schildknorpe! erlaubt, sich nach vorn zu begeben oder dem Zuge des elastischen Ligamentum crico-thyreoideum medium nachzugeben, steigen die Brustt\u00f6ne bis gegen eine Octave.\n5.\tBei der mittlern ruhigen Stellung des Schildknorpels und der Cartilagines arytenoideae, wenn die Stimmb\u00e4nder weder gespannt noch gefaltet sind, hat der Kehlkopf die Disposition zu seinen leichtesten mittleren Brustt\u00f6nen. (Zwischen den mittleren und tiefsten Brustt\u00f6nen liegen die der gew\u00f6hnlichen Sprache.)\n6.\tDie zweite Octave tritt schon, indem aufw\u00e4rts entsprechende Fistelt\u00f6ne neben ihr liegen, mit diesen in Collision , letztere werden vermieden und die Brustt\u00f6ne bis zur letzten Grenze gesteigert durch Zusammendr\u00fcckung der Stimmb\u00e4nder von den Seiten und Verengerung des Aditus glottidis inferior verm\u00f6ge des Musculus thyreo-arytenoideus, dann auch wieder, wie schon vorher, durch st\u00e4rkeres Blasen.\n7.\tBei den Brustt\u00f6nen k\u00f6mmt aussei den Slimmhundern","page":198},{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stimme. Stimrnorgan des Menschen.\n199\nauch die muscul\u00f6se Tension der Stimmlippen durch den Musculus thyreo-arytenoicleus in Betracht.\n8. Bei den Falsett\u00f6nen schwingt bloss der innere oder Rand-theil der Stimmb\u00e4nder; sie h\u00e4ngen in Hinsicht der H\u00f6he von der Spannung der Stimmb\u00e4nder ah.\nAA. Der Kehldeckel, die oberen Stimmb\u00e4nder, die Morgagni -scheu Ventrikel, die Gaumenbogen, kurz, alle cur den unteren Stimmb\u00e4ndern hegenden Theile sind weder zur Bildung der Brustt\u00f6ne, noch der False!t\u00f6ne n\u00f6thig, wie sich deutlich genug aus diesen Versuchen ergiebt.\nXXI. Die auf weiblichen Kehlk\u00f6pfen leicht her vor zu bring end en 'L \u00fcne sind im Allgemeinen h\u00f6her. Doch lassen sicli auch tiefe T\u00f6ne bei g\u00e4nzlicher Abspannung der Stimmritze und Ann\u00e4herung ihrer R\u00e4nder bis zur Ber\u00fchrung selbst bei kurzer Stimmritze hervorbringen. Die Stimmb\u00e4nder der weiblichen Kehlk\u00f6pfe sind im Allgemeinen viel k\u00fcrzer als die der m\u00e4nnlichen, hievon ist haupts\u00e4chlich die h\u00f6here Stimme der Weiber abzuleiten; so d\u00fcrften die Register der m\u00e4nnlichen Stimmen (Bass, Tenor), und der weiblichen Stimmen (All, Sopran) haupts\u00e4chlich und primitiv von der verschiedenen L\u00e4nge der Stimmb\u00e4nder abzuleiten seyn, obgleich der verschiedene Umfang des Kehlkopfes und die St\u00e4rke seiner W\u00e4nde auch einen grossen Antheil hat. Bilden die W\u00e4nde einen schwachen und kleinern Resonanzboden, so werden zwar tiefe T\u00f6ne vielleicht noch m\u00f6glich, aber klanglos seyn. Die l\u00e4ngeren Stimmb\u00e4nder der M\u00e4nner werden zwar durch starke Spannung bei den Fistelt\u00f6nen einiger-massen ersetzen k\u00f6nnen, was die Weiber mit Leichtigkeit auf k\u00fcrzeren Stimmb\u00e4ndern durch geringere Spannung hervorbringen. Indess bat diess nothwendig in der Contractionskraft der Muskeln seine Grenze. Muskeln k\u00f6nnen sich im Maximum ihrer Verk\u00fcrzung nach Schwank doch nur um ohngef\u00e4hr ein Drittel verk\u00fcrzen *). Da die Spannung der Stimmb\u00e4nder durch verschiedene Muskeln von hinten und vorn zugleich geschehen kann, und die St\u00fccke, an welchen die Stimmb\u00e4nder sich inseriren, einiger-massen hebelartig sich bewegen k\u00f6nnen, so sind zwar die Mittel etwas gr\u00f6sser, indess muss doch bald auf diesem Wege eine bestimmte Grenze in der Steigerung der T\u00f6ne hervorgebracht werden. Bei der h\u00f6chsten Spannung wil d nur durch zuf\u00e4llige Ber\u00fchrung der Stimmb\u00e4nder in einem aliquoten Theile ihrer L\u00e4nge noch ein h\u00f6herer schwacher Ton hervorgebracht werden k\u00f6nnen. Ich habe die L\u00e4nge der Stimmb\u00e4nder bei M\u00e4nnern und Weibern und ihr Verh\u00e4ltnis zu einander zu messen gesucht. Da nur die L\u00e4nge der Stimmb\u00e4nder selbst, nicht aber die ganze L\u00e4nge der Stirnrn-\n*) Der geringe, den Muskeln m\u00f6gliche Grad der Verk\u00fcrzung hat cs n\u00f6-thig gemacht, dass die Muskeln des Menschen \u00fcberall nicht weit vom Hypomochlion des Hebels inscrirt seyn d\u00fcrfen. W\u00fcrden sie weit davon sich inseriren, so w\u00fcrde zwar Kraft erspart werden, aber die Grosse der Bewegungen w\u00fcrde wegen des geringen Grades der Verharzung der Muskeln abnehmen und der Biceps w\u00fcrde nicht mehr das Anlegen des Vorderarms an den Oberarm bewirken k\u00f6nnen, was er bsi der Insertion nabe am Hypomuclilion bei geringer \\ erk\u00fcrzung kann.","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"'200 IV. Buch. Bewegung. III. Ahschn. Von <1. Stimme u. Sprache.\nritze bis zur Pars inter-arytenoidea f\u00fcr die m\u00f6glichen F\u00e4lle in Betracht kommen kann, so habe ich bloss die L\u00e4nge der B\u00e4nder von ihrer vordem Insertion bis zu ihrer hintern Insertion amVo-calfortsatz der Basis der Cartilago arytenoidea gemessen. Bei der ver\u00e4nderlichen Spannung dieser B\u00e4nder ist es' n\u00f6thig, zur Vergleichung eine bestimmte Basis zu erhalten. Ich messe die Stimmb\u00e4nder, ausser dem Zustand der Ruhe, im gespanntesten Zustande, also bei der gr\u00f6sstm\u00f6glichen L\u00e4nge, welche sich ihnen durch Entfernung des Schildknorpels und der Cartilagines arytenoideae geben l\u00e4sst. Im Allgemeinen sind die eigentlichen Stimmb\u00e4nder bei den Weibern im Zustande der gr\u00f6ssten Spannung um ein Drittel k\u00fcrzer als die der M\u00e4nner, doch kommen viele Variationen vor, welche in der folgenden Tabelle, in welcher die Messungen zusammengestellt sind, \u00fcbersichtlich werden. Zu den Vergleichungen der M\u00e4nner und Weiber wurden nur die Kehlk\u00f6pfe von Individuen genommen, die \u00fcber die Jahre der Pubert\u00e4tsentwickelung hinaus sind. Ein kleiner Theil der Fasern des Stimmbandes heftet sich etwas weiter r\u00fcckw\u00e4rts, als das Ende des Vocalfortsatzes, am obern Rande dieses Fortsatzes bis gegen die vordere Kante der Cartilagines arytenoideae hin an. Dieser Theil des Stimmbandes ist bei dem Messen mitgez\u00e4hlt worden.\nMaximum der\tM\u00e4nner.\t\t\t\t\t\tWeiber.\t\t\tKnabe von 14 Jahr.\nSpannung\t21\t21\t25\t26\t23\t23\t16\t15\t16\t14,5\n\tMi Uni.\t\t\t\t\t\t\t\t\t\nRuhe .\t18\t16\t\t21\t19\t\t12\t12\t14\t10,5\nMittlere L\u00e4nge der Stimmb\u00e4nder des Mannes in der Ruhe 18 j Millim.\nMittlere L\u00e4nge der Stimmb\u00e4nder des Weibes in der Ruhe 12f Millim.\nMittlere L\u00e4nge der Stimmb\u00e4nder im Maximum der Spannung: beim Mann 23 V Millim., beim Weibe 15-f Millim.\nDie L\u00e4ngen der Stimmb\u00e4nder des Mannes und des Weibes verhalten sich daher sowohl in der Puihe, als im Maximum der Spannung olingef\u00e4hr wie 3 zu 2. Die L\u00e4nge, um weiche die Stimmb\u00e4nder aus ihrer gew\u00f6hnlichen L\u00e4nge durch Spannung ver-gr\u00f6ssert werden k\u00f6nnen, betr\u00e4gt aber beim Mann etwas weniger als 5 Millim., beim Weibe 3 Millim.\nMessungen beider Zust\u00e4nde an den Kehlk\u00f6pfen verstorbener Bassisten, Tenoristen, Altisten und Sopranisten, und auch der Castraten w\u00fcrde f\u00fcr die Physiologie von dem gr\u00f6ssten Interesse seyn, m\u00fcssten aber vergleichend mit Messungen an anderen Kehlk\u00f6pfen angestellt werden, damit die Vergleichungspuncte dieselben bleiben. Denn wenn man z. B. die Stimmb\u00e4nder vom vordem Anfang bis zu der vorspringenden Spitze des Vocalfortsatzes misst, so werden die Quantit\u00e4ten immer etwas kleiner als die vorn angegebenen ausfalien.\nXXII. Bei gleicher Spannung der Stimmb\u00e4nder durch ein Gewicht laut sich durch st\u00e4rkeres Blasen der Ton bis fast zu eine\u00bb","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stimme. Stimmorgan des MenscJien.\n201\nQuinte und mehr in die H\u00f6he treiben; alle halben T\u00f6ne folgen mit Leichtigkeit. Wurde z. B. von g in der ersten Bassoctave des Claviers ausgegangen, welches beim schw\u00e4chsten Blasen als Grandton der Stimmb\u00e4nder angegeben wurde, so Hessen sich durch successives Verst\u00e4rken des Anblasens g, gis, a, ais, h, c, eis her-vorhringen. Wurde nun die Spannung durch Gewichte so verst\u00e4rkt, _dass der Kehlkopf beim schw\u00e4chsten Blasen die Octave von g oder g gab, so ging der Ton bei successivem st\u00e4rkern Blasen in\nhalben, ziemlich reinen T\u00f6nen in die H\u00f6he bis zu e. Bei einem andern Versuch ging der Ton von dis, heim starkem Blasen successiv bis a in die H\u00f6he. Diess Steigen ist auch von Liscovius beobachtet worden; Ferbew hat es schon gekannt (71Icm. de l\u2019a-cad. de Paris 1741. 431.), aber zu geringe auf einen halben bis ganzen Ton angeschlagen. In diesem Puncte stimmt das Stimmorgan ganz mit einem k\u00fcnstlichen Kehlkopf mit membran\u00f6sen Zungenbl\u00e4ttern \u00fcberein. Bei trockenen Bl\u00e4ttern von Kautschuck l\u00e4sst sich z\\Yar, wie wir oben bereits bemerkten, durch Verst\u00e4rkung des Anblasens der Grundton nur um einige halbe T\u00f6ne steigern, aber hei elastischen nassen Zungenbl\u00e4ttern, von demselben Gewebe wie die Stimmb\u00e4nder, n\u00e4mlich von der Carotis communis des Menschen, Hess sich der Ton auch durch successives st\u00e4rkeres Blasen von halben zu halben T\u00f6nen bis zu einer Quinte in die H\u00f6he treiben. Hieraus geht hervor, dass man auf dem menschlichen Kehlkopf auf zweierlei Weise einen und denselben Ton a; geben kann; einmal hei ruhigem schwachen Blasen, in diesem Fall m\u00fcssen die Stimmb\u00e4nder diejenige L\u00e4nge und Spannung y haben, dass ihr Grundton der Ton % ist; zum andernmal, wenn die Stimmb\u00e4nder hei der L\u00e4nge und Spannung f\u00fcr einen tie-fern Grundton innerhalb der n\u00e4chst tieiern Octave durch starkes Anblasen bis zur H\u00f6he des Tons x gestimmt werden. Beiderlei T\u00f6ne sind an Klang sehr verschieden. Der mit ruhigem Blasen gebildete ist viel klangvoller als derselbe Ton, wenn er durch st\u00e4rkeres Blasen hei geringerer primitiver Spannung gegeben wird, der letztere mit mehr oder weniger Anstrengung je nach der primitiven Spannung der Stimmb\u00e4nder hervorgebracht, hat etwas Kreischendes, Schreiendes, und wird um so mehr klanglos, je weiter die primitive Spannung der Stimmb\u00e4nder sich von der primitiven Spannung f\u00fcr den Grundton x entfernt. Ist das Maximum der Spannung erreicht, wobei die Stimmb\u00e4nder den bei ruhigem Blasen h\u00f6chsten m\u00f6glichen Ton gehen, so k\u00f6nnen durch st\u00e4rkeres Anblasen noch einige schreiende, h\u00f6here T\u00f6ne erzwungen werden. Die Erfahrung an uns selbst lehrt diess auch, und man sieht, wie weit man die Verh\u00e4ltnisse der Stimme des lebenden K\u00f6rpers durch Versuche am Kehlkopf der Leiche erl\u00e4utern, und nachbilden kann.\n\u00c0AIII. IVird die Luft bei einer bestimmten Spannung der Stimmb\u00e4nder eingezogen, statt ausgestossen, so spricht der Ton in der Pegel nicht an, zuweilen kam ein etwas tieferer, rasselnder Ton zum Vorschein. Vergl. oben das Bemerkte \u00fcber die Kautsehuekzun-gen p. 152.","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202 IV. Buch. Bewegung. III. Ahschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nXXXIV. IVerden die Stimmb\u00e4nder durch Ber\u00fchrung ihres Hassern Thcils ged\u00e4mpft, so geben sie h\u00f6here T\u00f6ne an, gerade so wie die Kautschuckhiindcr am k\u00fcnstlichen Kehlkopf.\nXXXV. Die L\u00e4nge ties Anspruchsrohrs und Ansalzrohrs hat auf den Ton der Stimmb\u00e4nder keinen solchen merklichen Einfluss, wie auf den Ton der Kautschuekzungen. Magendie vermuthet, dass nach Analogie der Zungenpfeifen von Grenu? die L\u00e4nge der Windlade am menschlichen Kehlkopf, oder die L\u00e4nge der Luftr\u00f6hre auf die Ver\u00e4nderung des Tons Einfluss haben k\u00f6nne. Die Versuche am k\u00fcnstlichen Kehlkopf mit Kautschuckb\u00e4ndern und die Versuche am Kehlkopf selbst stimmten in diesem Puncte nicht sonderlich \u00fcberein, und die letzteren bestimmen mich der wenig ver\u00e4nderlichen L\u00e4nge der Luftr\u00f6hrv allen Einfluss auf die Ver\u00e4nderung der H\u00f6he der T\u00f6ne abzuspsrechen.\nBei Verl\u00e4ngerung des Windrohrs durch verschiedene St\u00fccke von kleinen zu grossen Dimensionen ist es mir unter m\u00f6glichst gleichem Blasen f\u00fcr den Grundton einer bestimmten Spannung nicht m\u00f6glich gewesen den Ton um ein merkliches zu vertiefen, was doch gew\u00f6hnlich bei Kautschuekzungen, ja sogar Arterienhautb\u00e4ndern leicht gelingt. In vielen F\u00e4llen schien die Verl\u00e4ngerung und Verk\u00fcrzung des Windrohrs gar keinen Einfluss auf die Ver\u00e4nderung des Tons zu haben; in andern F\u00e4llen gelang durch Verl\u00e4ngerung des Windrohrs eine Vertiefung von einem halben, sehr selten von einem ganzen Ton bei gleich schwachem Blasen. Auch wenn bei bestimmter L\u00e4nge des Windrohrs ein Ansatzrohr vor die unteren Stimmb\u00e4nder gebracht wurde, war der Ein fluss dieses eben so gering. Die letzteren Versuche sind viel schwerer als die mit Verl\u00e4ngerung des Windrohrs auszuf\u00fchren, weil es schwer ist, ein Ansatzrohr vor den unteren Stimmb\u00e4ndern anzubinden, und weil sich, wenn diess auch angeht, den Stimmb\u00e4ndern jetzt schwer eine bestimmte Spannung geben l\u00e4sst. Auf folgende Weise gelangt man zum Zweck: Man binde erst die hinteren Enden der Stimmb\u00e4nder durch einen dicht an den Vocal-l'orts\u00e4tzen der Cartilagines arytenoideac durchgezogenen Faden aneinander. Hierdurch wird der Anspruch gesichert. Die F\u00e4den der Ligatur werden r\u00fcckw\u00e4rts \u00fcber die h\u00e4utig muscul\u00f6se Zwischenwand der Cartilagines artytenoideae herausgeleitet. Kehldeckel, Ligamenta ary-epiglottica, Santoeini'scIic Knorpel und die h\u00e4utige Zwischenwand zwischen den Cartilagines arytenoideac m\u00fcssen bei diesem Versuch zum Anbinden eines Ansatzrohrs von <i\u2014 S Linien Durchmesser noch am Kehlkopf bleiben. Der obere Land des Schildknorpels hingegen wird zur Erleichterung des Anbindens des Ansatzrohrs abgeschnitten. Auf das kurze Ansatzst\u00fcck k\u00f6nnen nun neue Ansatzst\u00fccke von gleichem Caliber aulgesetzt werden. Der Kehlkopf wird dann lixirt, die Cartilagines arytenoideac- von hinten durch eine Ligatur gen\u00e4hert und nun ertlieilt man, den Stimmb\u00e4ndern von der durch eine kleine Oe\u00df-nung ausgeleiteten Schnur, womit der hintere Th eil der Stimmb\u00e4nder zusammengebunden ist, eine bestimmte Tension. Beim Blasen wird die Oeffnung, wodurch die Schnur aus der Kehlkopf holde l \u00fcekvv\u00e4i ts abgeht, zugehalten. Bei diesen Versuchen","page":202},{"file":"p0203.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stimme. Stimmorgan des Menschen.\n203\nwelche unter die allerscliwierigsten geh\u00f6ren, Lahe ich mich auch von keinem erheblichen Einfluss der L\u00e4nge des Ansatzrohrs auf ilen Ton der Stimmb\u00e4nder \u00fcberzeugen k\u00f6nnen, wie oft ich die Versuche auch wiederholt. Die m\u00f6gliche Vertiefung betrug in einigen seltenen F\u00e4llen auch nur einen halben Ton, viel selte-ner gegen einen ganzen Ton, in den meisten F\u00e4llen entstand gar keine merkliehe Ver\u00e4nderung.\nDiess scheint ein Unterschied zwischen dem nat\u00fcrlichen und k\u00fcnstlichen Kehlkopf zu seyn, hei welchem letztem, sowohl wenn Kautschuckb\u00e4nder als wenn nasse Arterienhautb\u00e4nder angewandt wurden, die Vertiefung hei Verl\u00e4ngerung des Ansatzrohrs in den p. 161. erl\u00e4uterten Grenzen auffallend war. Indessen ist. dieser Unterschied nicht absolut, denn zuweilen, besonders bei schwierigem Anspruch, bei zu lose oder zu stark gespannten B\u00e4ndern, gaben diese auch keine oder nur eine sehr unbedeutende Vertiefung des Tons bei Verl\u00e4ngerung des Ansatzrohrs oder Windrohrs. Siehe oben p. 159.\" Ich' habe manche Versuche dar\u00fcber angestellt, wovon dieser Unterschied abh\u00e4ngen kann. Die wahrscheinlichste Erkl\u00e4rung scheint mir diese zu seyn: Am Kehlkopf kommen haupts\u00e4chlich bei einiger Spannung nur die Schwingungen der Stimmb\u00e4nder seiht in Betracht, indem die Membran, welche den Seitenumfang der Stimmb\u00e4nder mit den W\u00e4nden des Kehlkopfs verbindet, nicht gespannt wird. Bei k\u00fcnstlichen Kehlk\u00f6pfen mit Kautschuckb\u00e4ndern oder Arterienhautb\u00e4ndern k\u00f6mmt aber nicht bloss ihre Spannung in zwei Bichtungen an ihrem Band hin in Betracht, sondern auch der mehr schlaffe Theil der Kautschuckplatten und Arterienhaut wirkt auf die Schwingungen des Bandthcils ein, wie man an der leisen D\u00e4mpfung dieses Theils sieht. Verm\u00f6ge dieser grossem Breite und des Zusammenhanges des gespannten und ungespannten Theils der continuirlich elastischen Membranen, sind diese auch zu viel mehr Modificationen von Schwingungen und T\u00f6nen bei den von der L\u00e4nge des Ansatzrohrs und Windrohrs ausgehenden Bedingungen f\u00e4hig, als hei den Stimmb\u00e4ndern, wo die primitiven Schwingungen haupts\u00e4chlich auf die Stimmb\u00e4nder beschr\u00e4nkt sind.\nIch dachte, dass vielleicht die membran\u00f6se dehnbare Beschaffenheit des Windrohrs, die Luftr\u00f6hre am Kehlkopfe auch Antheil an dem geringem Einfluss der Ans\u00e4tze h\u00e4tte. Diess hat sich jedoch nicht best\u00e4tigt, denn wenn ich der Luftr\u00f6hre ein h\u00f6lzernes Bohr substituirte, so erhielt ich keine gr\u00f6sseren Ver\u00e4nderungen des Tons durch die Ans\u00e4tze. Vielleicht haben indess die Membranen zwischen den Knorpeln des Kehlkopfs, in sofern sie vom Wmd ausgedehnt werden, doch einigen Antheil an jener Verschiedenheit vom k\u00fcnstlichen Kehlkopf, dessen W\u00e4nde durchg\u00e4ngig fest sind.\nBei den Versuchen \u00fcber den Einfluss der Ans\u00e4tze auf den Fon der Stimmb\u00e4nder am Keblkopf seihst, schien mir zuweilen bei einer bestimmten L\u00e4nge des Windrohrs der Ton weniger gut anzusprechen als bei anderen, wie solches auch bei den Kautschuck-zungen bemerkt wurde. Es h\u00e4ngt davon ab, dass die Lufts\u00e4ule sich nicht gut den Zungen aceomodiren kann. Wheatstone","page":203},{"file":"p0204.txt","language":"de","ocr_de":"201 IV. Buch. Bewegung. III. Abschn. Von d. Stimme u. Sprache.\n(Mayo Outlines of physiology.) hat bereits diesen Umstand Lei anderen Zungenpfeifen hervorgehoben und Bishopp legt -viel Werth auf die gegenseitige Accomodation der Lufts\u00e4ulen vor und hinter den Stimmb\u00e4ndern im lebenden Zustande. Dieser Einfluss ist indess bei meinen Versuchen sehr gering gewesen und mir nur einigemal unter vielen F\u00e4llen vorgekommen, daher ich dieser Accomodation, auf meine Erfahrungen gest\u00fctzt, am menschlichen Stimmorgan nicht den Einfluss zuschreiben kann, den ihr Bishopp zuschreibt. Im Gegentheil zeigt sich deutlich, dass man auf Verk\u00fcrzung und Verl\u00e4ngerung der Luftr\u00f6hre, auf Verl\u00e4ngerung and Verk\u00fcrzung des Raumes vor den Stimmb\u00e4ndern durch 11er-absteigen und Heraufsteigen des Kehlkopfs bei der Ver\u00e4nderung der T\u00f6ne beim Menschen sehr wenig rechnen kann. Man kann nur h\u00f6chstens so viel annehmen, dass die Verl\u00e4ngerung des Rohrs vor den unteren Stimmb\u00e4ndern durch Herabsteigen des Kehlkopfs und die Verk\u00fcrzung durch Aufsteigen, im ersten Fall die Bildung der tiefen T\u00f6ne ceteris paribus, die Bildung der h\u00f6heren T\u00f6ne im zweiten Fall erleichtere, was wenigstens durch den Erfolg an lebenden Menschen best\u00e4tigt wird.\nXX VI. Die zum Theil membran\u00f6se Beschaffenheit der Luftr\u00f6hre als Windrohr wirkt nicht merklich modificirend auf den Ion der Stimmb\u00e4nder, und die Luftr\u00f6hre verh\u00e4lt sich zum Ansprechen so wie ein h\u00f6lzernes Bohr von derselben Weite. In dieser Hinsicht verhalten sich die Zungenpfeifen mit membran\u00f6sen Zungen und theilweise membran\u00f6sem Windrohr ganz anders, wie die membran\u00f6sen Labialpfeifen mit schwingender Lufts\u00e4ule, bei welchen nach Savart\u2019s Entdeckungen die Mitschwingung der membran\u00f6sen W\u00e4nde der Pfeife die Hauptschwingungen der Lufts\u00e4ule bedeutend modificirt. Dieser Einfluss geht hier so weit, dass eine Labialpfeife aus d\u00fcnner nasser Pappe den Ton um eine ganze Octave urn den einer gleich langen Labialpfeife von festen Wanden erniedrigen kann. Froriep\u2019s Not. .\u2018132. p. 21. Bei den sehr kurzen kubischen Pfeifen ist die Erniedrigung noch viel gr\u00f6sser und kann zwei ganze Octaverr betragen. Siehe oben p. 141. Ich setzte ein Windrohr zu 7-|- Zoll L\u00e4nge aus 3 Zoll Luftr\u00f6hre des Menschen und 4T} Zoll Holzr\u00f6hre zusammen. Der Ton einer Kautschuckzunge durch diess Rohr angeblasen, war derselbe als bei einem gleich langen festen Windrohr. Auch die D\u00e4mpfung des membran\u00f6sen Theils der Luftr\u00f6hre mit der Hand hatte keinen irgend merklichen Einfluss.\nXXVII. Das doppelte Ansatzruhr am menschlichen Stimmorgan n\u00e4mlich, Mundrohr und Nasenruhr scheint in Hinsicht der H\u00f6he des Tons nicht anders als ein einfaches Ansalzrohr zu wirken, ver\u00e4ndert aber den Klang des Tons durch die Resonanz. Ich habe diesen Einfluss an einem k\u00fcnstlichen Kehlkopf mit Kautschuckbandc zu bestimmen gesucht, der in ein kurzes Ansatzrohr endigte, an welches eine gabelig getheilte R\u00fchre angelegt werden konnte. Der Ton war in der H\u00f6he derselbe als bei einfachem Ansatz von derselben L\u00e4nge, aber klangvoller.\nXX VIII. Die Deckung der obern Kehlkopf holde, durch Herab-dr\u00fccken des Kehldeckels vertieft den Tun etwas und macht ihn zu-","page":204},{"file":"p0205.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stimme. Stimmorgan des Menschen.\n205\ngleich dumpfer. Diess ist ganz der Deckung eines kurzen Ansatzrohrs am k\u00fcnstlichen Kehlkopf analog. Siehe oben p. 167. Wir bedienen uns offenbar auch dieses Mittels zur Erzielung bedeutender Tiefe. Diess scheint wenigstens der Zweck des Herab-und Zur\u00fcekziehens der Zunge bei vorw\u00e4rts gesenktem Kopfe bei erzwungenen tiefen Basst\u00f6nen zu seyn.\nXXIX.\tIm Uehrigen scheint der Kehldeckel hei der Modifica_ Zinn der T\u00f6ne von keiner Bedeutung zu seyn. Ich befestigte einen menschlichen Kehldeckel im Umfang eines Ansatzrohrs nahe voider Kautschuckplatte eines k\u00fcnstlichen Kehlkopfs, ohngef\u00e4hr so weit davon entfernt als er im nat\u00fcrlichen Kehlkopf von der Stimmritze entfernt ist. Der Ton war beim Anblasen des k\u00fcnstlichen Kehlkopfs kein anderer, als wenn der Kehldeckel aus dem Ansatzrohr herausgenommen war, doch musste der Kehldeckel frei mitschwingen k\u00f6nnen; war er so befestigt, dass er mehr verstopfend wirkte, so war auch die Folge wie heim Verstopfen auf andere Art. Der Orgelbauer Greni\u00e9 hat dem Hinaufgehen des Tons in den Zungenpfeifen mit metallischer Zunge bei st\u00e4rkerm Blasen dadurch abzuhelfen gesucht, dass er ein schwingendes Blatt vor der Zunge anbrachte, und Biot und Magendie vermuthen, dass der Kehldeckel am Kehlkopfe eine \u00e4hnliche Function haben k\u00f6nne. Directe Versuche, die ich dar\u00fcber anstellte, sind dieser Idee nicht g\u00fcnstig. Der Ton kann ceteris paribus Ins zu einer Quinte successiv durch Blasen gesteigert werden, mag der Kehldeckel vorhanden seyn oder nicht.\nF\u00fchlt man mit dem Finger an sich bis zum obern Piande des Kehldeckels, so kann man bemerken, dass der Kehldeckel dieselbe Stellung beh\u00e4lt, mag man den Ton mit der Fistel- oder Bruststimme singen.\nXXX.\tDie Gaumcnhogen verengern und das Ziipfclien verk\u00fcrzt sich lei h\u00f6heren Brustt\u00f6nen, wie hei. den I a/sett\u00f6nen, und hei. demselben hohen Ton ist der Isthmus faucium gleich eng, mag der Ton rin Brustton oder Falsett on seyn. Auch kann man in beiden F\u00fcllen, die Gaumcnhogen mit den Fingern ber\u00fchren, ohne dass der Ton ver\u00e4ndert wird. Man kann alles diess sehr gut erfahren beim Einbringen des Fingers von der Seite in den Mund bis in den Isthmus. Hieraus widerlegt sich die Ansicht von Bennati, da ss die Gaumenbogen am Falset Antheil haben oder es hervorbringen. Die einfache Thatsache der Verengerung der Gaumen-bo gen bei h\u00f6heren T\u00f6nen ist von Fabricius ab Aquapendente zuerst beobachtet, in neuerer Zeit von Mayer, Bennati, Dzondi bemerkt.\nXXXI.\tDie Verengerung des Anfangs des Ansatzrohrs oder\nder obern Kehlkopf h\u00f6hle dicht vor den unteren Stimmb\u00e4ndern kann nach der Theorie der Zungenpfeifen den Ton etwas erh\u00f6hen. Indessen l\u00e4sst sich diess durch Versuche nicht beweisen, da die Zusammendr\u00fcckung der obern Kehlkopfh\u00f6hle am ausgeschnittenen Kehlkopf ohne einige Wirkung auf die Stimmb\u00e4nder nicht gut m\u00f6glich ist. Einfache Verengerung li\u00e2t keinen merklichen Einfluss\t\u00b0\nXXXII. Die Morgagni\u2019sehen Ventrikel haben offenbar bloss","page":205},{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"206 IV. Buch. Bewegung. III. Absclin. Von d. Stimme u. Sprache.\nden Zweck die Stimmb\u00e4nder von aussen frei zu machen, damit ihre Schwingungen ungehindert sind. Diess ist auch bereits von Mehreren, wie Malgaigne, Ch. Bell u. A. angegeben. Der erstere vergleicht jene Ventrikel mit der Aush\u00f6hlung des Mundst\u00fccks der Trompete, welche die Lippen frei macht.\nC. Allgemeine Folgerungen.\nAus den Versuchen am k\u00fcnstlichen Kehlkopf mit membra-n\u00f6sen Zungen sowohl, als aus dem im Wesentlichen ganz \u00fcbereinstimmenden Erfolg der vorerw\u00e4hnten Versuche am Kehlkopf des Menschen seihst ergiebt sich, dass das menschliche Stimmorgan ein Zungenwerk mit membran\u00f6sen doppelten Zungen ist. Diess ist bereits die Ansicht mehrerer Physiker, wie Biot, Cagniaro laTour, Muncke, theoretischer Musiker, wie G\u00f6tter. Weber, und Physiologen, wie Magendie, Malgaigne u. A. Ferrein hatte schon im Jahre 1741 (Mein, de l\u2019acad. d. sc.) durch Versuche an Leichen \u00fcber das T\u00f6nen der Stimmmb\u00e4nder, und ihre ver\u00e4nderte Stimmung je nach ihrer L\u00e4nge und Spannung einen guten Grund zu dieser Theorie vorbereitet. Selbst Savart (Ma-gend. J. d. Physiol. 5.), welcher die Vergleichung des Stimmorgans mit einem Zungenwerk anfocht, gab zu, dass, wenn man T\u00f6ne durch Blasen in die Luftr\u00f6hre bei abgeschn\u2019ttenem vordem Tbeil des Kehlkopfes bis auf die unteren Stimmb\u00e4nder hervorbringe, diese T\u00f6ne auf dieselbe Art hervorgebracht werden, wie die T\u00f6ne der Zungen; er hielt zwar diese T\u00f6ne den T\u00f6nen der menschlichen Stimme un\u00e4hnlich, indess kann ich bei der von mir angewandten Methode keinen wesentlichen Unterschied des Klanges finden ; ich erhalte Brustt\u00f6ne und Falsett\u00f6ne mit dem ganzen Klang dieser Register je nach den angegebenen Bedingungen, und was verschieden ist, mag durch das Ansalzrohr am Slimmorgan erzeugt werden. Savart hielt f\u00fcr das eigentlich T\u00f6nende die Luft der Seitenventrikel des Kehlkopfes zwischen den oberen und unteren Stimmb\u00e4ndern, und verglich diesen Apparat mit den von ihm erl\u00e4uterten Lockpfeifen der J\u00e4ger, oder kleinen Labialpfeifen mit t\u00f6nender Lufts\u00e4ule. Siehe oben p. 140. Indess ist der elastische Apparat der unteren Stimmb\u00e4nder und die Organisation zu ihrer Spannung zu deutlich auf ein Zungenwerk berechnet, als dass man auf jenen Einwurf des um die Akustik so h\u00f6chst verdienstvollen Physikers Grossen Werth Iccen k\u00f6nnte:\nj\tr>\tu\n\u00fcberdiess werden auch an Kehlk\u00f6pfen, deren Seitenventrikel und vordere Stimmb\u00e4nder man unversehrt l\u00e4sst, die T\u00f6ne eben so sehr durch die verschiedene Spannung der unteren Stimmb\u00e4nder modifient, als wenn jene Theile bis auf die unteren Stimmb\u00e4nder weggenommen sind. Diejenigen S\u00e4ugethiere (Wiederk\u00e4uer), denen die oberen Stimmb\u00e4nder fehlen, schliessen ohnehin schon die Theorie von Savart aus. Der ganze Apparat vor den unteren Stimmb\u00e4ndern mag wohl auf die Modification des Tons einigen Einfluss haben, wie das Ansatzrohr an dem Mundst\u00fcck der Zungenwerke, besonders durch Verengerung der obern Kehlkopf h\u00f6hle, weniger der L\u00e4nge des Ansatzrohrs, und am menschlichen Stimmorgan kann dieser vordere' Tbeil des Kehlkopfes so modifient werden, wie es an dem Ansatz-","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stimme. Stimmorgan des Menschen.\n207\nr01ir eines Zungenswerks niclit m\u00f6glich ist ausztt f\u00fchren. Indessen bleibt die Haupliirsache der T\u00f6ne immer das Schwingen der unteren Stimmb\u00e4nder seihst, und die T\u00f6ne erfolgen auf diesen elastischen Membranen eben so einfach, wie auf dem Sphincter ani, bei welchem die Spannung des Schliessmuskels durch Muscular-contraction die Eigenelasticit\u00e4t der Stimmb\u00e4nder ersetzt.\nFechner (bei Biot) macht den Einwurf, dass wenn das Stimmorgan eine Zungenpfeife w\u00e4re, w\u00e4hrend ge\u00f6ffneter Stimmritze gar kein Ton hervorgebracht werden k\u00f6nne; da nach der Theorie der Mundst\u00fccke dieser nur von abwechselnder Oeffnung und Schliessung der Stimmritze verm\u00f6ge periodischer Unterbrechung des Luftstromes abh\u00e4ngen k\u00f6nnte; die Stimmb\u00e4nder aber sehr wohl schwingen k\u00f6nnen, ohne die Stimmritze periodisch zu schlies-sen, und also die Erzeugung der T\u00f6ne wirklich unabh\u00e4ngig von dieser Verschliessung sey. Indessen haben wir oben deutlich gezeigt, dass jene Theorie von der Erzeugung der T\u00f6ne an den Zungen nicht so richtig ist, als man gew\u00f6hnlich annimmt; denn durch blosse, an zarten Zungen vorbeigeleitete Luftstrqme lassen sich eben solche T\u00f6ne und von demselben Klang hervorbringen, als wenn die Zungen wie Klappen bewegt werden; \u00fcberdies* giebt es eine Stellung der Zunge an einem .Zungenwerk, sowohl hei metallischer als membran\u00f6ser Zunge, wo die Zunge gar nicht mehr als Klappe sich bewegt, sondern frei vor der M\u00fcndung durch den starken Luftstrom schwingt, indem der Luftstrom so stark ist, dass die Zunge, che sie die Oeffnung schliessen kann, schon wieder abschwingt. Endlich lassen sich am k\u00fcnstlichen Kehlkopf mit Kautschuckb\u00e4ndern die Zungent\u00f6ne oft noch bei ansehnlicher Spalte der Zungenlippen angeben. Siehe \u00fcber die Theorie der Zungent\u00f6ne p. 174.\nWas die Vergleichung der Stimmb\u00e4nder mit Saiten betrifft, (Ferbein), so hat diese allerdings etwas Richtiges, ist aber in anderen Puncten unrichtig. Ferrein\u2019s Versuche, welche diese Aehnlichkeit zeigen, geh\u00f6ren unter die besten, die je gemacht worden sind. Er zeigte {Mein, de, l\u2019acad. d. sc. 1741.), dass die Stimmb\u00e4nder nach Analogie der Saiten, die von der Luft angesprochen werden, t\u00f6nen, und dass die T\u00f6ne der Stimmb\u00e4nder bei verschiedener Weite der Stimmritze durchaus nicht ver\u00e4ndert werden. Die H\u00e4lfte der Stimmb\u00e4nder gab ihm die Octave ihres Grundtons, der dritte Theit die Quinte. Endlich fand er, dass, eine Ver\u00e4nderung der L\u00e4nge der B\u00e4nder von 2 \u2014 3 Linien zu allen Variationen der H\u00f6he hinreiche (indem die Spannung hier ersetzt, was bei gleicher Spannung verschieden lange Saiten thun). Wurden gleich diese Versuche von Bertin bestritten, so wurden, sie von Montagnat, Rtjnge und Wollet best\u00e4tigt. Haller E/em. physiol. III. Lib. IX. \u00a7. 8. 9. 10. ln der Th; it zeigen die fr\u00fcher erw\u00e4hnten, von mir angestellten Versuche am k\u00fcnstlichen Kehlkopf eine vollkommene Parallele. Die H\u00e4lfte einer Kautschuck-zunge gab die Octave ihres Grundtons, und die Versuche mit mensurirter Spannung der Stimmb\u00e4nder zeigen auch, dass diese Zungen ihre Schwingungen im Allgemeinen ziemlich wie die-\u2022Saiten \u00e4ndern. Ich kann Biot nicht beistimmen, wenn er","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"20S IV. Buch. Bewegung. III.Alschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nsagt: Was ist im Kehlkopf vorhanden, das einer schwingenden Saite \u00e4hnlich w\u00e4re, wo f\u00e4nde sich hinreichender Platz, um einer solchen Saite die f\u00fcr die tieferen T\u00f6ne erforderliche L\u00e4nge zu geben? Wie k\u00f6nnte man jemals T\u00f6ne von einem Umfange, wie es hei Menschen stattfindet, daraus hervorlocken? Die einfachsten Grunds\u00e4tze der Akustik widerlegen hinreichend diese seltsame Meinung. Lehrbuch der Experimentalphysik. 2. 143. Dieser Einwurf l\u00e4sst sich leicht widerlegen. Jede memhran\u00f6se Zunge schwingt nach den Gesetzen der Saiten, wie eine metallische Zunge nach den Gesetzen der St\u00e4be. Eine Saite w\u00fcrde hei jeder beliebigen Verk\u00fcrzung noch tiefe T\u00f6ne hervorbringen k\u00f6nnen, wenn sie hei der n\u00f6thigen Abspannung noch Elasticil\u00e4t genug h\u00e4tte. Diesen Grad der Elasticit\u00e4t haben aber die elastischen Membranen und Kautschuckbl\u00e4tter hei grosser Abspannung noch, und wir haben gesehen, dass diese kurzen B\u00e4nder hei der Verk\u00fcrzung im umgekehrten Verh\u00e4ltniss der L\u00e4nge, wie die Saiten ihre T\u00f6ne \u00e4ndern. Kleine Kautschuckbl\u00e4tter gehen sogar gespannt seihst durch Anstoss klare T\u00f6ne von sich, obgleich sie nicht nachhaltig sind wie hei langen Saiten. Der continuirliche Anstoss der Luft heim Anblasen macht aber diese T\u00f6ne nachhaltig, anhaltend; er macht eine durch den einfachen Anstoss als Saite schwingende Lamelle zur Zunge. In dieser Hinsicht stimmen also die Stimmb\u00e4nder ganz mit den Saiten \u00fcberein, und der einzige Unterschied liegt in dem ansprechenden K\u00f6rper. Bis dahin ist die Vergleichung von Ferrein voll kommen richtig.\nIn einem andern Puncte weichen indess die Stimmb\u00e4nder ganz von den Saiten ah, und dieser Unterschied ist gross genug, um diesen wie anderen membran\u00f6sen Zungen eine eigene Stelle in den musikalischen Instrumenten zu sichern. Der st\u00e4rkere Anstoss l\u00e4sst eine Saite tiefer t\u00f6nen; das st\u00e4rkere Anblasen erhebt hingegen den Ton einer membran\u00f6sen Zunge um einen, zwei und mehr halbe T\u00f6ne, und wenn die elastischen membran\u00f6sen Zungen nass sind (Stimmb\u00e4nder und B\u00e4nder von Arterienhaut), sogar um viele halbe T\u00f6ne. Die Metallzunge einer Kinderschal-mey t\u00f6nt immer h\u00f6her bei st\u00e4rkerm Blasen ohne Intervalle bis anderthalb Octaven, wie ich sehe, und wenn sich andere Metallzungen nicht so verhalten, so ist es bloss eine Folge ihrer St\u00e4rke im Verh\u00e4ltniss zum Luftstrom. Bei einer Zunge h\u00e4ngt also die H\u00f6he des Tons von der Zunge und der stossenden Luft zugleich ab. Wird hingegen eine Saite einmal angestossen, so wirkt der Anstoss nicht weiter nach und modificirend auf die Schwingungen ein, und die Saite ist den Schwingungen allein \u00fcberlassen, welche aus ihrer L\u00e4nge und Spannung folgen. Siehe das N\u00e4here oben p. 174.\nMehrere Physiologen, worunter Dodart, Liscovius, legen in die Weite oder Enge der Stimmritze und in die an dieser Stelle hervorgebrachten Luftschwingungen die wesentliche Ursache der Stimme. Obgleich Dodart (Me'm. de l\u2019acad. d. sc. 1700.) den Einfluss der Spannung der Stimmb\u00e4nder auf Ver\u00e4nderung des Tons wohl kannte, so erkl\u00e4rte er doch die Erzeugung der verschiedenen T\u00f6ne zuletzt nur aus der Gr\u00f6sse der Oelfnung, indem","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stimme. Stimmorgan des Menschen.\n20.9\ndie verschieden gespannten Stimmb\u00e4nder bei dem Durchgehen der Luft schwingend durch die Stimmritze eino verschiedene Oeffnung zulassen. Eine Ver\u00e4nderung der Stimmritze um ~ eines Seidenfadens, oder\teines Haars gehe schon einen an-\ndern Ton. Diess ist indess vollkommen unrichtig. Denn seihst, eine auffallende Ver\u00e4nderung der Weite der Stimmritze hat, wenn nur die gleiche Spannung der Stimmb\u00e4nder gesichert ist, keine Aenderung der H\u00f6he des Tons zur Folge. Liscovius Ansicht (Theorie der Stimme. Leipz* 1814.) ist diese: die Stimmritze selbst und ihre verschiedene Weite sey es, worauf es hei Entstehung der Stimme und ihrer mannigfaltigen H\u00f6he und Tiefe vorz\u00fcglich ankomme. Indem die Luft mit einiger Gewalt und Schnelligkeit durch diese enge Oeffnung hindurchdringt, werde sie dabei also zusammengedr\u00fcckt und ersch\u00fcttert, dass alle ihre kleinsten Theil-cheu hin und lier bewegt werden. Etwas Aehnliches sehe man in allen anderen F\u00e4llen, wo die Luft durch irgend eine enge Oeffnung hindurchgetrieben werde. Je grosser nun die Oelf-nung der Stimmritze sey, desto tiefer der Ton, w'eil dadurch gr\u00f6ssere und folglich langsamere Luftwellen entstehen.\nLiscovius Ein w\u00fcrfe gegen das T\u00f6nen der B\u00e4nder selbst sind diese: Nach ihm sollen die Stimmb\u00e4nder bei tiefen T\u00f6nen angespannt, bei hohen erschlafft werden. Denn bei tiefen T\u00f6nen erweitere sich die Stimmritze und ihre B\u00e4nder weichen auseinander. Sobald aber eine Oeffnung bei unverletztem Zusammenh\u00e4nge erweitert werde, m\u00fcssen nothwendig die R\u00e4nder der Oeffnung ausgedehnt werden. So sey keine Erweiterung der Stimmritze m\u00f6glich ohne gleichzeitige Anspannung der Stimmb\u00e4nder, und folglich seyen die Stimmb\u00e4nder bei tiefen T\u00f6nen gespannt, bei hoben erschlafft. Diess ist offenbar ein Missverst\u00e4ndnis\u00ab. Gicht man den Stimmb\u00e4ndern eine bestimmte Spannung durch die fr\u00fcher beschriebene Vorrichtung, so l\u00e4sst sich bei gleicher Spannung die Weite der Stimmritze ganz, beliebig ver\u00e4ndern. Die Stimmritze kann sonst bei gespannten und erschlafften B\u00e4ndern sowohl weit als enge seyn. Dann bemerkt Liscovius, dass nur trockne Saiten elastisch seyen; die Stimmb\u00e4nder aber seyen immer nass. Die Saite ist indess nur eine bestimmte Species der fadenf\u00f6rmigen, durch Spannung elastischen K\u00f6rper. Diese Species verliert ihre Elastic!tat, wenn sie nass ist. Das elastische Gewebe im menschlichen K\u00f6rper ist hingegen nur elastisch, wenn es nass ist, und verliert seine Elasticit\u00e4t, wenn es trocken ist. Diess sind singul\u00e4re Verschiedenheiten, welche die feststehenden Gesetze der fadenf\u00f6rmigen, durch Spannung elastischen K\u00f6rper nicht ver\u00e4ndern.\nDer Einwurf, dass die Stimmb\u00e4nder als B\u00e4nder unm\u00f6glich einen Umfang von T\u00f6nen und diese Tiefe haben k\u00f6nnten, ist schon oben erledigt. Man hat sich bei dem Vergleich der Stimmb\u00e4nder mit Saiten pro und contra viel zu sehr an dieser Species von fadenf\u00f6rmigen, durch Spannung elastischen K\u00f6rpern aufge-halten und ist dadurch auf Missverst\u00e4ndnisse gekommen. Sub-stituirt man den Darmsaiten mehr elastische F\u00e4den von Kaut-schuck oder thierischein elastischen Gewebe, so f\u00e4llt alles Zuf\u00e4llige, was uns gerade die Darmsaiten darbieten, weg.\nM\u00fcller\u2019s Physiologie. 2r Bd. I.\t44","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210 IV, Huch. Bewegung. III. Ahschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nLiscoyius bemerkt, dass keine Saite von blosser Ln ft so sehr ersch\u00fcttert werden k\u00f6nne, um starke T\u00f6ne bcrvorzubringen. Kautschuckb\u00e4nder und bander von nassem, tIberischem, elastischem Gewebe geben, von dem feinen Luftstrom aus einem R\u00f6hrchen frei angeblasen, die st\u00e4rksten T\u00f6ne an.\nDass die Anspannung und Erschlaffung der Kehlb\u00e4nder auf die H\u00f6he und Tiefe des Tons weiter keinen Einfluss habe, als nur in sofern dadurch die Stimmritze erweitert oder verengert werde (Liscoyius a. a. O. 30.), dem muss ich meine constante Erfahrung entgegensetzen, dass bei gleicher Weite der Stimmritze die T\u00f6ne im Umfange von zwei Octaven durch blosse ver\u00e4nderte Spannung der Stimmb\u00e4nder hervorgebracht werden.\nWenn Liscoyius beim Einblasen in die Stimmritze das eine Stimmband stark anspannte und das andere zu gleicher Zeit sehr erschlaffte, so entstanden nicht zwei verschiedene T\u00f6ne, sondern es war durchaus nur ein einziger Ton herauszubringen, dessen H\u00f6he im Verh\u00e4ltniss stand mit der Weite der Oeffnung der Stimmritze. Die erste Beobachtung ist. vollkommen richtig. Die Stimmb\u00e4nder verhalten sich hierbei aber ganz wie gespannte Kautschuckb\u00e4nder. Wir haben oben gezeigt, dass bei ungleicher Spannung gew\u00f6hnlich nur eines der B\u00e4nder t\u00f6nt, das andere sich als Rahmen verh\u00e4lt. Selten sprechen aber wirklich zwei T\u00f6ne an, der Grundton des einen und andern Kautschuckbandes, und ebenso verh\u00e4lt es sich mit den Stimmb\u00e4ndern.\nWenn Liscovius die Stimmb\u00e4nder mit dem Finger ber\u00fchrte, doch ohne die Weite der Stimmritze dadurch zu ver\u00e4ndern, so blieb dennoch der Ton ganz derselbe, da doch, wenn hier die Gesetze der Saiten stattf\u00e4nden, der Ton dadurch h\u00e4tte erh\u00f6ht werden m\u00fcssen. Meine Erfahrungen an Kautschuckb\u00e4ndern zeigen \u00fcbereinstimmend mit meinen Beobachtungen an den Stimmb\u00e4ndern, dass eine D\u00e4mpfung der Stimmb\u00e4nder durch Ber\u00fchrung in der That den Ton bedeutend modificirt, auch dann, wenn die Weite der Stimmritze gleichbleibt.\nDurch blosse Verkleinerung der Stimmritze ohne ver\u00e4nderte Spannung der Stimmb\u00e4nder werde der Ton h\u00f6her, durch blosse Erweiterung der Stimmritze ohne ver\u00e4nderte Spannung der Stimmb\u00e4nder werde der Ton tiefer; die H\u00f6he des Tons h\u00e4nge aber nicht von der Breite der Stimmritze allein, sondern von der gesammten Weite, d. h. von der L\u00e4nge und Breite zugleich ab. Ich finde, dass die tiefen T\u00f6ne noch bei sehr kurzer Stimmritze hervorgebracht rverden k\u00f6nnen, sobald die B\u00e4nder nur ganz schlaff sind; mit der Verk\u00fcrzung der Stimmritze von vorn nach hinten steigt zwar im Allgemeinen die H\u00f6be des Tons, aber nur bei gleichbleibender Spannung. Die Breite der Stimmritze hat keinen wesentlichen Einfluss auf die H\u00f6he des Tons, als nur, in sofern bei breiter Stimmritze kein gutes Anblasen von der Luftr\u00f6hre aus m\u00f6glich ist. Bei breiter Stimmritze spricht daher die Stimme nicht allein schlecht an und der Ton wird klanglos, sondern es kann auch bei breiterer Stimmritze nur der Grundton der Stimmb\u00e4nder gegeben werden, und durch st\u00e4rkeres Blasen l\u00e4sst sich begreiflich der Ton nur wenig heben; dagegen bei enger","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stimme. Stimmorgan des Menschen. Gesang.\n211\nStimmritze unter gleichbleibender Spannung nicht bloss der Grundton bei schwachem Blasen, sondern durch Verst\u00e4rkung des Blasens auch alle halben T\u00f6ne bis \u00fcber die Quinte angegeben werden k\u00f6nnen.\nDer Einfluss der Starke des Blasens aut die Erh\u00f6hung des Tons ist von Liscovius und Lehfeldt vollkommen richtig beobachtet. Jener sah schon, dass bei gleicher Weite der Stimmritze und gleicher Spannung der Bander der Ton desto tiefer war, |e schwacher das Einblasen, desto h\u00f6her, je mehr dasselbe verst\u00e4rkt wurde. So konnte Liscovius den Ton durch blosse Verst\u00e4rkung des Windes um eine ganze Quinte hinauftreiben, wobei er kreischend wurde, womit unsere Beobachtungen vollkommen \u00fchereinstimnien.\nEin Mauptpunct in der Theorie der Brust.- und Falsett\u00f6ne, dass beim Brustton die ganzen B\u00e4nder, beim Falsetton die R\u00e4nder schwingen und dass der Falsetton ceteris paribus h\u00f6her ist, ist zuerst von Lehfeldt entdeckt, a. a. \u00fc. p. 51. 58. 59.\nFerhf.in, Liscovius und Lehfkldt haben sich bisher die meisten Verdienste um die Theorie der Stimme erworben.\nDie Lehren der Aelteren sind sehr gut zusammengesteilt und aus eigener Anschauung beleuchtet in Lehfeldt de voris forma-iione diss. lierai. 1835. Von den Lehren und Beobachtungen der Neueren findet sich eine sehr vollst\u00e4ndige Zusammenstellung in IIeusinger's Ausgabe von Magendie\u2019s Physiologie.\n1). Vom Gesang.\nDie Folge der auf dem Stimmorgan m\u00f6glichen 'f\u00f6ne ist eine dreifache. Die erste Art ist die monotone Folge. liier behalten die folgenden T\u00f6ne fast dieselbe Hohe. So ist es bei der Sprache, wo die Articulation im Munde zu dem Stimmton hinzutritt und die Verschiedenheiten erzeugt, doch bleiben schon hei der Sprache die T\u00f6ne selten auf ihrer H\u00f6he (eine solche Aussprache ist die der Ausrufer), sondern sie betont einzelne Silben etwas h\u00f6her, worauf der Accent ruht, ln der Poesie tritt der Rhythmus hinzu, aber die Modulation der Musik fehlt. Die zw'eite Art der Folge ist der successive Uebergang von T\u00f6nen, welche an H\u00f6he ohne Intervalle wachsen mul fallen. Diess Fallen und Steigen der T\u00f6ne findet bei dem heulenden Schrei der Menschen statt, wenn dieser Ausdruck der Gem\u00fcthsbewegungen ist, und begleitet namentlich das Weinen, bildet auch das Heulen und Winseln der Hunde. Beides ist eiu successives Detoniren ohne Beobachtung der musikalischen Intervalle, wie sich dergleichen auch auf Instrumenten hervorbringen l\u00e4sst und in der Natur oft entstellt. Der Wind beult, die Saite giebt ein heulendes Detoniren, wenn sie beim T\u00f6nen abgespannt und st\u00e4rker gespannt wird; eine zweizeilige Labialpfeife giebt successiv und unmerklich an H\u00f6he steigende T\u00f6ne, wenn sie st\u00e4rker angeblasen wird. Siehe oben p. 178. Eine membran\u00f6se Zunge zeigt dasselbe, und in diesem Fall befinden sich auch die Stimmb\u00e4nder. Bei dem Geheul muss das Detoniren theiis durch Wachsen und Abnehmen der St\u00e4rke des Anspruchs, theiis durch successive Ver\u00e4nderung der Spannung der Stimmb\u00e4nder entstehen. Die dritte Art der Tonfolge auf dem Slimmorgan ist die musikalische, wobei jeder Ton die erforderli-\n1 f *","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212 IV. Euch. Bewegung. III.Alschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nche Zahl seiner Schwingungen beh\u00e4lt und die folgenden Tone nur in den Zahlenverh\u00e4ltnissen oder Intervallen des musicalischen Systems der T\u00f6ne angegeben werden. Sie hat mit der Poesie den PJiyth mus gemein.\n1. Umfang. Der Umfang der Stimme eines Individuums betr\u00e4gt 1\u20142-\u20143 Octaven, hei S\u00e4ngern, d. h. tum Gesang tauglichen 2 \u2014 3 Octaven. Aber die m\u00e4nnlichen und weiblichen Stimmen fangen an verschiedenen Stellen der Tonleiter an und h\u00f6ren an verschiedenen Steilen der Tonleiter auf. Versteht man unter C das grosse C der achtf\u00fcssigcn offenen oder vierf\u00fcssigen gedeckten Orgelpfeife, so beginnen die M\u00e4nnerstimmen bei E (Bass), oder A (Baryton), oder c (Tenor), und reichen\nhis a und weiter (Bass), oder bis f (Baryton), oder bis c (Tenor). Die Weiberstimme ist nur bei Viragines so tief als die M\u00e4nnerstimme. Die Weiberstimmen, Stimmen der Knaben und Castraten beginnen zwischen f (Alt) und c (Sopran), und reichen\nbis j (Alt), oder a (Mezzo Soprano), oder c. (Sopran), im h\u00f6chsten Fall bis f. Der tiefste Ton der weiblichen Stimme liegt also ohngef\u00e4hr um eine Octave h\u00f6her als der tiefste Ton der m\u00e4nnlichen Stimme; der h\u00f6chste Ton der weiblichen Stimme ohngef\u00e4hr eine Octave h\u00f6her als der h\u00f6chste Ton der m\u00e4nnlichen Stimme. Die vier ersten T\u00f6ne sind hei allen Stimmen in der Regel nicht kr\u00e4ftig. Der Umfang der m\u00e4nnlichen und weiblichen Stimmen zusammen genommen, oder die ganze Tonleiter der menschlichen Stimme betr\u00e4gt vier Octaven, vom grossen E des C der\nachtfussigcn offenen bis e des c der ' fl\u00fcssigen offenen Orgelpfeife.\nZur bequemem Vergleichung folgt hier eine Uebersicht der ganzen Tonleiter der menschlichen Stimme mit der Bezeichnung des mittlern Umfangs der verschiedenen Stimmen :\nI\u00f6op ranl\n\u00c0\u00ef\u00efi\nEFGAHcdefgahcdefga h c d e f g a h e.\nj\u00dfass\tI\tBass[\tj\nI\tTonov|\nFiscueb , der Vater der sp\u00e4ter ber\u00fchmt gewordenen S\u00e4nger, erreichte in der Tiefe F, die j\u00fcngste unter den Schwestern Sessi\numfasste drei Octaven und drei T\u00f6ne von c bis / (Muncke in Gehler\u2019s physik. W\u00f6rterb. VIII. 386.). Die Zelter umfasste drei, die Catalani 3} Octaven (Rudolpbi, Physiologie).\nBei den tieferen T\u00f6nen steigt der Kehlkopf herab und das Ansatzrohr des Stimmorganes wird dadurch l\u00e4nger und zur Erzeugung tiefer T\u00f6ne geschickter. Bei den h\u00f6heren T\u00f6nen steigt der Kehlkopf hinauf und der Kehlraum wird kleiner; je h\u00f6her man singt, um so enger r\u00fccken die Gaumenbogen zusammen und um so k\u00fcrzer wird das Z\u00e4pfchen. Diess ist nicht der Fistelstimme eigen, sondern geschieht schon bei den h\u00f6heren Brustt\u00f6nen.\n2. Stimmarten der verschiedenen Menschen. Der Hauptunterschied der weiblichen und m\u00e4nnlichen Stimmen ist im Allgemei-","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Stimme. Stirnmurgan des Menschen. Gesang.\n\u2022m\nneu der der H\u00f6lie; aber sie unterscheiden sich auch irn Klang, die m\u00e4nnliche Stimme klingt h\u00e4rter. Nun gieht cs aber noch besondere Unterschiede des Klanges, und zwar zwei Unterschiede des Klanges der m\u00e4nnlichen und zwei Unterschiede des Klanges der weiblichen Stimme. Die Klangarten der m\u00e4nnlichen Stimme sind der Bass und Tenor, die Klangarten der weiblichen Stimme und Knabenstimme der Alt und Sopran. Der Bassist singt zwar gemeiniglich tiefer als der Tenorist und hat seine St\u00e4rke in den tiefen T\u00f6nen, und dieser singt mit Brustton holier als der Bassist. Der Altist singt in der Regel tiefer als der Sopranist, und hat seine St\u00e4rke in den tiefen T\u00f6nen der weiblichen Stimme, und dieser singt h\u00f6her; aber dieser Unterschied ist nicht der wesentliche. Denn auch Bassisten k\u00f6nnen mitunter sehr hoch singen und AI-listen ebenso, so wie Sopranisten oft hoch geben. Der wesentlichste Unterschied des Basses und Tenors liegt vielmehr in dem jeder dieser Stimmen eigenen Klang, Timbre, welcher beim Bassisten und Tenoristen verschieden ist, wenn sie auch denselben Ton singen, und ebenso ist es mit dem Verh\u00e4ltniss zwischen Alt und Sopran. Baryton bezeichnet hingegen mehr das Unentschiedene zwischen beiden Klangarten der M\u00e4nnerstimmen, Mezzo Soprano das Unentschiedene zwischen beiden Klangarten der Weiberstimmen. Sie haben auch mittlere H\u00f6hen in der Tonleiter der M\u00e4nner- und Weiberstimme. Der Unterschied zwischen der Weiberstimme und M\u00e4nnerstimme beruht in der Hauptsache, was n\u00e4mlich die H\u00f6be der'T\u00f6ne betrifft, auf der verschiedenen L\u00e4nge der Stimmb\u00e4nder bei M\u00e4nnern und Frauen, die sich wie 3 zu 2 verhalten. Siebe oben p. 200. Der Unterschied beider Stimmen im Klang beruht auf der Beschaffenheit und Form der resoni-renden W\u00e4nde, welche beim m\u00e4nnlichen Kehlkopf viel gr\u00f6sser sind und vorn im Schildknorpel einen starken Winkel bilden. Der verschiedene Klang des Tenors und Basses, und des Altes und Soprans h\u00e4ngt wahrscheinlich von noch nicht gekannten Eigent\u00fcmlichkeiten der B\u00e4nder und tier membran\u00f6sen und knorpeligen resonirenden W\u00e4nde ab, die durch die Untersuchung der Kehlk\u00f6pfe von entschiedenen Tenoristen, Bassisten, Sopranisten und Altisten aufgekl\u00e4rt werden m\u00fcssen. Man muss sich diesen Unterschied so vorstellen, wie bei musikalischen Instrumenten von verschiedenem Stoff, Metall- und Darmsaiten, metallischen, h\u00f6lzernen und membran\u00f6sen Zungen, bei Instrumenten mit t\u00f6nender Lufts\u00e4ule, mit metallenen, h\u00f6lzernen, papiernen resonirenden W\u00e4nden. Diese Instrumente k\u00f6nnen auf denselben Ton gestimmt seyn und jedes gieht ihn mit eigent\u00fcmlichem Timbre. ' Der Kehlkopf der Knaben gleicht mehr dem der Weiber, seine Stimmb\u00e4nder haben vor der Pubert\u00e4tsentwickelung noch nicht -f der L\u00e4nge, die sie durcir diese erhalten. Der Winkel des Schildknorpels ist noch so wenig vorragend, wie beim Weibe. Die Stimme des Knaben ist Alt oder Sopran, nach der Formvcr\u00e4nde-rung des Kehlkopfs in der Pubert\u00e4tsenf Wickelung (im 14.\n15. Jahr) gehl sie sogleich in Bass oder Tenor \u00fcber. So lange diese Metamorphose dauert, ist die Stimme unrein, oft heiser und kr\u00e4hend, und zum Gesang uni ahig, bis die neu entstandenen Stimm-","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"\u201c214\t1 F. Buch. Bewegung. III. /H sehn. Von d. Stimme u. Sprache.\narten gel\u00e4ufig und einge\u00fcbt sind. Bei den Castraten, die vor der Fubert\u00e4tsentwickelung der Hoden Beraubt worden, bleibt die Umwandlung der Stimme aus und sie bebalten die weiblichen Stimmen. Von der Existenz des Keim bereitenden Geschlechtslbeils und von der Bildung des Samens bangt diese, wie die ganze \u00fcbrige m\u00e4nnliche Entwickelung ab. Die Alt- und Sopranstimmen der Knaben und Castraten gleichen in Hinsicht der H\u00f6he denen der Weiber, unterscheiden sich aber einigermassen im Klang und sind gellender. Liscovius bemerkt, dass die Castratenstimme auch noch von der Knabenstimme verschieden klinge, und leitet es davon ah, dass die resonirenden W\u00e4nde der Mund- und Nasenh\u00f6hle so ger\u00e4umig wie beim Mann werden, w\u00e4hrend doch das Stimmorgan auf dem Knabenzustande verharrt. Sie sind indess beim Weibe auch ger\u00e4umig, und die ver\u00e4nderte Festigkeit der Knorpel und B\u00e4nder mag wohl noch von gr\u00f6sserm Einfluss seyn.\n3. Stemmarten eines und desselben Menschen. Brus/- und Fal-selstimme. Die meisten Menschen, besonders die M\u00e4nner, sind ausserdem, dass ihre Stimme mehr oder w eniger zu einer der erw\u00e4hnten Stimmarten geh\u00f6rt, wenn sie nicht zum Gesang ganz untauglich ist, auch noch f\u00e4hig, den Klang ihrer Stimme nach einem doppelten Register von T\u00f6nen zu modificiren. Es ist das Register der Brustslimme und Falsetstimme. Die Bruststimme ist voller und erregt ein deutliches Gef\u00fchl viel st\u00e4rkerer Schwingung und Resonanz, als die Falsetstimme, Fistelstimme, Kopfstimme, welche mehr summend ist. Die tieferen T\u00f6ne der m\u00e4nnlichen Stimme sind nur mit der Bruststimme m\u00f6glich, die h\u00f6chsten nur mit dor Fistelstimme, die mittleren kann man sowohl mit der Brust- als Falsetstimme angeben; beide Register grenzen daher \u00bblicht aneinander, so dass das eine anfinge, wo das andere aufh\u00f6rte, sondern laufen zum Tlieil nebeneinander her. Der Tenorist f\u00e4ngt in der Regel schon am a an in die Fistelstimme iiber-zugehen, w\u00e4hrend darunter liegende T\u00f6ne mit beiden Stimmen angegeben werden k\u00f6nnen; der Bassist schon fr\u00fcher. Bei den Frauen giebt es seiten einen hinreichend deutlichen Unterschied zwischen Bruststimme und Falsetstimme.\nDie Brustt\u00f6ne werden, wie Lehffi.dt zuerst entdeckte, mit st\u00e4rkerm Ansprucn gegeben bei ganz schwingenden abgespannten Stimmb\u00e4ndern , die Fistelt\u00f6ne mit schwachem Anspruch bei bloss schwingenden R\u00e4ndern der mehr gespannten Stimmb\u00e4nder. Bei massiger bestimmter Abspannung sind beide Tone am ausgeschnittenen Kehlkopf m\u00f6glich, der Brustton ist immer um mehrere T\u00f6ne tiefer, als der Falsetton bei gleichbleibender Spannung der Stimmb\u00e4nder, und ist um so tiefer als der Falsetton, je schw\u00e4cher der Anspruch zum Brustton ist, oder je st\u00e4rker der Anspruch zum Falsetton ist, dieser Unterschied kann eine ganze Octave betragen. Die Brustt\u00f6ne wachsen an Tiefe durch st\u00e4rkere Abspannung der Stimmb\u00e4nder, an H\u00f6he durch das Ge-gentheil, und bei gleicher Abspannung der Stimmb\u00e4nder an H\u00f6he iHeils durch st\u00e4rkern Anspruch, Iheils durch Zusammendr\u00fccken des untern Zuganges der Stimmritze, Siehe oben p. 197. Die Falsclt\u00f6ue wachsen an H\u00f6he durch starkem Anspruch, theils","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stimme. Stimmorgan des Menschen. Gesang.\n215\ndurch st\u00e4rkere Spannung der Stimmb\u00e4nder. Bei einiger Spannung der letztem sind keine Brustt\u00f6ne mehr m\u00f6glich. Da der Brustton am ausgeschnittenen Kehlkopf bei bestimmter Abspannung der Stimmb\u00e4nder, unter m\u00f6glichst gleicher St\u00e4rke des Blaseus schon viel tiefer als der Falsetton, und ihm nur durch Zusam-mendr\u00fccken des Aditus glottidis inferior oder st\u00e4rkeres Blasen sich n\u00e4hert, so erkl\u00e4rt sich daraus, warum es an der Grenze der Brustt\u00f6ne beim Vertausch des Brustregisters mit dem Falsctregi-ster oft schwer ist, den richtigen Falsetton zu treffen.\nDa die Brust- und Falsett\u00f6ne am ausgeschnittenen Kehlkopf, ohne Gaumenbogen, ohne MoEGAGNi\u2019sche Ventrikel, ohne obere Stimmb\u00e4nder m\u00f6glich sind, so sind alle diese Theile bei der Erkl\u00e4rung beider Stimmarten auszuschliessen. Die Gaumenbogen n\u00e4hern sich zwar immer mehr, je h\u00f6her man in tier Fistelstimme singt, aber sie n\u00e4hern sich schon sehr bedeutend bei den h\u00f6heren Brustt\u00f6nen, und die Ann\u00e4herung ist eben so gross als beim entsprechenden Fistelton. Man kann es am besten mit dem Finger f\u00fchlen. Nur die T\u00f6ne beim R\u00e4uspern und Schnarchen sind wahre T\u00f6ne der Gaurnenbogen und des Gaumensegels. W\u00e4ren die Gaumenbogen die Ursache der Fistelt\u00f6ne, so w\u00fcrde ihre Ber\u00fchrung mit dem Finger den Ton auf heben, was nicht geschieht. Die Ann\u00e4herung der Gaumenbogen und das Zur\u00fcckziehen des Z\u00e4pfchens bei den h\u00f6heren T\u00f6nen scheint eine blosse Mitbewe-gung zu seyn, veranlasst durch die Anstrengungen der Muskeln des Kehlkopfs, wie oft ein Muskel unwillk\u00fchrlich milbewegt wird, wenn sich ein anderer willk\u00fchrlich bewegt. Siehe oben p. 85. Sollten die Gaumenbogen bei den h\u00f6heren Brustt\u00f6nen und bei den Fistelt\u00f6ncn irgend eine Bedeutung haben, so k\u00f6nnte es nur etwa die seyn, durch ihre Anspannung die Resonanz zu verst\u00e4rken. Man kann die Falsett\u00f6ne in sofern als Flageolell\u00f6ne der Brustt\u00f6ne betrachten, als zwar nicht aliquote Theile der L\u00e4nge der Stimmb\u00e4nder, aber aliquote Theile der Breite der Stimmb\u00e4nder dabei schwingen, w\u00e4hrend die anderen bloss von der Luft ausgedehnt werden. Bei den Brustt\u00f6nen schwingen die Stimmb\u00e4nder nicht l\u00e4nger, aber in ganzer Breite unter Mitschwingung der Membran des Aditus glottidis inferior.\n4. Besondere Klangarten der Stimme. Kasenslimmc. Ilieher ist der jedem Menschen eigene besondere Klang der Stimme zu rechnen. Er h\u00e4ngt olfenbar von der Form der Luftwege und den Membranen und ihrer Resonanz ab, da dieser besondere Klang sieh nachahmen l\u00e4sst. Manche Menschen k\u00f6nnen die Stimmen der verschiedensten Individuen nachahmen. Hieher ist auch das N\u00e4seln der Stimme zu rechnen. Bior erkl\u00e4rt es so. Bei der gew\u00f6hnlichen Erzeugung der Stimme lege sich das Gaumensegel an die hintere Oeffnung der Nasenh\u00f6hlen an und verschliesse sie, so dass die Luft nur zum Munde heraustreten kann. Wenn die Luft dagegen zu Mund und Nase zugleich heraustrete, so entstehe das durch die Nase sprechen. Ich kann diese Erkl\u00e4rung des ber\u00fchmten Physikers nicht theilen. Denn gerade bei der gew\u00f6hnlichen Erzeugung der Stimme sind die hinteren Nasenh\u00f6hlen offen und die Stimme ert\u00f6nt durch das Mundrohr und Nasenrohr zu-","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"21G IV. Buch. Bewegung. III. ALschn. Von d. Stimme u. Sprache.\ngleich. Wenn man mit dem Nasenton die Stimme geben will, so kann es auf zweierlei Weise geschehen. Wenn man die \u00e4usseren Nasenl\u00f6cher schliesst, so kann man sowohl die gew\u00f6hnliche Stimme als die Nasenstimme gehen, ersteres, wenn die Gaumenbogen offen sind, letzteres, wenn sie sich schon einander n\u00e4hern ; in diesem Fall steigt der Kehlkopf zugleich viel h\u00f6her hinauf, als er hei demselben Ton hei gew\u00f6hnlicher Stimme stellt. Verstopfung der Nase durch Schleim wirkt so, wie das Zuhalten der Nasenl\u00f6cher, aber diese Verstopfung und das Zuhalten allein sind nicht im Stande den Nasenton allein hervorzubringen. Bei dieser Nasenstimme wird die Nasenh\u00f6hle zu einer abgesonderten resoni-renden Kammer. 2. Man kann auch hei offener \u00e4usserer Nase und hei offenem oder geschlossenem Munde die Nasenresonanz der Stimme des Kehlkopfs bewirken. In diesem Fall r\u00fcckt der Kehlkopf auch bedeutend in die H\u00f6he, die Gaumenbogen verengern sich, der Zungenr\u00fccken ist dem Gaumen gen\u00e4hert oder liegt ihm an, die Luft geht allein zwischen den verengerten Gaumenbogen durch und erh\u00e4lt die Resonanz der Nasenh\u00f6hle ohne die der Mundh\u00f6hle. Die Stimme der Alten verliert an Klang, Sicherheit und Umfang. Der Klang wird ver\u00e4ndert durch die Ossification der Kehlkopfknorpel, durch die Ver\u00e4nderungen der Stimmb\u00e4nder; die Sicherheit durch Abnahme des Imperiums der Nerven \u00fcber die Muskeln, dessen Folge hier, wie an anderen Orten, eine zitternde Bewegung ist. Durch beides wird die Stimme der Alten klanglos, unsicher, meckernd und schwach.\n5.\tSt\u00fccke der Stimme. Die St\u00e4rke der Stimme h\u00e4ngt theils von der schwingungsf\u00e4higen Beschaffenheit der Stimmb\u00e4nder, theils von der F\u00e4higkeit zur Resonanz der Membranen und Knorpel des Kehlkopfs, der Brustw\u00e4nde, Lungen, der Mund- und Nasenh\u00f6hle und der Nebenh\u00f6hlen der Nase ah. Die erstere wird vermindert oder aufgehoben durch Entz\u00fcndung der Kehlkopfsschleimhaut und Eiterung, durch profuse Schleimabsonderung, durch Oedema glottidis u. a. Die Resonanz der Lungenmembran wird vermindert und daher die Stimme schw\u00e4cher hei der Consumtion der Lungen; von der grossem Capacit\u00e4t der Brust des Mannes ist auch zum Theil die gr\u00f6ssere St\u00e4rke seiner Stimme abzuleiten. Bei mehreren Gattungen der Affen giebt es noch accessorischc resonirende Membranen, Kehls\u00e4cke, oder gar weitere h\u00f6hlenartige Auftreibungen des Schildknorpels und Zungenbeins, wie hei den Heulaffen Mycetes.\n6.\tWachsen und Abnehmen der T\u00f6ne an St\u00e4rke. Aus den Beobachtungen von Liscovitis, Leiifeldt und meinen eigenen ergiebt sich, dass die T\u00f6ne des Kehlkopfs ceteris paribus bei st\u00e4rkeren Blasen an H\u00f6he zunehmen. Die Brustt\u00f6ne steigern sich und die Falset-t\u00f6ne ebenfalls. Ich stellte diese Versuche hei bestimmter, durch Gewichte gemessener Spannung an, und fand, dass die Erhebung des Tons durch alle N\u00fcancen zwischen den halben T\u00f6nen geschehen kann, so dass die Erscheinung nicht, auf Entstehung von Schwingungsknoten beruht, die man auch sehen m\u00fcsste, da die Schwingungen der B\u00e4nder so deutlich sind. Die m\u00f6gliche Erh\u00f6hung betr\u00e4gt nach den Versuchen \u00fcber eine Quinte.","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stimme. Stimmorgan des Menschen. Gesang.\n217\nSiehe oben p. 201. Hieraus geht hervor, dass sich ein Ton des Stimmorgans durch blosses st\u00e4rkeres Blasen nicht verst\u00e4rken l\u00e4sst, und dass, wenn ein Ton seinen musikalischen Werth behalten soll, die St\u00e4rke des Blasens ganz gleichf\u00f6rmig seyn muss. Diese Eigenschaft hat das Stimmorgan mit mehreren musikalischen Instrumenten gemein. Die T\u00f6ne der Labialpfeifen sind ohne bestimmte Grenzen, bei st\u00e4rkerm Blasen erhebt sich der Ton in der gedeckten Pfeife in den Zahlen 1, 3, 5 u. s. w., in der offenen in den Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, u. s. w. In kleinen Pfeifen von 2 Zoll L\u00e4nge und weniger geht die Erh\u00f6hung sogar, wie ich zeigte, successiv durch das Intervall von 1 und 2 durch, und die Erh\u00f6hung ist bei successiver Verst\u00e4rkung des Blasens beulend. Siehe oben p. 178. Die Zungent\u00f6ne lassen sich durch Verst\u00e4rkung des Blasens um mehrere T\u00f6ne successive heben. Diese Erh\u00f6hung ist bei starken metallischen Zungen nur unmerklich und wurde von mir nur bei sehr starkem Blasen und d\u00fcnnen Zungen beobachtet. Bl\u00e4st man schwach starke metallischen Zungen an, so ist der Ton auch ein wenig h\u00f6her als bei starkem Blasen, wie der einer schwach angeschlagenen Saite, wie W. Weber zeigte. Diess r\u00fchrt wahrscheinlich davon her, dass beim schwachen Blasen das Ende der Zunge, nahe der Befestigung, nicht schwingt, beim starkem Blasen aber schwingt; diese Erh\u00f6hung muss wohl von der von mir, namentlich an den membran\u00f6sen Zungen und an der Kinderschalmey beobachteten unterschieden werden. Durch die Ungleichf\u00f6rmigkeit der T\u00f6ne bei verschiedener St\u00e4rke des Blasens sind die Labialpfeifen unvollkommene Instrumente, indem auf ihnen kein Forte und Piano, kein Schwellen und Schw\u00e4chen der T\u00f6ne m\u00f6glich ist das umfangreichste Instrument, die Orgel, ist in dieser Hinsicht sehr unvollkommen. Die Zungenpfeifen leiden an diesem Fehler wenig, der Ton der Zungenpfeifen mit starker metallener Zunge l\u00e4sst sich sclnvellen, ohne dass die kleine Erh\u00f6hung bei schwachem Blasen f\u00fcr ein nicht feines Ohr merkbar ist. Indess wird sie doch st\u00f6rend. W. Weber hat die Entdeckung gemacht, wie diesem Fehler abzuhelfen ist, wenn die Zunge im Verh\u00e4ltniss mit einer zu ihrem Grundton richtig mensurirten L\u00e4nge der Ansatzr\u00f6hre steht; die Lufts\u00e4ule der Zungenpfeifen erh\u00f6ht ihren Ton bei st\u00e4rkerm Blasen, die starke metallene Zunge vertieft ihn. Beide entgegengesetzte Wirkungen vereint compensiren sich, und liefern in der von W. Weber construirten Zungenpfeife ein Blasinstrument, auf dem man denselben Ton beliebig schwellen und schw\u00e4chen kann, ohne dass er seinen musikalischen Werth ver\u00e4ndert. Ein System solcher Pfeifen liefert eines der vollkommensten musikalischen Werkzeuge. Auf die Zungenpfeifen mit membran\u00f6ser Zunge ist diess Princip nicht anwendbar, da ihre T\u00f6ne wie die der Kinderschalmey mit sehr d\u00fcnner Metallzunge bei st\u00e4rkerm Blasen sich erh\u00f6hen. Daher darf man eine \u00e4hnliche Einrichtung an dem menschlichen Stimmorgan nicht erwarten. Die Compensation durch die L\u00e4nge des Ansalzrohrs w\u00fcrde ohnehin l\u00fcr verschiedene T\u00f6ne eine sehr verschiedene L\u00e4nge des Ansalzrohrs erfordern, diess Kohr kann sich am menschlichen Stimm-","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218\t1V. Buch.. Bewegung. III. Abschn. Von d. Stimme u. Sprache.\norgan nur wenig, h\u00f6chstens durch Sinken und Erheben des Kehlkopfs um einen Zoll ver\u00e4ndern. Da die menschliche Stimme das Verm\u00f6gen der Anschwellung und Schw\u00e4chung eines und desselben Tones vom leisen Piano bis zum Fortissimo hat, so muss die Compensation auf eine andere Art erreicht seyn. Diese Compensation wird offenbar durch die Ver\u00e4nderung der Spannung der Stimmb\u00e4nder bewirkt. Das st\u00e4rkere Blasen erh\u00f6ht den Ton, indem es ihn st\u00e4rker macht, bis zu einer Quinte, durch Abnahme der Spannung l\u00e4sst sich dagegen der Ton successive durch alle Nuancen bis zu zwei Octaven an guten Kehlk\u00f6pfen erniedrigen. Wird ein Ton vom Piano aus verst\u00e4rkt, so muss also in dem IVlaass die Spannung der Stimmb\u00e4nder durch Nachlass der Muskelwirkung abnehmen, als das Blasen st\u00e4rker wird. Beim Schw\u00e4chen des Tons geschieht das Entgegengesetzte. Die Analogie der Zungenpfeifen mit membran\u00f6sen Zungen und die \u00fcber die Brustt\u00f6ne angestellten Versuche p. 197. zeigen auch, dass die Verengung des untern Zugangs zur Stimmritze durch den Muse, thyreo-arytenoideus, zur Compensation heim Uebergang zum Piano beitragen kann, ich zweifle, dass die Verl\u00e4ngerung der Ansatzr\u00f6hre durch Herabsteigen des Kehlkopfes heim Uebergang zum Forte zur Compensation mitwirken k\u00f6nne. Wird zwar der Ton durch schwaches Blasen f\u00fcr das Piano tiefer, so wird er durch Verengung des untern Zugangs zur Stimmritze h\u00f6her, und wird er durch st\u00e4rkeres Blasen f\u00fcr das Forte h\u00f6her, so wird er durch Erweiterung des Zuganges wohl tiefer. Die Verk\u00fcrzung des Ansatzrohrs durch Aufsteigen des Kehlkopfes kann schwerlich zur Compensation heim Uebergang zum Piano dienen.\nEine solche Art der Compensation erfordert ein genaues Abwiegen der gegenseitigen Wirkungen, und es erkl\u00e4rt sich daraus hinreichend, warum das Schwellen und Schw\u00e4chen der T\u00f6ne, ohne ihren musikalischen Werth zu \u00e4ndern, seihst f\u00fcr ge\u00fcbte S\u00e4nger so schwer, und f\u00fcr unge\u00fcbte ohne Detonation auf die eine \u00f6dere andere Art ganz unm\u00f6glich ist.\n7. Reinheil der T\u00f6ne. Das Detoniren der Stimme nach langen Singen erkl\u00e4rt sich zum Theil leicht aus den kleinen Ver\u00e4nderungen der Stimmb\u00e4nder in Folge der wiederholten Spannungen und noch mehr aus der Erm\u00fcdung der Muskeln, welche dem Willen zuletzt nicht mehr vollst\u00e4ndig gehorchen und unangemessene Bewegungen ausf\u00fchren. Sonst h\u00e4ngt das Detoniren theils von schlechtem Geh\u00f6r, theils von der Schwierigkeit ab, die gleichschwebende Temperatur unserer musikalischen Tonleiter zu beobachten. An musikalischen Instrumenten ist die Temperatur meist durch die Stimmung gesichert, der S\u00e4nger muss sie best\u00e4ndig erzielen.\nDer Mensch wie die Singv\u00f6gel lernen hei dem Aufwachsen unbewusst die f\u00fcr jeden Ton n\u00f6thigen inneren Ver\u00e4nderungen des Stimmorgans, die n\u00f6thigen Muskelwirkungen kennen. Zuf\u00e4llig hervorgestossene T\u00f6ne und ihre dabei stattge-fundenen Muskelwirkungen associiren sich und sind sp\u00e4ter bereit, sich wechselseitig hervorzurufen, wenn eine Melodie nach-gcalimt werden muss. Beim methodischen Lernen des Ge-","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stimme. Mundl\u00fcne des Menschen.\n219\nsaures k\u00f6mmt zu den Associationen der geh\u00f6rten T\u00f6ne nnd der dazu n\u00f6thigen Muskelbewegungen noch die ihrer Zeichen mit beiden ersten hinzu. Zu allem diesem und um jedem Ton einen reinen Werth zu gehen, ist ein gutes Geh\u00f6r n\u00f6thig, ohne welches es zwar eine sch\u00f6ne und umfangreiche Stimme, aber keine gute Anwendung davon oder Gesang gehen kann.\nWir nehmen von der Stimme des Menschen Abschied mit einer Bemerkung \u00fcber die kunstvolle Einrichtung ihres Werkzeuges. Kein musikalisches Werkzeug ist ihm ganz zu vergleichen; denn auch die umfangreichsten Orgeln und Claviere sind in anderer Hinsicht unvollkommen. Einige dieser Werkzeuge sind des Steigens vom Piano zum Forte nicht f\u00e4hig, wie die Labialpfeifen, die T\u00f6ne anderer lassen sich nicht anhalten, wie aller, die durch Anschl\u00e4gen gespielt werden. Die Orgel besitzt zwei Register, der Labial- und Zungenpfeifen, und gleicht darin der menschlichen Stimme mit ihren Registern der Brust- und Falset-stimme, aber keines dieser Instrumente vereinigt alle Vortheile wie das menschliche Stimmorgan. Geh\u00f6rt zwar das Stimmorgan zu den Zungenwerken, und sind diese, wenn sie zu einem System von compensirten Pfeifen vereinigt sind (nebst der Geige), die vollkommensten von allen \u00fcbrigen, so hat doch wieder das Zungenwerk des menschlichen Stimmorgans die Vollendung, dass sich auf einer Zungenpfeife der Umfang der ganzen Tonleiter und alle beliebigen Variationen angeben lassen, w\u00e4hrend an dem vollkommensten k\u00fcnstlichen Zungenwerk jeder Ton seine besondere Pfeife haben muss. Eine k\u00fcnstliche Nachbildung dieses Organs w\u00fcrde zwar einigermassen erzielt werden k\u00f6nnen durch Einrichtung einer Zungenpfeife mit einem nicht zu s\u2019chwer zu handhabenden Apparat zur beliebigen Spannung von elastischen Zungenb\u00e4ndern aber die T\u00f6ne eines solchen Werkes, zu dem f\u00fcr die Dauer nur trockne elastische B\u00e4nder benutzt werden k\u00f6nnten, w\u00fcrde nicht die weichen klangvollen T\u00f6ne des nassen, thierischen, elastischen Gewebes nachbilden k\u00f6nnen, und immer an einer grossen Schwierigkeit der Handhabung leiden.\nII. Von den M und t\u00f6n en des Menschen.\nAuch im Munde allein kann eine grosse Anzahl von T\u00f6nen angegeben werden. Von den im Munde m\u00f6glichen Ger\u00e4uscharten sehen wir hier ab, d>avon wird hei der Sprache gehandelt; es handelt sich hier um blosse T\u00f6ne. Sowohl im vordem als hintern Theile der Mundh\u00f6hle sind T\u00f6ne nach Art der Zun<mn-pfeifent\u00f6ne m\u00f6glich, aber ausserdem l\u00e4sst sich auch im Munde ein Register von T\u00f6nen bilden, wobei die Luft den Ton angiebt.\n1. Mundt\u00f6ne durch schwingende Membranen. Hieber geh\u00f6ren die schnarrenden T\u00f6ne am Gaumensegel und an den Lippen.\na. Am Gaumensegel. Die wahren Gaumensegelt\u00f6ne sind die beim Schnarchen und R\u00e4uspern entstehenden Laute, in beiden F\u00e4llen werden die Gaumenbogen als membran\u00f6se Zungenbl\u00e4tter durch den Luftstrom in Bewegung gesetzt. Die T\u00f6ne erfolgen um so leichter, je mehr diese Bogen zusammengezogen sind, und sind sowohl bei offenem Mund und verschlossener Nase, als umgekehrt","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"'2,10 1 V. Buch, Bewegung. III. Abschn. Fun d. Stimme u. Surache.\nm\u00f6glich. Auch die Zunge l\u00e4sst sich, wie bei der Bildung des R an den Gaumen gelegt, auf diese Art in Vibration setzen, aber es komm/ nicht zur Bildung eines Tons, sondern nur des Ger\u00e4usches, weil die Schwingungen zu langsam erfolgen.\nb. An den Lippen. Beim Durchpressen der Luft zwischen den Lippen entstehen durch die deutlich schwingenden ganzen Lippen oder ihren schwingenden Rand T\u00f6ne, deren H\u00f6he mit der Tension der Lippen zunimmt. Setze ich ein Ansatzrohr vor den Mund und verl\u00e4ngere es, so wird der Lippenton auf \u00e4hnliche Art wie hei den Kautschuekzungcn in der H\u00f6he ver\u00e4ndert. Von derselben Art sind die T\u00f6ne, die durch Blasen zwischen 2 aneinander gelegten Fingern erregt werden.\n2. Mundl\u00fcne durch T\u00f6nen der Luft.\nHieher geh\u00f6rt das Mundpfeifen oder Pfeifen auf den Lippen. Siehe Muncke in Gf.hler\u2019s physikal. W\u00fcrterb. VIII p. .383. Cagniard la Toun in Magendie J. de physiol. A'. Man hat das Mundpfeifen aus der Schwingung der Lippen abgeleitet, man kann sich aber leicht \u00fcberzeugen, dass sie sich dabei ganz ruhig verhalten, man kann sie ber\u00fchren, bedecken, ja sogar wie Cagniard laTour gezeigt, eine Korkscheibe, die in der Mitte durchl\u00f6chert ist, zwischen die Lippen nehmen und noch dieselben T\u00f6ne hervorbringen. Ich erhalte noch einen tiefen Ton, wenn ich zwischen die Lippen eine Scheibe von Elfenbein nehme, die in der Mitte eine runde Oeffnung von 4 Linien Durchmesser hat, heim Einziehen der Luft. Mir scheint die Theorie von Cagniard la Tour vollkommen richtig. Das T\u00f6nende ist die Luft, welche sich an den W\u00e4nden des Durchganges reiht. Beim Reihen der K\u00f6rjier entstehen T\u00f6ne, wenn die Reibung lntermittirend wird. Hieher geh\u00f6ren die T\u00f6ne die man erh\u00e4lt, wenn man mit dem Finger eine glatte Fl\u00e4che, z. B. den Rand eines Glases reibt, wenn man einen mit Euch \u00fcberzogenen Stab m einem gl\u00e4serticn Cylinder dreht u. s. w. Die Luft bringt durch Reibung einen Ton hervor, wenn sie durch eine enge Spalte eines harten K\u00f6rpers durchgeht, wo die R\u00e4nder des harten K\u00f6rjiers nicht als Lippen eines Zungenwerks betrachtet werden k\u00f6nnen. Auf welche Weise hier die Intermission der Reibung geschieht, ist noch nicht hinreichend erkl\u00e4rt, aber das Factum ist unzweifelhaft. Beim Reihen des Glases entsteht der Ton offenbar wie beim Streichen mit dem Fidelbogen durch periodische Unterbrechungen der Reibung verm\u00f6ge Adh\u00e4sion des E ingers, ebenso wie durch einen auf den Tisch aufgestellten und vorw\u00e4rts bewegten Finger die Bewe-gung periodisch unterbrochen wird. Dass aber die Bewegung der Luft beim Vorbeistr\u00f6men an den R\u00e4ndern einer Spalte durch Reibung periodisch aufgehalten werde, l\u00e4sst sich mehr vermuthen als beweisen. Dass die Luft am Wasser adh\u00e4riren k\u00f6nne, ist offenbar aus den gekr\u00e4uselten Wellen, welche der Wind auf der Oberfl\u00e4che des Wassers erregt. Weber Zellenlehre p. 33.\nCAGNiARn la Iour scheint mir die Miundh\u00f6hle nicht genug bei Erkl\u00e4rung des Muiidpfeil'ens zu beachten. Er sucht die Analogie mit einer Labialpi\u2019eife zu widerlegen, nur scheint jedoch diese Analogie sehr gross. Savak: hat gezeigt, dass sich auf dem","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stimme. Stimmorgan der Siiugethiere u. Amphibien. 221\nMundst\u00fcck einer Labialpfeife noch T\u00f6ne hervorbringen lassen, so dass genau genommen auch an den Labialpfeifen der Ton am Mundst\u00fcck oder Labium der Pfeife erregt und die Luft zur Schwingung gebracht, durch die Lufts\u00e4ule der Pfeife aber die Schwingung ver\u00e4ndert wird. Beim Mundpfeifen scheint es ganz \u00e4hnlich, die Ursache der Schwingung liegt in der Embouchure der Lippen oder der Korkscheiben, und ist eine intermittirende Reibung, aber diese Schwingung setzt die Lufts\u00e4ule der Mundh\u00f6hle in Schwingung und wird von der Zahl ihrer Schwingungen selbst wieder bestimmt. Der Anspruch unterscheidet sich von dem einer Labialpfeife auch darin, dass hier die Luft durch das Rohr und durch die Embouchure zugleich in fortschreitender str\u00f6mender Bewegung begriffen ist, w\u00e4hrend die Luft bei einer Labialpfeife ausser den stehenden Schwingungen nicht str\u00f6mt.\nMit dieser Erkl\u00e4rung stimmen die Thatsachen der Erfahrung \u00fcber die Ver\u00e4nderung der T\u00f6ne des Mundpfeifens vollkommen \u00fcberein. Die T\u00f6ne des Mundpfeifens werden n\u00e4mlich ver\u00e4ndert:\n1.\tDurch st\u00e4rkeres Blasen bei gleicher Oeffnung und Lage der Zunge. Diess verh\u00e4lt sich gerade so wie bei kleinen Labialpfeifen von 2 Zoll und weniger L\u00e4nge, deren Ton, wie ich p. 178. zeigte, sich ohne Beobachtung der Intervalle sehr bedeutend in die H\u00f6he treiben l\u00e4sst.\n2.\tDurch Ver\u00e4nderung der Oeffnung des Anspruchs oder der Lippeniiffnung. Diese Ver\u00e4nderung gleicht derjenigen, welche sich durch gr\u00f6ssere oder kleinere Oeffnung der Embouchure der Labialpfeifen erzielen l\u00e4sst. Siehe oben p. 13.9.\n3.\tDurch Ver\u00e4nderung des Rohrs oder der Mundh\u00f6hle. Die T\u00f6ne des Mundpfeifens werden tiefer beim Zur\u00fcckziehen der Zungenspitze, h\u00f6her beim Vorschieben der Zungenspitze. Diese Ver\u00e4nderung gleicht derjenigen, welche sich durch Ver\u00e4nderung der L\u00e4nge und Weite des Rohrs der Labialpfeifen bewirken l\u00e4sst. Auch laufen diese Ver\u00e4nderungen mit denen bei her Maultrommel parallel. Beim Mundpfeifen entstehen die Schwingungen durch Reibung der Luft beim Durchgang durch die Lippen\u00f6ff-nung, bei der Maultrommel durch Anschl\u00e4gen des Bl\u00e4ttchens oder Z\u00fcngelchens der Maultrommel, oder durch Einziehen der Luft; sowohl beim Mundpfeifen als bei der Maultrommel ist der gebildete Ton je nach der Gestalt der Mundh\u00f6hle und Lage der Zunge ceteris paribus verschieden.\nIlf. Von der Stimme der S\u00e4ugetliiere und Amphibien.\nA. Siiugethiere.\nDie Ursachen der Stimme bei den S\u00e4ugethieren sind im Wesentlichen ganz dieselben wie bei dem Menschen. Alles vorher Erw\u00e4hnte ist darauf anwendbar. Der Ton wird von den untern Stimmb\u00e4ndern angegeben. Kennt man einmal die Ursache der tiefen und starken T\u00f6ne durch die erschlafften unteren Stimmb\u00e4nder des Menschen, so wird man es nicht auffallend finden, dass diese B\u00e4nder die tiefen T\u00f6ne des Rindes u. a. angeben ; man sieht in der That die Schwingungen dieser B\u00e4nder beim Versuch mit dem Kehlkopf des Rindes, und: der Ton ist tief und stark.","page":221},{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222 IV. Buch. Bewegung. III. Abschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nhei Erschlaffung der B\u00e4nder. Die oberen Stimmb\u00e4nder mit den MoRGAGNi\u2019schen Ventrikeln fehlen den Wiederk\u00e4uern, und man siebt liier abermals, dass sie zur Erzeugung; der tiefen T\u00f6ne nicht noting sind. Vergl. Leheeldt\u2019s Versuche am Kehlkopfe verschiedener S\u00e4ugethiere a. a. O. Die Einhufer haben ein oberes Stimmband, beim Pferde bildet die Schleimhaut unter dem Kehldeckel auch eine halbmondf\u00f6rmige Falte, die von einem zum andern Stimm-bande geht; beim Esel und Maulthier fehlt diese Falte. Siehe Cuvier a. a. O. Gurlt, vergl. Anatomie der Hauss\u00fcu\u00e0eihUre 11. p. 167. Unter der halbmondf\u00f6rmigen Falte hat das Pferd eine trichterf\u00f6rmige H\u00f6hle, unter dem Kehldeckel \u00fcber der Falte ist eine zweite H\u00f6hle, welche beim Esel und Maulthier ger\u00e4umiger ist, wie denn auch die Ventriculi Morgagni gr\u00f6sser sind, welche hier enge und dem Kehldeckel n\u00e4her liegende Oeffnungen haben. Gurlt a. a. O. p. 167. Das Schwein hat unter dem Kehldeckel auch einen ger\u00e4umigen h\u00e4utigen Sack. Die Anatomie des Kehlkopfs andrer Ordnungen der S\u00e4ugethiere ist von Brandt [Uiss. de marmnalium e/uorun-dam praesertim quadrumanorum rods instrumenta. Berol. 1826. 4.) so vollst\u00e4ndig er\u00f6rtert, dass wir hier darauf verweisen k\u00f6nnen. Bei den Affen \u00e4ndert sich der Hauptlheil des Stimmorgans nicht, aber die resonirenden Theile sind oft sehr eigent\u00fcmlich. Dahin geh\u00f6rt der Kehlsack des Orang-Utangs zwischen Schildknorpel und Zungenbein; bei dem Mandrill (Simia mormon) dem Pavian, den Makaken fand Cuvier auch einen h\u00e4utigen Sack unter dem Zungenbein. Am gr\u00f6ssten ist aber der resonirende Apparat der Heulaffen der neuen Welt, Mycetes, durch die Auftreibung ihres Zungenbeins und Schildknorpels durch die von den Ventrikeln ausgehenden Seitens\u00e4cke des Kehlkopfs, und durch die von Brandt beschriebenen Sacci laryngo-phnryngei. Der Kehldeckel erh\u00e4lt bei diesen Affen eine sehr eigent\u00fcmliche Gestalt und bedeutende Gr\u00f6sse. Bei den Sapajous wird durch die Verst\u00e4rkung der keilf\u00f6rmigen Knorpel (C. Wrisbergii) durch ihre Form und die d-es Kehldeckels, wie Cuvier zeigte, eine A f\u00f6rmig gekr\u00fcmmte R\u00f6hre gebildet. Die Stimme dieser Thiere ist pfeifend. Ueber die bei den S\u00e4ugetieren oft sehr grossen Cartilagines cun\u00e9iformes und eigent\u00fcmliche Knorpel am Kehlkopf der S\u00e4ugetiere hat Brandt Aufschluss gegeben.\nB. Amphibien.\nDie Stimme der Amphibien entsteht im Kehlkopf wie bei den S\u00e4ugethieren. Sowohl die Fr\u00f6sche als Crocodile haben Stimmb\u00e4nder. Ueber den Kehlkopf des Crocodils siehe A. v. Humboldt in Beobachtungen aus der Zoologie u. vergl. Anatomie in Mayer\u2019s Analecten. Da B\u00e4nder im erschlafften und bloss, von der Luft ausgedehnten Zustande tiefe T\u00f6ne angeben, so darf man sich nicht wundern, dass das kleine Simmorgan des Frosches'so tiefe T\u00f6ne 'debt. Beim m\u00e4nnlichen Frosch treten beim Tongeben zugleich h\u00e4uti-e S\u00e4cke am Halse nach aussen, welche zur Verst\u00e4rkung des Tones dienen. Das Stimmorgan der m\u00e4nnlichen Rana pipa (Pipa aineri-cana) zeigt uns eine eigent\u00fcmliche Abweichung, indem die T\u00f6ne","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"\u20182. Stimme. Stimmorgan der V\u00f6gel.\n223\nl,jRV von festen schwingenden K\u00f6rpern angegeben werden. T)ie Luftr\u00f6hre fehlt wie bei den Fr\u00f6schen \u00fcberhaupt.. Die Bronchien j,el,cn sogleich aus dein Kehlkopf hervor. Dieser bildet eine von Rudolphi beschriebene, grosse, knorpelige Lade, welche von vorn die Luft durch die Stimmritze erh\u00e4lt. Im Innern dieser Lade befinden sich zwei knorpelige St\u00e4be fast so lang als die Lade ist; sie sind von Mayer {Noc. Act. Kat. Cur. XII. 2. 541.) beschrieben. Es sind keine frei sich bewegende Schwengel, wie hei den Glocken, sondern sie sitzen mit ihrem vordem Ende fest; ihr hinteres freies Ende liegt jederseits neben der Oeffnung des Bronchus. Diese K\u00f6rper wirken wie stabf\u00f6rmige Zungen oder Stimmgabeln , w\u00e4hrend die gew\u00f6hnlichen Stimmorgane der Thiere membranes sind. H\u00e4lt man ein d\u00fcnnes Knorpelst\u00fcckchen von einigen Linien L\u00e4nge an einem Ende fest, und blast, den Rand des andern Endes mit einem R\u00f6hrchen an, so erh\u00e4lt man einen brummenden Ton, sobald der Anspruch gelingt.\nIV. Von der Stimme der V\u00f6gel.\n1. Stimmorgan der V\u00f6gel.\nWir folgen bei der anatomischen Darstellung den Untersuchungen von' Cuvier und Savart. Neue Zerghedei ungen k\u00f6nnen in diesem Theil, besonders nach Savart s Untersuchungen nui auf das Bekannte stossen. Das Stimmorgan der V\u00f6gel, der untere Kehlkopf an der Theilungsstelle der Luftr\u00f6hre wird in den meisten Fallen schon \u00e4usserlich durch die Verschmelzung mehrerer Luftr\u00f6hrenringe, die sogenannte Trommel angedeutet. Der letze dieser Ringe bildet vorn und hinten einen Vorsprung, dessen Spitze tiefer liegt als der Seitentheil des Ringes, beide Vorspr\u00fcnge sind hei den meisten V\u00f6geln, die eine Stimme haben, durch einen kn\u00f6chernen Querbalken verbunden, wodurch das untere Ende der Luftr\u00f6hre in 2 1 heile getheilt wird, an welche sicli die Bronchien anschliesscn. Sowohl am \u00e4ussern als innern Umfang der Bronchial\u00f6flnungen der Luftr\u00f6hre k\u00f6nnen membran\u00f6se Falten liegen. Bei manchen V\u00f6geln wie den G\u00e4nsen ist das Tongehende eine an der \u00e4ussern Seite des untern Randes der Trommel ausgespannte Falte. Zwischen dem Ende der Trommel und dem ersten Luftr\u00f6hrenring ist die Luftr\u00f6hre n\u00e4mlich h\u00e4utig, diese Haut ist so weit sie am untern Rande der Trommel angef\u00fcgt ist, sehr gespannt, indem sie durch den vordem und hintern Fortsatz am untern Rande der Irommel straff allgezogen wird, weiter abw\u00e4rts ist die Membran zwischen Trommel und erstem Luftr\u00f6hrenring schlaff, der gespannte Theil der Membran am untern Ende und \u00e4ussern Rande der Trommel ist das Stimmorgan der G\u00e4nse; wenn selbst die Bronchien abgerissen werden, bleibt dieser straffe gespannte Theil der Membran am untern Ende der Trommel sitzen, und man erh\u00e4lt immer noch T\u00f6ne, wenn man in das obere Ende der Luftr\u00f6hre bl\u00e4st. Nach innen springt diese Haut nur wenig vor, was Cuvier Falte oder Stimmband nennt. Bei den G\u00e4nsen und mehreren andern V\u00f6geln findet sich am innern Rande der Bronchial\u00f6tfnungen der","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224 IV. Buch. Bewegung. III. Abschn. Von A. Stimme u. Sprache.\nLuftr\u00f6hre kein Stimmhand, keine Falte; aber hei den Singv\u00f6geln gieht es nach Savart\u2019s Beobachtungen (Froriep\u2019s Not. 331.) zuerst eine Falte am innern Bunde der Trommel (memhrana semilunaris.) Savart fand sie sehr ausgebreitet bei der Nachtigall, der Grasm\u00fccke, dem Zeisig, H\u00e4nfling, Stieglitz, Gr\u00fcnling, Finken, Rothkehlchen, Blaukehlchen, Weidenzeisig, Rohrammer, Haus-rothschwanz, Zaunk\u00f6nig, Lerche, Rauchschwalbe, Canarienvogel; die Membran fehlt hei dem Kernbeisser, Sperling, Goldh\u00e4hnchen, Meerschwalbe, Uferschwalbe, Graufink, Gr\u00fcnammer, Rohrmeise u. a. Bei den V\u00f6geln, welche sprechen lernen k\u00f6nnen, Raben, Kr\u00e4hen, Elstern, H\u00e4hern, Staaren, Drosseln, Amseln, hat die mem-brana semilunaris die gr\u00f6ssten Dimensionen. Am Eingang der Bronchien giebt es nach Savart noch 2 Stimmb\u00e4nder, ein \u00e4usseres und inneres. Die 3 ersten Piinge der Bronchien sind eigent\u00fcmlich gestaltet. Ihre Formen sind von Savart sehr genau beschrieben, auch abgebildet. L\u00e4ngs der innern Fl\u00e4che des dritten Bogens befindet sich bei den Singv\u00f6geln eine h\u00e4utige, aus einer besondern, wie es scheint, elastischen Substanz gebildete Schnur, das \u00e4ussere Labium der Glottis der Singv\u00f6gel. Der \u00e4ussere Umfang der R\u00e4nge kann sich erheben, senken, Bogen beschreiben, namentlich der dritte Ring, dessen Enden dabei als fixe Puncte dienen, so dass die genannte Schnur oder Sehne die Achse f\u00fcr die Bewegungen jenes Knorpels bildet. Nach innen wird die Wand an der Glottis oder das innere Labium bei den Singv\u00f6geln durch einen kleinen Knorpel, Cartilago arytenoidea, und W\u00fclste aus derselben Substanz wie am \u00e4ussern Labium gebildet. Diese liegen in einer h\u00e4utigen Wand (Paukenmembran von Cuvier), welche von den Knorpeln der Bronchien bis zum kn\u00f6chernen Querst\u00fcck sich erstreckt. Da diese Membran mit der Membrana semilunaris zusammenh\u00e4ngt, so kann letztere von der Paukenmembran gespannt werden. Die Paukenmembran ist bei vielen V\u00f6geln \u00e4usserst klein und die Ringe der Bronchien bald vollst\u00e4ndig, rvie bei den Enten und G\u00e4nsen, bei den Singv\u00f6geln erstreckt sie sieb nach Savart bis zum 4. und 5. Knorpel der Bronchien; bei den V\u00f6geln welche sprechen k\u00f6nnen, ist die Membran am lauesten und die innere Wand der Luftr\u00f6hren\u00e4ste am wenigsten von Knorpelringen bedeckt. Durch Muskeln, welche dem untern Kehlkopf eigenth\u00fcmlieh sind, k\u00f6nnen die ersten Knorpel der Bronchien angezogen werden, die Labien der Stimmritze bald mehr gen\u00e4hert, bald mehr von einander entfernt werden. Cuvier theilt die V\u00f6gel, je nach der Zahl dieser Muskeln, in mehrere Classen. Bei der einen giebt es keine besonderen Muskeln des untern Kehlkopfs, und die Luftr\u00f6hre kann nur durch Niederziehen der Luftr\u00f6hre (Musculi sternotracheales und ypsilotracheales) bedeutend verk\u00fcrzt werden. Die V\u00f6gel, welche hieher geh\u00f6ren, sind die Enten und G\u00e4nse unter den Palmipeden und die H\u00fchnerartigen. Unter den Palmipeden haben die Enten und Taucher (Mergus) Erweiterungen am untern Kehlkopfe, und dieser wird bei den M\u00e4nnchen zu einer grossen unsymmetrischen, theils kn\u00f6chernen, theils membran\u00f6sen Trommel ausgedehnt, welche offenbar den eigenth\u00fcmlichen Klang der Stimme der m\u00e4nnlichen Individuen","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stimme. Stimmorgan der V\u00f6gel.\n225\nhervorbringt. Unter den Kehlk\u00f6pfen mit besonderen Muskeln giebt es wieder mehrere Abtbeilungen. Kur ein Muskel zum Anziehen der Knorpelbaibringe gegen die Luftr\u00f6hre findet sieh in den Accipitres, den Wasserh\u00fchnern, Wasserrallen, Schnepfen, Strandlaufern, Kiebitzen, M\u00f6ven, Scharben, Eisv\u00f6geln, Geismelkern, Reihern, Rohrdommeln, Kukuken. Alle diese V\u00f6gel haben wenig Ver\u00e4nderung der Stimme. Urei Muskeln haben die Papageyen. Lei ihnen hat auch der erste Halbring des Bronchus eine solche Gestalt dass er eine an der Trommel vorn und hinten eingelenkte Klappe darstellt, welche stark nach innen vorspringen kann ; diese V\u00f6gel haben keinen Querbalken am untern Ende der Trommel und nur eine einzige Stimmritze. Zwei Muskeln schliessen, einer \u00f6ffnet die Stimmritze. Bei den Singv\u00f6geln ist der Kehlkopf mit 5 Muskelpaaren versehen.\nDie Luftr\u00f6hre der V\u00f6gel bildet mit dem Mund das Ansatzrohr vor dem Kehlkopf, sie kann durch N\u00e4hern, und selbst durch Uebereinandcrwegschieben der Ringe ausserordentlich verk\u00fcrzt werden. Die Luftr\u00f6hren einiger V\u00f6gel sind l\u00e4nger als der Hals, durch Biegungen, wie heim Auerhahn, hei Penelope, hei den Reihern, dem Storch, Kranich, besonders hei den M\u00e4nnchen. Beim wilden Schwan liegt die Luftr\u00f6hre sogar mit einer Windung in der Substanz des Brustbeins. In Hinsicht der hesondern Beschreibung der Luftr\u00f6hre verweise ich auf Cuvier; er theilt die Luftr\u00f6hren in cvlindrische; kegelf\u00f6rmige, mit pl\u00f6tzlichen Anschwellungen versehene, allm\u00e4hlig sich erweiternde und verengende. Kegelf\u00f6rmige Luftr\u00f6hren mit sehr allm\u00e4hliger Erweiterung gegen den Mund haben die Reiber und die Scharben. Die Luftr\u00f6hre ist pl\u00f6tzlich erweitert hei Anas clangula, fusca, auch hei Palamedea bispinosa nach v. Humboldt\u2019s Beobachtung. Allm\u00e4hlige Erweiterungen finden sich hei den Mergus und m\u00e4nnlichen Enten.\nMan ist hier auf die vergleichende Anatomie der Stimmwerkzeuge so kurz und weit eingegangen, als es zum Verst\u00e4ndniss des Physiologischen durchaus n\u00f6thig ist.\n2. Theorie der Vogelstimme. Cuvier vergl. Anat. \u00fcbers, o. Meckel. IV. 229. Savart. Froriep\u2019s Not. 331. 332.\na. Theorie von Cuvier. Cuvier zeigte, dass die Stimme der V\u00f6gel am untern Kehlkopf entsteht, er h\u00f6rte, dass eine Amsel, eine Elster, eine Ente nach Durchschneidung der Luftr\u00f6hre noch zu schreien vermag; er verstopfte die obere H\u00e4lfte der Luftr\u00f6hre, band den Schnabel zu, das Geschrei blieb dasselbe; man schnitt der Ente sogar den Hals ab, sie sticss noch mehrere T\u00f6ne aus. An diese Versuche, die jedem Beobachter dasselbe Resultat geben, schliessen sich diejenigen am ausgeschnittenen untern Kelil-kopf an. Bl\u00e4sst man in die Bronchien einer Ente so entsteht der ganz nat\u00fcrliche Ton der Ente; dasselbe erfolgt, wenn man in die Luftr\u00f6hre der Ente und Gans bl\u00e4st, und es k\u00f6nnen selbst die Bronchien abgeschnitten sevn; wenn nur der am unteren Rande der Trommel sehr gespannte Tlieil der Bronchialhaut noch da ist, der beim Abreissen der Bronchien noch bleibt, so erhalte ich jedesmal T\u00f6ne. Nach der Theorie 'von Cuvier wird der Ton durch die Verl\u00e4ngerung und Erschlaffung der Stimmfalte tiefer,\nIW iiller\u2019s Physiologie, 2r Bd. I.\t\\ 5","page":225},{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"226 I V. Buch. Bewegung. III. Absehn. Von d. Stimme u. Sprache.\ndurch die Verk\u00fcrzung und Spannung h\u00f6her. Zu diesen Mitteln gesellen sich noch die Ver\u00e4nderungen der Weite der OefFnung und die daraus hervorgehende Verschiedenheit der Geschwindigkeit der Luft. Allein so lange das Mundst\u00fcck allein sich ver\u00e4ndert und die Binge der Luftr\u00f6hre und ihre obere OefFnung dieselben bleiben, beschr\u00e4nken sich die Ton Ver\u00e4nderungen bloss auf die, welche mit dem Grundton harmonisch sind.\n. Sev daher der Grundton hei gr\u00f6sster Erschlaffung des La-biums c, so k\u00f6nne der Vogel durch die Verk\u00fcrzung desselben nur die Octave, die Quinte derselben Octave, die n\u00e4chste Octave, ihre Terz und Quinte, die n\u00e4chste Octave hervorbringen. Diese Ansicht beruht offenbar auf einem Missverst\u00e4ndnis*; denn die einseitig gespannten Membranen ver\u00e4ndern ihre T\u00f6ne im umgekehrten Verh\u00e4ltniss der L\u00e4nge derselben und wie die Quadratwurzeln der spannenden Kr\u00e4fte, und da die Spannung in jeder Fraction zwischen 1, 4, 16 gedacht werden kann, so m\u00fcssen auch alle T\u00f6ne zwischen 1 und 2 und nicht bloss die harmonischen T\u00f6ne auf diese Art m\u00f6glich seyn. H\u00e4tte Cuvier gar nicht anf die Spannung der Labien, sondern nur auf die Weite des Mundst\u00fccks gerechnet, so w\u00fcrde sein Vergleich der Stimmorgane der V\u00f6gel mit einer Labialpfeife richtig geblieben seyn; indem er auf die Schwingungen der Stimmb\u00e4nder rechnete, verwechselte er das Mundst\u00fcck einer Zungenpfeife mit dem einer Labialpfeife, welche bei st\u00e4rkerem Blasen die T\u00f6ne 2, 3, 4, 5, 6 giebt. Die nicht harmonischen T\u00f6ne l\u00e4sst Cuvier durch die Verk\u00fcrzung der Luftr\u00f6hre hervorbringen. Indem der Vogel die Luftr\u00f6hre um 4 verk\u00fcrze, bringe er ceteris paribus den n\u00e4chsten ganzen Ton \u00fcber dem Grundton hervor; nun brauche er die L\u00e4nge der Luftr\u00f6hre nicht zu ver\u00e4ndern, sondern bloss das Mundst\u00fcck zu verk\u00fcrzen, um alle harmonischen T\u00f6ne des zweiten Tons hervorzubringen. Um auf diese Art von c bis c zu steigen, m\u00fcsste die Luftr\u00f6hre sich um die H\u00e4lfte verk\u00fcrzen k\u00f6nnen, was wohl nicht gut m\u00f6glich ist, das \u00fcbrige wird indess durch die verschiedene Weite der OefFnung des obern Kehlkopfs hervorgebracht, wrie die T\u00f6ne an einer gedeckten Pfeife h\u00f6her werden, in dem Grade als man die Deckung abnehmen l\u00e4sst. Auf diese Art liesse sich fast wieder eine Octave am Stimmorgan der V\u00f6gel erreichen. Wenn Cuvier das Stimmorgan hienach mit den Trompeten vergleicht, so ge-r\u00e4th der grosse Forscher wieder in eine Verwechselung der Labialpfeifen mit den Zungenpfeifen, wohin die Trompeten geh\u00f6ren, weil der Anspruch der Lufts\u00e4ule durch membran\u00f6se Zungen, die Lippen, geschieht. In einer Zungenpfeife \u00e4ndern sich die T\u00f6ne aber nicht wie in den Labialpfeifen nach der L\u00e4nge der Lufts\u00e4ulen, sondern in ganz andern Verh\u00e4ltnissen.\nb. Theorie von Savart. Dieser grosse Physiker vergleicht das Slimmorgan der V\u00f6gel, wie das des Menschen, mit einer Labialpfeife, und h\u00e4lt also die Luft f\u00fcr das eigentlich T\u00f6nende, so dass das Mundst\u00fcck am untern Kehlkopf dem Mundst\u00fcck einer Labialpfeife und nicht einer Zungenpfeife vergleichbar wird. Savart hat indess gezeigt, dass bei dieser Voraussetzung doch die W\u00e4nde der Luftr\u00f6hre einen grossen Einfluss auf den Ton der","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"2. Stirrnne. Stimmorgan der VSgel.\n227\nLufts\u00e4ule haben m\u00fcssen. Er verglich die T\u00f6ne verschiedener gleich langer und weiter Labialpfeifen aus verschiedenem Material. Alle waren 1 Fuss lang, 9 Linien dick (im Lichten). Der Versuch ergab, dass eine aus 12facli zusammengeleimtem Papier gebildete Pfeife, von ^ Linie Dicke der W\u00e4nde, eine schon etwas andere Zahl der Schwingungen hat, als eine h\u00f6lzerne Pfeife, und dass sich der Ton um mehr als eine Octave vertiefen kann, wenn die Steifheit der W\u00e4nde bedeutend abnimmt, namentlich durch Anfeuchtung. Hier geratben die W\u00e4nde der Pfeife in Schwingung und haben seihst wieder auf den Ton der Lufts\u00e4ule Einfluss.\nc. Bemerkungen. Savabt sucht die Vergleichung des Stimmorgans der V\u00f6gel mit einer Zungenpfeife durch die Bemerkung zu widerlegen, dass der Ton eines Mundst\u00fccks bei st\u00e4rkerm Blasen sich nicht bedeutend \u00e4ndere, dass man dagegen durch ver\u00e4nderte Geschwindigkeit des Luftstroms bei einem Singvogel nach seinen Versuchen vom Grundton aus alle m\u00f6glichen in anderthalb Octaven begriffenen T\u00f6ne hervorbringen k\u00f6nne. Ich halte es f\u00fcr durchaus nicht erwiesen, dass das Stimmorgan der V\u00f6gel wirklich eine Zungenpfeife darstelle; indess ist der Einwurf von Savart nicht entscheidend. Denn ich habe gezeigt p. 155., dass sich die T\u00f6ne an Mundst\u00fccken mit membran\u00f6sen' Zungen von Kautschuck um einige T\u00f6ne durch st\u00e4rkeres Blasen erh\u00f6hen lassen, dass diese Erh\u00f6hung sich auf alle in einer Quinte liegenden T\u00f6ne erstreckt hei Zungen von Arterienhaut, dass sich der Ton der Stimmb\u00e4nder des m\u00e4nnlichen Kehlkopfs um alle in einer Quinte liegenden T\u00f6ne erh\u00f6hen l\u00e4sst, und ganz dasselbe, ja noch mehr kommt an den Mundst\u00fccken mit metallischen Zungen vor, wenn die Zunge nur d\u00fcnn genug ist. Die T\u00f6ne der d\u00fcnnen metallenen Zunge in der Schalmei der Kinder konnte ich um mehr als anderthalb Octaven erh\u00f6hen, und bei st\u00e4rkerm Blasen durch alle in anderthalb Octaven m\u00f6glichen T\u00f6ne durchgehen. Der Erfolg blieb sich gleich, mochte ich durch die obere Oeffnung der Schalmei blasen, oder das St\u00fcck, worin die metallene Zunge steckt, seihst anblasen. Man hat sich hei dem Studium der metallenen Zungen zu sehr an die dicken Zungen der Orgelpfeifen gehalten, hei wejehen die gew\u00f6hnliche Geschwindigkeit des Luftstroms nicht stark genug ist, um den Ton zu erh\u00f6hen; vergl. oben p. 155.\nOb die T\u00f6ne des Stimmorgans der V\u00f6gel nach Analogie der Zungenpfeifen und des menschlichen Slimmorgans entstehen, oder nach Analogie der Lahialpfeifen, und ob die Lippen der Stimmritzen des Vogels durch Eigenschwingung t\u00f6nen oderoh durch die Reihung des Luftstroms an den Lippen die Lufts\u00e4ule der Luftr\u00f6hre in Schwingung versetzt werde, scheint mir ganz ausserordentlich schwer und f\u00fcr jetzt fast unm\u00f6glich zu entscheiden. Das einfache Stimmorgan vieler V\u00f6gel ist unzweifelhaft eine Zungenpfeife, wie z. B. das der Enten, G\u00e4nse und anderer. Man sieht nicht allein die heftigen Schwingungen des \u00e4ussern Stimmbandes, dieser Ton hat auch die gr\u00f6sste Aehnlichkeit mit einem durch Schwingungen von Membranen erzeugten Ton (und dasselbe gilt von allen V\u00f6geln, diu einen Membranenton haben, wie die Stimme der Rahen, die\n15 *","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228 IV. Buch. Bewegung. III. Absehn. Von d. Stimme u. Sprache.\nilocli schon zu den Singv\u00f6geln geh\u00f6ren). Audi hat die L\u00e4nge der Luftr\u00f6hre der Gans, wenn man durch die Bronchien bl\u00e4st, nur einen ganz untergeordneten Einfluss auf die Ver\u00e4nderung des Tons, und man kann bei ganz kurzer Luftr\u00f6hre noch denselben charakteristischen Ton der G\u00e4nse, wie hei langen Luftr\u00f6hren erzeugen. Ob aber der Pfeifenton der Stimmv\u00f6gel auch Lieber geh\u00f6re, und der Ton nicht vielmehr wie heim Mundpfeifen entstehe, ist eine andere Frage. Mir ist die Vergleichung mit einem Zungenwerk immer noch wahrscheinlicher. Denn erstens ist es nicht m\u00f6glich, dass die Lippen der Glottis hei bestimmter Wirkung der Muskeln nicht in Schwingung gerathen, und wenn auch die Reibung der Luft auch Antbeil hat, so wird jedenfalls eine Compensation zwischen den Schwingungen der Luft und der Stimmb\u00e4nder ein treten m\u00fcssen, dann geh\u00f6rt aber das Stimmorgan des Vogels nicht mehr ganz unter die Labialpfeifen, sondern hat zugleich ein Element der Zungenpfeifen. Dann aber kann ich an dem untern Kehlkopf von V\u00f6geln (Rahe, Staar) an dem blossen Mundst\u00fcck ohne Luftr\u00f6hre durch ein in einen Bronchus eingesetztes Rohr Tone hervorbringen, und diese T\u00f6ne des Mundst\u00fccks \u00e4ndern sich nicht merklich (wie bei dem menschlichen Stimmorgan), wenn ich bei gleich schwachem Blasen ein R\u00f6hrchen Vorhalte. Bei der Gans hat die L\u00e4nge der Luftr\u00f6hre jedenfalls einen sehr untergeordneten Einfluss auf den Ton des untern Kehlkopfes', wie an der menschlichen Zungenpfeife ein Ansatzrohr. Die meisten Ver\u00e4nderungen der T\u00f6ne lassen sich am Kehlkopf der V\u00f6gel offenbar durch verschiedene St\u00e4rke des Blasens hervorbringen, wie Savabt zeigte, was allerdings an so kleinen Labialpfeifen, wie die Luftr\u00f6hre der kleinen Singv\u00f6gel, auch geschehen kann, wie oben p. 178. gezeigt wurde, aber auch an Zungenpfeifen mit membran\u00f6ser Zunge m\u00f6glich ist.\nDie Luftr\u00f6hre kann den Ton entweder wie bei einer Labialpfeife ver\u00e4ndern, was mir nicht wahrscheinlich ist, oder wie bei den Ansatzr\u00f6hren der Zungenpfeifen. Die End\u00f6ffnung der Luftr\u00f6hre am obern Kehlkopf kann, wenn sie sich Verengert, wie an Labialpfeifen und Zungenpfeifen den Ton vertiefen.\nDie Paukenmembran, welche heftig mitschwingt, muss auf den Ton des Mundst\u00fccks Einfluss haben, und es muss eine Accommodation zwischen dem innern Labium der Glottis, der Membrana semilunaris und der Paukenmembran statttinden. Die Paukenmembran\ngleicht dem schwingenden H\u00e4utchen einer Pfeife von Schilfrohr. \u2605 \u2605\n*\nDie meisten Fische sind stumm, nur von einigen wenigen weiss man, dass sie T\u00f6ne von sich geben; dahin geh\u00f6ren die Trigla, Cottus, Pogonias.\nDie Anatomie dieser Thiere ist hinreichend bekannt; aber es ist vollends unm\u00f6glich, sich jetzt eine gen\u00fcgende Hypothese \u00fcber die Erzeugung von T\u00f6nen durch diese Thiere zu geben. Daher ich mich auf die kurze Afigabe der Facta beschr\u00e4nken muss.\nDie Triglen geben einen grunsenden Ton von sich, wenn sie aus dem Wasser genommen werden ; die Anatomie dieser Thiere","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":".3. Von der Sprache.\n229\nzeigt uns keine Organe, von welchen man diese T\u00f6ne mit Sicherheit ableiten k\u00f6nnte. Sollte der eigent\u00fcmliche Muskel der Schwimmblase hei diesen Thiereu Antheil an jener Tonerzeugung haben? Die Cottus, welche heim Druck auf ihren K\u00f6rper einen Ton h\u00f6ren lassen, haben nicht einmal eine Schwimmblase. Unter den Sciaenoiden gieht es mehrere Fische, welche T\u00f6ne gehen, am meisten bekannt sind jedoch Corvina ronchus und die Pogonias, welche letztere sich den Namen der Tamhoure erworben haben. Sie bringen anhaltende T\u00f6ne unter dem Wasser hervor; Cuvier und Valenciennes haben die hieher geh\u00f6rigen Beobachtungen von Mitciiill, White, Schoepe-, A. v. Humboldt zusammengestellt. Die Schwimmblase dieser Thiere, welche Cuvier und Valenciennes abbildeten, ist sehr gross wie bei den meisten Sciaenoiden, die einen Ton geben, mit starken Muskeln bedeckt, und hat Anh\u00e4nge, die nach Cuviee zwischen den Rippen in das Fleisch eindringen. Bei einem Pogonias fasciatus, den ich untersuchte, waren leider Eingeweide und Schwimmblase ausgenommen. An den Rippen sassen inwendig bandartige Streifen an, welche wahrscheinlich von der Schwimmblase abgerissen waren, sie waren jedoch nicht hohl. Ausserordentlich stark sind die Pflasterz\u00e4hne der oberen und unteren Schlundknochen dieser Thiere.\nUeber die von der Sphinx alropos hervorgebrachten T\u00f6ne und die summenden T\u00f6ne der Dipteren findet man hinreichende Aufschl\u00fcsse bei R. Wagner, Muell. Arch. 1836, und Burmeister in Poggend. Ann. XXXVIII. Auch die Acheta domestica und die Locusten geben T\u00f6ne von sich, vergl. Cuv. regn. ani.ni. 5. 184.\nIII. Capiiel. Von der Sprache.\nAusser den in dem Stimmorgan gebildeten T\u00f6nen von musikalischem Werthe gieht es noch eine grosse Anzahl durch das Ansatzrohr des Stimmorgans hervorzubringender Laute oder Ger\u00e4usche, durch deren Verbindung mit einander die Sprache entsteht, indem gewisse Verbindungen dieser Laute zur Bezeichnung von Gegenst\u00e4nden, Eigenschaften, Th\u00e4tigkeiten, Beziehungen dienen. Die Sprachen benutzen nicht alle auf diese Art m\u00f6glichen Ger\u00e4usche und Laute, weil ihre Verbindung mit anderen oft schwer ist. Diejenigen, deren Verbindung leicht ist, finden sich zum grossen Theil in den meisten Sprachen. Jede Sprache enth\u00e4lt eine gewisse Anzahl dieser m\u00f6glichen Laute, niemals finden sich alle m\u00f6glichen Laute in einer Sprache vereinigt; vielmehr entstehen charakteristische Unterschiede in den Sprachen, in sofern die einzelnen Sprachen gewisse Classen dieser Laute oder einzelne derselben vorzugsweise, andere sparsam oder gar nicht anwenden. Von der Physiologie ist das nat\u00fcrliche System dieser Laute aufzustellen. Die Versuche dazu von Seiten der Grammatik sind durchweg unzureichend, indem man bei der Einthei-lung der Laute von unwesentlichen Eigenschaften derselben ausging. Die Eintheilung der Laute nach den Organen, z. B. in","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230 IV. Buch. Bewegung. III. Ahschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nLabiales, Dentales, Gutturales, Linguales, ist bis auf den einfachen Unterschied der Mund- und Nasenlaute, Orales und Nasales, fehlerhaft, indem hier Laute Zusammenkommen, welche nach den physiologischen Principien zum Theil ganz verschieden sind; \u00fcberdiess wirken bei den meisten Lauten mehrere Theile des Mundes zugleich mit. Der Unterscheidung der Mutae, auch der Liquidae liegt etwas Richtiges zu Grunde, aber die Anwendung ist fehlerhaft gewesen. Selbst die Eigenschaften der Vocale im Gegensatz der Consonanten sind nicht hinreichend gew\u00fcrdigt worden. Durchg\u00e4ngig setzt man ihr Wesen darin, dass sie nicht stumm und blosse Ger\u00e4usche wie die Consonanten sind, sondein im Stimmorgan urspr\u00fcnglich angegeben, im Munde aber modifien t werden. Der Unterschied der Vocale von den Consonanten ist indess weit geringer; denn alle Vocale lassen sich stumm, als blosse Ger\u00e4usche, so gut wie die Consonanten angeben und als blosse Ger\u00e4usche deutlich unterscheiden, wie es jedesmal beim leisen tonlosen Sprechen, Vox clandestina, geschieht; die lauten Vocale entstehen also bloss durch Mitt\u00f6nen der Stimme. Aber auch eine ganze Classe von Consonanten kann sowohl stumm als blosses Ger\u00e4usch, wie auch mit Mitt\u00f6nen der Stimme angegeben werden, wie wir bald sehen werden. Der Unterschied der Vocale und Consonanten ist dem Wesen nach ein ganz anderer. Ein Hauptfehler bei mehreren Versuchen einer an-t\u00fcrlichen Eintheilung der Laute war, dass man auf ihre m\u00f6gliche Bildung als Ger\u00e4usch ohne Ton bei der Vox clandestina zu wenig R\u00fccksicht nahm. Man muss vielmehr, um die Eigenschaften der Laute ihrem Wesen nach zu erkennen, vom leisen tonlosen Reden, Vox clandestina, ausgehen und dann untersuchen, welche der stumm anzugebenden Laute auch mit Ton modificirt hervorgebracht werden k\u00f6nnen. Hiebei k\u00f6mmt man auf zwei Reihen von Lauten, eine, deren Glieder nur stumm und der Verbindung mit der Stimme ganz unf\u00e4hig sind, eine andere, deren Glieder zwar stumm angegeben werden k\u00f6nnen, aber auch der Verbindung mit der Stimme f\u00e4hig sind. Eine andere wichtige Unterscheidung der Laute ist die, ob sie bei pl\u00f6tzlich sich \u00e4ndernder Mundstellung nur einen Moment angegeben werden k\u00f6nnen und keiner Verl\u00e4ngerung, so weit der Athem reicht, f\u00e4hig sind (Skrepitus incontinuus, explosivus), oder ob sie, indem die Stellung der Mundtheile durchaus verharrt, ad libitum, und so lange der Athem reicht, verl\u00e4ngert werden k\u00f6nnen (Strepitus continuus). Alle Ger\u00e4usche der ersten Art sind keiner gleichzeitigen Verbindung mit Stimmton (Intonation) f\u00e4hig und absolut stumm; last alle Consonanten der zweiten Art k\u00f6nnen mit Intonation verbunden werden. Hiedurch entstehen eigent\u00fcmliche Modificationen, w\u00e4hrend hingegen die absolut stummen Consonanten mit Strepitus explosivus incontinuus durch Verbindung mit einer Aspiration, Hauch, einer Umwandlung f\u00e4hig sind.\nSchriften \u00fcber die Sprache: J. Wallis de luqucla s. sonorum furmatione in C. Amman, Surdus lu(/uens, Lugd. Bat. 1727. En atzen stein teniamen resoluendi problema ah Arad. Sc. Betrap. 1780 propos. Pet rap. 1. Rempele\u00bb, Mechanismus der menschlichen Sprache","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"\u2018231\n3. Sprache. Stumme Sprache.\nnebst der Beschreibung seiner sprechenden Maschine. IVien 1791. 8. 1! eitter\u2019s Melhodcnbiich zum Unterricht jiir Taubstumme. fVien 1828. Rudolphi, Physiologie. Chladni in Gilb. Ann. 1824. St. 2. C. Mayer in Meckel\u2019s Archiv f. Anat. u. Physiol. 1826. R. Sghultiiess, das Stammeln und Stottern. Z\u00fcrich 1830. 8. R. Willis in Poggend. Ann. XXIV. Heusinger in seiner Ausgabe von Magendie s Physiologie. Purkinje, Badania w przedmiocie fizyolo-gii rnua'y Ludzki\u00e9j. Krakow 1836. 8. (Forschungen \u00fcber die Physiologie der menschlichen Sprache. Krakau 1836.)\nA. Stumme\u00ab Lautsystcm der leisen Sprache, Vos clandestins.\n/. Stumme Vocale.\na, e, i, o, u, a, \u00f6, \u00fc, ii,. und die Nasenvocale a, 3, oe, o. Alle Diese Vocale lassen sich stumm als blosse Ger\u00e4usche deutlich unterscheidbar aussprechen. Es ist hier die Frage, ob sie als stumme Vocale mit den stummen Consonanten \u00dcbereinkommen, oder physiologisch sich ganz davon unterscheiden. Alle stummen Consonanten entstehen bloss im Ansatzrohr vor dein Stimmorgan, oder in Mund- und Nasenh\u00f6hle als Ger\u00e4usche der durch den auf verschiedene Art modificirten Canal durchstr\u00f6menden Luft. Die stummen Vocale verhalten sich aber ei-nigermassen verschieden ; denn wenn auch die Stimme dabei nicht t\u00f6nt, so liegt doch die erste Ursache des stummen Vocales nicht im Munde, sondern in der Stimmritze, wie man durch Versuche an sich buld finden wird. Das Ger\u00e4usch zur Bildung eines stummen Vocals entsteht, wie es scheint, beim Vorbeistr\u00f6men der Luft an den nichtt\u00f6nenden Stimmb\u00e4ndern selbst. Es ist dasselbe Ger\u00e4usch, wie man es in der Stimmritze auch bei geschlossenem Mund und offener Nase hervorbringen kann, wenn man durchaus allen Ton vermeidet; Durch die verschiedene Gestalt des Mundrohrs bei offenem Munde wird dieses Ger\u00e4usch so modificirt, dass es als stummes a, r, i, o, u t\u00f6nt.\nDie Gestalt des Mundcanals ist bei den stummen Vocalen ganz dieselbe, als bei denselben Vocalen, wenn sie laut gesprochen werden; der einzige Unterschied ist im letztem Fall, dass statt des Ger\u00e4usches an der Stimmritze ein wirklicher Ton angegeben wird. Kratzenstein und Kempelen haben gezeigt, dass die Bedingungen zur Umwandlung eines und desselben Tons in die verschiedenen Vocale in der Weite zweier Theile, des Mundcanals und der Mund\u00f6ffnung, liegen, und ebenso ist es bei den stummen Vocalen. Unter Mundcanal versteht Kempelen hier den Raum zwischen Zunge und Gaumen; bei gewissen Vocalen ist die Mund\u00f6ffnung und der Mundcaual weit, bei anderen beide eng, bei anderen das eine weit, das andere eng. Stellt man sich mit Kempelen in der Weite des Zungen- und Mundcanals 5 Grade vor, so ist bei a die Weile der Mund\u00f6ffnung 5, die Weite des Mundcanals 3. e\t\u00ab\t\u00ab\t\u00ab\t\u00ab\t4,\t\u00ab\t\u00ab\t\u00ab\t\u00ab\t2.\ni\tu\tii\tii\t\u00ab\t3,\t\u00ab\t\u00ab\t\u00ab\t\u00ab\tf.\no\ttt\th\t\u00ab\t\u00ab\t2,\t\u00ab\t\u00ab\t\u00ab\t<i\t4.\n11\ttf\tK\tK\t\u00ab\t1,\t\u00ab\t\u00ab\t\u00ab\t\u00ab\t5.","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"232 IV. Buch. Bewegung. III. Abschn. Von <1. Siimmc u. Sprache.\nDie Verh\u00e4ltnisse f\u00fcr die \u00fcbrigen Vocale ii, ii, ii und das schwed. a lassen sieb hiernach leiebt finden.\nPurkinje hat gezeigt, dass die Bedingungen zur Bildung einiger Vocale, namentlich des a und c, von Kempelen nicht ganz richtig angegeben worden. Beide hangen haupts\u00e4chlich von der Form des Keldraums zwischen Zungenwurzel und Schlund ah, hei beiden ist dieser Raum gross, hei e am gr\u00f6ssten, dagegen \u00ab und e bei gleicher Mund\u00f6ffnung angegeben werden k\u00f6nnen. Die angegebene Stellung der Lippen hei o ist auch nicht nothwendig.\nAn die reinen Vocale schliessen s\u00efch die tiefen Vocale mit Nasentimbre an, a, \u00fc, o, oe, z. B. in den Worten sang, singulier, ombre, oeuvre; diese Modificationen entstehen bloss durch Verengerung des Gaumenbogens und Erhebung des Kehlkopfes.\nII. Stumme Consonant eu mit Strepitus aequalis s. continuus.\nContinuae.\nAlle Consonanten, welche hielier geh\u00f6ren, k\u00f6nnen in einem St\u00fcck , so lange der Atbem reicht, ausgesprochen werden, indem die Stellung der Mundtbcile beim Anfang, wie bei der Dauer und dem Ende der Bildung des Lautes dieselbe bleibt. Ich kann z. B. in einem fort f, ch, s, r, l u. a. hervorbringen. Ganz anders ist es mit denjenigen Consonanten, die durch einen Strepitus inaequalis s. expiosivus gebildet werden, \u00df, d, y, n, %, v. ; sie k\u00f6nnen, da die Stellung der Mundtheile am Anfang der Bildung eine ganz andere ist, als in der Mitte und am Ende ihrer Bildung, nur einen Moment dauern, bis die pl\u00f6tzliche Ver\u00e4nderung der Stellung der Mundtheile geschehen ist, Explosivae Amman.\nConsonanten mit Strepitus aequalis seu continuus sind h, m, n, n (ug), j, ch, sch, s, r, l. Sie k\u00f6nnen wieder in drei Abthei-luugen gebracht werden.\n1.\tContinuae orales durch den ganz, offenen Mundcanal. Hie-her geh\u00f6rt bloss die Aspiration h. Es findet hier keinerlei Opposition der Mundtheile gegeneinander als Ursache des Ger\u00e4usches beim Durchgehen der Luft statt. Das Ger\u00e4usch der Aspiration ist der einfachste Ausdruck der Resonanz der Mundw\u00e4nde beim Ausatbmen der Luft. Das II fehlt der italienischen Sprache. Ueber den Gebrauch des II in den verschiedenen Sprachen siehe Purkinje a. a. O.\n2.\tContinuae nasales durch, den ganz offenen JS'asencanal. Nasenlaute: ira, ii, J\", oder ng. Bei diesen geht die Luft ganz einfach durch den Nasencanal durch, w\u00e4hrend die Mundh\u00f6hle entweder durch die Lippen oder die an den Gaumen sich legende Zunge geschlossen ist. Auch hier findet keine Opposition der Tlieile, zwischen welchen die Luft durchgeht, statt. Bei allen drei Consonanten dieser Abtheilung bildet die Mundh\u00f6hle ein k\u00fcrzeres oder l\u00e4ngeres blindes, am Ende geschlossenes Divertikel des Rachens und Nasencanals; dieses Divertikel ist bei m am gr\u00f6ssten, Lei n kleiner, am kleinsten hei ng. Bei M wird der Mund durch die Lippen geschlossen, diess hat Einige, wie Ruuoi.rm u. A., verleitet, m als einen Lippenbuchsluben anzusehen, was es nicht ist,","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"233\n3. Sprache. Stumme Sprache.\ndie Lippen sclilicssen nur die Mundh\u00f6hle, nicht durch den Act dieses Schlusses, sondern nach dem Schluss wird m gebildet durch einfachen Durchgang der Luft durch den Nasencanal unter Resonanz des Divertikels des Mundcanals.\nBei iV wird der Mund durch die an den vordem Theil des Gaumens sich anlegcnde Zungenspitze geschlossen.\nBei I\\g , oder n, einem ganz bestimmten Consonanten vieler Sprachen, auch der deutschen, geschieht der Schluss des Mundcanals nur etwas weiter nach hinten, n\u00e4mlich durch den Zungenr\u00fccken, welcher sich an den hintern Theil des Gaumens anlegt. Es ist keine Zusammensetzung von zwei Consonanten, sondern ein einfacher Laut, so gut wie m und n, z. B. sing, bang. Das franz\u00f6sische ng liegt noch tiefer.\n3. Continu\u00e2t orales durch klappenartige Opposition von Mund-theden gegeneinander, j, ch, sch, s, r, l. Die Theile, welche klappenartig in Opposition treten und dem Durchgang der Luft ein Hinderniss darbieten, sind bald die Lippen wie hei f, bald die Z\u00e4hne wie Lei sch und s, bald Zunge und Gaumen, wie hei ch, r, l.\nF, Stellung der Lippen zum Blasen. Es giebt zwei Modifi-cationen dieses Blaseger\u00e4usches, das reine F und W.\n1)\tBei i ist die Lippen\u00f6lfnung mehr rund.\n2)\tbei TF lassen die Lippen eine zwar enge, aber ganz breite Spalte zwischen sich.\nCh oder /, bei welchem letztem kein Missverst\u00e4ndnis entstehen kann, da diess Zeichen nie zugleich andere Laute bedeutet. Dieser Laut fehlt der franz\u00f6sischen Sprache, ihr ch ist unser sch. Die Zunge liegt am Gaumen nahe an; die Luft geht zwischen Gaumen und Zunge durch einen engen Zwischenraum. Es giebt drei %, je nach der Stelle, wo die Zunge dem Gaumen gen\u00e4hert wird.\n1)\tBei dem ersten oder vordem / liegt der vordere Theil der Zunge nahe dem vordem Theil des Gaumens, so ist das \u00a3 in lieblich, selig (das % wird in der deutschen Sprache bald durch das ch, bald durch g ausgedr\u00fcckt).\n2)\tBei dem mitllern y_ liegt die Zunge mit ihrem R\u00fccken nahe am mitllern Theil des Gaumens; es klingt sehr verschieden von dem vorhergehenden, wie in den W\u00f6rtern auch, Tag, sagen, suchen, Aachen, ach. Iyempelen hat bemerkt, dass diess / immer nach einem a, o oder u folgt. Diess ist jedoch nicht noth-wendig; in der deutschen Sprache ist diess zwar gew\u00f6hnlich so aber Jeder kann auch diese Vocale mit dem ersten oder vordem % verbinden, bei manchen W\u00f6rtern geschieht es auch in der gemeinen Sprache, z. B. im Worte Papachen, Mamachen. Die polnische Sprache li\u00e2t das zweite ch auch, und in der Gegend von Aachen ist es sogar gew\u00f6hnlich, so dass dort das % in Aachen wie in Papachen ausgesprochen wird.\n3)\tBei dem hintern y_, welches den Schweizern, Tyrolern, auch den Holl\u00e4ndern eigenth\u00fcmlich ist, wird der Zungenr\u00fccken dem hintersten 1 heil des Gaumens oder Gaumensegel gen\u00e4hert;\n< het hehr., cha arab., nach Pukiujue auch im B\u00f6hmischen.","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234 IV. Buch. Bewegung. Ill.Abschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nSch, ein sehr bestimmter und einfacher Laut, wof\u00fcr unsere Sprachen kein besonderes Zeichen haben. Das che der Fianzosen. Die Z\u00e4bue der obern und untern Kinnlade sind sieb gen\u00e4hert oder liegen sogar auf einander, die Zunge steht hinter den Z\u00e4hnen mit ihrer Spitze, ohne sie zu ber\u00fchren, ln Westphalen verwechselt man diesen einfachen Laut mit 0/.\nS. Die Z\u00e4hne sind einander gen\u00e4hert, oder ber\u00fchren sich, die Zungenspitze ber\u00fchrt die untere Zahnreihe. Eine Modification ist das 1h der Engl\u00e4nder. Das lispelnde s ist fehlerhaft.\nB. Die Zunge vibrirt gegen den Gaumen. Nicht jeder Zitterlaut ist R, beim Brummen mit vibrirenden Lippen k\u00f6mmt z. B. kein R heraus. Haller stellte sich die Vibrationen der Zunge beim R als ebensoviel willk\u00fchrliche Bewegungen vor und wollte daraus die Schnelligkeit der Nervenwirkung berechnen; diess ist aber, offenbar ein Missverst\u00e4ndnis, denn die Vibrationen sind hierbei blosse, durch den Luftstrom an der widerstrebenden Zunge bewirkte Bebungen und so wenig einzelne willk\u00fchrliche Acte, als das Beben der Lippen beim Brummen auf den Lippen.\nEs giebt zwei R.\n1)\tDas reine oder Zungen-R; hier ist die Zunge der vibri-rende Theil und das Gaumensegel ruhig.\n2)\tDas Gaumensegel - R ; hier ist die Zunge ruhig und das Gaumensegel vibrirt. Bei Franzosen h\u00e4ufig als Angew\u00f6hnung.\nDas R fehlt im Chinesischen.\nL. Die Zungenspitze liegt am Gaumen dicht an, die Luft geht nur auf beiden Seilen zwischen Zunge und Wangen durch. Man kann es auch auf einer Seite allein bilden. Dieser Laut fehlt in der Zendsprache.\nKempelen rechnet einige dieser Laute unter die Stimmmil-lauter, weil die Stimme dabei mitl\u00f6ne, wie das R, L; indess k\u00f6nnen sie alle stumm angegeben werden ; durch Mitt\u00f6nen der Stimme werden sie nur modificirt, was bei dem leisen Beden jedoch nicht in Betracht k\u00f6mmt.\nIII. Stumme Consonant en mit St r\u00e9pit us explosions.\nEs geh\u00f6ren hieher das \u00df, y, d, und ihre Modificationen, das fr, x, 1. Es sind die Explosivae von Amman.\nDie Stellung der Mundtheile, die zur Bildung dieser Conso-nanten dienen, \u00e4ndert sich pl\u00f6tzlich; die Bildung beginnt mit Schluss des Mundes und endigt mit Oeffnung desselben. Daher k\u00f6nnen diese Consonanten nicht ad libitum verl\u00e4ngert werden, der Laut h\u00f6rt auf, sobald der Mund ge\u00f6flnet ist.\n1. Explosivae sirnp/ices h, d, g [Gamma).\nB, \u00df. Der Mund ist durch die Lippen geschlossen und \u00f6ffnet sich mit Durchgang des AVindes.\n1), \u00f6. Der Mund ist durch die an den vordem Theil des Gaumens oder an die obere Zahnreihe angelegte Zunge geschlossen und \u00f6ffnet sich mit Durchgang des Windes,\nG, y. Die Mundh\u00f6hle ist weiter hinten durch Anlegen des Lintern Zungenr\u00fcckens au den Gaumen geschlossen und \u00f6ffnet sich mit Durchgang des Windes, Nur das Gamma in Gang, ging.","page":234},{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"3. Sprache. Laute Sprache.\n235\nGold, Gulden, Geld geh\u00f6rt liieher. Sehr oft wird das g in der Schriftsprache mit % ch verwechselt, diess falsche g, wie\nin selig, geh\u00f6rt nicht liieher.\nDie stummen Laute b, d, g werden in der Regel durch pl\u00f6tzliches Oeflnen der verschlossenen Wege gebildet. Man kann aber auch durch pl\u00f6tzliches Schliessen b, d, g bilden.\n2. Exploswac aspiratae, p, t, k.\nDie dem b, d, g entsprechenden Laute p, t, k sind nur Mo-dificationen der erstem und entstehen durch Verbindung einer Aspiration mit l, d, g beim Oeffnen des Mundes; aus B wird durch Aspiration P, aus 1) wird durch Aspiration T, aus Gamma wird durch Aspiration K. Die Aelteren und auch Kf.mpelen, Ru-dolphi setzen den Unterschied der zweiten Reihe von der ersten in einem Mitt\u00f6nen der Stimme bei b, d, g. Diess ist nicht richtig, sie k\u00f6nnen vielmehr ganz stumm gebildet werden. Scuulthess setzt ihr Wesen in die St\u00e4rke des Luftstroms, was ganz richtig ist, doch ist die Verschliessung der hinteren Nasen\u00f6ffnungen nicht vor dieser starkem Explosion n\u00f6thig. Der einzige Unterschied zwischen der ersten und zweiten Reihe liegt bloss in der folgenden Aspiration bei p, i, k.\nDiese Erkl\u00e4rung wurde bereits im Grundriss der Physiologie 1827 gegeben.\nMehrere explosive schmatzende Laute, die uns m\u00f6glich sind, werden in den Sprachen nicht angewendet.\nAlle Hauptlaute der articulirten Sprache geh\u00f6ren, wie man sieht, zum Lautsystem des leisen oder stummen Sprechens. Nur einige wenige Modificationen der Conso' anten, welche zu ihrer Bildung das Mitt\u00f6nen der Stimme erforuern, k\u00f6nnen beim leisen Reden nicht Vorkommen, wie das deutsche j, das franz. j, ge, das franz. z, das intonirte l, das intonirte r. An die Stelle dieser intonirten Consonanten treten beim leisen Sprechen die entsprechenden stummen Consonanten,\nn\u00e4mlich an die Stelle des deutschen j das ch,\n\u00ab\t\u00ab\to\to\tdes\tfranz. j das\tsch,\ntt\t\u00ab\t\u00ab\t\u00ab\tdes\tfranz. z das\ts,\n\u00ab\t\u00ab\t\u00ab\t\u00ab\tdes\tintonirten l\tdas\tstumme\tl,\n\u00ab\t\u00ab\t\u00ab\t\u00ab\tdes\tintonirten r\tdas\tstumme\tr.\nMan sieht hieraus, dass das Aussprechen der Consonanten als blosse Ger\u00e4usche beim ersten Unterricht der Kinder zwar f\u00fcr den gr\u00f6ssten Theil der Consonanten m\u00f6glich ist, dass aber die ganze Reihe der intonirten Consonanten auf diese stumme Weise nicht zu bilden ist, daher jene Methode, ohne diese Kerintniss angewandt, eher nachtheilig als f\u00f6rderlich ist, indem sie bei diesen intonirten Consonanten etwas Unm\u00f6gliches unternimmt, w\u00e4hrend die Methode sonst ihre grossen Vortheile hat.\nB. Lautsystem der lauten Sprache.\nBei der lauten Sprache bleiben einige Consonanten stumm und auf blosses Ger\u00e4usch beschr\u00e4nkt, indem sie durchaus keines Mitt\u00f6nens der Stimme i\u00e4hig sind, wie die Explosivae b, d, g und","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236 IV. Buch. Bewegung. III. Abschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nilire Modifieationen p, t, k, aus der Reibe der Consonanten mit Strepitus continuas das h- Andere Consonanten sind bei der lauten Sprache einer doppelten Pronunciation f\u00e4llig, der stummen und der lauten, im letztem Fall mit Mitt\u00f6nen und Summen der Stimme, wie das J, eh, seit, s, l, r, m, n, ng.\nPie Vocale sind laut.\nI.\tVocale. Pie Stellung des Mundes ist wie bei ihrer stummen Pronunciation. Per Ton entsteht im Kehlkopf wie das Ger\u00e4usch bei den stummen Vocalen, und der Kehlkopfton wird durch den Kehlcanal, Mundeanal und die Mund\u00f6ffnung zu a, e, i, u, a, ii, \u00f6, \u00e4, \u00e4, und die tiefen n\u00e4selnden Vocale a, ii, o, oe franz. umgebildet. Siehe p. 231. Pie Piphthongen sind Verbindungen zweier Vocale, und werden von Rudolphi mit den wahren Vocalen ii, \u00fc, ii verwechselt. Endlich geh\u00f6rt noch hieher als sehr bestimmter Vocal das sogenannte stumme e, hebr\u00e4isch schwa, das auch im Peutscben vorkommt, wenigstens in Pialecten in habe, sage. Pieser Laut ist den leisen Vocalen schon sehr nahe.\nPie leisen Vocale kommen bei der lauten Sprache in der Regel nicht vor. Poch findet sich eine Spur davon in Slavischen Sprachen, z. B. im Polnischen. Bei dem Wort wall folgt auf h ein leises tonloses i. Dasselbe Zeichen dr\u00fcckt auch bei einigen andern Consonanten die Folge des leisen i aus, aber sehr leicht geht das leise i in ch \u00fcber, dessen Bildung dem leisen i so nahe liegt. Krom'. Ausser den Vocalen t\u00f6nt die Stimme auch bei mehreren Consonanten summend mit, ohne sich dem Timbre eines Vocales zu n\u00e4hern. Piese Art von Intonation ist sowohl bei offenem Mund,. als bei geschlossenem Mund bei offenem Nasencanal m\u00f6glich.\nII.\tConsonanten, welche in der lauten Sprache stumm bleiben.\n1.\tExplosivae B, I), G (Gamma) und ihre Modifieationen P, T, K. Es ist platterdings nicht m\u00f6glich, diese stummen Consonanten mit Intonation der Stimme zu verbinden. Versucht man sie laut auszusprechen, so h\u00e4ngt sich die Intonation hinten an, und ist ein mit h, d, g oder p, i, k verbundener Vocal.\n2.\tConti ii uae. Pie einzige Continua, welche ganz stumm und keines Mitt\u00f6nens oder Summons der Stimme f\u00e4hig ist, ist das h, die Aspiration. Versucht man das h laut auszusprechen, so t\u00f6nt das Summen der Stimme nicht gleichzeitig mit h, sondern folgt ihm und die Aspiration erlischt auf der Stelle, sobald die Luft an den Stimmb\u00e4ndern zum Ton anspricht.\nIII.\tConsonanten, welche in der lauten Sprache sowohl stumm als blosses Ger\u00e4usch, als auch mit Intonation der Stimme gesprochen werden k\u00f6nnen-, es sind lauter Continuae: f, ch, sch, s, r, l, m, n, ng. Pie intonirten dieser Reihe fehlen in vielen Sprachen, die franz\u00f6sische Sprache hat die meisten intonirten Continuae, welche sie zuweilen durch besondere Buchstaben, wie z das intonirte s, j das intonirte sch, oder durch das stumme e hinter I, m, n, r ausdr\u00fcckt; ein kurzes und leises e hinter l, m, //, r ist diess nicht, sondern eine gleichzeitige Intonation bei dem Amsprechen jener Consonanten. Pas stumme e am Ende anderer Buchstaben bedeutet dagegen gar nichts wenn cs nicht dazu dient, ein Schriftzeichen, das auch f\u00fcr andere Laute gebraucht","page":236},{"file":"p0237.txt","language":"de","ocr_de":"3. Sprache. Laule Sprache.\n237\nwird, n\u00e4her zu bestimmen; ge 7.. B. und ehe sind Jas deutsche stumme sch, w\u00e4hrend g vor a das Gamma ist. Die deutsche Sprache unterscheidet nur in einem Falt einen intonirten Con-sonanten von seinem entsprechenden Stummen, das deutsche j, welches von dem (ranz, j verschieden. Das deutsche j ist das intonirte rli, das franz. j das intonirte sch. Kempelen hat mehrere der intonirten Consonanten sehr gut gekannt, er weiss z. 15., dass das deutsche j durch Intonation des ch entsteht, a. a. O. p. 209., dass das franz. \u00ab ein s\u00e4uselndes intonirtes J ist (367.), dass das franz. j ein s\u00e4uselndes intonirtes sch ist (346.). Auch rechnet er l, \u00bb1, n, r zu den Stimmmit lautern, ich kann aber damit nicht \u00fcbereinstimmen, dass diese Consonanten an und f\u00fcr sich und in lauter Sprache immer intonirt seyn sollen, denn sie werden eben so rein in der lauten Sprache ohne Stimme gebildet. Zudem rechnet Kempelen auch das h, d, g zu den intonirten, da sie docli absolut stumm sind, so gut wie p, i, k, die Kempelen richtig als absolut stumm ansieht. Ich lasse hier die entsprechenden Pieihen der stummen und intonirten Continuae folgen.\nConiinuae nasales.\nS tu mm.\nT n t o n i r t.\nIn der franz. Schrift stummes e hinter m, klingt aber mit m.\nln der franz. Schrift stummes e hinter \u00bb, klingt aber mit \u00bb.\nKann ad libitum intonirt werden.\nDie intonirten k\u00f6nnen auch einen Moment bei zugehaltener Nase gebildet werden.\nConiinuae orales.\nm\t.\t.\t.\tw?.\nn\tn.\nng .\t.\t.\t.\t. ng.\nj und <v .\t.\t.\n/, deutsch ch, fehlt dem Franz.\nsch, franz. ehe .\nI .\nr .\niv. Ein intonirtes / klingt wie ein intonirtes w.\n]. Deutsch in ja. Spricht man cha mit Intonation des ch, so ist, es ja. Auch im Polnischen im Wort Ja (ich). K\u00f6mmt im Franz, nur als Verbindung mit l im sogenannten / mouill\u00e9 vor, wie eben in dem Wort mouill\u00e9.\nj. Franz, in jamais. Spricht man schamais mit Intonation des sch, so ist es jamais. Das Poln. z ist derselbe intonirte Laut, auch rz.\nI. In der l'ranz. Schrift stummes e hinter l, klingt aber mit, nicht hinter /, in salle, sable, ville (das I mouill\u00e9 geh\u00f6rt eigentlich nicht hieher und ist //); auch das polnische modilicirte L, ist intonirt.\nr. In der franz. Schrift stummes e hinter r, klingt aber mit r nicht hinter r, in einigen W\u00f6rtern wie verre.\nz. Franz. Spricht man das zone, z\u00e8le mit stummem ^ aus, so ist es sone, s\u00e8le, intonirt man das s leise, so ist es das franz. zone, z\u00e8le. Das polnische z geh\u00f6rt auch bisher, es ist ein intonirtes s.","page":237},{"file":"p0238.txt","language":"de","ocr_de":"238 IV. Buch. Bewegung. III. Abschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nWir haben die letztere Parallele schon im Grundriss der Physiologie. Bonn 1827. aufgestellt. Die Vertheilung der stummen und intonirten Contienne in den verschiedenen Sprachen und ihre Anwendung in Verbindungen ist sehr verschieden. Die Continuae nasales m, n k\u00f6nnen sehr gut im Anf\u00e4nge der W\u00f6rter stumm seyn, z. B. in Mond, Narr, am Ende der W\u00f6rter sind sie meistens intonirt, besonders wenn sie hinter anderen Con-sonanten folgen, wie in Darm. Das ng kann zwar stumm gebildet werden und ist beim leisen Sprechen in magnus sehr deutlich, beim lauten Sprechen ist es immer etwas intonirt.\nDie Continuae orales r und l k\u00f6nnen im Anfang der deutschen W\u00f6rter ganz stumm seyn, wenigstens stumm beim lauten Sprechen prononcirt werden, wie in Rand, Land. Am Ende der W\u00f6rter k\u00f6nnen sie zwar auch stumm gegeben werden, wie in war, werden jedoch meist etwas intonirt, selbst im Deutschen, wo kein stummes e die Intonation anzeigt. Zuweilen k\u00f6nnen ganze Vocale zwischen Consonanten ausfallen, wenn die Conso-nanten intonirt werden, z. B. mer f\u00fcr mir ist bloss eine Verbindung von einem intonirten m und r, oder gar von einem stummen m und intonirten r. Das modificirte polnische K ist intonirt. Die Intonation beim r kann sich \u00fcbrigens sowohl dem u als dem i n\u00e4hern, das letztere in fille.\nEin ganz stummes r k\u00f6mmt zuweilen in den slavisehen Sprachen vor, wie Pubkinje von Piotr (Polnisch) undWytr-wam anf\u00fchrt. Das stumme l k\u00f6mmt auch im Polnischen vor, hinter anderen Consonanten, z. B. kladl, szbladl, szedl, aber diess / wird von Vielen gar nicht, nicht einmal stumm ausgesprochen.\nZuweilen wird die Intonation gesucht, durch Affectation, z. B. hei afiectirt zorniger, unwilliger Anrede Herr...r!\nDas stumme ck, 7 ist vielen Sprachen eigen, auch das into-nirte % oder das deutsche j. Die deutsche Sprache hat das stumme sch, die franz\u00f6sische das intonirte sch oder franz. j. Das into-nirte s oder z ist der franz\u00f6sischen Sprache eigen. Man sieht, dass die franz\u00f6sische Sprache sich durch die Anzahl der s\u00e4uselnden intonirten Laute auszeichnet, was f\u00fcr sie charakteristisch ist. Von den intonirten Consonanten besitzt die deutsche Sprache wenige, n\u00e4mlich nur das j oder intonirte 7, das intonirte r, l und f. Dagegen haben die franz\u00f6sische und die slavisehen Sprachen trotz ihrer grossen anderweitigen Verschiedenheit mehr in-tonirende Consonanten, wie die franz\u00f6sische und polnische das intonirte s oder z, das intonirte sch oder j franz., und die polnische selbst noch das intonirte 7, n\u00e4mlich j deutsch. Das stumme % fehlt dem Franz\u00f6sischen ganz, vom intonirten 7 k\u00f6mmt eine Spur bei l vor im sogenannten / mouill\u00e9, welches nichts anders ist als ein t\u00f6nendes / mit einem t\u00f6nenden 7. In den slavisehen Sprachen f\u00e4llt aber die grosse Menge der Zischlaute und ihre Verbindung ohne Vocale auf, in den romanischen sind diese Verbindungen um so seltener und das Vorherrschen der Vocale giebt diesen Sprachen mehr Klang und Gravit\u00e4t.\nCharakteristisch ist f\u00fcr die franz\u00f6sische Sprache der h\u00e4ufige Gebrauch der Nasenlaute rn, n, ng, und noch bedeutsamer, dass","page":238},{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"3. Sprache. Laute Sprache.\n239\nsie bloss die Verbindungen des Consonanten ng mit \u00bb, o, \u00fc, na-inentlicli mit den Nasenvocalen hat, w\u00e4hrend ihr die klangreichen Verbindungen mit e, i, u abgehen, ln der deutschen und englischen Sprache giebt es alle Verbindungen der Vocale mit dem Nasenconsonanten ng\nang, eng, ing, orig, ung.\nAuch da, wo die franz. Schriftsprache die Verbindung em, ing bat, treten in der Mundsprache zuweilen andere Vocale ein, wie in empereur, singulier. Von dieser Armuth in der Anwendung der verschiedenen m\u00f6glichen Nasenlaute und von desto h\u00e4ufigerer Anwendung gewisser Nasenlaute mit den Nasenvocalen a, \u00e4, o ist eine Art von nasaler Monotonie abzuleiten, w\u00e4hrend die franz\u00f6sische Sprache sich in anderer Hinsicht, n\u00e4mlich durch den Reichthum an intonirten weichen Consonanten so sch\u00f6n auszeichnet. Besonders auffallend ist der grosstjGebrauch des Tons ang, in den vielen Bezeichnungen dieses Lauts in Temps, sang, \u00e9videmment u. a.\nDie vorher aufgef\u00fchrten Laute sind die wesentlichen Elemente aller ausgebildeten Sprachen, die verschiedenen Bezeichnungen derselben, ihre Verwechselungen unter einander geh\u00f6ren nicht hieb er. (], \u00bb, 2 sind keine selbstst\u00e4ndigen Consonanten, sondern Verbindungen. Lieber das Vorkommen der verschiedenen Laute in den verschiedenen Classen der Sprachen siehe Purkinje a. a. O.\nAusser den gew\u00f6hnlichen in den Sprachen benutzten Con \u2022 sonant-Ger\u00e4uschen giebt es noch eine Menge anderer m\u00f6glicher, im Munde und in der Kehle zu bildender Ger\u00e4usche, bald explosiver, bald continuirlieber Art, wie das Schmatzen, Gurgeln, R\u00e4uspern, Hemsen, Aechzen, K\u00fcssen, Schmatzen, Niesen, St\u00f6hnen, das ll bei hin- und hergeschlagener Zunge, das Schl\u00fcrfen, Schnarren auf den Lippen brrr, das Schnalzen durch Abziehen der Zunge von den Z\u00e4hnen, vorn Gaumen. Alle diese Laute werden in der Regel in den Sprachen nicht angewandt, nur die Schnalzlaute sollen nach Lichtenstein und Salt hei den Hottentotten und anderen africanischen V\u00f6lkern Vorkommen.\nDie verschiedenen Ger\u00e4usche und Kl\u00e4nge der Sprache m\u00fcssen, wie sie unter bestimmten physicalischen Bedingungen entstehen, auch k\u00fcnstlich durch Maschinen sich nachbilden lassen. Einige entstehen sehr leicht auf diese Art, wie das h, wenn man in eine cylindrische R\u00f6hre intonirt, die Hand vor die R\u00f6hre h\u00e4lt und dann wegzieht, w auf dieselbe Art, wenn die R\u00f6hre eine Zungenpfeife mit membran\u00f6ser Zunge ist. Kratzenstein, Kempelen und R. Willis haben sich damit besch\u00e4ftigt. Es ist gelungen, einen grossen Theil der Sprachlaute nachzubilden. Aber diese Maschinen haben immer etwas Unvollkommenes, weil f\u00fcr jeden Selbstlauter und Consonanten ein besonderer Apparat n\u00f6thig, die Verbindung dieser Werkzeuge hei gemeinsamer Windlade zur Wortbildung ungemein schwer ist. Wir d\u00fcrfen uns nicht wundern, wenn auch einzelne V\u00f6gel, wie Papageyen, Raben zur Bildung von articulirten T\u00f6nen f\u00e4hig sind, da ihr Mund im Allgemeinen dieselben W\u00e4nde mit klappenartig wirkenden Theilen enth\u00e4lt. Die Erlernung dieser Laute geschieht hier ohne Zweifel auf \u00e4hnliche Art wie beim menschlichen Kinde.","page":239},{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240 IV. Buch. Bewegung. III.Ahschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nBel einer zwecklosen Production verschiedener Laute pr\u00e4gen sich die Bewegungen ein, welche zur Bildung jedes Ger\u00e4usches ncithig sind, und sind bereit wieder sich zu nssociiren, wenn einer dieser m\u00f6glichen Laute vorgesaut wird.\nC. Bau cli rede n.\nEine besondere Art der Sprache ist heim Menschen als sogenanntes Bauchreden bekannt. Einige, wie Magf.^die, halten daf\u00fcr, dass die durch das Bauchreden hervorgebrachten T\u00f6ne nur sehr verschiedene Modificationen des Klanges sind, welche durch das Stimmorgan hervorgebracht werden; Andere glauben, dass in der That den heim Bauchreden angegebenen T\u00f6nen eine gemeinsame besondere Ursache, wie z. B. das Articuliren w\u00e4hrend der Inspiration, zu Grunde liege. Diess ist die gew\u00f6hnliche Ansicht vom Bauchreden. Es ist nicht zu l\u00e4ugnen, dass sich auch beim Einathinen articuliren l\u00e4sst, obgleich diess ziemlich schwer ist, und dass die auf diese Weise zu bildenden T\u00f6ne einige Aehn-lichkeit mit den T\u00f6nen der Bauchredner haben. Doch halte ich diese Ansicht f\u00fcr nicht richtig. Denn es l\u00e4sst sich viel leichter auf eine andere Art die Sprache der Bauchredner vollkommen nachahmen, indem man dadurch den T\u00f6nen ein ganz eigenes Timbre ertheilt. Ich bin im Stande, durch Anwendung dieser sogleich anzugehenden Mittel, sehr gel\u00e4ufig in den T\u00f6nen der Bauchredner zu sprechen, und ich bin \u00fcberzeugt, dass die Bauchredner sich dieses Mittels bedienen m\u00fcssen. Zu diesem Zwecke inspirire ich tief, so dass das abw\u00e4rts steigende Zwergfcll die Baucheingeweide stark nach vorw\u00e4rts treibt; nicht w\u00e4hrend der Inspiration bilde ich. dieses eigenth\u00fcmliche Register von T\u00f6nen, um welche es sich handelt, sondern heim Ausathmen, aber das Ausathmcn ist eigentb\u00fcmlich, es geschieht hei ganz enger Stimmritze sehr langsam durch Contraction der Brustw\u00e4nde, w\u00e4hrend das Zwergfell seine Stellung wie bei der Inspiration behauptet, und der Bauch also w\u00e4hrend des Sprechens bei der Exspiration aufgetrieben bleibt. Durch die Intonation hei ganz enger Stimmritze und schwachem Anspruch mit den blossen Seitenw\u00e4nden der Brust, ohne die Bauchmuskeln entsteht das eigene Timbre der T\u00f6ne dieses Registers. Man kann auf diese Art.T\u00f6ne bilden, wie der Ruf eines Menschen aus weiter Ferne. Anfangs glaubt man, weil der Bauch beim Reden angeschwollen bleibt, das Bauchreden geschehe hei der Inspiration ; man kann sich aber bald \u00fcberzeugen, dass man wirklich exspirirt; denn wenn man so lange das Bauchreden fortgesetzt, bis man keinen Athem mehr hat, so ist die Brust immer enger geworden und es ist, wenn kein weiterer Ton, aus Mangel an Luft in der Windlade, mehr m\u00f6glich ist, nun wieder eine Inspiration n\u00f6thig.\nVieles bei denjenigen, welche als Bauchredner auftreten, ist blosse T\u00e4uschung anderer Sinne, als des Geh\u00f6rs, z. B. das Reden wie aus bestimmten Gegenden; wir unterscheiden \u00fcberhaupt die Richtung der Schallstrahlen sehr wenig und wenn die Aufmerksamkeit des H\u00f6renden auf eine Gegend gelenkt wird, so ist die Vorstellung sogleich bereit, das Geh\u00f6rte an einen bestimmten Ort zu versetzen.","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"3. Sprache. Fehlerhafte Sprache.\n211\nD. Fehlerhafte Sprache.\nDie richtige Aussprache setzt sowohl eine gute Bildung der Mundh\u00f6hle voraus, als ein gutes Geh\u00f6r. Die Unvollkommenheiten der Sprache entstehen aus dem Mangel des einen und andern. Die Sprache wird mangelhaft in Beziehung auf die Bildung einzelner Laute und zugleich n\u00e4selnd, wenn ein Loch im Gaumen sich befindet; sie wird unvollkommen beim Mangel der Z\u00e4hne. Ueber die Fehler hei den einzelnen Buchstaben siehe Kempelen und Schulthess a. a. O. Durch Ungewandtheit und Unbeweglichkeit der Zunge entsteht das Stammeln. Die Trunkenheit bringt diesen Zustand vor\u00fcbergehend hervor, L\u00e4hmung des N. bypoglossus dauernd. Die Sprache kann aber auch durch Mangel in der geh\u00f6rigen Folge der Laute unvollkommen werden, w\u00e4hrend doch die reine Bildung der Laute nicht aufgehoben ist, diess ist das Stottern. Gute Aufkl\u00e4rungen \u00fcber das Stottern findet man in der erw\u00e4hnten Schrift von. Schulthess. Das Stottern besteht in einem momentanen Unverm\u00f6gen, einen Consonanten oder Vocal auszusprechen, oder ihn mit vorhergehenden zu verbinden. Diess Hinderniss kann im Anf\u00e4nge oder in der Mitte der W\u00f6rter ein-treten. Liegt der schwer auszusprechende Buchstabe in der Mitte eines Wortes, so wird oft der Anfang der vorhergehenden Sylbe oder diese mehrerema! wiederholt, z, B. Zi-zi - zi - Zitze, L l I lachen. Im ersten Fall fehlt es an der Verbindung des Consonanten t mit dem vorhergegangenen Stimmlaut i; im zweiten Fall an der Verbindung des Stimmlauts, a mit dem vorhergegangenen Consonanten I. Das Wiederholen des vorhergehenden ist, wie Schulthess mit Recht bemerkt, nicht das Wesentliche beim Stottern, sondern nur ein, neues Ansetzen, um den Uebergang zu finden. 1st, der vorhergehende Consonant eine Explosiva, die sich nicht anhalten l\u00e4sst, so tritt leichter das Wiederholen ein, weil sich die Explosivae h, d, g (Gamma) und p, t, k eben nicht ad libitum, bis der Vocal folgt, verl\u00e4ngern lassen. Ist der vorhergehende Consonant aber eine Continua, welche sich ad libitum verl\u00e4ngern l\u00e4sst, z. B. m, n, ng, f, \u2022/, sch, r, /, s, so ist die Wiederholung nicht gerade noth wendig, weil sich diese Continuae anhalten lassen, bis der Vocal folgt. Beispiele: bbbbald,\nI \u2014 lachen. Es k\u00f6mmt unless auch vor, dass der Stotternde die Continua wiederholt und 111 lachen spricht. Zuweilen werden unwillk\u00fchrlich nicht dahin geh\u00f6rende Buchstaben eingeschoben, d, t, ng, nd und anderes. Vergl. Schulthess a. a. O. p. 74. Schulthess stellt die Ansicht auf, dass es keineswegs die Consonanten seven, deren schwierige Articulation das Stottern bewirke, sondern die Stimmlaute oder Vocale. Diese Bemerkung fliesst aus einer guten. Beobachtung der Natur, indessen geht sie, indem sie die bisherige fehlerhafte Ansicht verbessert, doch zu weit, denn oft ist der Vocal schon gebildet da, aber der folgende Consonant will sich, nicht damit verbinden. Ich kannte einen jungen Mann von ausgezeichneten mathematischen Kenntnissen, der fr\u00fcher stark gestottert batte, und wenn er seinen Namen aussprach, leicht Te\u2014tessoi statt Tessot sagte. Auch !>1 \u00f9 II e r\u2019s Physiologie.' \u00bbr IJil. K\tj (j","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242 IV. Huch. Bewegung. IH.Ahschn. Von d. Stimme u. Sprache.\nliegt das Hinderniss oft schon am ersten Consonanten eines Wortes, auch in diesen Fallen ist die Ursache der Hemmung weniger in den hei der Articulation th\u00e4tigen Mundtheilen, als v elmehr darin, dass der Durchgang der Luft durch die Stimmritze f\u00fcr den Anspruch zu einem gewissen Consonanten durch augenblickliches Schliessen der Stimmritze versagt wird. Diess Versagen und Schliessen der Stimmritze, auf welches besonders Arkott (Elements oj Physics or natural Philosophy) aufmerksam gemacht hat, tritt nur hei der Association mit gewissen Articulationen ein, w\u00e4hrend der Durchgang der Luft f\u00fcr andere Arti-culationen, z. B. f\u00fcr Wiederholung der vorhergehenden Sylbe, leicht ist. In der Hauptsache ist immer das Hinderniss in der Stimmritze, sey es, dass sie den geforderten Ton nicht giebt, wenn es ein Vocal seyn sollte, oder dass sie die Luft bei dem Versuch zu einer Articulation im Munde nicht durchl\u00e4sst. Diese Arbeit an der Stimmritze giebt sich deutlich genug an den stark Stotternden durch die Verhinderung der Exspiration und die Congestion des Blutes in dem Kopfe und in den Halsvenen zu erkennen. Das Wesen des Stotterns liegt also offenbar in einer pathologischen Mitbewegung im Kehlkopfe mit den Mundbewegungen oder Articulationen. Beim h\u00f6chsten Grade der Anstrengungen des Stotternden treten auch Mitbewegungen im Gesichte ein. Der Fehler ist ein \u00e4hnlicher, wie wenn jemand einen Gesichtsmuskel zusammenziehen will, und dabei durch Mitbewegung und verhinderte Isolirung des Nervejieinflusses das ganze Gesicht verzieht. Siehe die Lehre von den Mitbewegungen. I. Bd. n 662 II. Bd. p. 85.\t'\nIch stimme Arnott und Schultiiess voilkommen bei, wenn sie die n\u00e4chste Ursache des Stotterns in eine krampfhafte Affection an der Stimmritze setzen. Diese Affection ist momentane Schliessung der Stimmritze (theils durch Aneinanderlegen der Cartila-gines arytenoideae, theils durch Druck der Muscuii thyreo-ary-tenoidei, welche die Stimmb\u00e4nder aneinanderpressen k\u00f6nnen). Man muss festhalten, dass diese momentane Affection eine patho-logische Association mit gewissen IVIundbew'egungen, namentlich Zungenbewegungen ist und ganz davon abh\u00e4ngt. Die Stellung dei Mundtheile f\u00fcr das h ist da, die Lippen k\u00f6nnen auch wie beim h ge\u00f6ffnet werden, aber es fehlt daran, dass wenn diess geschehen soll oder geschieht, der Hauch der Luft aus der Stimmritze nicht erfolgt. Die naturgem\u00e4sse Einleitung zur Verhinderung des Stotterns wird also die Erzielung einer leichten Association zwischen den Articulationen und den Bewegungen des Kehlkopfes seyn. Das Singen der W\u00f6rter ist schon ein Mittel liiezu, indem es die Aufmerksamkeit mehr auf den Antheil des Kehlkopfes am Aussprechen lenkt, als es beim gew\u00f6hnlichen Sprechen der Fall ist. Stotternde singen aucli die W\u00f6rter besser, als sic sie sprechen.\nDas zu niedrige Halten der Zunge im Munde scheint das Stottei n zu bcfoi dei n. Aut der Vermeidung dieser Lage der Zunge und Erhebung der Zungenspitze gegen die Gaumen beruht die Methode der Mad. Leigh. Siehe Schultiiess a. a. O. p. 166.","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"3. Sprache. Fehlerhafte Sprache,\n243\nHieher geliert auch das Unterlegen von K\u00f6rpern unter die Zunge, was den Alten schon bekannt war. Die Methode, welche Arnott a. a. O. angiebt, beruht wenigstens auf einer richtigen physiologischen Anschauung des Stotterns. W\u00e4ren die Lippen der Glottis, sagt Arnott, sichtbar gewesen, gleich den Lippen des Mundes , so w\u00fcrde die Natur des Stotterns nicht so lange ein Ge-heimniss geblieben seyn. Die Stimmritze schliesst sich von Zeit zu Zeit heim Stotternden, es k\u00f6mmt also darauf an, dieses Schlies-sen der Natur durch Uebung abzugew\u00f6hnen. Hiezu schl\u00e4gt Arnott vor, dass der Stotternde alle W\u00f6rter durch zwischengeschobene Intonationen der Stimme zu einem Ganzen verbinde, so weit derAthem reicht, also z. B. soweitederathemereicht. Diess kann etwas, aber nicht alles leisten, da das Haupthinderniss meist innerhalb der W\u00f6rter und in der Mitbewewegung bei gewissen Articulationen liegt. H\u00e4tte ich eine Methode f\u00fcr das Heilen des Stotterns anzugeben, so w\u00fcrde ich ausser der ARNorPschen Pro-cedur noch Folgendes anwenden. Ich w\u00fcrde den Stotternden Scripturen zu Lese\u00fcbungen geben, worin alle ganz stummen Buchstaben h, d, g (Gamma), p, t, k oder die Explosivae fehlen; diese Scripturen d\u00fcx-ften nur Phrasen enthalten, die ausser den Voca-len aus blossen Buchstaben bestehen, welche der begleitenden Intonation f\u00e4hig sind, also f, y, sch, s, r, l, m, n, ng; ich w\u00fcrde zum Gesetz machen, dass alle diese Buchstaben intonirt ausgesprochen und sehr lang ausgezogen werden m\u00fcssen. Dadurch entsteht eine Pronunciation, wobei die Articulation best\u00e4ndig mit Intonation verbunden, die Stimmritze also nie geschlossen ist. Hat sich der Stotternde lange ge\u00fcbt, die Stimmritze ohne Unterbrechung und selbst zwischen den W\u00f6rtern nach Arnott\u2019s Rath offen zu halten, und hat er sich durch Aussprechen der intonirten summenden Consonanten ge\u00fcbt, bei und hinter jedem Consonanten und Vocal d:e Stimmritze offen zu behalten, so kann man zu den stummen Consonanten h und den Explosivae h, d, g (Gamma), p, t, k \u00fcbergehen. Der Stotternde weiss dann schon, worauf es au-kommt. Das gew\u00f6hnliche Heilen des Stotterns nach der Methode der Mad. Leigh ist ein blindes Herumtappen im Dunkeln, wobei weder der Lehrmeister noch der Sch\u00fcler wissen, worum es sich handelt.\nEs giebt einen gewissen, nicht seltenen Felder der Sprache, der sich vom Stottern wesentlich unterscheidet. Es ist das Into-niren zwischen den W\u00f6rtern, das Einschieben eines mehr oder weniger langen e, \u00fc, a, oder der Nasenvocale, oder eigenth\u00fcmlicher, durch die Gurgel modificirter Stimmlaute, w\u00e4hrend die Pronunciation der W\u00f6rter selbst gut ist; z. B. ich...\u00e4. Es ist wie das Nachklingen eines musikalischen Werkzeuges \u00fcber die geforderte Dauer. Diese Laute bilden und erleichtern den Uebergang von einem zum andern Wort, und so m\u00f6gen sie wohl oft entstehen, obgleich sie oft auch bei einer H\u00e4sitation der Gedanken eintreten. Zuweilen k\u00f6mmt diese Unart mit dem Stottern vor, vielleicht weil dadurch das Stottern beim Ansetzen zu den n\u00e4chsten W\u00f6rtern vermieden wird.\nDie Bildung reiner Laute setzt das Geh\u00f6r voraus. Taubge-\n16*","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244 IF. Buch. Bewegung. Ill. Ahschn. Vun d. Stimme u. Sprache.\nbornen ist es ungemein schwer, eine Art von ganz rohen Lauten aussprechen zu lernen, bei Taubstummen fehlt nur das Geh\u00f6r ganz oder gr\u00f6sstentheils; ihre Stummheit ist die Folge ihrer Taubheit; durch viele M\u00fche lassen sich ihnen die Bewegungen zum Articuliren durch sichtbares Vorzeigen anlernen, aber ihre Sprache bleibt immer ein in der menschlichen Gesellschaft unbrauchbares Geheul, weil sie mit dem Geh\u00f6r den Regulator f\u00fcr die Ar-ticulationen entbehren.\nGeh\u00f6r und Sprache k\u00f6nnen \u00fcbrigens nicht inniger Zusammenh\u00e4ngen, als durch das Gehirn seihst. Man sieht nicht ein, wozu Nervenverbindungen zwischen dem Geh\u00f6rorgan und Sprach-organ n\u00fctzen sollten, die Verbindung des N. facialis und lingua-lis ist sowohl dem Geh\u00f6r als der Sprache fremd; denn der IN. facialis hat nichts mit dem Geh\u00f6r, der N. lingualis nichts mit der Sprache zu thun. Der Haupt-Sprachnerve ist der N. hypoglosses, von welchem alle Bewegungen der Zunge abh\u00e4ngen, auch der N. facialis k\u00f6mmt hei den Articulationen, wenigstens der Lippen in Betracht. Beide Nerven sind physiognomische Nerven, in sofern sowohl die Mimik des Gesichtes als die Sprache, jede aut andere Weise unsere inneren Zust\u00e4nde objectiv darstellen. Beiderlei Nerven scheinen von demselben Centraltheil, den Oliven, abh\u00e4ngig zu seyn. Siehe Retzius, Muei.l. Arch. 183C.\nE. A c c c \u00bb t.\nDer Accent ist. eine h\u00f6here Betonung einzelner Sylhen und W\u00f6rter.\na. Accent der l For/er.\nJedes Wort hat seinen Accent, wenn es mehrsilbig Lt, er ruht im Deutschen meistens, aber nicht immer, auf der Stamm-sylbe: Lehen, s\u00e4gen, singen. Bei Lebendig hat er sich auf die Biegungssylbe geworfen. Viele Menschen betonen die uecentuirte Sylhe noch nicht um einen halben Ton h\u00f6her ; einige um mehr als einen halben Ton h\u00f6her. Dann wird die Sprache singend. Das Gegentheil davon ist die monotone Sprache, wenn jede Sylhe mit. derselben Hohe des Tons ausgesprochen wird, z. B. Lehen, s\u00e4gen. Dieser Mangel an Variation, hei pedantischen langweiligen Menschen ein Ausdruck ihres Natureis, ist unertr\u00e4glich. Es ist auch die Sprache der Ausrufer.\nBei den alten Sprachen sind der Accent und die L\u00e4ngen der Sylhen ganz verschiedene Dinge. In dem Rhythmus des poetischen Vortrags werden die Sylben auf Rosten des Accentes nach den nat\u00fcrlichen L\u00e4ngen gemessen.\nln der deutelten Sprache fallen die Accente gr\u00f6sstentheils mit den L\u00e4ngen zusammen. Hier muss Alles als lang gemessen werden, worauf der Accent ruht. Und die in den alten Sprachen l\u00e4ngsten Sylben k\u00f6nnen in unserm rhythmischen Vortrag als kurz gebraucht werden, wenn nur die Sylhe des Accentes lang bleibt. Dabei muss aber das accentuirte Betonen der durch den Accent langen Sylben in dem poetischen Vortrag vermieden werden.","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"3. Sprache. Accent.\n245\nDie neueren romanischen Sprachen besitzen zu wenig nat\u00fcrliche L\u00e4ngen durch Consonanten und haben zu wenig Wortae-cent oder Unterschied in der Betonung der einzelnen Sylhen der W\u00f6rter, um die nat\u00fcrlichen L\u00e4ngen und K\u00fcrzen oder accentuirte und nicht accentuirte Sylben mit viel Erfolg als lang und kurz rhythmisch benutzen zu k\u00f6nnen. Die romanischen Sprachen sind daher nicht wie die deutsche einer antik-rhythmischen Behandlung f\u00e4hig.\nDaher k\u00f6nnen in den unvollkommenen modernen Rhythmen dieser Sprachen ulle Silben indiscriminatim mit wenigen Ausnahmen lang und kurz gebraucht werden, und die Sylhen werden nur nach der Zahl gemessen. Nur die entschiedenen Accente mancher W\u00f6rter m\u00fcssen als lang erhalten werden.\nHiedurch d\u00fcrfen die rhythmischen L\u00e4ngen und K\u00fcrzen in dem Vortrag der Poesie auch nicht hervorgehoben werden, weil sie eben oft weder nat\u00fcrliche noch accentuirte sind.\nh. Accent der S\u00e4tze.\nDie accentuirte h\u00f6here Betonung der W\u00f6rter in den S\u00e4tzen dr\u00fcckt die Modalit\u00e4t des Urtheils aus. Beim Fragen, Bejahen, und vielen andern Modi des Urtheils liegt der Accent jedesmal eigenth\u00fcmlich auf dem Worte, worauf es ankommt; der einfachste, aus 3 W\u00f6rtern, Subject, Copula, Pr\u00e4dieat bestehende Satz hat eine verschiedene Bedeutung, je nachdem der Accent auf dem Subject, Pr\u00e4dieat oder der Copula ruht.\nr. Accent der Dialecte.\nln der Accentuation verschiedener Dialecte dr\u00fcckt sich die nat\u00fcrliche Regsamkeit oder L\u00e4ssigkeit des Volkes aus. Hier ist der der Accent phvsiognomisch. Die unnat\u00fcrliche sich wiederholende Accentuation des Einzelnen, die nicht aus seiner nat\u00fcrlichen Regsamkeit hervorgeht und kein Ausdruck derselben ist, ist geziert und gemacht. In grossen St\u00e4dten haben nicht die Gebildeten, aber die es seyn wollen, oft eine vom nat\u00fcrlichen Accent des Volks ganz verschiedene Manier des Accentuirens, was man auch hier zuweilen, aber mehr beim weiblichen Geschleehte h\u00f6rt.\nDie deutsche Sprache hat keinen allgemeinen durchgreifenden Accent der S\u00e4tze, er ist \u00fcberall verschieden. In anderen Sprachen ist ein gewisser Accent heischend geworden, wie z. B. im Franz\u00f6sischen. Auch die D\u00e4nen und Schweden haben eine eigent\u00fcmliche Art der Accentuation der S\u00e4tze, die man auch h\u00f6rt, wenn sie Deutsch sprechen.","page":245},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"217\nNachtr\u00e4ge und Berichtigungen.\nZu P. 1.9. Z. 13. lieber die neueren Beobachtungen in Hinsicht der Wimperbewegung siehe den Jahresbericht des Archivs f\u00fcr Physiologie 1836.\nP. 108. Z. 8. v. u. Die Bemerkung \u00fcber den Gepard, Felis ju-bata, bedarf einer Berichtigung, da nach Owen\u2019s Untersuchung die bisherige Vorstellung von der Abweichung dieses Thiers von einigen anatomischen Eigenschaften des Katzengeschlechtes unrichtig ist.\nP. 123. Z. 3. fehlt der Titel der Schrift von W. und E. Webet.: Mechanik der menschlichen Gehewerkzeuge, mit 17 Taf. G\u00f6ll. 1836. 8.\nP. 142. Z. 19. v. u. I ies: Die einfachste Zunge dieser Art ist die der Maultrommel; sie ist ein st\u00e4hlernes Bl\u00e4ttchen, das an einem Ende befestigt ist und zwischen zwei st\u00e4hlernen Schenkeln liegt; diess Zungenbl\u00e4ttchen wird zwar gew\u00f6hnlich, indem die Maultrommel zwischen die Zahnreihen gefasst wird, durch den Finger angeschlagen, aber man kann das Bl\u00e4ttchen auch durch Einziehen der Luft in Schwingung versetzen.\nP. 170. Z. S. lies: Wurde in einem kurzen Windrohr gegen das Ende, wo die Zunge, ein Stopfen angebracht, der in der Mitte durchbohrt allein den Luftstrom durcldiess, so wurde der Ton dadurch auf die eine oder andere Art ver\u00e4ndert; er war meist etwas h\u00f6her als ohne Stopfen.\nP. ISO. Z. 10. statt: Bd. III. lies: Gehers, e. Meckel. Bd. IV. 229,\nP. 232. Z. 15. v. u. lies: Das // fehlt der italienischen Sprache bis auf einige wenige Ausnahmen, z. B. ho, hai, ha, hannov\nI*. 23.9. Z. 28. streiche: Schmatzen.\nAliiller's Physiologie, 2r IM, I.\n17","page":247},{"file":"p0247s0001.txt","language":"de","ocr_de":"Gedruckt bei den Gebr. Unger,","page":0},{"file":"p0247s0002.txt","language":"de","ocr_de":"Der\ns p e c i e 11 e n Physiologie\nF\u00fcnftes Bue h.\nVon den Sinnen.\nMuller\u2019s Physiologie. 2r R<1. II.\n17","page":0},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"I.\tAbschniiI. Vom Gesichtssinn.\nf. Von den physikalischen Bedingungen des Sehens.\nII. Vom Auge als optischem Werkzeuge.\nHl. Von den Wirkungen des Sehnerven und der Nervenhaut.\nII.\tAbschnitt. Vom Geh\u00f6rsinn.\nI.\tVon den physikalischen Bedingungen des Geh\u00f6rs.\nII.\tVon den Formen und Eigenschaften der Geh\u00f6rwerkzeuge. III. Von den Wirkungen des Geh\u00f6rsnerven.\nIII.\tAbschnitt. Vom Geschmackssinn.\nI. Von den physikalischen Bedingungen des Geschmacks.\nII. Von den Formen und Eigenschaften der Geschmackswerkzeuge.\nIII.\tVon den Wirkungen der Geschmacksnerven.\nIV.\tAbschnitt. Vom Geruchssinn.\nI. Von den physikalischen Bedingungen des Geruchs.\nII. Von den Formen und Eigenschaften der Geruchsorgane. ITT. Von den Wirkungen des Geruchsnerven.\nV.\tAl schnitt. Vom G e 'f \u00fc h 1 s s i n n.\nI. Von den Formen und Eigenschaften der Gef\u00fchlsorgane.\nII. Von den Wirkungen der Gef\u00fchlsnerven.","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"Der speciellen Physiologie\nF ii n f t e s B u c h.\nV o n il e ii Sinne n.\nNoth wendige Yor begriffe.\nDie Sinne unterrichten uns von den Zust\u00e4nden unseres K\u00f6rpers durch die eigentli\u00fcmliche Empfindung der Sinnesnerven, sic unterrichten uns auch von den Eigenschaften und Ver\u00e4nderungen der Natur ausser uns, insofern diese Zust\u00e4nde unserer Sinnesnerven hervorrufen. Die Empfindung ist allen Sinnen gemein, aber der modus der Empfindung ist in den einzelnen verschieden, n\u00e4mlich Lichtempfindung, Tonempfindung, Geschmack, Geruch, Gef\u00fchl. Unter Gef\u00fchl versteht man hier, wie in der Folge immer die eigentli\u00fcmliche Empfindungsart der Gef\u00fchlsnerven wie des N. trigeminus, vagus, glossopharvngeus und der R\u00fcckenmarksnerven, d. b. die Empfindung des Kitzels, der Wollust, des Schmerzes, der W\u00e4rme, K\u00e4lte, die Tastgel\u00fchle. Die Bezeichnung Empfindung beschr\u00e4nken wir f\u00fcr die Folge immer auf die allen Sinnesnerven gleiche Leitung auf das Sensorium. Das was durch die Sinne zum Bewu\u00dftsein kommt, sind zun\u00e4chst nur Eigenschaften und Zust\u00e4nde unserer Nerven, aber die Vorstellung und das Urtbeil sind bereit, die durch \u00e4ussere Ursachen hervorgeb r\u00e4chten Vorg\u00e4nge in unseren Nerven als Eigenschaften und Ver\u00e4nderungen der K\u00f6rper ausser uns seihst auszulegen. Bei den Sinnen, hei welchen die Affectionen aus inneren Ursachen seltener sind, wie heim Gesichtssinn und Geh\u00f6rsinn, ist diese Verwechselung uns so gel\u00e4ufig geworden, dass wir sie erst bemerken, wenn wir dar\u00fcber nachdenken. Bei dem Gef\u00fchlssinn hingegen, der eben so oft aus inneren Ursachen als ans \u00e4usseren angeregt, die den Ge-f\u00fchlsnerven eigentb\u00fcmlichen Empfindungen zum Bewustsein bringt, wird es uns leicht einzusehen, dass das Gef\u00fchlte, der Schmerz, die Wollust, ein Zustand unserer Nerven ist und nicht eine Eigenschalt der Dinge, welche sie in unseren Nerven hervorrufen. Diess f\u00fchrt uns zu einigen allgemeinen Grunds\u00e4tzen, welche der Physiologie der einzelnen Sinne vorausgeschickt werden m\u00fcssen.\n17 *","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nV. Buch. Bon den Sinnen.\nI. Zuerst wird nun diess festzuhalten sein, dass wir durch \u00e4ussere Ursachen keine rieten des Empfindens halten k\u00f6nnen, die wir nicht auch ohne \u00e4ussere Ursachen durch Empfindung der Zust\u00e4nde Unserer Nerven halten.\nIn Hinsicht des Gef\u00fchlssinnes ist diess sogleich offenbar, das Empfindbare der Gcl\u00fchlsnerven ist das Kalte und Warme, der Schmerz und die Wollust und unz\u00e4hlige Modificationen von Empfindungen, die weder schmerzhaft noch woll\u00fcstig sind, aber dasselbe Gef\u00fchlselement wie diese Empfindungen, nur nicht als Extreme enthalten. Alle diese Empfindungen sind uns aus inneren Ursachen, \u00fcberall wo Gef\u00fchlsnerven sind, gel\u00e4ufig; sie k\u00f6nnen auch von aussen erzeugt werden, aber die \u00e4usseren Ursachen sind nicht verm\u00f6gend, ein Element mehr in die Empfindungen zu bringen, die den Nerven an und f\u00fcr sich aus innerer Reizung zukommen. Das Empfindbare der Gef\u00fchlsnerven sind also ihre eigenen Zust\u00e4nde, Qualit\u00e4ten, durch innere oder \u00e4ussere Reize zur Erscheinung gebracht. Das Empfindbare des Geruchssinnes kann aber auch ohne riechbare \u00e4ussere Stoffe zum Bewustsein kommen, wenn der Geruchsnerve die bestimmte Disposition dazu hat. Dergleichen Ger\u00fcche aus inneren Ursachen sind nicht h\u00e4ufig, bei Menschen von reizbaren Nerven hat man sie \u00f6fter beobachtet, und mit dem Geschmackssinn mag es auch wohl so sein, obgleich hier die Unterscheidung schwer ist, da man nicht wissen kann, ob der Geschmack nicht von einer eigenth\u00fcmlichen Ver\u00e4nderung des Speichels oder Mundschleims herr\u00fchrt; jedenfalls entsteht der eckelhaftc Geschmack, der Eckel welcher als Empfindung unter die Geschmacksempfindungen geh\u00f6rt, sehr oft aus blosser Nervenstimmung. Das Empfindbare des Gesichtssinnes Farbe, Licht, Dunkel, k\u00f6mmt auch ohne \u00e4ussere Ursachen zur Empfindung. Im Zustande der gr\u00f6ssten Reizlosigkeit empfindet der Gesichtsnerve nichts als das Dunkel. Bei geschlossenen Augen \u00e4us-sert sich der Zustand der gereizten Empfindung als Helligkeit, Blitzsehen, welches eine blosse Empfindung und kein wirkliches materielles Liebt ist und daher auch kein Object beleuchten kann. Es ist Jedermann bekannt, wie leicht man bei geschlossenen Augen die sch\u00f6nsten Farben sieht, besonders des Morgens, wenn die Erregbarkeit des Nerven noch gross ist. Bei Kindern sind diese Erscheinungen h\u00e4ufiger nach dem Erwachen. Die \u00e4ussere Natur vermag uns daher hier keine Eindr\u00fccke zu schaffen, die nicht schon aus innern Ursachen in den Nerven m\u00f6glich w\u00e4ren, und man sieht, nie ein wegen Verdunkelung der durchsichtigen Medien von Jugend auf Blinder, die innere volle Anschauung des Lichtes und der Farben haben muss, wenn die Nervenbaut und der Sehnerve des Gesichtsorganes nur unversehrt sind. Die Vorstellungen die man sich hier und da von den wunderbar neuen Empfindungen, die ein von Geburt an Blinder durch die Operation erh\u00e4lt, macht, sind \u00fcbertrieben und unrichtig. Das Element der Gesichtsempfindung, das Empfindbare dieses Sinnes, Liebt, Farbe, Dunkel muss diesen Menschen eben so gut wie den andern bekannt sein. Denkt man sieb ferner, dass ein Mensch in der einf\u00f6rmigsten Natur geboren werde, die aller Farbenpracht","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"251\nNot/nvendige Vorbegriffe.\nenlbl\u00f6sst w\u00e4re und ihm niemals die Eindr\u00fccke der Farben von aussen zuf\u00fchrte, so w\u00fcrde sein Sinn nicht \u00e4rmer als der jedes Menschen seyn; denn das Licht und die Farben sind ihm eingeboren und bed\u00fcrfen nur des Reizes, um zur Anschauung zu kommen.\nAuel) die Geh\u00f6remplindungen haben wir von innen so gut als von aussen ; denn so oft der Geh\u00f6rnerve sich in einem gereizten Zustande befindet, tritt das Empfindbare des Geh\u00f6rnerven, als Klingen, Brausen, Schallen ein. Die Krankheiten dieses A erven \u00e4ussern sich durch solche Empfindungen und seihst bei leichteren vor\u00fcbergehenden Affcctionen des Nervensystems zeigt dieser Sinn seinen Aulheil an der Verstimmung oft durch Sausen, Klin-gen, L\u00e4uten in den Obren an.\nAus allem diesen geht deutlich genug hervor, was bewiesen werden sollte, dass durch \u00e4ussere Einfl\u00fcsse kein modus der Empfindungen in uns entsteht, der nicht auch ohne \u00e4ussere Ursachen, aus hinein in dem entsprechenden Sinne aultreten kann.\nII.\tDieselbe innere Ursache ruft in verschiedenen Sinnen verschiedene Empfindung en nach der Natur jedes Sinnes, n\u00e4mlich das Empfindbare dieses Sinnes hervor.\nEine gleiche innere Ursache, die auf alle Sinnesnerven in derselben Art einwirkt, ist die Anh\u00e4ufung des Blutes in den Ca-pillargef\u00e4sscn der Sinnesnerven bei der Congestion und Entz\u00fcndung. Diese gleiche Ursache erregt in der Nervenhaut des Auges die Empfindung der Helligkeit hei geschlossenen Augen und der Blitze, die Empfindung des Sauscns und Klingens in dem Geh\u00f6rnerven, die Empfindung des Schmerzes in den Gef\u00fchlsnerven. Ebenso bewirkt auch ein ins Blut gebrachtes Narcotieum in jedem Sinnesnerven die ihm angemessenen St\u00f6rungen, Flimmern vor den Augen im Sehnerven, Ohrensausen im Geh\u00f6rnerven, Formicalio in den Gef\u00fchlsnerven.\nIII.\tDieselbe \u00e4ussere Ursache erregt in den verschiedenen Sinnen verschiedene Empfindungen, nach der Natur jedes Sinnes, n\u00e4mlich das Empfindbare des bestimmten Sinnesnerven.\nDer mechanische Einfluss des Schlags, Stosses, Drucks, erlegt z. B. im Auge die Empfindung des Lichtes und der Farben. Durch Dr\u00fccken des Auges ruft man bekanntlich bei geschlossenen Augen die Empfindung eines feurigen Kreises hervor, durch leiseren Druck bewirkt man Empfindung von Farben und kann eine Farbe in die andere umwandeln, Ph\u00e4nomene, womit sieh die Jugend oft nach dem Erwachen, wenn es noch dunkel ist, besch\u00e4ftigt. Auch dieses Licht ist nicht objectiv, sondern blosse gesteigerte Empfindung. Dr\u00fcckt man sich im Dunkeln auch noch so stark ins Auge, so dass die Empfindung eines blitzartigen Scheins entsteht, so kann dieser Schein, weil er blosse Empfindung ist, keine \u00e4usseren Gegenst\u00e4nde beleuchten, wie Jeder an sich selbst erfahren kann. Ich habe diese Versuche sehr oft angestellt, nie ist cs mir dadurch gelungen, im Dunkeln die n\u00e4chsten Gegenst\u00e4nde nur zu erkennen oder besser zu erkennen. Man vergleiche die Bemerkungen \u00fcber den forensischen Fall, wo Jemand durch einen Schlag auf das Auge im Dunkeln einen R\u00e4uber erkannt haben","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nV. Buch. Von den Sinnen.\nwollte. Muell. Archiv. 1834. 140. Eben so wenig siebt ein Anderer, wenn ich mir durch Druck an meinem Auge die Empfindung eines starken Blitzes errege, in meinem Auge die geringste Spur von objectivem Lichte, weil jenes Liebt eben bloss eine gesteigerte Empfindung ist\nDas sogenannte Leuchten der Augen ist schon ohen in den Prolegomena besprochen worden. An und f\u00fcr sich hat es a priori nichts gegen sich, dass die Nerven der Thiere leuchten sollten, und da man am Auge die einzige Gelegenheit hat, einen Nerven, n\u00e4mlich die Retina ohne Verletzung durch die durchsichtigen Medien zu betrachten, so m\u00fcsste man, falls in den Nerven eine Entwickelung von Lichtmaterie stattlande, das Ph\u00e4nomen liier am besten beobachten k\u00f6nnen. W\u00fcrde es sich beobachten lassen, so w\u00fcrde diese Erscheinung noch immer ausser allem Zusammenh\u00e4nge mit dem Lichtsehen aus inneren Ursachen stehen. Aber die Erfahrung best\u00e4tigt nicht eine solche objective Lichtent-wickelung in den Nerven und in der Nervenbaut des Auges. Die Erfahrungen, welche das Gegentheil beweisen, sind a. a. O. angef\u00fchrt.\nDer mechanische Einfluss erregt aber auch die eigenth\u00fcm-lichen Empfindungen des Geh\u00f6rnerven; es ist wenigstens zum Sprichwort geworden, Einem Eins gehen, dass ihm die Ohren klingen; so sagt man auch, Einem Eins geben, dass ihm die Augen davon funkeln, Einem Eins geben, dass eres f\u00fchlt, so dass derselbe Schlag in dem Geh\u00f6rnerven, Gesichtsnerven, Gef\u00fchlsnerven die verschiedenen Empfindungen dieser Sinne hervorruft. Dass man Einem einen Schlag versetzen k\u00f6nnte, dass er es riecht und schmeckt, ist dagegen weder sprichw\u00f6rtlich, noch thats\u00e4chlich ; doch entsteht durch mechanische Reizung des Gaumensegels, des Kehldeckels, der Zungenwurzel, der eckelhafte Geschmack. Die Wirkung der K\u00f6rper beim Schall auf das Geh\u00f6rorgan, ist eine ganz mechanische. Ein pl\u00f6tzlicher mechanischer Impuls der Luft auf das Geh\u00f6rorgan erregt die Empfindung des Knalles, wie beim Gesichtsorgan des Lichtes. Ist der mechanische Impuls heftig, so ist es ein Knall, ist er schwach, so ist es ein Ger\u00e4usch; war die Ursache anhaltend, so wird auch das Ger\u00e4usch, der Schall anhaltend sein. Unter bestimmten Bedingungen wird aus dem Schalle und dem Ger\u00e4usche ein bestimmter Ton. Zu einem Ton von vergleichbarem Werthe ist eine schnelle Wiederholung des gleichen Impulses in sehr kurzer Zeit nothwendig. Dasselbe Ger\u00e4usch, welches anhaltend und ohne regelm\u00e4ssige Unterbrechungen Ger\u00e4usch bleibt, wird Ton, wenn es regelm\u00e4ssig in kurzer Zeit sehr oft unterbrochen wird. Die Reibung der Z\u00e4hne eines Rades an einem Holzsplitter an der von Savaht erfundenen Maschine bringt au und f\u00fcr sich als mechanischer auf das Geh\u00f6rorgan fortgepflanzter Impuls nur ein Ger\u00e4usch hervor; wird das Rad schnell umgedreht und folgen sich die Ger\u00e4usche schnell auf einander, so werden sie immer weniger von einander unterschieden und zuletzt sind sie ein bestimmter Ton geworden, dessen H\u00f6he mit der Schnelligkeit des Umlaufs des Rades oder der St\u00f6sse zunimmt. Die Schwingungen eines K\u00f6rpers, welche an und f\u00fcr sieh ohne Folge","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Not luvendige Vorbegriffe.\n253\nauf einander Moss oder kaum ein Ger\u00e4usch bilden w\u00fcrden, werden durch Folge auf einander zum Ton; der Impuls ist auch ein mechanischer. Angenommen, dass die Lichtmaterie durch mechanische Oscillationen auf die K\u00f6rper wirkt (Undulationstlieorie), so haben wir hier wieder ein Beispiel, dass Schwingungen auf verschiedene Sinne verschieden wirken. Sie bewirken im Auge die Lichtempfindung, in andern Sinnen nicht, in den Gef\u00fchlsnerven die Empfindung der W\u00e4rme.\nDer electrische Reiz kann als zweites Beispiel dienen, dass derselbe Reiz in den verschiedenen Sinnesnerven verschiedene Empfindungen hervorruft. Schon ein einfaches Plattenpaar von heterogenen Metallen, mit dem Auge kettenartig verbunden erregt im Dunkeln die Empfindung eines hellen blitz\u00e4hnlichen Scheins; selbst wenn das Auge ausser dem Strom liegt, wenn es nur nicht zu weit davon entfernt ist, entsteht die Empfindung durch Ableitung eines Theils des Stroms auf das Auge. So z. B. wenn die eine Platte an das Innere eines Augenliedes, die andere an das Innere des Mundes angelegt wird. St\u00e4rkere electrische Reize bewirken viel heftigere Lichtempfindungen. Im Geh\u00f6rorgan, erregt der electrische Reiz die Geh\u00f6rempfindung. Volta empfand, als sich seine Ohren in der Kette einer S\u00e4ule von 40 Plattenpaaren befanden, nach der Schliessung ein Zischen und stossweises Ger\u00e4usch, welches die ganze Zeit der Schliessung fortdauerte. Phi-los. transart. 1800 p. 427. Ritter empfand bei Schliessung der Kette einen Ton wie G der eingestrichenen Octave, oder g.\nDie Reibungselcctricit\u00e4t der Maschine erregt m den Geruchsnerven einen phospborigen Geruch, die Armirung der Zunge mit heterogenen Metallen erregt einen sauren oder salzigen Geschmack je nach der Lage der Platten, wovon die eine \u00fcber, die andere unter der Zunge applicirt wird. Die Erkl\u00e4rung dieser Erscheinung aus der blossen Zersetzung der Speichelsalze d\u00fcrfte schon nach dem bereits von andern Sinnen angef\u00fchrten nicht hinreichen.\nDie Wirkungen der Eleetricit\u00e4t auf die Gef\u00fchlsnerven sind hinwieder weder Lichtem|ifindung, noch Geh\u00f6rempfindung, noch Geruchs- noch Geschmacksempfindung, sondern die diesen Nerven, eigenen Empfindungen des Stechens, Schlagens u. s: w.\nChemische Einfl\u00fcsse wirken wahrscheinlich auch verschieden auf die verschiedenen Sinnesnei'ven. Nat\u00fcrlich bat man dar\u00fcber nur wenig Erfahrungen;, bekannt ist, dass chemische Einfl\u00fcsse in den Gef\u00fchlsnerven der Haut Gef\u00fchlseindr\u00fccke, wie Brennen, Schmerz, W\u00e4rmeempfindung, in dem Geschmacksorgane Geschmacksempfindungen und wenn sie fl\u00fcchtig, in den Geruchsnerven Geruchsempfindung erregen. Auf die h\u00f6heren Sinnesnerven k\u00f6nnen wir auf mehr unsch\u00e4dliche Weise nur durch ins Blut aufgenommene Stoffe chemisch wirken. Auf diese Weise wirken sie auch in jedem Sinnesnerven, den Eigenschaften desselben gem\u00e4ss.. Dahin geh\u00f6ren die Wirkungen der Narcotica welche bekanntlich subjective Gesichts- und Geh\u00f6rph\u00e4nomene erzeugen.\nIV. Die eigenth\u00fcmlichen Empfindungen jedes Sinnesneroeti kleinen durch mehrere innere und \u00e4ussere Einfl\u00fcsse zugleich hervor g eru-fen werden.","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"V. Buch. Von den Sinnen.\n251\nDiess ergiebt sicli bereits aus den vorher angef\u00fchrten Tliat-saclien, denn die Lichtempfindung irn Auge wird erregt:\n1.\tdurch Schwingungen oder Ausfl\u00fcsse, die man von ihrer Wirkung auf das Auge Lieht nennt, obgleich sie noch viele andere, auch chemische Wirkungen hervorbringen, ja selbst die organischen Wirkungen der Pflanzen unterhalten.\n2.\tdurch mechanische Einfl\u00fcsse, wie Stoss, Schlag,\n3.\tdurch die Electricit\u00e4t.\n4.\tdurch chemische Einfl\u00fcsse wie die ins Blut aufgenommenen Narcotica, Digitalis u. a. welche subjective Sinneserscheinungen, Flimmern vor den Augen u. dal. hervorbringen.\n5.\tdurch den Reiz des Blutes in der Congestion.\nDie Geh\u00f6rempfindung im Geh\u00f6rnerven wird erregt:\n1.\tdurch mechanische Einfl\u00fcsse, Schwingungen der K\u00f6rper, welche durch Medien, die der Fortpflanzung derselben f\u00e4hig sind, dem Geh\u00f6rorgane mitgetheilt werden.\n2.\tdurch die Electricit\u00e4t.\n\u20223. durch chemische Einfl\u00fcsse, die ins Blut aufgenommen werden, Narcotica (alterantia nervina)\n4. durch den Reiz des Blutes.\nDie Geruchsempfindung der Gcruclisnerven wird erregt:\n1.\tdurch chemische Einfl\u00fcsse fl\u00fcchtiger Art, Riechstoffe.\n2.\tdurch die Electricit\u00e4t.\nDie Geschmacksempfindungen werden erregt:\n1.\tdurch chemische Einfl\u00fcsse, die entweder von aussen, oder vom Blute aus auf die Geschmacksnerven wirken. Hunde sollen nach Magendie auch die ihnen ins Blut injicirte Milch schmecken und mit der Zunge zu lecken anfangen.\n2.\tdurch die Elektricit\u00e4t.\n3.\tdurch mechanische Einfl\u00fcsse. Kicher geh\u00f6rt der cckcl-liafte Geschmack von Reizung des Gaumensegels, des Kehldek-kels und der Zungenwurzel.\nDie Gef\u00fchlsempfindungen der Gef\u00fchlsnerven werden erregt:\n1.\tdurch mechanische Einfl\u00fcsse, Schallschwingungen, Ber\u00fchrung jeder Art.\n2.\tdurch chemische Einfl\u00fcsse.\n3.\tdurch die W\u00e4rme.\n4.\tdurch die Electricit\u00e4t.\n5.\tdurch den Reiz des Blutes.\nB. Die Sinnesempfindung ist nicht die Leitung einer Qualit\u00e4t oder eines Zustandes der \u00e4usseren K\u00f6rper zum Bewu\u00dftsein, sondern die Leitung einer Qualit\u00e4t, eines Zustandes eines Sinnesnerven zum Bewu\u00dftsein, veranlasst durch eine \u00e4ussere Ursache, und diese Qualit\u00e4ten sind in den verschiedenen Sinnesnerven verschieden, die Sin-nesenergieen.\nDie Empf\u00e4nglichkeit der verschiedenen Sinnesnerven f\u00fcr bestimmte Einfl\u00fcsse, wie des Gesichtsnerven f\u00fcr das Licht, des Geh\u00f6rnerven f\u00fcr die Schwingungen u. s. w. erkl\u00e4rte man sich sonst aus einer spccifischen Reizbarkeit dieser Nerven. Diese reicht aber offenbar zur Erkl\u00e4rung der Facta nicht hin. Allerdings besitzen die Sinnesnervcn eine spccifiscLe Reizbarkeit f\u00fcr gewisse","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"No\u00dbuvendige Vorbegrifje.\n255\nEinfl\u00fcsse; denn manche Reize, die auf ein Sinnesorgan heftig einwirken, wirken auf ein anderes wenig oder gar nicht, z. B. das Licht, oder so unendlich schnelle Schwingungen, wie die des Lichtes nur auf die Sehnerven und die Gef\u00fchlsnerven, langsamere Schwingungen nur auf den Geh\u00f6rnerven und die Gef\u00fchlsnerven, aber nicht auf den Gesichtsnerven, die Riechstoffe nur auf den Geruchsnerven u. s. w. Die \u00e4usseren Reize m\u00fcssen also dem Sinnesorgan homogen seyn; so ist das Licht der homogene Reiz des Sehnerven, Schwingungen von der geringen Geschwindigkeit, welche auf den Geh\u00f6rnerven wirken, sind jenem heterogen oder gleichg\u00fcltig; denn man erh\u00e4lt hei der Ber\u00fchrung des Auges mit einer schwingenden Stimmgabel nur eine Gef\u00fchlsempfindung der Conjunctiva, aber keine Lichtempfindung. Indessen haben wir gesehen, dass bestimmte gleiche Reize in jedem Sinnesorgane verschiedene Empfindungen hervorrufen, wie die Electricit\u00e4t ; diese ist allen Sinnesnerven homogen, und doch sind die Empfindungen in allen verschieden. Und ebenso ist es mit mehrern andern Reizen, wie den chemischen und mechanischen. Die specilische Reizbarkeit der Sinnesnerven reicht also zur Erkl\u00e4rung der Facta nicht hin, und wir sind gen\u00f6tliigt, jedem Sinnesnerven bestimmte Ener-gieen im Sinne des Aristoteles zuzuschrciben, welche seine vitalen Qualit\u00e4ten sind, wie die Zusammenziehung die vitale Eigenschaft der Muskel ist. Diese Thatsache wurde in der neuern Zeit durch die Bearbeitung der sogenannten subjectiven Sinneserscheinungen durch Elliot, Darwin, Ritter, Goethe, Purkinje, Hjort mehr und mehr erkannt. So nennt man n\u00e4mlich jetzt diejenigen Sinneserscheinungen, welche nicht durch den gew\u00f6hnlichen homogenen Reiz eines Sinnesnerven, sondern andere ihm gew\u00f6hnlich fremde hervorgebracht werden. Lange haben diese wichtigen Erscheinungen unter dem Kamen der Sinnest\u00e4uschungen figurirt und sind unter einem falschen Gesichtspunkte misachtet worden, dagegen sie als eigentliche Sinncsw'abrlieiten und Grundph\u00e4nomene bei der Zergliederung der Sinne studirt werden m\u00fcssen.\nDie Empfindung des Tons ist daher die eigenth\u00fcmliche Energie des Il\u00f6rnerven, die des Lichts und der Farben die Energie des Gesichtsnerven u. s. w. Eine n\u00e4here Zergliederung dessen, Avas bei einer Empfindung geschieht, m\u00fcsste schon auf anderm Wege zu dieser Wahrheit f\u00fchren. Die Empfindungen der W\u00e4rme und K\u00e4lte z. B, bringen uns die Existenz des imponderablen W\u00e4rmestoffs oder eigenth\u00fcmlicher Schwingungen in der N\u00e4he unserer Gef\u00fchlsnerven in einer Empfindung zur Anschauung. Aber was die W\u00e4rme ist, kann durch etwas, was doch zun\u00e4chst Zustand der Gef\u00fchlsnerven ist, nicht aufgekl\u00e4rt und muss durch das Studium der physikalischen Eigenschaften dieses Agens erkannt werden, wohin die Gesetze seiner Verbreitung, Entwickelung aus dem gebundenen Zustande, seine F\u00e4lligkeit sieb zu binden, sein Verm\u00f6gen die K\u00f6rper auszudehnen u. s. w. geh\u00f6ren. Alles diess erkl\u00e4rt aber das Eigentb\u00fcmliebe der W\u00e4rmeempfindung als Zustandes der Kerven nicht. Das reine Factum ohne alle Erkl\u00e4rung ist nur diess, dass die W\u00e4rme als Empfindung dann entsteht, wenn der W\u00e4rmesloff auf einen Gcf\u00fchlsnerven wirkt, und dass","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"\u2018256\nV. Buch. Von den Siilnen.\nK\u00e4lte' als Empfindung entsteht, wenn dieser Stoff einem Gef\u00fchlsnerven entzogen wird.\nEs ist ebenso mit dem Tone. Das reine Factum ist diess, dass wenn eine gewisse Zahl von St\u00f6ssen oder Schwingungen dein Geh\u00f6rnerven mitgetheilt wird, der Ton als Empfindung entsteht, aber der Ton als Empfindung ist himmelweit von einer Anzahl von Schwingungen verschieden. Dieselbe Zahl der Schwingungen einer Stimmgabel, die dem Geh\u00f6rnerven jene Empfindung mittheilt, wird von dem Gef\u00fchlsnerven als Kitzel empfunden. Es muss also zu den Schwingungen noch etwas ganz Anderes hinzukommen, wenn ein Ton empfunden werden soll, und dicss Erforderliche liegt nur im Geh\u00f6rnerven.\nMit dem Gesicht verh\u00e4lt es sich nicht anders; die verschieden starke Wirkung des imponderabeln Agens, des Lichtes, bedingt eine Ungleichheit der Empfindung an verschiedenen Stellen der Nervenhaut des Auges, geschehe die Einwirkung durch St\u00f6sse nach der Undulationstheorie, oder durch Str\u00f6mung mit unendlicher Geschwindigkeit nach der Emanationstheorie. Erst dadurch dass die Nervenhaut die schwach afficirten Stellen als massig hell, die heftig afficirten als licht, die ruhenden oder gar nicht afficirten Stellen als dunkel oder schattig empfindet, entsteht ein bestimmtes Lichtbild je nach der Vertheilung der afficirten Stellen auf der Nervenhaut. Auch die Farbe ist dem Sehnerven seihst immanent und entsteht, wenn sie durch das \u00e4ussere Licht hervorgerufen wird, durch die im Grunde noch unbekannte Eigenth\u00fcm-lichkeit der sogenannten farbigen Strahlen oder der zum Farbeneindruck n\u00f6tliigen Oscillationen. Die Geschmacksnerven und Geruchsnerven sind unendlich von aussen bestimmbar, aber jeder Geschmack h\u00e4ngt von einem bestimmten Zustande des Nerven ah, der von aussen bedingt wird, und es ist l\u00e4cherlich zu sagen: die Eigenschaft des Sauren werde durch den Geschmacknerven geleitet; denn auch auf die Gef\u00fchlsnerven wirkt die S\u00e4ure, aber es entsteht kein Geschmack.\nDas Wesen dieser Zust\u00e4nde der Nerven, verm\u00f6ge welcher sie Licht sehen, Ton empfinden, die wesentliche Natur des Tons als Eigenschaft des H\u00f6rnerven, des Lichts als Eigenschaft des Sehnerven, des Geschmacks, Geruchs, Gef\u00fchls bleibt wie die letzten Ursachen in der Naturlehre ewig unbekannt. Ueber die Empfindung des Blauen l\u00e4sst sich nicht weiter r\u00e4soniren; sie ist eine Thatsache, wie viele andere, die die Grenze unseres Witzes bezeichnen. Die eigenth\u00fcmlichen Empfindungen der verschiedenen Sinne hei gleicher Ursache aus der verschiedenen Schnelligkeit der Schwingungen des Nervcnprincips zum Sensorium erkl\u00e4ren wollen, w\u00fcrde auch nicht weiter f\u00fchren, und wenn eine solche Behauptung statthaft w\u00e4re, so m\u00fcsste sie zun\u00e4chst zur Erkl\u00e4rung der verschiedenen Empfindungen im Umfange eines bestimmten Sinnes angewandt werden, warum z.B. das Sensorium die Empfindung des Blauen, Rothen, Gelben erh\u00e4lt, warum das Sensorium die Empfindung eines hohen oder tiefen Tons, die Empfindung des Schmerzes oder der Wollust, der W\u00e4rme oder K\u00e4lte, die Empfindung des Bittern, S\u00fcssen, Sauren erh\u00e4lt. In diesem Sinne allein ist die","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Nothwendige Vorbegriffe.\n257\nErkl\u00e4rung beachtenswertli; die Ursachen verschieden hoher T\u00f6ne sind wenigstens schon von aussen her verschieden schnelle Sch wingungen der t\u00f6nenden K\u00f6rper, und eine Ber\u00fchrung der Gef\u00fchls-nerven der Haut, die einmal bewirkt, eine einfache Tastempfindung hervorruft, erregt schnell als Schwingung eines t\u00f6nenden K\u00f6rpers wiederholt, die Empfindung des Kitzels, so dass vielleicht das specifische der Wollustempfindung auch Wenn sic unabh\u00e4ngig von aussen durch innere Ursachen entsteht, durch die Schnelligkeit der Schwingungen des Nervenprincips in den Gef\u00fchlsner-ver bedingt wird.\nEine dunkle Kcnntniss der Gesichtsempfindungen aus innern Ursachen mag wohl die Ursache gewesen seyn, dass auch die alten Naturphilosophen eine Ahnung von dem wesentlichen Antheil des Auges an dem Empfinden von Licht und Farbe gehabt haben. Diese ist in der Lehre vom Sehen im Timaeus des Platon nicht zu verkennen. Es heisst dort: \u201eUnter allen Organen bildeten die G\u00f6tter die strahlenden Augen zuerst, um des Grundes Willen. Ein Organ des Feuers, das nicht brennt, sondern ein mildes Licht giebt, jedem Tage angemessen, hatten sie bei dieser Bildung zur Absicht. Wenn des Auges Licht um den Ausfluss des Gesichtes ist und Gleiches zu Gleichem ausstr\u00f6mend sich vereint, so entwirft sich in der Richtung der Augen ein K\u00f6rper, wo immer das aus dem Innern ausstr\u00f6mende Licht mit dem iiussern zusammentrifft. Wenn aber das verwandte Feuer des Tages in die Nacht vergeht, so ist auch das innere Licht verhalten; denn in das Ungleichartige ausstr\u00f6mend ver\u00e4ndert es sich und erlischt, indem es durch keine Verwandtschaft der Luft sich anf\u00fcgen und mit ihr Eins werden kann, da sie selbst kein F\u2019euer hat.\u201c\nRichtigere Ansichten und in mehr wissenschaftlicher Form vorgetragen finden sich in Aristoteles Schrift \u00fcber den Traum, wovon ich in meiner Schrift \u00fcber die phantastischen Gesichtserscheinungen eine Uebersetzung gegeben habe. Die Erkl\u00e4rung der Phantasmen als innerer Sinneswirkungen ist ganz dem heutigen Stand puncte der Wissenschaft angemessen. Er hat sogar schon die auch von Spinoza gemachte Beobachtung dass sich die im Schlafe erschienenen Bilder beim Erwachen in den Sinnesorganen ertappen lassen (3. Cap.), und die subjectiven Farbenumwandlungen des Blendungsbildes der Sonne im Auge sind ihm wohlbekannt (2. Cap.).\nBei dem ausgcbildeten Zustande der verschiedenen Zweige-der Naturwissenschaften, welche selbstst\u00e4ndig und zum Theil unabh\u00e4ngig von einander bearbeitet werden, bleibt es immer eine sch\u00f6ne Aufgabe der Philosophie, die Erkl\u00e4rungen der Grundph\u00e4nomene zu pr\u00fcfen, besonders da, wo die Gebiete in einander greifen, wie bei den Wirkungen des Lichtes auf organische Wesen., Aber diese Arbeit ist ungemein schwierig, weil sie ohne n\u00e4heren Antheil an der Zergliederung der Thatsachen nicht gut zu l\u00f6sen ist. ln neueren Zeiten hat die Philosophie auf diesem der Phy-","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nV. Buch. Von den Sinnen.\nsik und Physiologie zugleich ungeh\u00f6rigen Felde nur wenig gelichtet. Die Manifestation der Gegenst\u00e4nde an einander kann die Natur des Lichtes nicht ausdr\u00fccken und dass es f\u00fcr uns manife-stirend ist, h\u00e4ngt nur von der Gegenwart eines Leichten Sehorganes ah. In dieser Weise sind hinwieder viele andere Agentien manifestirend. Und w\u00e4re ein feines organisches Reagens f\u00fcr die Electricit\u00e4t wie f\u00fcr das Licht da, so w\u00fcrde die Electricit\u00e4t ebenso offenbarend f\u00fcr die Existenz der k\u00f6rperlichen Welt seyn, als das Licht ist.\nAus dem Vorherigen ergiebt sich deutlich genug, dass die Sinnesnerven keine blossen Leiter der Eigenschaften der K\u00f6rper zu unserm Sensorium sind, und dass wir von den Gegenst\u00e4nden ausser uns nur durch die Eigenschaften unserer Nerven und ihre F\u00e4higkeit von \u00e4usseren Gegenst\u00e4nden st\u00e4rker oder geringer ver\u00e4ndert zu werden, unterrichtet werden. Selbst die Tastempfindung unserer Hand bringt nicht zun\u00e4chst den Zustand der Oberfl\u00e4chen des betasteten K\u00f6ipes, sondern die durch das Tasten erregten Stellen unsers K\u00f6rpers zur Anschauung. Vorstellung und Urtheil machen aus der einfachen Empfindung etwas ganz Anderes. Auf der verschiedenen Art, wie K\u00f6rper die Zust\u00e4nde unserer Nerven erregen, beruht die Sicherheit der sinnlichen Unterscheidung. Hier l\u00e4sst sich aber auch einselien, warum die sinnliche Erkennt-niss uns nie die Natur und das Wesen der sinnlichen Welt auf-schliessen kann. Wir empfinden best\u00e4ndig uns selbst in dem Umg\u00e4nge mit der sinnlichen Aussenwclt und machen uns damit Vorstellungen von der Beschaffenheit der \u00e4usseren Gegenst\u00e4nde, welche eine relative Richtigkeit haben k\u00f6nnen, aber niemals die Natur der K\u00f6rper selbst zu jener unmittelbaren Anschauung bringen, zu welcher die Zust\u00e4nde unserer K\u00f6rperlheile im Sensorium gelangen.\nVI. Ein Sinnesnerve scheint nur einer bestimmten Art der Empfindung und nicht derjenigen der \u00fcbrigen Sinnesorgane f\u00e4hig zu seyn, und kann daher auch keine Vertretung eines Sinnesnerven durch einen andern davon verschiedenen stattfinden.\nIn jedem Sinnesorgane kann die Empfindung bis zum Angenehmen und Unangenehmen gesteigert werden, ohne dass die Natur der Empfindung selbst ver\u00e4ndert wird und in die Empfindung eines andern Sinnesorgans \u00fcbergeht. Das Sehorgan empfindet das Unangenehme als Blendung, das Angenehme als Farbenharmonie; das Geh\u00f6rorgan hat das Angenehme und Unangenehme in den Harmonien und Disharmonien; das Gesehmacksorgan und Geruchsorgan haben ihre angenehmen und unangenehmen Ger\u00fcche und Geschm\u00e4cke, das Gef\u00fchlsorgan die Wollust und den Schmerz. Es scheint daher, dass auch in der heftigen Leidenschaft des Sinnesorganes die Empfindung ihre specifische Energie beh\u00e4lt. Dass die Empfindung des Lichtes, des Tons, des Geschmacks, Geruchs nur in den entsprechenden Nerven empfunden werde, ist bekannt, weniger deutlich ist diess vom Gef\u00fchl, und es fragt sieh namentlich, ob die Empfindung des Schmerzes nicht in den h\u00f6heren Sinnesnerven m\u00f6glich sei, und ob z. B. eine starke Verletzung des Sehnerven nur als heftige Lichtempfindung, nicht als Schmerz cm-","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Nothwendige Vorhegrif Je.\n259\npfunden werden k\u00f6nne. Die Untersuchung dieser Frage hat ihre grossen Schwierigkeiten. In den Sinnesnerven verbreiten sich ausser den eigentlichen specifischen Sinnesnerven auch noch Gef\u00fchlsnerven; die Nase hat ausser den Geruchs nerven auch noch die Gef\u00fchlsnerven vom zweiten Ast des Trigeminus; in der Zunge besteht das Gef\u00fchl neben dem Geschmack, und das eine kann verloren sein, wahrend das andere fortbesteht, und ebenso ist es mit dem Auge und Geh\u00f6rorgane. Zur Untersuchung jener Frage ist es noting, Versuche an dem isolirten Sinnesnerven selbst anzustellen. Was man jetz,t in dieser Weise erfahren, spricht daf\u00fcr, dass die Sinnesnerven keiner andern Art der Empfindung als der ihnen eigent\u00fcmlichen und nicht der Gef\u00fchlsempfindung f\u00e4hig sind. Die cntbl\u00f6ssten Geruchsnerven des Hundes zeigen sich beim An-steclicn ganz gef\u00fchllos, wie Magendie beobachtete, auch die Markhaut des Auges und der Sehnerve waren in Magendie\u2019s Versuchen (.Journ. de physiol. IV. ISO.) keines Schmerzgef\u00fchls bei mechanischen Verletzungen f\u00e4hig. Dagegen hat man schon beobachtet, dass die Durchschneidung des Sehnerven bei Exstirpation des Auges, f\u00fcr den Kranken mit dem Sehen von grossen Lichtmassen verbunden war, wie mir mein Freund Totjrtuat, aus eigener Erfahrung bei Anstellung dieser Operation mitgetheilt bat. Schon die lichten Kreise, die man bei pl\u00f6tzlicher Verwendung der Augen nach einer Seite, wegen Zerrung der Sehnerven sieht, geh\u00f6ren hiehcr. Olt ist in den F\u00e4llen wo die Exstirpation des Auges in-dicirtist, der Sehnerv e selbst so degcncrirt, dass er keiner Empfindungen mehr f\u00e4llig ist, daher darf die Erscheinung nicht in allen F\u00e4llen der Exstirpation des Auges erwartet werden; sie fehlte auch in 2 hiesigen F\u00e4llen von Exstirpation des Auges. Uebrigens ist es mir nicht bekannt, dass die Durehsehneidung des Sehnerven bei der Exstirpation des Auges schmerzhafter, als der \u00fcbrige Thcil der Operation w\u00e4re, w\u00e4hrend doch die Durehsehneidung eines so starken Gcf\u00fchlsnervcn, wie der Sehnerve, sonst mit den furchtbarsten Schmerzen verbunden ist, und bei den Thicren von dem heftigsten pl\u00f6tzlichen Geschrei begleitet wird.\nAllerdings kann ein Sinnesnerve, gereizt durch Reflexion unter Mitwirkung des Gehirns, auch wieder andere Empfindungen hervorrufen, wie das H\u00f6ren gewisser T\u00f6ne z. B. vom Ritzen in Glas, die Empfindung von Rieseln in den Gef\u00fchlsnerven hervorbringt. Und so mag wohl auch eine blendende Lichtempfindung im Sehnerven einen reflectirten unangenehmen Eindruck auf die Gcf\u00fchlsnervcn der Augenh\u00f6hle und des Auges hervorrufen. So k\u00f6nnen wenigstens die unangenehmen Empfindungen im Augapfel nach dem Sehen in sehr helles Licht erkl\u00e4rt werden.\nln Hinsicht des Riechens hat sich Magendie offenbar get\u00e4uscht, wenn er nach Zerst\u00f6rung der Geruchsnerven den Nasal\u00e4sten des Nervus trigeminus Geruch zuschrieb, da die angewandten Reize, z.B. Essigs\u00e4ure, fl\u00fcssiges Ammonium, Lavendel\u00f6hl, Dippels\u00f6l in die Nase gebracht, sehr starke Erreger der Gel\u00fcblsempfindung der Schleimhaut der Nase sind. Eschriciit in Magendie Journ. de physiol. T. VI. p. 339. In allen genau beobachteten F\u00e4llen von Fehlen der Geruchsnerven hat auch der wahre Geruch aufgeh\u00f6rt. Escu-nicuT ff. ff. 0.","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nV. Buch. Von den Sinnen.\nEine Einwirkung der Gesichtsnerven auf die anderen Sinnesnerven in den Grenzen, wie \u00fcberhaupt ein Nerve auf den andern durch Vermittelung des Gehirns einwirken kann, wird Niemand bestreiten k\u00f6nnen; welche ausgebreitete Affection bringt nicht eine Neuralgie, welche mannigfaltige St\u00f6rungen der Sinnesorgane ein nerv\u00f6ser Zustand hervor, der in den Unlerleibsorganen seine Quelle hat. Wie gew\u00f6hnlich ist hier das schlechte Sehen, das Ohrenbrausen u. a., obgleich allerdings Vieles der Art, was man in den Unterleib verlegt, einen viel tiefem Sitz in der Irritation des R\u00fcckenmarks li\u00e2t.\nVon diesem Gesichtspuncte aus muss auch die Einwirkung vom Nervus frontalis auf den Sehnerven und jene nach Verletzungen des Nervus frontalis beobachtete Amaurose betrachtet werden; aber vielleicht d\u00fcrfte diese in neueren Zeiten meines Wissens selten beobachtete Affection, noch richtiger aus der Ersch\u00fctterung des Auges und Sehnerven durch die Contusion der Stirn erkl\u00e4rt werden.\nDie anatomischen Beobachtungen f\u00fcr das Vertreten eines Sinnesnerven durch einen andern, haben eine sehr unsichere Grundlage. Der Sehnerve des Auges des Maulwurfes sollte der Augenh\u00f6hlenzweig des Trigeminus seyn; Roch und Uenle haben indess gezeigt, dass der Maulwurf einen ungemein feinen, der Gr\u00f6sse seines Auges entsprechenden Sehnerven besitzt und ebenso mag es beim Proteus anguinus seyn. Die Unabh\u00e4ngigkeit des N. acusticus der Fische vom N. trigeminus haben Treviranus und E. H. Weber gezeigt. Selbst wenn in einer Nervenscheide Fasern verschiedener Function eingeschlossen sind, beweist diess keineswegs etwas f\u00fcr die Leitung verschiedener Empfindungen durch einerlei Leiter. So kann man die Tbatsache auslegen, dass es bei den Fischen einen Nereus accessorius nervi acustici giebt, der bald selbsst\u00e4ndig vom Gehirn, bald vom Trigeminus, bald vom Vagus abgeht (E, H. Weber de aure et auditu. Lip. 1820. p. 33. 101.) und dass nach Treviranus {Zeit sehr.f Physiol. V.) bei einigen V\u00f6geln der nervus vestibuli ein Ast des facialis seyn soll. Bei den Delphinen sind zwar Rudimente der Geruchsnerven nach Blainville, Mayer Treviranus (Biologie. 5. 342) vorhanden und es w\u00e4re schon deswegen nicht noting andere Nerven f\u00fcr den Geruch dieser Thiere in Anspruch zu nehmen, indess ist es \u00fcberhaupt unbekannt, ob diese Thiere riechen.\nVon wahrer Vertretung eines Sinnesnerven durch einen spe-cifisch davon verschiedenen, ist uns unter den beglaubigten physiologischen Thatsacben keine bekannt. Die Ausbildung des Gef\u00fchls in der Weise des Gef\u00fchls bei Blinden wird man beut zu Tage nicht Sehen durch die Finger nennen; das Sehen mit den Fingern, mit der Herzgrube, bei sogenannten Magnetischen scheint ein pures M\u00e4hrchen, wenn es nacherz\u00e4hlt wird, und Betrug, wo es geschehen soll. Die Gef\u00fchlsnerven sind keiner andern Empfindung als der Gef\u00fchlsempfindung f\u00e4hig. Daher ist auch kein H\u00f6ren als durch die Geh\u00f6rnerven m\u00f6glich; was die Gef\u00fchlsnerven von den Schwingungen der K\u00f6rper empfinden, sind blosse Gel\u00fcble der Bebungen und nichts dem Ton Aehnliches. Die Beispiele","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Aothwendigc Vorbegriffe.\n261\nsind zwar licut zu Tage nicht selten, dass man die verschiedene Art, wie die Schwingungen der K\u00f6rper auf das Geh\u00f6r und Gef\u00fchl wirken, miteinander verwechselt. Ohne das lebendige Ohr giebt cs in der Welt keinen Tifki, sondern nur Schwingungen, ohne das lebendige Auge in der Welt kein Hell, keine Farbe, kein Dunkel, sondern nur die Oscillatjonen der imponderabcln Materie des Lichtes und ihren Mangel.\nVII. Ob die Ursachen der verschiedenen Energieen der Sinnesnerven in Unten seihst liegen, oder in Hirn und R\u00fcckenmarks/heilen, zu welchen sie hingehen, ist unbekannt, aber es ist gewiss, dass die Centraltheile der Sinnesnerven im Gehirn, unabh\u00e4ngig von den Nervenleit ern, der bestimmten Sinnesempfindungen Jiihig sind.\nDie speeifisehc Reizbarkeit der Sinnesnerven f\u00fcr besondere Reize muss wohl in ihnen selbst liegen, so z. R. dass Schwingungen von der Schnelligkeit oder Langsamkeit, wie sie h\u00f6rbar sind, nur auf den Geh\u00f6rsinn und Gef\u00fchlssinn wirken, dass rein mechanische Einfl\u00fcsse auf die Geschmacksnerven fast gar nicht zur Erregung des Geschmackes wirken u. dgl.. Aber die eigenth\u00fcmliehe Art der Reaction nach der Erregung eines Sinnesnerven kann auf doppelte Art stattfinden, entweder dass das Sensorium an und f\u00fcr sieh gleich verschiedene Qualit\u00e4ten von den Nerven aus erh\u00e4lt, oder dass an und f\u00fcr sich \u00e4hnliche Schwingungen in den Nerven andere Qualit\u00e4ten in dem Sensorium zur Perception bringen, je nach den Eigenschaften der Organtheile des Sensoriums, mit welchen die verschiedenen Sinnesnerven in Verbindung stehen. Diese Frage halten wir vor der Hand f\u00fcr unaufl\u00f6slich, sie b\u00e4ngt mit einer andern zusammen, oh es einen qualitativen Unterschied der sensoriellen, motorischen, organischen Nervenfasern giebt, oh sie sich bloss durch die bestimmte Art der Str\u00f6mung und Oscillation des Nervenprincips in den verschiedenen Leitern unterscheiden, oder ob die Verschiedenheiten ihrer \"Wirkung bloss durch die Theile entstehen, zu welchen sic hingehen. Was sich vorl\u00e4ufig hier\u00fcber besprechen l\u00e4sst, ist im 3. Buch mitgetheilt worden.\nSo viel ist aber gewiss, dass gewisse Centraltheile des Gehirns jedenfalls an den eigenth\u00fcmlichen Energieen der Sinne participiren ; denn Druck auf das Gehirn bewirkt auch Lichtempfin-dung, wie mehrmals schon gesehen wurde. Nach vollst\u00e4ndiger Amaurose der Nervenhaut sind noch leuchtende Phantasmen aus itinern Ursachen m\u00f6glich. Siehe die Beispiele in meiner Schrift \u00fcber die phantastischen Gesichtserscheinungen. Cobl. 1826. Alexander v. Humboldt galvanisirte einen Mann, dem das Auge ausgelaufen war, er sah Lichterscheinungen auf der blinden Seite. Die gereizte Muskel und Nervenfaser T. II. 444. Lincke {de fungo medullari Lips. 1834.) erz\u00e4hlt einen Fat , wo bei einem Kranken einen Tag nach der Exstirpation eines fung\u00f6sen bulbus oculi allerlei subjective Licliterscheinungen entstanden, die ihn so qu\u00e4lten, dass er auf den Gedanken kam, als s\u00e4he er diess alles mit wirklichen Augen (wie die Gef\u00fchle der Amputirten). Indem er das gesunde Auge schloss, sah er verschiedene Bilder vor seiner leeren Augenh\u00f6hle umherschweifen, als Lichter, Feuerkreise, viele tanzende Menschen. Dieser Zufall dauerte einige Tage.","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nV. Buch. Von den Sinnen.\nSo giebt es auch zuweilen Gef\u00fchle in den Gliedern, heftige Schmerzen hei Menschen, deren F\u00e4higkeit der Empfindung f\u00fcr \u00e4ussere Eindr\u00fccke vollkommen aufgehoben ist. Siehe die Nervenphy-sik. Es ist wahrscheinlich, dass hier auch die Centralorgane die Ursache der Empfindungen sind, ur da die eigenth\u00fcmlichen Sin-nesenergieen gewissen Thcilen des Sensoriums zukommen, so kann die Frage also nur die seyn, oh die Leiter l'iir die \u00e4ussern Eindr\u00fccke, die Nerven an diesen Eigenschaften participiren oder nicht. Diese Frage kann f\u00fcr jetzt nicht beantwortet werden; denn die Thatsachen lassen sich gleich gut auf die eine und andere Art erkl\u00e4ren. Dass aus innern Ursachen oft Gef\u00fchle entstehen und nach der Peripherie verbreitet werden, kann f\u00fcr den Anthcil der Nerven seihst an den bestimmten Sinnesenergieen nicht angef\u00fchrt werden, da auch die Affectionen der Centraltheile des Nervensystems oft nach aussen hin versetzt werden.\nVIII. Die Sinnesnerven empfinden zwar zun\u00e4chst nur ihre eigenen Zust\u00e4nde, oder das Sensorium empfindet die 'Zust\u00e4nde der Sinnesnerven; aber dadurch dass die Sinnesnerven als K\u00f6rper die Eigenschaften anderer K\u00f6rper thei/en, dass sie im Raume ausgedehnt sind, dass ihnen eine Erzitterung mitgetheilt werden kann und dass sie chemisch, durch die W\u00e4rme, und die Electricit\u00e4t ver\u00e4ndert werden k\u00f6nnen, zeigen sie bei ihrer Ver\u00e4nderung durch \u00e4ussere Ursachen, dem Sensorium ausser ihrem Zustande auch Eigenschaften und Ver\u00e4nderungen der Aussenwelt an, in jedem Sinne verschieden nach dessen Qualit\u00e4ten oder Sinnesenergieen.\nQualit\u00e4ten welche den Sinnesnerven mehr durch den Conflict mit dem Sinnesorgan als Empfindungen entstehen, sind die Empfindung des Lichts, der Farbe, des Tons, des Bittern, S\u00fcssen, des Gestanks, Wohlgeruchs, des Schmerzes, der Wollust, des Kalten, Warmen; Eigenschaften welche ganz von aussen bestimmt werden k\u00f6nnen, sind die Ausdehnung, die fortschreitende, die zitternde Bewegung, die chemische Ver\u00e4nderung.\nZur Mittheilung der Ausdehnung im Raume an das Sensorium sind nicht alle Sinne gleich gut geschickt. Der Gesichtsnerve, der Gef\u00fchlsnerve zeigen die Ausdehnung im Baume an, weil sie einer genauen Empfindung ihrer eigenen Ausbreitung f\u00e4hig sind. In den Geschmacksnerven ist diese Empfindung am undeutlichsten, aber doch vorhanden; durch sie wird die Ausbreitung eines s\u00fcssen, bittern eckelhaftcn Geschmacks auf der Zunge am Gaumen und im Rachen bestimmt, ln dem Gef\u00fchlssinn und Gesichtssinn hat die Unterscheidung des R\u00e4umlichen die gr\u00f6sste Sch\u00e4rfe. Die Nervenhaut des Sehnerven hat einen zu dieser Perception sehr geeigneten Bau; denn die Enden der Nervenfasern in der retina sind nach Treviranus Entdeckung so gestellt, dass sic zu-lezt senkrecht in der Dicke der Nervenhaut sich aufrichten und die papillenf\u00f6rmigcn dicht nebeneinander stehenden Enden eine pflasterlormig zusammengesetzte Membran bilden. Von der Zahl dieser Enden h\u00e4ngt die Sch\u00e4rfe der Unterscheidung des R\u00e4umlichen durch den Gesichtssinn ab, denn jede Faser repr\u00e4sen-tirt ein gr\u00f6sseres oder kleineres Feldchcn der sichtbaren Welt in einem gemeinsam einfachen Eindruck, welchen diese Faser dem","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"263\nNothcvendige Vorbegriffe.\nSensorium mitthcilt. Die Unterscheidung ties R\u00e4umlichen durch den Gef\u00fchlssinn ist zwar viel mehr verbreitet als beim Gesichtssinn, ist aber viel weniger genau, und gr\u00f6ssere Tbcile der K\u00f6rperoberfl\u00e4che oder der Haut werden oft nur durch wenige Nervenfasern im Sensorium repr\u00e4sentirt; .daher oft an manchen Stellen zwei von einander entfernte ailnWte Punkte der Haut nur als einer empfunden werden, wie E. H. W eber gezeigt hat. Obgleich der Gesichtssinn, der Gef\u00fchlssinn und Geschmackssinn zugleich der Empfindung des R\u00e4umlichen f\u00e4hig sind, so ist die Qualit\u00e4t des r\u00e4umlich Empfundenen in jedem dieser Sinne nach den Qualit\u00e4ten def Nerven verschieden, in dem einen Ealle ein Bild, dessen Qualit\u00e4t das Licht ist, in dem andern eine Empfindung des R\u00e4umlichen, deren Qualit\u00e4t alle Modificationcn des Gef\u00fchls zwischen Schmerz, K\u00e4lte, W\u00e4rme, Wollust seyn k\u00f6nnen, im dritten Falle eine Empfindung des R\u00e4umlichen mit Geschmack.\nDie \u00e4ussere Ursache, welche in dem Sinne die Empfindung mit r\u00e4umlicher Ausdehnung erregt, kann verschieden seyn. Am Sehorgan ist es das \u00e4ussere Licht, aber auch der Stoss eines K\u00f6rpers an das Auge, welcher eine Lichtempfindung im Auge hervorruft, kann die Ursache seyn. Wird n\u00e4mlich nur ein bestimmter Theil der Nervenbaut gedr\u00fcckt, so entsteht auch nur ein dieser Stelle entsprechendes lichtes Feld, welches eine bestimmte Stelle im Sehfelde einnimmt. Seihst die Electricit\u00e4t kann r\u00e4umliche Bilder von bestimmter Form im Auge bedingen, wie feurige Linien, deren Lage nach der Lage der Pole verschieden ist, worauf wir sp\u00e4ter zur\u00fcckkommen werden. Am Gef\u00fchlsorgane erregt das Licht zwar auch, je nach der Ausdehnung der von der Sonne beleuchteten Theile der Haut, die Empfindung der erw\u00e4rmten Theile in r\u00e4umlicher Ausdehnung. Aber in der Regel sind die Eindr\u00fccke, welche uns von den K\u00f6rpern ausser uns durch das Gef\u00fchlsorgan unterrichten, mechanische Ber\u00fchrung, Reibung, Stoss, Druck oder Mittheilung von Schwingungen der K\u00f6rper, die wir als Bebung empfinden. Durch das Gef\u00fchlsorgan erhalten wir in Folge der mechanischen Eindr\u00fccke, die ersten und wichtigsten Aufschl\u00fcsse \u00fcber die Form und Schwere der K\u00f6rper, wovon das Urtheil f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der Anschauungen der \u00fcbrigen Sinne bald Gebrauch macht.\nDie Durchdringung ganzer Gliedmassen, ja der meisten Theile unseres K\u00f6rpers durch Gef\u00fchlsnerven, macht es dem Gef\u00fchlssinn m\u00f6glich, die Raumausdehnung unseres eigenen K\u00f6rpers in allen Dimensionen zu unterscheiden ; denn jeder Punkt, in welchem eine Nervenfaser endet, wird im Sensorium als Raumtheilchen repr\u00e4sentirt. Auch bei dem Conflict unseres K\u00f6rpers mit andern kann, wenn der Stoss stark genug ist, die Empfindung bis zu einer gewissen Tiefe unseres K\u00f6rpers erregt werden und es entsteht die Empfindung der Contusion in allen Dimensionen des Cubus. Gew\u00f6hnlich bringen aber die drei Sinne, welche die r\u00e4umliche Ausdehnung der K\u00f6rper anzeigen, nur Fl\u00e4chen zur Perception, soweit die Fl\u00e4chen der nervenreichen Theile bei dem Conflict afficirt werden. Der Gef\u00fchlssinn hat jedoch auch hier vor dem Gesichtssinn das voraus, dass die fastenden Theile in mell-\nMuller\u2019s Physiologie. 2r Bd. I!.","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264\nV. Buch. Vun den Sinnen.\nreren Richtungen um einen K\u00f6rper sich herumlegen k\u00f6nnen, und obgleich die Empfindung hierbei an und f\u00fcr sich die einer Ausdehnung in Fl\u00e4chen, n\u00e4mlich die dcrOberfl\u00e4chen misers K\u00f6rpers, welche den Oberfl\u00e4chen des \u00e4ussern K\u00f6rpers entsprechen, bleibt, so erg\u00e4nzt die Vorstellung aus den zum Umfassen n\u00f6thigen Bewegun-gen, die Empfindung der Fl\u00e4chen zur Anschauung eines K\u00f6rpers mit cubischem Inhalte.\nDer Gesichtssinn ist in dieser Hinsicht weniger von dem Gef\u00fchlssinn verschieden, als man gew\u00f6hnlich annimmt. Es fehlt ihm, um ihm ganz gleich zu seyn, nur, dass das Auge seinen Ort ver\u00e4ndern k\u00f6nne, um anderen Fl\u00e4chen eines K\u00f6rpers entgegenzusehen. Dieser Mangel kann aber durch die Ortsver\u00e4nderung unseres K\u00f6rpers ersetzt werden.\nDem Geh\u00f6rsinn gebt die Empfindung des R\u00e4umlichen fast/ ganz ab, weil er eben seihe eigene Ausdehnung im Raume nicht empfindet. Die Ursachen dieses Unterschiedes sind unbekannt. Die Nervenbaut des Auges empfindet ihre eigene Ausbreitung und ihren Ort schon ohne alle \u00e4ussere Affection, als Dunkel vor den Augen. Das Geruchsorgan empfindet wenigstens noch deutlich, an welchem Organ die Ger\u00fcche wahrgenommen werden, und von einem durchdringenden Geruch wissen wir, dass die ganze Nase in ihrem Innern eingenommen ist, wir k\u00f6nnen nicht weniger als eine Nase voll nehmen. Bei dem Geh\u00f6r findet keinerlei Perception des Ortes, wo geh\u00f6rt wird, statt.\nDie Empfindung der Bewegung ist eine doppelte, wie die Bewegung eine doppelte ist, fortschreitende und schwingende. Die Empfindung der fortschreitenden Bewegung findet in drei Sinnen in verschiedener Weise statt, im Gesichtssinn, Gef\u00fchlssinn und Geschmackssinn, in denselben Sinnen, in welchen \u00fcberhaupt Distinction des Raumes m\u00f6glich ist; das Erstere h\u00e4ngt von dem Letzteren ab und ist blosse Folge desselben. Eine Affection schreitet von einem Theil der Retina auf einen anderen fort, und wir stellen uns die Bewegung des Bildes als Bewegung des K\u00f6rpers vor, ebenso mit dem Gef\u00fchlssinn. Auch der Geschmackssinn unterscheidet die Bewegung des Geschmacks \u00fcber das Gc-schmacksorgan.\nDie Perception der zitternden oder schwingenden Bewegung ist hei mehreren Sinnen m\u00f6glich. Am offenbarsten ist diese Wirkung auf den Geh\u00f6rsinn und Gef\u00fchlssinn, aber selbst die Nervenhaut des Auges und der Sehnerve scheinen der Unterscheidung dieser Eindr\u00fccke nicht fremd zu seyn. Was zun\u00e4chst den Geh\u00f6rsinn betrifft, so werden die dem Geh\u00f6rnerven durch den schallleitenden Apparat des Geh\u00f6rorganes, zuletzt durch das Labyrinthwasser mitgetheilten Erzitterungen, wenn sic schnell sind, bloss als Ton geh\u00f6rt, dessen H\u00f6he mit der Schnelligkeit der Schwingungen zunimmt; wenn sie sehr langsam sind, unterscheidet der Geh\u00f6rnerve nicht bloss den gemeinsamen Ausdruck derselben als einen bestimmten Ton, sondern leicht etwas von den einzelnen Schwingungen als Ger\u00e4usch.\nDie Schwingungen eines K\u00f6rpers, die im Geh\u00f6rorgane den Ton bedingen, werden von den Gef\u00fchls nerven der Haut als Bebun-","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"265\nNothwendige Vorbegriffe.\ngen empfunden \u00f6fter mit dein Gesammteindruck des Kitzels, wenn das Aun\u00e4hern des schwingenden K\u00f6rpers, z. B. der Stimmgabel an empfindlingsreiche 1 heile geschieht. Diese Erscheinungen liefern eine vollkommene Parallele zu denen am Geh\u00f6rorgan. So wie das Geh\u00f6r die Sl\u00f6sse eines K\u00f6rpers einzeln als Ger\u00e4usche, ihre schnelle Folge als Ton empfindet, ebenso empfindet der Ge-f\u00fchlsnerve die einzelnen Hebungen und zugleich, hei hinreichender Schnelligkeit der Schwingungen, die dem Gef\u00fchlsorgan eigene Empfindung des Kitzels.\nDass \u00fcbrigens nicht die wellenf\u00f6rmige Bewegung der Schwingung zur Affection dss Geh\u00f6rorgans n\u00f6thig ist, dass vielmehr eine schnelle Folge von mechanischen Sl\u00f6ssen dasselbe leistet, was die Schwingungen thun, beweisen eben die vorher angef\u00fchrten Versuche mit dem SavartscIicu Bad und der Sirene von Cagniard la Tour. Bei dem letztem Instrumente wird der Strom der Luft oder einer Fl\u00fcssigkeit aus einer Oeffnung, w\u00e4hrend dem raschen Umlaute eines Bades, durch jeden Zahn desselben augenblicklich aufgehalten. Die dadurch hervorgebrachten Unterbrechungen und St\u00f6sse, welche auf das Geh\u00f6rorgan fortgepflanzt werden, sind die Ursache der T\u00f6ne, deren H\u00f6he mit der Zahl der Unterbrechungen in bestimmter Zeit zunimmt. Auch in dieser Beziehung bildet die Wirkung der St\u00f6sse eines K\u00f6rpers auf das Gef\u00fchlsorgan eine Parallele zu den Erscheinungen am Geh\u00f6rorgan. Denn bei der Ber\u00fchrung einer schwingenden Stimmengabel erh\u00e4lt der Gef\u00fchlsnerve auch eine schnelle Folge von St\u00f6ssen, wovon jeder einzelne f\u00fcr sich nicht im Stande gewesen w\u00e4re, die Empfindung des Kitzels hervorzuhringen.\nDie Unterscheidung der Zeit in der Folge der Eindr\u00fccke, ist hei allen Sinnen m\u00f6glich, nur hei dem Geh\u00f6rnerven scharf, aber hier ganz ausserordentlich. Das von Savart erfundene Instrument, durch welches die T\u00f6ne durch Reibung der Z\u00e4hne eines umlaufenden Bades an einem K\u00f6rper hervorgebracht werden, hat die Mittel gegeben, die gr\u00f6sste und die geringste noch wahrnehmbare Tonh\u00f6he genauer, als es bisher m\u00f6glich war, zu bestimmen. Savart hat gezeigt, dass bei geh\u00f6riger St\u00e4rke noch T\u00f6ne vernommen werden, die 24000 St\u00f6ssen oder 48000 einfachen Schwingungen in der Sekunde entsprechen. Zwei auf einander folgende St\u00f6sse oder vier auf einander folgende Schwingungen sind schon hinreichend einen vergleichbaren Ton zu bilden; d. h. ein Ton, zu dem 4000 St\u00f6sse in der Sekunde geh\u00f6ren, wenn er eine Sekunde anhalten soll, wird schon vernehmbar, wenn nur zwei St\u00f6sse davon geh\u00f6rt werden, und von einem andern Tone unterscheidbar, der 2000 oder mehr oder weniger. Schl\u00e4ge in der Sekunde haben w\u00fcrde. Woraus hervorgeht, dass das Geh\u00f6r selbst yy-gw\u00f6 einer Sekunde unterscheiden kann, da 24000 St\u00f6sse auf den, bei Savart\u2019s Instrumente m\u00f6glichen, h\u00f6chsten Ton f\u00fcr die Sekunde gehen.\nDas \u00c4uge kann zwar das Bild eines schwingenden K\u00f6rpers dem Sensorium mittheilen, und unterscheidet die Schwingungen, wenn sie sehr langsam sind; aber in diesem Falle werden die Schwingungen nicht dem Sehnerven mitgetheilt, so dass dieser sie in derselben Art wiederholt, oder in derselben Art\n48*","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"26(5\nV. Buch. l'on den Sinnen.\ndie Sl\u00f6sse empfangt, n ie cs der Geh\u00f6rnerve durch seine Ausbreitung auf tien Theilen vermag, welche das Labyrinthwasser enthalten. Der Sehnerve befindet sich nicht unter den Bedin-gungen, Schwingungen von der Art, wie die eines t\u00f6nenden K\u00f6rpers fortzupflanzen oder aufzunehmen, und m\u00fcsste derselbe, wie der Geh\u00f6rnerve, auf Membranen sich ausbreiten, welche sackartig mit Wasser gef\u00fcllt, und auch von aussen mit Wasser umgeben, mit einem, die Schwingungen leitenden Apparat in Verbindung stehen. W\u00e4re der Sehnerve der Perception der Schwingungen wie der Geh\u00f6rnerve und Gef\u00fchlsnerve f\u00e4hig, so m\u00fcsste eine auf die Nervenbaut des Auges durch die Luft verpflanzte Schwingung eines K\u00f6rpers, wie am Geh\u00f6rorgan Ton, so hier eine allgemeine Lichtempfindung hervorrufen. Ich habe schon gelegentlich erw\u00e4hnt, dass die St\u00f6sse einer Stimmgabel, wenn sie den Bulbus oculi ber\u00fchren, nicht hinreichen, die eigenth\u00fcmliche Empfindung des Sehnerven im Dunkeln anzuregen. Die Ursache des Nichterfolges kann in der Schw\u00e4che dieser St\u00f6sse oder in ihrer Langsamkeit liegen. Die Schw\u00e4che der St\u00f6sse, welche die Nervenhaut nicht unmittelbar treffen, mag wohl ein Hauptgrund seyn ; denn ein starker Stoss auf den jenigen Theil des Auges, wo die Nervenhaut sich befindet, bewirkt ja die Lichtempfindung. Vielleicht werden auch sehr sch wache Sl\u00f6sse, wenn sie mit viel gr\u00f6sserer Schnelligkeit wiederholt die Nervenhaut selbst ber\u00fchren, Lichtempfindung erregen. Unter diesen Gesichtspunkt kommen die Wirkungen des \u00e4ussern Lichtes auf das Auge; dessen mechanische Wirkung durch Oscillationen bei dem jetzigen Zustande der Physik an Wahrscheinlichkeit gewonnen hat (Undulationstheorie). Schon Newton hat die Lehre von den Undulationen des Lichtes auf das Sehen angewandt, und das Sehen daraus erkl\u00e4rt. Opt. cjdaest. 12. Nach der Undulationstheorie werden die Farben aus der Schnelligkeit der Vibrationen und den Lichtwellen erkl\u00e4rt. D ie Lichtwellen, welche die Empfindung des Blauen hervorrufen, sind die k\u00fcrzesten, nach Herschf.l betr\u00e4gt ihre L\u00e4nge 16,7 Mil-liontbeile engl. Zoll, ihre Anzahl in einer Sekunde 727 Billionen, die Lichtwellen des Roths sind die l\u00e4ngsten 26,7 Milliontheile Zoll, Anzahl in der Sekunde 458 Billionen. Gehler\u2019s physik. IV\u00f6rierb. VI. I. 349. Die Schwingungen der K\u00f6rper, welche T\u00f6ne in uns hervorbringen, sind viel langsamer. Die Lufts\u00e4ule der 32 fiissigen Pfeife der Orgel macht 32 Sch wingungen in einer Sekunde. Nach Savart werden schon T\u00f6ne wahrnehmbar, die nur 7 \u2014.8 Schl\u00e4ge in der Sekunde machen und wenn jede Schwinsmna; einen Eindruck von TV Sekunde macht.\nVon chemischen W irkungen werden wir durch mehrere Sinne unterrichtet, haupts\u00e4chlich durch den Geruch, den Geschmack, das Gef\u00fchl, durch jeden dieser Sinne in der ihm cigenth\u00fcmlichen Energie. Fl\u00fcchtige, die Nerven chemisch umstimmende K\u00f6rper wirken zwar auf das Geruchsorgan am st\u00e4rksten und manche Stoffe wirken auf dasselbe, welche auf das Geschmacksorgan und Gef\u00fchlsorgan keinen Eindruck hervorbringen, wie viele Riechstoffe, namentlich z. B. die Ausd\u00fcnstungen der Metalle, des Bleies, vieler Mineralien u, a. Aber im Allgemeinen l\u00e4sst sich nicht behaupten","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"207\nJS'ot/iivendige Forbegrijfe.\ndass nur das Geruchsorgan fl\u00fcchtige Stoffe percipire. l)enn diese verm\u00f6gen auch aut' das Gef\u00fchlsorgan und Geschmacksorgan einzuwirken, wenn sie geeignet sind, chemische Umstimmungen in denselben hervorzubringen, und wenn sich die fl\u00fcchtigen Stolle erst in den Fl\u00fcssigkeiten aufl\u00f6sen, welche das Geschmacksorgan bedecken. Aut die Gef\u00fchlsnerven einiger Schleimh\u00e4ute, z. B. der Conjunctiva, der Schleimhaut der Lungen, wirken einige fl\u00fcchtige Stolle sehr heftig ein, blosse Gef\u00fchlseindr\u00fccke erregend, wie die fl\u00fcchtigen Exhalationen des Meerrettigs, des Senfes, scharfe, erstickende Gase. Auf das von der Oberhaut entbl\u00f6sste Gefuhlsor-organ der \u00e4ussern Haut wirken auch viele fl\u00fcchtige Stoffe stark erregend ein und rufen die Qualit\u00e4ten der Geiuhlsnerven, als Brennen, Schmerzen u. dergl. hervor.\nOb die tropfbarfl\u00fcssigen K\u00f6rper auf das Geruchsorgan zum Geruch bestimmend einzuwirken verm\u00f6gen, ist unbekannt. Es giebt wegen der Verborgenheit des Geruchsorganes wenig Gelegenheit dar\u00fcber Versuche anzustellen. Obgleich man noch nie etwas der Art an Menschen beobachtet hat, so ist es a priori nicht gerade abzuweisen, da doch auch die fl\u00fcchtigen Exhalationen sich erst in der Feuchtigkeit der Schleimhautfl\u00e4chen aufl\u00f6sen m\u00fcssen, ehe sie auf die Geruchsnerven wirken k\u00f6nnen. Die Fische zeigen uns aber geradezu das Beispiel des Geruchs von aufgel\u00f6sten tropfbarfl\u00fcssigen Substanzen und ich sehe keine Schwierigkeit ein, dass ein Thier nicht sollte das Tropfbarfl\u00fcssige in den Qualit\u00e4ten der Geruchsnerven empfinden, was es in den Qualit\u00e4ten der Geschmacksnerven als Geschmack empfindet. Riechen in der Luft und im Wasser verhalten sich zu einander, wie Athmen in der Luft und im Wasser.\nDie tropfbarfl\u00fcssigen K\u00f6rper bringen sowohl an dem Gef\u00fchlsorgan, als Geschmacksorgan chemische Umstimmungen der Nerven hervor, die in jedem auf verschiedene Weise empfunden werden; Senf wirkt ganz anders auf die Haut, als auf die Zunge ein, S\u00e4uren, Alcalien, Salze auf beide ganz verschieden. Ihre chemische Einwirkung kann zwar zun\u00e4chst nur dieselbe seyn, aber die Reaction ist nach den Kr\u00e4ften der Nerven eine ganz verschiedene. Auf der Zunge kommen beiderlei Wirkungen h\u00f6chst wahrscheinlich in verschiedenen Nerven vor, und k\u00f6nnen von derselben Substanz erregt werden. Von allen Nerven ist der Geschmacksnerve am meisten den chemischen Einwirkungen ausgesetzt, und er ist der bestimmbarste durch die geringsten Modificationen der chemischen Constitution der K\u00f6rper. Die Zust\u00e4nde, in welche der Gef\u00fchlsnerve durch chemische Einwirkungen versetzt wird, sind bei weitem weniger mannigfaltig in der Art des Gef\u00fchls, und diese Nerven sind auch, wenigstens auf der \u00e4ussern Haut (nicht an den Schleimh\u00e4uten) gegen chemische Einwirkungen durch die Epidermis gesch\u00fctzt.\nDurch ihren Conflict mit chemischen \u00e4usseren Einwirkungen werden die drei niederen Sinne, der Geruch, der Geschmack und das Gef\u00fchl wichtig f\u00fcr die Unterscheidung und Wiedererkennung der Materien, obgleich uns weder der Geruch, noch der Geschmack, noch das Gef\u00fchl irgend etwas von den inneren Eigen-","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nV. Buch. Vun den Sinnen.\nsch\u00e4ften der K\u00f6rper aufschliessen. Nicht einmal bleihen sich die Eindr\u00fccke gleich hei den Species chemisch gleich constituirter K\u00f6rper, und sind nicht constant verschieden hei chemisch verschieden constituirten K\u00f6rpern.\nDie h\u00f6heren Sinne sind den Einwirkungen chemischer Umstimmungen von aussen nicht ausgesetzt, woraus nicht geschlossen werden darf, dass nur die niederen Sinne dazu f\u00e4hig sind.\nEin wichtiger Unterschied der Sinne helrift\u2019t ihr Verh\u00e4ltniss zur N\u00e4he und Ferne der K\u00f6rper, von welchen sie uns Aufschluss gehen. Genau genommen zeigen alle Sinne nur das unmittelbar in ihnen gegenw\u00e4rtige an. Das Auge empfindet nichts von dem leuchtenden K\u00f6rper, es; wird von den Enden der zu ihm gesandten Lichtstrahlen getroffen, und die Stellen der Nervenhaut werden empfunden, welche davon afficirt werden. Das Geh\u00f6rorgan empfindet nichts von dem schwingenden K\u00f6rper, sondern die St\u00f6sse, die ihm selbst von dort aus mitgetheilt sind. Die Vorstellung wirkt aber bald so modificirend und herrschend, in die Acte des Gesichtssinnes ein, dass der Gesichtssinn uns nach aussen zu wirken scheint, dass an die Stelle der fl\u00e4chenhaften Bilder in der Vorstellung die k\u00f6rperlichen Gegenst\u00e4nde seihst treten und das Bild einer Gegend, welches in einem Fensterrahmen Raum hat, uns zur unmittelbaren Anschauung der nahen und fernen Gegenst\u00e4nde seihst wird. Bei den niederen Sinnen ist ein solcher Grad der Ver\u00e4nderung der Empfindung durch die Vorstellung nicht m\u00f6glich; wir \u00fcbertragen zwar auch den Inhalt der Empfindung auf die Gegenst\u00e4nde; indess da die Objecte durch unmittelbare Ber\u00fchrung die Empfindungen des Getastes und Geschmackes erregen, so werden wir durch Nachdenken sogleich bewusst, dass wir von der Affection unserer Organe nur mehr oder weniger sicher auf die Eigenschaften der ber\u00fchrenden K\u00f6rper schliessen.\nIX. Es liegt nicht in der Natur der Xeroen selbst, den Inhalt ihrer Empfindungen ausser sich gegenw\u00e4rtig zu setzen, die unsere Empfindungen begleitende, durch Erfahrung bew\u00e4hrte Vorstellung ist die Ursache dieser Versetzung.\nUm die erste selbstth\u00e4tige Wirkung der Sinne unabh\u00e4ngig von der Erziehung der Sinne zu erkennen, m\u00fcssten wir die volle Erinnerung der ersten Sinneseindr\u00fccke unabh\u00e4ngig von allen durch sie erlangten Vorstellungen haben k\u00f6nnen, diess ist unm\u00f6glich. Schon hei den ersten Sinneseindr\u00fccken des Kindes entstehen dunkle Vorstellungen. Der einzige Weg, der hier m\u00f6glich, ist, die Acte der Sinnesth\u00e4tigkeit und der Vorstellung seihst nach ihrem Inhalte zu untersuchen. Bei der Zergliederung des hei der Sinnesth\u00e4tigkeit stattfindenden Acts des Geistes stellen sich als Gegens\u00e4lze heraus das empfindende, selbstbewusste Subject des bestimmbaren K\u00f6rpers, dessen innere oder von aussen bewirkte Zust\u00e4nde zun\u00e4chst Objecte f\u00fcr das selbstbewusste Subject werden, und die Aussenwelt, mit welcher der bestimmbare K\u00f6rper in Conflict kommt. Dem Bewusstseyn, dem Ich ist jede Empfindung, jede Bestimmung von aussen, jede Passion schon ein Aeusseres. Diess Ich setzt sich den heftigsten Em-","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"269\nNothweiidigc Vorbegriffe.\npfindungen, den qualvollsten Schmerzen als freies Subject entgegen. Das Glied, was uns schmerzt, kann entfernt werden und das Ich wird nicht geschm\u00e4lert; das Ich kann der meisten Glieder des Organismus ent\u00e4ussert seyn und es ist noch ebenso ganz wie vorher. Aber bei diesem S tandpuncte des Idealismus ist noch kein Unterschied gemacht zwischen jenem Aeussern, was die belebten Glieder unsers K\u00f6rpers dem Ich der selbstbewussten Seele sind und dem Aeussern der Aussenwelt neben unserm belebten K\u00f6rper. Am leichtesten l\u00e4sst sich das Entstehen dieser Unterscheidung bei dem Gefiihlssinn erkennen, dem Sinne, der auch am ersten von allen in lebhaften Verkehr mit der Aussenwelt tritt. Stellen wir uns ein menschliches Wesen vor, das ohne jemals eine Gesichtsempfindung gehabt zu haben, wie das Kind im Uterus, bloss Gef\u00fchle hat, durch die Bestimmungen seines K\u00f6rpers von aussen, so wird die eiste dunkele Vorstellung keine andere seyn, als des bestimmbaren lehs im Gegensatz von etwas Bestimmendem. Der Uterus, der das Kind zu einer bestimmten Lage n\u00f6thigt, und Empfindungen verursacht, ist jetzt noch zun\u00e4chst die Veranlassung zum Bewusstwerden dieses Gegensatzes. W ie entsteht aber jetzt die Vorstellung von zweierlei Aeusseren, von dem Aeussern, w elches die Glieder des eigenen K\u00f6rpers des Kindes if\u00fcr sein Ich sind und von dem Aeussern der wahren Aussenwelt. Auf zweierlei Alt. Erstens das Kind beherrscht die Bewegungen seiner Glieder und empfindet seine Glieder, die cs selbstst\u00e4ndig bewegt, als die seinem Ich unterworfenen Werkzeuge desselben. Es beherrscht dagegen den Widerstand, den ihm seine Umgebung darbielet, nicht und dieser Widerstand wird ihm die Vorstellung von einem absolut Aeussern vorf\u00fchren. Zweitens tritt ein Unterschied der Empfindungen ein, je nachdem zwei Theile seines K\u00f6rpers einander ber\u00fchren und also eine doppelte Empfindung in den sich ber\u00fchrenden Tbeilen erzeugen, oder je nachdem hingegen ein Theil seines K\u00f6rpers nur den Widerstand von aussen gewahr wird. Im erstem Falle wo z. B. ein Arm den andern ber\u00fchrt, ist der Widerstand der eigne K\u00f6rper selbst und das widerstandleistende Glied hat ebensowohl Empfindung, als das andere tastende Glied. Seine Glieder sind in diesem Falle \u00e4ussere Objecte der Empfindung und empfindend zugleich. Im zweiten Fall wird das W iderstandieistende als etwas Aeusseres nicht zum lebenden K\u00f6rper Geh\u00f6riges zur Vorstellung kommen, wo das ber\u00fchrende Glied die Vorstellung keiner dem Ich unterworfenen und zuin lebendigen Ganzen geh\u00f6rigen Theile erweckt. Es wird also in dem Kind die Vorstellung von einem Widerstand entstehen, den sein eigener K\u00f6rper anderen Tbeilen seines K\u00f6rpers darbieten kann und zugleich die Vorstellung von einem Widerstande, den ein absolut Aeusseres den Tbeilen seines eignen K\u00f6rpers darbieten kann. Damit ist die Vorstellung von einer Aussenwelt als Ursache von Empfindungen gegeben. Empfindet nun zwar ein thierisches Wesen zun\u00e4chst nur immer sich selbst, seine afficirten Nerven, seine afficirte Haut, so vergesellschaftet sich von nun an, unzertrennlich mit der Empfindung des Gef\u00fchls die der \u00e4usseren Ursache. Auf diesem Standpunkte steht das Empfinden jedes erwachsenen Menschen. Legen wir die","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270\nV. Buch. Von den Sinnen.\nHand auf eine Tafel auf, so werden wir zwar beim Nachdenken sogleich bewusst, dass wir nicht die Tafel empfinden, sondern nur den Theil der Haut, der die Tafel ber\u00fchrt; aber ohne Nach-'-denken verwechseln wir sogleich die Empfindung der ber\u00fchrten Hautflache mit der Vorstellung des Widerstandes und wir behaupten dreist, dass wir die Tafel selbst empfinden, was doch nicht der Fall ist. Bewegt sich nun gar die ber\u00fchrende Hand \u00fcber weitere Strecken der Tafel hin, so entsteht die Vorstellung von einem gr\u00f6sseren Objecte, als die Hand zu decken vermag. Muss zum Umfassen des Widerstandes, die Bewegung der Hand in verschiedenen Dimensionen oder Directionen geschehen, als die Hand in einer Lage hatte, so entsteht die Vorstellung von Fl\u00e4chen, die in verschiedener Direction angelegt sind und sofort von einem, den Raum anf\u00fcllenden und behauptenden, \u00e4usseren K\u00f6rper. Die Empfindung, die wir von den dazu n\u00f6thigen Bewegungen der Muskeln haben, ist die n\u00e4chste Ursache zu dieser Vorstellung des \u00e4ussern K\u00f6rpers, denn die erste Vorstellung von einem ausgedehnten oder den Raum erf\u00fcllenden K\u00f6rper entsteht durch die Empfindung unserer Leiblichkeit selbst. Die Leiblichkeit unserer selbst ist das Maass, nach welchem wir sofort im Gef\u00fchlssinn, die Ausdehnung aller widerstandleistenden K\u00f6rper be-urtheilen. Die Frage ob die Idee des Raums im Sensorium selbstst\u00e4ndig primitiv vorhanden ist . und auf alle Empfindungen einwirkt, oder durch die Erfahrung erst successiv entsteht, kann hier ganz \u00fcbergangen werden. Wir kommen darauf bei der Lehre von den Seelenfunctionen zur\u00fcck. Hier ist nur soviel gewiss, dass die Vorstellung des Raums, wenn sie auch nicht primitiv dunkel im Sensorium vorhanden ist und beim Empfinden nur geweckt und applicirt wird, durch die ersten Vorg\u00e4nge beim Empfinden des Gef\u00fchlssinnes bereits erfahrungsm\u00e4ssig entstehen muss.\nDie dunkeln Vorstellungen eines empfindenden, der Aussen-welt entgegengesetzten K\u00f6rpers, der selbst den Raum erf\u00fcllt, von der R\u00e4umlichkeit der Aussendinge sind schon vorhanden und bis zu einigem Grad von Helligkeit und Sicherheit ausgebildet, ehe der Gesichtssinn mit der Geburt in Th\u00e4tigkeit tritt. Die Empfindungen des Gesichtssinnes werden dadurch bald verst\u00e4ndlich und die gewonnenen Vorstellungen auf die Erfahrungen dieses Sinnes bald \u00fcbertragen.\nEs ist ungemein schwer, wenn nicht v\u00f6llig unm\u00f6glich, sich mit einiger Wahrscheinlichkeit einzubilden, wie das Kind die ersten Eindr\u00fccke auf die Nervenhaut des Sehorganes beurtheilt, und zu entscheiden, ob das Kind das Bild im Auge als einen Theil seines K\u00f6rpers, oder als Etwas ausser ihm ansiebt. Das Bild kann jedenfalls nicht mit dem Subject oder Ich identisch gehalten werden; denn wie der Schmerz und alles Empfundene ist es ein dem Ich entgegentretendes Object. Ob aber diess Object als Theil des lebendigen K\u00f6rpers, oder als etwas ausser ihm Liegendes, Entferntes vorgestellt werde, ist eine andere Frage. Man hat \u00f6fter behauptet, es liege in der Natur des Gesichtssinnes, dass die Empfindung nicht am Orte, wo sie geschieht, wne beim Gel\u00fchlssinn vorgestellt werde; dass die Nervenhaut sich nicht dabei selbst empfindend perci-","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"j\\ othwendige Vorbegriffe.\n271\npire, und dass die Empfindung nicht am Orte der Nervenhaut, sondern weit davon entfernt gegenst\u00e4ndlich werde. Diess l\u00e4sst sich jedoch nicht geradezu behaupten, denn das Dunkle vor den geschlossenen Augen, welches doch die Empfindung der Ruhe und des reizlosen Zustandes der Nervenhaut des Auges ist, wird eben nur vor den Augen und also am Ort des sensibeln Organs empfunden, und weder hinter uns, noch zu den Seiten, noch in der Ferne vorgestellt. Dieses dunkle Sehfeld der geschlossenen Augen ist aber derselbe Rahmen, dieselbe Tabula rasa, in welcher hernach alle Umrisse der sichtbaren Gestalten als Affection bestimmter Theile der Nervenhaut auftreten.\nW\u00e4ren die Vorstellungen von \u00e4ussern Objecten, als Ursachen der Empfindung durch den Gef\u00fchlssinn nicht schon entstanden, so m\u00fcsste derselbe Process heim ersten Sehen, wie wir ihn vorher als heim ersten F\u00fchlen stattfindend geschildert haben, eintreten. Die Affcctionen der Nervenhaut des Auges w\u00fcrden dem Ich als Objecte entgegentreten, aber unbestimmt, ob sie ausser dem lebendigen K\u00f6rper, oder an ihm stattfinden. Aber das Kind wird schon mit dunkeln Vorstellungen von Aussendingen ausser seinem lebenden K\u00f6rper geboren, mit Vorstellungen von ihrer Realit\u00e4t als Ursache von Empfindungen. Und Empfindung und Vorstellung des Gegenstandes der Empfindung werden schon verwechselt. Die n\u00e4chsten Vorg\u00e4nge werden nun, so weit sich als wahrscheinlich errathen l\u00e4sst, diese seyn.\nDie R\u00fcder der Objecte sind in der Nervenhaut in einer Fl\u00e4che realisirt, wie sie fl\u00e4chenhaft ausgehreitet ist. Sie werden in der Vorstellung auf einer Fl\u00e4che seyn, ohne irgend eine Idee von N\u00e4he und Ferne, von k\u00f6rperlicher Raumerf\u00fcllung. Wie bald auch das Kind die Rilder ausser sich setzt, sie werden ihm in einer Fl\u00e4che, in einer Entfernung liegen, es greift auch nach dem fernsten wie nach dem n\u00e4chsten, es greift nach dem Monde. Chesel-dens Kranker, dcrRlindgehorne, w'elcher das Gesicht durch die Operation erhielt, sah alle Rilder wie in einer Fl\u00e4che liegend an, obgleich bei ihm die Vorstellungen von der k\u00f6rperlichen Welt durch den Gcf\u00fchlssinn vollkommen ausgebildet waren. Ihm kam es vor, als ob die Gegenst\u00e4nde auf ihn eindr\u00e4ngten.\nDie Unterscheidung der Rilder der Aussenwclt von dem Rilde des eignen K\u00f6rpers, das sich mit der Aussenwelt in dem Rahmen des Sehfeldes darstellt, wird auf folgende Weise stattfinden. Ein Theil unsers K\u00f6rpers entwirft wie die Aussendinge ein Bild in unserm Auge. Dieser uns selbst mit den \u00e4ussern Objecten sichtbare Theil unsers K\u00f6rpers, ist nach der Stellung gr\u00f6sser oder kleiner, es kann ein grosser, oder kleiner Theil des Rumpfes und der Gliedmassen sein, vom unserm Kopfe ist in dem, auf unserer Netzhaut entworfenen Bilde, nur ein sehr kleiner Theil, n\u00e4mlich die Fl\u00e4chen der Nase, die Nasenspitze, die gesenkten Augenbraunen und allenfalls auch die Lippen enthalten. Diess Bild unseres eigenen K\u00f6rpers nimmt in fast allen Gesichtseindr\u00fccken regelm\u00e4ssig eine bestimmte Stelle des obern, mittlern, untern Theil des Sehfeldes ein; es bleibt constant, w\u00e4hrend die \u00fcbrigen Bilder best\u00e4ndig wechseln.","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272\nV. Buch. Vun den Sinnen.\nSo wird das Bild des eigenen K\u00f6rpers Bald von dem Kinde, als das constante von denjenigen Bildern unterschieden werden, die je nach den Bewegungen des K\u00f6rpers und der Augen andern Platz machen. Die Bewegungen im Bilde seines K\u00f6rpers werden dem Kinde bald noch sicherer die Vorstellung von seinem eignen K\u00f6rper im Gegensatz zu den absolut \u00e4usseren K\u00f6rpern vorfuhren. Denn diesen gesehenen Bewegungen im Netzhautbilde entsprechen wirkliche, und mit Intention ausgefiibrte Bewegungen am K\u00f6rper selbst. Gef\u00fchlsempfindungen von seinem K\u00f6rper verbinden sich mit Gesichtsempfindungen von seinem K\u00f6rper. Indem das Kind einen Theil seines K\u00f6rpers mit der Hand ber\u00fchrt, sieht es diesen Act auch im Gesichtsbilde von seinem K\u00f6rper ausgef\u00fchrt. Hier ber\u00fchret das Bild der Hand das Bild des K\u00f6rpers. Auf diese Weise werden Vorstellungen f\u00fcr die Gesichtsempfindungen so bindend, dass wir nicht allein das Bild, das wesentlich nur in Affectionen aliquoter Tlieile unserer Nervenhaut besteht, ausser uns setzen, sondern auch das Empfundene vollst\u00e4ndig mit den Gegenst\u00e4nden, trotz aller Unterschiede der Gr\u00f6sse verwechseln.\nJa das fl\u00e4chenhafte Sehfeld wird in der Vorstellung sogar bald zu einem, nach allen Pachtungen ausgedehnten Sehraum. Denn mit jeder Bewegung unseres K\u00f6rpers, mit jedem Schritte vorw\u00e4rts ver\u00e4ndern sich die Formen der Bilder, das Ferne r\u00fcckt uns nahe, das Nahe bietet uns andere Seiten dar. Diese Verschiebung der Bilder in dem Sehorgane w\u00e4hrend der Ortsbewegung unseres K\u00f6rpers, muss in der Vorstellung sich so darstellen, als ob wir zwischen den Bildern uns im Raum bewegen, zwischen ihnen durchschreiten; denn das Bild unseres K\u00f6rpers im Sehfelde unseres Auges, trifft dabei mit den Bildern von immer andern, \u00e4usseren Objecten w\u00e4hrend der Bewegung zusammen, und die Ortsbewegung ist die Ursache dieser Verschiebungen.\nWir schliessen aus dieser Darstellung, das Versetzen des Empfundenen nach aussen ist eine Folge des Zusammenwirkens der Vorstellung und der Nerven nicht des Sinnes allein, der isolirt nur seine Affectionen empfinden w\u00fcrde.\nX, Die Seele nimmt nicht blots den Inhalt der Empfindungen der Sinne auf, und legt sie vorsteilend aus, sie hat auf den Inhalt derselben Einfluss, indem sie der Empfindung Sch\u00e4r]e ertheilt. Diese Intention kann sich bei den Simien mit Unterscheidung der r\u00e4umlichen Ausdehnung au] einzelne Theile des empfindsamen Organes iso-liren, bei dem Sinne mit feiner Unterscheidung der Zeitmomente auf einzelne Acte der Empfindung isoliren. Sie kann auch einem Sinne ein Uebergewicht. \u00fcber den andern ertheilen.\nDie Aufmerksamkeit kann sich nicht vielen Eindr\u00fccken zugleich widmen; finden mehrere zugleich statt, so nehmen sie in dem Maasse ihrer Vermehrung an Sch\u00e4rfe ab, oder die Seele nimmt bloss einen derselben mit Sch\u00e4rfe auf, die anderen aber undeutlich oder gar nicht. Ist die Aufmerksamkeit der Seele von Sinnesnerven abgezogen, und in intellectuelle Betrachtungen, tiefe Speculation, oder in eine tiefe Leidenschaft versunken, so sind die Empfindungen der Nerven der Seele v\u00f6llig gleichg\u00fcltig, sie werden gar nicht bemerkt, d. h. zum Bewusstsein des Ichs ge-","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"Nuthwendige Vorbegrifje.\n\u2018273\nbracht oder so schwach, dass die Seele sie augenblicklich wegen des Uebergewichtes einer bestimmten Vorstellung nicht festzuhalten vermag, oder sich ihres Daseyns erst einige Zeit darauf erinnert, wenn das Gleichgewicht hergestellt ist, und jene occu-pirende Vorstellung gleichsam die Wageschale verlassen hat. Die Sch\u00e4rfe, welche sicli einzelnen Sinnen ertheilen l\u00e4sst, wenn andere Sinne ganz untb\u00fctig sind, ist daraus leicht begreiflich, die Aufmerksamkeit wird nicht mehr unter mehreren Sinnen getheilt, sondern jedesmal der Zergliederung der Empfindungen des bestimmten Sinnes zugewandt. Der B\u00fcnde bringt es im Gef\u00fchl zu einer bewunderungsw\u00fcrdigen Sch\u00e4rfe, dass er die feinen Erhabenheiten, z. B. auf M\u00fcnzen, leicht unterscheidet, ja sogar zuweilen das Corpus oder Korn eines F\u00e4rbestoffs von einem andern zu unterscheiden vermag.\nDie Intention zergliedert aber auch das Detail einer einzigen Sinnesempfindung. Da die Seele nicht f\u00e4hig ist allen Theilen einer afficirten Hautstelle eine gleich scharfe Aufmerksamkeit zuzuwenden, so wird die Sch\u00e4rfe der Empfindung aller Theile successiv erreicht, durch Abspringen der Intention von einem Theil der Nervenfasern auf andere. Durch Intention kann eine schwache, juckende Empfindung, an einem Punkte der Gesichtshaut, einen ausserordentlichen Grad von l\u00e4stiger Sch\u00e4rfe und Dauer erhalten, dagegen sie von selbst vergeht, wenn man darauf vergessen kann. Bei dem Gesichtssinn findet dieselbe Intention statt. Wollte man die Intention dem ganzen Sehfelde einer Gesichtsempfindung zuwenden, so w\u00fcrde man nichts mit Sch\u00e4rfe sehen. Die Intention neigt sich bald auf dieses, bald auf jenes und zergliedert das Detail der Empfindung, und dasjenige, worauf die Intention gerichtet ist, wird jedesmal sch\u00e4rfer als das \u00fcbrige derselben Empfindung gesehen. Diess ist nicht bloss so zu verstehen, dass die Mitte der Nervenhaut, an welcher die Sch\u00e4rfe der Empfindung am st\u00e4rksten ist, sich successiv verschiedenen Theilen des Objectes zuwendet, so dass das \u00fcbrige undeutlich gesehen wird; sondern bei unverwandter Sehachse kann die Intention auch f\u00fcr das seitlich liegende der Gesichtsempfindung sich sch\u00e4rfen. Bei unverwandter Sehachse k\u00f6nnen wir, eine zusammengesetzte, mathematische Figur betrachtend, die einzelnen Elemente derselben successiv sch\u00e4rfer sehen und das \u00fcbrige der Figur misachten. Die betrachtete vieleckige Figur, in ihrem Innern durch Linien eingetheilt, gew\u00e4hrt einen verschiedenen Eindruck, je nachdem die Aufmerksamkeit diesen oder jenen Theil des Ganzen sich einpr\u00e4gt; ein einzelnes Dreieck in der ganzen Figur kann unsere Intention ganz besch\u00e4ftigen, im n\u00e4chsten Augenblick kann die Intention auf eine durch das Dreieck durchgelegte, andere Figur \u00fcbergehen, die vorher schon vorhanden war, aber bei der scharfen Anschauung des Dreiecks mis-achtet war. Es ist ebenso mit architectonischen Zierrathen, Rosen, Arabesken; und der Reiz dieser Figuren besteht grossentheils darin, dass sie das lebendige Wirken und Ver\u00e4ndern der Intention in hohem Grade anregen, und dadurch seihst vor uns eine Art von Lebendigkeit offenbaren. Beide Augen sehen zwar in der Regel und bei gleicher Sehkraft gleichzeitig, aber die Inten-","page":273},{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"274\nV. Buch. Von den Sinnen.\ntion vermag auch wieder den Gesichtseindruck des einen Auges zum herrschenden zu machen, wie sp\u00e4ter empirisch gezeigt werden soll, und es l\u00e4sst sich deutlich beweisen, dass beim Sehen mit zwei Augen, ohne dass wir es beim gew\u00f6hnlichen Sehen merken, ein Wettstreit beider Augen stattfindet, und dass der Eindruck, je nach der St\u00f6rung des Gleichgewichts, ein ganz verschiedener ist. Das Sehen mit beiden Augen durch verschieden gef\u00e4rbte Gl\u00e4ser auf ein weisses Blatt kann vorl\u00e4ufig als Beispiel dienen. Die Eindr\u00fccke von blau und gelb vermischen sich dabei nicht leicht, sondern bald ist das blaue, bald das gelbe vorherrschend. Bald erscheinen blaue wolkenartige Flecken auf dem gelben, bald gelbe, ihre Gr\u00f6sse ver\u00e4ndernde Flecken auf blauem Felde, bald ist die eine Farbe allein herrschend, und hat die andere absorbirt, bald umgekehrt. Das fleckenweise Erscheinen der einen Farbe auf der andern zeigt sogar, dass ein Theil der Nervenhaut des einen Auges, mit Theilen der Nervenhaut des andern Auges intendirt seyn kann.\nBei dem Geh\u00f6rsinn, welcher die r\u00e4umliche Ausdehnung in der Art, wie beim Gesichtssinn und Gef\u00fchlssinn nicht unterscheidet, aber die sch\u00e4rfste Empfindung f\u00fcr die Zcitfolge der Eindr\u00fccke hat, ist die Wirkung der Intention eine andere. Das Geh\u00f6rorgan unterscheidet \u00f6rtlich h\u00f6chstens, dass das eine oder das andere Ohr h\u00f6rt, oder sch\u00e4rfer h\u00f6rt, und dann kann allerdings auch, wenn in beide Ohren Verschiedenes gesprochen wird, die Intention sich dem einen oder dem andern Eindruck mehr hingeben. Bewunderungsw\u00fcrdig ist aber die Wirkung der Intention auf die Unterscheidung der schwachen T\u00f6ne; wir \u00fcberh\u00f6ren gew\u00f6hnlich die schwachen Nebent\u00f6ne der Saiten und anderer Tonwerkzeuge, durch Intention sch\u00e4rfen wir die Empfindung derselben, wie die des leisesten Ger\u00e4usches. Noch merkw\u00fcrdiger ist die F\u00e4higkeit, durch Intention von vielen gleichzeitig geh\u00f6rten T\u00f6nen eines Orchesters jeden herauszuh\u00f6ren, und selbst dem schw\u00e4che\u2122 Klang eines Instrumentes unter den \u00fcbrigen mit Aufmerksamkeit zu folgen, wobei die Eindr\u00fccke der \u00fcbrigen an Sch\u00e4rfe abnehmen.\nBeim Schluss dieser Einleitung in die Physiologie der Sinne wirft sich die Frage auf, ob die Zahl der Sinne eine beschr\u00e4nkte sei, und ob es nicht bei einzelnen Tbieren auch noch andere geben k\u00f6nne. Die T\u00e4uschung in welche Si\u2019allanzani verfiel, indem er den geblendeten Flederm\u00e4usen, wegen ihrer geschickten Flugbewegung in der N\u00e4he der W\u00e4nde, einen eigenen Sinn zuschrieb, ist bekannt. Ebenso dass Manche den Tbieren wegen ihrer Vorempfindung der Witterungsver\u00e4nderung einen eigenen Sinn zuschrieben. Da der Zustand des Luftdrucks, die Menge des Wasserdampfs in der Atmosph\u00e4re, die Temperatur, die Electricit\u00e4t auf die ganze thierische Oeconomie unseres K\u00f6rpers schon so bedeutend wirken, dass wir ihre Ver\u00e4nderungen empfinden, so kann man sich recht gut die M\u00f6glichkeit solcher, und noch gr\u00f6sserer Wirkungen auf die Thiere denken. Indessen wird auch bei grosser Abh\u00e4ngigkeit von der Witterung in Hinsicht der Empfindung damit kein neuer Sinn gegeben seyn. Die Witterung kann vielmehr durch die Zust\u00e4nde des ganzen Ner-","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"Not/nvendige Vorlegrif je.\n275\nvensystems empfunden werden, und sie wird es zumeist durch die Empfindungen der Nerven, die am zahlreichsten und ihr am meisten ausgesetzt sind, der Gef\u00fchlsnerven. Ein besonderer Sinn f\u00fcr die Electricit\u00e4t, woran man als m\u00f6glich bei irgend einem Tbiere gedacht hat, ist a priori nicht statthaft. Denn die Electricit\u00e4t wirkt schon, wie oben gezeigt wurde, auf alle Sinne, deren eigenth\u00fcmliche Empfindungen sie anregt. Das Wesentliche eines neuen Sinnes liegt nicht in dem Umstand, dass damit Perception von \u00e4usseren Gegenst\u00e4nden entsteht, die gew\u00f6hnlich nicht auf die Sinne wirken, sondern dass die \u00e4ussern Ursachen eine eigenth\u00fcmliche Art des Empfindens erregen, welche in den Empfindungen unserer f\u00fcnf Sinne noch nicht enthalten ist. Eine eigenth\u00fcmliche Art des Empfindens wird von den Kr\u00e4ften des Nervensystems abh\u00e4ngen, und dass eine solche bei einzelnen Thie-ren vorkomme, l\u00e4sst sich a priori nicht l\u00e4ugnen, indess sind keine Thatsachcn bekannt, welche die Existenz einer neuen eigen-th\u00fcmlichcn Sinnesart feststellen ; auch ist es ganz unm\u00f6glich, \u00fcber die Natur einer Empfindung etwas an Anderen, als an sich selbst zu erfahren.\nEinige haben die inneren Empfindungen des Gef\u00fcblssinnes, wodurch wir die Zust\u00e4nde unseres K\u00f6rpers erfahren, als etwas vom Gef\u00fchlssinn Verschiedenes angesehen, und das Gemeingef\u00fchl coenaesthesis einem Sinne ziemlich nabe gestclt. Diese Unterscheidung ist fehlerhaft, denn die Gef\u00fchle des Gemeingef\u00fchls sind von derselben Gattung, wie die Gef\u00fchle der Haut, welche von aussen erregt werden, in manchen Organen nur unbestimmter, dunkler. Auch ist cs f\u00fcr den Sinn gleich, ob er von aussen oder innen gereizt wird, und bei keinem Sinne unterscheiden wir objective und subjective Empfindungen, als etwas wesentlich Verschiedenes. Die Bezeichnung Tastsinn dr\u00fcckt allerdings eine besondere Beziehung des Gef\u00fcblssinnes zur Aussenwelt aus. Aber das Tasten bringt nur die Energien des Gef\u00fchlssinnes zur Perception, welchen \u00fcberall dieselben Nerven mit doppelten Wurzeln, die gemischten Hirn- und R\u00fcekenmarksnerven dienen. Das dem Tasten Analoge k\u00f6mmt auch bei den andern Sinnen vor, es ist ein will-k\u00fchrlich dirigirtes F\u00fchlen, so giebt es aber auch ein H\u00f6ren, Sehen, Schmecken, Riechen (Sp\u00fcren). Allgemeine Litteratur der Physiologie der Sinne : Le Cat irail\u00e9 des sens. Amst. 1744. Ei.mot \u00fcber die Sinne. Leipz. 1785. Steinbuch Beitr\u00e4ge zur Physiologie der Sinne. ISiirnbcrg 1811. Toubtual die Sinne des Menschen. M\u00fcnster 1827.","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276 V. Buch. Von den Sinnen. I. Abschn. Vom Gesichtssinn.\nI. Abschnitt. Vom Gesichtssinn.\nI. Capitel. Von tien physikalischen Bedingungen der Bilder im Allgemeinen.\na. Von den m\u00f6glichen Viten der Sehorgane.\nAus den in der Einleitung zur Physiologie der Sinne angef\u00fchrten Thatsachen geht hervor, dass Licht und Farbe Sensationen des Sehnerven und der Nervenhaut des Auges sind, und dass das Dunkle vor den Augen Empfindung der Ruhe, des reizlosen Zustandes der Nervenhaut ist. Die Sensationen des Lichtes und der Farben entstehen aus dem Dunkel der ruhigen Nervenhaut, da wo aliquote Theile der Nervenhaut, durcli irgend einen innern Reiz (Blut u. a.), oder \u00e4ussern Reiz (Druck, Electri-cit\u00e4t u. a,) erregt sind. Je nach der gereizten Stelle der Nervenhaut hat die Lichtempfindung auch auf dem dunkeln Sehfelde eine andere Stelle. Das Druckbild von Affection der einen Seite des geschlossenen Auges hat seine bestimmte Stelle, das Druckbild der andern Seite ihre ebenso bestimmte, entgegengesetzte Stelle; und die Druckbilder von Affection des ohern und untern Theils der Nervenhaut erscheinen auch im Sehfeld entgegengesetzt. Ist der dr\u00fcckende K\u00f6rper klein, z. B. eine stumpfe Spitze und also die gedr\u00fcckte Stelle der Nervenhaut auch klein, so ist auch das Lichtbild klein. Geschieht der Druck binar treu an den Sei-ten des Auges in einiger Breite mit der Kante eines K\u00f6rpers, so ist das Druckbild auch dem entsprechend ausgedehnt. Diese Bilder sind nicht scharf, weil der Druck auf das Auge, durch die Augenlieder und durch die Augenh\u00e4ute, auch einigermassen in die Breite wirkt. W\u00e4re es aber m\u00f6glich den Druck scharf auf bestimmte Stellen der Nervenhaut zu isoliren, so w\u00fcrde man ohne Zweifel auch ganz scharfe Bilder von mechanischer Ursache erhalten. Das physikalische imponderable Princip, das den Namen Licht erhalten hat, weil die lichten Affectionen der Nervenhaut des Auges von ihm gew\u00f6hnlich herr\u00fchren, bringt, wenn es die ganze Nervenbaut gleicbm\u00e4ssig afficirt, in ihr die Empfindung eines, \u00fcberdas ganze Sehfeld verbreiteten Lichtes hervor, und macht das ruhige Dunkel vor den Augen zum lichten Sehfeld. Wirkt aber dieses, der Erregung der Nervenhaut homogene und woldth\u00e4tige Princip, auf einzelne Theile der Nervenbaut ein, so stellen die gereizten aliquoten Theile der Nervenhaut in der Empfindung begrenzte, liebte Bilder dar, und die Schatten dieser Bilder sind die dazwischen liegenden, nicht gereizten Stellen der Nervenhaut, welche ruhig, wie bei geschlossenen Augen dunkel bleiben. Dadurch wird das Sehen von K\u00f6rpern m\u00f6glich, die entweder jenes Princip selbst ausstrahlen, leuchten, oder es von leuchtenden K\u00f6rpern empfangend, als undurcbg\u00e4nglich (undurchsichtig) zur\u00fcckwerfen, und","page":276},{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"1. Physikalische. Bedingungen der Bilder.\t211\nauf diese Art in das Licht empfindende Auge werfen. Die Liclil-empfindung entsteht dann an einer bestimmten .Stelle des Auges, und man glaubt den K\u00f6rper vor sich zu haben, welcher doch jenes die Lichtempfindung erregende Princip, welches er anderswoher erhalten, nur zur\u00fcck und ins Auge wirft.\nWenn alter das Licht lichte Abdr\u00fccke oder Bilder von den Gegenst\u00e4nden, von welchen cs kommt, auf der Nervenhaut entwerfen soll, so ist es n\u00f6thig, dass das von bestimmten Theilen der \u00e4ussern Objecte, entweder unmittelbar oder durch Reflexion kommende Licht auch wieder nur entsprechende Theile der Nervenhaut in Th\u00e4tigkeit setze; wozu besondere physikalische Bedingungen noting sind. Das Licht verbreitet sich von dem leuchtenden, jenes imponderable Princip ausstralenden K\u00f6rper stralig nach allen Richtungen, welche dem Durchgang desselben kein 1 linderniss entgegensetzen (durchsichtig). Ein leuchtender Punct wird also eine Flache allseilig erleuchten, und nicht wieder einen einzelnen Punct dieser Flache hell machen; und wenn die Fl\u00e4che, welche das aus-stralende Licht eines Punctes empf\u00e4ngt, die nackte Oberfl\u00e4che der Nervenhaut des Auges w\u00e4re, so w\u00fcrde das Licht eines Punctcs die Lichtempfindung in allen Theilen der Nervenhaut und nicht in einem Puncfe derselben erregen, und das gilt so von allen \u00fcbrigen Lichtpuncten, welche die Nervenhaut strahlend beleuchten k\u00f6nnen. Z. B. wenn Fig. 1. A die concave Oberfl\u00e4che der Nervenhaut w\u00e4re, so wird das rotlie Licht von a die ganze Nervenhaut//, das farblose Licht von h auch die ganze Nervenhaut A, das gelbe Licht von c auch die ganze Nervenhaut A beleuchten, und es wird also die ganze Nervenhaut A roth, licht und gelb sehen, d. h. jeder Punct der Nervenhaut wird zugleich von rotliem, farblosem und gelbem Lichte bestimmt, und der Eindruck kann den verschieden gef\u00e4rbten Puncten a, h, c nicht entsprechen, sondern wird ein gemischter seyn, aus \u00df, h, c, aus rotliem, farblosem und gelbem Lichte, ohne dass a, h, c als getrennte Puncte unterschieden werden. Ebenso wird es seyn, wenn die Nervenhaut eines Auges, wie hei den Insecten und Crustaceen nach aussen convex ist. Eine nackte Nervenhaut ohne optische, das Licht sondernde Apparate w\u00fcrde also nichts Bestimmtes sehen, sondern nur im Allgemeinen den lichten Tau empfinden, und von der Nacht unterscheiden k\u00f6nnen.\nWenn also durch das \u00e4ussere Licht, ein den K\u00f6rpern entsprechendes Lichtbild im Auge erregt werden soll, so ist es n\u00f6thig, dass Apparate vorhanden sind, welche das von einzelnen Puncten a, h, c \u2014 n ausgehende Licht auch wieder nur in einzelnen Puncten der Nervenhaut in derselben Ordnung wirken lassen, aber verh\u00fcten, dass ein Punct der Nervenhaut von mehreren Puncten der Aussenwelt zugleich beleuchtet werde. Diess ist im Allgemeinen auf dreierlei Art m\u00f6glich, und die Natur hat zwei Arten dieser Apparate hei der Construction der Augen angewandt. Siehe von den beiden in der Natur m\u00f6glichen Arten des Sehorgans,","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"278 V. Buch. Von den Sinnen. I. Abschn. Vom Gesichtssinn.\nJ. Mueller vergleichende Physiologie des Gesichtssinnes. Leipz. 1826. p. 307.\n1. Der leuchtende K\u00f6rper sei A, C sei die licht-emp findende Nerven haut, B sei eine zwischen A und C befindliche un. 0 durchsichtige, oder f\u00fcr das Lieht undurchdringliche Wand, nur der Punct T 0 in dieser Wand sei offen und durchsichtig. Ausser dieser Oeffnung soll die Nervenhaut C von keiner Seite aus Licht erhalten und also ganz beschattet seyn. So werden die Lichtstrahlen von a durch o durchgehend nur in a der Nervenhaut, die Lichtstrahlen von b, durch o durchgehend, nur in l> der Nervenhaut zur Erscheinung kommen, und jeder Punct des K\u00f6rpers a....b wird\nin einer besondern Stelle der Nervenhaut a...........li repr\u00e4sentirt\nseyn. Denn a und h in dem K\u00f6rper A sind mathematische Puncte, a und b in der beleuchteten Nervenhaut sind kleine Fl\u00e4chen, die um so gr\u00f6sser seyn und das Bild desto undeutlicher machen werden, je gr\u00f6sser die Durchgangs\u00f6fifnung o der Wand ist. Je kleiner o ist um so bestimmter wird zwar das Bild seyn, aber um so dunkler auch, denn um so d\u00fcnner ist der Lichtkegel, der von jedem Puncte a....b des K\u00f6rpers durch diese Oeffnung durchgeht. Vergl. \u00fcber die optische Kammer R\u00fcget animal and vegetable physiology. London 1834. II. p. 451. Kuhzek die Lehre vom Lichte. Lemberg 1836. p. 28. Die Natur hat von diesem Apparat zur Sonderung des Lichtes keinen Gebrauch gemacht, wahrscheinlich weil der Erfolg zu gering und die Intensit\u00e4t des Lichtes jedes Punctes nur durch Aufgehen der Deutlichkeit erlangt werden kann.\n2. Die zweite Art der Sonderung der Lichtstrahlen zur Erzeugung eines Bildes auf der Nervenhaut, auf welche ich zuerst im Jahre 1826 in der Schrift zur Physiologie des Gesichtssinnes aufmerksam machte, ist diese. Vor der Nervenhaut stehen durchsichtige Kegel nebeneinander in ungeheurer Anzahl senkrecht auf, welche das in der Richtung ihrer Achse kommende Licht allein bis zur Nervenhaut gelangen lassen, alles seitlich in sie eintretende\nLicht, welches schief auf ihre W\u00e4nde auffallen muss, absorbiren sic durch Pig-mente womit ihre W\u2019\u00e4nde bekleidet sind. A sei die Nervenhaut, welche von convexer Oberfl\u00e4che sei, und die Oberfl\u00e4che einer Kugel darstelle, die durchsichtigen Kegel B sollen in den Radien dieser Kugel","page":278},{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"j. Physicalische Bedingungen der Bilder. M\u00f6gliche Sehorgane. 279\nstellen. Das von a, h, r, d ausgellende Licht wird nur diejenigen Strahlen Lis zur Nervenhaut senden k\u00f6nnen, welche in der Richtung der Radien der Kugel liegen. So entwirft. derPunct a, obgleich er die ganze Oberfl\u00e4che des Auges beleuchtet, doch nur sein Bild in einem einzigen Punct a der Nervenhaut, h nur sein Bild in l, c nur in c, d nur in d. Alles \u00fcbrige seitlich ein-fallende Licht ist ausgeschlossen. Man sieht leicht ein, dass die Deutlichkeit des Bildes auf der Nervenhaut zunehmen muss, je mehr Kegel auf der Oberfl\u00e4che der Nervenhaut gleich Radien stehen, und dass wenn 1000 Kegel vorhanden sind, auch 1000 Theilchen des Sehfeldes im Bilde repr\u00e4sentirt sind, und wenn 10,000 durchsichtige Radien, die Deutlichkeit um das Zehnfache vervielfacht scyn wird. Diese Organisation, welche man sich durch Combination als m\u00f6gliche Art des Sehorgans aufstellen konnte, fand ich in den zusammgesetzten Augen aller Insecten und Crustaceen verwirklicht. Ls versteht sich von selbst, dass ein solches Sehorgan kugelig,, oder ein Abschnitt einer Kugel seyn muss. Wenn seine Circumferenz sich flach einer ebenen Fl\u00e4che n\u00e4hert, so werden die \u00e4ussersten Kegel am Rande des Organes auch wenig divergiren, und das Auge nur einem kleinen Theil der Aussenwelt entsprechen. Das Sehfeld wird aber in gleichem Grade mit der Convexit\u00e4t des Auges, oder mit der Gr\u00f6sse des Kugelabschnittes wachsen. Die Darstellung des Bildes in mehreren tausenden gesonderten Puncten, wovon jeder Punct einem Feldchen der Aussenwelt entspricht, gleicht einer Mosaik, und man kann sich aus einer kunstreichen Mosaik die beste V orslel-lung von dem Bilde machen, welches die Gesch\u00f6pfe, die solcher Organe theilhaftig sind, von der Aussenwelt erhalten werden. Ein Nachtheil bei einer solchen Art der Sonderung des Lichtes ist, dass die Quantit\u00e4t des Lichtes, \u2022welches von einem Puncte durch einen Kegel zur Nervenhaut kommt, so sehr gering- ist. Indessen scheint, wie man beim Sehen bei einbrechender Dunkelheit bemerkt, auch bei uns zum einfachen Sehen ohne besondere Sch\u00e4rfe, selbst eine \u00e4usserst geringe Lichtmenge noting zu seyn, ein unendlich kleiner Theil des Lichtes, dem unser Auge am hellen Tage ausgesetzt ist, und auch bei uns kam es der Natur mehr darauf an, die Menge des Lichtes zu massigen, als sie zu gestatten. Die kleinste Pupille ist beim hellen Tag noch zum Sehen hinreichend.\nMan kann diese Art lichtsondernder Apparate, musivische dioptrisclie Mittel, im Gegensatz der lichtsammelnden collectiveu Mittel nennen.\n3. Die vorher beschriebene Art der Isolirung des von verschiedenen Puncten ausgehenden Lichtes auf verschiedene Puncte des Organes, geschah durch Sonderung und Aussehliessumr der Strahlen, welche hindernd sind; auch durch Sammlung der von einem Puncte ausgehenden divergirenden Strahlen wieder in einen Punct ist die Isolirung und noch viel bestimmter, und nnt gr\u00f6sserer Lichtst\u00e4rke m\u00f6glich. Notbvvendig muss sich dann aber das empfindende Organ gerade an der Stelle befinden, wo die Strahlen wieder zu einem Puncte vereinigt sind, oder an der Spitze des Lichtkegels. Bei der vorhergehenden Art Mulle r\u2019s Physiologe, 2r Bd, II.\t19","page":279},{"file":"p0280.txt","language":"de","ocr_de":"280 V. Buch. Von den Sinnen. I. Ah sehn. Vom Gesichtssinn.\ndes Sellens war keine solche Bedingung noting, hier wird sie\nBindend. Wenn der durchsichtige K\u00f6rper A, z. B. das Verm\u00f6gen hat das von a ausgehende, und ihn ganz beleuchtende Licht wieder in einen Punct a zu sammeln, und ebenso das von h ausgehende in h zu sammeln, und von jedem Puncte zwischen a und h aber auch wieder zwischen a und h einen Punct zu entwerfen, so wird das vollkommenste Bild von ah in ab' repr\u00e4sentirt und wird gesehen werden, wenn sich die Nervenhaut in ab' befindet. Dagegen wird das Bild durchaus unvollkommen scyn, wenn sich die Nervenhaut vor oder hinter ab z. B. in x oder y befindet. Denn in diesem Falle wird von a nicht\nein Punct, sondern eine Flache, von b und von jedem Punct fl_b\nnicht ein entsprechender Punct, sondern ein Feld entworfen, und das Licht der einzelnen Punete zu Zerstreuungsbildern zerstreut.\nK\u00f6rper, welche das Licht in jenem Sinne 7.11 sammeln verm\u00f6gen, sind die durchsichtigen das Lieht brechenden Mittel, deren vollkommenste f\u00fcr das Sehorgan zweckm\u00e4ssigste Gestalt die linsenf\u00f6rmige ist, wie sich specie! 1er sogleich ergeben wird.\nEs ist hier der Ort einige falsche Vorstellungen zu widerlegen, die man sich hin und wieder aus Unkenntniss der zum Sehen nothwendigen physiealisehen Bedingungen macht. Man stellt sich oft vor, dass es Thicre gebe, welche Lichtempfindung durch die Haut haben.' Es ist nicht zu bezweifeln, dass manche niedere Thiere, w elche gegen den Einfluss des Lichtprincips reagiren, keine Augen haben. Rapp (Aon. act. acad. nat. Cur. XIV. p. 2.) beobachtete, dass Veretillum cynomorium, ein Polyp, sehr sensibel ge-gen das Licht ist, dass er die dunkeln Orte lieht und sich im Lichte zusammenzieht. In Hinsicht der Hydren haben die Verst\u00e4rke von Trembley, Baker, Havow, Roesel, Schaeffer, Bonnet, Goeze zu keinem bestimmten Resultat gef\u00fchrt. Ingenhodss und Goedfuss berichten, dass die priestleysehe gr\u00fcne Materie sieh an bellen Orten anh\u00e4ufe. Die gr\u00fcne Materie, welche sich an hellen Orten anh\u00e4uft, mag wohl aus lebenden Infusorien bestehen, da viele eine gr\u00fcne Farbe, manche sogar Augcnpuncte haben, wie Ehrenberg beobachtet hat. Was man indess gew\u00f6hnlich gr\u00fcne Materie von Priestley nennt, besteht oft nur aus den abgestorbenen Leibern gr\u00fcner Infusorien, wie der Euglena viridis und anderer.\nWas nun die Reaction niederer Thiere ohne Augen gegen das Licht betrifft, so liegen keine Thatsacben vor, welche beweisen, dass diese Thiere durch die Haut oder die ganze Oberfl\u00e4che ihres K\u00f6rpers vom Princip des Lichtstoffes, oder von den Undu-lationen dieses Prineips wirklich die Lichtempfindung und nicht eine andere Empfindung haben. Wir empfinden vom Princip des Lichtes auch etwas durch die Haut, n\u00e4mlich W\u00e4rme, aber wir haben keine Lichtempfindung davon, deren wenn wii den Thaats-eben folgen wollen, nur der Sehnerve l\u00e4hig ist. Von dieser Art m\u00f6gen die Reaction\u2122 der niederen Thiere ohne Augen gegen\nx\t\tJ\n\t\t\n\t\tr\u2014","page":280},{"file":"p0281.txt","language":"de","ocr_de":"1. Phys. Bedingungen der Bilder. M\u00f6gliche Sehorgane. 281\ndas Liclit seyn. Selbst die Pflanzen reagiren stark genug dagegen, indem sie bei ihrer Ausbreitung es aut\u2019sucbcn und ibm entgegen wachsen.\nDie Noth Wendigkeit besonderer Nerven mit speeifiseber Sensibilit\u00e4t zum Lichtempfiuden, wird auch durch die wirkliche Existenz von Augen bei vielen der niedersten Tbiere erwiesen. Viele Anneliden, wie mehrere Nereiden, mehrere Arten Eunice, Pbyllo-doce, Spio, Nais, fast alle Hirudineen, Aphrodite heptaeera haben dunkle Augenpunkte am Kopfe. Eine den Sabellen zun\u00e4chst stehende, von Ehrenberg, Hehle und mir beobachtete Gattung hat zwei solche dunkle Puncte am hintern und vordem Ende des K\u00f6rpei\u2019s. Sie kriecht r\u00fcckw\u00e4rts und vorw\u00e4rts. Hirudo medicmalis hat wie E. H. Weber zeigte, zehn dunkle Augenpunkte am Kopfe, die man beim Embryo des Thiers von dem noch durchsichtigen K\u00f6rper deutlich unterscheidet. Die Planarien haben durch Pigment ausgezeichnete Augenflecke am Kopfe. Bei mehreren Cerealien und Rotiferen sind dergleichen Augenpuncte von Nitzsch, Dutrochet, Gruitiiuisen, Ehrenberg beobachtet. Der letztere Forscher hat die Existenz solcher Pigmente oder Augenpuncte bei vielen Infusorien, und anch bei den Seesternen am Ende ihrer Strahlen, welche sie heim Schwimmen erlichen, entdeckt, ja sogar bei den Medusen die gleiche Bedeutung der Pigmentorgane am Bande der Scheibe wahrscheinlich gemacht. Mueller\u2019s yjrchio 18-14. Bei den Anneliden sind die Sehnerven in jenen Augen-puueten von mir nachgewiesen worden. {Ann. d. sc. naf. XXII. 11).) Und Ehrenberg hat gezeigt, dass die Nerven der Strahlen der Asterien bis zu den Augenpuncten am Ende der Strahlen hingehen.\nGruithuisen (Isis 1820. 251.) nimmt an, dass jede dunkle Stelle der Haut einigermassen mit der Natur eines Sehorganes in Beziehung stehe, weil sie mehr Licht absorhirt. Dies ist offenbar unrichtig; denn die erste Bedingung zum Sehen ist die specifische Sensibilit\u00e4t des Nerven und dass der zum Sehen dienende Nerve kein Gef\u00fchlsnerve sei.\nFerner beweist gerade der Bau der Augen hei den \"W\u00fcrmern, dass selbst zum einfachen Unterscheiden des Tages von der Nacht noch ein besonderer Nerve und ein Organ noting ist. Denn nach meinen Untersuchungen \u00fcber den Bau der Augen bei den Anneliden geht hervor, dass die Augen dieser Thicre durchaus keine optischen Werkzeuge f\u00fcr die Sonderung des Lichtes enthalten, und also auch nichts Bestimmtes unterscheiden k\u00f6nnen. Innerhalb der becherf\u00f6rmigen Choroidea, der von mir untersuchten Nereis-Art ist keine Linse und keine Spur der lichtsondernden Organe der Insecten enthalten. Vielmehr ist der von der Choroidea umgebene K\u00f6rper nur der Bulbus nervi optici selbst. Die Natur hat also, wo es auf die blosse Unterscheidung von Tag und Nacht ankommt, noch Organe dazu gebildet, und diese Bedeutung m\u00f6gen wohl auch die Augenpunkte der Planarien, Asterien, Rotiferen und Infusorien haben.\nEine zweite kritische Bemerkung, die wir hier machen m\u00fcssen, betrifft die aus Unkenntniss der physikalischen Bedingungen zum\n19 *","page":281},{"file":"p0282.txt","language":"de","ocr_de":"282 V. Buch. Von den Sinnen. I. Abschn. Vom Gesichtssinn.\nSehen vorkommemle Meinung, als w\u00e4re auch heim Menschen durch die Haut, verm\u00f6ge einer gesteigerten oder ver\u00e4nderten (versetzten) Empfindung, ein Sehen m\u00f6glich.\nEs ist bekannt, dass man mit den Fingern die Farben nicht als Farben erkennen kann, wenn es auch m\u00f6glich seyn mag die Gefiihlseindr\u00fccke des Corpus oder Korns einiger stark aufgetragenen Farbestoffe zu unterscheiden, da sie uneben sind und Adh\u00e4sion zu den ber\u00fchrenden Theilen haben. Die Rotliwendigkeit lichtsondernder, optischer Apparate, musivischer oder collectiver Art zur Erzeugung eines Bildes auf einer empfindenden Haut widerlegt hinl\u00e4nglich das Sehen auf der Herzgrube, oder mit den Fingern in sogenannten thierisch magnetischen Zust\u00e4nden. Seihst wenn die Haut der Herzgrube oder der Finger das Verm\u00f6gen der Lichtempfindung h\u00e4tte, was sie nicht haben, so w\u00fcrde doch noch kein Sehen statt finden k\u00f6nnen, wenn keine Apparate vorhanden w\u00e4ren, das von verschiedenen Puncten a, b, c, d \u2014 n eines Objectes kommende Licht, auch wieder auf Puncten a, b, c, d \u2014 n der empfindenden f l\u00e4che zur Erscheinung zu bringen. Und ohne solche Apparate, w\u00fcrden die Herzgrube und die Finger, wenn sie auch das Verm\u00f6gen der Lichtempfindung bes\u00e4ssen, nichts Anderes als den Tag von der R\u00e4cht unterscheiden k\u00f6nnen. Da aher diese Thcilc \u00fcberhaupt keiner Lichtempfindung f\u00e4hig sind, und sich keinerlei Empfindung versetzen kann, so ist in keinem Falle hei einem sogenannten Magnetischen auch nur eine vage Unterscheidung des Tags von der Nacht durch jene Th eile m\u00f6glich, und es geschieht dieselbe nur durch die Augen, die auch, wenn sie verbunden sind, leicht noch recht gut den Tag sehen, ja unter sich recht gut die Objecte sehen, wie jedem bekannt ist, der einmal blinde Kidi gespielt hat. Liegt man gar horizontal mit verbundenen Augen, wie die sogenannten Magnetischen in ihrem sogenannten Schlaf) so kann man mit verbundenen Augen ein ganzes Zimmer unter der Binde \u00fcberschauen. Welcher gebildete Arzt m\u00f6chte nun wohl solche M\u00e4hrclien glauben? Vom Stand der Wissenschaft l\u00e4sst sich recht gut cinsehen, dass ein Schlafender ein Gesichtsphantasma hat, wie man sie hei geschlossenen Augen schon vor dem Einschlafen erlebt; denn die Sehnerven k\u00f6nnen so gut von innen, wie von aussen zur Empfindung gereizt werden ; und so lange eine sogenannte Magnetische nichts Anderes zeigt als die gew\u00f6hnlichen Nervensymptome, w7ie sie auch in anderen Nervenkrankheiten Vorkommen, ist alles glaubhaft; sobald aber eine solche durch eine Binde vor den Augen, oder durch die Finger, oder durch den Magen sehen will, um die Ecke und in des Nachbars Haus sieht, prophetisch wird, so verdient ein so arger Betrug keine Schonung mehr, und die offene und derbe Erkl\u00e4rung des Betrugs und Possenspiels ist dann passender, als die Bewunderung.\nt. Von den p hysical isc h en B e din gun gen d er B il de r du rc h brechende Mittel,\nDie Wichtigkeit der Lehre von der Refraction des Lichtes f\u00fcr die Er\u00f6rterung des Sehens beim Menschen und den Thieren,","page":282},{"file":"p0283.txt","language":"de","ocr_de":"1. Phys. Bedingungen der Bilder. Brechende Mittel. 283\nderen Sehorgane auf der Benutzung brechender Mittel beruhen, macht es nothwendig die Haupts\u00e4tze der Lehre von der Refraction des Lichtes in Erinnerung zu bringen. In dem Folgenden habe ich die bew\u00e4hrtesten physikalischen Werke \u00fcber diese Gegenst\u00e4nde benutzt. Ich beziehe mich auf die Schriften von Porterfield, Priestley, Fischer, Biot, Kumzek, Braudes. Besonders wichtig ist Porterfield a treatise on the eye, the manner and phaenotnena of vision. 2 Vol. EdinL. 1759.\nWenn Lichtstrahlen aus dem leeren Raume in einen durchsichtigen K\u00f6rper, oder aus einem d\u00fcnnem Medium in ein dichteres \u00fcbergehen, und senkrecht auf der Fl\u00e4che des zweiten Mediums einfallen, so gehen sie in derselben Richtung fort, wenn sie aber in einer von der senkrechten Richtung abweichenden Richtung auf die Einlallsebene des zweiten Mediums cinfallen. so wird ihre Richtung durch das zweite Medium ver\u00e4ndert, und der geradlinig bleibende Strahl wird dem Einfallsloth zugelenkt. So wenn\nAB die Einfalisebene des dichteren Mediums C ist, so wird der Lichtstrahl ah, statt in der Richtung hc fortzugehen, dem Perpendikel de zugelenkt, und in der Richtung hf im dichteren Medium fort\" eh cn.\nWenn hingegen der Lichtstrahl aus einem durchsichtigen K\u00f6rper schief in den leeren Raum, oder aus einem dichteren K\u00f6rper in einen d\u00fcnnem \u00fcbergeht, so wird er vom Perpendikel abgelenkt, und statt in der Richtung hc fortzugehen, die Richtung hg verfolgen.\nDer einfallende, der gebrochene Strahl und das Einfallsloth liegen \u00fcbrigens in derselben Ebene, Heisst der Winkel zwischen dem einfallenden Strahl ah und dem Einfallsloth clh, der Einfallswinkel, der Winkel zwischen dem gebrochenen Strahl hf und dem Einfallsloth he der Brechungswinkel, so ist ax der Sinus des Einfallswinkels, fg der Sinus des Brechungswinkels. Die Erfahrung hat gelehrt, dass wenn die beiden Mittel dieselben bleiben, das Ver-li\u00e4ltniss zwischen dem Sinus des Ein falls\u2014 Winkels \u00ab zum Sinus des Brechungswinkels \u00df unver\u00e4nderlich dasselbe bleibt, mag die Neigung des einfallenden Strahls gegen das brechende Mittel gross oder klein\nseyn\nMedien wird also durch f.------, ausgedr\u00fcckt.\nSin. \u00df \u00b0\ndie Sinus der Winkel haben diess ___________\nm\u00f6glichen Neigungen des einfallenden Strahles --------\nMittel ; indess ist es, so lange die Winkel wie bei den Centralstrahlen\nDas Bree hungsvcrl i'\u00e4l tu iss zweier Nicht die Winkel, nur allen\ngleiche 5 erh\u00e4ltniss bei\nbrechenden","page":283},{"file":"p0284.txt","language":"de","ocr_de":"284 V. Buch. Von den Sinnen. I. yihsdm. Vom Gesichtssinn.\nder Linsen klein sind, keine erhebliche Unrichtigkeit, auch das Ver-h\u00e4ltniss der Winkel als best\u00e4ndig anzunehmen. Das Brechungs-verh\u00e4ltniss von Luft und Wasser ist -f , von Luft und gemeinem Glas Das Brechungsverm\u00f6gen der K\u00f6rper h\u00e4ngt \u00fcbrigens nicht bloss von der Dichtigkeit derselben, sondern auch von ihrer Brennbarkeit ah.\nDa eine krumme Fl\u00e4che des brechenden Mediums aus unendlich vielen geraden Fl\u00e4chen zusammengesetzt gedacht werden kann, so kann hei einem, auf einer krummen Fl\u00e4che des brechenden\nMediums C, einfallenden Lichtstrahl ab, die Tangente AB als Einfallsebene angesehen werden, und das Einfalls-loth, nach welchem der Lichtstrahl durch das brechende Mittel zugelenkt wird, ist hier der die Tangente im Ber\u00fchrungspunkte der Curve treffende Perpendikel de. So wird der Lichtstrahl ah durch das brechende dichtere Mittel dem Perpendikel de zugelenkt, und die Pachtung hj verfolgen, durch das d\u00fcnnere Mittel vom Perpendikel de abgelenkt und die Richtung hg verfolgen.\nF\u00fcr die Lehre vom Sehen wird nun die Kenntniss der Lichtbrechung in sph\u00e4rischen Linsen von Wichtigkeit. Denn diese K\u00f6rper sind unter gewissen Umst\u00e4nden f\u00e4hig, die von einem Puncte ausgehenden Lichtstrahlen, wieder in einen Punct zu vereinigen, und dadurch ein Bild des Punctes zu entwerfen.\nFallen Lichtstrahlen parallel, oder von einem leuchtenden Puncte aus unendlicher Entfernung auf einer ebenen Brechungsfl\u00e4che ein, so werden sie zwar (hei schiefem Einfall) gebrochen, aber ihr Parallelismus kann nicht ver\u00e4ndert werden, f\u00e4llen aber parallele Lichtstrahlen auf eine Linse mit sph\u00e4rischer Oberfl\u00e4che ein, so werden sie gesammelt, oder in convergircnde Richtung gebracht.\na, h, c seien parallele Lichtstrahlen, h sei der Achsenstrahl der Linse AB, dieser wird ohne Rrechung durch die Linse AB durchgehen, die \u00fcbrigen, welche schief auffallen und schief austreten, werden gebrochen,, der Lichtstrahl a wird dem Einfallsloth cd zugelenkt, und durch die Linse den Weg dj nehmen; aber er wird zum zweiten Mal beim Austritt aus der Linse in ein d\u00fcnneres Medium gebrochen; beim Austritt ist hg das Einfallsloth, der Strahl wird beim Uebergang ins d\u00fcnnere Medium vom Einfallsloth abgelenkt, und","page":284},{"file":"p0285.txt","language":"de","ocr_de":"1. Phys. Bedingungen d. Bilder. Brechende Mittel. Linsen. 285\nalso dem Achsenstrahl bf noch mehr zugelenkt, die Richtung hi nehmen. Sind die Strahlen a und c gleichweit vom Achsenstrahl b entfernt, so wird sich die Brechung des Strahls e, ganz so wie des Strahls a verhalten, d. h. beide Strahlen werden den Achsenstrahl nach dem Austritt aus der Linse an irgend einer Stelle i schneiden, iti diesem Puncte sind alle drei Strahlen vereinigt, \u00fcber den Punct hinaus divergiren sie wieder. Da nun, was von a und c gilt, von allen parallelen Strahlen gelten muss, die gleichweit vom Achsenstrahl entfernt, mit diesem auf die Linse einfallen, so werden alle diese Strahlen in dem gemeinsamen Puncte i sich schneiden, den man den Brennpunct der Linse nennt. Die Distanz des Brennpunctes paralleler Strahlen von der Linse h\u00e4ngt von dem Brechungsverm\u00f6gen der Linsensubstanz \u00fcberhaupt, und von der Convexit\u00e4t ihrer beiden Fl\u00e4chen ah; nat\u00fcrlich wird dieser Punct der Linse um so n\u00e4her scyn m\u00fcssen, je convexer ceteris paribus ihre beiden Fl\u00e4chen sind.\nKommen die Strahlen aus dem Brennpuncte der Linse, so werden sie durch die Linse so gebrochen, dass sie parallel fortge-hcn. Aus diesem Satze und dem vorhergehenden, ergieht sich schon, dass wenn die Lichtstrahlen aus einem Puncte kommen, der weiter von der Linse entfernt ist, als der Brennpunct, aber nicht so weit als eine unendliche Entfernung (parallele Strahlen), sie weder im Brennpuncte der Linse, noch auch in unendlicher Entfernung zur Vereinigung kommen k\u00f6nnen. Vielmehr ist dann der Punct ihrer Vereinigung zwischen dem Brennpunct und der unendlichen Entfernung gelegen, und je n\u00e4her der leuchtende Punct der Brennweite der Linse kommt, um so weiter wird der Vereinigungspunct der Lichtstrahlen hinter der Linse seyn, und sich dem Parallelismus n\u00e4hern ; je weiter aber der leuchtende Punct sich von der Brennweite der Linse entfernt, um so mehr wird die Distanz der Vereinigung der Lichtstrahlen abnehmen, bis diese Vereinigung wieder bei unendlicher Entfernung des leuchtenden Punctes, (parallele Strahlen) in den Brennpunct der Linse lallt.\na sei der leuchtende Punct, der weiter v on der Linse, entfernt sei, als die Brennweite der Linse betr\u00e4gt, AB die Linse, so wird der Achsenstrahl ab ungebrochen durchgehen, ac wird zwei Mal gebrochen, an der vordem und hintern Fl\u00e4che der Linse; an der vordem wird der Lichtstrahl ac dein Einfallsloth ec zugelenkt, und in der Richtung cg fortgeben, bei f wird der Strahl zum zweiten Mal gebrochen, und heim Uebcrgang in das d\u00fcnnere Medium vom Ein tails I o Ll i fh abgelenkt, d. h. die Richtung fi nehmen. Wenn bcz^zbd^ so ist die Brechung des Lichtstrahls ad ganz","page":285},{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"286 V. Buch. Von den Sinnen. I. Abschn. Vom Gesichtssinn.\ndieselbe, wie die von ac, und beide werden in demselben Puncte i den Achsenstrabl schneiden. Auch gilt dasselbe von allen Strahlen des Punctes a, die gleicbweit wie ac und ad vom Achsenstrahl entfernt sind, acd kann also als die Peripherie eines Kegels angesehen werden, welche Peripherie von Lichtstrahlen gebildet wird, die alle ihre Vereinigung in i haben. Die Entfernung des Punctes i von der Linse heisst die Vereinigungsweite des Bildes, welche wohl von der Brennweite unterschieden werden muss. Die Brennweite ist die Vereinigungsweite von parallelen Strahlen. Divergirende Strahlen haben ihre Vereinigungsweite immer hinter dem Brennpunkte, und die Vereinigungsweite. entfernt sich um so mehr von der Brennweite, je n\u00e4her der leuchtende Punct der Linse kommt.\nDie Vereinigungsweite des Bildes h\u00e4ngt ah: 1) von dem Bre-chungsverh\u00e4ltniss der Linse zum Medium vor der Linse (n ; 1), 2) von der Convexit\u00e4t beider Fl\u00e4chen der Linse, die durch die Gr\u00f6sse der Halbmesser der Kugeln ausgedr\u00fcckt wird, zu welcher die Convexit\u00e4ten geh\u00f6ren; 3) von der Entfernung des Gegenstandes. Sind diese drei Puncte bekannt, so l\u00e4sst sich die Vereinigungsweite des Bildes f\u00fcr jede Entfernung des Gegenstandes berechnen. Wie eine Gleichung zwischen den Halbmessern der Linse, dem BrechungsVerh\u00e4ltnisse derselben, der Distanz des Ob-]ectes und der Vereinigungsweite gefunden werde, diess auszuf\u00fchren geh\u00f6rt nicht eigentlich hielier, und muss ich in dieser Hinsicht auf die Lehrb\u00fccher der Physik verweisen. Siehe z. B. Fischer Lehrb. d. median. Naturlehre. II. p. 211. und Kunzeiv die Lehre rum Lichte. Lemberg 1836. 115. Die Gleichung zwischen den genannten Gr\u00f6ssen ist:\nn \u2014 1\tn \u2014 1   1\t1\nf\tg\t_ a\ta'\n-7- ist das Brechungsverh\u00e4ltniss oder das Verh\u00e4ltniss des Ein-\nfallswinkels zum Brechungswinkel. Z. B. f\u00fcr Luft und Glas ?.. n\u2014 1 w\u00fcrde also f\u00fcr Luft und Glas |\u20141 sevn, ./ und g sind die Halbmesser der Convexit\u00e4ten der Linse, a ist die Entfernung des leuchtenden Punctes von der Linse, und \u00ab ist die gesuchte Vereinigungsweite des Bildes. Ist z. B. der Brechungsexponent f\u00fcr Luft und Glas \u2022\u00a7, die Halbmesser der Linse 10 und 12 Linien, die Entfernung des leuchtenden Punctes 100 Linien, so w\u00e4re die Gleichung\n10\n\u2014 I 1\t1\t,3\t. /\n----\u2014-----1--oder---1 !\n100 x 2 V\n12\n1 1\nI\u00d6+12\niW-\n2/ 1\nAus der Formel\n+\n, \u2014 1\n\\ 1 100 \" x\n1 1\n,,\t-i- -\t\u2014 \u2014F \u2014 ergiebt sich auch\n1\tg\ta a \u00b0\ndie Vereinigungsweite f\u00fcr parallele Strahlen. Da hei parallelen\nStrahlen die Entfernung des leuchtenden Punctes unendlich ist,\nso ist \u2014\u2014 o; daher ist, wenn a unendlich gross ist, \u201c\t+\na\t\u00b0\t\u2019 f\noder wenn die Vereinigungsweite f\u00fcr divergirende","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"1. Phys. Bedingungen d. Bilder. Vereinigungsweite d. Bildes. 287\nStrahlen vorzugsweise \u00ab genannt bleiben soll, so ist die Brenn-\nn \u2014 1 n \u2014 1\t1 .\n--\u2014 4--------= \u2014 bestimmt.\nf\tg p\nweite einer Linse in der Formel\nAus n\u20141 .\nder Verbindung der Formel f\u00fcr die Vereinigungsweite\nn \u2014 1\nf\ng\nn\u20141\nund der Formel f\u00fcr die Brennweite\nf\n\u25a0 \u2014---- \u2014 \u2014 ergieht sich eine noch einfachere Grund-\ng\tp\nformel f\u00fcr optische Bestimmungen. Denn da die erste Seite bei-\n1 1 1\nder Gleichungen dieselbe ist, so ist - = \u2014 -J- \u2014. Hier ist p die\nBrennweite der Linse, a die Entfernung des leuchtenden Punctes, a die Vereinigungsweite des Bildes, und so l\u00e4sst sich also die Vereinigungsweite f\u00fcr jede Entfernung des leuchtenden Punctes\nleicht aus der Brennweite leuchtenden Punctes finden.\n,, _ aP\nder Linse, und der Entfernung des Aus der letzten Gleichung ergieht sich\nDie Vereinigungsweite\ndes Bildes eines leuchtenden Punctes man das Product aus der Ent-\nwird also gefunden, wenn fern un g des Objectes von der Linse, und der Brennweite der Linse durch die Differenz beider dividirt. Siehe das N\u00e4here in Fischer\u2019s mechanischer Naturlehre. 2. 213.\nBefindet sicli die Wand, welche das Bild auff\u00e4ngt, nicht in der Vereinigungsweite, so wird nat\u00fcrlich statt des leuchtenden Punctes, ein Zerstreuungskreis, oder der Durchschnitt eines Lichtkegels dargestellt, und diess wird sich gleich bleiben, mag die auffangende Wand vor oder hinter der Vereinigungsweite sich befinden. Im ei\u2019sten Falle haben sich die Strahlen des Lichtkegels noch nicht vereinigt, im letzten Falle, weichen sie nach der Vereinigung wieder kegelf\u00f6rmig auseinander.\nBisher ist bloss die Brechung der Linsen f\u00fcr den Fall betrachtet worden, dass der Gegenstand ein leuchtender Punct ist. Hat der leuchtende Gegenstand Ausdehnung, und liegen die leuchtenden Puncte desselben in einer Ebene, die senkrecht auf der Verl\u00e4ngerung der Achse der Linse steht, so liegen ihre Bilder auch in umgekehrter Ordnung in einer solchen Ebene. Ist ah\nder\nso wird der von a ausgehende\nGegenstand,\nStrahlenkegel\n\u00ab gebro-\nnacli eben und k\u00f6mmt dort zur Vereinigung, der von\nh ausgehende Strahlenkegel wird nach \u00df gebrochen, und vereinigt sich in \u00df zu einem leuchtenden Puncte, und in gleicher Ordnung die \u00fcbrigen. Das Bild hat die umgekehrte Lage des Objectes, das obere ist unten, das untere oben, das rechte links, das linke rechts, w\u00e4hrend die relative Lage der einzelnen Theile des Bildes ganz die-","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288 V, Buch. Von den Sinnen. I. Abschn. Vom Gesichtssinn.\nselbe bleibt. Der mittlere Strahl des Lichtkegels aa und b\u00df heisst der Hauptstrahl, weil er nicht oder fest nicht ver\u00e4ndert wird, wie der Achsenstrahl hei einem in der Achse der Linse liegenden leuchtenden Puncte. Die \u00fcbrigen Strahlen des Kegels convergiren gegen denselben nach der Brechung, und das Bild des Punctes entwirft sich also jedenfalls in der Richtung des Hauptstrahls, dieser Strahl bestimmt also die Lage des Punctes im Bilde, und die Hauptstrahlen der Lichtkegel der einzelnen Puncte bestimmen auch die Gr\u00f6sse des Bildes.\nD ie Stellen, wo sich die Strahlen der von der Achse abgelegenen Punkte wieder vereinigen, l\u00e4sst sich durch Berechnung linden, und aus ihrer Bestimmung ergiebt sich, dass wenn der ausserhalb der Achse liegende Punct der letztem nahe ist, so dass die auf die Linse fallenden Strahlen nur kleine Winkel mit der Achse bilden, die einzelnen Puncte des Bildes in einer mit dem Objecte parallelen geraden Ebene liegen.\nGregory (Priestley\u2019s Geschichte der Optik 162.) wollte bemerkt haben, dass durch ein sph\u00e4risches Linsenglas das Bild einer, auf die Achse senkrecht stehenden Figur nicht wieder eben, sondern gekr\u00fcmmt und zwar gegen das Glas hohl sei; und dass wenn das Bild eben scyn soll, die Fl\u00e4chen des Glases nach der Figur eines Kegelschnittes geschliffen sevn m\u00fcssten. Priestley giebt diess zu und bemerkt dann, dass der daraus entstehende Fehler unmerklich sei, weil die Fl\u00e4chen der Gl\u00e4ser nur sehr kleine Kugelst\u00fccke sind. Kaestner bemerkt indess hierzu, dass wenn man die Abweichung der Strahlen von dem Yereinigungspuncte nicht beachte, d. h. wenn man die Winkel ihren Sinus proportional setze, die sch\u00e4rfste unter dieser Voraussetzung angestellte Rechnung, keine Kr\u00fcmmung des Bildes einer ebenen Figur entdecke; derselbe hat eine solche Rechnung im 'l.Bd. der deutschen Schriften der Gotting. Gesellschaft ehr Wissenschaften geliefert. Dass die Ebene des Bildes der Ebene des Objectes parallel ist, wenn diese senkrecht auf die Achse der Linse gerichtet ist, ist \u00fcbrigens eine Erfahrungstatsache. F\u00fcr geringe Ausdehnung des Bildes, ist auch der mathematische Beweis des Satzes nicht schwierig,-und ist in den ausf\u00fchrlichen physikalischen Lehrb\u00fcchern mit mathematischer Behandlung gegeben. Kunzeiv Lehre vom Lichte.\\ 120.\nOptischer Mittelpunct der Linsen.\nInsofern die beiden Fl\u00e4chen einer Linse, nahe dem Durchgang der Achse parallel, oder so gut als parallel sind, werden Strahlen, welche durch die Mitte der Achse einer Linse schief durchgehen, wenn ihr Ein- und Austritt innerhalb des parallelen Tlxeils beider Fl\u00e4chen der Linse geschieht, von der Direction, die sie heim Einf\u00e4llen der Linse hatten, nach dem Austritt nicht abweichen. Ihre Brechung verh\u00e4lt sich so, wie hei schief auflallenden Strahlen durch eine Glasplatte mit ganz parallelen Fl\u00e4chen. So viel der Strahl heim Eintritt in das Glas dem Einftllsloth zugelenkt wird, um ebenso viel wird er heim Austritt abgelenkt; er beh\u00e4lt also seine Direction. Daher ist eben der mittlere Strahl eines m\u00e4ssig schief auffallenden Strahlenkcgcls, welcher durch die -Mitte der Achse der Linse durchgeht, als unver\u00e4ndert in seiner","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"1. Phys. Bedingungen d. Bilder. Opt. Mittelp. d. Linsen. 289\nDirection zu betrachten, und bestimmend f\u00fcr die Direction des Bildes, welches sich von einem ausser der Achse der Linse liegenden Puncte entwerfen wird. Der Punct in der Achse der Linse, durch welchen die Strahlen durchgehen m\u00fcssen, wenn sie ungebrochen bleiben sollen, ist \u00fcbrigens bei verschieden convexen Fl\u00e4chen der Linse nicht genau der Mittelpunct der Linsenachse, sondern weicht davon nach vor- oder r\u00fcckw\u00e4rts ab, nur wenn beide Fl\u00e4chen gleiche Halbmesser haben, f\u00e4llt er mit dem Mittelpuncte der Achse der Linse zusammen. Man nennt diesen Punct den optischen Mittelpunct der Linse. Zum bessern Ver-st\u00e4ndniss der Untersuchung des Sehens f\u00fchre ich hier die Bestimmung dieses Punktes an, so wie sic von Fisciieb a. a. 0. 217.\ngegeben wird. n sei der Mittelpunct der\nvordem Fl\u00e4che der Linse, d. Inder Kugel, zu\nwelcher sie ge-\nh\u00f6rt, m der Mittelpunkt der hintern Fl\u00e4che der Linse, a ist ein beliebiger Punct der vordem Fl\u00e4che, so ist an der Radius dieser Fl\u00e4che. Die von dem Mittelpunkte der andern Fl\u00e4che m gezogene Linie mb sei parallel mit au. Die Linie ab schneidet die Achse der Linse in e, und c ist der optische Alittelpu.net der Linse. Denn da an und mb parallel sind, so die W inkel nab und rnba gleich. Wenn ab ein Lichtstrahl, so ist der Winkel, den er mit dem Einfallslotli an macht, gleich dem Winkel, den er mit dem Einfallslotli mb macht. Zu dem Brechungswinkel nab, verh\u00e4lt sich der Einfallswinkel aus der Luit in das Glas, ebenso wie zu dem Einfallswinkel mb\u00fcj der Ablenkungswinkel aus dem Glase in die Luft, folglich ist der Einfallswinkel in das (das, dem Ablenkungswinkel aus dem Glase in die Luft gleich, und daher bleibt sich der einfallende und ausfallende Strahl parallel, und der Strahl muss als ungebrochen betrachtet werden. Ist die Linse doppelt convex, aber ungleichseitig, so liegt der optische Mittelpunct n\u00e4her der convexem Fl\u00e4che.\nAbweichung, Aberration wegen der Sph\u00fcricit\u00fct.\nBisher wurde haupts\u00e4chlich nur die Brechung der durch den mittlern 1 heil der Linse durchgehenden Strahlen ber\u00fccksichtigt, nun muss auch das Verhalten, der durch den Randtheil der Linse durchgehenden Strahlen und ihr Verh\u00e4ltniss zum Vereinigungs\u2014 punct betrachtet werden. Welches auch die Gestalt einer sph\u00e4rischen, planconvexen oder biconvexen Linse seyn mag, in jedem hall werden diejenigen parallelen Strahlen, die gleich weit von der Achse der Linse entfernt in sie cintreten, sich in demselben Punct vereinigen. Denn ihre Eintritts- und Brechungswinkel sind gleich; ebenso werden sich von einem Lichtkegel, dessen Achse durch die Achse einer Linse durchgeht, jedesmal diejenigen, in einem Kreis die Linse trollenden Strahlen wieder in einen Punct vereinigen, w elche gleich weit von der Achse der Linse entfernt in sie cintreten. Wie verhalten sieh aber die \u00fcbrigen Strahlen eines Lichtkegels, werden sic auch in denselben Vereinigungspunct auf-","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"290 V. Buch. Von den Sinnen. I. Ahschn. Vom Gesichtssinn.\ngenommen, oder ist ihr Vereinigungspunct ein anderer. Sollen\ndie parallelen Strahlen \u00ab, h, c, d sieh in dem Brennpuncte o vereinigen, so m\u00fcssen die Brechungen der Strahlen a, h, e,\nd zunehmen, je weiter entfernt diese Strahlen von der Achse einfallen. In der That nehmen auch hei dem convexen Miitel die Einfallswinkel 1, 2, 3 mit der Entfernung der Strahlen h, c, d von der Achse a zu. Zur Vereinigung paralleler Strahlen in einem Brennpunct sind also gekr\u00fcmmte Fl\u00e4chen des Brechenden K\u00f6rpers noting.\nEs fragt sich nun aber, in welchem Verh\u00e4ltniss m\u00fcssen die Brechungswinkel paralleler Strahlen von der Achse bis zum Bande der Linse wachsen, wenn sie sich in einem einzigen Punctc vereinigen sollen, oder mit anderen Worten, von welcher Art m\u00fcssen die Curven der Linsenfl\u00e4chen f\u00fcr diesen Zweck seyn. Erfahrung und Berechnung zeigen, dass Kugeloberfl\u00e4chen der Linsen diesen Zweck nicht vollkommen erreichen, und dass die Curven, welche zu einer vollkommen scharfen Vereinigung der Lichtstrahlen in einen Punct noting sind, von der Kugelgestalt abweichen. Aber Linsen ohne sph\u00e4rische Oberfl\u00e4chen sind nicht durch Schleifen zu erzielen. Bei der Kugelgestalt der Linsenoberfl\u00e4chen nimmt die Brechung der Bandstrahien schneller zu, als es geschehen sollte, wenn die Vereinigung aller Centralstrahlen und Randstrahlen in einem Punct geschehen k\u00f6nnte. Diess nennt man die Abweichung, Aberration der Lichtstrahlen wegen der Kugelgestalt, Aberration de sphaericit\u00e9. Die Vereinigungspuncte sind vielmehr verschieden f\u00fcr alle Strahlenkreise vom Centrum his zum Bande, und die Vereinigungspuncte r\u00fccken um so weiter vorw\u00e4rts gegen die Linse, je weiter die Kreise werden, oder mehr Randstrahlen zugelassen werden. lieber die mathematische Untersuchung dieses Gegenstandes siehe Gehi.er\u2019s physik. W\u00f6rterh. VI. I. 396.\nEin mathematischer Beweis dieser Erfahrung, der leicht verst\u00e4ndlich w\u00e4re, ist mir nicht bekannt, daher dieser Gegenstand hier f\u00fcglicher empirisch hingestellt wird, wie es auch von Biot in seiner Experimentalphysik geschehen, und gew\u00f6hnlich in den physikalischen Lehrb\u00fcchern geschieht. Kunzek sucht zwar durch eine geometrische Deduction die Abweichung der Lichtstrahlen wegen der Kugelgestalt begreiflich zu machen, allein diese verfehlt offenbar ihren Zweck. Er zeigt, welche Aenderung die Lichtstrahlen durch ein Prisma erleiden, wenn man den brechenden Winkel des Prisma vergr\u00f6ssert. Eine sph\u00e4rische Linse sei aber als ein Prisma zu betrachten, dessen brechender Winkel an der Achse gleich Null ist, von da an aber bis zum Rande der Linse symmetrisch zu jeder Seite der Achse zunehme. Weil nun der durch ein Prisma gehende Lichtstrahl, eine desto gr\u00f6ssere Ablenkung von seiner urspr\u00fcnglichen Richtung erleide, je mehr der","page":290},{"file":"p0291.txt","language":"de","ocr_de":"1. Phys. Bedingungen d. Bilder. Sphiir. Aberration.\n291\nbrechende Winkel des Prisma vergr\u00f6ssert wird, und weil die Linse ein Prisma ist, dessen brechender Winkel von der Achse gegen die R\u00e4nder der Linse zunehme, so m\u00fcssen auch diejenigen Strahlen, welche die Linse in einem weitern Abstande von der Achse treffen, mehr von ihrer Richtung abgelenkt werden, und daher die Achse fr\u00fcher schneiden als die Centralstrahlen, a. a. O. p. 127. Das letztere, was bewiesen werden sollte, folgt keineswegs aus der ganzen Deduction. Denn bei einer vollst\u00e4ndigen Vereinigung, sowohl der Centralstrahlen als Randstrahlen in einem Punct, m\u00fcssen die Ablenkungswinkel der Strahlen von ihrer Richtung bis zum Rande auch wachsen. Denn w\u00fcrden sie nicht wachsen, so w\u00fcrden die parallel einfallenden Lichtstrahlen zwar gebrochen, aber in unver\u00e4nderter Richtung parallel fortgehen, d. h. die Linse w\u00e4re dann ein Prisma, dessen Brechungswinkel nicht gegen den Rand zunehmen, sondern bleiben, die Linse w\u00e4re keine Linse, sondern ein einfaches Prisma. Es h\u00e4ngt nur von der Art dieses Wachsthums oder von der Form der Curve ab, ob die Randstrahlen und Centralstrahlen sich in einem Punct vereinigen oder nicht.\nF\u00fcr unsern Zweck ist es genug bei der empirischen Thatsache stehen zu bleiben, dass die Randstrahlen einer Linse mit Kugelfl\u00e4chen n\u00e4her zur Vereinigung kommen, als die Centralstrahlen. In der Figur\nseien die Strahlen d c b a V c d' parallel. Die Strahlen b und b werden, da sie gleich weit von der Achse a entfernt sind, und die Brechung in der N\u00e4he der Achse sehr gering ist, am weitesten von der Linse in einem Punct o die Achse schneiden; die weiter von der Achse ensfernten Strahlen c und c werden sich ln \u00c4j die am weitesten entfernten Strahlen d und d in n vereinigen und kreuzen. Befindet sich in o eine das Licht aufnehmende Fl\u00e4che, so wird nicht bloss der Brennpunct der Centralstrahlen, sondern auch ein Zerstreuungskreis aller \u00fcbrigen Strah-en entstehen, welche ihren Brennpunct nicht in o, sondern in h, n und anderen Puncten der Achse ao haben, yy wird der Durchmesser dieses Zerstreuungskreises seyn. Befindet sich die Wand","page":291},{"file":"p0292.txt","language":"de","ocr_de":"292 V. Buch. Von den Sinnen. I. Abschn. Vom Gesichtssinn.\nin h, so erscheint dort der Brennpunct der Strahlen c c mit dem Zerstreuungskreis *\u2019 y u. s. w.\nSind die Strahlen d, c, h, a, //, c, d' niehl parallel, sondern der Basalthcil eines Lichtkegels von endlicher Lntfernung, so giehl es auch wieder keine Sammlung in einen Punct, und [auf der Wand werden sich auch jedesmal, ausser einem bestimmten Vereinigungspunct gewisser Strahlen, die Zerstreuungskreise der andern Strahlen zeigen. K\u00f6nnen die Strahlen aut' den Central-theil und ILaiultheil der Linse zugleich cinfallcn, so werden die Zerstreuungskreise nat\u00fcrlich am st\u00e4rksten hervortreten, mag die Wand sich in viv oder yy befinden; denn jedesmal werden dann ausser dem Vereinigungspunct bestimmter Strahlen, die Zerstreuungen aller \u00fcbrigen zur Erseheinung kommen. K\u00f6nnen aber die Randstrahlen abgehalten werden, und werden nur die Centralstrahlen zugelassen, so f\u00e4llt, wenn die Wand sich im Ver-einigungspuncte der Centralstrahlen o befindet, der ganze Zerstreuungskreis aller \u00fcbrigen Strahlen xy weg, und das Rihl ist rein. Diess wird durch Bedeckung des Randtheils der Linse, durch einen ringf\u00f6rmigen Schirm, Diaphragma bewirkt. Ebenso wird das Bild rein werden, wenn das Lieht bloss durch den Randtheil der Linse durchgeht und der Centraltheil bedeckt wird, denn dann f\u00e4llt der Zerstreuungskreis von den Centralstrahlen weg. Die letztere Art der Bedeckung k\u00f6mmt bei den optischen Instrumenten nicht vor, weil die Abweichung am Rande sch\u00e4dlicher ist. Aber alle optischen Instrumente m\u00fcssen zur Erzielung reiner Bilder mit Randschirmen, Diaphragma, versehen seyn.\nBei einer sehr geringen \u00fceffnung des Diaphragma, k\u00f6nnen auch wieder neue und eigent\u00fcmliche Ph\u00e4nomene von der Beugung des Lichtes am Rande des Diaphragma stehen, welche die Form und Deutlichkeit des Bildes' auffallend ver\u00e4ndern.\nDie Aberration der Sph\u00e4rieit\u00e4t kann durch Acnderung des Verh\u00e4ltnisses der Kr\u00fcmmungen beider Kugelll\u00e4chen vermindert, und auf ein Minimum gebracht werden. So klein als m\u00f6glich wird sie nach Herscuel, wenn der Radius der Hinterfl\u00e4che der Linse 6 \u2014 7 Mal so gross als der Radius der Vorderfl\u00e4che ist. Werden zwei d\u00fcnne Linsen sieh ber\u00fchrend zusammengesetzt, so lassen sich Verh\u00e4ltnisse der Radien angeben, bei denen die Aberration von der Kugelgestalt ganz wcgl\u00e4llt. Geulek\u2019s physik. IV\u00f6rterb. /. 167. Auch zunehmende Dichtigkeit einer Linse gegen ihre Mitte muss die Aberration vermindern. Denn dann wird die Brennweite der Centralstrahlen verk\u00fcrzt und der kurzem Brennweite der Randstrahlen gen\u00e4hert. Linsen, deren Aberration vermieden wird, heissen aplanatische.\nc. Von den p by s ica lise h e n Bedingungen der Farben.\n1. Dioptrische Farben. Newton\u2019soIic Farbenlehre.\nIn der Littcratur dieses Gegenstandes sind hervorzuheben:' Newton's Upticks ; Goethe\u2019s Farbenlehre; Brandes Artikel Farben in Gehler\u2019s physikal. kV\u00f6rterb ; Fischer mechanische JSatur-lehre; Pfaff \u00fcber Newton- und Goetiie\u2019scIic Farbenlehre; die drei","page":292},{"file":"p0293.txt","language":"de","ocr_de":"i. Phys. Bedingungen der Bilder. Farben. Diuptr. Farben. 293\nletztgenannten Schriften sind in Beziehung auf die Bcurtheilung der Go kt hi;\u2019sell cu Farbenlehre bemerkenswert!).\nBei der Brechung erleidet das Licht nicht bloss eine Ablenkung von seiner Rich lung, sondern erscheint auch unter gewissen Bedingungen farbig. Schon hei dem Gebrauche der Linsen werden farbige Saume um die Bilder bemerkt. Am st\u00e4rksten wird jedoch die B arbenerscheinung hei der Anwendung der Prismen wahrgenommen. Stellt ab ein B\u00fcndel paralleler Sonnenstrahlen vor, welche schief auf das Prisma einfallen, so werden diese zwei Mal durch die vordere und hintere Fl\u00e4chig des Prisma gebrochen; aber statt dass die Strahlen in der neuen Richtung parallel fortgehen sollen, hat sich das Lichtb\u00fcndel erweitert, und zeigt, wenn cs von einer Fl\u00e4che aufgefangen wird, Regenbogenfarben. Es ist nicht n\u00f6thig, um diese Farben zu beobachten, das Licht durch die Oeffnung eines Fensterladens in eine dunkle Kammer fallen zu lassen; man beobachtet sie am hellen Tage, wenn man das Sonnenlicht durch das Prisma auf eine Wand fallen l\u00e4sst, aber im dunkeln Zimmer ist die Erscheinung der Farben viel lebhafter und die Grenzen des Bildes deutlicher. Statt eines runden Bildes entwirft das durch das Prisma gebrochene Lichtb\u00fcndel, eine langgezogene Figur, mit geraden Seitenr\u00e4ndern, und oberer und unterer Abrundung, in welcher sich die Farben in der Reihe violet, blau, gr\u00fcn, gelb, orange, roth folgen. Nach den Gesetzen der Brechung allein w\u00fcrden die parallelen Lichtstrahlen, durch das Prisma zwar eine andere Richtung erhalten, aber doch parallel bleiben. Da sich das Bild erweitert hat, so ist offenbar, dass die Lichtstrahlen, indem sie ihren Parallelismus verlassen, eine verschiedene Brechung erlitten haben. Diese Thatsache f\u00fchrte Newton zu seiner Theorie der Farben. Aus der Wirkung des Prisma\u2019s folgerte er, dass in dem angewandten Lichtb\u00fcndel der Sonne, verschiedene Elemente oder Strahlen enthalten seyn m\u00fcssen, welche verschiedene Brechbarkeit besitzen, und von welcher mir die gleichartigen oder gleichbrechbarcn in gleicher Richtung fortgeben. Sind z. B. (in der folgenden Figur) in dem B\u00fcndel paralleler Lichtstrahlen, fl, a, fl gleich brechbar, b, b unter sich gleich brechbar, aber verschieden brechbar als fl, ferner c, c> c unter sich gleich brechbar, aber verschieden brechbar von fl und A, so werden nur die Strahlen fl', fl', d die Fortsetzung von a) a> fl> als gleich brechbar, nach der Brechung parallel seyn, die von a verschieden brechbaren b, b, b werden nach der Brechung mit a, a, a nicht parallel bleiben, aber unter sich parallel bleiben als b\\ b', b', w\u00e4hrend die Strahlen r, c, c welche wieder eine andere Brechbarkeit als fl und b haben werden, weder mit fl noch mit b parallel bleiben k\u00f6nnen, aber unter sich parallel bleiben-Die gleichartigen Strahlen \u00ab\u2019, d erscheinen in derselben","page":293},{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"294 V. Buch. Kurt den Sinnen. I. Absehn. Vorn Gesichtssinn.\nFarbe, violet, die gleichartigen Strahlen h\\ L\\ V in derselben Farbe, blau, die gleichartigen c', c', c in derselben Farbe, gr\u00fcn und so Andere wieder gelb, orange, roth. Violet und Roth liegen an den entgegengesetzten' \u00e4ussersten Grenzen des Farbenbildes, indem das violette Licht die gr\u00f6sste, das rothe die geringste Brechbarkeit hat. Die Farben werden aber nur dann gesehen, wenn das Bild in geh\u00f6riger Entfernung vom Prisma aufgefangen wird. Z. B, in der Entfernung y, wo die von einander sich entfernenden Strahlen a', b\\ c' sich nicht mehr decken. Wird aber das Bild n\u00e4her dern Prisma aufgefangen, z. B. in x, so decken sieb im mittlern Theile des Bildes die ungleichartigen Strahlen a', V, c, in diesem Falle erscheint der mittlere Theil des Bildes weiss, und nur das obere und untere Ende farbig, je n\u00e4her dem Prisma das Bild aufgefangen wird, um so weniger haben sich die ungleichartigen Strahlen gesondert, und unter diesen Umst\u00e4nden ist der mittlere weisse Theil des Bildes um so gr\u00f6sser, der farbige Saum aber um so kleiner.\nDiess f\u00fchrt zu dem Schluss, dass das Weisse dann gesehen werde, wenn dieselben Stellen eines K\u00f6rpers ungleichartige Strahlen aller Art zugleich erhalten und ins Auge werfen, dass hingegen die Farbe dann erscheine, wenn das gleichartige Licht einer Art den Eindruck hervorbringt, mit anderen Worten, dass das weisse Licht aus den verschiedenen Farben zusammengesetzt sei, welche zusammen weiss geben, durch brechende Mittel aber wegen ihrer verschiedenen Brechbarkeit zur Sonderung gebracht werden.\nDiese Schlussfolge wird darin best\u00e4tigt, dass sich die farbigen Lichter wieder zu Weiss vereinigen lassen.\n1.\tWenn das farbige Licht hinter dem Prisma mit einem Sammelglase aufgefangen wird, so werden die farbigen Bilder an bestimmter Stelle wieder in ein weisses vereinigt, w\u00e4hrend hinter dieser Stelle die Farben abermals gesondert fortgehen.\n2.\tDasselbe wird erreicht, wenn man das Sonnenlicht durch","page":294},{"file":"p0295.txt","language":"de","ocr_de":"1. Phys. Bedingungen d. Bilder. Farbenlehre\n295\nzwei Prismen von gleichem brechendem Winkel und entgegengesetzter Stellung durchgehen l\u00e4sst. In diesem Falle hebt durch Brechung in entgegengesetzter Richtung das zweite Prisma die Wirkung des ersten auf, und das Bild kann nur weiss erscheinen.\n3. Durch Vereinigung der, durch das Prisma erzeugten, farbigen Lichter, vermittelst eines Hohlspiegels in einem Puncte, indem man die Strahlen schief auffallend nach unten refiectiren l\u00e4sst. Eine an diesem Puncte aufgestellte weisse Tafel, zeigt statt der Farben ein farbloses Sonnenbild.\nDie dioptrischen Farben kommen, wiewohl schw\u00e4cher, auch hei der Anwendung der Linsengl\u00e4ser, stalt der Prismen, als regenbogenfarbige S\u00e4ume der Gegenst\u00e4nde vor. Eine Linse kann als ein Prisma betrachtet werden, dessen brechender Winkel gegen den Rand der Linse zunimmt, und bei welchem die Zerlegung des Lichtes nicht bloss, wie heim Prisma, nach oben und unten, sondern in allen Richtungen vom Centrum nach der Peripherie zu geschieht. Die farbigen S\u00e4ume sind um so st\u00e4rker, je mehr das Bild von der Vereinigungsweite entfernt ist.\nDer Gebrauch des Wortes Strahlen hei Darstellung der New-TON\u2019scben Farbentheorie hat hei Einigen die unstatthafte Vorstellung veranlasst, als wenn, zufolge dieser Theorie, jeder Strahl des weissen Lich tes aus mehreren Strahlen farbigen Lichtes, gleich wie aus seinen Elementen zusammengesetzt sei. Man muss vielmehr Lei einer fehlerfreien Auffassung der Resultate, welche aus den Newtob\u2019scIicu Entdeckungen folgen, auf das Sehorgan zur\u00fcckgehen, welches bei dem Ph\u00e4nomen der Farben und des Lichtes mitwirkt. Bekanntlich ist die Nervenhaut des Auges aus den Enden von ausserordendlich vielen Nervenfasern wie eine Mosaik zusammengesetzt. Jede Papille dieser Mosaik stellt den kleinsten elementaren Theil'des Sehorganes dar, welcher einer Empfindung f\u00e4hig ist.\nSo lange verschiedenfarbiges Lieht auf diese Mosaik des Sehorganes so f\u00e4llt, dass von den Elementartheilen der Nervenhaut jeder gleichartiges Licht erh\u00e4lt, n\u00e4mlich a von blauem, h von gelbem, c von rothem Lieht beschienen wird, so lange werden auch diese farbigen Eindr\u00fccke als nebeneinander existirend empfunden. Wenn aber dieselben Netzhauttheilchen von allen Ilaupt-farben zugleich beleuchtet werden, so dass dieselbe Netzhautpa pille rotli, gelb und blau zu sehen bestimmt wird, so wird weder das eine noch das andere, sondern ein gemischter Eindruck weiss gesehen. Und dieses ist es, welches aus den NEWTOifschcn Erlab rungen allein gefolgert werden kann. Also gleichzeitiger Eindruck aller Farben auf demselben Theilehen der Netzhaut bringt den Eindruck des Weissen hervor.\nNewtos nahm ohne hinreichenden Grund sieben dioptrische Farben an, in weiche das weisse Licht durch Brechung zerlegt werde, und zu lange blieb man bei dieser willk\u00fchrlichen Annahme, welche nicht' erst durch T Mayer und Goethe h\u00e4tte verbessert werden sollen. Es gieht nur drei Hauptfarben, aus denen sich alle \u00fcbrigen durch Mischung erkl\u00e4ren, das Gelbe, das Blaue, das Rothe. Zwischen Gelb und Blau steht Gr\u00fcn und entsteht durch deren\nMuller\u2019s Physiologie. C>r jRcl. II\t20","page":295},{"file":"p0296.txt","language":"de","ocr_de":"296 V. Buch. Von den Sinnen, I. Abidin, Vom Gesichtssinn.\nMischung; zwischen Blau und Roth Violet; zwischen Roth und Gelb stellt Orange. Fallt rothes und blaues Licht auf dasselbe Theilchen der Nervenhaut des Auges, so wird weder das eine noch das andere, sondern Violet gesehen, und ebenso mit den \u00fcbrigen Farben, die sich zu [gemischten Eindr\u00fccken verbinden. Daher ist eine Verbindung von einer gemischten Farbe mit einer reinen, so viel als eine Verbindung aller drei Hauptfarben, weil die gemischte Farbe immer schon die beiden anderen IJauptfar-ben enth\u00e4lt, d. h. -| Orange und ' Blau ist soviel als i Blau, -J-Roth und \u00ff Gelb, welche beiden letzteren eben Orange bilden. Bringt man daher das prismatische Orange und das prismatische Blau durch besondere Vorrichtung zur Vereinigung auf derselben Tafel, so ist der Eindruck Weiss, w ie von allen drei Hauptfarben, desgleichen Weiss von Roth und Gr\u00fcn (enthaltend Blau und (reib), desgleichen Weiss von Gelb und Violet (enthaltend Blau und Roth). Eine gemischte prismatische Farbe und eine reine, welche zusammen Weiss geben, heissen complementin'. Gr\u00fcn und Roth sind complementin', desgleichen Violet und Gelb, desgleichen Blau und Orange. Das Dunkle oder Schwarze ist nichts Positives, und nichts als der Ausdruck der Ruhe gew isser oder aller Theile der Nervenhaut des Auges. Sind farbige Eindr\u00fccke ohne Zumischung von Weiss sehr schwach, so sind sie noLhwendig zugleich mehr oder weniger dunkel. Tst der Eindruck des weissen Lichtes schwach genug, so erscheint dem Sehorgan Grau; (wie man sagt aus der Mischung des Weissen und Schwarzen). Das Graue kann unless auch aus der Mischung der Pigmentfarben hervorgehen, rothes, gelbes, blaues Pigment gemischt geben Grau. Auch aus zwei Pigmenten allein l\u00e4sst sich Grau bilden, wenn die eine derselben eine reine Farbe, die andere eine gemischte ist, d. h. aus zwei anderen gemischt ist, welche mit der reinen die drei Hauptfarben Roth, Gelb, Blau repr\u00e4sentiren.\nSo bildet Roth und Gr\u00fcn gemischt Grau.\n\u2014\u25a0 \u2014 Gelb \u2014 Violet\t\u2014\t\u2014\n\u2014 \u2014 Orange \u2014 Blau\t\u2014\nZwei Farben, welche zusammen Grau geben heissen daher auch\nIn beistehender Figur sind die drei Hauptfarben Roth, Gelb, Blau an den Ecken eines gleichseitigen Dreiecks, die durch einen Kreis verbunden sind, die gemischten Farben in der Milte zwischen den entsprechenden reinen angezeichnet; die complement\u00e4ren Farben, deren Pigmente zusammen Grau, deren prismatische Spectra zusammen Weiss geben, liegen immer entgegengesetztund sind durch Durchmesser verbunden. Dieselbe Figur giebt'auoh Auskunft \u00fcber weitere Farbenn\u00fcancen, welche zusammen Grau, oder nach der Intensit\u00e4t Weiss geben w\u00fcrden. Wenn man n\u00e4mlich im ganzen Kreise alle Ueherg\u00e4nge der Farben, zwischen den sechs ver-zeiehncten sich vorgestellt denkt, so liegen die complement\u00e4ren Far-\ncom p 1 cmc n tare.\n'Toik","page":296},{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"297\n1. Phys, Bedingungen d. Bilder. Farbenlehre.\nben immer regelmassig einander gegen\u00fcber, so dass z. B. die Mitteltinte zwischen Orange und Both complementin\u2019 ist zur Mitteltinte zwischen Gr\u00fcn und Blau. Aucb wenn man Kreisscheiben, die in drei gleiche Felder getheilt, auf jedem Felde mit einer der Ilaupt-farben bezeichnet sind, so schnell sich drehen lasst, dass die Bilder der Farben schneller ihren Ort auf der Nervenhaut des Auges wechseln, als die vorhergehenden Eindr\u00fccke verschwunden sind, so sicht man statt der Farben Grau. Desgleichen wird auf der sich drehenden Scheibe Grau gesehen, wenn bloss zwei com-plement\u00e4re Farben, in einem bestimmten Verh\u00e4ltniss (y gemischte, -j reine Farbe), auf der Scheibe vertheilt sind. Wiegt aber eine der Farben zu stark vor, so tritt diese auch herrschend im Grauem hervor und das Graue ist nicht mehr rein. Zwei reine, ungemischte Farben allein, ausser den complement\u00e4ren, geben bei der Mischung niemals Grau, sondern bloss Ueberg\u00e4nge der.Farben in einander oder Mischungen, z. B. Gr\u00fcn aus Blau und Gelb, Violet aus Blau und Both, Orange aus Both und Gelb. Dahin geh\u00f6ren in der beistehenden Figur \u00fcberhaupt alle Farben, die nebeneinander stehen.\nMan hat diese Thatsachen als einen Beweis gegen die Richtigkeit der Newtos\u2019scIicu Farbenlehre angesehen, nach welcher alle Hauptfarben zusammen, und also auch die complement\u00e4ren Weiss, nicht aber Grau geben m\u00fcssten. Der Erfolg kann indes\u00bb bei der Richtigkeit der NEWTos\u2019sehcn Theorie kaum ein anderer seyn. Denn die Pigmente sind zu tr\u00fcb und absorbiren zu viel Licht um nicht, statt des Weissen, vielmehr Grau bei der Mischung zu bedingen. Ein farbiger K\u00f6rper ist n\u00e4mlich zufolge der New-TOB\u2019schen Farbenlehre, deswegen von der bestimmten Farbe, weil er von dem weissen Sonnenlichte eine oder mehrere seiner Farben absorbirt und nur eine bestimmte zur\u00fcckwirft. Der Eindruck mehrerer farbigen Felder auf einer sich drehenden Kreisscheibe kann nicht weiss seyn, weil eine weisse Scheibe au ihrer Stelle alles Licht zur\u00fcckwirft, w\u00e4hrend die farbigen Felder nur einen Theil davon zur\u00fcckwerfen. Daher die Vereinigung der farbigen Eindr\u00fccke, auf denselben Stellen der iVervenhaut ein geschw\u00e4chtes Weiss oder Grau sein muss, welches lichter oder dunkler ist, je nach den Lichten oder Tr\u00fcben, was den Piinncnten einwohnt.\n7\t.\tO\nBringt man hingegen die lichten Farben des prismatischen Spectriuns zur Vereinigung, so erh\u00e4lt man reines Weiss, und eben so wenn man zwei complement\u00e4rc dioptrische Farben zur Vereinigung bringt, wie v. Grotthuss (Schweigg. ./. 3. 15S.) gezeigt hat.\nEs muss zuletzt bemerkt werden, dass die Mittelfarbcn, die man aus der Vereinigung zweier prismatischen Farben erh\u00e4lt, sich durch das Prisma wieder in ihre EWarben zerlegen lassen, w\u00e4hrend die urspr\u00fcnglichen Millelfarhen des prismatischen Sonnenhildes, durch das Prisma nicht weiter zerlegt werden k\u00f6nnen. Diess scheint zu beweisen, dass im Sonnenlichte mehr als drei Uriarben enthalten sind, und dass es In ihm wahrscheinlich unendlich viele an Brechbarkeit verschiedene, Strahlen giebt. Dass die urspr\u00fcnglichen und durch Mischung entstandenen Mittelfarben denselben Eindruck, z. B. des Gr\u00fcnen machen, w\u00e4hrend sie doch in\n20 *","page":297},{"file":"p0298.txt","language":"de","ocr_de":"298 V. Buch. Fon den Sinnen. 1. Abschn. Vom Gesichtssinn.\nBeziehung auf ihre Zerlegbarkeit so verschieden sind, lasst sich aus der Geschwindigkeit der Wellen nach der Undulationstheorie erkl\u00e4ren, indem die Wellen von der Geschwindigkeit der urspr\u00fcnglichen gr\u00fcnen Strahlen, denselben Eindruck auf die Nervenhaut machen, als gleiclizeitige Wellen von verschiedener Geschwindigkeit der gelben und blauen Strahlen, welche zugleich denselben Theil der Nervenhaut treffen. Die Geschwindigkeit der gr\u00fcnen Strahlen ist selbst eine mittlere, zwischen derjenigen der gelben und blauen Strahlen. Aber die Geschwindigkeit der violeten Strahlen ist gr\u00f6sser, als die Geschwindigkeit der blauen und rothen Strahlen.\nIm Ucbrigcn bleibt sich die Newton\u2019scIic Farbenlehre im Wesentlichen ganz gleich, mag man ihr die Emissions- oder die Undulationstheorie zu Grunde legen. Denn die Eindr\u00fccke, welche nach der ersten, von qualitativ verschiedenen Strahlen des farbigen Lichtes bedingt werden, h\u00e4ngen in der Undulationstheorie von der Verschiedenheit der Wellen und von der Geschwindigkeit der verschiedenen farbigen Lichter ab, und diese Strahlen erleiden eine ungleiche Brechung durch brechende Medien.\nDie Einw\u00fcrfe gegen die NEwrotdsche Farbenlehre von Goethe beruhen in der Hauptsache auf Misverst\u00e4ndnissen. Goethe (Farbenlehre) und Seebeciy (Schweigg. J. 1. 4.) betrachten die Farbe als entspringend aus dem Wcissen und Schwarzen, und legen den Farben selbst ein Dunkles zu, so dass sie sich durch den Grad des Dunkeln (gxieqov) unterscheiden, indem sie sich vom Weissen zum Schwarzen, als Gelb, Orange, Roth, Violet, Blau folgen, w\u00e4hrend Gr\u00fcn wieder in der Mitte zwischen Gelb und Blau zu stehen scheint. Diese Bemerkung ist, obgleich sie keinen wesentlichen Einfluss auf die Newton'scIic Farbentheorie hat, allerdings richtig und durch die Untersuchungen von Herschel erfahrungsm\u00e4ssig best\u00e4tigt. Der Letztere untersuchte die Intensit\u00e4t des Lichtes von Farbestrahlen, durch welche er Gegenst\u00e4nde unter dem Mikroskope beleuchtete; die Beleuchtung war am st\u00e4rksten in Gelb und Gelbgr\u00fcn, schw\u00e4cher in Orange, noch schw\u00e4cher in Roth, noch schw\u00e4cher in Blau und am'Sch wachsten in Violet (man sollte vielmehr seine Stelle zwischen Both und Blau erwarten). Auch war die Helligkeit von gr\u00fcnen Strahlen schw\u00e4cher als die von Gelbgr\u00fcn. Noch ein anderer und sicherer Beweis von dem Unterschiede der Helligkeit der farbigen Strahlen wird von den Blendungserscheinungen im Auge geliefert. Hat man in die Sonne gesehen, und schiiesst das Auge bis zur Dunkelheit, so erscheint das Nachbild der Sonne hell oder weiss auf dunkeim Grunde, aber diess Bild geht durch die Farbenreihe durch bis zum Schwarzen, d. h. bis es sich nicht mehr vorn dunkeln Grunde absondert, und die Reihe der Farben, die es vom Weissen bis Schwarzen durchl\u00e4uft, ist eben die der lichtesten bis zur dunkelsten Farbe, Gelb, Orange, Roth, Violet, Blau. Sicht man aber, nachdem man anhaltend in die Sonne gesehen, auf eine weisse Wand, so erscheint das Nachbild oder Blendungsbild der Sonne schwarz auf dem weissen Grunde der Wand, und es geht von den dunkeln Farben zu den hellen, zuletzt in farbloses Weiss","page":298},{"file":"p0299.txt","language":"de","ocr_de":"1. Phys. Bedingungen d. Bilder. Farbenlehre.\t299\n\u00fcber, worauf es sich nicht mehr von der wcissen Wand unterscheidet.\nAber so richtig auch die Bemerkung von Goethe \u00fcber das verschiedene Dunkle der Farben ist, so wenig l\u00e4sst sich daraus etwas f\u00fcr seinen Grundsatz, dass die Farbe aus Licht und Dunkel entstehe, schliessen. Das Dunkle ist, wie wir schon bemerkt haben, nichts Positives, es ist blosse Ruhe gewisser Stellen oder der ganzen Nervenhaut. Eine Farbe, kann ohne aus einer Vermischung von Weiss und Schwarz entstehen zu k\u00f6nnen, mehr oder weniger Reizkraft f\u00fcr die Nervenhaut, also mehr oder weniger Intensit\u00e4t haben, oder dunkel'erscheinen, mag dieses von der verschiedenen Geschwindigkeit der Lichtwellen, und der verschiedenen Gr\u00f6sse derselben in den verschiedenen Farben, oder von irgend einer andern Eigenschaft des farbigen Lichtes herr\u00fchren.\nDie Haupts\u00e4tze der GoETuE\u2019schen Farbentheorie beruhen auf dem Misverst\u00e4ndniss, in welchem sich Goethe in Hinsicht des Dunkeln oder Schwarzen als etwas Positivem befindet. Die Bildung des Grauen, aus der Mischung der complement\u00e4ren Pigmentfarben, statt des Weissen, leiht der Ansicht von Goethe und Seebeck, einige Wahrscheinlichkeit, und ich war fr\u00fcher selbst daf\u00fcr eingenommen; aber tlieils l\u00e4sst sich die Entstehung des Grauen, statt des Weissen, aus den Pigmentfarben leicht erkl\u00e4ren, theils l\u00e4sst sich direct zeigen, dass aus W eiss und Schwarz allein nicht Farbe entstehen k\u00f6nne. Eine Mischung von Weiss und Schwarz erzeugt immer nur Grau, nie Farbe, sei es, dass beide Eindr\u00fccke, wie auf der gedrehten Scheibe, sehr schnell einander folgen, und das Nachbild der einen und primitive Bild der andern sich decken, oder, dass beide Ursachen zugleich auf dieselben Th eile der Nervenhaut wirken, was freilich nichts Andres heisst, als dass die Ursache des Weissen gem\u00e4ssigt ist, woraus Grau wird.\nDie Farbenph\u00e4nome, welche sich bei der Betrachtung farbloser, heller Gegenst\u00e4nde durch tr\u00fcbe halbdurchscheinende' K\u00f6rper zeigen, schienen der GoETnE schen Ansicht am Meisten zu Gute zu kommen, lassen sich jedoch leicht anderweitig aus bekannten Thatsachen, und aus den Grunds\u00e4tzen der Newton\u2019scIich Farbenlehre selbst ableiten. Eine ausf\u00fchrliche Beantwortung, der von dieser Seite hergenommenen Einw\u00fcrfe, findet sich in dem von Brandes bearbeiteten Artikel Farbe in Geheer\u2019s physikal. IF\"\u00fcrterb.\nDie tr\u00fcben Mittel lassen, wie Goethe sagt, das weisse Licht, indem sie es massigen, gelb oder gar gelbroth erscheinen, so wie weisses Glas, und die dunstreiche Luft bei der Abendr\u00f6the. Mit Recht wird diese Erscheinung, welche niel\u00fc bei jedem tr\u00fcben Mittel vork\u00f6mmt, von der F\u00e4higkeit des bl\u00e4ulich weissen Glases abgeleitet, die gelben und rothen Strahlen, mehr als die blauen des weissen Lichtes durchzulassen. Mehrere tr\u00fcbe Mittel zeigen die erw\u00e4hnte Erscheinung nicht, wie Brandes bemerkt. Z. B. feuchte Nebel, welche sowohl das reflectirte Licht, als das durchgehende weiss erscheinen lassen, indem sie eben alle Farben des Lichtes durchgehen lassen, und alle Farben zugleich rellectiren.\nDie von den prismatischen Erscheinungen hergenommenen Ein-","page":299},{"file":"p0300.txt","language":"de","ocr_de":".300 V. Buch. Vun den Sinnen. I. Ahschn. Vom Gesichtssinn.\nw\u00fcrfe von Goethe, gegen die Newton'scIic Farbenlehre, zeigen sich als ungegr\u00fcndet. Goethe hebt als eine nothwendige Bedingung des prismatischen Farbenhildes hervor, dass das Bild begrenzt sei, dass ein Helles an ein Dunkles grenze, nur an dieser Grenze erscheine die Farbe. Weil zur Erzeugung der Farbe \u00fcberhaupt Hell und Dunkel zugleich noting sei. Daher erscheine das Unbegrenzte, die weisse Wand, durch das Prisma gesehen, nicht gef\u00e4rbt, sondern wciss. Dass sic wciss erscheint, ist unless eben eine Consetjuenz der New-Ton\u2019schen Theorie, denn da von allen Puncten der weissen Wand weisse, d. h. blaue, rolhe, gelbe Strahlen zugleich reflectirt werden, so wird jeder Theil der Nervenhaut, auch von allen farbigen Strahlen zugleich, ci. h. vom Weiss beleuchtet. Zur Erscheinung der dioptrischen Farben ist allerdings die Grenze von Hellund weniger Hell oder Dunkel, aber auch im Sinne der iVEWTON\u2019schen Farbenlehre noting; denn nur diejenigen farbigen Strahlen k\u00f6nnen als solche gesehen werden, welche nicht mit den andern Farben wieder im Bilde zusammen treffen, und sich an der Grenze des Bildes verm\u00f6ge ihrer abweichenden Brechbarkeit isoliren. Vcrgl. Brandes a. a. 0. p. 69.\nEndlich ist die Erkl\u00e4rung der prismatischen Farben, welche Goethe giebt, selbst ungen\u00fcgend. Nach Goethe\u2019s Vorstellung wird an der Grenze eines dunkeln und hellen Bildes, durch die Refractjpn das dunkle Feld \u00fcber den hellen Grund, und dieses \u00fcber jenes bewegt, und hierdurch entstehen an der Grenze die Farbensaume. Indess das Licht kann zwar an der Grenze des Dunkeln, das in Beziehung auf das Auge das Afl'ectlose ist, \u00fcber die ruhenden Theile des Auges zerstreut werden, aber das Dunkle kann sich nicht \u00fcber ein Helles ausbreiten, denn dunkel ist physiologisch, worauf doch Alles in diesen Fragen zuletzt zur\u00fcckkommt, nur derjenige Theil des Auges, wo die Nervenhaut im Zustande der Ruhe empfunden wird. Ueber diesen Mangel der GoETHE\u2019schen Ansicht habe ich mich bereits ausf\u00fchrlicher in dem Buche \u00fcber die Physiologie des Gesichtssinnes Leipz. 1826. p. 399. 409. ausgesprochen, vro ich die Fehler der GoETHE\u2019sclien Ansicht zu zeigen suchte, wo cs mir aber*), indem ich einige Grunds\u00e4tze derselben festzuhaltcn suchte, nicht sie zu verbessern gelang. Goethe\u2019s grosse Verdienste um die Farbenlehre betreffen nicht die Hauptfrage von den Ursachen der prismatischen Farben. Es ist liier nicht der Ort seine erfolgreichen Bem\u00fchungen in Hinsicht der physiologischen Farben, der moralischen Wirkungen der Farben, und der Geschichte der Farbenlehre auseinanderzusetzen.\n2. Nat\u00fcrliche Farben der K\u00f6rper. Pigmente.\nDie nat\u00fcrliche Farbe der nicht selbst leuchtenden K\u00f6rper\n*) Der Artikel \u00fcber die GoETHE\u2019sche Farbenlehre ist (die Beobachtungen ausgenommen) ein schwacher Abschnitt dieser Schrift, welche in mehreren wichtigeren Abhandlungen die Resultate ausdauernder Anstrengungen enth\u00e4lt.","page":300},{"file":"p0301.txt","language":"de","ocr_de":"1. Phys. Bedingungen d. Bilder. Natiirl. Farben d. K\u00f6rper. 301\nr\u00fchrt zun\u00e4chst von dem Lichte lier, welches ihnen zugeworfen wird, und welches sic wieder zur\u00fcckw erfen und unserm Auge zuwenden, zum Theil h\u00e4ngt ihre Farbe aber auch von ihrer Affinit\u00e4t zu dem Lichte und den verschiedenen Arten des farbigen Lichtes ah, indem sie alles farbige Licht bald vollst\u00e4ndig zur\u00fcckweifen, bald vollst\u00e4ndig und unter Erscheinung der Erw\u00e4rmung absorbiren, bald theilweise zur\u00fcckwerfen und theilweise absorbiren, bald alles Licht ganz hindurch lassen, bald gewisse Strahlen hindurchlassen, andere absorbiren. Ein weisser K\u00f6rper ist ein solcher, der alle Arten des farbigen Lichtes zugleich zur\u00fcckwirft, ein schwarzer derjenige, welcher alle Arten des Lichtes in sich aufnimmt und keines reflectirt, ein farbiger aber derjenige, der gewisse farbige Strahlen des weissen Lichtes absorbirt oder durchl\u00e4sst, andere aber zur\u00fcckwirft. Ein durchsichtiger, ungef\u00e4rbter K\u00f6rper l\u00e4sst alle Arten Strahlen und also farblos durch sich hindurchgehen, indem er nur einen sehr geringen Theil von allen Arten Strahlen farblos reflectirt. Ein durchsichtiger, gef\u00e4rbter K\u00f6rper absorbirt gewisse Strahlen des Lichtes, und l\u00e4sst den farbigen Rest durch sich hindurchgehen. Dass die Farbe der undurchsichtigen K\u00f6rper davon abh\u00e4ngt, dass sie gew isse Strahlen des Lichtes absorbiren oder durch lassen, andere aber zur\u00fcck werfen, l\u00e4sst sich erla h rungsm\u00e4ssig beweisen,\nW erden farbige K\u00f6rper, welche sonst die Strahlen a rcllectiren, von einem anderen durchaus homogenen farbigen Lichte beleuchtet, so sind sie nicht im Stande das letztere, welches sic absorbiren, zu reflectiren und erscheinen daher ganz farblos. Ein homogenes gelbes Licht giebt, w ie Brandes bemerkt, ein mit Kochsalz abgeriebener und auf der Weingeistlampe brennender Docht. In diesem Lichte erscheinen alle farbigen Gegenst\u00e4nde mit Ausnahme der gelben farblos. Das meiste farbige Licht ist indess nicht homogen und enth\u00e4lt, ausser dem \u00fcberwiegenden farbigen Licht einer Art, auch weisses Licht. Durchsichtige farbige K\u00f6rper zeigen entweder eine andere Farbe bei reflectirtcm, als bei durchfallendem Lichte, oder zeigen hei reflectirtem und durchf\u00e4llendem Lichte dieselbe Farbe. Dieselbe Wolke kann bl\u00e4ulich von reflectirtem, gelb oder orangefarben bei durchl\u00fcftendem Lichte erscheinen. Im ersten Falle l\u00e4sst sie die gclbrothen Strahlen durch, welche wir nicht sehen, und sendet die reflectirten bl\u00e4ulichen zu unserm Auge; im zweiten Fall sehen wir die durchfallenden gclbrothen Strahlen, nicht aber die reflectirten blauen. Brandes erkl\u00e4rt auf diese W eise das bald bl\u00e4uliche, bald gelbro-the Ansehen der Atmosph\u00e4re. Die heitere Luft erscheint am Abend gegen Osten bl\u00e4ulich, wo sie das blaue Licht zu uns rc-flectirt, das gelbrolbe durchl\u00e4sst, was daher von uns nicht gesehen wird, sie erscheint gelbroth im Westen, von w o sie das gelh-rothe Licht zu uns durchl\u00e4sst, w\u00e4hrend sie das blaue Licht reflectirt. So eischeint auch bl\u00e4uliches Milchglas gegen das Licht feuerroth. Andere durchsichtige K\u00f6rper erscheinen bei reflectirtcm und durchgehendem Licht gleichgef\u00e4rbt; sie reflectiren einen A heil eines farbigen Lichtes fl, w \u00e4hrend sie einen andern Theil 'on a durchlassen, dabei absorbiren sie die \u00fcbrigen farbigen","page":301},{"file":"p0302.txt","language":"de","ocr_de":"302 V. Buch. Von den Sinnen. I. Abschn. Vorn Gesichtssinn.\nStrahlen b, c vollst\u00e4ndig. Siehe das N\u00e4here hei Brandes a. a. 0,\np. 115.\n3. Farben durch Interferenz der Lichtstrahlen.\nDie NEWTOs\u2019sche Farbentheorie wird nicht ver\u00e4ndert durch die Farbenerscheinungen, welche zun\u00e4chst aus dem von Th. Young entdeckten Princip der Interferenz der Lichtstrahlen, oder der Einwirkung der Lichtwellen aufeinander zu erkl\u00e4ren sind. Da viele bisher schwer zu erkl\u00e4rende Farbenerscheinungen diesem Gesetze ihren Ursprung verdanken, so muss hier zur Vollst\u00e4ndigkeit der Lehre von den physischen Farben, das N\u00f6thigste \u00fcber die Interferenz und die Farben durch Interferenz beigebracht werden.\nDie von Th. Younc entdeckte Eigenschaft der Lichtstrahlen gegenseitig auf einander einzuwirken, besteht darin, dass zwei Lichtstrahlen, die von einem Puncte ausgehend, auf wenig verschiedenen Wegen und unter einem sehr kleinen Winkel ihrer Convergenz in einem Puncte ankommen, unter gewissen Bedin-aungCn die Intensit\u00e4t der Beleuchtung verst\u00e4rken, unter andern Bedingungen die Beleuchtung g\u00e4nzlich aufheben. Diese gegenseitige Einwirkung der Lichtstrahlen heisst Interferenz. In einen finstern Raum falle der von einem Puncto a ausgehende Lichtkegel a, b, c. In einiger Entfernung vofl der Spitze des Lichtkegels befinde sich ein schmaler Streifen von Pappe oder Holz (in der Figur sehr breit gezeichnet um die Abbildung deutlicher zu machen), bc sei eine den Schatten aufnehmende Wand, ist nun das von a ausgehende Licht einfarbig, z.B. das rothe prismatische Licht, so zeigt sich statt des einfachen Schattens auf der Wand bc vielmehr eine Reihe von abwechselnden farbigen und dunkeln Linien, wovon die farbigen mit der Farbe des Lichtkegels \u00fcbereinstimmen. Wird die auffangende Wand bc dem K\u00f6rper sehr gen\u00e4hert, so wird der Schatten rein und scharf und ohne Linien, wird er davon entfernt, so entwickeln sich mehr und mehr die genannten Linien. Der mittelste Streifen hei d ist farbig. Die Erscheinung der hellen und dunkeln Linien h\u00f6rt auf, sobald man das Lieft an dem einem Rande des Kartenblattes auff\u00e4ngt, so dass es auf dieser Seite nicht bis zur Fl\u00e4che bc gelangt. Diess beweist, dass die Erscheinung nicht von der Beugung des Lichtes an den R\u00e4ndern, sondern von der gegenseitigen Einwirkung der an den entgegen-'","page":302},{"file":"p0303.txt","language":"de","ocr_de":"1. Phys. Bedingungen der Bilder. Farben, durch Interferenz. 303\ngesetzten R\u00e4ndern vorbeigebenden Strahlen abh\u00e4ngig ist. Dass diese Strahlen aber sich hinter dem Kartenblatte begegnen werden, folgt aus den Gesetzen der Beugung, Inflexion, welchen das Lieht unterworfen ist, wenn es dicht am Rand von K\u00f6rpern vorbeigeht. N\u00e4mlich die am Rande des Kartenblatts vorbeigehenden Lichtstrahlen werden von diesem Rande von der Richtung ab nach g, J, e, d inflectirt. Diese Inflexion ist am st\u00e4rksten liir diejenigen Strahlen, welche dem Rande am n\u00e4chsten sind, und nimmt ab, je entfernter die dicht am Rande vorbeigehenden Strahlen dem Rande sind, Dis in einer gewissen Entfernung die Strahlen ab ihre Richtung behalten. Durch Beugung des Lichtes an den R\u00e4ndern des Kartenblatts treffen also Strahlen, die von dem Puncte a ausgegangen, wieder zusammen. Diese Strahlen sind f\u00fcr die Mitte des Schattens gleich lang, ungleich lang f\u00fcr alle \u00fcbrigen Stellen des Schattens, z. B. die in dem Puncte e, in_/, in g zusammenkommenden Strahlen. Da nun das Bild der inflec-tirten rothen, von a ausgehenden Strahlen dunkle Linien zeigt, die mit rothen Linien abwechseln, so folgt, dass gewisse an den entgegengesetzten R\u00e4ndern des Kartenblatts inflectirte Strahlen des rothenLichtes, durch das Zusammentreffen in Puncten der Wand sich v\u00f6llig aufgehoben haben, und diese Stellen erscheinen eben dunkel, w\u00e4hrend andere Strahlen des rothen Lichtes sich nicht zerst\u00f6rt haben und die rothe Farbe erscheinen lassen. Die Erscheinung kann auch so gezeigt werden, dass man nach Fbksnel, die von einem Puncte ausgehenden Lichtstrahlen, durch zwei gegeneinander gestellte Spiegel zur Interferenz bringt, so dass die Reflexion hier ersetzt, was in dem beschriebenen Versuch die Beugung thut. Die Erkl\u00e4rung dieser Erscheinung folgt mit Leichtigkeit aus der Undulationstheorie. ln dem Puncte d wird das rothe Licht nicht aufgehoben, hier coincidiren gleich lange Strahlen von rothem Lichte, welche eine gleiche Zahl von Wellen a bis d zur\u00fcckgelegt haben; die Strahlen, welche in e, f, g, Zusammenkommen, haben ungleiche L\u00e4ngen und haben bis zu ihrem Zusammentreffen eine ungleiche Zahl von Wellen des rothen Lichtes zur\u00fcckgelcgt. \u00bbAlle solche interferirenden Strahlen von ungleicher L\u00e4nge heben sich entweder auf, oder verst\u00e4rken sich. Die Differenz der L\u00e4nge der in e zusammenkommenden Strahlen kann kleiner oder gr\u00f6sser seyn, als die Breite einer Welle des rothen Lichtes, die aus einem verdichteten und verd\u00fcnnten Theilc besteht. Hat der eine Strahl bis e eine ganze Welle mehr gemacht als der andere bis e, so st\u00f6ren sich, nach den f\u00fcr alle Wellenbewegung gelt\u00e8n-den Gesetzen, beiderlei Wellen nicht, denn der verdichtete Theil der Welle des einen Strahls, f\u00e4llt bei e auf den verdichteten Theil der Welle des andern Strahls, der\u201cverd\u00fcnnte Theil der Welle des einen Strahls, auf den verd\u00fcnnten Theil der Welle des andern Strahls, oder der Wellenberg des einen auf den Wellenberg des andern, das W ellenthal des einen auf das Wellenthal des andern, wie in folgender Figur. Daraus kann nur eine Verst\u00e4rkung des von der Wand reflectirtcn Strahles hervorgehen, indem die Wellenberge und Wel len thaler sich verst\u00e4rken. Dasselbe wird geschehen, wenn die","page":303},{"file":"p0304.txt","language":"de","ocr_de":"304 V. Euch. Van Jan Simien. I. Abschn. Vom Gesichtssinn.\nUnterschiede der Zahlen beider s\\ // Wellen, 3, 4, 5, 0 ganze Wellen {//\t\\W\u2014\u25a0//\t\u2014-y/ betragen. Denn in diesem Falle\nwerden die Wellenberge immer mit den Wellenbergen, die Wellentli\u00e4-ler mit den Wellenthalern coinci-diren. Hat hingegen der eine der in einem Punct znsammen-kommenden Strahlen nur die Hallte einer ganzen Welle mehr zur\u00fcekgelegt, als der andere Strahl, so fallt die verd\u00fcnnte H\u00e4lfte einer VVelle, oder das Wellenthal des einen Strahls in die verdichtete H\u00e4lfte der Welle oder den Wellenberg des andern Strahls, wie in beistehender Figur versinnlicht ist; die Verd\u00fcnnung der einen und die Verdich-tung der andern Welle heben sich gegenseitig auf, dann wird diese Stelle dunkel erscheinen. Sind die Unterschiede der Zahl der Wellen beider Strahlen kleiner als eine ganze Welle, aber gr\u00f6sser als eine halbe Welle, oder gr\u00f6sser als eine ganze VVelle, aber kleiner als zwei Wellen, so werden sich die Bewegungen von beiderlei Strahlen mehr oder weniger st\u00f6ren. Man sieht leicht ein, wie diese Erscheinungen die Gelegenheit an die Hand geben mussten, diu Breite der Liehtwellen f\u00fcr die verschiedenen Farben durch Berechnung zu finden. Die dunkeln und hellen Linien haben \u00fcbrigens bei verschiedenem farbigem Lichte, mit dem der Versuch angestellt wird, eine verschiedene Lage.\nIn dem vorher erl\u00e4uterten Falle waren die zur Interferenz gebrachten Lichtstrahlen homogenes farbiges Licht, das von einem Puncte ausging. Bei Anwendung des weissen Lichtes, zum Versuch, kommen die eigentlichen Farbenph\u00e4nomene zum Vorschein, um welche es sich f\u00fcr unsern Zweck handelt. Man sieht n\u00e4mlich, statt der abwechselnd homogenen farbigen und dunkeln, dann Streifen, die mit den lebhaftesten homogenen Farben prangen. Die Erkl\u00e4rung folgt aus derjenigen des vorhergehenden Versuchs. Da die Wellen, von jeder im weissen Lieht enthaltenen Farbe, ungleich breit sind, so wird jede der Ilauptlarben des weissen Lichtes ihre eigenen, verschieden gelegenen hellen und dunkeln Streifen haben, wie es im vorhergehenden Versuch von einer Farbe erl\u00e4utert wurde.\nAus der Erkl\u00e4rung der Farben durch Interferenz lassen sich am leichtesten die Farben ableiten, die man in d\u00fcnnen Pl\u00e4ttchen von K\u00f6rpern mit sehr feiubi\u00e4ttriger Structur, und an sehr fein gefurchten Oberfl\u00e4chen wahrnimmt. Es ist eine bekannte Erscheinung, dass die vordere oder die hintere Fl\u00e4che eines durchsichtigen K\u00f6rpers Licht rellectirt. Ein senkrecht auf ein d\u00fcnnes durchscheinendes Bl\u00e4ttchen geworfenerStrahl wird zum Theil von der vordem, zum Theil von der hintern Fl\u00e4che reflectirt, der letzte und der erste Theil des Strahls fallen bei der Beflexion in eins zusammen, und m\u00fcssen, wenn der Unterschied ihres Weges klein genug war, ein Interferenzph\u00e4nomen erzeugen. Dasselbe gilt von schief auffallenden Strahlen. Denn mit dem von der vor-","page":304},{"file":"p0305.txt","language":"de","ocr_de":"2, Vom Auge als opt. Werkzeug. Bau der Augen.\n305\ndem Fl\u00e4che reflectirten Strahl, wird der von der hintern Fl\u00e4che reflectirtc Antbeil irgend eines andern Strahls wieder Zusammentreffen und interferiren. Auf \u00e4hnliche Weise erkl\u00e4rt man die Farbenph\u00e4nomene, die man auf Fl\u00e4chen bemerkt, die sehr fein gefurcht sind. Ilieher geh\u00f6ren also die irisirenden Farben der Glimmerpbittehen, des bl\u00e4tterigen Glases, der Seifenblasen, der Perlmutter u. s. w.\nAm Schl\u00fcsse dieser Bemerkungen werden hier noch die L\u00e4ngen und Geschw indigkeiten der Lichtwellen f\u00fcr die verschiedenen Farben angef\u00fchrt, wie sie Herschel aus Interferenzph\u00e4nomenen berechnet hat.\nL\u00e4nge\tder Wellen in Milliontheilen\t\tEngt. Zoll.\tAnzahl der Wellen in 1 Zoll.\tAnzahl der Billion von Schwing, in 1 Sek.\nGrenze\tdes\troth\t\t. 26,6\t37640\t458\nGrenze\tdes\troth und orange .\t. 24,6\t40720\t495\nGrenze\tdes\torange und gelb .\t. 23,5\t42510\t517\nGrenze\tdes\tgelb und gr\u00fcn\t. 21,9\t45600\t555\nGrenze\tdes\tgr\u00fcn und blau\t.\t20,3\t49320\t600\nGrenze\tdes\tblau und indig\t. 18,9\t52910\t644\nGrenze\tdes\tindig und violet .\t. 18,1\t55240\t672\nGrenze\tdes\t\u00e4ussersten violet .\t. 16,7\t59750\t727\nlieber Interferenz siehe Weber Wellenlehre, Brandes in Geu-ler\u2019s physikal. W\u00f6rierb. \u00fcber die Undulationstheorie ebendaselbst den Artikel Licht.\nII. Capitel. Vom Auge als optischem Werkzeuge.\nI. Optischer Bau der Augen.\nIn Hinsicht des Baues der Augen f\u00fcr den Zweck der Lichtempfindung im Allgemeinen, und des Sehens insbesondere kann man drei Hauptformen unterscheiden: 1) Die einfachsten Augen oder Augenpunkte der W\u00fcrmer und der niedersten Thiere, von welchen cs zweifelhaft ist, ob sie mehr als allgemeine Lichtempfindung durch ihre Augen haben, d. h. Tag und Macht, helle und dunkle Orte, wo sie sich aufhalten, unterscheiden. 2) Die musivisch zusammengesetzten, mit durchsichtigen lichtsondernden Medien versehenen A ugen der Insecten und Crustaceen. 3) Die Augen mit collective!!, das Licht sammelnden durchsichtigen Medien.\nA. Einfachste Augen oder Augenpunctc der W\u00fcrmer und anderer niederer Thiere.\nVon den Augen der Insecten, Crustaceen, Mollusken l\u00e4sst sich deutlich nach weisen, dass sie die n\u00f6thigen durchsichtigen Apparate zum Sondern des von verschiedenen Stellen der Objecte kommen-","page":305},{"file":"p0306.txt","language":"de","ocr_de":"306 V. Buch. Von Jen Sinnen. I. Ahschn. Vom Gesichtssinn.\nden Lichtes besitzen. Es fragt sieh, ob diess auch von den sogenannten Augenpuncten der W\u00fcrmer und anderer niederer Thie-re gelten k\u00f6nne, oder ob diesen Augen die optischen Werkzeuge mangeln, und ob solche Augen nicht vielmehr bloss das Helle und Dunkle im Allgemeinen, Tag und Nacht unterscheiden k\u00f6nnen. Ueber das Vorkommen dieser Augenpuncte siehe oben p. 281. Hirudo medicinalis hat zehn Augen, die in einem Halbzirkel an der vordem Flache des Kopftbeils \u00fcber dem Munde stehen. Sie sind nach Weber \u00fcber die Oberfl\u00e4che wie eine Warze erhaben, und verl\u00e4ngern sieh wie Cylinder in das Innere des Thiers. Das Ende der Augen ist von einer convexen, sehr durchsichtigen Membran bedeckt, unter welcher am Ende jedes Auges sieh eine schwarze Platte befindet, der untere Theil der Cylinder ist schwarz. Pupille und durchsichtige Thcile sind nicht bemerkt worden. Diese Theile erkennt man auch an den halbmondf\u00f6rmigen Augen mehrerer Planarien nicht. Ich untersuchte den Bau der Augenpuncte bei den Nereiden. Bei der Gattung Nereis And. et Edw. linden sich vier schwarze Augenpuncte auf der Oberfl\u00e4che des Kopfes im Viereck gestellt. Sie sind nicht erhaben und vielmehr einfach von der Epidermis des Kopfes bedeckt. Die Augen sind hinten rund, nach der Lichtseite platt, und bestehen aus einer becherf\u00f6rmigen, hohlen, schwarzen Membran, und einem runden weissen undurchsichtigen K\u00f6rper, welcher darin enthalten ist, und sieh in den Sehnerven verl\u00e4ngert. Die vier Sehnerven der vier Augen senken sieh jeder besonders in die obere Fl\u00e4che des Gehirns ein. Bei diesem Thiere hat man es also mit Augen ohne durchsichtige optische Werkzeuge zu thun. Die in der Choroidea enthaltene Anschwellung ist dem Lichte zug\u00e4nglich, da an der Lichtseite die CI \u00eeoroidea fehlt, und cirkolf\u00f6rmig ausgeschnitten ist. Aber diese Anschwellung scheint nur das papillenf\u00f6rmige Ende des Sehnerven zu seyn; denn sie war undurchsichtig, von demselben Aussehen als der Sehnen e, in welchen sie sich deutlich fortsetzte, und feink\u00f6rnig. Allerdings war die Nereide vorher in Weingeist aufbewahrt worden, aber die durchsichtigen Organe in den Augen der lnsecten, Spinnen, Schnecken behalten ihre helle Durchsichtigkeit an in Weingeist aufbewahrten Thieren. J. Mukei,er ann. d. sc. liai. XXII. p. 19. Rathke {de Bopyro et JSereide. Bigac 1837.) bat bei Nereis Dumerilii ebenfalls den pupillenartigen Ausschnitt der Choriodea beobachtet. Derselbe hat aber auch eine zweite Form der Augen aus der Familie der Nereiden, n\u00e4mlich bei der Gattung Lycoris beschrieben, wo diese Pupille fehlte, und wo die schw\u00e4rzliche Choroidea vielmehr das ganze Auge umgab. In diesem Falle ist noch weniger an eine Unterscheidung der Formen zu denken, und nur auf eine vage Unterscheidung des Lichten und Dunkeln verm\u00f6ge des Lichtes, welches den Pigment\u00fcberzug, zu durchdringen vermag, zu rechnen. R. Wagner (Vergl. Anal. 1. 428.) der selbst an frischen Exemplaren von Nereiden, die pa-pillenf\u00f6rmige Anschwellung des Sehnerven und keine durchsichtigen Organe erkannte, glaubte an Hirudo medicinalis hei jungen eben ausgeschl\u00fcpften Thieren, auch durchsichtige Theile, und an dem glockenf\u00f6rmigen, lose mit rothen Pigmentk\u00f6rnchen \u00fcberstreu-","page":306},{"file":"p0307.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom Auge als opt. IVerkzeug. Ihm der Augen. 307\nten Glask\u00f6rper, vorne einen Abschnitt, wie eine Linse zu sehen. So viel ist indess wohl gewiss, dass hei den Nereiden die eine Abtheilung eine Pupille und keine durchsichtigen innern Organe, die andere nicht einmal eine Pupille hat, und wir sind berechtigt diesen Tbieren nur eine ganz allgemeine Unterscheidung des Hellen und Dunkeln zuzusehreiben.\nWie Existenz wirklicher Sehorgane hei einer Gattung von Nereiden ohne Pupille, mit g\u00e4nzlicher Bedeckung des Jauges durch Pigment, und die Aebnlichkeit dieser Organe mit den Augen anderer Nereiden, welche eine Pupille haben, macht es wahrscheinlich, dass auch Lei anderen niederen Thicren, wo sich schwarze oder tiefgef\u00e4rbte Augenpuncte, wenn gleich ohne Pupille zeigen, die Beziehung zum Liehtempfinden mit Recht vermutbet wird. Bei den Vv irhellhirren kennt man nur ein einziges Beispiel von Augen-ohne optische Werkzeuge. Ich fand bei Myxiue glulinosa ein kleines Auge nicht bloss unter der Haut, sondern sogar unter den Muskeln, w\u00e4hrend das Auge des verwandten Bdeilostoma an der Oberfl\u00e4che liegt. Das Auge der Myxine glutinosa enth\u00e4lt keine Linse, sondern nur einen bulbusartigen, das ganze Auge auslullenden K\u00f6rper, M elcher mehr einem Bulbus nervi optici, als einem Glask\u00f6rper gleicht. Obgleich das Auge von Muskeln bedeckt ist, so kann doch alle Lichtemplindung nicht aufgehoben sevn, da wir sogar durch die Dicke der Finger und ganzer Knochen Licht sehen. Diesen Tbieren wird also auch nur eine allgemeine Unterscheidung von Hell und Dunkel, Tag und Nacht zukommen.\nB. M u s i v i s c ii zusammengesetzte Augen der Insecten und CrustAceen.\nJ. Mueller zur Physiologie des Gesichtssinnes. Leipz. 1826. Ann. d. sc. na/. T. XVII. 225. 365. Fortsetzung in Meck. Arch. 1829. 38. 177.\nDie zusammengesetzten Augen der Insecten und Krebse sind mehr oder weniger grosse Abschnitte von Kugeln, bei den Insecten unbeweglich, bei den Dceapodcn, unter den Krebsen, und noch einigen andern auf S\u00e4ulen beweglich. Auch der Selmerve dieser Augen schwillt im Innern derselben in eine grosse Kugel oder einen Kugelabschnitt an, von deren Oberfl\u00e4che sich tausende von Primitivfasern des Sehnerven erheben, und wie Radien ''egen die Oberfl \u00e4chc des Organes gerichtet sind. Sie erreichen jedoch die durchsichtige Oberhaut oder Hornhaut der Kugel nicht; vielmehr liegen, wie ich durch alle Ordnungen der Insecten und auch hei den Krebsen gezeigt habe, zwischen den Enden der Sebner-venfasern und der Hornhaut durchsichtige Kegel, ebenfalls radial gegen die innere Oberfl\u00e4che der Hornhaut gestellt, und durch ihre Basen mit der innern Fl\u00e4che der Hornhaut vereinigt, w\u00e4hrend die Spitzen der Kegel, die Enden der Sehnervenl'asern aufnehmen. Die L\u00e4nge der Kegel ist in den einzelnen Gattungen sehr verschieden, meist sind sie 5 \u2014 6 Mal so lang als breit, wie bei den inehrsten K\u00e4fern, Schmetterlingen, selten sind sie sehr kurz, so kaum l\u00e4nger als breit unter den Dipteren bei den Fliegen. Bei","page":307},{"file":"p0308.txt","language":"de","ocr_de":"308 V. Buch. Von den Sinnen. I. Ahschn. Vom Gesichtssinn.\nden Insecten und eigentlichen Krebsen im engem Sinne (Decapo-den) ist auch die Hornhaut musivisch abgctheilt, und jede kleine Abtheilung, Facette, entspricht einem durchsichtigen Kegel, mit welchem sie verbunden ist und einer Sehnervenfaser, die wieder den Kegel aufnimmt. Die Facetten der Hornhaut sind hei den Insecten sechseckig, hei den Krebsen selten, wo sie sich meist der viereckigen Form n\u00e4hern, obgleich die Theilungen hier nicht durch gerade Linien geschehen k\u00f6nnen, sondern auf der convexen Oberfl\u00e4che des Auges auch durch Curven bewirkt werden m\u00fcssen. Die Facetten sind selten auswendig und inwendig etwas erhaben oder linsenf\u00f6rmig, wie bei den Schmetterlingen, meist vielmehr ziemlich eben, und sogar bedeutend dick, wie hei den Orthopteren und K\u00e4fern, liei der Aehnlichkeit ihrer hintern und vordem Fl\u00e4che kann man von der Wirkung derselben auf das Licht im Allgemeinen wenig erwarten, wie sie denn auch hei einer grossen Zahl der Crustaceen, namentlich bei den Entomostraca nach meinen Beobachtungen g\u00e4nzlich fehlen, w\u00e4hrend doch die durchsichtigen Kegel hier ebenso gut vorhanden sind. In diesem Fall ist die Oberfl\u00e4che der Hornhaut, sowohl inwendig als auswendig, vollkommen glatt, und nur in diesem Falle sind auch die Basen der Kegel, welche sonst mit den Facetten der Hornhaut verbunden sind, abgerundet. Zwischen den durchsichtigen Kegeln und seihst zwischen den Fasern des Sehnerven liegt Pigment, bald dunkler, bald heller, schw\u00e4rzlich, violetschwarz, blauschwarz, pur-purroth, braun, braungelb, hellgelb, gr\u00fcn u. s. w. Zuweilen liegen selbst mehrere Schichten von verschiedenen Farben \u00fcbereinander. Zwischen den Kegeln steigt das Pigment bis zur Hornhaut herauf, und bedeckt selbst in einigen F\u00e4llen die vordere Fl\u00e4che oder Basis der Kegel bis auf eine mittlere, jedem Kegel eigene Pupille; die besonders dann deutlicher ist, wenn die Kegel sein-kurz sind, wie bei den Dipteren. In anderen F\u00e4llen sind die Basen der Kegel von Pigment ganz frei, und letzteres erreicht bloss die Theilungsstellen der Facetten. In den Augen der niederen Crustaceen, deren Hornhaut facettcnlos sind, stecken die kegelf\u00f6rmigen, durchsichtigen K\u00f6rper mit ihren Spitzen, und dem gr\u00f6ssten Theile ihrer L\u00e4nge im Pigmente, w\u00e4hrend ihre runden Enden daraus hervorsehen, und der innern Fl\u00e4che der vollkommen glatten Hornhaut zugewandt sind. Die Zahl der Facetten und Kegel ist \u00fcbrigens sehr verschieden, meist sehr gross, mehrere Tausende, in einem Auge bis zw\u00f6lf und zwanzig Tausend; selten sind sie wenig zahlreich, wie bei einigen Entomostraca. Die Verbindung der Sehnervenfasern mit den Kegeln ist noch n\u00e4her von B. Wasser untersucht. Bei den Insecten setzt sich die Faser scheidenf\u00f6rmig \u00fcber die Seiten der Kegel fort, da die Nervenfasern bei den h\u00f6heren Thieren aus R\u00f6hre und Inhalt bestehen, so kann man vermuthen, dass die R\u00f6hre vorzugsweise diese Scheide bilde. Siehe \u00fcber diesen Gegenstand Wieg. Arch. 1835. I. 372. und Muell. Arch. 1836. 613.\nEs wurde schon erw\u00e4hnt, dass die Augen vieler Crustaceen nach meinen Beobachtungen ohne Facetten der Hornhaut, und dass die Basen ihrer Kegel abgerundet sind. Ich stellte daher","page":308},{"file":"p0309.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom /tage als opt. IVerkzeug. Bau der Augen. 309\nschon vor l\u00e4ngerer Zeit zwei Ilauptmodificationen der zusammengesetzten Augen auf. Meck. Archiv 1829. Es giebt aber noch eine dritte Modification im Bau der zusammengesetzten Augen, welche von Edwards, Bubmeister und mir selbst bei mehreren Ernstacccn bemerkt wurde. Diess ist diejenige, wo ausser den kegelf\u00f6rmigen K\u00f6rpern, auch noch linsenf\u00f6rmige zwischen der Hornhaut und den Kegeln Vorkommen. Die Linsen m\u00fcssen die Lichtstrahlen, welche auf sie einl\u00e4llen, sammeln und den Achsen der Kegel zu werfen.\nEdwards beobachtete diess bei Callianassa, bei vielen Bra-ehiuren, namentlich bei Cancer maculates, ferner bei Amphitoe und mehreren Edrioph!hallmen. Hist. not., d. crustac\u00e9/s. I. Paris 1834. p. 116. Bei ilvperia sah ich hei Herrn Edwards und mit demselben in den Facetten der Hornhaut kleinere Linsen. Bran-ehiopus paludosus hat nach Burmeister\u2019s Beobachtungen auch Linsen mit gr\u00f6sserer L\u00e4ngsachse hinter den Facetten der Hornhaut und vor den Kegeln. Muell. Arch. 1835. 529. vergl. 1836. (AI. Einige von diesen Thieren, wie Amphitoe uiul mehrere Edrioph-thalmen, Hvperia und Branchiopus haben zwei Hornh\u00e4ute. Die \u00e4ussere ist glatt, die innere faeettirt oder gefenstert, so dass hinter den Fenstern die Linsen liegen, wie bei Branchiopus.\nMau kann darnach folgende Modificationen der zusammengesetzten Augen aufstellen.\n1)\tZusammengesetzte Augen mit facettirter Hornhaut und durchsichtigen Kegeln ohne Linsen. Insecten und die meisten Deca-poden unter den Krebsen.\na)\tmit einfachen Ilornhautfaeetten.\nh) mit stark linsenf\u00f6rmigen Hervorragungen an der innern Fl\u00e4che der Facetten, Meloe.\n2)\tZusammengesetzte Augen mit facettenloser glatter Hornhaut.\na)\tmit kegelf\u00f6rmigen, an ihrer Basis abgerundeten, durchsichtigen K\u00f6rpern ohne Linsen. Beobachtet bei Daphnia, Apus, Gammarus, Cyamus u. A.\nb)\tBasen der Kegel an die Hornhaut angewachsen, Limulus.\n3)\tZusammengesetzte Augen mit Linsen vor den kegelf\u00f6rmigen durchsichtigen K\u00f6rpern.\na) mit facettirter Hornhaut Callianassa, viele Brachiuren (Cancer maculatus).\nh) mit \u00e4usserer glatter, innerer facettirter Hornhaut Ainphi-l\u00b0e, mehrere Edriophthalmen, ITvperia.\nc)\tmit \u00e4usserer glatter, innerer gefensterter Hornhaut Branchiopus.\nAn die zusammengesetzten Augen mit Linsen und kegelf\u00f6rmigen Glask\u00f6rpern schliesst sich die vierte, bereits 1829 von mir aufgestellte Gattung von zusammengesetzten Augen.\n4)\tAggregate der einfachen Augen, wovon jedes einzelne die wesentlichen Theile der einfachen Augen, n\u00e4mlich Linse und kugeligen Glask\u00f6rper enth\u00e4lt. Mehrere Isopoden, wie Cymothoe und die vielf\u00fcssigcn Insecten Juins. Diese machen den Ucbcr-\u00f6ang von den Eigenschaften eines musivisch zusammengesetzten Auges ohne collective Linsen zu einem Sehorgan mit eollectiver Linse.","page":309},{"file":"p0310.txt","language":"de","ocr_de":"310 V. Buch. Von den Sinnen. I. Absehn. Vom Gesichtssinn.\nC. Einfache Augen der Insectcn, Spinnen, Crustaceen und Mollusken mit collcctiven dioptrischen Medien.\n(J. Mueller Physiologie des Gesichtssinnes 315. Ann. d. sc. nat. XVII 232. und Ann. d. sc. nat. XXII. Meckel\u2019s Archiv 1829. 38. 208.)\na. Einfache linsenhaluge Augen.\n1.\tSpinnen. Die Augen der Spinnen sind nach dem Princip tier Augen des Menschen und der Wirbelthierc gebaut. Hinter der Cornea befindet sieh eine kugelrunde Linse und hinter dieser ein Glask\u00f6rper. Die schwarze Cboroidea bildet um die Linse einen schwarzen Ring. Meistens besitzen die Spinnen mehrere von diesen Augen, der Scorpion z. B. hat 2 auf der Oberfl\u00e4che des Kopfes, und 6 kleinere am vordem Rande des Kopfes, hei Scorpio tteter (mus. entomol. Berol.) vom Cap und hei Sc. occi-tanus fand ich sogar 10 Augen am vordem Rande des Kopfes.\n2.\tCrustaceen. Bei den Crustaceen sind die Augen mit collcctiven dioptrischen Medien oder Linsen selten; wo sie Vorkommen, sind sic den musivisch zusammengesetzten Augen als Nebenorgane beigegeben. Man nennt sie hier zur Unterscheidung von den zusammengesetzten Augen, gew\u00f6hnlich einfache Augen. So hat Limulus polyphemus ausser den zusammengesetzten Augen 2 einfache.\n3.\tBei den Insecten erscheinen che einfachen linsenhaltigen Augen entweder allein, oder in Verbindung mit den musivisch zusammengesetzten. Im erstem Falle befinden sich mehrere Ap-tera, wie die Scolopender, welche 4 Augen auf jeder Seite des Kopfes haben, ferner die Poduren und parasitischen Aptera. Einfache Augen ohne zusammengesetzte haben auch die Larven der Rauhk\u00e4fer, 2 bei den Cicindelen und Allsten, 12 (C jederseits) hei den Larven der Wasserk\u00e4fer Dytiscns. Die Larven der Ilymenopte-ren sind meist blind, die Bienenlarven haben 2 einfache Augen. Die Larven der Schmetterlinge sind in der Regel mit mehreren einfachen Augen auf jeder Seite versehen. 2\u20143 einfache Augen mit Linsen neben musivisch zusammengesetzten Augen haben einige Insecten im vollkommenen Zustande, w ie die Orthopteren, die Ilemipteren, Neu-ropteren, Hymenopteren, die Abend- und Nachtschmetterlinge. Nach meinen Untersuchungen haben die einfachen Augen dieser Thiere denselben Bau, wie bei den Spinnen. Sie enthalten sicher eine runde Linse dicht hinter der convexen Hornhaut, und vielleicht eine dem Glask\u00f6rper zu vergleichende Substanz. Zuweilen sind diese Augen quer l\u00e4nglich, wie eines der Augen der Seolopendra morsitans. und 2 von den im kreisstehenden Augen jeder Kopfseite der Larven von Dytiscus marginalis; in diesem Falle ist auch die Linse in die Quere langgezogen.\nDie Bestimmung der einfachen Augen der Insecten ist wahrscheinlich das Sehen nur der n\u00e4chsten Objecte. Dicss l\u00e4sst sich the ils aus ihrem vorzugsweisen Vorkommen bei den Larven und fl\u00fcgellosen Insecten entnehmen, theils folgt es aus mehreren Be-","page":310},{"file":"p0311.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom Ange als opt. IVerkzeug.\nHau der Augen.\n-311\nobaclitungen, die ich \u00fcber die Lage der einfachen Augen angc-stellt habe. Bei der Gattung Empusa kann das mittlere, untere Auge beim Geben des Thiers, wegen der Verl\u00e4ngerung des Kopfes nur die allern\u00e4chsten Dinge sehen. Bei Locusta comuta liegt eben dasselbe unter der Verl\u00e4ngerung des Kopfes. Ebenso bei der Gattung TruXalis. Bei Gryllus vittatus Fahr, liegt das dritte einfache Auge unten \u00fcber dem Helm, ebenso bei den meisten Gryllen mit conischem Kopfe, z. B. bei Gryllus serrulatus, G. crenatus. Bei Gryllus lithoxylon Klug liegt das mittlere, einfache Auge ganz in einer Kinne zwischen den Antennen verborgen, so dass der Gesichtskreis desselben sehr nabe und klein seyn muss. Bei Acheta monstrosa stehen die einfachen Augen kaum bemerkbar an den Wurzclst\u00fccken der Antennen, fast in der Einlenkung derselben mit dem Kopfe. Wie denn \u00fcberhaupt bei der gesenkten Stellung des Kopfes, die einfachen Augen der Orthopteren mehr nach abw\u00e4rts und also gegen den Boden, auf welchem die Thiere laufen, gerichtet werden. Bei den meisten Hymenoptcren liegen dagegen die Augen mehr nach hinten, so bei Malaxis, Cim-bex, Tentbredo, Leucopsis, Sirex, Ichneumon, Chrysis, Lasius u. A. So viel glaube ich aus Vorhergehendem scbHessen zu k\u00f6nnen, dass die einfachen Augen der Inseeten mehr f\u00fcr das myopische Sehen berechnet sind. Zwischen den einfachen Augen und zusammengesetzten besteht ein \u00e4hnliches Verli\u00e4ltniss, wie zwischen den Palpen und Antennen. Die Antennen und zusammengesetzten Augen fehlen auch den Larven.\n4. Mollusken. Aebnlich gebaute Sehwerkzeuge, wie die einfachen Augen der Spinnen und Inseeten kommen auch vielen Mollusken zu, namentlich der ganzen Ordnung der Gasteropoden. Sie enthalten auch eine Linse und mehr oder weniger deutliche Spuren des Glask\u00f6rpers. Siebe J. Mueller Ann d. sc. mit. XXII. Diese Organe erscheinen dem blossen Auge als schwarze Punete, sic stehen entweder an der Extremit\u00e4t der F\u00fchlh\u00f6rner, oder in der Mitte derselben nach aussen auf einem Abs\u00e4tze, oder an der Basis derselben. Bei Helix stehen sie am Ende der grossen F\u00fchlh\u00f6rner etwas zur Seite. Sie sind im Allgemeinen wie das Auge der h\u00f6heren Thiere gebaut, haben eine becherf\u00f6rmige Choroidea, welche vorn einen G\u00fcrtel bildet, eine Linse und einen Glask\u00f6rper, wie schon Swammerdam wusste. Murex Tritonis besitzt wenigstens in seinem Auge den einen der brechenden K\u00f6rper, einen grossen rundlichen, durchsichtigen K\u00f6rper. Der Sehnerve der Schnecken wurde fr\u00fcher miskannt, man hatte daf\u00fcr den grossen Nerven des F\u00fchlhorns genommen, aber dieser Nerve ist der Gef\u00fchlsnerve des Tentakels; der Sehnerve ist sehr viel feiner, erscheint als Ast desselben, l\u00e4sst sich aber r\u00fcckw\u00e4rts gegen das Gehirn isoliren. D as Gesichtsorgan der Schnecken scheint nur auf die gr\u00f6sste N\u00e4he berechnet zu seyn. Denn Helix pomatia weicht keinem vorgehaltenen Gegenst\u00e4nde aus, wenn er nicht bis auf zwei bis 3 Linien dem F\u00fchlhorn gen\u00e4hert wird.\nDie Augen der Cephalopoden unter den Mollusken enthalten alle wesentlichen Tlieile des Sehorganes der h\u00f6herfti Thiere, selbst Iris und Corpus ciliare.\n.fuller\u2019s Physiologie. 2r lid. I!.\n21","page":311},{"file":"p0312.txt","language":"de","ocr_de":"312 V. Buch. Von den Sinnen. I. Ahschn. Vom Gesichtssinn.\nb. Aggregate der einfachen Augen.\nSo kann man die Sehorgane einiger Thiere nennen, welche aus der Aggregation einer grossem Anzahl von einfachen Augen zu einer Masse entstehen, in welchen aber jedes einzelne Auge die Struc-tur der einfachen Augen der Spinnen und Mollusken hat, oder nach dem Princip der Augen der h\u00f6heren Thiere gebildet ist. leb fand solche Augen hei einigen Insecten und Crustaccen ; unter den Insecten kommen sie bei den Julus vor, unter den Crustaceen bei einigen Asseln, z. B. Cymotboa. Man sicht bei diesen Thie\u2014 ren auf der Oberfl\u00e4che des Auges eine Anzahl Convexit\u00e4ten, welche den einzelnen Augen entsprechen. Gegen 40 Augen k\u00f6nnen zu einem solchen Aggregate vereinigt seyn. Hinter jeder con-vexen Cornea findet sich eine rundliche Linse, und hinter dieser ein rundlicher Glask\u00f6rper, welcher von der Retina und Choroidea umgeben ist. Die Aggregate der einfachen Augen bilden den Uebergang zu derjenigen Art der musivisch zusammengesetzten Augen, welche Linsen neben kegelf\u00f6rmigen K\u00f6rpern enthalten.\nD, Auge des Menschen und der Wirb eit hi e re.\nEs ist hier nicht der Ort, von der Structur der einzelnen Theile des Auges zu handeln, und in die allgemeine Anatomie des Auges einzugehen. Was hier mitgetheilt wird, betrifft nur die haupts\u00e4chlichsten, f\u00fcr die Optik selbst wichtigsten Structurver-h\u00e4ltnisse des Auges und die wesentlichtsen Unterschiede, welche das Auge in den verschiedenen Thierclassen darbietet.\nUmgehungen des Auges. Augenlieder. Die Augenlieder fehlen entweder ganz, und es gellt die Haut einfach \u00fcber das Auge weg, wie bei manchen Fischen und mehreren nackten Amphibien, z. B. den Proteideen und der Pipa, oder die Haut bildet Augenlieder, die entweder einfach oder doppelt sind, oder gar zu einem cir-kelf\u00f6rmigen G\u00fcrtel mit centraler Oeffnung sich verbinden, wie beim Chamaeleon. Zu den gew\u00f6hnlichen Augenliedern gesellt sich bei mehreren Thieren die Membrana nictitans, Nickhaut, die schon bei S\u00e4ugethieren spurweise angedeutet, bei den V\u00f6geln und beschuppten Amphibien in gr\u00f6sster Entwicklung erscheint, und unter den Fischen iii geringerer Ausbildung wieder bei mehreren Haifischen auftritt. Bei den \\\u00f6geln kann die durchscheinende Haut von der innern .Seite des Auges \u00fcber den vordem Umfang, verm\u00f6ge eines cigenth\u00fcmlichen vom Nervus abducens abh\u00e4ngigen Muskelapparates, her\u00fcbergezogen werden. Unter den Haifischen k\u00f6mmt sic den Gattungen Carcliarias und Galeus und mehreren anderen verwandten zu, fehlt dagegen bei den Gattungen Scyllium, Lamna, Selache, Alopecias, Notidanus, Spinax, Cen-trina, Scymnus und vielen anderen.\nEine verwandte Bildung ist eine brillenartige, durchsichtige Stelle im untern Augenliede einiger Eidechsen, wie mehrerer Seincoiden, welche \u00fcber das Auge weggezogen werden kann, und der Cornea entsprechend, das Sehen nicht hindert.","page":312},{"file":"p0313.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom /luge als upt. Werkzeug. Bau der Augen.\n313\nGanz cigenth\u00fcmlich ist hinwieder die unbewegliche Capsel vor dem Auge der Schlangen. Bei diesen Thieren werden die Augenlieder durch eine vor dem Auge liegende durchsichtige Capsel ersetzt, welche mit dem Rande rundum an der Haut angewachsen, und eine verd\u00fcnnte Fortsetzung der Haut ist. Sic besteht aus drei Lamellen; einer \u00e4ussersten, Fortsetzung der Epidermis, welche daher heim H\u00e4uten mit abgeworfen wird, einer mittlern, Fortsetzung der Cutis, und einer innersten, welche der Conjunctiva palpebrarum entspricht, und in die Conjunctiva bulbi oculi sich wie gew\u00f6hnlich umschl\u00e4gt. Zwischen dieser Capsel und dem vordem Umfang des Auges ist ein hohler Raum, in welchen die. Tbr\u00e4nen gelangen, die durch den Tbr\u00e4nengang wie gew\u00f6hnlich abfliessen k\u00f6nnen. Diese Bildung ist von Cloquet zuerst bei den Schlangen entdeckt, sie findet sich selbst bei den Schlangen, deren Augen von dicker Haut bedeckt sind, wie bei den Amphis-baenen u. A., und ich habe sie auch bei einem S\u00e4ugethiere Spalax typ h lus gefunden, dessen Augen von der dicken behaarten Haut bedeckt scheinen, unter welcher jedoch die Conjunctiva ein S\u00e4ckchen bildet. Unter den Eidechsen, welche sonst Augenlieder haben, zeigen, wie ich gefunden, die Geckonen die merkw\u00fcrdige Eigenth\u00fcmlichkeit, dass ihre Augen dieselbe durchsichtige Capsel, wie die Augen der Schlangen besitzen.\nDie Thr\u00e4nenwcrkzeuge fehlen den Cetaceen unter den S\u00e4uge-thieren, ferner den nackten Amphibien und den Fischen.\nAugenh\u00e4ute. Anlangend das Auge selbst, so zeigt die Sclerotica eine Tendenz zur Verknorpelung und Verkn\u00f6cherung bei vielen Thieren. Bei den V\u00f6geln,. Schildkr\u00f6ten, Eidechsen befindet sich in ihrem vordem Tbeil um die Cornea her ein Ring, von dachziegelf\u00f6rmig sich deckenden, oder auch nebeneinander liegenden Knochenbl\u00e4ttchen, und die Sclerotica der Fische enth\u00e4lt meist zwei grosse Knorpelschalen. Die Choroidea ist bei den Thieren in zwei Bl\u00e4tter, die eigentliche Choroidea und die innere Membrana Ruyschiana trennbar, bei den Fischen ist das \u00e4ussere Blatt meist silberfarben (argentert), das innere mit dem Pigment bedeckt. Zwischen beiden liegt hinten um die Eintrittsstelle des Sehnerven ein hufeisenf\u00f6rmiger blutreicher K\u00f6rper, die Glandula choroidalis. Der Orbiculus ciliaris beim Menschen und den S\u00e4ugethieren fibr\u00f6s, scheint bei den Y\u00f6'geln muscul\u00f6s. Die innere Fl\u00e4che der Choroidea wird bei allen Thieren von der Membrana pigmenti bedeckt, welche aus flachen, oft sechseckigen, die Pigmentk\u00fcgelchen enthaltenden Zellen zusammengesetzt wird. Bei den Kakerlaken oder Albinos fehlt in den Pigmentzellen das Pigment. Bei mehreren Thieren fehlt es regelm\u00e4ssig an gewissen Stellen des Auges, die entweder weiss oder metallgl\u00e4nzend erscheinen, Tapetum. Das Tapetum der wiederk\u00e4uenden Tbiere (im hintern \u00e4ussern Theil des Auges) hat zwar aucli die Zellen des Pigmentes, aber das Pigment fehlt darin. Diese metallgl\u00e4nzenden Farben scheinen durch die Structur der Choroidea, verm\u00f6ge der Interferenz, und nicht durch materielle Farbe erzeugt, und verschwinden daher beim Trocknen. Das ganz weisse Tapetum der reissenden Thiere, welches auf dem Grunde ihres Auges eine dreieckige,\n21 *","page":313},{"file":"p0314.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022\u2022{ I 1 V. Burk. Von <len Sinnen. 1. Ahschn. Vom Gesichtssinn.\nscharf begrenzte Figur bildet, vergebt dagegen beim Trocknen nicht und r\u00fchrt von einem eigenen Stofle her. Die Tapeten der Thicre reflectiren schon ein Minimum von Licht, was in das Auge fallt und sind daher die Ursache, dass die Augen jener Thierc (nicht im Dunkeln, aber) hei einem Minimum von Lichtschimmer, der in diese Augen fallt., leuchten. Siehe oben B. J. 3. Aufi. p. 97.\nDas Corpus ciliare kommt bei den Fischen (mit wenigen Ausnahmen) nicht mehr vor. Hier tritt ein sichelf\u00f6rmiger Fortsatz durch eine Spalte der Retina und heftet sich an den Rand der Linse fest, die zugleich durch das Kn\u00f6tchen, die Campanula Ilalleri in ihrer Lage erhalten wird. Die Iris ist hei den meisten Thieren beweglich, hei den Knochentischen wenig oder gar nicht. Beim Pferd, Narval, Lama und hei den Rochen hat die Iris am ob\u00e9ra Rande der Pupille einen schleierartigen Anhang. Die Pupille ist bald rund, bald querl\u00e4nglich, wie hei den Wiederk\u00e4uern, bald senkrechtl\u00e4nglich,' wie hei den Katzen und beim Crocodil, bald dreieckig, wie hei der Feuerkr\u00f6te u. A. Den V\u00f6geln ist der Kamm, Preten s. Marsupium eigen, ein mit Pigment versehener, pyramidaler, gardinenartig gefalteter Fortsatz, der urspr\u00fcnglich aus der Choroidea entspringend, vom Grande der Netzhaut ins Innere des Glask\u00f6rpers, gegen den Rand der Linse gerichtet ist. Fr sieht im hintern \u00e4ussern Theil des Auges und ist allen \\ \u00f6geln eigen. Die Eidechsen haben eine Spur von Poeten, und vielleicht geh\u00f6rt der Processus falciformis der Fische in dieselbe Reihe.\nDie durchsichtigen Thei/e des Auges. Der faserige Bau der Linse ist schon beschrieben B. I. 3. Aufl. p. 390. Die Felder in welchen die gezahnten Fasern angelegt sind, sind sehr verschieden in den verschiedenen Classen und Ordnungen. Siehe Brewster Phil. Transact. 1836. Chemisch besteht die Linse aus einer eiweissartigen, zugleich etwas eisenhaltigen Substanz. Ihre inneren Schichten sind immer fester als die \u00e4usseren, jene sind bei den Fischen von ausserordentlicher fast hornartiger Festigkeit. Bei den im W asser lebenden Thieren ist die Linse immer convexer, als hei den in der Luft lebenden, bei den Fischen ist sie kugelrund, bei den Sepien sogar l\u00e4nglich in der Richtung der Achse. Dagegen ist die Hornhaut der im Wasser leben-den Thierc viel flacher, als hei den in der Luft lebenden. Diesen Thieren w\u00fcrde eine convexe Hornhaut von keinem Nutzen sevn, indem die w\u00e4ssrige Feuchtigkeit durch Brechkraft sich wenig von dem \u00e4ussern Wasser, worin die Thierc leben, unterscheidet,'W\u00e4hrend die Brechung durch die Cornea und w\u00e4ssrige Feuchtigkeit bei den in der Luft lebenden Thieren sehr gross ist. Dagegen muss die Brechung hei den im Wasser lebenden Thieren, durch die st\u00e4rkere Convexit\u00e4t der Linse ersetzt werden. Die Linse der Fische ragt mit der vordem H\u00e4lfte durch die Pupille, in die. vordere Augenkammer.\nSehnerve und JS'ervenhaut. Die merkw\u00fcrdigsten Structurver-h\u00e4ltnisse zeigen sich bei den Thieren im Bau dieser Organtheile. Der Sehnerve besteht immer aus Primitivfasern, von \u00e4hnlicher Beschaffenheit als die des Gehirns, sie sind sehr fein, viel feiner","page":314},{"file":"p0315.txt","language":"de","ocr_de":"2. lorn Juge a/s opt. Werkzeug. Hau der Au\u00dfen.\nMD\naU die der anderen Nerven ; entweder zeigt nun der ganze Sehnerve eine bloss faserige Structur, wie bei dem Menschen, oder die Fasern ordnen sieb an gewissen Stellen, n\u00e4mlich am Cdiiasma zu Bl\u00e4ttern, so dass sieh die Bl\u00e4tter des einen Sehnerven, zwischen den Bl\u00e4ttern des andern durchschieben, wie hei den \\ \u00f6geln und Amphibien; oder endlich ist zuweilen der ganze Sehuervc in seinem Verlaufe vom Gehirn bis zum Auge membran\u00f6s, wie Malpighi beim Schwertfisch entdeckte, und bei den Fischen allgemein zu sevn scheint. Schneidet man die Scheide des Sehnerven auf, so erscheint der Sehnerve als eine, wie eine Gardine zusammengefaltete Haut mit freien B\u00e4ndern, und cs scheint, dass die Nervenhaut im Auge nur durch die Entfaltung dieser Membran entsteht. Siehe j. Mueller Physiologie des Gesichtssinnes, tab. 3 fig. 19. Damit stimmt dann vollkommen \u00fcberein, dass dicNervenhaut imAugc der Fische auch noch zwei freie B\u00e4nder hat, indem sie vom vordem Rande an bis in den Grund des Auges gespalten ist und klaflt.\nDann zieht die Verbindung der Sehnerven nach ihrem Urspr\u00fcnge die Aufmerksamkeit aut sich. Die formen, welche sich in dieser Hinsicht unterscheiden lassen sind folgende: 1) Die Bildung der Knochenfische. Hier sind beide Sehnerven nach ihrem Urspr\u00fcnge durch eine schm\u00e4h1, quere Commissur verbunden; dann gehen sic, ohne ein Chiasma zu bilden, kreuzweise und ohne Vermischung der Fasern \u00fcber einander weg, der rechte zum linken Auge, der linke zum rechten Auge. 2) Die Bildung der Knorpelfische. Die Kreuzung der Sehnerven, in der Art wie bei den Knochenfischen fehlt, und die Nerven sind durch eine Commissur innig verbunden, ohne dass die innere Struclur derselben bekannt w\u00e4re; diese Bildung n\u00e4hert sich sehr dem Chiasma der h\u00f6heren Thiere an. 3) Chiasma der Amphibien und A \u00f6gcl. Es gleicht \u00e4usserlich dein Chiasma der S\u00e4ugcthiere, aber der innere Bau ist bl\u00e4tterig, und es schieben sich die Bl\u00e4tter des einen Sehnerven, zwischen den Bl\u00e4ttern des andern kreuzweise durch, wie die sich kreuzenden Finger beider H\u00e4nde. Ob alle Fasern liier kreuzen, oder ein Tbeil derselben auf derselben Seite fortl\u00e4uft, ist hier noch unbekannt. 4) Chiasma der S\u00e4ugcthiere und des Menschen. Die bl\u00e4tterige Bildung fehlt. Die Fasern beider Sehnerven erleiden im Chiasma eine tbeilweise Kreuzung, theilweise lauten sie auf derselben Seile fort. Man erkennt diese Bildung bei den S\u00e4ugethieren noch deutlicher, als hei dem Menschen. Der \u00e4ussere, obere Thcil der Fasern einer Sehnervenwurzrl l\u00e4uft heim Pferde zum Auge derselben Seite fort, die \u00fcbrigen Fasern kreuzen und begeben sich zum Sehnerven des entgegengesetzten Auges. Siehe Physiologie des Gesichtssinnes iah. 2. fig. 4. 5.\nDer feinere Bau der Nervenhaut ist in der neuesten Zeit durch eine Entdeckung von Treviranus, und durch die \u00fcbereinstimmenden Beobachtungen von Gottsche erkannt worden. Ire-virakus Beitr\u00fcge zur Aufkl\u00e4rung des organischen Lebens. Bremen. Gottsche in Piafe\u2019s Mittheilungen aus dem Gebiete der Medicin 1836. Heft 3. 4. Das Wesentliche der Struclur der Nerven-haut ist folgendes. Sie bestellt aus drei Hauptschichten, ci~ wer \u00e4ussern breiartigen oder ptlaslerarligeii K\u00f6rnerschicht, ct-","page":315},{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316 V. Buch. Von den Sinnen. I. Ahschn. Vom Gesichtssinn.\nner mittlern Norvenfaserschich!, und einer innersten Cylinder-schicht, welche die Fortsetzung der Faserschicht ist. Der Sehnerve zertheilt sich in Nervencylinder, welche in die mittlere oder Faserschicht ausstrahlen. Jeder Nervencylinder oder jedes aus mehreren Cylindern bestehende B\u00fcndel hiegt nach Treviranus Entdeckung an einer gewissen Stelle des Verlaufes, von der horizontalen Richtung ah, und wendet sich nach der entgegengesetzten inwendigen Seite der Netzhaut, wo er als Papille endigt. Der Querdurchmesser der Cylinder war heim Igel 0,001 Mill., bei Kaninchen die Papillen 0,0033, hei V\u00f6geln 0,002 \u20140,004. Beim Frosch hatten die Cylinder 0,0044, die Papillen 0,0066. Frisch untersucht zeigt die Retina in allen Classen der Wirbelthiere auf ihrer inncrn Flache dichtgedr\u00e4ngte Cvlinderchen, deren Enden gegen das Innere des Auges sehen. Leicht l\u00f6sen sich diese Cy-iinderchen oder stabf\u00f6rmigen K\u00f6rperchen ab, und schwimmen dann hei mikroskopischer Untersuchung frei auf dem Sehfelde herum. Bei den Fischen sind die stabf\u00f6rmigen K\u00f6rper mit kleinen Anschwellungen oder Papillen versehen, welche Gottsciie genauer beschrieben hat. Die stabf\u00f6rmigen Enden der Nervencylinder, aut der innern Flache der Retina kann man nur in ganz frischem Zustande untersuchen. Diese Theilchen werden sehr schnell nach dem Tode ver\u00e4ndert, und mehrere Stunden nach dem Tode eines Thiers kann man, besonders in der Sommerszeit, nicht viel mehr vom Bau der Retina wiedererkennen, und man sieht dann, statt der stabf\u00f6rmigen K\u00f6rper, nur eine K\u00f6rnerschicht, welche bei den fr\u00fcheren Untersuchungen des Baues der Retina oft wahrgenommen werde. So gewiss sich die Schichten der Retina wiedererkennen lassen, und so deutlich die stabf\u00f6rmigen K\u00f6rper in der innern Schichte sind, welche von Volkmann und E. H. Weber, Gottsche, Ehrenberg und mir wiedergesehen wurden, so ist der eigentliche Zusammenhang der stabf\u00f6rmigen K\u00f6r-per und der Basera der Faserschicht, und das Wie dieses Zusammenhanges nicht klar. Namentlich fragt es sich, ob die Zahl der stabf\u00f6rmigen K\u00f6rper durchaus nur der Zahl der Nervenfasern entspricht, und ob wirklich jede Faser einem stabf\u00f6rmigen K\u00f6rper entspricht, oder ob die stabf\u00f6rmigen K\u00f6rper reihenweise auf die Fasern der Faserschicht aufgesetzt sind.\nII. Erkl\u00e4rung des Sehens aus dem Baue der Augen.\nDie Erkl\u00e4rung des Sehens ist verschieden, je nachdem a) das Auge musivisch aus radienartigen, durchsichtigen K\u00f6rpern oder Kegeln zusammengesetzt ist, deren W\u00e4nde mit Pigment bekleidet sind, und welche bloss das in der Achse einfallende Licht zu den am Ende der Kegel angef\u00fcgten Fasern des Sehnerven zulassen, wie bei den Insectcn und Crustaceen mit zusammengesetzten Augen, oder b) ob das Auge collective, dioptrische Medien besitzt, Hornhaut (mit oder ohne w\u00e4ssrige Feuchtigkeit), Linse und Glask\u00f6rper, wie die einfachen Augen der Inseclen, der Spinnen der Mollusken und der Wirbelthiere","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom Auge als opt. IVcrkzeug. Erkl\u00e4rung des Sehens. 317\nA. Vom Sehen der Augen der Insecten und Crustaceen, mit m u s i v i s c li zusammengesetzten und durch Pigment is o litten, di opt rischen Medien.\n(J. Mueller Physiologie des Gesichtssinnes. 315. Ann. d. sc. nat. XVII. 232.)\nDer Process des Sehens hei den Insecten und Crustaceen mit zusammengesetzten Augen ist um so interessanter, als er sich ganz von dein Vorg\u00e4nge des Sehens durch ein Auge, wie das menschliche unterscheidet, und uns einen tiefen Blick in die Natur des Sehens \u00fcberhaupt gew\u00e4hrt. Ich verweise in Hinsicht des Baues dieser Augen, auf das im vorigen Artikel Angegebene.\nDas Sehen der Insecten war, so lange man die durchsichtigen seitlich von Pigment bekleideten Kegel, zwischen Hornhaut und Sehnervenfasern vernachl\u00e4ssigte, oder die Sehnervenfasern bis zu den Facetten der Hornhaut gehen liess, v\u00f6llig r\u00e4thselhaft. W\u00fcrden die Sehnervenfasern bis zur Hornhaut gehen, so w\u00fcrde jedes vor dem Auge liegende Punct a, b, c, d Licht auf alle Sehnervenlasern zugleich werfen, d. h. a, b, c, d w\u00fcrden nicht unterschieden werden, sondern nur ein gewisser Eindruck aus allen Verschiedenheiten zur Empfindung kommen. Die Kegel lassen hingegen nur das Licht zu ihren entsprechenden Sehnervenfasern, was in ihrer Achse oder radial in Beziehung zum Auge einf\u00e4llt. Das auf die W\u00e4nde der Kegel fallende Lieht hingegen wird von dunkeln W\u00e4nden ahsorbirt. Auf diese Weise repr\u00e4sentirt jeder Kegel einen aliquoten Theil des Bildes, und das Bild wird mosaikartig aus so vielen Ehelichen zusammengesetzt als Kegel vorhanden sind, daher auch die Deutlichkeit des Bildes mit der Zahl der Kegel zunehmen muss.\nDeutlichkeit und Undeutlichkeit des Bildes. Die Deutlichkeit des Bildes, welches sich im Auge der Insecten und Krebse entwirft, h\u00e4ngt von ganz andern Ursachen ab, als bei dem Auge tier Thiere mit collective!! oder linsenartigen durchsichtigen Apparaten. Dort ist sie bedingt davon, dass die Nervenhaut sich in der richtigen Vereinigungsweite von der Linse befinde. Hier hingegen h\u00e4ngt sie bloss von der Gr\u00f6sse des Auges und der Zahl der Kegel oder Facetten ab, welche in die Theilung des Bildes eingeben. F\u00fcr ein Auge, worin 12000 solcher Lichtsonderungsapparate sich befinden, m\u00fcssen auch 12000 Ehelichen des Sehfeldes ohne Vermischung unterschieden werden k\u00f6nnen. Wo aber nur wenige solcher Organe sind, wird auch jeder Kegel und jede Facette einen viel gr\u00f6sseren Eheil des Sehfeldes zum gemischten Eindruck bringen. Denn alle Ehelichen eines Bildes, welche ihr Licht zu demselben Kegel und dessen Nervenfaser senden, werden jedesmal nicht von einander unterschieden werden k\u00f6nnen, sondern nur \u2022n einem gemeinsam gemischten Eindruck repr\u00e4sentirt werden. Ferner muss auch die L\u00e4nge der Kegel auf die Deutlichkeit des Gesichtes hei den Insecten und Krebsen Einlluss haben. Denn ]e l\u00e4nger die Kegel sind, um so mehr wird alles seitliche Licht ausgeschlossen und erreicht das Ende der Kegel, wo die Sehnet-","page":317},{"file":"p0318.txt","language":"de","ocr_de":"318 V. Buch. Von den Sinnen. I. Abschn. 'Vorn Gesichtssinn.\nvcnfuser, nicht, und um so mehr gelangt nur das in der Achse des Kegels einladende Licht zur Nervenfaser.\nSehen in der N\u00e4he und Ferne. Aus dieser Betrachtung ergieht sieh ein grosser Unterschied der zusammengesetzten Augen und der Augen mit Linsen in Hinsicht des Sehens in der N\u00e4he und Ferne. Die musivisch zusammengesetzten Augen sind gleich gut in die N\u00e4he und Ferne, und bed\u00fcrfen keiner innern Ver\u00e4nderung f\u00fcr das eine und andere; denn immer wird das als Punct bestimmt gesehen, was sein Licht durch die Achse eines Kegels wirft, mag es nahe oder ferne seyn. Allerdings muss nun die Menge von Einzelheiten, die sich nur als Punct darstellen, zunehmen mit der Entfernung des Gegenstandes, aber hier giebt es keine Zerstreuungskreise, nnd keine innere Ver\u00e4nderung-des Auges zur Verbesserung derselben ist noting. Beiden Thieren mit collectiv dioptrischen Medien h\u00e4ngt hingegen die Deutlichkeit des Bildes nicht bloss von der N\u00e4he ah, sondern auch von der richtigen Entfernung der Nervenhaut von der Linse oder von der Vereinigungsweite, und die Vereinigungsweite ist, wie oben erkl\u00e4rt wurde, eine verschiedene, je nach der grossem oder kleinern Entfernung des Gegenstandes vom Auge. Es sind also bei den Augen mit Linsen innere Ver\u00e4nderungen n\u00f6thig, wenn sie nicht bloss in einer bestimmten Entfernung deutlich sehen sollen.\nGr\u00f6sse des Sehfeldes. Die Gr\u00f6sse des Sehfeldes der Insecten l\u00e4sst sich mit der gr\u00f6ssten Genauigkeit aus der Form der Augen ableiten. Denn da immer bloss dasjenige gesehen wird, was in der Achse der Kegel oder in den Radien des Auges liegt, so bezeichnen die Achsen der Kegel, welche an den R\u00e4ndern des Auges stehen', verl\u00e4ngert gedacht, auch genau die Gr\u00f6sse des Sehfeldes eines Insectes oder Crustaceums. Mit andern Worten einen je grossem Theil v on einer Kugel das Auge eines Insectes ausmacht, um desto gr\u00f6sser ist das Gesichtsfeld des Thiers, je kleiner der Abschnitt von einer Kugel, um so kleiner das Sehfeld.\nEin Auge von Halbkugelgestalt AB repr\u00e4sentirt auch Alles, was vor ihm liegt von dem Radius A his zum Radius B. Ein Auge, welches nur den Kugelabschnitt CD darstellt, repr\u00e4sentirt auch nur, was zwischen den verl\u00e4ngerten Radien C und D vor ihm liegt, und das Sehfeld ist FF f\u00fcr den noch kleinern Kugelabschnitt FF. Da nun die Gr\u00f6sse desKugelabschni1t.es abnimmt, je flacher ein Auge ist, so kann jener Satz auch so ausgedr\u00fcckt werden, je flacher das Auge eines Insectes ist, um so kleiner ist sein Gesichtsfeld; je convexer es ist, um so gr\u00f6sser ist sein Gesichtsfeld. Das Auge einer Libelle hat zum Beispiel ein ausserordentlich grosses Gesichtsfeld, denn es betr\u00e4gt mehr als die H\u00e4lfte einer Kugel, es muss vorn und hinten, wie an den Seiten wohl sehen. Damit stimmen auch die Bewegungen dieser Thiere \u00fcber-","page":318},{"file":"p0319.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom Auge als opt. Werkzeug. Erkl\u00e4rung des Sehens. 319\n\u00ab\u25a0 in, welche selir rasch, sicher, schweifend, und oft pl\u00f6tzlich seitlich schwenkend sind. Die flachen Augen einiger Wasserwanzen, welche sicli kaum \u00fcber das Niveau des Kopfes erheben, und nur sehr kleine Abschnitte von einer Kugel darstellen, m\u00fcssen ein enges Sehfeld haben. Bei den Naucoris, Notonecta liegen diese flachen Augen vorn am Kopfe und wir d\u00fcrfen uns nicht wundern, dass die Bewegungen dieser Thiere im Wasser mit ihrem engen Sehfelde in Harmonie sind. Die Bewegungen dieser Thiere im Wasser sind best\u00e4ndig vor sieh hin stossend und nicht schweifend.\nEs ist leicht einzusehen, dass die absolute Gr\u00f6sse des Auges nicht den geringsten Einfluss auf die Gr\u00f6sse des Gesichtsfeldes hat. Ein Auge kann sehr klein seyn und kann doch ein sehr grosses Gesichtsfeld haben, wenn das kleine Auge viel von einer Kugel darstellt. Dagegen kann ein Auge gross seyn und doch sehr wenig Gesichtsfeld haben, w enn es flach ist und ein geringer Abschnitt einer Kugel ist.\nSehmnkel. Aus dem Vorhergehenden ergiebt sich zugleich, wovon die relative Gr\u00f6sse der Bilder zum ganzen Sehfelde eines Insectes abh\u00e4ngt. Die Grenzen des Bildes jedes K\u00f6rpers werden n\u00e4mlich bestimmt durch die Lichtstrahlen, welche von den Punc-ten cl\u00e9s Objectes durch die Achsen der Kegel des Auges einfallen. Denkt man ideal sieh diese Strahlen nach innen verl\u00e4ngert, bis da, wo sie sich treffen, so bildet der von ihnen eingeschlossene Winkel den Sehwinkel, Angulus opticus. Oder denkt man sich den Kreisabschnitt, welchen das Auge darstellt, zum Kreis verl\u00e4ngert, und wird dieser Kreis nach Graden, Minuten, Secunden eingetheilt, so dr\u00fcckt die Oberfl\u00e4che des Auges die Distanz der Puncte auf derselben in Winkelgraden aus. Da nun die relative Gr\u00f6sse der Gesichtobjecte, im Yerb\u00e4ltniss zum Objecte, immer von der Lage der Kegel abh\u00e4ngt, welche das Licht, der einzelnen Puncte durchlassen, so l\u00e4sst sich f\u00fcr jedes Object die Gr\u00f6sse des Sehwinkels nach der Distanz der Kegel, welche die Strahlen, die von seinen Grenzen kommen, durchlassen, in Graden, Minuten und Secunden angeben. Gegenst\u00e4nde verschiedener Entfernung, welche ihre Lichtstrahlen doch durch dieselben Kegel zum Auge werfen, haben nat\u00fcrlich gleich grosse Bilder, ihr Gesichtswinkel ist gleich. So erscheint in der Figur pag. 318. ein von der Linie C his E sich ausdehnender K\u00f6rper immer unter dem Sehwinkel x, und seine scheinbare Gr\u00f6sse verh\u00e4lt sich zum Sehfeld wie % zu 180\u00b0. Der kleinste Sehwinkcl unter welchem ein Insect noch etwas wird unterscheiden k\u00f6nnen, wird der seyn, der bloss durch die Achsen zweier nebeneinanderliegcnder Kegel eingeschlossen wird. Da nun viele tausende von Kegeln in einem Auge Vorkommen, so l\u00e4sst sich hiernach auch die Sch\u00e4rfe des Sehens hei diesen Thielen im Allgemeinen abnehmen.\nWenn man der bisherigen Auseinandersetzung gefolgt ist, so wird man einsehen, dass das Auge der Insecten und Krebse keiner Ver\u00e4nderung seines Baues bedarf, mag es zum Sehen in der Luft oder im Wasser bestimmt seyn; denn Alles bleibt sich gleich f\u00fcr das Sehen unter diesen verschiedenen Bedingungen. Auch finden sich zufolge meiner Beobachtungen durchaus keine Unterschiede","page":319},{"file":"p0320.txt","language":"de","ocr_de":"320 V. Buch. Von den Sinnen. I. Abschn. Vom Gesichtssinn.\nim Bau der Augen bei Luft- und Wasserinsecten. Bei den im Waster lebenden Thieren mit collectiven Linsen der Augen muss die Brechkraft der Linse st\u00e4rker seyn, als f\u00fcr das Leben in der Luft, weil der Unterschied der Dichtigkeit zwischen dem umgebenden Wasser und der Linse geringer ist, als zwischen Luft und Linse. Die Brechkraft der Augenmedien k\u00f6mmt aber bei den Insecten fast gar nicht in Betracht, und jeder Conus repr\u00e4sentirt sein ihm entgegengesetztes Object, mag es im Wasser oder in der Luft geschehen.\nDas vollkommenste Auge eines Insectes wird zuletzt dasjenige seyn, welches durch absolute Gr\u00f6sse des Auges, grosse Anzahl der Kegel und Facetten, und L\u00e4nge der Kegel deutlich sieht, und durch Gr\u00f6sse des Kugelabschnittes oder Convexit\u00e4t des Auges ein grosses Sehfeld hat.\nB. Vom Sehen der Augen mit collectiven di opt risch en Medien.\n{Schriften von Treviranus, Tourtual, Hueck, Yolkmahn.)\nBei dem zusammengesetzten Auge der Insecten und Crustaceen wird das Sehen von Objecten m\u00f6glich, dadurch dass von dem auf das ganze Auge auffallenden Lichtkegel jedes einzelnen Punctes, bloss der durch einen gewissen Radius des Auges einfallende Lichtstrahl in die Tiefe des Auges gelangt, das \u00fcbrige Licht aber ausgeschlossen wird. Bei dem Sehen durch collective Medien wird der von einem Puncte ausgehende Lichtkegel durch Brechung wieder in einen Punct, der sich auf der empfindenden Nervenhaut befindet, vereinigt. Die Brechung durch collective Medien ist aber am Auge des Menschen und der h\u00f6hern Thiere eine dreifache. Zuerst werden die Strahlen der von den Punclen /l und li und jedem andern Puncte ausgehenden Lichtkegel, durch die Hornhaut CG und die w\u00e4ssrige Feuchtigkeit zwischen dieser und der Linse gebrochen, d. h. dem mittlern oder Achsenstrahl zugelenkt; denn diese Medien brechen verm\u00f6ge ihres Unterschiedes der Dichtigkeit von der Luft und verm\u00f6ge ihrer Convexit\u00e4t. Zum zweiten Mal geschieht die\nBrechung durch die vordere convexe Fl\u00e4che der Linse EE, und die Strahlen der Lichtkegel werden den mittlern oder Achsenstrahlen noch mehr zugelenkt, wegen des Unterschiedes der Dichtigkeit der Linse und der w\u00e4ssrigen Feuchtigkeit und","page":320},{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom Auge als opt. Werkzeug. Erkl\u00e4ruug des Sehens. 321\nder ConvexItat der vordem Linsenfl\u00e4che. Zum dritten Mal werden die Strahlen des Kegels gebrochen hei dem Uebcrgang aus dem dichtem Medium der Linse in das d\u00fcnnere des Glask\u00f6rpers. Im vorhergehenden Capitel p. 284. wurde bewiesen, dass eine Linse die Strahlen des Kegels, sowohl beim Uebergang aus dem d\u00fcnnen Medium in die convexe vordere Fl\u00e4che des dichtem Mediums, als beim Austritt der Strahlen aus der convexen hintern Fl\u00e4che der Linse in das d\u00fcnnere Medium den Achsenstrahlen zulenkt. Daher werden die Strahlen der Lichtkegel von A und B bei b und a wieder zu Punctcn vereinigt, und befin let sich an dieser Stelle die Nervenhaut F des Auges, so werden A und \u00df bei h und a als vollkommen entsprechende Puncte empfunden. Bef\u00e4nde sicli aber die Nervenhaut nicht in a und h; sondern vor oder hinter dieser Stelle, z. B. in H oder G, so w\u00fcrden statt lichter Puncte, vielmehr lichte Zerstreuungskreise, f\u00fcr H die Zerstreuungskreise r und j, f\u00fcr G die Zerstreuungskreise e und o gesehen werden, denn in II sind die Lichtkegel noch nicht zu einem Puncte vereinigt und in G sind sie' es ebenso wenig, da sie nach ihrer Vereinigung in h und a wieder divergiren. Die Nervenbaut i muss sich also genau in der geh\u00f6rigen Vereinigungsweite von der Linse befinden, wenn ein scharfes Bild entstehen soll, d. h. wenn die von einem Puncte ausgehenden Strahlen, auch wieder in einem Puncte vereinigt werden sollen. Im vorigen Capitel wurde bewiesen, dass die Vereinigungsweite des Bildes ferner von der Linse f\u00e4llt, wenn der Gegenstand n\u00e4her ist, n\u00e4her der Linse zur\u00fcckt, wenn er ferner ist. Die Direction, welche die Strahlen verm\u00f6ge der Brechung nehmen, h\u00e4ngt \u00fcbrigens von dem mittlern Strahle der Lichtkegel ab, welchem die seitlichen Strahlen zuge-lenkt werden. Das Bild eines Punctes entwirft sich also immer m der Richtung der mittlern Strahlen oder Achsenstrahlen Ba und Ab. Allerdings erleidet auch der Achsenstrahl eines Lichtkegels, wenn er nicht durch die Achse der Linse selbst durchgeht, sondern schief auf die Cornea und Linse aulf\u00e4llt, Ablenkungen von seinem Wege. Sieht man von diesen ab, so wird die Stelle, wo sich ein Bild von einem Puncte auf der Netzhaut entwirft, durch die Verl\u00e4ngerung des Achsenstrahls, oder durch den durch die Mitte der Pupille des Auges durchgehenden Strahl bestimmt. Daher kann man der vorhergehenden Figur die beistehende substituiren.\nAb ist der Achsenstrahl des von A ausgehenden, Ba der aAchsenstrahl des von B ausgehenden Lichtkegels, das Bild b von A erscheint in b, das Bild von B in a, umgekehrt; was im Objecte oben war, erscheint unten, was im Objecte unten war, erscheint oben, und so das rechtseitige erscheint links, das linksseitige im Bilde rechts. Von dem bisher Er\u00f6rterten kann man sich durch einen Versuch an dem Auge eines Thiers \u00fcberzeugen. Wird dasselbe von oben vorsichtig ge-","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322 V. Buch. Von den Sinnen. 1. Ahschn. Vorn Gesichtssinn.\n\u00f6ffnet, so dass inan durch den Glask\u00f6rper auf die Nervenhaut sehen kann, so sieht man das Bild eines hellen Gegenstandes, z. B. des erleuchteten Fensters eines Zimmers, auf dem Grunde des Auges. Noch leichter geschieht diess, wenn man das leuk\u00e4thio-pische Auge eines Kaninchens, dessen Augenh\u00e4ute wegen Mangel des schwarzen Pigmentes durchscheinend sind, rein pr\u00e4parirt, mit der vordem Seite gegen ein lichtes Fenster h\u00e4lt, und die hintere durchscheinende Wand des Auges beobachtet. Bei diesem von Magendie angef\u00fchrten Versuche sieht man ein sehr reines Bildchen des Fensters auf dem Grunde des Auges und zwar Alles umgekehrt.\nDen von den kreuzenden Achsenstrahlen zweier Objeclspuncte eingeschlossenen Winkel x nennt man den Sehwinkel, Angulus opticus s. visorius. Dieser Winkel w\u00e4chst mit der Entfernung der Puncte A und B von einander und da x gleich y, so w\u00e4chst auch mit dem Sehwinkel x, die Entfernung der Puncte des Bildes a und b auf der Netzhaut. Gegenst\u00e4nde verschiedener Entfernungen, wel-\nO\t#\tO 7\nche gleiche Sehwinkel x haben, z. B. die Gegenst\u00e4nde c, d, \u00e9 m\u00fcssen auch gleich grosse Bilder auf der Nervenhaut cinnehmen, und wenn sic zu demselben Sehwinkel geh\u00f6ren, muss ihr Bild dieselbe Stelle der Netzhaut einnehmen.\nVorher wurden als Achsenstrahlen diejenigen angenommen, welche durch die Mitte des Sehlochs durchgehen, und also in die N\u00e4he des Mittelpunctes der Krystallinse fallen. Diese Annahme entspricht unless nicht genau der Wirklichkeit, d. h. eine vom Object durch die Mitte der Pupille durchgehende Linie trifft nicht genau das Netzhautbild. Denn auch die mittlern Strahlen eines Lichtkegels erleiden, wenn sie schief auf die Cornea und Linse auffallen, Ablenkungen durch die Brechung. Daraus folgt, dass der wirkliche Richtstrahl f\u00fcr den, von einem Puncte ausgehenden Lichtkegel erst durch Erfahrung und Berechnung gefunden werde, und dass das vom Sehwinkel bemerkte hiernach eine Modification erleidet. Es liegen also die Puncte des Bildes a und b nicht in der Fortsetzung von Bo und Ao. Nun entsteht noch die Frage, wie weit eine vom Object zum Nctzhautbikl gezogene gerade Linie von dem, durch die Mitte der Pupille, durchgehenden Achsenstrahl abweicht.\nAuf eine ausf\u00fchrlichere Er\u00f6rterung dieses Gegenstandes kann man hier nicht n\u00e4her eingehen, und nur das Resultat der dar\u00fcber angestellten Versuche anf\u00fchren. Volkmann hat dar\u00fcber dankens-werthe Beobachtungen geliefert, aus denen hervorgeht, dass es einen Punct im Auge gibt, in welchem Linien sich kreuzen, die von verschiedenen Objecten zu ihren Netzbautbildchcn gezogen werden, welche Linien er Richtungsstrahlen nennt, und dass der Punct, in welchem sich die Richtungsstrahlen f\u00fcr die Lichtstrahlen verschiedener Lichtkegel kreuzen, weder in der Mitte der Pupille, noch in der Mitte der Linse, sondern hinter der Linse liegt.\nDa die Ebene des Auges, auf welcher sich die Bilder formiren, concav ist und sich von der Mitte gegen ,die R\u00e4nder allm\u00e4hlig der Linse n\u00e4hert, so ergiebt sich, dass die Bilder seitlicher Gegenst\u00e4nde nicht so deutlich seyn k\u00f6nnen, als die Bilder mittlerer Gegen-","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom Auge als opt. JVerkzeug. Erkl\u00e4rung des Sehens. 323\nslande, in deren Vereinigungsweite sieh die Mitte der Nervenhaut befindet. Die Undeutlichkeit der seitlichen Bilder hat aber auch noch andere Gr\u00fcnde. Denn die Strahlen eines Lichtkegels von seitlichen Gegenst\u00e4nden vereinigen sich, wegen Ungleichheit der Brechung, nicht genau in demselben Puncte. Der Hauptgrund der zunehmenden Undeutlichkeit der Bilder von der Mitte der Netzhaut nach aussen, scheint aber in der Nervenhaut seihst zu liegen.\nDa die Lichtstrahlen, welche auf den Randtheil der Linse fallen, eine andere Brechung erleiden, als die mittlern oder Centralstrahlen, durch die Aberration wegen der Kugelgestalt (Siehe oben p. 289.), so war f\u00fcr den Zweck des deutlichen Sehens am \u00c4uge eine \u00e4hnliche Vorrichtung noting, wie an den optischen Instrumenten, n\u00e4mlich eine Bedeckung des Randtheils der Linse durch ein Diaphragma, die Iris, welche nur die Centralstrahlen durch ihre offene Mitte, die Pupille zul\u00e4sst. Das Diaphragma des Auges hat aber den Vortheil, dass es beweglich ist, sich erweitern und verengern kann. Indem sich die Pupille in der Dunkelheit iinil bei geringer Beleuchtung erweitert, kann wenigstens in Menge des Lichtes gewonnen werden, was an Sch\u00e4rfe des Bildes verloren geht. Auch kann das Bild der Randstrahlen hei sehr weiter Pupille unter Umst\u00e4nden scharf seyn, wenn das Bild der Centralstrahlen, weil es nicht in der Vereinigungsweite aufgefangen wird, undeutlich ist, oder gar nicht gesehen wird. Bei enger Pupille, richtiger Sehweite und heller Beleuchtung muss die Sch\u00e4rfe und Deutlichkeit des Bildes am gr\u00f6ssten seyn, weil die Lichtmenge in diesem Fall auch hei enger Pupille hinreicht, und die enge Pupille die Entstehung eines undeutlichen Bildes der Randstrahlcn von anderer Vereinigungsweite ausscbliesst.\nAnlangend die Beschaffenheit der Linse, so wird sie um so dichter und convexer seyn m\u00fcssen, je geringer der Unterschied der Dichtigkeit des Mediums, worin das Thier lebt, und der w\u00e4ssrigen Feuchtigkeit ist. Bei den Fischen ist die Linse kugelrund und die Hornhaut meist flach. Bei den in der Luft lebenden Thieren ist die Hornhaut convexer und die Linse flacher.\nDas Innere der Augenw\u00e4nde, hinter der Iris und dem Strahlenk\u00f6rper, und hinter der Nervenhaut seihst ist mit schwarzem Pigment ausgekleidet. Diese Einrichtung hat denselben Vortheil, wie die Auskleidung der optischen Instrumente auf ihren innern W\u00e4nden mit schwarzen Pigment. Dasselbe absorbirt die irgend re-flectirten Lichtstrahlen und macht, dass sie nicht zum zweiten Mal zum Grunde des Auges gelangend, die Deutlichkeit der Bilder st\u00f6ren. Diesen Zweck hat das Pigment an der hintern Fl\u00e4che der Iris und des Corpus ciliare. Aber auch die Auskleidung der hintern W and der Nervenhaut seihst mit dem Pigment der Choroidea ist \u25a0n dieser Hinsicht wichtig. Die Nervenhaut ist sehr durchscheinend, bef\u00e4nde sich hinter ihr eine, das Licht reflectirende, nicht dunkelgef\u00e4rbte Haut, so w\u00fcrden die Lichtstrahlen, welche die Nervenhaut selbst schon getroffen haben, durch die Nervenhaut wieder zur\u00fcck reflectirt werden, und auf andere Stellen dieser Membran fallen, wodurch nicht bloss Blendung durch Uebermass","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"324 V. Buch. Vun den Sinnen. I. Ahschn. Vom Gesichtssinn.\nvon Licht, sondern auch Tr\u00fcbung der Bilder entstehen w\u00fcrden. Die Thiere, hei welchen das Pigment der Clioroidea fehlt, und die Albinos unter den Menschen befinden sich in diesem Falle. Die Albinos, Leuco\u00e4thiopen oder Leucotiscben sind von dem Tageslichte leicht geblendet und sehen in der D\u00e4mmerung leichter.\nBei mehreren in der D\u00e4mmerung lebhaften und jagenden Thieren, die w\u00e4hrend des Tages tr\u00e4ger sind, kommen wohl auch die pigmentlosen oder vielmehr mit weissern Pigment bedeckten Stellen ihrer Choroidea in dieser Hinsicht in Betracht, wie bei den Katzen und anderen lichtscheuen Thieren.\nDie Sch\u00e4rfe oder Deutlichkeit des Bildes auf dem mittlern Theil der Netzhaut h\u00e4ngt von sehr Verschiedenem ab, 1) von der vollkommenen Vereinigung der von jedem Punctc kommenden Lichtstrahlen in einem entsprechenden Puncte der Netzhaut oder von der Vermeidung der Zerstreuungskreise, 2) von der hinl\u00e4nglichen St\u00e4rke der Beleuchtung, 3) von den kleinsten Theilchen der Nervenhaut, die einer Perception als von einander verschieden f\u00e4hig sind. Die erste Bedingung der Deutlichkeit, welche davon abh\u00e4ngt, dass sich die Nervenhaut genau in der Vereinigungsweite des Bildes befinde, begr\u00fcndet die Weite des deutlichen Sehens hei verschiedenen Menschen, welche bekanntlich bald kurzsichtig, bald fernsichtig sind, bald auch in dieser Beziehung keine enge Grenze haben, indem sich ihr Auge nach der verschiedenen Entfernung der Gegenst\u00e4nde und f\u00fcr die Vereinigungsweite des Bildes zu adjustiren vermag. Da jedoch das Verm\u00f6gen der inneren Ver\u00e4nderungen f\u00fcr das Sehen in verschiedenen Fernen seine Grenzen hat, so giebt es bei jedem Menschen eine Entfernung, in welcher er am deutlichsten sieht, und deren Vereinigungsweite des Bildes dem Stand seiner Nervenhaut von der Linse, und der Brechkraft seiner Augenmedien am meisten entspricht. Man kann diese Distantia visionis distinc-tae hei der Mehrzahl der Menschen zu 5 \u2014 10 Fuss anschlagen. Gegenst\u00e4nde die dem Auge zu nahe sind, werfen starke Zerstreuungskreise auf die Netzhaut, ein dicht vor das Auge gehaltener schmaler K\u00f6rper, eine Stecknadel wird daher gar nicht mehr oder nur als Schimmer gesellen, ln einer viel grossem Entfernung als 20 Zoll k\u00f6nnen wenige Menschen noch deutlich die Schrift unterscheiden. Doch bedingt die Brechkraft der Augenmedien hierin grosse Verschiedenheiten. Der Nahsichtige oder Myopische sieht nur das Allern\u00e4chste deutlich, das Ferne ganz unkenntlich, der Fernsichtige muss einen kleinen, schwer unterscheidbaren Gegenstand in eine gr\u00f6ssere Entfernung bringen, wenn er etwas davon sehen soll. Die zweite Bedingung der Deutlichkeit ist die hinreichende Menge des Lichtes, Debermass sowohl als Mangel an Licht bedingen Undeutlichkeit des Bildes. Endlich h\u00e4ngt die Sch\u00e4rfe der Empfindung von den kleinsten Theilchen der Netzhaut ah, welche einer gesonderten Perception als im Raum verschieden f\u00e4hig sind. Ein Beispiel hieftir liefern K\u00f6rper, welche abwechselnd sehr feine, weisse und schwarze Linien zeigen. Kupferstiche in einer solchen Entfernung angesehen, dass die Bilder der weissen und schwarzen Linien zugleich auf Netzhauttheilchen von einer gewissen Gr\u00f6sse fallen, lassen die Grenzen der weissen","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vorn Auge als opt. Werkzeug. Erkl\u00e4rung des Sehens. 325\nund schwarzen Linien nicht mehr erkennen, und bringen nur einen gemischten Eindruck des Grauen hervor, dasselbe gilt von verschieden farbigen, regelm\u00e4ssig abwechselnden, sehr feinen Linien, z. B. von blauer und gelber Farbe, diese bringen dann den gemischten Eindruck Gr\u00fcn hervor. Aus diesem Grunde erscheinen endlich alle Gemische von zwei verschiedenen FarbestolFen, nicht als Gemische, sondern als homogene Mittelfarbe. Es folgt also, dass es Minima in der Nervenhaut giebt, welche die auf sie fallenden Eindr\u00fccke zu Einem vermischen, und nicht mehr r\u00e4umlich unterscheiden, wenn sie im Bilde wirklich r\u00e4umlich verschieden sind. Es f\u00e4llt sogleich ein, dass dieses wahrscheinlich die papillenf\u00f6rmigen Endigungen oder stabf\u00f6rmigen K\u00f6rper der in-nern Netzhautschicht seyn werden, und cs l\u00e4sst sich vermuthen, dass verschiedene Strahlen, welche nebeneinander auf einen solchen kleinsten Theil der Nervenbaut fallen, nicht mehr als verschieden empfunden werden, dass vielmehr jede Papille nur einen einzigen mittlern Eindruck von allen Einfl\u00fcssen erhalten und fortpflanzen w\u00fcrde, die sie zu gleicher Zeit treffen. Auf diese Weise w\u00fcrde das Bild auch wieder wie eine Mosaik zusammengesetzt werden, wovon ein einzelnes Element in sich selbst homogen w\u00e4re. Die kleinsten Theile der Netzhaut stimmen nun mit den kleinsten empfindlichen Puncten der Netzhaut, in der That ziemlich \u00fcberein. Der kleinste Gesichtswinkel, unter welchem Viele zwei Puncte unterscheiden k\u00f6nnen, ist 40\u201d. Daraus berechnet Smith, dass ein kleinster empfindlicher Punct der Nervenhaut -g Zoll betr\u00fcge. Nach Tbeviranus Untersuchungen ist der Querdurchmesser der Netzhautpapillen beim Kaninchen 0,0033, bei V\u00f6geln 0,002 \u2014 0,004. 0,003 Mill, sind 0,00011 Zoll, 0,004 Mill, sind 0,00015 Zoll Engl. Der mittlere Durchmesser der Netzhaut-papillen zwischen 0,003 und 0,004 oder beil\u00e4ufig zwischen _ und\tZoll angenommen, so w\u00fcrde demnach der kleinste em-\npfindliche Netzhauttheil sch]1 genau mit dem kleinsten wirklichen Theil der Netzhaut \u00fcbereinstimmen. Auch E. H. Weber\u2019s \u00e4ltere Messungen der K\u00fcgelchen der Netzhaut des Menschen zu V\u00f6To bis g-j\u00f6 j I*. Z. stimmen damit sehr zusammen.\nNach anderen Bestimmungen w\u00fcrde indess keine Congruenz herauskommen, und Volkmann macht cs wahrscheinlich, dass die Unterscheidung durch die Nervenhaut feiner ist, als cs seyn k\u00f6nnte, wenn die Nervenfasern die letzten Elemente w\u00e4ren. Munckx nimmt 30 als kleinsten Gesichtswinkel an, Treviranus erkannte einen schwarzen Punct von 0,00833\" Durchmesser auf weissem Grunde bis in eine Entfernung von 48\", und Volkmann berechnet daraus den Durchmesser des kleinsten Netzhautbildchens zu 0,000000\". Diese Annahme sei noch zu gering, jedes nur mittelm\u00e4ssige Auge erkenne cm Haupthaar von 0,002\" Durchmesser in einer Entfernung von 30\", was ein Netzhautbildchen von 0,000023\" ergeben w\u00fcrde.\nBaer\u2019s Sch\u00fcler konnte ein Haar von ^ Linie St\u00e4rke in einer Entfernung von 28\" noch wahrnehmen, was nach Volkmann ein Netzhautbildchen von 0,0000014\" ergeben w\u00fcrde. Daher schliesst olkmann, dass ganz abgesehen von dem letzten ausserordentli-","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326 V. Buch. Von den Sinnen. I. Absclin. Vom Gesichtssinn.\nchen Falle, die kleinsten Nel/.hautbildehen kleiner sind, als dir kleinsten Elemente der Retina, deren Masse wir kennen.\nIII. Innere Ver\u00e4nderungen des Auges f\u00fcr das deutliche Sehen in verschiedenen Fernen.\nDass f\u00fcr das deutliche Sehen in verschiedenen Fernen Ver\u00e4nderungen des Auges n\u00f6thig sind, leuchtet -schon aus dem Vorhergehenden im Allgemeinen ein. Die Vereinigungsweite des Bildes ist f\u00fcr fernere Gegenst\u00e4nde der Linse etwas n\u00e4her, f\u00fcr n\u00e4here von der Linse etwas ferner. Wie viel der Unterschied in der Vereinigungsweite f\u00fcr das Sehen in die N\u00e4he und Ferne unter den Brechungsverh\u00e4ltnissen des Auges betrage, hat Olbers in seiner trefflichen Schrift de internis oculi mutationibus. 6V/'/. 1780. untersucht. Wir schicken zuerst Etwas davon voraus, damit man sich einen deutlichen Begriff von der Gr\u00f6sse der n\u00f6thigen Ver\u00e4nderungen mache, um welche es sich handelt. Zufolge seiner Berechnung w\u00fcrde die Entfernung des Bildes von der Cornea, f\u00fcr die beispielsweise genommenen Entfernungen des Gegenstandes von 4, 8, 27 Zoll und eine unendliche Entfernung des Gegenstandes folgende sevn.\nEntfernung des Gegensinn des.\tEntfernung des liil-des von der Cornea.\nunendliche 27 Zoll 8 \u2014 4 \u2014\t0,89.97 Zoll 0,9189 \u2014 0,9671 \u2014 1,0426 \u2014\nHieraus ergieht sich, dass f\u00fcr das deutliche Sehen in verschiedenen Fernen von 4 Zoll an bis in eine unendliche Entfernung nur ein Unterschied der Vereinigungsweite von 0,143 Zoll erfordert w\u00fcrde. Demnach w\u00fcrde, wenn die Cornea und Linse ihre Convexit\u00e4ten behalten, die Entfernung der Netzhaut von der Linse sich f\u00fcr alle Entfernungen des Objectes nur beil\u00e4ufig um 1 Linie zu ver\u00e4ndern brauchen, was entweder durch Verl\u00e4ngerung des Auges oder eine Ortsver\u00e4nderung der Linse bewirkt werden k\u00f6nnte. Nounc. nimmt die Ver\u00e4nderung zu -g- der Augenachse an.\nBegreiflicherweise k\u00f6nnte derselbe Zweck auch ohne Ver\u00e4nderung der Entfernung . der Linse und Netzhaut dadurch erreicht werden, dass entweder die Hornhaut oder die Linse ihreConvexi-t\u00e4t zu \u00e4ndern verm\u00f6gen.\nOlbers hat auch die Aenderung der Convexit\u00e4t der Hornhaut berechnet, welche f\u00fcr das deutliche Sehen in verschiedenen Entfernungen n\u00f6thig w'\u00e4re. Der Radius der Cornea f\u00fcr die beispielsweise gew\u00e4hlten Entfernungen der Objecte w\u00fcrde folgender sevn.","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom Auge als opt. TV,erkzeug. Innere Ver\u00e4nderungen. 327\nEntfernung des Objectes.\tRadius der Hornhaut.\nunendlich 27 Zoll 20 \u2014 5 \u2014\t0,333 Zoll 0,321 \u2014 0,303 \u2014-0,273 \u2014\nW\u00fcrde sieh der Radius der Cornea auch nur von 0,333 bis 0,300 Zoll \u00e4ndern k\u00f6nnen, die L\u00e4nge des Auges aber um eine halbe Linie wachsen k\u00f6nnen, so k\u00f6nnte das deutliche Sehen in allen Entfernungen, die \u00fcber 4 Zoll hinausreichen, stattfinden. Diese Resultate k\u00f6nnen als Easis der folgenden Untersuchung dienen.\nEs scheint gewiss, dass wenn das Sehen in verschiedenen Entfernungen gleich scharf seyn soll, solche Ver\u00e4nderungen im Innern des Auges durchaus n\u00f6tliig sind. Aller Einige haben diess Verm\u00f6gen der inneren Ver\u00e4nderung des Auges \u00fcberhaupt ab ge-, stritten, wie unter den \u00e4lteren De La Hike- und Halles, unter den neueren Magendie, Simonoff (./. d. physiol. 4. 260.) und Treviranus (Beitr\u00e4ge zur Anal. u. Physiol, der Sinneswerkzeuge. 1S2S. und Beitr\u00e4ge zur Aufkl\u00e4rung der Erscheinungen und Gesetze des organischen Lehens. 1 \u20143 Heft.)-, w\u00e4hrend hingegen die Mehrzahl der Physiker und Physiologen die Wirklichkeit der innern Ver\u00e4nderungen des Auges aus Thatsachen f\u00fcr erwiesen h\u00e4lt. Magendie beruft sich darauf, dass das Bild im Auge des Kaninchens an Deutlichkeit nicht verliere, wenn auch der Gegenstand seine Entfernung ver\u00e4ndere, was nicht f\u00fcr alle F\u00e4lle richtig ist. G. R. Treviranus ist durch Berechnung der Wirkungen von Linsen von zunehmender Dichtigkeit nach innen zu einem Resultate gelangt, nach welchem hei diesem Baue die Vereinigungsweite selbst f\u00fcr verschiedene Entfernungen der Gegenst\u00e4nde gleich bleiben w\u00fcrde, so dass dann innere Ver\u00e4nderungen f\u00fcr das Sehen in verschiedenen Fernen unn\u00f6thig w\u00fcrden.\nBei aller Anerkennung einer so eleganten mathematisch-optischen Behandlung dieses Thema\u2019s lassen sich doch die Resultate von Treviranus Berechnung mit der Erfahrung am Auge seihst nicht vereinigen. Kohlrausch hat \u00fcberdiess die Richtigkeit der Deduction bestritten. Ueher Treviranus Hypothese 1837. Vielmehr l\u00e4sst sich die Wirklichkeit der inneren Ver\u00e4nderungen des Auges f\u00fcr das deutliche Sehen in verschiedenen Fernen, durch einfache und genaue Versuche unbestreitbar beweisen.\nEs sind folgende:\n1) Der Accomodations-Zustand des Auges erleidet oft in kurzer Zeit grosse Ver\u00e4nderungen. Nicht bloss erzeugt best\u00e4ndiges Sehen naher Gegenst\u00e4nde hei Kindern Kurzsichtigkeit, oft entsteht dieser Zustand vor\u00fcbergehend f\u00fcr mehrere Stunden, wenn man lange Zeit durch das Mikroskop gesehen hat. Man unterscheidet dann auf der Strasse zuweilen auf 20 Fuss unsicher, wenn man auch sonst ein sehr gutes Gesicht in die N\u00e4he und Ferne hat. Mir Muller\u2019s Physiologie. 2r Bd, IT.\t22","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328 V. Buch. Von den Sinnen. I. Abschn. Vom Gesichtssinn.\nist diess oft geschehen. Dieser Zustand dauert zuweilen mehrere Stunden an.\n2) Yisirt man mit nur einem offenen Auge die sich deckenden Enden in verschiedener Entfernung aufgestellter Nadeln, so erscheint die erste deutlich, wenn die zweite nebelig erscheint, und die zweite deutlich, wenn die erste undeutlich gesehen wird. Beide Bilder liegen in der Achse und decken sich, und doch b\u00e4ngt es von einer willk\u00fckrlichen, im Auge f\u00fchlbaren Anstrengung ab, das erste oder das zweite deutlich zu sehen. Wenn ich also hei kleiner Pupille, wie sie f\u00fcr den nahen Gegenstand ist, diesen fixire, und die Vereinigungsweite seines deutlichen Bildes im Mit-telpunct der Netzhaut ist, so bildet der fernere Gegenstand mit den durch die enge Pupille fallenden Centralstrahlen doch einen Zerstreuungskreis um den Mittelpunct der Netzhaut, d. h. diese Centralstrahlen des fernen Gegenstandes haben ihre Vereinigungsweite nicht in der Entfernung der Netzhaut, sondern davor. Jahrb. f. ivissensch. Kritik. 1829. Oct. 623. Der Versuch kann auch so angestellt werden, dass man den Kopf einer Nadel durch die enge Oeffuung eines Kartenblattes visirt. Es h\u00e4ngt von der Willk\u00fchr ab, den Band der Oeffnung deutlich zu sehen, wobei der Nadelkopf undeutlich wird, oder diesen deutlich zu sehen, wobei dann der Rand der Karten\u00f6ffnung undeutlich wird. Treviranus hat diesen Erscheinungen nicht die geh\u00f6rige Aufmerksamkeit gewidmet, und seine Erkl\u00e4rung, dass, die Erscheinung von der Versetzung der Nerventli\u00e4tigkeit auf andere Puncte abzuleiten sei, ist vollends ungen\u00fcgend. Die beiden Bilder fallen auf denselben Punet der Netzhaut, eine Nadel deckt die andere und doch sehe ich die erstere durch den Zerstreuungskreis der zweiten und die zweite durch den Zerstreuungskreis der erstem. Um Versetzung der Aufmerksamkeit auf andere Puncte der Retina kann es sich also nicht handeln. Ich sehe ein ganzes Blatt mit Lettern undeutlich, sobald ich die Ver\u00e4nderung im Innern des Auges f\u00fcr eine andere Entfernung mache; hier ist gar kein Gegenstand des deutlichen Sehens vorhanden, d. h. die Ver\u00e4nderung ist f\u00fcr eine solche N\u00e4he oder Ferne, in welcher gerade kein Gegenstand da ist oder, gesehen werden kann. Vergl. Volrmann und Kohlrausch a. a. 0.\n3. Scheiner's Versuch. Scheiner oculus sioe fundamentum op-ticum. Werden in ein Kartenblatt mittelst einer Stecknadel zwei Oeffnungen, gemacht, die einander n\u00e4her sind als der Durchmesser der Pupille gross ist, und wird durch diese vor ein Auge gehaltenen\nI) E","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vorn luge als opt. Werkzeug. Innere Ver\u00e4nderungen. 329\nOeffnuiigeo ein kleiner Gegenstand \u00ab angesehen, so erscheint dieser nur in einer bestimmten Entfernung einfach, in jeder andern aber doppelt. So erscheint er, wenn A und B die Ordnungen des Karten blattes, einfach als o, wenn in E die Netzhaut ist. Et aber die Entfernung von a gr\u00f6sser und I) die Netzhaut, so dass das Bild nicht mehr auf die Netzhaut, sondern vor dieselbe in o fallt, so kreuzen sich die Strahlen hinter o, und auf die Netzhaut El fallt das Doppelbild a \u00ab , wovon das untere a\" verschwindet, wenn die entgegengesetzte oder obere Karten\u00f6ffnung /l verschlossen wird und umgekehrt. Desgleichen wenn die Entfernung von a zu klein ist. Denn dann fallt das Bild hinter die Netzhaut F in o und es erscheinen auf der Netzhaut F die Doppelbilder da , wovon das untere Bild d verschwindet, wenn die Karten\u00f6ffnring derselben Seite \u00df geschlossen wird.\nDie Conscquenzen dieses Versuchs haben ferner Porter-field, \\oung (P/ii/os. frans. 180:1.), Purkinje, Plateau, Volkmann erl\u00e4utert, und der letztere denselben mannigfach variirf. Der V ersuch von Schein er beweist offenbar die Nothwendig-keit der inneren Ver\u00e4nderungen f\u00fcr das deutliche Sehen und die Unrichtigkeit der Hypothese von Treviranus, indem er zeigt, dass das Bild unter gew issen Umst\u00e4nden vor oder hinter die Netzhaut f\u00e4llt. Hielier geh\u00f6rt auch ein V ersuch von Beudant und Crahay. Wird eine Stecknadel in einer Entfernung von 5 \u2014 6 Centimeter vom Auge durch ein Nadelloch in einem Kartenblatt gesehen und das Kartenblatt hin und her bewegt, so bewegt sich die Nadel scheinbar auch, in umgekehrter Richtung. Die Erkl\u00e4rung ergiebt sich aus den Erscheinungen des undeutlichen Sehens, wenn das Bild vor oder hinter die Netzhaut f\u00e4llt. Im ersten Falle z. B. divergiren die Strahlen von dem Vereinigungspuncte wieder und es entwirft sich ein Zerstreuungskreis auf der Netzhaut. In-tercipirt die Karte bei ihrer Bewegung einen Theil der Strahlen, so kommen nur die kreuzenden Strahlen der einen Seite zur Netzhaut. Daher die scheinbare Verr\u00fcckung des Bildes. Bei diesen Phaenomenen k\u00f6mmt \u00fcbrigens auch die Diffraction am Rande der Karten\u00f6ffnung in Betracht.\nDie Ursachen der Accomodation des Auges f\u00fcr das deutliche Sehen in verschiedenen Fernen k\u00f6nnen in sehr verschiedenen Theilen gesucht werden: in den Bewegungen der Iris, in der Verr\u00fcckung der Linse, in der Verl\u00e4ngerung der Achse des Auges, in der Ver\u00e4nderung der Convcxit\u00e4t der Hornhaut oder der Linse. Eine Zusammenstellung aller liieher geh\u00f6renden Hypothesen haben Haller eiern, physiol. T. V. L. XVI. Sert. 4. \u00a7. 20., Ol-bers a. a. O. und Treviranus in seiner Biologie. 6. 512. gegeben, auf welche ich hier verweise.\n1.\tTn den Bewegungen der Iris suchten u. A. Mile und Pouillet die Ursache, der erste rechnete auf die Beugung oder Diffraction des Lichtes am Rande der Iris, wodurch sehr verschiedene Vereinigungsweiten f\u00fcr die respectiven Strahlen entstehen, der zweite auf das Sehen durch die Randslralden oder Centralstrahlen hei verschiedener Weite der Pupille.\n2.\tln der Verl\u00e4ngerung uncl Verk\u00fcrzung der Achse der Linse\n22 *","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330 V. Buch. Von den Sinnen. I. Abschn. Vorn Gesichtssinn.\nsuchte Young jenes Verm\u00f6gen. Hunter und Young schrieben der Linse eine ihr selbst eigene Contractilitiit zu. Phil. Transact. 17.94.\n3.\tVer\u00e4nderung der Couvexit\u00e4t der Hornhaut nahm Home mit Englefield und Ramsden an; sie kann entweder durch die Wirkung der Augenmuskeln nach Home, oder hei V\u00f6geln durch den von Cramfton am Orbiculus eiliaris gefundenen eigenen Muskel bewirkt werden.\n4.\tDie Ortsbewegung der Linse durch die Ciliarforts\u00e4tze oder die Zonula sahen Kepler, Scheiner, Porterfield, Camper und viele Andere als Ursache an.\n5.\tEndlich suchten Viele die Ursache der innern Ver\u00e4nderung in der Wirkung der Augenmuskeln auf die Gestalt des Auges, als Rohault, Bayle, Olbers, Home, Sciiroeder van d.er Kolk, sei es dass man die Gestaltsver\u00e4nderung des Auges von den geraden, oder von den schiefen Augenmuskeln abh\u00e4ngig machte.\nWas zun\u00e4chst die Iris und Pupille betrifft, so steht die Bewegung der Iris in einem unleugbaren Zusammenh\u00e4nge mit dem Accomodationsvcrm\u00f6gen des Auges. Denn heim Sehen in die Ferne ist die Iris weit, heim Sehen in die N\u00e4he eng, und man kann trotz eines starken Lichteindruckes, z. B. hei einer vor das Auge gehaltenen Lampe, doch die Weite der Pupille sehr ver\u00e4ndern, wenn man in die Ferne oder N\u00e4he siebt, indem man die Achsen der Augen bald convergirend auf einen n\u00e4hern Gegenstand, bald mehr parallel auf einen sehr fernen Gegenstand richtet. In-dess sind diese Ver\u00e4nderungen der Iris nur von der Bewegung der Augen durch die Augenmuskeln und durch den Einfluss des Nervus oculomotorius auf das Ganglion ciliare und die Irisnerven abh\u00e4ngig. Es sind Mitbewegungen, denn die Zusammenziehung der Iris tritt jedes Mal ein, wenn man auch nur das eine Auge (bei geschlossenem andern), nach innen oder nach innen und oben dreht, und ist insofern als Mitbewegung durchaus an die willk\u00fchrliche Bewegung mehrerer vom Nervus oculomotorius abh\u00e4ngiger Augenmuskeln gekn\u00fcpft. Man kann daher keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Bewegung der Iris und dem Accomodationsverm\u00f6gcn in jenen Erscheinungen anerkennen. Es fragt sich aber, in wieweit das deutliche Sehen in verschiedenen Fernen aus den Bewegungen der Pupille erkl\u00e4rt werden k\u00f6nne.\na) Die Erkl\u00e4rung des deutlichen Sehens in verschiedenen Fe men aus den Bewegungen der Iris und aus der Beugung , des Lichtes am Rande der Iris durch Mile ist folgende. Magendie\n./. d. physiol. VI. p. 166. Ist a ein Punct eines Objectes, weicher seine Centralstrahlen nicht mehr auf der Nervenhaut seihst, sondern vor derselben zur Vereinigung br\u00e4chte, und also durch seine Centralstrahlen nicht deutlich gesehen werden k\u00f6nnte, so w\u00fcrden dagegen die am Rande der Iris vorbeigehenden Strahlen aA und","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vorn Auge ah opt. Werkzeug. Innere Ver\u00e4nderungen. 331\nab ihre Vereinigung auf der Netzhaut linden. Denn am Rande der Iris findet Beugung der Lichtstrahlen statt und diese werden, statt in der Richtung Aa und Bo, vielmehr in der Richtung Ay und By fortgeh en und sich in y auf der Retina vereinigen. Der Rand der Iris verl\u00e4ngere daher die Stelle, in welcher die Strahlen zur Vereinigung in einem Puncto kommen, \u00fcber die Vereinigungsweite der Censtralstrahlen hinaus, und da die Beugung gegen den Rand der Iris zunimmt, so vereinigen sich die Strahlen immer weiter hinter der Linse, je n\u00e4her dem Rande der Iris sic durchgehen. Die Vereinigungsweite der Censtralstrahlen und Randstrahlen sei daher keine bestimmte Entfernung von der Linse, sondern f\u00e4nde in einiger L\u00e4nge von der Linse ah statt, daher das Auge durch die am Rande der Iris gebeugten Strahlen Etwas noch deutlich sehe, was durch die \u00fcbrigen Strahlen nicht mehr deutlich gesehen werden k\u00f6nne. Der Fehler dieser Theorie besteht, wie Treviranus und Volkmann zeigen, darin, dass nach derselben nur die wenigen Strahlen zum Bilde benutzt werden, welche am Rande der Iris durchgehen, w\u00e4hrend sie die gr\u00f6ssere Masse des Lichtes vernachl\u00e4ssigt, dass sie ebenso die anderweitigen Vereinigungen der Strahlen, wie z. B. in x und z vernachl\u00e4ssigt.\nb) Pouillet\u2019s Erkl\u00e4rung beruht nicht auf der Beugung des Lichtes am Rande der Iris, sondern auf dem Unterschiede der Vereinigungsweite der Centralstrahlen und Randstrahlen, wovon die ersteren durch den mittlern Theil der Linse aus dichteren Schichten, die Randstrahlen nur durch den \u00e4ussern aus d\u00fcnnem Schichten bestehenden Theil der Linse durchgehen. Die auf den Cen-traltheil der Linse fallenden Strahlen sollen n\u00e4mlich fr\u00fcher ah die gegen den Rand der Linse fallenden Strahlen zur Vereinigung kommen. Da sich nun die Pupille beim Sehen in die Ferne erweitere, beim Sehen in die N\u00e4he verengere, so w\u00fcrden beim Sehen in die N\u00e4he die Randstrahlen ahgehalten, und bloss die Cen-slralstrahlen zur Vereinigung gebracht, dag Sehen in die Ferne linde dagegen mit den Randstrahlen statt, deren Vereinigungsweite nun mit der Entfernung der Netzhaut von der Linse \u00fcbcrcinstimmt, insofern die Vereinigungsweite f\u00fcr ferne Objecte n\u00e4her ist, als f\u00fcr nahe Objecte. Dagegen bilden bei weiter Pupille und fernem Gegenst\u00e4nde, die sich jetzt vor der Netzhaut vereinigenden Censtralstrahlen Zerstreuungskreise, die nach Douillet unbeachtet bleiben, wegen der Intensit\u00e4t des Bildes der zur Vereinigung kommenden Randstrahlen. Die fr\u00fcher angef\u00fchrten Facta \u00fcber das Visiren zweier hintereinander aufgesteckter Nadeln, oder anderer sieh deckender K\u00f6rper verschiedener Entfernung, widersprechen dieser Theorie durchaus. Visirt man mit nur einem offenem Auge die sich deckenden Enden in verschiedener Entfernung aufgestellter Nadeln, so erscheint die erste deutlich, wenn die zweite nebelig gesehen wird, und die zweite deutlich, wenn die erste undeutlich erscheint. Bei kleiner Pupille f\u00fcr den nahen Gegenstand bildet also der fernere Gegenstand, mit den durch die enge Pupille fallenden Centralstrahlen, doch einen Zerstreuungskreis, indem sich diese Centralstrahlen des fernen Gegenstandes vor der Aetz haut vereinigen. Daraus folgt gegen die Theorie von","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332 V. Buch. Von den Sinnen. I. Abschn. Vom Gesichtssinn. \u2022\nPouiLLET, dass wenn der fernere Gegenstand' lixirt und mit eiuer weitern Pupille gesehen wird, die Centralstrahlen bei aller Rein-beit des von den Randstrahlen erzeugten Bildes nicht verloren gehen k\u00f6nnen, und wenn sie nicht verloren geben, so muss die Ursache des deutlichen Sehens in verschiedenen Fernen nicht die von Pouillkt angegebene seyn.\nc) Diese Bemerkung gilt auch gegen Tretirahus Ansicht, in dessen Theorie, ausser der verschiedenen Dichtigkeit der Linse, auch die Ver\u00e4nderung der Pupille ein Element ist. Zufolge seiner Berechnungen sollte eine Liirse dann im Stande seyn, Lichtstrahlen von Objecten der verschiedensten Entfernung punetf\u00f6rmig zu vereinigen, weiln die Pupille nach einem n\u00e4her von ihm angegebenen Gesetz, das Verh\u00e4ltniss der Randstrahlen zu den Centralstrahlen modifient.\nGegen alle Hypothesen, welche das Accomodations verm\u00f6gen direct von der Bewegung der Iris ableiten, l\u00e4sst sich endlich mit Volkmars anf\u00fchren, dass wenn die Ver\u00e4nderung der Pupille das einzige ll\u00fclfsmittel der Accomodation w\u00e4re, jede Ver\u00e4nderung der Pupille durch das Licht auch eine Ver\u00e4nderung im Accomo-dationszustande hervorbringen m\u00fcsste, was nicht der Fall ist. Auch das deutlich sehen eines Gegenstandes durch eine k\u00fcnstliche Pupille von Kartenpapier und das fortbestehende Verm\u00f6gen, von zwei hintereinander stehenden visirten Nadeln die erste oder zweite nach Willk\u00fchr deutlich zu sehen, beweist klar genug, dass die letzte Ursache der Accomodation nicht in Ver\u00e4nderung der Gr\u00f6sse der Pupille lieg!, und dass, wenn sich die Pupille nach der Entfernung Ver\u00e4ndert, diess mittelbar von etwas Anderem abh\u00e4ngig seyn muss. Sehe ich durch eine punctl\u00f6rmige Oeffnung eines Blattes, das dicht vor die Cornea gehalten wird, auf die Lettern eines 15 Zoll entfernten Buchs, so h\u00e4ngt es hei dieser stabilen Pupille von meinem Willen ah, unter Anstrengung des Auges deutlich oder undeutlich zu sehen.\nWas die Hypothese von der Ver\u00e4nderung der Convexit\u00e4t der Hornhaut betrifft, so scheint sie bereits aus den von Olbebs gelieferten Thatsacben widerlegt'; denn Armierungen im Radius der Hornhaut von 0,273Zoll bis 0,333 Zoll sind an der Hornhaut durch Zusammendr\u00fcckung des Auges, verm\u00f6ge der Augenmuskeln nicht m\u00f6glich. Home und Ramsden wollen zwar solche Ver\u00e4nderungen am Iebenden Auge heim Sehen in verschiedenen Feinen gesehen haben, aber Young konnte es nicht best\u00e4tigen und \u00fcberhaupt ist bei der Be-' weglichkeit des Auges kein genauer Versuch in dieser Hinsicht m\u00f6glich. Am zw eckm\u00e4ssigsten scheint noch die von der Oberfl\u00e4che der Hornhaut reflcctirten Bilder, z. B. das Bildchen vom lichten Fenster zu beobachten und zu sehen, ob es seine Gr\u00f6'sse und Stellung bei der Ver\u00e4nderung der Sehweite f\u00fcr Puncte, die in derselben Direction liegen, \u00e4ndert.\t^\nDie Erkl\u00e4rung der Accomodation des Auges durch Zusammendr\u00fcckung des Auges, verm\u00f6ge der Augenmuskeln hat auch ihre Schwierigkeiten. Allerdings lassen sich die Thatsachen daraus erkl\u00e4ren, aber die.ss ist kein Beweis f\u00fcr die Richtigkeit der Ansicht, da sich die Thatsachen m\u00f6glicherweise auf sehr Versehie-","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom Auge als opt. Werkzeug. Innere Ver\u00e4nderungen. 333\ndene Weise erkl\u00e4ren lassen. Eine Verl\u00e4ngerung des Auges in der Richtung seiner Achse durch die geraden Augenmuskeln, nie sie Olbers angenommen, ist schwer denkbar, wie Treviranus mit Recht bemerkt. Durch den Druck dieser Muskeln soll der Glask\u00f6rper nach hinten und vorn gedr\u00e4ngt werden. Allein die Augenmuskeln ziehen das Auge nur nach hinten, findet ein Widerstand von Seiten des Fettpolsters statt, so kann das Auge eher abgeplattet, als verl\u00e4ngert werden; hierdurch w\u00fcrde aber nur das Sehen in der Ferne bef\u00f6rdert werden, bei welchem die Vereinigungsweite k\u00fcrzer ist. Aber man f\u00fchlt nur heim Sehen in grosser A\u00e4he eine innere Anstrengung in der Orbita. Viel leichter ist die Zusammendr\u00fcckung und Verl\u00e4ngerung des Auges durch die schiefen Muskeln m\u00f6glich, welche das Auge seitlich gegen die innere Wand anzuziehen verm\u00f6gen. Auf diese Weise haben Lk Camus, Rouault, Schroeder van der Kolk, die Accomodation erkl\u00e4rt. Damit stimmt sehr gut, dass die Augen heim Nahesehen immer st\u00e4rker convergiren m\u00fcssen, und hierbei k\u00f6nnten die schiefen Muskeln wirken, wie in der Schrift von Lucutman\u2019s de mutatwne axis oculi secundum diversam dislantiam objecti. Trajecli ad Rh. 1832. scharfsinnig auseinandergesetzt ist. Aber auch dieser Erkl\u00e4rung und jeder andern, welche die Accomodation aus der Wirkung von Augenmuskeln erkl\u00e4rt, stellen Gr\u00fcnde entgegen. Das Auge kann schnell durch locale Einwirkung von Narcotica einen ganz andern Ac comf1 d a t i o n szui t.a n d erlangen, w\u00e4hrend sich die Pupille zugleich sehr erweitert. Diese Erscheinung kann nicht wohl durch Fortleitung des Narcoticums von der Conjunctiva auf die, Augenmuskeln und ihre Nerven erkl\u00e4rt werden, da die Imbibition nur das Eindringen auf eine beschr\u00e4nkte Tiefe erkl\u00e4rt. Ueberdiess ist nach einer solchen localen Narcotisation die Bewegung der Augen durch die schiefen Muskeln nicht im geringsten gest\u00f6rt. Die fragliche Erscheinung wird am leichtesten durch Eintr\u00f6pfelung von einigen Tropfen einer d\u00fcnnen Aufl\u00f6sung von Belladonnaextract auf die Conjunctiva hervorgebracht. Nach einiger Zeit (1 Viertelstunde) wird die Pupille sehr weit, und nun zeigt sich zugleich der mittlere Accornodationszustand des Auges ganz ver\u00e4ndert, ohne dass jedoch das Verm\u00f6gen selbst aufgehoben w\u00e4re. Die Beobachtungen \u00fcber diesen Gegenstand sind sehr zahlreich. Die meisten Beobachtungen sprechen daf\u00fcr, dass Weitsichtigkeit durch den Einfluss der Narcotisation entstehe, welchem Purkinje und ein Theil der Versuche von Volkmann widersprechen. Ich beziehe mich auf die Versuche, welche ich in meiner Schrift \u00fcber die Physiologie des Gesichtssinnes p. 200 miltheilte. Ich sehe in ]eder Entfernung gut. Merkw\u00fcrdig war, dass durch, das 'Eintr\u00e4ufeln von Belladonnaextract in ein Auge, auch das andere afficirt war. Das gesunde Auge hatte, wenn beide Augen offen waren, einen Refractionszustand f\u00fcr die allern\u00e4chsten Gegenst\u00e4nde und nur diese erschienen deutlich, w\u00e4hrend das kranke Auge in der N\u00e4he nicht deutlich unterschied. Sollten beide Augen sich f\u00fcr deutliches Sehen in verschiedenen Fernen einrichten, so sah bald das eine, bald das andere deutlicher. Aenderte sich das kranke Auge f\u00fcr nahe Gegenst\u00e4nde, so wurde unwillk\u00fchr-","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334 V. Buch. Von den Sinnen. I. Abschn. Vom Gesichtssinn.\nlieh das gesunde f\u00fcr die n\u00e4chsten eingerichtet. Es hatte also das kranke Auge hei seiner Weitsichtigkeit doch keineswegs das Verm\u00f6gen der innern Einrichtung ganz eingebiisst. Auch war trotz der sehr weiten Pupille die F\u00e4higkeit zur Bewegung der Iris in dem kranken Auge nicht ganz verloren gegangen. Das kranke Auge sah willkiihrlich bald in der N\u00e4he, bald in der Ferne deutlicher, und hei dem Blick in die Ferne war die Iris fast ganz zur\u00fcckgezogen, bei dem willk\u00fchrlichen Blick in die N\u00e4he verengerte sich wieder die Pupille um etwas durch Contraction der Iris. Sahen beide Augen gleichzeitig, so waren in der Hegel Doppelbilder vorhanden und zwar war bald das Spectrum des gesunden, bald das des kranken Auges deutlich, je nachdem der gemeinschaftliche Nisus, das Object in die Accomodation des deutlichen Sehens des einen oder andern Auges brachte. Wenn das kranke, weitsichtige Auge sich f\u00fcr das deutliche Sehen der nahen Gegenst\u00e4nde mit Anstrengung einrichtete, waren die Bilder fast um -J des Nat\u00fcrlichen kleiner, w\u00e4hrend die undeutlichen Nebenbilder des gesunden Auges, das unter diesen Umst\u00e4nden nur dicht vor ihm selbst deutlich sah, ihre nat\u00fcrliche Gr\u00f6sse beibe-liielten.\nSieht man von den bisher er\u00f6rterten Hypothesen ab, so w\u00fcrden noch diejenigen \u00fcbrig bleiben, welche die Ursache der Accomodation im Innern des Auges und zwar in Ver\u00e4nderung der Stellung oder Convexit\u00e4t der Linse durch den Ciliark\u00f6rper oder die Zonula suchen. Obgleich sich diese Hypothesen nicht gerade widerlegen lassen, so lassen sie sich auch nicht geradezu beweisen, und das ist \u00fcberhaupt der Stand der Frage, dass sich n\u00e4mlich die Erscheinungen als auf verschiedene Weise m\u00f6glich erkl\u00e4ren lassen, dass aber die Richtigkeit irgend einer Erkl\u00e4rung nicht vorliegt. Unter diesen Umst\u00e4nden d\u00fcrfte es zweckm\u00e4ssiger seyn, einige wichtigere Facta hervorzuheben, welche in keiner der erw\u00e4hnten Erkl\u00e4rungen bekannt geworden, und zwar nicht \u00fcber die Ursachen des \\ erm\u00f6gens Aufschluss geben, doch \u00fcber seinen innigen Zusammenhang mit andern Erscheinungen unterrichten. Die Untersuchungen, welche ich im Jahre 1826 \u00fcber Doppeltse-hen und Einfachsehen anstellte, f\u00fchrten mich zugleich auf den innern Zusammenhang zwischen den Bewegungen des Auges zur Accomodation und den Bewegungen der Augen oder Augenachsen selbst, einen Zusammenhang, der ebenso innig ist wie derjenige zwischen der Accomodation und den Bewegungen der Iris und derjenige, zwischen den Bewegungen der Iris und den Bewegungen der Augenachsen. Fast Alle, die \u00fcber die inneren Ver\u00e4nderungen des Auges f\u00fcr das deutliche Sehen in verschiedenen Fernen geschrieben, haben diesen wichtigen Umstand \u00fcbersehen. Porterfield war der einzige \u00e4ltere Forscher, wie Volk.-mann zeigt, dem diese Erscheinungen bekannt waren.\nSo wie die Iris sich mit der Stellung der Augen nach innen constant verengert, mit der Stellung nach aussen oder in parallele Richtung erweitert, so tritt bei der Stellung der Augen nach innen unwillk\u00fchrlich die Accomodation des Auges f\u00fcr das Deutlich-scheu der N\u00e4he ein, und mit der Entfernung der Sehachsen hin-","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom Auge als opt. JVerkzeug. Innere Ver\u00e4nderungen. 335\nwieder bis zum Parallelismus \u00e4ndert sieb aucli die Accomodation des Auges f\u00fcr das Fernsehen bis zum Dcutlichsehen in die weiteste Ferne. Es ist bekannt, dass man einen Gegenstand deutlich siebt, wenn man ihn fixirt, d. h. wenn man beide Augenachsen auf ihn richtet, aber es ist ebenso Thatsaclie, dass ein Gegenstand undeutlich gesehen wird und dass das Accomodationsverm\u00f6gen dann verloren wird, wenn er ausser den Sehachsen liegt, selbst wenn die seitlichen Theile der Netzhaut sonst scharf sehen w\u00fcrden. Die falsche Stellung der Augenachsen bedingt eine falsche Accomodation, die falsche Accomodation bedingt die falsche Augenstellung und beiderlei Bewegungen sind durchaus in einer gewissen Grenze aneinander gebunden. Wird die Accomodation beim Sehen eines Gegenstandes f\u00fcr eine gr\u00f6ssere oder geringere Ferne genommen, so erscheint er auch doppelt, d. h. dann vereinigen sich die Augenachsen nicht in ihm.\nIst z. B. a das Object, in welchem sich die Augenachsen vereinigten und sucht man es undeutlich zu sehen, indem man die Accomodation f\u00fcr den imagin\u00e4ren Gegenstand d eintreten l\u00e4sst, so werden auch sogleich die Augen auf d gerichtet, daher a doppelt gesehen wird, indem es f\u00fcr A in b, f\u00fcr B in c erscheint. Diese Doppelbilder von a sind so undeutlich als es die f\u00fcr das fernere d eingerichtete Accomodation zul\u00e4sst. In dem Mass als die Accomodation f\u00fcr d sich der Accomodation f\u00fcr a ann\u00e4hert, in demselben Mass werden auch die Doppelbilder nicht allein deutlicher, sondern auch einander gen\u00e4hert, bis sic bei der Accomodation f\u00fcr a zusammenfliessen, indem die Augenachsen dann in a sich kreuzen. Von den Doppelbildern geh\u00f6rt b dem entgegengesetzten Auge Ay c dem entgegengesetzten Auge B an. Daher verschwindet b, wenn das Auge A geschlossen wird; und c, wenn das Auge B geschlossen wird. Jedesmal liegen die Doppelbilder auf der entgegengesetzten Seite, wenn die Accomodation f\u00fcr eine hinter dem Gegenstand a liegende Ferne erzwungen wird. Ist hingegen d der Gegenstand, auf welchen die Augen gerichtet sind, und erzwingt man eine Accomodation f\u00fcr den imagin\u00e4ren Punct a, so wird der Gegenstand d nicht allein undeutlich, sondern auch doppelt, denn die Augenachsen richten sieb mit der Accomodation f\u00fcr \u00df, auch unwillk\u00fchrlich auf \u00df; d liegt dann seitw\u00e4rts der Augenachse Ab und seitw\u00e4rts der Augenachse Bc, erscheint daher doppelt und undeutlich. Mit dem Grad der Undeutlichkeit nimmt die Entfernung der Doppelbilder zu. Die Doppelbilder liegen in diesem Falle auf derselben Seite, mit dem Auge, dem sie angeh\u00f6ren, d das Doppelbild von Aj liegt von \u00df ab auf der Seite des Auges A, das Doppelbild von d Ihr B, liegt vom einfachen a ab, nach der Seite von B, wie die Zeichnung erweisst.","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"336 V. Buch. Von den Sinne,n. I. Abschn. Vorn Gesichtssinn.\nDie genannten Wirkungen bedingen sich gegenseitig, selbst wenn ein Auge verdeckt ist, und dadurch lasst sieh eben beweisen, wie sie von einander abh\u00e4ngig siud.\nIn beistehender Figur sei a das freie, h das geschlossene Auge, x, d, \u00ab,/ seien die in der Sehachse des Auges \u00ab gelegenen Gegenst\u00e4nde verschiedener Entfernung. Sieht nun a den Punct * deutlich, so ist die Sehachse, auch des verdeckten Auges l, unwillk\u00fchrlich auf den Punct* gerichtet, und wird das verdeckte Auge frei, so erscheint t; einfach im Con-vergenzpuncte beider Sehachsen. Geht nun das Auge a aus dein Refractions-zustandc f\u00fcr *, in andere Rel'ractionszu-st\u00e4nde f\u00fcr ferneie Gegenst\u00e4nde der Linie af \u00fcber, z. B. f\u00fcr e, f\u00fcr J, so wird stillschweigend das verdeckte Auge auch auf e oder J gerichtet.\nUmgekehrt vermag man willk\u00fchrlich, durch Ver\u00e4nderung der Neigung der Sehachsen, die Accomodation zu ver\u00e4ndern, und diese Ver\u00e4nderungen sind so gleichzeitig, wie die Verengung und Erweiterung der Pupille mit der grossem oder geringem Neigung der Augenachsen. Sind z. B. die Augenachsen von a und b auf den imagin\u00e4ren Punct des Raums d gerichtet, und erscheint also x doppelt, f\u00fcr das Auge a in d rlEchtung fl/, f\u00fcr das Auge b in der Richtung bc, so sind die Doppelbilder % auch undeutlich, weil der Refractionszustand f\u00fcr d ist. Bleibt die Augenachse at unver\u00e4ndert, bewegt sieh dagegen die Augenachse bd in die Stellungen Ae, bj u. s. w., so dass die Neigung der Sehachsen abnimmt, so ver\u00e4ndert sich auch der Rehactionszustand f\u00fcr e, f u. s. w. w\u00e4hrend die Doppelbilder * immer undeutlicher werden. Die eine Augenachse, n\u00e4mlich die des offenen Auges kann unver\u00e4ndert bleiben, \u00e4ndert sich aber die des geschlossenen Auges heimlich, so \u00e4ndert sich auch der Accomodationszustand des offenen Auges. Vergl. Porterfield a treatise on the eye. Edinb. 1759. I. p. 410. Volkmann a. a. 0. p. 144.\nBei grossen Entfernungen der Gegenst\u00e4nde k\u00f6nnen, da die Ver\u00e4nderung des Refractionszustandes zuletzt eine Grenze hat, den Augen aber jede beliebige Stellung zu einander gegeben werden kann, Ungleichheiten zwischen beiden eintre-ten. Z. B. wenn man den Mond mit nur einem Auge lixirl, das andere aber durch einen vorgehaltenen Gegenstand verdeckt ist, so trifft die Achse des verdeckten Auges, trotz der Accomodation f\u00fcr die Entfernung des Mondes, nicht genau in ihrer Stellung mit der Achse des offenen Auges im Monde zusammen. Denn wenn das verdeckte Auge frei wird, sieht es ein Doppelbild, worauf sehr schnell die Doppelbilder beider Augen sich vereinigen, indem das Schwanken der Augenachsen schnell corrigirt wird. Dieser Versuch, den ich angab,","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vu/ii Auge als u/jt. Werkzeug. Innere Ver\u00e4nderungen. 337\nist einem Beobachter nicht gelangen. Ich erw\u00e4hne ihn nochmals, weil er mir immer dasselbe Resultat giebt. Treviranus Erkl\u00e4rung davon ist ungen\u00fcgend.\nAus diesen Thatsachen ergiebt sieb, dass die Ver\u00e4nderung der Augenachsen gegeneinander, Ver\u00e4nderung der Accomodation bedingt, selbst dann, wenn nur das geschlossene Auge seine Stellung gegen das offene ver\u00e4ndert. Es ist gerade so mit den Bewegungen der Iris, bleibt das eine oflene Auge unver\u00e4nderlich nach einem Punct gerichtet, bewegt sich aber das geschlossene Auge, so \u00e4ndert sich die Gr\u00f6sse der Pupille auch in dem offenen Auge durchaus, wie es die Convergenz der Sehachsen erfordert, und dadurch hat man eine scheinbare Wilik\u00fchr \u00fcber die Pupille, wovon im 1. Bd. gehandelt worden. Die Bewegung der Iris mit den Augenachsen sahen wir als eine Mitbewegung an, da sie nur ein tritt bei der V irkung der vom N. oculomotorius versehenen Muskeln, welcher auch die Bewegungsnerven der Iris durch die kurze Wurzel des Ganglion ciliare ahgiebt. So mag auch die Accomodation eine Milbewegung mit der Bewegung der Augenmuskeln nach innen seyn, die entweder durch einen n\u00e4hern organischen Zu. s\u00e4mmenhang in der Nervenwirkung, oder durch Gewohnheit eingetreten ist. Die Mitbewegung der Iris mit der Bewegung der Augenachsen hat indess schwerlich ihren Grund in einer ungewohnten Verbindung.\nEs giebt auch einigen geringen Einfluss der Wilik\u00fchr auf die Accomodation, ohne dass die Achsen der Augen sich nolh-wendig verstellen, und dieser Umstand zeigt eben, dass jene Verbindung secund\u00e4r, aber nicht eines die constante Ursache des Andern ist. Plateau hat eine Beobachtung an sich mitgetheiLt, dass das 1 ndeutliehw erden der Gegenst\u00e4nde durch Ab\u00e4nderung des Beiractionszustandes auch ohne Ver\u00e4nderung der Stellung der Augen erzwungen w erden kann, durch eine willk\u00fchrliche Anstrengung des Auges. Auch ich bemerkte schon fr\u00fcher, dass manchmal hei grosser Anstrengung uns wirklich das Undeutlichsehen ohne Doppelbilder, jedoch nur sehr fl\u00fcchtig zu gelingen scheine, erinnerte aber, dass auch hei dieser Art des Undeutiichsebens, ohne \u00f6rtlich getrennte Doppelbilder diese doch vorhanden seien, nur zum Th eil sich decken. Versuche, die ich seither an mir anstellte, bestimmen mich mit Plateau vollkommen iibereinzu-stimmeii, dass man n\u00e4mlich, so sehr auch der Befractionszustand des Auges an die \\ er\u00e4nderung der iNeigung der Sehachsen gekn\u00fcpft ist, doch mit grosser Uebung bei unver\u00e4nderter Stellung der Sehachsen auf einen Gegenstand, diesen durch willk\u00fchrliche Ver\u00e4nderung des Beiractionszustandes undeutlich sehen kann, indem man den Relractionszustand f\u00fcr eine andere Ferne \u00e4ndert. Die Iris ver\u00e4ndert sich, auch, wie Plateau zeigt, hei diesem Un-deutlichsehen, indem die Pupille weit wird hei dem Refractions-zustand i\u00fcr das deutliche Sehen in der Ferne und umgekehrt. Diess w\u00e4re ein Beispiel von fast rein willk\u00fchrlicher Bewegung \u00ab1er Iris, in sofern in diesem Falle die Bewegung wenigstens nicht du die willk\u00fchrliche Bewegung der Augenmuskeln nach innen und nben gekn\u00fcpft ist. Muell. Archiv. 1837. CL.","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":".338 V. Buch. Von den Sinnen. I. Abschn. Vom Gesichtssinn.\nEs zeigen sich hier abermals, wie in allen vorher beschriebenen Ph\u00e4nomenen, die Bewegung der Iris und die Ver\u00e4nderung des Refractionszustandcs auf das innigste mit einander verbunden, und -doch sind wir nicht berechtigt, der Bewegung der Iris selbst einen mittelbaren Einfluss auf die Accomodation zuzuschreiben. Man hat schon vermuthet, dass die Bewegung der Iris auch auf das Corpus ciliare und so auf die Stellung der Linse wirken k\u00f6nne, in sofern das Corpus ciliare mit dem \u00e4ussern Umfang der hintern Fl\u00e4che der Iris stark verwachsen ist. Indess l\u00e4sst sich doch diese Hypothese bestimmt widerlegen. Denn die Ver\u00e4nderungen der Iris werden auch durch das Licht bestimmt. Wir sehen aber dasselbe Object deutlich, mag es hell beleuchtet und demgem\u00e4ss die Pupille enger, oder das Auge dabei beschattet und die Pupille weit seyn. Vergl. Volkmann a. a. 0. p. 156. Es bleibt daher immer noch am wahrscheinlichsten, dass die Accomodation von einem Organ abh\u00e4ngt, das sich zwar leicht mit der Iris zugleich bewegt, aber auch eine gewisse Unabh\u00e4ngigkeit davon behaupten kann. In der That l\u00e4sst sich per exclusionem am wahrscheinlichsten machen, dass das Corpus ciliare diese Beweglichkeit besitze und auf die Stellung der Linse einwirke, aber an positiven Beweisen f\u00fcr die Contractilit\u00e4t des Corpus ciliare fehlt es g\u00e4nzlich.\nNach der Extraction der Linse durch die Staaroperation ist das Accomodationsverm\u00f6gen, sowohl nach \\ouhgs als Volkmawn\u2019s Beobachtung vermindert.\no\nIV. Von der Myopie und Presbyopie, den Mitteln sie zu verbessern und von den Augengl\u00e4sern.\n1. Undeutlichkeit der n\u00e4chsten Objecte. Wirkung der Diaphragmen.\nDas deutliche Sehen in der gr\u00f6ssten N\u00e4he dicht vor dem Auge hat bei allen Menschen eine Grenze. Gegenst\u00e4nde, welche nur 1 \u20143 Zoll oder noch weniger vom Auge entfernt sind, bringen kein deutliches Bild mehr hervor, weil die Vereinigung ihrer Lichtstrahlen bei allen Menschen hinter die Netzhaut lallt. Sind die Gegenst\u00e4nde klein, so erzeugen sie nur einen Schimmer, und die entfernten Gegenst\u00e4nde werden durch diesen Schimmer hindurch gesehen, obgleich der vor das Auge gehaltene kleine Gegenstand den mittlern Theil der Pupille verdeckt. Das Sehen der entfernten Gegenst\u00e4nde, durch den Schimmer des n\u00e4chsten, erkl\u00e4rt sich daraus, dass wenn auch der vorgehaltene kleine K\u00f6rper diejenigen Strahlen des entfernten K\u00f6rpers abh\u00e4lt, welche durch den mittlern gr\u00f6ssten Theil der Pupille durchgehen sollten, doch noch am Rande des vorgehaltenen K\u00f6rpers, Strahlen des entfernten K\u00f6rpers Vorbeigehen, welche ins Auge gelangen. Hieraus ergiebt sich als Bedingung, dass wenn ein entfernter Gegenstand durch den Schimmer eines nahe vor das Auge gehaltenen hindurch gesehen werden soll, der letztere kleiner als die Pupille sein m\u00fcsse, der entferntere wird dann durch die Randstrahlen","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom Auge als opl. Werkzeug. Myopie u. Presbyopie. 339\ngesehen. Selbst in dem Falle, dass der n\u00e4chste K\u00f6rper die Pupille fast ganz deckt, werden doch noch die peripherischen Strahlen der Lichtkegel des entfernten K\u00f6rpers, durch Beugung an den R\u00e4ndern des vorgehaltenen K\u00f6rpers ins Auge gelangen und ein Bild hervorbringen.\nMan sieht einen entfernten Gegenstand auch durch die im \u00e4ussern Umfange der Linse durchgehenden Strahlen oder Randstrahlen, wenn man ihn am Rande eines andern vorgehaltenen K\u00f6rpers vorbei sieht. Es ist bekannt, dass wenn man einen fernen K\u00f6rper betrachtend, einen zweiten n\u00e4hern von der einen Seite vorschiebt, der entferntere K\u00f6rper sich etwas verschiebt und zu erweitern scheint, so bald ihm der Rand des n\u00e4chsten nahe kommt. Diess scheint theils von dem Sehen des fernen K\u00f6rpers durch Randstrahlen der Linse, theils auch von der Beugung des Lichtes am Rande des vorgehaltenen K\u00f6rpers abzuh\u00e4ngen.\nDer Schimmer, welchen ganz nahe kleine Gegenst\u00e4nde statt eines Bildes hervorbringen, wird um so gr\u00f6sser seyn, je weiter die Pupille ist. Denn da der Zerstreuungskreis f\u00fcr jeden Punct des Gegenstandes ein Durchschnitt durch den Lichtkegel ist, welcher durch die Pupille durchgeht, so wird auch der Zerstreuungskreis f\u00fcr jeden Punct des Gegenstandes um so gr\u00f6sser seyn, je weiter die Pupille ist. Der Schimmer eines ganz nahen, vor das Auge gehaltenen Gegenstandes, z. B. einer Nadel entsteht aber durch die sich deckenden Zerslreuungskreise aller Puncte des Bildes. Hieraus erkl\u00e4ren sich einige interessante Ph\u00e4nomene. H\u00e4lt man eine Stecknadel in der Entfernung vom Auge, dass sie zwar noch ein Bild, aber ein nebeliges hervorbringt, so ist die Gr\u00f6sse dieses Schimmers gr\u00f6sser oder kleiner, je nachdem man das Auge beschattet oder beleuchtet, d. h. je nachdem die Iris sich erweitert oder zusammenzicht. Hieran hat man eine herrliche Gelegenheit die Bewegung der Iris des eigenen Auges in einem Gesichtsph\u00e4nomen zu sehen.\nUnter gewissen Bedingungen sieht man aber auch noch in der gr\u00f6ssten N\u00e4he vor dem Auge deutlich, und die Gegenst\u00e4nde sehr vergr\u00f6ssert, ohne dass Augengl\u00e4ser angewendet werden. Diess geschieht jedesmal, wenn man ganz nahe Gegenst\u00e4nde durch eine feine Oeffnung eines Kartenblattes betrachtet. Hehle, der sich viel mit. dieser Erscheinung besch\u00e4ftigt, hat mich auf das Ph\u00e4nomen und seine Ursachen aufmerksam gemacht. Lecat, Monro und Priestley hatten das Ph\u00e4nomen gekannt. Sieht man z. B. die ganz dicht vor das Auge gehaltene Schrift eines Buchs an, so erkennt man keinen Buchstaben mehr, sieht man sie aber in derselben N\u00e4he durch die mit Nadel gemachte Oeffnung eines Papierblattes, das man dicht vor das Auge h\u00e4lt, an, so erscheint sie sogleich sehr deutlich und die Buchstaben und ihre \"eissen Zwischenr\u00e4ume sind stark vergr\u00f6ssert. Es k\u00f6nnte daran gedacht werden, dass das Deutlichsehen\" von der Isolirung der Cen-ralstrahlen der nahen Objecte durch die enge Oeffnung abli\u00e4nge, nnd dass die Centralstrahlen, wegen gr\u00f6sserer Dichtigkeit des Kernes der Linse, fr\u00fcher zur Vereinigung gebracht w\u00fcrden,","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340 V. Buch. Von den Sinnen. I. Ahsclin. Vom Gesichtssinn,\n(w\u00e4hrend sie hei einer \u00fcberall gleich dichten Linse sp\u00e4ter, als die Randstrahlen zur Vereinigung kommen). Aber dann d\u00fcrfte die Gr\u00f6sse der Objecte nicht wachsen. Wendet man dagegen ein, dass die Vergr\u00f6sserung der Gegenst\u00e4nde nur scheinbar sei, indem man beim Sehen der nahe gehaltenen Schrift ohne die Karten\u00f6ffnung, nur den Kern der Zerstreuungsbilder, nicht aber die ganze Gr\u00f6sse der Bilder in Anschlag bringe, so wird dieser Einwurf leicht durch eine n\u00e4here Vergleichung, der gleichzeitigen Bilder beider Augen widerlegt, wovon das eine die ganz nahen Buchstaben frei, das andere durch die Karten\u00f6ffnung ansieht. Denn die weissen Spatien, sowie die Buchstaben erscheinen dem letztem gr\u00f6sser, und indem man beide Bilder nebeneinander sieht, erkennt man, dass auf einen Raum des einer. Bildes, auf welchen 3 Linien Schrift gehen, im andern Bilde nur 2 gehen. Legat (trait\u00e9 des sens. p. 305.) und Priestley (Geschichte der Optik p. 3.91.) leiten das Ph\u00e4nomen von der Beugung des Lichtes an den R\u00e4ndern der Karten\u00f6ffnung ab und der erstere beruft sich auf die Ver\u00e4nderung des Umrisses eines fernen K\u00f6rpers, den man am Rande eines St\u00e4bchens visirt. Der Rand des fernen K\u00f6rpers erweitert sich n\u00e4mlich, wenn man den vorgehaltenen Stab vorschiebt. Allerdings l\u00e4sst sich die Sch\u00e4rfe, womit man die durch eine Karten\u00f6ffnung gesehenen allern\u00e4chsten Objecte erkennt, durch Inflexion erkl\u00e4ren. Bei der Inflexion oder richtiger Diffraction des Lichtes wird es nach zwei Seiten hin von seiner Richtung abgelenkt. Der \u00e4ussere Theil der am Rande der Karten\u00f6ffnung inflectirten Strahlen f\u00e4llt noch weiter hinter die Netzhaut, als es schon die Strahlen von sehr nahen Gegenst\u00e4nden thnn. Diese Strahlen bringen dann gar kein Bild mehr hervor. Der innere Theil der am Rande der Karten\u00f6ffnung inflectirten Strahlen k\u00f6mmt nun n\u00e4her zur Vereinigung, f\u00e4llt also nicht mehr hinter.die Netzhaut, sondern auf dieselbe und daher die-Deutlichkeit und Sch\u00e4rfe des Bildes, trotz der geringen Menge des dazu n\u00f6thigen Lichtes. Die Gr\u00f6ssenzunahme des Bildes l\u00e4sst sich aus dieser Theorie nicht gut eiusehen.\nEs l\u00e4sst sich mit Hehle noch eine andere Erkl\u00e4rung der Erscheinung aufstellen, ab sei der dicht vor das Auge gehaltene K\u00f6rper, AB die brechenden Medien, G die Nervenhaut. Der Lichtkegel des Punctes h kommt in e, der Lichtkegel von a in f zur Vereinigung. Dann ist\u2019 he der Hauptstrahl des Lichtkegels von A, aj der Hauptstrahl des Lichtkegels von a. Die Vereinigungspuncte e und _/ liegen hinter der Netzhaut, weil das Object dem Auge zu nahe ist. h wird also mit dem Zerstreuungskreis ah' gesehen, a wird mit dem Zerstreuungskreis a\u00df gesehen. Wird nun das Kartenblatt mit der kleinen Oeffnung o zwischen das nahe Object und das Auge geschoben, so werden die Lichtkegel abgeschnitten","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom Auge a/s upt. Werkzeug. Myopie u. Presbyopie. 341\nbis auf die Lichtb\u00fcndel bc und ad, welche durch die Oeffnung o durchgehen. Das Bild von b wird daher ohne Zerstreuungskreis in d. das Bild von a ohne Zerstreuungskreis in \u00df gesehen. Die Beugung kann mitwirken, und bewirken, dass das durch die Kartcn\u00f6fl'nung durchgehende fadenartige Lichtb\u00fcndel nur einen Punct auf der Netzhaut darstellt.\nDas Bild erscheint gr\u00f6sser, da die Entfernung der peripherischen Strahlen d und \u00df beider Kegel gr\u00f6sser ist, als die Entfernung der Hauptstrahlen beider Kegel.\n2. Kurzsichtigkeit, Fernsichtigkeit. Brillen u u rl Optometer.\nManche Menschen besitzen das Verm\u00f6gen der inneren Ver\u00e4nderung des Auges f\u00fcr das Sehen in verschiedenen Fernen gar nicht, oder doch so wenig, dass sie nur in einer bestimmten Entfernung unterscheiden, kurzsichtige oder fernsichtige sind. Es ist unm\u00f6glich einem solchen zu beweisen, dass das Auge die F\u00e4higkeit habe sich f\u00fcr das Sehen in verschiedenen Fernen einzurichten, und so mag es Trevibakus und noch Andern gegangen seyn. Die Kurzsichtigkeit wird am h\u00e4ufigsten im mittlern Lebensalter beobachtet,. Im Alter trifft man h\u00e4ufiger Fernsichtigkeit. Man sieht die Ursache dieser Fehler sehr oft in den brechenden Medien, in der Form der Hornhaut und in der That ist die Hornhaut der Greise flacher als in der Jugend, aber die Hornhaut der Kinder ist am gew\u00f6lbtesten und doch leiden die Kinder, wie Volkmann bemerkt, nicht h\u00e4ufig an Kurzsichtigkeit. Die Myopie und Presbyopie m\u00f6gen richtiger in Hinsicht ihrer n\u00e4chsten Ursache von einem Mangel des Accoinodationsvcrm\u00f6gens oder von grosser Schw\u00e4che dieses Muscularactes abgeleitet werden. Dann sieht nat\u00fcrlich das Auge nur in einer bestimmten Sehweite deutlich, welche der Form der brechenden Medien des Auges am angemessensten isl. Dass die Myopie und Presbyopie mehr in der Ver\u00e4nderung oder dem Verluste des Verm\u00f6gens der Accomodation liegt, sieht man daraus, dass man sich methodisch die Kurzsichtigkeit anerziehen kann, wenn man das Fernsehen vernachl\u00e4ssigt. Kinder machen sich kurzsichtig, dass sie sieh heim Lesen und Schreiben mit dem Gesicht zu dicht aufs Papier legen. Der best\u00e4ndige Gebrauch des Mikroskops kann kurzsichtig machen und macht es oft vor\u00fcbergehend f\u00fcr einige Stunden. Auch die Brillen wirken in dieser Hinsicht nachtheilig, indem sie das Auge entw\u00f6hnen, durch Accomodation in der N\u00e4he und Ferne deutlich zu sehen.\nZuweilen haben bejjle Augen einen andern miltlern Itefrac-tionszustand f\u00fcrs ganze Lehen, nicht immer ein Unterschied m der Pupille beobachtet wird. Dieser Zustand kann auch anerzogen werden durch vorzugsweisen Gebrauch des einen Auges heim Sehen naher Gegenst\u00e4nde, heim Sehen durch das Mikroskop und dergleichen. Am schnellsten tritt diese Ungleichheit durch Narcotisation eines Auges ein, verm\u00f6ge einiger Tropfen von der Aufl\u00f6sung des Belladonnaextractes. Siehe oben p. 333. In allen diesen F\u00e4llen k\u00f6nnen beide Augen, trotz ihres ungleichen mitfJern Refractionszustandes, oder ihrer mittlern Sehweite, doch","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342 V. Buch. Von den Sinnen. I. Ahschn. Vom Gesichtssinn.\nnoch das Verm\u00f6gen der Accomodation besitzen, auch wirkt die willk\u00fchrliche Accomodation des einen Auges auf das andere, aber beide Augen bleiben sich ungleich.\n1\tDr\u00fccken beide nebenbei stehende Zahlenreihen das Stei-\n2\tgen der Accomodation in beiden Augen aus, so ist\n3\t1 mit der Accomodation 3 im Auge A, die Accomodation\n4\t2\t1 im Auge B gleichzeitig, steigt A bis zu 5, so steigt B\n5\t3 um ebenso viel, aber nur bis 3. Das Auge A sieht mit\n6\t4 der Accomodation von 1 das Ferne deutlich, wahrend\n7\t5 B nichts unterscheidet. Innerhalb einer gewissen Grenze\n8\t6 k\u00f6nnen vielleicht beide zusammen deutlich sehen, indem\n9\t7 das nebelige Bild des einen Auges dasjenige des andern Au-\n10\t8 ges nicht st\u00f6rt, und beide sich decken, aber bei dem Jle-\n9\tfractionszustande f\u00fcr die Nahe bleibt das Auge sehkr\u00e4ftig,\n10\twas f\u00fcr die Ferne zur\u00fcckblieb. A hat vielleicht bei der\n11\tAccomodation 10 die Grenze seiner Sehweite erreicht,\n12\tw\u00e4hrend B noch mit 11, 12 deutlich sieht. Die Un-\nA B gleichheit des Refractionszustandes ist bei manchen Menschen die Ursache, dass sie zu schielen anfangen, indem sie das Auge von der brauchbarsten, mittlern Sehweite bevorzugen und das andere vernachl\u00e4ssigen, dessen Bild sie gar nicht st\u00f6rt. Schon wenn man bei gleicher Sehweite beider Augen, mit dem einen Auge durch eine Brille, mit dem andern ohne Brille denselben Gegenstand sieht, vereinigen sich die Achsen beider Augen nicht in dem Object und man sieht leicht doppelt, wie wenn man mit beiden Augen durch verschieden starke Brillengl\u00e4ser sieht. Noch mehr entfernen sich die Doppelbilder von Nichtvereinigung der Sehachsen im Object, wenn der Refractionszustand eines der beiden Augen durch Belladonnaextract ver\u00e4ndert worden, wo dann bei einer gewissen Sehweite des einen Auges, das Bild des andern schwach und undeutlich nebenbei schwebt. Die Ursache dieser Entzweiung ergiebt sich aus dem am Schluss des vorigen Artikels Verhandelten. Der Refractionszustand wirkt auf die Stellung der Augenachsen ein. \"Wie das Bild eines schwachsichtigen Auges seine st\u00f6rende Einwirkung verliert, soll sp\u00e4ter er\u00f6rtert werden, wenn wir die Thatsachen kennen lernen, welche beweisen, dass die Sehfelder beider Augen in einer Art von Wettstreit sich befinden, bei welchem die Nerventh\u00e4tigkeit bald mehr dem einen, bald mehr dem andern sich zuwenden kann und die Herrschaft zwischen beiden oft wie der Wagebalken schwankt.\nWie die Brillengl\u00e4ser die Myopie und Presbyopie verbessern, ist nun mit einigen Bemerkungen zu erl\u00e4utern. Das fernsichtige Auge wird durch eine convexe Brille, das nahsichtige durch eine concave Brille verbessert. Bei dem erstem vereinigen sich die Strahlen ferner Gegenst\u00e4nde auf der Retina, aber die Strahlen n\u00e4herer und n\u00e4chster Gegenst\u00e4nde, welche eine sp\u00e4tere Vereinigung erleiden, vereinigen sich erst hinter der Retina. Ein convexes Glas verbessert diesen Fehler, indem es die Strahlen naher Gegenst\u00e4nde n\u00e4her, d. h. auf der Retina selbst zur Vereinigung bringt. Bei dem nahsichtigen Auge ist es umgekehrt. Die Strahlen naher Gegenst\u00e4nde vereinigen sich hier auf der Re-","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom Auge als opt. Werkzeug. Brillen.\n343\ntina und bringen ein deutliches Bild hervor. Die Strahlen ferner Gegenst\u00e4nde, deren Vereinigungsweite n\u00e4her ist, als die der nahen, vereinigen sich hingegen in diesem Auge vor der Retina und bringen Zerstreuungskreise auf der Retina hervor. Das concave Brillenglas verbessert diesen Fehler, indem es die Lichtstrahlen mehr zerstreut, wodurch sie sp\u00e4ter und also auf der Retina zur Vereinigung kommen.\nBeistehende Figur stellt die brechenden Medien eines nahsichtigen Auges dar. Die Lichtstrahlen des n\u00e4chsten Gegenstandes a vereinigen sich auf der Retinae, die Lichtstrahlen des fernen Gegenstandes h werden sich in // vor der Retina vereinigen. Ein zerstreuendes Glas B bringt die Strahlen Ab', Ab' in die Richtung von Aa! und Aa, daher wird der ferne Gegenstand b, nur\ndeutlich gesehen.\nFerner AA seien die brechenden Medien eines fernsich--[, tigen Auges, dann\nmittelst des Zerstreuungsglases in a\nder Netzhaut zur Vereinigung bringen\nwird der ferne Gegenstand a sein Licht in a , d. h. auf Der nahe Gegenstand b wird hingegen sein Licht hinter der Netzhaut in V vereinigen. Das Sammelglas B bringt die Strahlen des nahen Gegenstandes b zu st\u00e4rkerer Convergenz, so dass sie statt in b, durch die Brille zu a, d. h. auf der Netzhaut vereinigt werden.\nZur Bestimmung der mittlern Sehweite der Menschen dient der Optometer, welcher sich auf den ScuEiisER\u2019schen Versuch gr\u00fcndet. Man sieht n\u00e4mlich, bei welcher Entfernung vom Auge man durch zwei Oeffnungen eines Blattes, deren Entfernung kleiner ist als die Weite der Pupille, einen feinen Gegenstand mit einem Auge einfach sieht. Oder man sicht bei welcher Entfernung vom Auge, hei ungespannter Betrachtung eines Fadens durch zwei Kartenlocher, das Doppelbild des Fadens sich kreuzt oder vereinigt. Young\u2019s Optometer. Diess ist die mittlere Sehweite. \\ or dieser und hinter ihr wird ein Gegenstand durch die genannten Oeffnungen doppelt g\u00e7^ehen, d. h. sein Bild f\u00e4llt vor\ngesehe\noder hinter die Netzhaut. Doch ist die Anwendung immer sehr unvollkommen, da die Diffraction des Lichtes beim Durchgang an den R\u00e4ndern der feinen Oeffnungen Beugungsph\u00e4nomene bewirkt.\nA Ver\u00e4nderung der Sehweite durch V e rg r \u00f6 ss erun gsgl\u00e4 s e r.\nDie Wirkung der Gl\u00e4ser durch Ver\u00e4nderung der Sehweite auf Vergr\u00f6sserung des Bildes k\u00f6mmt nun zun\u00e4chst in Betracht.\nAI \u00abtiler\u2019s Physiologie. 2r Bel. II\n23","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":".'Ml V. Buch.- Von den Sinnen. I. Ahschn. Vom Gesichtssinn.\nDie einfachste Art derselben sind die Loupen oder Mikroskope. Wird ein kleiner Gegenstand dem Auge Lis dicht vor das Auge gen\u00e4hert, so erscheint er sehr gross, aber Alles ist undeutlich, weil die Vereinigungsweite der Lichtstrahlen hinter der Netzhaut liegt. Die Wirkung einer Linse zwischen Object und Auge ist die Vereinigungsweite zu verk\u00fcrzen. F\u00e4llt diese hei der geh\u00f6rigen Stellung der Linse auf die Netzhaut, so erscheinen alle Details deutlich und das Object in der Gr\u00f6sse, wie es schon vorher erschien, als es ohne Loupe dicht vor das Auge gehalten wurde. Die Vergr\u00f6sscrung ist in diesem Falle nur scheinbar, sie ist blosse Folge der grossen N\u00e4he des Objectes, die Wirkung der Linse ist blosse Deutlichkeit bei einer so sehr vergr\u00f6ssernden Ann\u00e4herung. Beim Teleskop und Mikroskop f\u00e4llt das Bild gar nicht mehr ins Auge, sondern vor dasselbe. An dieser Stelle kommen die Lichtstrahlen zur Vereinigung des Bildes, da es aber hier nicht aufgel\u00e4ngen wird, so gehen sie wieder divergirend fort, gerade so als ob hier das Object w\u00e4re, von welchem sic divergirend ausgegangen sind. Hierauf beruht sowohl die Vergr\u00f6sserung als die Sch\u00e4rfe dieser Bilder. Denn der Sehwinkel eines vor dem Auge schwebenden Bildes ist gr\u00f6sser als der Sehwinkel des Objectes selbst. Nimmt das vor dem Auge schwebende Bild die Distanz der nat\u00fcrlichen scharfen Sehweite ein (8 ), so erscheint das Object bei der Vergr\u00f6sscrung zugleich so scharf, als \u00fcberhaupt Gegenst\u00e4nde der nat\u00fcrlichen sch\u00e4rfsten Sehweite.\nDie Teleskope sind zur Vergr\u00f6sserung und zum deutlichen Sehen der fernsten Gegenst\u00e4nde, die Mikroskope zur Vergr\u00f6sserung und zum deutlichen Sehen der Gegenst\u00e4nde in der N\u00e4he eingerichtet. Die Zahl der dazu angewandten Gl\u00e4ser ist sehr verschieden. Befindet sich hinter dem ersten Glase ein zweites, so ver\u00e4ndert dieses entweder das Bild und seinen Ort, oder wenn das Bild des ersten Glases vor das zweite f\u00e4llt, so vertritt dies Bild die Stelle eines Objectes f\u00fcr das zweite Glas. Das Bild des zweiten kann durch ein drittes Glas wieder ver\u00e4ndert werden oder dem dritten Glas als Object dienen. Das vom Object selbst das Licht empfangende Glas heisst Objectivglas, das dem Auge zugewandte Glas heisst Ocular. Beim Mikroskop wird das durch eine oder mehrere Linsen hervorgebrachte physische Bild durch das Ocular, wie durch cine Loupe ein Gegenstand angesehen. Die Helligkeit des Bildes h\u00e4ngt von der Menge des Lichtes ab, welches das Objectiv vom Objecte aufnimmt, oder beim Mikroskop, welches dem Objecte durch k\u00fcnstliche Beleuchtung zugeworfen wird. 1st diese Lichtmenge, worin das Bild des Objectes im Teleskop und Mikroskop erscheint, gr\u00f6sser oder kleiner, als das Object ohne diese Instrumente in die Pupille des Auges wirft, so ist auch die Helligkeit des Bildes gr\u00f6sser oder kleiner, als beim Sehen des Objectes ohne das Instrument. Beim Sehen durch ein Teleskop ist das Bild heller als das Object allein; weil das Objectivglas mehr Licht vom Object aufnimmt und zum Bilde verwendet, als die Pupille des Auges beim einfachen Sehen vom Object aufnimmt.","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vorn Auge als opl. Werkzeug. Arhromasie.\n345\nV. Von der Chromasie und A chromasie des Auges.\n(J. Muei.ler Physiol, des Gesichtssinnes 195. 414. T\u00fcubtual. die Chromasie des Auges Meckel\u2019s Archiv 1830. 129.) \u25a0\na. Chromatische Linsen. Wenn gleich die durch eine Linse gebrochenen Strahlen eines leuchtenden Gegensatzes hei Vermeidung der Aberration von der Sph\u00e4ricit\u00e4t ein scharfes Bild hervorbringen, sobald sie in der Vereinigungsweite des Bildes aufgefangen werden, so gilt diess doch mit vollkommner Scharfe nur, wenn die Lichtstrahlen von gleichartigem farbigem Lichte sind. Denn eine absolute Vereinigung des ungleichartigen oder gemischten weissen Lichtes in einem Puncte durch Brechung ist selbst hei der Vermeidung der Aberration von der Sph\u00e4ricit\u00e4t ohne weitere H\u00fclfsmittel unm\u00f6glich, weil die im weissen Lichte enthaltenen farbigen Strahlen eine ungleiche Brechbarkeit besitzen, also auch eine verschiedene Vereinigungsweite haben.\n1st a der leuchtende Punct, AB die Linse, so werden die im Lichtkegel abc enthaltenen farbigen Strahlen ungleich gebrochen, so dass z. B. die violetten Strahlen am meisten brechbar zuerst, die gelben sp\u00e4ter, die rothen zuletzt zur Vereinigung kommen. Statt eines ungef\u00e4rbten Punctes wird auch hei der gr\u00f6ssten Concentration des Lichtes in CD ein Zerstreuungskreis erscheinen, dessen Mitte wegen der Deckung des farbigen Lichtes weiss, dessen R\u00e4nder durch die frei hervortretenden \u00e4ussersten Grenzen der violetten und rothen Strahlen purpurroth erscheinen. Die Farbenerscheinung wird zunehmen, wenn das Bild nicht in der mittlern Vereinigungsweite CD, sondern vor oder hinter derselben in EF oder GH aufgefangen wird. Wird zum Beispiel das Bild in EF aufgefangen, so bilden die jetzt \u00e4ussersten rothen Strahlen, welche von keinen andern farbigen Strahlen gedeckt werden, einen rothen Farbenkreis, die \u00e4ussersten gelben, welche nur von roth gedeckt werden, einen gelbrothen Kreis, der in dem rothen enthalten ist, um die farblose Mitte, wo sich die Kegel der verschieden farbigen Strahlen decken. Wird das Bild in GJI aufgefangen, so bilden die \u00e4ussersten, ungedeckten, violetten Strahlen den \u00e4ussersten Farbenkreis, auf welchen nach innen die\n23*","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":".\u2018MS V. Buch, Von den Sinnen. I. Abscfm. Vom Gesichtssinn.\nan Brechbarkeit zun\u00e4chst folgenden blauen Strahlen folgen, w\u00e4hrend die Mitte weiss ist.\nDie Farbenerscheinung ist, wenn die durch ein Colleclivglas durchgehenden Strahlen in der Vereinigungsweite des Hildes aufgelangen werden sehr gering und nur kaum, bemerkbar sind die R\u00e4nder vom Bilde eines weissen Feldes auf dunkeim Grunde, pur-purrolh gef\u00e4rbt, je weiter aber die aulfangende Tafel sich von tier Vereinigungsweite entfernt, um so st\u00e4rker wird ausser den zunehmenden Zerstreuungskreisen des weissen Hildes sein farbiger Saum. Ivunzf.iv die Lehre com Lichte p. i 57. und Tourtu ai. a. a. O.\nh. Achromatische Linsen. Die Farbenzerstreuung eines Prisma wild durch ein zweites Prisma von gleichem brechendem \\\\ inkcl und gleicher Farbenzerstreuungskraft aufgehoben. Beide Prismen zusammen bilden ein brechendes Medium mit parallelen Ebenen, aus welchem die Lichtstrahlen wie durch eine ebene Glastnlcl unter denselben Winkeln austreten, wie sic eingetreten sind. Dollond hat indess entdeckt, dass das Farbenzerstreuungsverm\u00f6gen dem Brechungsverm\u00f6gen der Medien nicht proportional ist, und dass es Medien gieht, welche stark das Licht brechen aber wenig zerstreuen und umgekehrt. Flintglas bricht das Licht mehr als Crownglas, zerstreut aber in noch li\u00f6herm Grade 'die farbigen Strahlen. Diess f\u00fchrte zur Construction achromatischer Prismen durch Verbindung von Prismen ungleicher Breell- und Zerstreuungskraft. Ein Prisma von Crownglas verbunden mit einem Prisma aus Flintglas von gleichem Brechungswinkel, lenkt die parallel eintretenden Strahlen st\u00e4rker ab, l\u00e4sst sie aber nicht farblos austreten wie zwei mit einander verbundene Crow nglaspris-men von gleichem Winkel, vielmehr werden die Strahlen durch-den Efeberschuss des Farbenzerstreuungsverm\u00f6gens ties Flintglases farbig zerstreut. Wird nun aber der Brechungswinkel des Prisma von Flintglas so weit vermindert, dass beide Prismen gleich stark das Licht zerstreuen, so hebt das eine Glas die Farbenzerstreuung des andern auf, w\u00e4hrend doch die Ablenkung oder einfache Brechung des Lichtes wegen der verschiedenen Winkel beider Prismen nicht gegenseitig aufgehoben wird, sondern bleibt. Ein achromatisches Prisma besteht aus einem Crownglasprisma von einem Brechungswinkel von 30\u00b0, und einem Flintglasprisma von 19\u00b0 Brechungswinkel Hieraus begreift sich die Construction von achromatischen Doppellinsen, welche ihre Farbenzerstreuung gegenseitig auf lieben. Die vollkommenste achromatische Doppellinse hebt \u00fcbrigens nicht alle Farbenzerstreuung auf, wenn das Bild nicht in der Vereinigungsweite aufgelangen wird, und\u2019die Farbens\u00e4ume erscheinen an dem besten Fernrohr, wenn das Ocular \u00fcber die Grenzen des deutlichen Sehens verr\u00fcckt wird. Kunzek. a. a. O. 172 \u2014 177.\nc. Achromasie des Auges. Das Auge des Menschen ist achromatisch, so lange das Bild in der Vereinigungsweite desselben aufgefangen wird, oder so lange sich das Auge nach den Entfernungen des Gegenstandes einrichtet. Worin die Achromasie ihren Grund hat, l\u00e4sst sich mit Bestimmtheit nicht angeben, wohl aber die M\u00f6glichkeit der Achromasie des Auges aus dem optischen","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom Auge als opt. IV,erkzeug. Achromasie.\n317\nHau desselben einseben. Seine brechenden Mittel sind von ungleicher Brechkraft, von ungleichen Convexit\u00e4ten und ungleicher chemischer Constitution. Das eine ist die Linse mit ungleichen Convexit\u00e4ten, das zweite die Cornea mit dem Humor aqueus. Letztere bilden zusammen eine convex - concave Linse, deren Brechkraft von der Linse verschieden ist. Vielleicht ist die Farbenzerstreuungskraft beider brechender Mittel ihrer Rrech-kralt nicht proportional und hierdurch die Achromasie bedingt. Die achromatischen und aplanatischen Doppelobjective, welche der j\u00fcngere Herschel angegeben, haben einige entfernte Aehn-lichkeit mit den brechenden Medien des Auges in der Form und Zusammensetzung. Sic bestehen aus einer vordem biconvexen Crowmdaslinse von ungleichen Halbmessern und zwar mit nach\n<J\t\u00f6\t,\t,\naussen gekehrter convexem Fl\u00e4che und aus einer hintern con-vex-concaven Flintglaslinse, deren concave Seite der Crownglas-linse zugewendet ist.\nd. Chromasic des Auges. Nur fehlerhafter Weisse wird dem menschlichen Auge eine vollkommne Achromasie zugeschrieben. Die Chromasic erscheint mehr oder weniger deutlich, sobald sich das Bild nicht in der Vereinigungsweite des Bildes befindet. Die dioptrischen Farbens\u00e4ume, welche durch die brechenden Medien unseres Auges entstehen und in einem gewissen Grade willk\u00fchr-licli hervorgebracht werden k\u00f6nnen, scheint der Pater Scheiner zuerst beobachtet zu haben. Ausf\u00fchrlichere Beobachtungen dar\u00fcber enthalten Comparetti observ\u00e2tiones dioptricae et anatomicae. comparable de coluribus apparentibus visu et oculo. Patau. 1798. 4. ein Aufsatz \u00fcber physiologische Farbenerscheinungen in Schweig-ger\u2019s Journal d. Uiern. u. P/iys. B. 16., meine Schrift zur Physiologie des Gesichtssinnes Leipz. 1826. p. 194 \u2014 204. und Todr-tual's treffliche Abhandlung in Meckel\u2019s Archiv 1830. Um die dioptrischen Farbens\u00e4ume an sich selbst bei einem ganz gesunden Zustande des Auges zu beobachten, muss man weisse Felder aut schwarzem Grunde, oder schwarze Felder auf weissem Grunde so anseben, dass man einen n\u00e4hern oder fernem Gegenstand fixirt,. wobei das Feld undeutlich mit Zerstreuungskreisen gesehen wird und aus sp\u00e4ter zu erw\u00e4hnenden Gr\u00fcnden sich in zwei Doppelbilder entwickelt, welche sich um so weiter von einander entfernen,, je mehr die Augenachsen von der Fixation des Feldes abweichen. Je undeutlicher die Felder werden, um so st\u00e4rker werden auch die Farbens\u00e4ume. Im Anf\u00e4nge des Experimentes bemerkt man sie nicht, durch Uebung und Aufmerksamkeit gelangt man dahin, den \u00e4usserst schmalen farbigen Saum um die Felder zu erkennen. Am leichtesten l\u00e4sst sich das undeutliche Sehen eines Gegenstandes durch Fixation der Augenachsen auf einen viel n\u00e4hern oder viel fernem k\u00f6rperlichen oder idealen Punct im Raum hervorbringen, daher wird man auch die Farbens\u00e4ume am leichtesten auf diese Weise gewahr. Der Ge\u00fcbte kann jedoch auch, wenn er nur mit einem Auge sieht und das ; udere geschlossen ist, das undeutliche Sehen wiilk\u00fchrlich hervorbxnigen, indem er den Refractionszustand f\u00fcr einen fernem oder n\u00e4hern Punct im Raum eintreten l\u00e4sst. Auf diese Weise bringt man die Farben-","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348 V. Buch. Von. Jen Sinnen. I. Ahschn. Vom Gesichtssinn.\ns\u00e4ume auch mit einem Auge und ohne Doppelbilder des Gegenstandes hervor. Das Folgende enth\u00e4lt die Resultate meiner eigenen Beobachtungen.\n1. Betrachtet man mit einem Auge ein weisses Feld auf schwarzem Grunde, so dass der Refraetionszustand einem fernem Puncte als dem Felde entspricht, so wird das undeutliche weisse Feld auf schwarzem Grunde mit einem leichten und feinen Farbensaume umg\u00fcrtet erscheinen, dessen Farben vom Wcissen nach dem Schwarzen violet, blau, gelb, roth sind. Meistens ist nur das Blaue und das Gelbe einigermassen deutlich.\ni. Betrachtet man ein weisses Feld auf schwarzem Grunde, so dass der Refraetionszustand einem n\u00e4hern Gegenst\u00e4nde als dem augeschauten entspricht, so ist der Farbensaum des undeutlichen Bildes in eben der Folge roth. gelb, blau, violet aber umgekehrt, n\u00e4mlich violet, blau ist dem Schwarzem, gelb, roth dem Weissen n\u00e4her.\nSieht man mit beiden Augen undeutlich und also Doppelbilder, so ist, wenn die Augenachsen sich hinter dem Objecte der Doppelerscheinung kreuzen, die Folge der Farben wie im ersten Falle. Kreuzen sich die Augenachsen vor dem Objecte der Doppelerscheinung, so folgen sieh die Farben wie in dem zweiten Falle.\nSehr lebhaft erscheinen auch die Farbens\u00e4ume an den Rahmen der Fenster, wenn man durch diese blickend fernere Gegenst\u00e4nde fixirt, oder mit auf das Fenster gerichteten Augen einen n\u00e4hern Gegenstand, den vorgehaltenen Finger, deutlich ansieht.\nDie Farbens\u00e4ume erleiden eine Verunreinigung durch das Vorspringen der subjcctiveu Nachbilder am Rande des objcctiven Bildes bei einer leisen seitlichen Bewegung des Auges. Das subjective Nachbild eines schwarzen Feldes auf weissem Grunde ist weiss, eines weissen Feldes grau, eines farbigen Feldes die com-plement\u00e4r entgegengesetzte Farbe. Bei l\u00e4ngerem fixirendem Betrachten eines Feldes deckt das physiologische Nachbild das objective Bild, wird aber das Auge ganz wenig zur Seite bewegt, so k\u00f6mmt der Rand des physiologischen Nachbildes am Rande des objectiven Bildes zum Vorschein. Diese S\u00e4ume, welche bloss auf der Seite erscheinen, nach welcher das Auge schwankt, muss man wohl von den dioptrischen Farbens\u00e4umen unterscheiden, welche objectiv sind und ihren Grund in den brechenden Medien des Auges haben. Compabetti hat beide gemischte Ph\u00e4nomene beschrieben. Das Sehen der Farbens\u00e4ume hat wie man sieht ganz objective Ursachen im Auge, und an die Ver\u00e4nderungen in der Nervenhaut, wovon in pathologischen Werken hier und da die Rede ist, ist hier nicht zu denken. Tritt das Ph\u00e4nomen pathologisch ein, so ist es nicht Folge einer Ver\u00e4nderung im Acte des Sehens, sondern einer Ver\u00e4nderung im Verm\u00f6gen den Refrac-tionszustand des Auges f\u00fcr verschiedene Fernen abzu\u00e4ndern. Manche klagen uner das Sehen der Farbens\u00e4ume bei sonst ungest\u00f6rter Sehkraft, ohne alle Anlage des Auges zu krankhaften Ver\u00e4nderungen der Netzhaut, ohne Anlage zur Amblyopie und zum schwarzen Staar. Hieher geh\u00f6ren auch die rothen S\u00e4ume schw\u00e4r-","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"3. IVirkungen ei. Sehnerven. Ant heil <1. Sensoriums am Sehen. 34!)\nzer Schrift bei einer durch Affect,\u25a0 geistige Anstrengung, Schl\u00e4frigkeit eingetretenen L\u00e4hmung der inneren Ver\u00e4nderungen des Refractionszustandes, die blutigen W\u00fcrfel u. s. w. Sehr stark, werden die dioptrischen Farbens\u00e4ume, wenn man durch Belladon-naextract die inneren Ver\u00e4nderungen f\u00fcr das deutliche Sehen in verschiedenen Fernen aufhebt. Siehe das N\u00e4here in meiner angef\u00fchrten Schrift p. 203.\nDie farbigen Lichth\u00f6fe m\u00fcssen von den dioptrischen Farbens\u00e4umen unterschieden werden.\n#\nIII. CapiteL Von den Wirkungen der Nerven h aut, des Sehnervens und des Sensoriums heim Sehen.\nAlle im vorigen Capitel untersuchten Erscheinungen ergeben sich aus dem optischen Baue des Auges, d. h. aus der Construction der vor der Nervenhaut liegenden, durchsichtigen Media. Eine grosse Anzahl von Erscheinungen findet hingegen .hre Erkl\u00e4rung nicht in den optischen Mitteln des Auges, sondern in den Lebenseigenschaften der Nervenhaut, und in ihrer Wechselwirkung mit dem Sensorium. Dahin geh\u00f6rt nicht bloss der Act der Empfindung selbst und die Wahrnehmung der stattgefundenen Ver\u00e4nderung der Nervenhaut als Licht und Farben, sondern auch die Verwandlung der Netzhautbildcr in Anschauungen von einem Sehraum, von N\u00e4he und Ferne, K\u00f6rperlichkeit und Gr\u00f6sse der Gegenst\u00e4nde. Feiner geh\u00f6rt dahin die Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Theilen des sensitiven Apparates und viele durch das \u00e4ussere Licht entweder gar nicht oder nur mittelbar in der Nervenhaut hervorgerufenen Erscheinungen. Die hieher geh\u00f6rigen Phaenomene werden in den folgenden Artikeln abgehandelt. 1. Von der Th\u00e4tigkeit der Nervenhaut im Allgemeinen und von der Mitwirkung des Sensoriums beim Sehen. 2. Von der Wechselwirkung verschiedener Theile der Nervenhaut unter sich. 3. Von den Nachbildern. 4. Von der gleichzeitigen Wirkung beider Augen. 5. Von den subjectiven Gesichtserscheinungen.\n1. Von der Th\u00e4tigkeit der Nervenhaut im Allgemeinen und von der Mitwirkung des Sensoriums beim Sehen.\nAction der Netzhaut und des Sensoriums,\nDass die Nervenhaut nicht bloss Wirkungen von aussen leitet, sondern selbstst\u00e4ndig dagegen reagirt, wurde in der Einleitung zur Physiologie der Sinne ausf\u00fchrlich bewiesen. Licht und Farbe sind Actionen der Nervenhaut und ihrer Fortsetzungen zum Gehirn. Von der Art der \u00e4ussern Einwirkung h\u00e4ngt cs ab, welche Farben und lichte Bilder empfunden werden. Die Th\u00e4tigkeit der Nervenhaut ist daher so wenig unbekannt, dass ihre bekannte Eigenschaft im Zustande der Reizung Farbe und Licht zu sehen, vielmehr das Grundph\u00e4numeu isl, auf welchem alle Untersuchungen","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022350 V. Buch. Von den Sinnen. I. Ahschn. Vom Gesichtssinn.\n\u00fcber das Sehen basiren. Schwingungen einer durch die ganze Welt verbreiteten Fl\u00fcssigkeit, des Aethers, von bestimmter Geschwindigkeit der Wellen bringen in der Nervenhaut die Empfindung einer bestimmten Farbe, Schwingungen einer andern Geschwindigkeit die Empfindung einer andern Farbe als Reaction der Nervenhaut hervor. Die Reizung der Nervenhaut in demselben Puncto von den verschieden schnellen Wellen zugleich bewirkt die Empfindung des Lichten. Dieselben Empfindungen entstehen aber auch ohne Mitwirkung der Schwingungen des Aethers von Reizung der Nervenhaut durch Electricit\u00e4t und Druck.\nWenn die Ver\u00e4nderungen der Nervenbaut es sind, welche beim Sehen empfunden werden, so ^ann man auch sagen, dass die Nervenhaut sich selbst beim Acte des Sehens in irgend einem Zustande empfinde, oder dass das Sensorium die Nervenhaut in irgend einem Zustande wahrnehme. Die Ruhe der Nervenhaut ist die Ursache der Erscheinung des Dunkeln vor den Augen, die tb\u00e4tige Nervenhaut ist die Ursache des lichten Sehfeldes in der Empfindung. Unter gewissen Umst\u00e4nden sieht man die Nervenhaut an sich selbst und einzelne T'heile derselben, ohne dass \u00e4ussere Gegenst\u00e4nde Bilder auf diesen Theilen verursachen. Dahin geh\u00f6rt ausser den Figuren von Druck und von der Electricit\u00e4t, ein von Purkinje zuerst beobachtetes Ph\u00e4nomen, welches hier zuerst erw\u00e4hnt zu werden verdient. Wenn man in einem sonst dunkeln Raum mit einem Kerzenlicht 6 Zoll vor den Augen sich hin und her fahren l\u00e4sst, oder wenn Bewegungen im Kreise mit dem Lichte vor den Augen ausgef\u00fchrt werden, so sieht man nach einiger Zeit eine dunkle, baumartige, \u00e4stige Figur, welche ihre Aeste \u00fcber das ganze Sehfeld ausbreitet und welche nichts Anderes ist, als die Ausbreitung der Vasa centralia retinae oder diejenigen Theilc der Retina, die von diesen Gef\u00e4ssen bedeckt werden. Eigentlich sind zwei baumartige Figurer, deren St\u00e4mme sich nicht decken und vielmehr im linken und rechten Theilc des Sehfeldes entspringen und sogleich auseinander fahren. Jedem Auge geh\u00f6rt ein Stamm an, die Aeste der beiden Figuren streben im gemeinschaftlichen Sehfeld durcheinander. Diese Figuren entstehen auf folgende W eise. Durch das Hin und Herfahren des Kerzenlichtes, wird auf dem ganzen Umfang der Retina Licht verbreitet, und alle Steilen der Retina, welche nicht von den \\ asa centralia unmittelbar bedeckt sind, werden matt erhellt, die von den Gef\u00e4ssen bedeckten Stellen der Retina hingegen k\u00f6nnen nicht eibellt werden und erscheinen daher dunkel als schw\u00e4rzliche B\u00e4ume. Bei den meisten Menschen gelingt das Experiment leicht, bei einigen schwer oder gar nicht. Die Aderfiguren scheinen vor den Augen zu liegen und im Sehfelde zu schweben. Durch diesen Versuch erh\u00e4lt man eine lebhafte Anschauung von der Wirklichkeit der Thatsache, dass man beim Sehen die Zust\u00e4nde der Nervenhaut und nichts Anderes als diese empfindet, und dass die Nervenhaut gleichsam das Sehfeld selbst ist, dunkel im Zustande der Ruhe, hell im Zustande der Erregung.\nEines der schwierigsten Probleme der Physiologie ist nun aber die Wechselwirkung der Nervenhaut und des Sensoriuim","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"3. Wirkungen d. Sehnerven. Antheil d. Sensuriums am Sehen. 351\nbeim Selien. Diesen Tiieil der Physiologie der Sinne kann man geradezu metaphysisch nennen, da es uns zur Zeit an gen\u00fcgenden empirischen H\u00fclfmitteln zur Aufkl\u00e4rung dieser Wechselwirkung gehricht. Wo wird der Zustand der Nervenhaut empfunden, in der Nervenhaut seihst oder im Gehirn?\nWenn die Zust\u00e4nde der Theilchen der Nervenhaut erst im Gehirn zur Empfindung kommen, so m\u00fcssen sie im Sehnerven bis zum Gehirn in derselben Ordnung geleitet werden, welche dicTheilchcn der Nervenhaut nebeneinander haben. Jedem kleinsten Theilchen der Nervenhaut muss eine Nervenfaser des Sehnerven entsprechen. Damit stimmt die Erfahrung keineswegs \u00fcherein. Vergleicht man die Dicke des Sehnerven mit der Aus-breitung der Nervenhaut, so scheint wenig Hoffnung zu einer solchen Uebereinstimmung. Denn die Zahl der Nervenfasern im Sehnerven scheint viel kleiner, als die Zahl der Papillen der Nervenhaut. EineUebereinstimmung w\u00fcrde daher nur dann statt finden k\u00f6nnen, wenn die sogenannten Primitivfasern des Sehnerven noch ausserordentlich viel feinere Elemente in grosser Anzahl enthielten. Indessen ist zu bedenken, dass nur im mittlern Theil der Netzhaut die Empfindung scharf ist, und nimmt man, dass in der Mitte der Netzhaut die Enden der Fasern dicht nebeneinander liegen, nach aussen hin aber durch immer gr\u00f6ssere Zwischenr\u00e4ume getrennt sind, so f\u00e4llt ein Theil der Schwierigkeiten weg. Die Empfindung ist in der Mitte der Netzhaut so scharf und auf den Seiten derselben so ganz unbestimmt, als wenn in der Mitte der Netzhaut einzelnen kleinen Theilchen des Bildes die Enden einzelner Fasern, an den Seiten vielen kleinen Theilchen des Bildes nur eine Faser entsprechen, und als wenn hier eine Faser in einiger L\u00e4nge den Eindr\u00fccken ausgesetzt w\u00e4re, w\u00e4hrend sie in der Mitte der Netzhaut nur durch ihr punetf\u00f6rmiges Ende empfindet. Von besonderer Wichtigkeit w\u00e4re hierzu wissen, wie sich die von Trkvib antjs beobachteten Nervenpapillen der Retina zur Faserschicht der Retina verhalten, ob in der That wie er angiebt, jede Nervenfaser in eine Nervenpapille umbiegt, oder oh eine | Nervenfaser ganzen Reihen von Papillen entspricht. Wie w\u00fcrde aber eine Faser die Ver\u00e4nderungen ganzer Reihen von Raumtheilchen in ihrer L\u00e4nge bis zum Sensorium leiten k\u00f6nnen, wenn im Sensorium erst die Empfindung der Orte entstehen soll. Findet die Pr\u00e4sentation der Empfindungen nur im Gehirn durch die Enden der Nervenfasern statt, so kann eine Faser auch alle Alfeetionen in aliquoten Theilen ihrer L\u00e4nge nur in einem Puncte pr\u00e4sentiren. F\u00e4nde hingegen die Empfindung verschiedener Orte an aliquoten Theilen der L\u00e4nge einer Faser statt, so m\u00fcsste man sich die Seele als in jedem Theilchen der L\u00e4nge einer Faser wirkend vorstellen, wogegen f\u00fcr die R\u00fcckenmarksnerven die Erfahrungen \u00fcber die Empfindungen der Amputirjen sprechen. Diese Schwierigkeit liesse sich durch die Supposition haben, dass die h\u00f6heren Sinnesnerven verschieden von andern Nerven n\u00e4her an dem Wirken der Seele participiren, so dass die Seele bis in die Nervenenden der Retina fortwirke, indem die Sinnesnerven nur Forts\u00e4tze des Sensoriums sind. Es ist vollends","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352 V. Buch. Von den Sinnen. I. Ahsclm. Vom Gesichtssinn.\nunm\u00f6glich hei dem jetzigen Zustande der Wissenschaft diess R\u00e4th-sc\u2018l aufizul\u00f6sen.\nWie sich das auch verhalten mag, so ist es jedenfalls gewiss, dass auch nach Verlust der Pi\u00e9tina und des \u00e4usseren Theiles des Sehnerven, die innern oder Hirntheile des Sehsinnes nicht hloss die Empfindungen von Licht, sondern selbst dieselben Anschauungen von einem Sehfelde, in welchem Bilder gesehen werden, hervorbringen k\u00f6nnen. Hieher geh\u00f6ren die merkw\u00fcrdigen von Liwcke beobachteten Erscheinungen. Ein Mann, dem ein fung\u00f6ses Auge exstirpirt worden war, sah einen Tag nach der Operation, als er das gesunde Auge schloss, verschiedene Bilder vor seiner leeren Augenh\u00f6hle umherschweifen, als Lichter, Feuerkreise, viele tanzende Menschen. Liscke de fungo medullari. Lips. 1834. Aehn-liche Erscheinungen sind schon \u00f6fter an Totalblinden beobachtet. Siehe meine Schrift \u00fcber die phantastischen Gesichtserscheinungen. Coblenz 1826. Hieraus scheint hervorzugehen, dass die Affectionen der Nervenfasern des Sehnerven erst im Gehirn seihst zur Construction eines Sehraums verwandt werden, und eine Consequenz davon w\u00e4re wieder, dass die ganze Mosaik der Retina durch eine Anzahl \u00fcbereinstimmender Nervenfasern im Sensorium repr\u00e4sentirt werde, was durch die Erfahrung nicht nachweisbar ist.\nDer Process der Wechselwirkung zwischen den Endtheilen des Sehapparates und den Centraltheilen desselben ist daher noch sehr unklar und wir k\u00f6nnen nur hei dem Factum stehen bleiben, dass alle Ordnung des Gesehenen im Sehfelde von der Ordnung der ailicirten Netzhauttheilchen abh\u00e4ngt.\nGr\u00f6sse des Sehfeldes in der Vorstellung.\nDie Gr\u00f6sse des Sehfeldes h\u00e4ngt ah von der Gr\u00f6sse der Netzhaut, denn niemals k\u00f6nnen mehr Bilder zu gleicher Zeit gesehen werden, als zusammen auf der ganzen Netzhaut Raum haben, in diesem Sinne ist die vom Sensorium empfundene Nervenhaut das Sehfeld seihst. Aber f\u00fcr die Vorstellung des Sehenden hat das Sehfeld gar keine bestimmte Gr\u00f6sse und die Vorstellung, die wir vom Sehfeld oder Sehraum vor tins halten, ist h\u00f6chst ver\u00e4nderlich, bald sehr klein, bald ausserordentlich gross. Die Vorstellung vom Gesehenen projicirt n\u00e4mlich das Gesehene aus einem sp\u00e4ter zu erkl\u00e4renden Grunde nach aussen. Daher ist das Sehfeld in der Vorstellung sehr klein, wenn die Vorstellung durch nahe vor dem Auge liegende Hindernisse beschr\u00e4nkt wird, hingegen sehr gross in der Vorstellung, wenn das Projiciren des Gesehenen in der Vorstellung nach aussen keine Hindernisse findet. Sehr klein ist in der Vorstellung das Sehfeld, wenn wir in einen engen vor das Auge gehaltenen hohlen K\u00f6rper sehen, gross, wenn v;ir durch eine enge Oel\u00efnung in die Landschaft hinausseher, noch gr\u00f6sser, wenn wir durch ein Fenster sehen, am gr\u00f6ssten, wenn wir frei hinaussehen. In allen diesen F\u00e4llen ist die Vorstellung von der Gr\u00f6sse des Sehfeldes h\u00f6chst verschieden und doch ist seine ah-","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"3. IVirklingen d. Sehnerven. Scheinbare Grosse d. Sehfeldes. 353\nsolute Gr\u00f6sse immer gleich, n\u00e4mlich von der Ausbreitung der Nervenhaut abh\u00e4ngig. Denn wie gesast, niemals kann mehr zugleich gesehen werden, als Bilder zusammen auf der Nervenhaut Platz haben. Dennoch obgleich beim Sehen durch eine Oeffnung in die Landschaft das ganze Bild der Landschaft nicht gr\u00f6sser als die Oeffnung ist, und denselben Raum auf der Retina einnimmt, als der Umfang der Oeffnung, so ist doch die Vorstellung von einem und demselben Sehfelde so li\u00f6cht verschieden. Hieraus folgt also, dass das Vorstellen beim Sehen best\u00e4ndig mitwirkt, so dass zuletzt schwer zu sogen ist, was dem blossen Empfinden und dem Vorstellen angeh\u00f6rt. K\u00f6nnten wir im erwachsenen Zustande vom Vorstellen beim Sehen abstrahiren, dann nur w\u00fcrde das blosse Empfinden beim Sehen \u00fcbrig bleiben, wie es beim neuge-bornen Kinde stattfinden mag. F\u00fcr das Kind, welches noch keine Vorstellung von N\u00e4he und Ferne des Gesehenen hat, w\u00fcrde das Sehfeld gleich gross erscheinen m\u00fcssen, wenn es in eine am Ende geschlossene R\u00f6hre hineinsieht, oder wenn es durch dieselbe aber offene R\u00f6hre die ganze Landschaft sieht. Aus dieser Betrachtung ergiebt sich auch, dass das einfache Empfinden des Gesehenen allerdings etwas Urspr\u00fcngliches und von den Vorstellungen Unabh\u00e4ngiges seyn muss.\nAlles was unter demselben Gesichtswinkel axb erscheint, hat auch nur dasselbe gleich grosse Netzhaulbild ah, die Gegenst\u00e4nde d, e, f, g, h u. s. w. welche sehr verschieden an Gr\u00f6sse in verchiedener Entfernung liegen, haben denselben Gesichtswinkel und dasselbe gleichgrosse Netzhautbild ab, dennoch ist ihr Bild f\u00fcr die Vorstellung sehr ungleich, sobald Begriffe von Ferne und N\u00e4he eingetreten sind. Denn das Vorstellen erweitert aus dem Bilde ab den Sehraum zu d, zu <?, zu f, zu g, zu h, um soviel uud stellt das Netzhautbild ab so gross der Seele vor, als es sonst schon in der N\u00e4he, oder wie cs am h\u00e4ufigsten gesehen wurde. Eine auf der Netzhaut zun\u00e4chst abgebildete Landschaft ab von dem Gesichtswinkel axb wird daher vielleicht zwei Meilen gross vorgestcllt, wenn wir wissen, dass sie so gross ist, oder wenn wir aus der Menge der zugleich gesehenen bekannten Gegenst\u00e4nde schliessen, dass es so sei. Und so wie einige Bilder von gleichem Gesichtswinkel verschieden gross im Sehfeld vorgestellt werden, so wird auch das ganze sich immer an absoluter Gr\u00f6sse gleich-bleibende Sehfeld der aflicirten Netzhauttheilchen \u00e4usserst verschieden au Gr\u00f6sse vorgestellt. Aus diesem Grunde wird das in der Camera obscura betrachtete Bild f\u00fcr eine lebendige Landschaft, f\u00fcr den wahren Sehraum selbst gehalten, obgleich es nur ein kleines Bild auf einer Tafel ist. Durch denselben Process des Projicirens in der Vorstellung nach aussen, entsteht auch die Vorstellung von Tiefe im Sehraume, welche Vorstellung am meisten dadurch befestigt wird, dass, indem wir fortgehen, sieh unserer Retina andere Bilder","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"351 V. Buch. Von den Sinnen. I. Abschn. Vom Gesichtssinn.\ndarbieten, daher wir gleichsam zwischen den Bildern durchzage-hen scheinen, was f\u00fcr die Vorstellung so viel wird, als ein Hindurehgehen zwischen den gesehenen Gegenst\u00e4nden im Schraume.\nSo wird es also klar, dass das vorgestellte Sehfeld h\u00f6chst wandelbar ist, w\u00e4hrend tlas Sehfeld der einlachen Empfindung durchaus von dem Umfang der Nervenhaut oder der inneren centralen Theile des Sehapparates im Gehirn abh\u00e4ngig ist. Dem letztem entspricht am meisten ein solches Empfinden in der Ner-Yenhaut, wobei wir uns gar keine Objecte vorstellen, z. B. die Empfindung des dunkeln Sehfeldes bei geschlossenen Augen, oder die Empfindung des lichten Sehfeldes bei geschlossenen Augen, wenn das Licht dur\u00e7h unsere Augenlieder scheint. Hier scheint auch das Sehfeld unmittelbar vor oder im Auge zu scyn. Sobald aber mit dem Gesehenen sich irgend eine Vorstellung von schon gesehenen Objecten verbinden l\u00e4sst, so tritt auch die Projection nach aussen in der Vorstellung ein, und die Gr\u00f6sse in welcher man sich das Gesehene vorstellt, h\u00e4ngt selbst von individuellen Erfahruncen ab. Daher ist die Amrabe der Einzelnen\nO\tO\nso sehr verschieden, wie gross sie die, in dem vorerw\u00e4hnten Versuch von Purkinje sichtbaren Adern der Nervenhaut sehen und wie weit vor dem Auge diese Figuren zu schweben scheinen.\nDer Gesichtssinn verh\u00e4lt sich in dieser Weise ganz anders zu den \u00e4usseru Gegenst\u00e4nden als der Gef\u00fchlssinn. F\u00fcr den letztem sind die Objecte unmittelbar gegenw\u00e4rtig und das Mass l\u00fcr die Gr\u00f6sse der \u00e4ussern Objecte ist unsere Leiblichkeit, welche die Objecte ber\u00fchrt. Eine von der Hand ber\u00fchrte Tafel erscheint an der ber\u00fchrten Stelle so gross als Theile der Hand davon affi-cirt werden, denn ein Theil unseres Leibes den wir empfinden, ist hier das Mass. Die ber\u00fchrende Stelle der Hand macht n\u00e4mlich einen Theil aus von der empfindlichen ganzen K\u00f6rperoberfl\u00e4che, und die ber\u00fchrte Stelle der Tafel erscheint so gross, jals die ber\u00fchrende Stelle der Hand im Verh\u00e4ltnis? zu unserm ganzen K\u00f6rper erscheint. Alle Unterscheidung unserer K\u00f6rperlhede h\u00e4ngt aber wieder ab, von der M\u00f6glichkeit die von verschiedenen K\u00f6r-pertheilen kommenden Nervenfasern im Sensorium zu unterscheiden. Beim Gesichtssinn hingegen sind die Bilder der Gegenst\u00e4nde nur Bruchtheile der Gegenst\u00e4nde selbst, realisirt auf der sich gleich-bleibenden Netzhaut. Aber der Process des Vorstellens, welcher die Empfindungen des Sehens zergliedert, erhebt nach aussen wirkend die Bilder der Gegenst\u00e4nde, mitsummt dem ganzen Sehfelde der Netzhaut in der Vorstellung zu ganz Varianten Gr\u00f6ssen, w obei nur das relative Verh\u00e4ltnis der Bilder zum ganzen Sehfeld oder der aflicirten Netzhaultheilchen zur ganzen Netzhaut ungest\u00f6rt bleibt.\nVolkmann (Beiir. zur Physiol, d. Gesichtssinnes. Leipz. 1836.) macht die Bemerkung, dass die Netzhaut in keinem Falle ihre r\u00e4umliche Ausdehnung empfinde, und dass selbst der Gef\u00fchlssinn nicht die eigene Leiblichkeit zur Anschauung bringe. Er beruft sich auf die Beobachtungen von E. II. Weber, dass die Distanz zweier Puncto an verschiedenen Stellen der Haut sehr verschieden empfunden werde. Siehe oben BundI. 3. Buch. 3. Abschnitt. Volkmann stellt","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"3. Wirkungen il. Sehnerven. Nach aussen Wirken d. Sehens. .355\ndalier den Satz auf, die Haut sch\u00e4tzt die Gr\u00f6sse der Objecte so, dass sie die Gr\u00f6sse der letzten ihr wahrnehmbaren Distanz als Mass-einheit annimmt. Nennen wir diese Masseinheit x, so sei die Gr\u00f6sse eines Zolles f\u00fcr die Fingerspitze 12 %, f\u00fcr eine Stelle in der miltlern Gegend des Arms 1 x. Denn jede Stelle der Haut gebe einem betasteten Objecte so vielmal die Gr\u00f6sse x als sie Stellen enthalte, die x als Gesondertes zu unterscheiden im Stande sind. Nach dieser Ansicht m\u00fcsste, wenn ich mit der Fingerspitze den Miltelarm ber\u00fchre, dieselbe Stelle von der Fingerspitze 12 Mal so gross, als von der Haut des Arms empfunden werden. Volkmann wendet seine Ansicht auch auf die Netzhaut an, auch sie nehme bei Sch\u00e4tzung der Gr\u00f6sse d:e letzte sichtbare Distanz als Masseinheit ein. Die von Weber beobachteten Erscheinungen lassen mdess noch eine andere Erkl\u00e4rung, n\u00e4mlich aus der Vermischung oder Irradiation der Empfindungen, bei welcher sie gleichsam Zerstreuungskreise bilden, zu.\nN a c h aussen W irken des Gesichtssinnes.\nEs k\u00f6mmt nun zun\u00e4chst zur Frage, wie das nach aussen Wirken des Sehens zuerst entsteht. Mehrere Physiologen wie Tour-tuai., Volkmann, Bartels, legen dem Gesichtssinne selbst das Wirken nach aussen, oder Setzen des Gesehenen nach aussen zu. Aber was ist zuerst aussen? Da der zuerst Sehende das Bild seines K\u00f6rpers noch nicht von andern Bildern zu unterscheiden vermag, so kann das nach aussen Setzen des Geseuenen nichts Anderes, als ein Unterscheiden des Gesehenen vom Subject, ein Unterscheiden des Empfundenen vom empfindenden Ich scyn. Das nach aussen Setzen des Gesehenen ausser dem eigenen K\u00f6rper ist Sache des Urtheils, wie schon in der Einleitung zur Physiologie der Sinne er\u00f6rtert wurde. Man sagt, der Neugeborne setze die Gesichtsob-jecte gleich anfangs ausser seinem K\u00f6rper und. ausser seinem Auge ; aber der Neugeborne kennt sein eigenes Auge, wie seinen eigenen K\u00f6rper in der Form von Gesichtsempfindungen nicht; und muss erst durch die Erfahrung lernen, welches von den Bildern, die er sieht, sein eigener K\u00f6rper ist. Man kann also nur sagen, dass der Neugeborne das Empfundene ausser dem empfindenden leb setzt, und nur in diesem Sinne setzt er das Empfundene nach aussen. Bei den Thieren ist diese Beaction des Sensoriums nach aussen viel sicherer, durch Mitwirkung des Instinctes, denn das Thier geht bald auf die Zitze der Mutter zu, und in seinem Sensorium muss ein aneeborner Antrieb seyn, das gesehene Bild, das dem sehenden Ich \u00e4usserlich oder Object ist, durch Bewegungen zu erreichen. Wciss der Neugeborne d.-.s Bild des eigenen K\u00f6rpers anfangs nicht vom Bild der Aussenwelt zu unterscheiden, so bemerkt er bald, dass gewisse Bildchen im Sehfeld fast best\u00e4ndig wiederkehren, und dass sieb diese Bildchen bewegen, wenn sieb tier K\u00f6rper willk\u00fchrlich bewegt. Diese sind Bilder des eigenen K\u00f6rpers, alle \u00fcbrigen Bilder ver\u00e4ndern sich theils ganz unabh\u00e4ngig von dem eigenen K\u00f6rper, theils entsprechen ihre Ver\u00e4nderungen nicht den Bewegungen des Individuums. Das sind die Bilder","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356 V. Buch. Von den Sinnen. I. Ah sehn. Vom Gesichtssinn.\nder Ausscnwclt, welche nun als ausser dem K\u00f6rper des Individuums r\u00e4umlich existirend gesetzt und fort und fort in dem nun entstandenen Sehraum der Vorstellung sich widerholt. Vom Auge in sofern es sieht weiss der Neugeborne nichts. Der Sehende hat \u00fcberhaupt wenig Gelegenheit zu erkennen, dass im Auge gesehen wird. Nur in den F\u00e4llen, wo zwar im Auge empfunden, aber nichts bestimmtes Aeussercs gesehen wird, hat man die Gelegenheit zu bemerken, dass das Auge der Schauplatz dieser Wirkungen ist, im Empfinden des Dunkels vor den geschlossenen Augen und im Empfinden der durch die geschlossenen Augenlieder wirkenden Helligkeit. Auf die eben dargestellte Art muss der neugeborne Mensch lernen die sichtbare Aussenwelt sich selbst gegen\u00fcber zu setzen oder die sichtbare Welt ausser sich zu setzen.\nBilder des eigenen K\u00f6rpers im Sehfelde.\nGewisse Theile unseres K\u00f6rpers machen nun fast immer einen Theil des Sehfeldes des Auges und also auch der Gesichtsvorstellungen aus. Wenn wir mit einem Auge sehen, so wird die eine Seite des Sehfeldes vom Bilde der einen sichtbaren Seite der Nase eingenommen. Bewegen wir die Augenbraunen herab, so nehmen die Augenbraunen den obern Theil des Sehfeldes ein. Wird die Wange erhoben, so sieht man einen Theil davon an der untern Seite des Sehfeldes, und wird der \u00e4ussere Theil des Muscu-lus orbicularis palpebrarum contrahirt, so wird auch der \u00e4ussere Theil des Sehfeldes durch ein Schattenbild, was von den Umgebungen des Auges herr\u00fchrt, begrenzt. Bilder von Theilen unseres K\u00f6rpers k\u00f6nnen also in der ganzen Peripherie des Sehfeldes erscheinen, und zwischen den Bildern von unsern K\u00f6rperlheilen liegen dann die Bilder der \u00e4ussern Gegenst\u00e4nde. Wenn wir mit einem Auge sehend die Nasenspitze fixiren, so ragt das Bild der Nase von der einen Seite des Sehfeldes bis in die Mitte. Wenn wir mit beiden Augen zugleich sehen und die Nasenspitze fixiren, so liegt das Bild der Nasenspitze in der Mitte des untern Theils des Sehfeldes, beiden Augen zugleich angeh\u00f6rtnd, w\u00e4hrend die Bilder der Nasenseiten zum Theil verloren gehen, indem das eine Auge \u00e4ussere Objecte sieht an der Stelle, wo das andere ein undeutliches Bild der Naje hat. Wird das Auge mehr nach abw\u00e4rts gewandt, so erscheint am untern Theil des Sehfeldes nicht mehr bloss die Nase, die Wangen und die Lippen, sondern auch der Rumpf und die Extremit\u00e4ten. Bei jeder Stellung des Auges aber sieht es immer einen Tlieil unseres K\u00f6rpers, der eine bestimmte Stelle in der Peripherie des Sehfeldes oben oder unten oder an den Seiten einnimmt, und das Bild unserer K\u00f6rpertlieile macht einen integrirenden Theil der meisten Gesichtsempfmdungen und Gesichtsvorstellungen aus.\nObgleich die Bilder unseres K\u00f6rpers auch nur auf dem Sehfelde der Netzhaut abgebildet, und von diesem aus dem Sensorium pr\u00e4sentirt werden, so legt ihnen das Sensorium mit derselben Sicherheit wie den Bildern \u00e4usserer Gegenst\u00e4nde Objectivit\u00e4t bei. Genau genommen ist das Bild unserer Hand, das wir sehen,","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"3. Wirkungen d. Sehnerven, Verkehrtsehen. Geradesehen. 357\nnicht die Ilaiul seihst, sondern nur ihr Schein. Wir greifen nach Etwas, und indem wrir diess thun, geschieht im Bilde des Sehfeldes der Netzhaut dasselbe, wir sehen, dass wir greifen, indem der Schein unserer Hand den Schein des Objectes ergreift. Von demselben Acte werden wir auch durch einen andern Sinn, durch das Gef\u00fchl der Hand und ihrer Bewegungen unterrichtet. Wunderbar scheint nun, dass, obgleich das F\u00fchlen unserer R\u00f6rpertheile und das Sehen derselben an ganz verschiedenen Orten geschieht, doch beiderlei Empfindungen nie in Widerspruch gerathen. Die Harmonie und die Vereinigung beiderlei Empfindungen geschieht auch durch die Vorstellung. Dass dem so ist, k\u00f6nnen wir an einem Beispiel uns versinnlichen, wo die \\ erschiedenlieit des Ortes noch auffallender ist, die Vorstellung aber gleichwohl beiderlei Empfindungen nicht minder enge verkn\u00fcpft. Wenn wir das Bild unseres K\u00f6rpers und seine Bewegungen im Spiegel sehen, die H\u00e4nde bewegen und davon durch das Gef\u00fchl sowohl, als durch das Bild im Spiegel unterrichtet werden, so gelingt es uns auch, das Gef\u00fchlte und das Gesehene, obgleich es an ganz verschiedenen Orten stattfindet, durch die Vorstellung zu Einem zu verbinden.\nYcrk e h r t s cli en und Geradeschen.\nNach optischen Gesetzen werden die Bilder in Beziehung zu den Objecten verkehrt auf der Netzhaut dargestellt, was oben im Objecte ist, erscheintunten im Bilde und umgekehrt, das rechte links, das linke rechts, w\u00e4hlend die relative Lage der \u00efheile des Bildes ganz dieselbe bleibt. Es entsteht nun die Frage, ob man die Bilder in der That wie sie sind verkehrt, oder oh man sie aufrecht wie im Objecte sehe. Da Bilder und aflicirte Netzhaut-theilchen eins und dasselbe sind, so ist die Frage physiologisch ausgedr\u00fcckt, ob die Netzhauttheilchen beim Sehen in ihrer na-turgem\u00e4ssen Relation zum K\u00f6rper empfunden werden.\nMeine Ansicht der Sache, welche ich bereits in der Schrift \u00fcber die Physiologie des Gesichtssinnes entwickelte, ist die, dass, wenn wir auch verkehrt sehen, wir niemals als durch optische Untersuchungen zu dem Bewusstseyn kommen k\u00f6nnen, dass wir verkehrt sehen und dass wenn Alles verkehrt gesehen wird, die Ordnung der Gegenst\u00e4nde auch in keiner Weise gest\u00f6rt wird. Es ist wie mit der t\u00e4glichen Umkehrung der Gegenst\u00e4nde mit der ganzen Erde, die man nur erkennt, wenn man den Stand der Gestirne beobachtet, und doch ist cs gewiss, dass innerhalb 21 Stunden Etwas im Verh\u00e4ltnis zu den Gestirnen oben ist, was fr\u00fcher unten w ar. Daher findet beim Sehen auch keine Disharmonie zwischen Verkehrtsehen und Geradef\u00fchien statt; denn es wird eben Alles und auch die Theile unseres K\u00f6rpers verkehrt gesehen und Alles beh\u00e4lt seine relative Lage. Auch das Bild unserer tastenden Hand kehrt sich um. Wir nennen daher die Gegenst\u00e4nde aufrecht, wie wir sie eben sehen. Eine blosse Umkehrung der Seiten im Spiegel, wo die rechte Hand den linken Theil des Bildes einnimmt, wird schon kaum bemerkt und unsere Ge-","page":357},{"file":"p0358.txt","language":"de","ocr_de":"358 V. Huch. Von firn Sinnen. I. Ahschn. Vom Gesichtssinn.\nf\u00fchle treten, wenn wir nach dem Spiegelhilde unsere Bewegungen reguliren, wenig in Widerspruch mit dem, was wir sehen. Z. B. wenn wir nach dem Spiegelhilde eine Schleife an der Halsbinde machen. Einiger Widerspruch ist allerdings da, weil die Umkehrung unvollkommene Umkehrung der Seiten und nicht Alles zugleich umgekehrt ist.\nVolkmann ist mit der vorhererw\u00e4hnten Ansicht einverstanden. Auch er Behauptet, dass es einer Erkl\u00e4rung des Aufrechtsehens nicht Bedarf, so lange das Auge nicht Einzelnes, sondern Alles verkehrt sieht. Verkehrt kann nichts seyn, sagt Volkmann, wo nichts gerade ist. Denn Beide Begriffe existiren nur im Gegens\u00e4tze.\nDie Erkl\u00e4rung des Aufrechtsehens, dass man nicht das Bild der Netzhaut, sondern die Direction der Lichtstrahlen sehe, enth\u00e4lt etwas Unm\u00f6gliches, da eine bestimmte Direction der Lichtstrahlen nicht vorhanden ist, sondern jedem Puncte ein ganzer Lichtkegel entspricht, und da doch immer nur der Zustand der Netzhauttheilchen und nicht etwas vor ihnen Liegendes empfunden werden kann. Auch die Erkl\u00e4rung, dass die Nervenhaut nach aussen wirke und die Objecte in kreuzender Richtung nach aussen setze, z. B. nach der Richtung des Perpendikels der Netzhautkr\u00fcmmung (Bartels), ist eine ganz willk\u00fchrliche Annahme, da man nicht entfernter Weisse einsehen kann, warum eine Richtung vor der andern den Vorzug haben soll, und da jedes Theilchen der Nervenhaut, wenn es das Verm\u00f6gen nach aussen zu wirken h\u00e4tte, nach eheuso viel Richtungen wirken m\u00fcsste, als sieh Radien von ihm gegen die Aussenwelt ziehen lassen. Da man nun das Verkehrtsehen niemals bemerken kann, so ist cs auch nicht wahrscheinlich, dass die Natur im Gehirn oder anderswo eine Correction von einem Irrthum veranstaltet habe, den man nie anders, als bei Anstellung optischer Untersuchungen erkennen kann. Der kreuzende Verlauf der Sehnerven kann nicht daf\u00fcr angef\u00fchrt werden, da die Kreuzung nur eine theilweise ist. Vcrgl. \u00fcber diesen Gegenstand Bertholb \u00fcber das Aufrecht erscheinen der Gesichtsobjecte. Glitt. 183\u00dc. und Bartels Beitr\u00e4ge zur Physiologie des Gesichtssinnes. Berlin 1834.\nW\u00e4re es m\u00f6glich, dass von einem Gegenstand ohne Mitwirkung des Lichtes ein Bild auf der Netzhaut entst\u00e4nde, z. B. durch unmittelbare Ber\u00fchrung, so w\u00fcrde in diesem Falle eine Erscheinung des Objectes ohne Umkehrung des Bildes stattfinden, und w\u00e4re es m\u00f6glich denselben Gegenstand einmal durch das \u00e4ussere Licht und zum zweiten durch unmittelbaren Anstoss desselben aut die Netzhaut zu sehen, so w\u00fcrden die auf beide Weisen bewirkten Bilder auf entgegengesetzten Seiten liegen m\u00fcssen. Diess ist in der That in Versuchen m\u00f6glich. Wenn man z. B. mit dem Finger die Netzhaut durch die Sclerotica hindurch dr\u00fcckt, so erh\u00e4lt man vom Finger ein unmittelbares Druckbild. Zugleich kann man aber auch den Finger durch Vermittelung des \u00e4ussern Lichtes sehen. Beiderlei Bilder liegen auf entgegengesetzten Seiten. Dr\u00fcckt man im Dunkeln bei geschlossenen Augen mit dem oben gesehenen Finger den scheinbar obern Theil des Auges","page":358},{"file":"p0359.txt","language":"de","ocr_de":"3. Wirkungen des Sehnerven. Richtung des Sehens.\n359\nso erscheint das Druckbild unten, dr\u00fcckt man den untern Theil der Netzhaut, so erscheint das Druckbild oben, dr\u00fcckt man den rechten Theil der Netzbaut, so erscheint das Druckbild links und ebenso umgekehrt.\nRichtung des Sehens.\nli\nEhe wir diesen Gegenstand ganz verlassen, m\u00fcssen wir noch davon handeln, was Einige Richtung des Sehens nennen. Gegenst\u00e4nde, welche auf dasselbe Netzhauttheilchcn ihre Bilder werfen, liegen in einerlei Richtung des Sehens. Es sind in Hinsicht der Ursachen, welche die Richtung des Sehens bestimmen, zwei Ansichten m\u00f6glich, wovon mir aber nur die eine als die richtige erscheint.\n1.\tDie Richtung in welcher Etwas gesehen wird, h\u00e4ngt bloss von dem aflicirten Netzhautthcilchen ab, und wie weit und in welcher Richtung dieses Theilchen vom Mittelpuncte der ganzen Netzhaut entfernt ist, oder welche Stelle dieses Theilchen in der ganzen Mosaik der Netzhaut einnimmt. Wirkt auch die Vorstellung nach aussen, und projicirt sie die Aflectionen der Netzhaut nach aussen, so bleibt sich die Relation der Bilderchen gleich, und die Gesichtsvorstellung kann gleichsam als eine Versetzung des ganzen Sehfeldes der Netzhaut nach vorw\u00e4rts gedacht werden, wobei die Seiten dieselben bleiben, das oben erscheinende oben,\ndas unten erscheinende auch unten vorgestellt, wird. So wenn d b a c e die Netzhaut w\u00e4re, d\u2019 li a c e aber die Projection der Bilder der Vorstellung mach aussen, so w\u00e4re a die Projection von \u00df, h die Projection von h, c die Projection son c u. s. w. V liegt in der Vorstellung auf derselben Seite wie im Netzhautbilde b, so liegt c auf derselben Seite wie das Netzhautbild c, und eben so mit allen andern entsprechenden Puncten; oder denkt man sich die Netzhaut eben, so w\u00e4re die Projection wie in der zweiten Figur. Die Ausdehnung, welche d! e' erh\u00e4lt, h\u00e4ngt bloss von der Vorstellung ab, unver\u00e4ndert bleiben bloss die relativen Lagen von a b'c d e .\n2.\tDieser Ansiebt entgegengesetzt ist, dass die Projectionen iler Rdder sich kreuzen, wie in der folgenden Figur, so dass a des Netzhautbildes nach der entgegengesetzten Seite in der Vorstellung projicirt, oder in der Richtung aa' gesehen werde. Diese letztere\nMuller\u2019s Physiologie. 2r Bd, 11.\t24","page":359},{"file":"p0360.txt","language":"de","ocr_de":"360 V. Buch. J on den Sinnen. I. Ab?.chn. Vom Gesichtssinn.\nAnsicht kann \u25a0wieder sehr verschieden sevn, mich der Lage dos Kreuz un gsp n n des, welchen man f\u00fcr die Directionen annimmt.\nHierher geh\u00f6rt: a) die Ansicht derjenigen, welche glauhen, dass man die Direction \u00eeles Lichtes wahrnehme, und also auch in der Direction des Lichtes selbst sehe, eine merkw\u00fcrdiger Weise seihst in den physikalischen Lehrb\u00fcchern sehr h\u00e4ufig verbreitete Vorstellung. Schon Porterfield hat die Unstatthaftigkeit derselben bewiesen und \\or.K-mahn zeigt dasselbe.\nBeim gew\u00f6hnlichen Sehen wird jeder Punct des Hildes auf der Retina durch die Spitze eines Lichtkegels bestimmt, dessen Basis die Breite der Pupille ist. Welcher dieser Strahlen des Kegels soll die Direction bestimmen? Der Achsenstrahl; aber die peripherischen Strahlen sind, wenn sie beim Sehen durch ein Kartenloch isolirt werden, auch hinreichend. 1st der Punct a so\nweit vom Auge entfernt, dass seine Strahlen vor der Netzhaut in o sich zum Puncto vereinigen, und sind ' mn zwei Kartenlocher, so entwerfen sich hei xy zwei Bilder von den, durch die Kartenlocher durchgehenden Lichlb\u00fcndcln.\nIst hingegen a in der zweiten Figur zu nahe dem Auge, so\ndass das Bild hinter die Netzhaut fallt, und mn wider die Kartenlocher, so erscheinen zwei Bilder von den durch _a- die Kartenl\u00f6cher durchgehenden peripherischen Strahlen \u00eeles Lichtkegels n\u00e4mlich xy. Bei einer bestimmten Entfer-Punctes \u00ab kann die Entfernung von x und so gross als die Entfernung von x und y und die Bilder erscheinen dann an demist die Direction der Strahlenb\u00fcndel xo in ox in dci zweiten ganz verschieden.\nb)\tDie zweite Modification der zuletzt erw\u00e4hnten Theorie ist die von Porterfield und Bartels, dass jeder Nctzhautpunct in der Richtung einer auf der Netzhaut oder der Tangente des Netz-hautpunctes senkrecht stehenden Linie sehe. Diese Ansicht ist ganz willk\u00fchrlicb.\nc)\tVolkmann stellt eine dritte Modiiieation der unter 2. genannten Ansicht auf. Die Richtung der Emplindung sei begr\u00fcndet durch die Lage der empfindenden Stelle zum Kreuzungspunct der Sehstrahlen, welcher nach seinen Untersuchungen mit deinNetzhaut-bildchcn und dem Objecte in einer Linie liegt. Vergl. oben p. 322.\nnung des leuchtenden y der zweiten Fi mir der ersten Figur seyn selben Ort, dennoch der ersten Figur und","page":360},{"file":"p0361.txt","language":"de","ocr_de":"3. Wirkungen des Sehnerven. Uriheil heim Sehen.\n36 t\nUnd dieses finde zufolge angeborncr und niclit zu erkl\u00e4render Gesetze statt. Allerdings findet physikalisch die vollkommenste Uebercin-stimmung zwischen den Objecten und den Netzbaulbildcrn statt, und der genannte Krcuzungspunct ist es, durch welchen die von den einen zu den andern trezoiienen Linien eemeinschaftlich durch-\n\u2022\tc o\t*r\t....\ngeben. Indessen liegt nach meiner Meinung in der Tha'igkeit des Sehnerven kein nach aussen Wirken in einer bestimmten und exclusiven Richtung. Yoi.kmann statuirt eine unerkl\u00e4rliche angebortic Beziehung der Netzhauttheilcheu zu einem Kreuzungs-punet hinter der Linse. Die Annahme von etwas Unerkl\u00e4rlichem hat man bei der unter 1 angef\u00fchrten Ansicht nicht noting. Jedem Bild ist seine Richtung durch seine Lage auf der Netzhaut und durch die Lage dieser Stelle zur ganzen Netzhaut bestimmt, und in derselben Ordnung, aber ohne Kreuzung proji-ciren sich die Gegenst\u00e4nde in der Vorstellung. Das Projiciren kann nicht von einer blossen Biegung der Netzhaut abh\u00e4ngig sevn, cs ist nach meiner Meinung in der Ordnung der Netzhauttheilchen zu einander begr\u00fcndet.\nAlle Erkl\u00e4rungen der Richtung des Sehens nach demPrincip der zweiten Theorie leiden an einem gemeinsamen Fehler. Das Sehen\" mit zwei Augen zugleich widerspricht ihnen s\u00e4mmtlich. Wenn die Richtung des Sehens abh\u00e4ngt von einer Wirkung der Netzhaut in irgend einer bestimmten Richtung nach aussen, entweder in der Direction des Drehpunctcs der Augen, oder in einer Richtung, die auf der Netzhaut senkrecht ist, so ist das Einfachsehen mit beiden Augen gar nicht denkbar. Denn das Ange A wird das im Mit-telpunct der Netzhaut liegende Bild des Punctes r in der Richtung ace sehen, das Auge 11 wird hingegen das in den Mittel punet der Retina fallende Bild von c in der Richtung bed sehen. Dasselbe e wird also nach jener Theorie an zwei ganz verschiedene Orte versetzt werden m\u00fcssen. Dass die Mittelpuncte beider Netzh\u00e4ute immer einfach sehen, kann nicht entgegnet werden. Denn wenn sie dasselbe Object an demselben Orte sehen, so k\u00f6nnen sie cs nicht in den Richtungen ace und bed nach aussen setzen, so k\u00f6nnen sie nicht einfach sehen.\nH\u00e4ngt hingegen die Richtung, in welcher etwas gesehen wird, bloss vom Verh\u00e4ltniss der afficirten Netzhauttheilchen zur ganzen Netzhaut ab, so wird c auf den identi-, sehen Stellen a und b beider Netzh\u00e4ute einfach gesehen, und die Milte ,des Gesichtsfeldes beider Augen einnehmen.\nUrtheil \u00fcber Gestalt, Gr\u00f6sse, Entfernung, Bewegung.\nZuletzt kommt hier in Betracht das Urtheil \u00fcber die Gestalt der K\u00f6rper, ihre Gr\u00f6sse, Entfernung und Bewegung. Das Urtheil\n24*","page":361},{"file":"p0362.txt","language":"de","ocr_de":"3\u00f62 V. Biirlt. Von den Sinnen. J. Abschn. Vom Gesiehtssinn,\nvon der Gestalt der K\u00f6rper ans dem Gesicht ist iheils blosse Folge der Empfindung, theils eomhinirter Vorstellungen. Da die Form der Gesichtsbilder durchaus abh\u00e4ngt von dem Umfang der afficirten Netzhaultheilcben, so reicht die hlosse Empfindung hin zur Unterscheidung einfacher fl\u00e4chenhafter Gestalten, z. B. eines Quadrats von einem Kreise.\nMoi.vneux legte Locke die Frage vor, oh ein Blindgeborner. welcher einen Cuhus von einer Kugel durch das Gef\u00fchl unterscheidet, nach pl\u00f6tzlicher Erhaltung des Gesichtes beide durch das Gesicht zu unterscheiden verm\u00f6ge. Warum beide Philosophen sich verneinend erkl\u00e4ren konnten, ist nicht einsusehen. Denn das F\u00fchlen und Sehen beruht auf denselben Grundansehauungen von der Ausbreitung unserer eigenen Organe im Baume. Daher hat auch ein neugebornes Thier sogleich Empfindung der bestimmten Gestalt, indem es die Zitze der Mutter sieht, und diess beweist allein, dass die F\u00e4higkeit einfache Gestalten aufzufassen nicht erlernt wird. Dagegen ist die Beurtheilung der Gesichtsbilder auf die verschiedenen Dimensionen der K\u00f6rper eine Sache der Uebung, da alle Gesichtsanschauungen urspr\u00fcnglich nur fl\u00e4chenhaft sind, und das Urtheil die verschiedenen Fl\u00e4chen, die man bei anderer Stellung zu den K\u00f6rpern an ihnen wahrnimmt, zur Vorstellung von einem K\u00f6rper erg\u00e4nzen muss. Der von Chesei.-uen Operirte sah Alles in einer Fl\u00e4che, wie cs sich in der That in einer Fl\u00e4che darstellt. Indem aber die Bilder sich \u00e4ndern, w\u00e4hrend wir uns im Raume bewegen, indem wir zwischen den Bildern gleichsam durchschreiten, entsteht uns die Vorstellung der Tiefe des Sehraums, welches eine blosse Vorstellung und keine Empfindung ist.\nDie scheinbare Gr\u00f6sse der Gegenst\u00e4nde h\u00e4ngt zun\u00e4chst von der Gr\u00f6sse des afficirten Theiles der Netzhaut, oder von der Gr\u00f6sse des Gesichtswinkels ab, unter dem sie dem Auge erscheinen. Das Urtheil \u00fcber die wahre Gr\u00f6sse der Gegenst\u00e4nde aus der scheinbaren ist eine Sache der Uebung und der Combination aus schon vorhandenen Vorstellungen von N\u00e4he, Ferne u. s. w.\nDie Beurtheilung der N\u00e4he und Ferne ist keine Sache der Empfindung, sondern des Verstandes. Jeder Gegenstand wird f\u00fcr fern gehalten, der unter kleinerm Gesichtswinkel erscheint, als er in unmittelbarer N\u00e4he gesehen wird. Derjenige erscheint ferner, welcher von andern zum Theil bedeckt oder relativ kleiner gesehen wird, als er erscheinen m\u00fcsste, wenn er mit den andern Gegenst\u00e4nden in derselben Entfernung gelegen w\u00e4re. Diese Beurtheilung wird erworben, und ist beim Menschen wenigstens nicht urspr\u00fcnglich. F\u00fcr das Kind liegt Alles in gleicher Ferne und es greift nach dem Monde wie nach dem N\u00e4chsten.\nEs wird von den meisten Physiologen behauptet, dass die Stellung der Augenachsen, welche noting ist, um einen Gegenstand zu fixiren, auch viel zur Beurtheilung der Entfernung beitrage, indem die Achsen der Augen mehr und mehr convergiren, je n\u00e4her ein Gegenstand ist. Dieses Mittel ist indess \u00fcbersch\u00e4tzt. Bei Gegenst\u00e4nden, die in gerader Rfichtung vor den Augen liegen, kann es allerdings sehr wirksam seyn, aber bei seitlichen Gegen-","page":362},{"file":"p0363.txt","language":"de","ocr_de":"3. Wirkungen des Sehnerven. I itheil beim Sehen.\n363\nstunden muss es alle W irksainkeit verlieren, wie sieh leicht beweisen l\u00e4sst. Denn seitliche Gegenst\u00e4nde erfordern eine ganz andere Convergenz der Sehachsen zur Fixation als gerade voraus-liegende, wenn beide auch in derselben Entfernung liegen. So\nist die Convergenz der Sehachsen ihr die Puncte \u00ab, b, c gleich, und doch liegt a sehr weit von, das seitliche c aber sehr nahe bei den Augen. Die Winkel 4, 4* und 5 sind gleich, wenn ubc ein Kreis; denn es ist die Eigenschaft des Kreises, dass die aul einer gemeinschaftlichen Sehne gegen die Peripherie errichteten Dreiecke gleiche Winkel an der Peripherie haben. Wir lernen daher aus dem Umstande, dass nebeneinander liegende Gegenst\u00e4nde einen gleichen parallaktischen W inkel der Sehachsen haben, nicht, dass sie sind, sondern, dass sic in einem Kreis liegen.\nDas Urtlieii \u00fcber Bewegung der Gesichtsobjecte h\u00e4ngt theils von der Bewegung des Bildes fiber die Netzhaut, theils von der tier Au\neieich weit entfernt\no\nBewegung Bewegt\nsich\ntgen ab, welche einem bewegten K\u00f6rper folgen, das Bild auf der Nervenhaut, wenn das Auge und unser K\u00f6rper ruht, so urtheilen wir, dass das gesehene. Object seine Stellung gegen unsern ruhenden K\u00f6rper ver\u00e4ndere. Hierbei kann die Bewegung des Objectes eine scheinbare seyn, wenn sich der K\u00f6rper bew egt, auf dem wir uns befinden, wie das Schilf auf dem wir stehen. Bewegt sich das Bild auf der Netzhaut nicht, bleibt cs vielmehr auf derselben Stelle der Netzhaut lixirt, und folgen die Bewegungen der Augen dem bewegten K\u00f6rper, so urtheilen wir \u00fcber die Bewegung des Objectes aus den Gef\u00fchlsempfindungen der bewegten Augenmuskeln, oder aus den vom Sensorium zu den Augenmuskeln gesandten Str\u00f6mungen. Bewegt sich das Bild \u00fcber die Netzhaut und die Augenmuskeln zugleich in entsprechender Weise, w ie beim Lesen, so urtheilen wir dass das Object ruhig sei und wir wissen dass nur wir unsere\nStellung zum Ob|ect ver\u00e4ndern. Gegenstandes scheinbar, wenn\nZuweilen ist die Bewegung des\ndas Auge-ruhig sind.\ndoch sowohl die Gegenst\u00e4nde als Hierher geh\u00f6rt die scheinbare Bewegung der\nGegenst\u00e4nde im Kreise, w'cnn man sich vorher im Kreise gedreht hat, und zwar entgegengesetzt. Purkinje hat \u00fcber diese Erscheinun-\ngen merkw\u00fcrdige Beobachtungen gemacht , welche zu De weisen scheinen, dass jene von einem dem Gehirn mitgetbeilten Impuls zur Bewegung in der bestimmten Richtung ab h\u00e4ngen. Denn die Richtung der Rotation bleibt diejenige im Verh\u00e4ltnis* zum Kopf, welche sie urspr\u00fcnglich war, wenn auch der Kopf beim Aufh\u00f6ren\nbev\nder Kreisbewegung verdreht wird. Z. B. hat\nsich mit ge-\nradestehendem Kopfe gedreht, und bleibt pl\u00f6tzlich stehen, so drehen sich die Gegenst\u00e4nde horizontal, wendet man jetzt die Achse des Kopfes zur Seite, so drehen sich die Gegenst\u00e4nde nicht mehr horizontal um eine auf den Boden senkrechte Linie, sondern ho-","page":363},{"file":"p0364.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022364 V. Buch. Von den Sinnen. I. Ahschn. Vom Gesichtssinn.\nrizontal urn die seitw\u00e4rts geneigte Achse des Kopfes, daher geht die Cirkelhewegung nun scliicf aufw\u00e4rts. Dieselbe Scheinbewegung erfolgt, wenn man mit nach der Seite geneigtem Kopfe sich horizontal dreht, pl\u00f6tzlich still steht, aber den Kopf jetzt aufrichtet. Siehe \u00fcber diesen Gegenstand Purkinje in med. Jahrb. d. Oesterreich. Staates. Mit diesen Scheinbewegungen darf man andere nicht verwechseln, welche aus Nachbildern entstehen und von welchen wir hei diesen handeln werden. Die Scheinbewegungen vom Drehen haben nichts mit den Nachbildern zu lluin, sie k\u00f6nnen auch erfolgen, wenn man sich hei verschlossenen Augen gedreht hat.\nW i r k ii n g der A u f in c r k s a ra k e i t heim Selten.\nWir scldiessen diesen Artikel von der Wechselwirkung der Netzhaut und des Sensoriums mit einer Bemerkung \u00fcber die Einwirkung des Vorsteilungsverm\u00f6gens auf den Act des Empfindens seihst.\nDie Seele kann ihre Aufmerksamkeit bald dem Gesichtssinn, bald dem Geh\u00f6rsinn, bald dem Gef\u00fchlssinn ausschliesslich oder mehr zuwenden. Ist sic mit den W irkungen des einen Sinnes ausschliesslich besch\u00e4ftigt, so pcrcipirt sie von den\nder andern Sinne wenig oder gar nichts.\nWirkungen Der Gesichtssinn bringt\nauch wie jeder andere Sinn keine Wirkungen auf die Seele her-\nvor.,\nwenn sie in tiefe Betrachtungen\nanderweitig versenkt ist.\nMit starrendem Auge sehen wir tief nachdenkend oft ear nichts, indem die Wirkungen der Nervenfasern nicht im Stande sind, das anderweitig thatige Sensorium zu erregen und sich im Gehirn unbeachtet verlieren m\u00fcssen. Zum Sehen ist also Aufmerksamkeit der Seele n\u00f6thig. Aber die Aufmerksamkeit zergliedert auch das, was im Sehfelde vorgeht. Von dem ganzen Sehfelde der Netzhaut wird nicht Alles mit gleicher Sch\u00e4rfe erfasst, sondern bald dieses bald jenes. Die Empfindung wird sch\u00e4rfer, indem das Empfundene zugleich vorzugsweise vorgestellt wird. Jede mathematische zusammengesetzte Figur wird anders aufgefasst, je nach der Isolation der Aufmerksamkeit auf einzelne Theile der Figur. So pr\u00e4gt sich in der beistehenden Figur bald das Ganze, bald seine Theile, bald die peripherischen 6 Dreiecke; bald das mittlere Sechseck, bald die zwei grossen Dreiecke dem Sinne sch\u00e4rfer ein. Je vielgliedriger eine Figur ist, um so mehr Variation bietet sie dem Spiel der Aufmerksamkeit dar. Datier architcctonische Verzierungen f\u00fcr den Sinn eine gewisse Lebendigkeit haben, indem sie dem Lehen der vorstellenden Th\u00e4tigkeit immer neues Material schaffen. Siehe \u00fcber diesen Gegenstand Purkinje Beobachtungen und Versuche zur Physiologie der Sinne. Prag 1823. I. Toubtual a. a. O. Vergl. \u00fcber die in diesem Artikel verhandelten Gegenst\u00e4nde Ueermann \u00fcber die Bildung der Gcsichlsoorstellungcn aus den Gesichlsempfiudungcn. Hannover 1835.","page":364},{"file":"p0365.txt","language":"de","ocr_de":"3. Wirkungen des Sehnerven. Nachbilder.\n365\n2. Von den Nachwirkungen der Gesichtseindr\u00fccke oder den Nachbildern.\nDie Dauer der Empfindungen in der Nervenhaut ist viel langer als die Einwirkung des Lichtes stattfindet; nach Plateau (Fechner\u2019s Repert. 2. 210.) dauert die Empfindung 0,32 \u2014 0,35 Secunden \u00fcber den Gesichtseindruck, und die Dauer der Nachwirkung nimmt in geradem Verh\u00e4ltnis* zu mit der Dauer eines Gesichtseindruckes. Daher kann man das Nachbild eines bellen Gegenstandes, z. B. der lichten Fensterscheiben, sehr lange im Auge behalten, wenn man die Fenster vorher sehr lange unverwandt angesehen hat. Auch lasst sich die Dauer dieser Bilder bei geschlossenen Augen sehr verl\u00e4ngern,, wenn man die geschlossenen Augen durch Hinab- und lfinaufbewegen der Hand abwechselnd beschattet und durch, das durchwirkende Tageslicht erhellt. Aus der Dauer der Nachbilder erkl\u00e4rt sich die Erscheinung feuriger Kreise beim Bewegen eines Lichtes im Kreise vor den Augen, desgleichen die Vermischung der Gesichtseindr\u00fccke der Speichen eines schnell laufenden ltades und der Farben des Falbenkreisels. Bei einer nur momentanen Beleuchtung, z. B. durch den Blitz oder electrischcn Funken wird die Vermischung der Bilder vermieden, und so lassen sich auch die Schwingungen einer Saite noch sehen.\nWird ein K\u00f6rper mit reihenf\u00f6rmig bewegten Theilen sehr lange betrachtet, so behalten die Nachbilder auch einen Schein von Bewegung in derselben Richtung, indem sie der Reihe nach verschwinden. So lassen sich meines Erachtens gewisse Scheinbewegungen erkl\u00e4ren. Hat man lange auf die Wellen eines fliessenden Wassers gesehen und sieht pl\u00f6tzlich ab auf den Boden, so scheint sich der Boden zu bewegen und zwar in entgegengesetzter Richtung als die Wellen des Wassers cs thaten. Diese Erscheinung bemerkte ich oft, wenn ich aus dem Fenster auf den nahen bewegten Fluss und dann auf das Pflaster der Strasse sah. Ich sah sie auch beim Fahren im Dampfschiff auf der See, wenn ich lange die am Schiff vorbeiziehenden Wellen betrachtete und nun pl\u00f6tzlich auf das Verdeck des Schiffes sah. Nimmt man an, dass noch Nachbilder der Wellen im Auge waren, und dass sie der Reihe nach verschwinden, wie sie in Folge der Bewegung entstanden, so wird das Vorbeiziehen der Nachbilder beim Sehen auf den Boden den Schein hervorbringen m\u00fcssen, als ob der Boden in entgegengesetzter Richtung sich bewege.\nMan kann die qualitativen Unterschiede der Nachbilder in drei Classen bringen. Die Nachbilder sind entweder farblose von farblosen Bildern, oder farbige Nachbilder nach farblosen objec-tiven Bildern, oder farbige Nachbilder nach farbigen objectiveu Bildern.\n1. Farblose Nachbilder nach farblosen objectiven\nJ. Mueller Physiologie des Gesichtssinnes p. 401.\n\u00df-i 1 il \u00e7 ru.","page":365},{"file":"p0366.txt","language":"de","ocr_de":"366 V. Buch. Von den Sinnen. I. Absclin. Vom Gesichtssinn.\nDie reinen Nachbilder wcisser oder lichter Gegenst\u00e4nde sind auch licht oder weiss, die Naclihikler dunkler Gegenst\u00e4nde auch dunkel. So ist das Nachbild eines schnell bewegten Lichtes auch licht. Wird das Auge nach einer lebhaften Empfindung pl\u00f6tzlich in Ruhe versetzt, geschlossen und von der Helligkeit abgewandt, oder noch besser ganz verdeckt, so ist das Nachbild des Weissen und Lichten auch weiss und licht, das Nachbild des Dunkeln oder Schwarzen auch dunkel oder schwarz. Sieht man z. 13. im Zimmer lange gegen die lichten Fensterscheiben und dunkeln Fensterrahmen, scliliesst dann pl\u00f6tzlich die Augen, wendet, sie vom Fenster ab und bedeckt sie mit der Hand, so dass durchaus kein Licht mehr, selbst nicht durch die Dicke der Augenlieder ins Auge f\u00e4llt, so erscheint das Nachbild der lichten Fensterscheiben auch licht, das Nachbild der dunkeln Fensterrahmen auch dunkel.\nDag egen kann sich die Beleuchtung der Bilder im Nachbild unter gewissen Bedingungen umkehren, und was vorher licht war schwarz, das Schwarze dagegen licht erscheinen. Diese Umkehrung der Nachbilder erfolgt jedesmal, wenn das Nachbild eines lichten Gegenstandes auf einem lichten objective\u00ab Grunde gesehen wird, wenn man die Augen nicht scliliesst, und sie bei Beobachtung des Nachbildes auf die w'cisse Wand oder auf eine weisse Papierfl\u00e4ehe heftet. Daher erscheint das Blendungsbild der Sonne aut einer weissen Wand schwarz oder grau, w'\u00e4hrend es dagegen im ganz dunkeln Raum weiss bleibt. So erscheinen ferner die Nachbilder der Fensterscheiben schwarz, der Fensterrahmen weiss, wenn man die geschlossenen Augen gegen das Licht des Fensters h\u00e4lt, so dass das Licht noch durch die geschlossenen Augenlieder durchwirkt und die Retina milde erhellt. Die Erkl\u00e4rung dieser Erscheinungen ist leicht. Die Stelle des Auges, welche\" Lichtes gesehen hat, ist hernach noch gereizt, die Stelle, welche Schwarzes gesehen hat, hernach ruhig und viel reizbarer. Sieht das Auge in diesem Zustande auf eine weisse Wand, so bringt das Licht der weissen Wand auf den gereizten Stellen der Netzhaut einen viel schwachem Eindruck hervor, als auf den Stellen der Netzhaut, welche ruhig und daher sehr reizbar sind. Daher sieht die ruhige Stelle der Netzhaut, die vorher Schwarz gesehen hatte, die weisse Wand lichter als diejenige Stelle der Netzhaut, welche vorher Licht gesehen hatte, und daher die Umkehrung der Nachbilder.\nAebnliche Erscheinungen kommen selbst beim pl\u00f6tzlichen Wechsel des Lichten und Dunkeln im ganzen Sehfelde vor. Aus dem Dunkeln kommend sehen wir w'egen der grossen Reizbarkeit der Netzhaut alles \u00fcberaus hell, und aus dein Hellen in massiges Dunkel tretend erkennet man anfangs nichts, bis sich die Retina in der Ruhe erholt, und ihre Reizbarkeit sich auch f\u00fcr das massig Helle gesteigert hat, das dann wohl erkannt wird. Ein Helles erscheint immer heller nach einem Dunkeln, )a selbst neben einem Dunkeln. Dieselben Erscheinungen kommen bei den andern Sinnen vor. Die K\u00e4lte wird am st\u00e4rksten empfunden nach der W\u00e4rme, und ein geringer Unterschied bewirkt nach grosser W\u00e4rme das Gef\u00fchl der K\u00e4lte bei","page":366},{"file":"p0367.txt","language":"de","ocr_de":"3. . JVirkungen des Sehnerven. Nachbilder.\n367\neiner Temperatur, die sonst f\u00fcr warm gelten w\u00fcrde. Die Unterschiede von hell und dunkel, warm und kalt sind daher relativ.\nDie Nachbilder ver\u00e4ndern \u00fcbrigens ihren Ort in Bezug zum ganzen K\u00f6rper mit jeder Bewegung des Auges, und erscheinen aus leicht einzusehenden Gr\u00fcnden immer da, wo man die Netzhaut hin wendet. Man betrachte ein schwarzes Quadrat auf ei-c nem weissen Felde, lange Zeit fixirend. Wen-' det man dann den Blick ein wenig ab, ohne dass das Auge das schwarze Quadrat ganz verl\u00e4sst, vielmehr auf den Randtheil des Quadrats, so f\u00e4llt ein Theil des Nach-j bildes als \u00e0 cd' frei auf das weisse Blatt, der daher als lichter Rand an der einen Seite des objectiven Bildes hervorragt. In einem St\u00fcck decken sieb das objective Bild und das Nachbild. Ein St\u00fcck des objectiven Bildes n\u00e4mlich aid ist ganz frei geworden. Der freie Theil des Nachbildes a c d' erscheint dann sehr licht, der freie Theil des objectiven Bildes abd erscheint tief schwarz, der Theil hingegen wo sieh Nachbild und objectives Bild decken, erscheint schwarzgrau, als wenn sich beide Zust\u00e4nde aus-gleichen sollten. Die Erkl\u00e4rung ist diese. Die Stelle der Netzhaut a!cd\\ welche vorher Schwarz gesehen, sieht das Weisse heller, weil sie ruhig ist, daher der lichte Saum a'cd'. Die Stelle des Bildes, wo sich das objective Quadrat und das subjective Quadrat decken, ist nicht ver\u00e4ndert. Die frei gewordene Stelle des objectiven Bildes abd erscheint schw\u00e4rzer als zuvor, denn indem der Blick sich nach der Seite gewandt hat, f\u00e4llt dieser Theil des objectiven Bildes auf eine Stelle der Netzhaut, welche vorher den weissen Grund gesehen hatte, und welche daher abgestumpft ist.\nII. Farbige Nachbilder nach farblosen objectiven Bildern.\nGoethe Farbenlehre p. 14.\nWenn die Netzhaut von einem sehr heftigen lichten Eindruck z. B. dem Lichte des Sonnenbildes afficirt war, so erscheint das Nachbild nicht bloss entweder licht auf dunkeim Grunde, oder dunkel auf weissem Grunde, sondern das Nachbild nimmt bis zur vollst\u00e4ndigen Erholung der Netzhaut subjective Farben an, und die Farben sind die Zust\u00e4nde, welche die Netzhaut von der Blendung bis zur Erholung durchl\u00e4uft. Auf das dunkle Nachbild der Sonne auf lichtem Grunde folgen sich dunkele Farben bis zur hellsten in folgender Ordnung: schwarz, blau, gr\u00fcn, gelb, weiss. Die Farbenerscheinung entwickelt sich vom Rand aus. Ist das Nachbild weiss geworden, so unterscheidet1 es sich nicht mehr von der weissen Wand, d. h. diese Stelle der Netzhaut siebt die weisse Wand jetzt gerade so, wie alle anderen nicht geblendeten Stellen der Netzhaut. Sieht das Auge aus der Sonne ins ganz Dunkele, so ist die Folge der Farben vom Weissen und von der hellsten bis zur dunkelsten Farbe, zuletzt bis zum Schwarzen, n\u00e4mlich we.ss, gelb, orange, roth, violet, blau, schwarz, ist das Nachbild vom Blauen ins Schwarze \u00fcbergegangen, so un-","page":367},{"file":"p0368.txt","language":"de","ocr_de":"368 V. Buch. Von den Sinnen. I. Ah sehn. Vom Gesichtssinn.\nterscheidet es sicli nielit mehr vom dunkeim Grunde, d. li. diese Stelle der Netzhaut ist so ruhig wie alle anderen, Vfcl\u00f6he vorher gar nielit gereizt waren.\nAuch diese Erscheinungen, welche sieh aus ohjeetiven Ursachen gar nicht erkl\u00e4ren lassen, zeigen wieder, dass die innere Ursache der Farben in den Zust\u00e4nden der Netzhaut seihst liegt.\n111. Farbige Nachbilder nach farbigen objcctiven Bildern.\nDie Nachbilder von l\u00e4rbig, und zwar zeigt\nfarbigen objcctiven Bildern sind immer das Nachbild niemals die Wiederholung der ohjeetiven Farbe, sondern immer den complement\u00e4ren Gegensatz der prim\u00e4ren Farbe. Das Nachbild von Roth ist also gr\u00fcn, von Gr\u00fcn ist roth, das Nachbild von Gelb ist violet, von Violet ist gelb. Das Nachbild von Blau ist orange, von Orange ist blau. Die sich gegenseitig hervorrufenden Farben sind in beistehender Figur gegen\u00fcberge-\nBlickt man l\u00e4ngere Zeit auf ein lcbludt rolhes Feld auf weis-sem Grunde und wendet dann pl\u00f6tzlich den Blick ganz zur Seite auf den weissen Grund, so erscheint das Nachbild des Quadrats in derselben Gr\u00f6sse und Gestalt aber gr\u00fcn. Wird der Blick nur wenig zur Seite, z. B. auf die Seite des ob]eclivcn Bildes gewendet, so decken sich objectives Bild und Nachbild zum Theil, wie in beistehender Figur, aber ein iheil des objcctiven Bildes R ist frei, ein Theil des Nachbildes ist ebenfalls frei G, und dieser Theil erscheint als einseitiger gr\u00fcner Saum des rothen ohjeetiven Bildes. Da, wo sich das objective Bild und das Nachbild decken, ist die Farbe des ohjeetiven Bildes vorhanden, aber ins graue geschw\u00e4cht, weil die Netzhaut an dieser Stelle f\u00fcr Roth durch das gr\u00fcne Nachbild abgestumpfter ist, als an der jetzt frei erscheinenden Stelle des ohjeetiven Bildes R, welche auf einem Theil der Netzhaut liegt, der vor der Wendung des Blickes den weissen Grund sah.\nDie Erkl\u00e4rung dieser Erscheinungen kann eine doppelte sevn, eine Erkl\u00e4rung leitet sie aus physikalischen, die andere aus physiologischen Principien ab.\n1. physikalische Erkl\u00e4rung. Das weisse Liebt enth\u00e4lt alle Farben zugleich. Sieht die Netzhaut von einem ohjeetiven rothen Bilde weg, so ist sic f\u00fcr das rothe Licht abgestumpft, aber f\u00fcr die andern farbigen Lichter noch empf\u00e4nglich, sieht diese Stelle der Netzhaut nachher auf eine weisse Wand, so erkennt sie wegen der Abstumpfung f\u00fcr Roth, das im weissen Lieht der Wand enthaltene Roth nicht mehr, wohl aber sieht sie die im weissen Licht noch enthaltenen \u00fcbrigen Farben, den complement\u00e4ren Theil zu Roth n\u00e4mlich Gr\u00fcn.\n2- physiologische Erkl\u00e4rung, Das Sehen einei der drei Haupt-","page":368},{"file":"p0369.txt","language":"de","ocr_de":"3. Wirkungen d. Sehnerven. Wechselwirk, d. Netzhauttheile. 369\nf\u00e4rben ist nur einer der drei Zust\u00e4nde, zu welchen die Netzhaut im Zustande der Reizung tendirt; ist dieser Zustand k\u00fcnstlich erregt, so befindet sich die Netzhaut im Maximum der Tendenz zu der complement\u00e4ren Farbe, die daher in dem Nachhilde auf-tritt. Beide Erkl\u00e4rungen sind im Allgemeinen gen\u00fcgend, und die erstere scheint sogar bestimmter und wahrscheinlicher; indess wird doch die physikalische Erkl\u00e4rung aus Thatsachen unwahrscheinlich. Denn wenn die weisse Wand die Ursache des farbigen Nachbildes ist, so darf die complement\u00e4re Farbe des Nachbildes nicht mehr auf schwarzem Grunde erscheinen. Ich habe indess gezeigt, dass das Nachbild einer Farbe selbst auf einem schwarzen Felde cornplement\u00e4r ist, Muell. Archiv 1834. p. 144. und es bleibt cornplement\u00e4r, wenn man in einen durchaus dunkeln Raum sieht.\nF\u00fcr die Erscheinungen der farbigen Nachbilder sind nicht alle Menschen gleich empf\u00e4nglich. Manchem ist es schwer diese Ph\u00e4nomene zu zeigen, andere sehen sie auf der Stelle. Wenn man sie aber einmal beobachtet hat, so sieht man sie ungemein leicht wieder. Die meisten Menschen sind mit den Nachbildern aus Mangel an Aufmerksamkeit wenig bekannt. Aber wer sie und ihre Gesetzm\u00e4ssigkeit einmal kennt, wird bis zur Qual oft von ihnen verfolgt. Dahin geh\u00f6ren die lichten R\u00e4nder der Gegenst\u00e4nde in der D\u00e4mmerung, was von dem Aufblitzen des Nachbildes an dem einen oder andern Rande herr\u00fchrt, ferner der zuweilen beobachtete, und manchen Menschen mysteri\u00f6s gewordene Schein um Gegenst\u00e4nde, das sogenannte Leuchten der Blumen in der D\u00e4mmerung und dergleichen. Der vor einem Bilde And\u00e4chtige kann das Nachbild desselben da sehen, xvo er sein Auge hinwendet.\n3. Von der Wechselwirkung der verschiedenen Theile der Nervenhaut unter sich.\nObgleich die Tbeilchen der Netzhaut unver\u00e4nderlich jedes seine Stelle im Sehfelde repr\u00e4sentiren, so giebt es doch eine gewisse Wechselwirkung derselben gegeneinander, verm\u00f6ge welcher der qualitative Zustand des einen auf den Zustand des andern Einfluss hat, und das Bild auf dem einen, durch das Bild auf dem andern modificirt wird. Eine grosse Menge von Erscheinungen, die man bisher als verschieden von einander angesehen, k\u00f6nnen unter diesen gemeinsamen Begriff gebracht werden, wie das Verschwinden der Bilder, die Vertauschung ihrer Farben gegen die des Grundes, das Hervortreten entgegengesetzter Farben unter gewissen Umst\u00e4nden, die farbigen Schatten, die Wirkung des Hellen auf die Empfindung des Dunkeln und umgekehrt.\nMan kann diese Erscheinungen wieder unter zwei Classen bringen. Bei der einen tlieilt sich der Zustand des grossem Tlieils der Netzhaut dem kleinern Theil der Netzhaut mit, bei der andern mft der Zustand des grossem Tlieils der Netzhaut den entgegengesetzten Zustand in dem kleinern Theil der Netzhaut hervor.","page":369},{"file":"p0370.txt","language":"de","ocr_de":"370 V. Buch. Von den Sinnen. I. Ahschn. Vom Gesichtssinn.\nA. Mittlieilung tier Zust\u00e4nde zwischen verschiedenen Th eilen der Nervenhaut. Irradiation.\nWenn in einem ISikle zwei entgegengesetzte Eindr\u00fccke nebeneinander stattfinden, so bat unter gewissen Umstanden der eine auf den andern Einfluss. Bietet das Bild zur H\u00e4lfte den einen, zur andern H\u00e4lfte den andern Eindruck dar, so findet diese Einwirkung nicht statt, denn beide halten sich gleichsam das Gleichgewicht. Nimmt aber der eine Eindruck nur einen kleinen Tlieil der Netzhaut, der andere den gr\u00f6ssten Tlieil der Netzhaut ein, so kann bei sehr langem Betrachten der Eindruck, welcher den gr\u00f6ssten Theil der Netzhaut einnimmt, sieh \u00fcber die ganze Netzhaut verbreiten und das kleine entgegengesetzte Bild ganz Verschwinden, an dessen Stelle dann die Beleuchtung des Grundes tritt. Die seitlichen Stellen der Netzhaut, welche ausser der Achse liegen, sind mehr als der mittlere Theil derselben zu diesen Erscheinungen geeignet, aber kein Theil der Netzhaut ist davon ausgenommen. Am leichtesten erscheint das Ph\u00e4nomen jedoch auf der Eintrittsstelle des Sehnerven.\n1. Verschwinden der Gesichtsobjecte ausser der Eintrittsstelle des Sehnerven.\nMan betrachte einen Schnitzel farbigen Papiers auf einem weissen Grunde lange Zeit bis zur Erm\u00fcdung des Auges; auf einmal verschwindet der farbige Eindruck auf eine kurze Zeit ganz, und an seine Stelle tritt der w7eisse Grund, so tlass das farbige Bild vom weissen Grunde wTie weggewischt wird. Gelingt das Ph\u00e4nomen auf den seitlichen Theilen der Netzhaut ausser der Mitte am leichtesten, so ist doch auch der mittlere Theil der Nervenhaut dazu f\u00e4hig, wie man hei dergleichen Versuchen bald findet. Puhkinje hat diese Phaenomene beschrieben. Sie beweisen, dass bei l\u00e4ngerer Dauer der Einwirkung, die Nctzhaut-theilcben ihre Zust\u00e4nde einander mittheilen und dass die T'h\u00e4tig-keit ihrer Theilchen in einem sehr beschr\u00e4nkten Grade einer Irradiation in die Breite f\u00e4hig ist. Farbige Bilder auf weissein Grunde sind dazu am meisten geeignet, eine kleine schwarze Figur verschwindet sehr schwer und sehr sp\u00e4t auf weissem Grunde, weil die Empfindung eines Eindrucks lebendiger ist, wenn sein Gegensatz zugleich empfunden wird. Das Verschwinden dauert \u00fcbrigens nur einige Secundcn, dann taucht das objective Bihl sogleich wieder hervor.\n2. Verschwinden der Gesichtsobjecte in der Eintrittsstelle des Sehnerven.\nDas Verschwinden der Gesichtsobjecte in der Eintrittsstelle des, Sehnerven ist l\u00e4nger bekannt und von Ma\u00fciotte entdeckt. Aber diese Stelle der Nervenhaut hat diese Eigenschaft nicht vor den \u00fcbrigen voraus, sondern besitzt sie nur in einem h\u00f6herm Grade. Betrachtet man mit einem Auge einen Punct so, dass\nein davon seitlich liegender 0\t-J- Gegenstand sein Bihl auf die\nEintrittsstelle des Sehnerven","page":370},{"file":"p0371.txt","language":"de","ocr_de":"\u25a0i. Wirkungen d. Sehnerven. TVeehsehvirkung d. Netzhaut!heile. 371\nwerfen muss, so verschwindet das Bild pl\u00f6tzlich oder wenigstens sehr bald. Schliesst man z. B. das linke Auge und lixirt den beistehenden Punct in einer Entfernung von 5 Zoll vom Auge sehr scharf und unverwandt mit dem rechten Auge, so verschwindet das Kreuz und an dessen Stelle tritt die Farbe des Grundes. Die Entfernung des Gegenstandes vom Auge muss etwa 5 Mal so gross seyn, als die Entfernung des Kreuzes und l\u2019unctes. Dass es die Eintrittsstelle des Sehnerven ist, wovon dicss abh\u00e4ngt, erkennt man sogleich, wenn man umgekehrt das Kreuz lixirt. Dann verschwindet der Punct entweder gar nicht, oder nicht schneller als an jeder andern Stelle der Netzhaut.\nMit Unrecht hat man aus dieser Erscheinung gefolgert, dass die Eintrittsstelle des Sehnerven ganz unempfindlich sei, denn sie empfindet in der That, aber die Farbe des Grundes, oder des im \u00fcbrigen Theil der Netzhaut, oder in den n\u00e4chstliegenden Theilen der Netzhaut voiwaltenden Eindrucks.\nAus diesen Erscheinungen folgt, dass die Netzhauttheilehen eines gewissen Grades der Wechselwirkung f\u00e4hig sind. Diese Wechselwirkung kann aber auch in einer ganz andern Weise erfolgen, wie in den in dem folgenden Artikel zu beschreibenden Erscheinungen.\nli. Erregung entgegengesetzter Zust\u00e4nde in nebeneinander liegenden Theil en d er Netz baut.\nBei den vorher beschriebenen Ph\u00e4nomenen pflanzt siieh der vorwaltende Eindruck ohne Ver\u00e4nderung in die Breite fort und vertilgt den weniger ausgedehnten davon verschiedenen Eindruck. In den jetzt zu beschreibenden Erscheinungen ver\u00e4ndert der eine Eindruck den andern so, dass der zweite bleibt, aber zugleich den Gegensatz des ersten zeigt. Die erst genannten Erscheinungen treten nur ailrn\u00e4hlig und bei sehr langer Betrachtung der Bilder ein, die letzt genannten erfolgen augenblicklich und dauern.\nt. Helle und dunkle durch Contrast sich hebende Bilder.\nEin graues Feld auf weissem Grunde erscheint dunkler gegen dim weissen Grund, als wenn man dieselbe Tinte, das Grau allein \u00fcber das ganze Sehfeld verbreitet betrachtet. Jeder Schatten hebt sich durch Contrast st\u00e4rker hervor, je heller die Beleuchtung ist, die ihn verursacht. Hieher geh\u00f6rt folgende Erscheinung, die als Beispiel f\u00fcr viele andere gelten kann. Man beleuchte ein weisses Papier mit einem Kerzenlicht, das Papier macht den Eindruck des Weissen, stellt man nun ein zweites Kerzenlicht davon entfernt auf, und bewirkt man durch einen K\u00f6rper einen Schatten, so ist dieser grau, obgleich die Stelle des Schattens doch so vollkommen wie vorher von dem ersten Kerzenlicht beleuchtet wird. Dieselbe Stelle erscheint nun grau, die vorher ohne Gegensatz weiss erschien. Daher erscheint auch ein Schatten auf weissem Felde viel dunkler, als wenn man ihn durch eine Bohre allein betrachtet.","page":371},{"file":"p0372.txt","language":"de","ocr_de":"372 V. Buch. Von den Sinnen. I. Ah sehn. Vom Gesichtssinn.\nViele andere hielicr geh\u00f6rige Erscheinungen hat Tourtual in seiner Schrift \u00fcber die Erscheinung des Schattens. Berlin 1830. erl\u00e4utert.\n2. Physiologische Farben durch Contrast.\nBetrachtet man einen sehr kleinen matt grauen Papierscbniz-zel auf einem grossen lichtfarbigen Felde, so erscheint der graue Papierschnitzel nicht mehr ganz grau, sondern mit einer leichten farbigen Tinte, welche der Contrast der objectiven Farbe des Feldes ist. So z. B. erscheint der graue Papierschnitzel leicht r\u00f6thlicli auf gr\u00fcnem Felde, dagegen gr\u00fcnlich auf rothern Felde, mit orangefarbener Nebenlinie auf hellblauem Felde, und mit bl\u00e4ulicher Tinte auf orangenem Felde, gelblich auf hellvioletem Felde, violet auf hellgelbem Felde. Um diese Erscheinung zu sehen, ist es noting, dass der farbige Grund eine sehr reine helle viel w\u00ebisses Licht zugleich enthaltende Farbe habe. Niehl; jedes farbige \"Papier taugt dazu. Am deutlichsten ist die Erscheinung, wenn man ein farbiges mit d\u00fcnnem Papier bedecktes Glas vor ein Lampenlicht h\u00e4lt, und eine Stelle des Glases und Papiers mit einem Papierschnitzel bedeckt. Iler Papierschnitzel erscheint dann leicht in der Farbe des Contrastes. * Die auf p. 368. befindliche Figur zeigt die Farben, welche physiologisch Contraste bilden, die Contraste stehen sich gegen\u00fcber. Die physiologischen Contraste sind dieselben, welche wir oben als comple-ment\u00e4re Farben kennen gelernt haben. Die hervorgerufene Con-trastfarbe giebt mit der urspr\u00fcnglichen zusammen immer die Summe der drei Hauptfarben Blau, Both, Gelb. Die Contrast f\u00e4rbe zu Gelb ist z. B. Violet, welches Blau und Both enth\u00e4lt. Gelb und sein Contrast sind daher zusammen so viel als Gelb, Blau, Roth oder als alle Farben zugleich. So sind Roth und sein Contrast Gr\u00fcn (gelb und blau) die Summe aller Hauptfarben, Blau und sein Gegensatz Orange (gelb und roth) bilden wieder die Summe aller Hauptfarben.\nDa die Contrastfarbcn rein subjectiv sind,'so folgt aus diesen Erscheinungen, dass die Farbe des Contrastes als entgegengesetzter Zustand in der Retina durch die objective Farbe hervorgerufen wird, und dass die in der Netzhaut entstehenden Gegens\u00e4tze durch Wechselwirkung sich das Gleichgewicht halten. Diese Erscheinungen beweisen wieder, dass die Farben physiologisch nur bestimmte Zust\u00e4nde der Nervenhaut sind, welche sich in verschiedenen Netzhauttheilcn wechselseitig hervorrufen k\u00f6nnen. Eine notbwendige Bedingung zur Erscheinung des physiologischen Contrastes ist relative Ruhe an der Stelle, wo der Contrast hervortreten soll, die relative Ruhe ist das Grau, und nur Grau zeigt den Contrast einer objectiven Farbe farbig. Eine zweite Bedingung ist, dass die objective Farbe sehr licht sei.\nflieh er scheinen auch einige von Smith, Brewster und mir beobachtete Erscheinungen zu geh\u00f6ren, wor\u00fcber in Mueli.. Archiv 1834. p. 144. 145. berichtet ist.","page":372},{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"3. Wirkungen tl. Sehnerven. Wechsel wirk. d. Nctzhautthcile. 373\n3. Farbige Schatten.\nDas Ph\u00e4nomen der farbigen Schatten geh\u00f6rt in dieselbe Kategorie, w ie die vorhererwahnten Erscheinungen. Doch sind nicht alle farbigen Schatten von dieser Art und eine gewisse Classe derselben hat nur seine Ursache in der farbigen Beleuchtung eines Schattens.\t1\na.\tObjective farbige Schatten.\nWird der Schatten eines K\u00f6rpers, der von farblosem oder farbigem Liebte erregt wird, seihst wieder von einem andern farbigen Lichte erhellt, so hat er nat\u00fcrlich einen farbigen Schein. In der D\u00e4mmerung des Himmelslichtes erscheinen die Schatten der K\u00f6rper hei Kerzenlicht blau und gelb, je nachdem der Schatten vom bl\u00e4ulichen flimmelslicht, oder vom Kerzenlichte beleuchtet wird. Ls entstehen n\u00e4mlich hei doppelter Beleuchtung zwei Schatten mit verschiedenen Farben. Der eine Schatten eines St\u00e4bchens auf weissern Papier ist unter diesen Umst\u00e4nden, indem er nicht vom bl\u00e4ulichen Himmelslichte, wohl aber vom Kerzenlichte beschienen werden kann, gelb, der zweite Schatten ist blau, weil er vom gelben Kerzenlicht nicht beschienen werden kann, wohl aber vom bl\u00e4ulichen Himmelslicht beschienen wird. Alle \u00fcbrigen Stellen des Papiers zeigen keine verwaltende Farbe, weil sie von beiderlei Licht zugleich beschienen werden. Die vollkommen objective Matur dieser Schatten hat Pohlmann Poggend. Ann. 37. 319, nach gew iesen.\nb.\tSubjective farbige Schatten.\nL\u00e4sst man ein farbiges Licht (durch ein farbiges Glas oder auch durch Reflexion) auf eine weisse Tafel fallen, und erzeugt auf .der nun farbig erscheinenden Fl\u00e4che einen Schatten durch einen aufgestelitcn schmalen K\u00f6rper, beleuchtet darauf diesen Schatten mit weissern Tageslichte, so ist der Schatten von der oomplcmentarcn Farbe der urspr\u00fcnglichen,\nd. h. gr\u00fcn hei urspr\u00fcnglichem rothem Licht, i'oth \u2022\u2014\t-\u2014\t\u2014\t\u2014\tgr\u00fcnem Licht,\nviolet \u2014\t\u2014\u25a0\t\u2014\u2022\t\u2014\tgelbem Licht,\ngelb \u2014\t\u2014\t\u2014\t\u2014\tvioletem Licht,\norange \u2014\t\u2014\u2022\t\u2014\t\u2014\tblauem Licht,\nblau \u2014\t\u2014\u25a0\t\u2014\t\u2014\torangenem Licht.\nDie Versuche gelingen auch hei Beleuchtung des Schattens durch Kerzenlicht. Die Beleuchtung des Schattens durch farbloses Licht ist cine noth wendige Bedingung der Erscheinung. Wird im absolut dunkeln Raum farbiges Licht eingelassen und in diesem ein Schatten bewirkt, so ist er wde Grotthuss gezeigt hat, nicht farbig. Es geh\u00f6rt also eine Mitwirkung des weissen Lichtes zur Erzeugung des Ph\u00e4nomens, sei es, dass dadurch auf das farbige Licht eingewirkt, oder dass die schattige Stelle der Retina dadurch erregt wird. Einige \u00e4ltere Erkl\u00e4rungen der Erscheinungen k\u00f6nnen v\u00f6llig \u00fcbergangen werden. Die Erkl\u00e4rung derselben kann nur auf einer objcctiven Ver\u00e4nderung, gegenseitigen Ver\u00e4nde-","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"374 V. Buch. Von den Sinnen. I. Ahsclm. Vom Gesichtssinn.\nrung des farbigen und weissen Lichtes, oder auf den physiologischen Erscheinungen des Contrastes basiren.\nEine Erkl\u00e4rung aus objective\u00ab Ursachen in dem eben an gedeuteten Sinne versuchte v. M\u00fcnchow. Seine Ansicht beruht auf der von ihm aufgestellten Hypothese, dass farbiges Licht in dem Raum, den es einnimmt, die Eigenschaft besitze, von anderem diesen Raum durchdringenden farblosen Lichte den ihm seihst homogenen Anthcil unwirksam zu machen, und nur das comple-menl\u00e4re Licht durchzulassen. Siehe Poht.mann a. a. (). p. 323. Nach dieser Hypothese von M\u00fcnchow w\u00fcrde das blaue Licht mit weissem Licht zusammentreffend, sich mit dem blauem Lichte das im Weiss enthalten ist, neutralisiren, so dass die complemen-t\u00e4re Farbe des blauen Lichtes Orange \u00fcbrig bliebe, v. M\u00fcnchow berief sieh in Hinsicht der M\u00f6glichkeit dieser Einwirkung des von verschiedenen Seiten kommenden Lichtes aufeinander auf den Versuch von Frauenhofer, wonach ein Lichtstrahl einen andern von seiner Balm ablenken kann. Pohlmann widerlegt jene Hypothese durch einen Versuch. Das laubige Licht einer Glasscheibe beleuchtete eine weisse Fl\u00e4che innerhalb eines Kastens, auf der Scheibe lag ein Streifen, welcher den Schatten auf die weisse Fl\u00e4che des Kastens warf. Statt aber den Schatten vom farbigen Lichte durch das Tageslicht zu beleuchten, liess er dieses nur mittelst eines Rohres auf den Schatten zu, so dass das Rohr bis in den Schatten reichte. Freilich kann auch in diesem Falle durch Reflexion von den W\u00e4nden des Kastens farbiges Licht in den Schatten gelangen, und hier dieselbe Wirkung auf das Tageslicht hervorbringen.\nDie gew\u00f6hnlichste Erkl\u00e4rung der farbigen Schatten ist die aus dem physiologischen Con trast, so dass die complemcnt\u00e4re Farbe des Schattens f\u00fcr bloss subjectiv gehalten wird. Sie ist von Rumford, Goethe, Grottiiuss, Brandes, Tourtual uikIPohl-mann vorgetragen und die meisten Physiker theilen sie.\nF\u00fcr diese Erkl\u00e4rung l\u00e4sst sich an f\u00fchren, was schon Ru.mforh beobachtete, dass die Farbe des Schaltens von einem farblosen Schatten nicht unterschieden werden kann, wenn man den Schatten allein ohne den farbigen Grund durch ein Rohr ansieht.\nDiese Erkl\u00e4rung wird aus den im vorhergehenden Artikel betrachteten Erscheinungen sehr wahrscheinlich, hei welchen alle irref\u00fchrenden Elemente des Versuchs fehlen, die hei den farbigen Schatten vorhanden sind. Ein kleines graues Feld auf einem hellen weisslich gr\u00fcnen Grunde li\u00e2t einen rothen Schein, wenn die Farbe des Gr\u00fcns viel Licht hat. Ist das Gr\u00fcn nicht licht und weisslich, so beh\u00e4lt das graue Spectrum sein einfaches Grau. Um lichte Barben zu erhalten, kann man folgenderrnassen zu Werke gehen. Man halte ein gr\u00fcnes Glas dicht vor eine Lampe, auf dem gr\u00fcnen Glas ist ein kleiner Papierstreifen aufgeklebt, dieser wird durch ein farbloses Licht matt beleuchtet; er erscheint roth. Blier ist das Ph\u00e4nomen auf die einfachsten Bedingungen reducirt.","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"3. Wirkungen des Sehnerven. Farhenharmonie.\n375\nC. Angenehme Wirkung der physiologischen Contraste, physiologische Grunds\u00e4tze der K a r b e n h a r m o n i e.\nGoethe Farbenlehre.\nDie in den vorhergehenden Artikeln beschriebenen Erscheinungen beweisen deutlich, dass die Nervenhaut des Auges durch eine einzelne Farbe* in einen einseitigen Zustand versetzt wird und dass sie selbst zur Entwickelung der Gegens\u00e4tze tendirt, welche diesen einseitigen Zustand complementiren. Wir d\u00fcrfen uns daher nicht wundern, wenn diejenigen Zusammenstellungen von Farben einen angenehmen und wohlth\u00e4tigen Eindruck auf das Auge und auf die Seele machen, welche diese Gegens\u00e4tze schon vollst\u00e4ndig enthalten. Alle complement\u00e4ren Farben machen daher auch einen angenehmen Eindruck, und alle grellen nicht complc-ment\u00e4ren Farben einen unangenehmen Eindruck, wenn sie herrschen. ln diesem Sinne k\u00f6nnen die complement\u00e4ren Farben auch die harmonischen, die nicht complement\u00e4ren die disharmonischen heissen. Eine Zusammenstellung von complement\u00e4ren Farben ist eine harmonische, und andere Zusammenstellungen sind disharmonisch, je einseitiger und greller sie sind. Ein vorherrschendes brennendes Rolli ist so unangenehm, als ein grelles herrschendes Gelb, ein uniformes herrschendes Blau. Daher schon der Sinn der Menschen, wo diese Farben allein in gr\u00f6sserer Ausdehnung angebracht werden sollen, sie durch Beimischung von Weiss oder Grau mildert und ertr\u00e4glicher macht. Dagegen wird das reinste Roth angenehm neben seinem complement\u00e4ren Gr\u00fcn, das Blau angenehm neben Orange oder Gold, das Gelbe angenehm neben violet. Dergleichen harmonische Zusammenstellungen liegen in der p. 3(iS. befindlichen Figur gegen\u00fcber, wie die complement\u00e4ren Farben und man sieht aus der Figur, welche Mischung harmonisch ist zu einer bestimmten andern Mischung. Geschmackvolle Frauen mildern die Farben ihrer Kleider, wenn sie einfarbig sind, durch Wahl der tr\u00fcben Farben, oder stellen in ihren Kleidern, wenn sie reine Falben tragen, harmonische Farben zusammen, z. B. ein rothes Tuch auf einem gr\u00fcnen Kleide, Lila mit Gelb, Blau mit Orange. Welche Pracht und Anmuth liegt in der Verbindung von goldenem Orange und Blau, einer gold-orangenen Frange an einer blauen Drapperie. Dagegen w\u00fcrde jeder die Tracht einer Frau, welche reines Gelb und Roth, oder reines Gelb und Blau, oder reines Blau und reines Roth enthielte, f\u00fcr h\u00e4sslich und abgeschmackt halten. Nur in den Nationuizcichcn und bei den Trachten der Soldaten sieht man solche aullallende Verbindungen gew\u00e4hlt.\nAm aullnllcndsl.cn und unangenehmsten sind die Zusammenstellungen von zwei reinen Farben,- denen die drille lehlt, wenn sie oomplement\u00e4r seyn sollen, z. B. Gelb und Roth, oder Blau und Rolli, oder Gelb und Blau. Diess sind reine Disharmonien. Eine Zusammenstellung von zwei Farben, wovon die eine den Fieber-gang zur andern bildet, ist weder harmonisch noch disharmonisch.\nIKiiller\u2019s Physiologie, 2r Kd. 11.\t25","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":".\u2018(76 V. Buch, Von den Sinnen. I. Abschn. Vom Gesichtssinn,\nsondern gleichg\u00fcltig, indifferent, z. B. Gelb und Gr\u00fcn, oder Roth und Orange, oder Violet und Blau. Eine Disharmonie kann aber durch das Dazwischen treten einer andern Farbe aufgehoben werden, welche zu einer der disharmonischen harmonisch, zur andern indifferent ist. Beispiele davon sind die Verbindungen Roth, Gr\u00fcn, Gelb, oder Gelb, Violet, Roth, oder Blau, Orange, Roth, oder Roth, Gr\u00fcn, Blau u. s. w. Die Disharmonie von Roth und Gelb l\u00f6st sieb auf durch das dazwischentretende Gr\u00fcn, welches harmonisch zu Roth und indifferent zu Gell\u00bb ist.\nDie Maler machen von diesen physiologischen Grunds\u00e4tzen bewusst oder unbewusst vielfachen Gebrauch, und der wohlth\u00fctige Eindruck der Farben in einer Malerei beruht in der geschickten Zusammenstellung der Harmonien und der Aufl\u00f6sung der Disharmonien. Oft ist dicss Prineip bis zur Beobachtung der farbigen Schatten angewandt worden. Die vorzugsweise Wahl tr\u00fcber grauer Farben vermeidet den Irrthum der Disharmonien, verz ich-tet aber zugleich auf die ganze Macht der harmonischen Farbeneindr\u00fccke. Ausf\u00fchrlich hat \u00fcber diesen Gegenstand Runge in seinem Werk \u00fcber die Farben gehandelt, welches zu diesem Artikel vorzugsweise benutzt worden ist.\n4. Von der gleichzeitigen Wirkung beider Augen.\nDurch die gleichzeitige W irkung beider Augen entstehen die Erscheinungen des Einfachsehens durch zwei Organe unter bestimmten Bedingungen, des Poppelsehens unter andern Bedingungen, und des W ettstreites der Gesichtsfelder beider Augen.\nA. Vom Einfach sehen mit zwei Augen.\nJ. Mueller Physiologie des Gesichtssinnes, Leipz, 1826. p. 71.\nDas Einfachsehen bei \u2022 zwei Organen glaubten Einige am leichtesten dadurch zu erkl\u00e4ren, dass sie wie Gall annabmen, man sehe gar nicht mit beiden Augen zugleich, sondern nur entweder mit dem einen oder andern. Bei Menschen von sehr ungleicher Sehweite beider Augen k\u00f6mmt ein solcher vorzugsweiser Gebrauch eines Auges wohl vor, aber bei der grossen Mehrheit der Menschen sind beide Augen beim Sehen desselben Objectes zugleich tl\u00fcftig, wie man sich aus den unter bestimmten Bedingungen entstehenden Doppelbildern leicht \u00fcberzeugt. Von zwei hintereinander gehaltenen Fingern erscheint der erste doppelt, wenn der zweite fixirt und einfach gesehen wird, erscheint der zweite doppelt, wenn der erste fixirt und einfach gesehen wird, und das eine der Doppelbilder geh\u00f6rt dem einen, das andere dem andern Auge an.\nDas Einfachsehen mit beiden Augen findet nur an bestimmten Stellen beider Netzhaute statt, andere Stellen der Netzhaut beider Augen sehen, wenn sie zugleich afficirt werden, immer doppelt. Es k\u00f6mmt zun\u00e4chst darauf an, diejenigen Stellen beider Netzh\u00e4ute durch Erfahrung kennen zu lernen, welche die Eigen-","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"3. Wirkungen des Sehnerven. Einfachsehen.\n377\nschaft haben, zugleich afficirt ihr Bild an demselben Ort des Sehfeldes zu sehen, man kann sic der K\u00fcrze des Ausdrucks wegen identische nennen. Auf folgende Weise lernt man diese Stellen kennen.\nWenn man im Dunkeln bei geschlossenen Augen eine bestimmte Stelle des Auges und somit der Netzhaut an sich mit dem Finger dr\u00fcckt, so entsteht ein feuriger Kreis im Sehfelde, und der ilcr Druckstelle entsprechende feurige Kreis wird aus Gr\u00fcnden die p. 358. angegeben sind, scheinbar an der entgegengesetzten Seite des Gesichtsfeldes sichtbar. Dr\u00fcckt man nun in dem einen Auge den obern Theil mit dem Finger, im andern Auge den untern Tlieil, so siebt man zwei feurige Kreise, einen obern und einen untern, der obere geh\u00f6rt der untern Druckstelle des einen Auges, der untere der obern Druckstelle des andern Auges an. Diese Stellen beider Augen sind also jedenfalls nicht identisch; denn sie sehen ihre Affectionen an ganz verschiedenen Orten. Dr\u00fcckt man die \u00e4ussere Seite beider Augen, so entstehen auch zwei Figuren, wovon jede der entgegengesetzten Druckstelle angeh\u00f6rt. Dr\u00fcckt man die innere Seite eines jeden Auges, so entstehen auch zwei feurige Kreise an den \u00e4ussersten Seiten des Sehfeldes, der rechte geh\u00f6rt dem rechten, der linke dem linken Auge an. So viel ist also gewiss, dass weder der obere Theil der einen Netzhaut wnd der untere der andern, noch die \u00e4ussern Seiten beider Netzh\u00e4ute, noch die innern Seiten derselben zusammen identisch sind. Sie sehen ihre Affectionen immer an differenten Orten und die Distanz. der Orte betr\u00e4gt sogar die ganze Breite des Sehfeldes.\nIdentisch sind dagegen die \u00e4ussere Seite des einen Auges und die innere des andern, oder in beistehenden Figuren a des Auges\nA ist identisch mit a des Auges B, h des Auges A identisch mit; />' des Auges B. Identisch ist ferner das Obere des einen Auges mit dem Obern des andern, das Untere des einen Auges mit dem Untern des andern. Wird z. B. der Druck des Fingers im Dunkeln an beiden geschlossenen Augen unten angebracht, so erscheint nur ein feuriger\n4^.\ne\nreis\noben\nder Mitte des Sehfeldes; wird der Druck in\nbeiden Augen oben angebracht, so erscheint nur ein feuriger Kreis unten in der Mitte des Sehfeldes. Desgleichen dr\u00fcckt man im Auge A die \u00e4ussere Seite \u00ab, im Auge B die innere Seite a\\ oder was dasselbe, in beiden Augen die linke Seite, so erscheint nur eine feurige Figur und sic liegt zur \u00e4ussersten rechten. Dr\u00fcckt man hingegen h des einen, und h des andern, oder die rechten Seiten beider Augen zugleich, so erscheint wieder nur ein Feuerkreis und zwar zur \u00e4ussersten linken. Kurz man kann sich die Sph\u00e4ren beider Netzh\u00e4ute gleichsam sich deckend denken, wie in der bestellenden Figur, so dass das Linke des einen mit dem Linken des andern, das Rechte des einen mit dem ucs andern, das","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":".\u2018ITS V. Buch. Von den Sinnen. I. Ahse/m. Vom Gesichtssinn.\nObere beider Augen und dus Untere beider Augen als identisch sich deckt, a deckt h deckt i>, c deckt c.\nDie Puncte die zwischen a und c in einem Auge liegen, sind wieder identisch mit den entsprechenden zwischen \u00ab und c des andern, die Puncte zwischen h und c des einen identisch mit den entsprechenden des andern.. Denn gebt man heim Dr\u00fccken mit dem Finger \u25a0von identischen Stellen beider Augen aus, z. B. von der linken Seite beider Augen und r\u00fcckt glcichm\u00e4ssig in beiden Augen mit dem Dr\u00fccken nach oben fort, so bleibt die Druckligur immer einfach und so kann man im Kreise: herum geben und die Figur immer einfach sehen. Sobald man sieh aber von diesen identischen Stellen beider Augen mit dem dr\u00fcckenden Finger entfernt, so erscheinen sogleich Doppelbilder.\nDurch diese Versuche k\u00f6mmt man schon vorl\u00e4ufig zu der TJc-berzeugung, dass das, was in vollkommen \u00fcbereinstimmenden Stellen liegt, auch identisch ist. Vollkommen \u00fcbereinstimmend ist aber, was an dem Sph\u00e4renahschnitt der Retina, in demselben Meridian und ( lemse Iben 1 *ara 11 e I k re is liegt, die Mitte der Retina als Pol betrachtet, oder was von der Mitte der Retina in gleicher Richtung gleich weit entfernt ist. Alle \u00fcbrigen Stellen beider Netzh\u00e4ute sind different, sind sie nffieirt, so ist cs geradesogut, als oh verschiedene Stellen in einem einzigen Auge atlieirt w\u00e4ren, und die Doppelbilder des Auges A und Auges G sind um so weit von einander entfernt, als das Rild des Auges A von der Stelle des Auges A entfernt ist, mit der die Stelle des Doppelbildes im Auge B identisch ist. Oder um auf die schon gebrauchten Figuren p.377. zur\u00fcckzukommen, ist a in dem einen Auge atlieirt, // in dem andern, a aber mil d, h mit V identisch, so ist die Entfernung der Doppelbilder a und // gerade so gross, als die Entfernung von a und b in dem einen Auge, oder die Entfernung von a und b in dem andern. Denn es ist gerade so gut als oh in dem einen Auge yl die Stellen a und b atlieirt w\u00e4ren.\nDie Anwendung auf die objectiven Gesichtserscheinungen cr-giebt sich nun von selbst. Haben die Augen eine solche Stellung gegen da$ leuchtende Object, dass gleiche R\u00fcder desselben Objectes auf identische Theile beider, beizh\u00e4ute lallen, so kann das Object nur einfach gesehen werden, in jedem andern Falle aber werden Doppelbilder gesehen werden m\u00fcssen. Die Stellung beider Augen gegen das Object, wobei identische Stellen beider Augen von demselben Object ein Rild erhalten, ist nun die, wenn die Achsen beider Augen in einem Puncte des Objectes Zusammentreffen, wie, cs immer bei der Fixation des Gegenstandes geschieht.\nDie Augen /L und B sollen mit ihren Achsen so gerichtet seyn, dass sie in \u00ab Zusammentreffen, dann wird a einfach und an demselben Orte in der Mitte des Sehfeldes gesehen, weil \u00ab des einen und a des andern Auges' identisch sind. Aber auch noch andere zur Seile Von a liegende Gegenst\u00e4nde z. !!. (i und y erscheinen einfach. Liegt n\u00e4mlich /f so, dass sein Bild in beiden Augen gleich weil, vom Mitlelpuncte der Retina ab f\u00e4llt, n\u00e4mlich in b des einen Auges und A des andern, so erscheint","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":".\u2018J. Wirkungen des Sehnerven. Einfachsehen.\t37!)\n\u00df auch einfach auf identischen Stellen beider Netzh\u00e4ute. Desgleichen erscheint y einfach, wenn die Distanz von c bis a im Auge A so gross ist, als die y Distanz von c bis ci im Auge B.\nEine Linie oder Ebene, welche durch den Convergenz-punct beider Augenachsen oder durch den Fixationspunet gelegt wird, nannten die Aelte-ren den Horopter und man stellte sich vor, dass auch die seitlichen Gegenst\u00e4nde des Horopters einfach erscheinen. Genauere Zergliederung zeigt indess, dass der Horopter weder eine gerade Linie noch eine ebene Fl\u00e4che ist, sondern dass er eine kreisf\u00f6rmige Fl\u00e4che bildet, wie ich in meiner Schrift \u00fcber die Physiologie des Gesichtssinnes zeigte. Es fragt sich n\u00e4mlich, wenn abc des einen Auges gleich alle des andern Auges und also LA\u2014Li des andern Auges, LA \u2014LA, ob die Functe a, \u00df, '/ in einer geraden Linie liegen k\u00f6nnen und in welcher Liide sie liegen.\nah-=.\u00e4li nach der Voraussetzung, LA im Auge A = LA hn Auge B, folglich Li'=Ll'- Da nun 2.2= Z.2, so muss Z-3 = Z.3 seyn. Ebenso l\u00e4sst sich beweisen, dass der Winkel bei y n\u00e4mlich Z.5=Z_3 ist. Denn 1ic = h c, Li \u2014Li-\nWenn aber die Winkel 3, 3, 5 gleich sind, io ist a\u00dfy keine gerade Linie, denn nur ein Kreis hat dieEigenscbaft,dass die auf eine Sehne desselben gegen die Peripherie gerichteten Dreiecke gleiche Winkel an der Peripherie haben *).\nDer Horopter ist daher immer ein Kreis, dessen Sehne die Entfernung beider Augen oder richtiger der Krcuzun gspunct der Lichtstrahlen in beiden Augen ist, und welcher durch drei Puncte\ny ])ie Entdeckung der wahren Form des Horopters wurde mir von mehreren Physiologen zugeschrichcn und ich glaubte seihst lauge, dass n \u00ab die Sache zuerst eingeschen. tn <1 tatr.Kr.\u2019s jdtffs/L W\u00f6rterbuch. II 2. Eefnig 1828. p. 1472. 5t.|,c ich indess, 'lass 'Vieth schon die^JNoth Wendigkeit eingeschen, dass der Horopter ein Kreis ist. GltBERTS Annalen 58. 233.","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"3S0 V. Buch. Von Jen Sinnen. I. Aischn. Vorn Gesichtssinn.\nbestimmt wird, durch die beiden Augen und durch den Fixations-punct der Sehachsen. Ist ah die Entfernung beider Augen, so ist der Kreis f der Horopter f\u00fcr den Convergenzpunct der Augenachsen in c, Kreis g ist der Horopter f\u00fcr den Convergenzpunct d, Kreis h der Horopter f\u00fcr den Convergenzpunct <\u2019 u. s. w.\nD as Einfachsehen an den identischen Stellen der Netzh\u00e4ute beider Augen an einem Orte muss in der Organisatiorf der tieferen Theile oder Hirntheile des Sehapparates, und jedenfalls einen organischen Grund haben. Denn nie ist es eine Eigenschaft paariger Nerven, dass sic ihre AfFectionen an denselben Ort setzen. Auch ist es h\u00f6chst unwahrscheinlich, dass die Identit\u00e4t der entsprechenden Stellen der Netzh\u00e4ute die Folge einer gewissen Angew\u00f6hnung oder Vorstellung sei. Die Congruenz der Netzh\u00e4ute zu einem Sehfelde, welchen Grund sie haben mag, ist vielmehr der Grund aller fernem Vorstellungen, die aus dem Einfachsehen und Doppeltsehcn entstehen.\nMan hat gegen die constante Identit\u00e4t der entsprechenden Stellen beider Netzh\u00e4ute eingewendet, dass Doppeltsehen im Schwindel, in der Trunkenheit, in nerv\u00f6sen Krankheiten entstehe, wo doch die harmonischen Bewegungen beider Augen nicht aufgehoben seien. Treviranus. Wenn Doppelbilder entstehen m\u00fcssen, sobald ein Gegenstand nicht lixirt wird, oder wenn er nicht im Horopter liegt, so ist das Doppeitschen in keinen Zust\u00e4nden nat\u00fcrlicher und nothwendiger, als im Schwindel, in der Trunkenheit, in den Nervenfiebern. Es ist auch nicht der Fall, was Tre-viranus und Steinbuch und vor ihnen Andere behauptet haben, dass die Identit\u00e4t der Sehfelder eine erzogene sei; und dass wenn im Anf\u00e4nge des Schielens Doppeltsehen stattfinde, sich sp\u00e4ter nach Massgabe der verkehrten Stellung der Augen eine neue, von der fr\u00fcheren verschiedene Identit\u00e4t der Netzh\u00e4ute bilde, wodurch ungeachtet des Schielens das Einfachsehen hergestellt werde. Das Schielen ist relativ. Die Stellung unserer Augen behufs der Con-vergenz der Augenachsen im Object f\u00fcr einen sehr nahen Gegenstand ist schielend, in Beziehung auf die Stellung der Augen f\u00fcr die Fixation eines fernen Gegenstandes. Bei einer krankhaft schielenden Stellung der Augen nach innen, m\u00fcsste das einfach erscheinen, was im Horopter dieser Augenstellung liegt, und man sieht nicht ein, f\u00fcr welche Entfernung sich nun eine neue Identit\u00e4t der Netzh\u00e4ute bilden sollte, da das nicht schielende Auge in alle Entfernungen sicht. Auch beweisen die an Schielenden gemachten Beobachtungen nicht, dass das urspr\u00fcngliche Verh\u00e4ltnis der identischen Stellen beider Netzh\u00e4ute aufgehoben wird, sondern dass das schielende Auge in der Regel unth\u00e4-tig wird. Eieber die Ursachen des Schielens siehe meine angef\u00fchrte Schrift p. 216. Vcrgl. Priestley Geschichte der Optik. Lcipz. 1777. p. 468. I. N. Fischer Theorie des Schietens veranlasst durch einen Aufsatz des Gr. Button. Ingolstadt 1781. Sehr oft ist mit dem Schielen ein prcsbyopischer oder myopischer Zustand des einen Auges verbunden. Das Sehfeld des schielenden Auges ist, da es eine ganz andere Sehweite hat, nicht oder wenig st\u00f6rend f\u00fcr das Sehfeld des gesunden Auges. So ist auch","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"3. JViirkunscn des Sehnerven, Einfachsehen.\n381\nwenn man mit einem Auge durch das Mikroskop, mit dem andern daneben auf den Tisch sieht, das Sehfeld des letztem wenig st\u00f6rend, obgleich es an demselben Ort wie das erstere ist, weil bei der Accomodation des einen Auges f\u00fcr das Bild ties Mikroskops das andere Auge dieser Accomodation folgt und daher den Tisch nicht deutlich sieht. Ein Schielender, den ich neulich untersuchte, sieht unter den gew\u00f6hnlichen p. 384. zu er\u00f6rternden Bedingungen der Doppelbilder, von Gegenst\u00e4nden verschiedener Entfernung nie den einen doppelt, wenn er den andern mit einem Auge lixirl Br unterscheidet also nur mit einem Auge, wenn beide offen sind.\nDie Congruenz der identischen Stellen beider Netzh\u00e4ute ist daher eine angeborne, und sie bleibt immer unver\u00e4ndert. Beide Augen sind gleichsam zwei Zweige mit einfacher Wurzel, und jedes Theilchen der einfachen Wurzel ist gleichsam in zwei Zweige Ihr beide Augen gespalten.\nEs sind mehrere Versuche zur Erkl\u00e4rung dieser wunderbaren Verkettung gemacht worden.\n1)\tDa die Sehnervenwurzeln beider Seiten mit dem Innern Theil ihrer Fasern sich kreuzen und zum entgegengesetzten Auge gehen, mit dem \u00e4ussern Theil der Fasern aber an derselben Seite fortgehen, die linke Seite beider Augen also von derselben Seh-nervenwurzel, die rechte Seite beider Augen von der andern Sehnervenwurzel versehen wird, so lag es nahe in der Vertheilung der Sehnervenwurzeln in beiden Augen die Ursache des Einfachsehens, zu suchen. Diess ist die Theorie von Newton (Quaest. opt.) und Woi.laston Philos. Transact. 1824. Ann. de chim. phys. 1824. Sept. Wollaston erkl\u00e4rte daraus das zuweilen vorkommende Halbsehen, wo n\u00e4mlich die ganze eine Seite des Sehfeldes in beiden Augen bis zum Mittelpuuct der Augen unth\u00e4tig wird, und er vermuth et, dass der Hirn theil eines Sehnerven* dabei unth\u00e4thig werde. Ueber F\u00e4lle von Halbsehen siehe Vater oculi vitia duo rarissima) visas duplicatas et dimidiatus Vite!). 1723. 4. re\u00e7us, in Hall. diss. med. pract. T. 1. und aim de chim. phys. 1824. Sept.\n2)\tIch zeigte in der Schrift \u00fcber den Gesichtssinn p. 94, dass diese Theorie ungen\u00fcgend sei, und dass, wenn eine solche Theorie die Erscheinungen vollst\u00e4ndig erkl\u00e4ren sollte, jede eine Faser einer Sehnervenwurzel sich im Chiasma nervorum opticorum in zwei Zweige, f\u00fcr die identischen Stellen beider Augen theilen\nm\u00fcsse, wie in beistehender Figur. Eine Theorie welche auf das Verh\u00e4ltnis* der Fasern gebaut ist, kann allein gen\u00fcgend seyn, aber es sind davon wieder mehrere Variationen m\u00f6glich. Jene Ansicht von der Thcilung jeder einzelnen Faser mag vielleicht auch Newton vorgeschwebt haben. Trevt-ranus, Volkmann konnten keine Thcilung der Fasern im Chiasma erkennen, und ich sehe sic ebenso wenig mit dem Compositum. Auch m\u00fcsste, wenn die Theorie richtig w\u00e4re, die Sehnervenwurzel noch einmal so d\u00fcnn, als der Augentheil des Sehnerven seyn. Man muss also bei dem einfachen altem Factum stehen bleiben, dass die Sehnervenwurzel einer Seite sich am Chiasma in zwei Tlieilc thcilt, und dass der innere Theil","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382 V. Buch. Von den Sinnen, f Abschn. Vom Gesichtssinn.\nkreuzt, der \u00e4ussere Theil an derselben Seite fortgeht. Siebe die Abbildungen dieses Verbaltens in meiner Schrift \u00fcber den Gesichtssinn. Beim Pferd sab ich das Verhalten am deutlichsten. Der \u00e4ussere obere Theil der Sehnervenwurzel gebt deutlich auf derselben Seite weg, der untere innere gebt auf die entgegengesetzte Seite.\n3)\tEine andere Theorie ist die von Rouault (Physic. p. /. Cap. 31.), derselbe sel/.t voraus, dass jeder Sebnerve gerade so viele Fasern enthalte, als der andere, und dass die entsprechenden Fasern beider Nerven in demselben Punct des Sensoriums verbunden seien. Bei dieser Theorie wird auf die theilweise Kreuzung der Fasern im Cbiasma nicht R\u00fccksicht genommen.\n4)\tEine vierte Theorie w\u00fcrde eine Modification oder \u2019Verbesserung der beiden vor-\nbau des Cbiasma zugleich ber\u00fcck-und a von identischen Stellen beider\nhergehenden sevn, und den sichtigen. Die Fasern a\nAugen kommend, geln\nCb\nlasmu in\ndie\nSehnervenwurzel einer Seite ein, und h\u00e4ngen entweder durch eine Schleife im Gehirn zusammen, oder entspringen von demselben Puncte des Sensoriums oder demselben Ganglienk\u00f6rperchen des Gehirns. Ebenso mit den identischen Fasern L und b'. ln der linken Hirnb\u00e4lfte w\u00fcrde das Bild der beiden linken H\u00e4lften der Augen, in der rechten Hirnh\u00e4lfte der beiden rechten H\u00e4lften pr\u00e4sentirt werden.\n5) Endlich liesse sich noch eine Theorie in der Art aufstellen, dass man eine commissurenartige Vereinigung \\on rechts und links zwischen den identischen Fasern beider Augen in der Mittellinie des Gehirns ann\u00e4hme.\nPorterfield {a. a. O. II. p. 293.) behauptet, die wahre Ursache, warum Objecte mit beiden Augen angesehen nicht doppelt gesehen\nWerden, h\u00e4nge allein von dem Verm\u00f6gen ab, das wir besitzen sollen, die Gegenst\u00e4nde an dem Orte zu sehen, wo sie sind. Aber diese Ansicht sehliesst keinen richtigen Sinn ein, und l\u00e4sst sich auch leicht durch Erfahrung widerlegen. Denn wenn das Auge A den Gegenstand ui seiner Achse c, und das Auge B denselben Gegenstand c in seiner Achse deswegen einfach sehen, weil sie ihn ,sehen, wo er ist, so m\u00fcssen beide Augen auch den Gegenstand a und b getrennt sehen, weil sie diese da sehen, wo sie sind : allem diese Gegenst\u00e4nde eischeinen, wenn sie m den Achsen itc~","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"3. Wirkung en des Sehnerven. Einfachsehen.\n3 S3\ngen, nicht getrennt, sondern einfach, an demselben Orte, wo c, weil ihr Bild in beiden Augen auf dieselbe mittlere Stelle der Netzhaut fallt. Es erscheint zwar von a ein Doppelbild im Auge B n\u00e4mlich im Puncte a, und von h ein Doppelbild im Auge A n\u00e4mlich im Puncte h , aber die Bilder der Puncte a und h, welche auf die Mitte der Netzhaut beider Augen fallen, werden nicht gesehen, wo sie sind, sondern vielmehr in einen Ort vereinigt. Auch von c kann man nicht sagen, dass es einfach gesehen werde, weil man cs sieht, wo es ist. Etwas sehen, wo es ist, kann doch bloss heissen, es in der Richtung sehen, welche es zum Auge hat. c wird aber in der Richtung ce vom Auge A, in der Richtung cd vom Auge B gesehen, es w\u00fcrde also gerade nach dieser Theorie doppelt gesehen w erden m\u00fcssen, w\u00e4hrend es doch aus vorher entwickelten Gr\u00fcnden einfach gesehen wird.\nDer Grund des Einfachsehens auf identischen Stellen der Netzh\u00e4ute muss also ein organischer sein. Mehrere Theorien sind im Stande dicss aus einer supponirten organischen Structur zu erkl\u00e4ren, aber von keiner l\u00e4sst sich beweisen, dass sie die wirkliche ist und von mehreren l\u00e4sst sich beweisen, dass sie jedenfalls nicht die w irklichen sevn k\u00f6nnen. Die Beschaffenheit, welche diese Erkl\u00e4rung haben muss, wird aber aus den vorhererw\u00e4hnten Theorien hinreichend klar.\nBei den S\u00e4ugethicren kann das Verh\u00e4ltniss der identischen und differenten Theilc beider Netzh\u00e4ute nicht dasselbe seyn, als heim Menschen, da ihre Augen meist divergiren und die Achsen beider Augen sich nie in einem Puncte eines Gegenstandes ver-Bctrachten diese Thiere einen Gegenstand, der in der ers vor ihnen liegt, so f\u00e4llt das Bild\nRichtung der Achse des desselben in beiden Augen auf den \u00e4ussern Theil des Auges. Z. B.\ndas Bild von a auf a und d in beiden Augen, diese Stellen m\u00fcssen identische seyn; in der That bewegt ein Hund seine Augen, je nachdem ein, in der Achse seines K\u00f6rpers vor ihm liegender Gegenstand, nahe oder ferne ist, so wie wir es thun. Aber die Sehachsen sind nicht wie hei uns eins mit den Augenachsen, cs sind nicht die Linieu und yy , sondern die Linien ad und aa'. Soll das Sellen des Hundes hei vor ihm liegenden, mit beiden Augen sichtbaren Gegenst\u00e4nden klar seyn, und sollen keine Doppelbilder entstehen, so muss //in einem und /' im andern Auge wieder identisch seyn, denn auf diese Puncte f\u00e4llt das Bild von h. Alle Theilc des einen Auges, welche nur Licht von seitlichen Gegen-","page":383},{"file":"p0384.txt","language":"de","ocr_de":"384 V. Buch'. Von den Sinnen. I. Ahschn. Vorn Gesichtssinn.\nstanden erhalten, d\u00fcrfen dagegen keine correspondirendcn identischen Stellen im andern Auge haben. Denn sonst w\u00fcrde ein rechts und ein links liegender Gegenstand an demselben subjecti-Es giebt daher wahrscheinlich in der Thiere zum Thcil identische, aber ganz differente Stellen,\nven Ort gesehen.\nden Augen zum Thcil\ng an* uuiciuiiic ij lenen, ohne entsprechende Stellen im andern Auge. L\u00e4sst man bloss diejenigen Stellen beider Sehfelde eines Thicres sich decken, welche denselben Gegenstand sehen, so erh\u00e4lt man aus der vorhergehenden Figur die gegenw\u00e4rtige.\nI\u00ce. Vom D opp o Its e lien mit zwei Augen.\nJ. Mueller Physiologie des Gesichtssinnes p. 167.\nIn allen F\u00e4llen, wenn ein Gegenstand nicht im Horopter liegt, f\u00e4llt sein Bild in beiden Augen auf differente Stellen, und er wird deswegen doppelt gesehen. Die Entfernung der Doppelbilder ist jedesmal eine ganz bestimmte, ist 6 die Stelle des Bildes in einem Auge, 4 die Stelle des Bildes im andern Auge und ist 6 des ersten Auges mit 6 des zweiten identisch, so ist die Entfernung der Doppelbilder jedesmal die Distanz von 4 und 6, d. h. wie sich die Distanz von 4 und 6 zum ganzen Durchmesser der Ebene einer Netzhaut verh\u00e4lt, ebenso verh\u00e4lt sich die Distanz der Doppelbilder zum ganzen Sehfeld. Die einfachsten Versuche zur Beobachtung der Doppelbilder sind diese. Man halte zwei Finger der H\u00e4nde in gerader Linie vor die Augen, den ersten ganz nahe vor die Augen, den andern weit davon entfernt. Fixirt man den ersten, indem man die Augenachsen darauf richtet, so ist der zweite doppelt, fixirt man den zweiten, so erscheint der erste doppelt. Je gr\u00f6sser die Distanz beider Finger ist, um so gr\u00f6sser wird die Entfernung der Doppelbilder, je n\u00e4her sich beide Finger r\u00fcx-ken, um so n\u00e4her r\u00fccken die Doppelbilder des doppelerscheinen-den Fingers aneinander, bis sie zuletzt zusammenfliessen, wenn beide Finger in denselben Horopter treten.\nBeweis. In der beistehenden Figur seien die Augenachsen gegen den Punct a gestellt. Hinter a ist ein Gegenstand b, a entwirft sein Bild auf identischen Stellen beider Augen, n\u00e4mlich auf der Mitte beider Netzh\u00e4ute in 5. Dieser Punct wird daher einfach gesehen, b wirft sein Bild im linken Auge auf 6, im rechten Auge auf 4. Nun sind 4 des einen Auges und\n0\tdes andern Auges different, denn 4 ist mit 4 des andern Auges identisch, folglich wird b doppelt gesehen, und zwar verh\u00e4lt sich die Distanz derDop-\n'! polbilder zum ganzen Sehfeld, wie die Distanz von 1 und 6 zur Distanz\n1\t-10.","page":384},{"file":"p0385.txt","language":"de","ocr_de":"3. Wirkungen des Sehnerven. Doppeltsehen.\n385\nDenkt man sieli 'lie Fl\u00e4chen beider Netzh\u00e4ute auf einander gelegt, wie in beistehender Figur, so wird diess noch deutlicher. A sei die Retina des linken Auges der vorigen Figur, B die Retina desrechten Auges der vorigen Figur, 4 ist die Lage des Doppelbildes im rechten Auge, 6 ist die Lage des Doppelhildes im t\tI linken Auge Da beide in der Figur sieh deckenden\nV\tsj Sehfelder in der Natur eines und dasselbe sind,\ns0 kann man diese Figur auch in die beistehende B------A um\u00e4ndern, wobei zu merken ist, dass das Dop-\npelbild 6 dem linken Auge, das Doppelhild 4 dem rechten Auge angeh\u00f6rt.\nKreuzen sich die Sehachsen vor dem Gegenst\u00e4nde c in a, so wird c auch doppelt gesehen. Denn c wirft sein Licht im linken Auge auf 4, im rechten Ange auf 6; 4 ist nicht identisch mit 6, sondern 4 mit 4, und 6 mit 6 identisch. Die Distanz beider Doppelbilder ist wieder 4 \u2014 5 im linken Auge + Distanz 5 \u2014 6 im rechten Auge, oder beide Augen als eines angesehen 4 \u2014 6, d. h. die Distanz 4 \u2014 6 verh\u00e4lt sich zur Distanz 1 \u2014 10, wie die Distanz der Doppelbilder von c zum ganzen Sehfeld.\n\"Was die Lage der Doppelbilder in Beziehung zu den Augen betrifft, welchen sie angeh\u00f6ren, so geh\u00f6rt heim Kreuzen der Sehachsen zwischen Ob ject und Auge, das linke Doppelhild dem linken Auge, das rechte Doppelhild dem rechten Auge an. Kreuzen sich hingegen die Augenachsen vor dem Objecte, so liegt das Doppelhild des rechten Auges auf der entgegengesetzten linken Seite, das Doppelhild des linken Auges auf der rechten Seite, wie man sich leicht durch Sch Hessen eines der Augen \u00fcberzeugt.\nDiese Lage der Doppelbilder ist in theoretischer Beziehung von Wichtigkeit. Die Lage der Bilder im Verh\u00e4ltnis zu den Augen, in welchen sie existiren, l\u00e4sst sich auf den ersten Blick am besten begreifen nach der Theorie, dass beim Sehen die Gegenst\u00e4nde in der Richtung, in welcher sie liegen und nicht nach der Lage der Netzhauttheilchen gesehen werden. So er-scheint heim Kreuzen der Augenachsen vor dem Object a der Gegenstand h doppelt, und das Doppelhild liegt f\u00fcr die Achse \u00ab5 des linken Auges nach links, f\u00fcr die Achse des rechten Auges nach rechts, und so ist es auch, wenn man den Versuch anstellt. Es k\u00f6nnten daher die Erscheinungen heim Doppeltsehen als ein Beweis f\u00fcr die Wiederherstellung oder Correction des Verkehrtsehens, entweder durch die Richtung des Sehens nach aussen, oder durch den Lauf der Sehnervenfasern im Gehirn angef\u00fchrt werden. Indessen lassen sich die Erscbeinnugcn auch nach der entgegengesetzten Theorie erkl\u00e4ren, dass n\u00e4mlich die Bilder oder Netzhauttheilchen da gesehen werden, wo sie sind und nicht wo die Gegenst\u00e4nde sind.\nBei dem vorhererw\u00e4hnten Versuch wird das linke Doppelbild auf der linken Seite der Mittelachse gesehen, sein Gegenstand liegt also nach optischen Principien auf der rechten Seite, ln der Gesichtsempfmdung der Netzhaut selbst giebt es kein rechte^","page":385},{"file":"p0386.txt","language":"de","ocr_de":"386 V. Buch. Von den Sinnen. I. Absclm. Vom Gesichtssinn.\nund linkes Auge, beide sind identisch, insofern aber von unsenn K\u00f6rper Licht auf die Netzhaut fallt, und es also auch ein Bild unsers K\u00f6rpers auf der Netzhaut giebt, so ist auch hier nach optischen Principien der Gegenstand auf der entgegengesetzten Seite des Bildes, also das sichtbare Rechts an unsenn K\u00f6rper eigentlich links, das sichtbare Links eigentlich rechts. Man kann daher die Thatsache des Versuchs, dass bei Kreuzung der Sehachsen hinter dem Objecte das linke Doppelbild verschwindet, wenn das linke Auge geschlossen wird, auch also ausdriieken. Wenn wir das Auge der scheinbar linken, oder wahren rechten Seite scliliessen, so verschwindet das linke Doppelbild und diess beweist fauch die Construction der Figur, denn das Doppelbild von h liegt im wahren rechten Auge V nach links in 4.\nDie beschriebenen Versuche \u00fcber die Doppelbilder lassen sich vielfach variiren. Aber alle diese Variationen sind von derselben Grundbedingung abh\u00e4ngig, dass die Bilder in beiden Augen auf\nnicht identische Theile fallen.\na\nsehen wird, so wird cs nicht\nSind die Achsen der Augen z. B. auf den Punct, a gerichtet, so erscheinen alle in der Achse alte liegenden Puncte doppelt, denn ihre Bilder fallen in dem einen Auge auf die Mitte der Netzhaut bei 5, in dem andern Auge aber auf 6, 7, 8, 9 u. s. w.\nBeide Augenachsen seien ferner auf aFig.2. gerichtet. Die Puncte b und c stellen Nadeln vor, die in der Richtung beider Augenachsen aufgestellt sind. Dann werden statt zwei Doppelbildern von b, und zwei Doppelbildern von r, oder statt vier Doppelbildern nur drei gesehen; dann b wird im linken Auge in 5, c im rechten Auge in 5 gesehen. 5 und 5 sind identisch, folglich sehen beide Augen diese Bilder an demselben Ort. c erscheint im linken Auge bei 4, im rechten Auge bei 6, folglich sieht man unter diesen Umst\u00e4nden drei Nadeln in der Ordnung und Distanz 4, 5, 6.\nD ass die Doppelbilder immer undeutlich sind, ergiebt sich als nothwendig aus tien fr\u00fcher gef\u00fchrten Untersuchungen. Denn sie hegen meist auf seitlichen Theilen des Sehfeldes und auch dann, wenn eines der Bilder in der Achse g\u00e9mit dem geh\u00f6rigen Relractionszu-","page":386},{"file":"p0387.txt","language":"de","ocr_de":"\u20223. Wirkungen des Sehnerven. Welt sir eit der Sehfelder, 387\nstunde gesehen, indem dieser laut fr\u00fcher berichteten Thatsaclien sich regelm\u00e4ssig nach dein getroffenen Horopter \u00e4ndert.\nDie Erscheinungen des Doppeltsehens sind so nothwendig in der Organisation beider Augen begr\u00fcndet und h\u00e4ngen mit den Ursachen des Eiufachsehcns so innig zusammen, dass sie heim gew\u00f6hnlichen Gebrauch der Augen fort und fort eintreten m\u00fcssen. So ist es auch. Aber wir beachten sie gew\u00f6hnlich nicht, weil die Doppelbilder undeutlich sind, und weil wir eben gew\u00f6hnlich die Augenachsen auf einen Gegenstand richtend ihn einfach sehen. In allen F\u00e4llen aber, wo zwei Gegenst\u00e4nde verschiedener Entfernungen zugleich gesellen werden, die nicht in demselben Horopter liegen, muss nothwendig der eine oder der andere doppelt erscheinen. YV ie wenn wir durch ein Fenster auf einen Thurm sehen, wo entweder die Fensterrahmen oder der Thurm doppelt ist, je nachdem der letztere oder erstem fixirt werden. In allen F\u00e4llen, wo die Fixation der Augen auf die bestimmte Entfernung des Gegenstandes, oder das Treffen des Horopters aus innern Ursachen krankhaft ver\u00e4ndert ist, m\u00fcssen auch Doppelbilder eintreten, z. B. bei Betrunkenen, bei Aervenfieberkranken, in den Anf\u00e4llen der Nervenkrankheiten, vor dem Einschlafen, beim Schielen. Dieses Doppeltsehen billigt in keiner Weise von einer Ver\u00e4nderung in den Central-Iheilen des Nervensystems oder in der Netzhaut ab, sondern ist eine einfache Folge vom Verlust des Verm\u00f6gens einen Gegenstand zu lixiren. Vor dem Einschlafen und beim Einschlafen werden unsere Augen jedesmal stark nach innen gewendet, daher erscheinen alle auch ziemlich nahen Gegenst\u00e4nde doppelt. Die st\u00e4rkere Gonvergenz der Augen nach innen erkennt man an der Lage der Doppelbilder, wovon das linke dem linken Auge angeh\u00f6rt. Auch bei dem Betrunkenen stehen die Augen nach innen. Vom Doppellsehen mit zwei Augen muss inan das Doppeitschen oder Melir-l\u00e4chsehen mit einem Auge unterscheiden. Die mehrsten Menschen sehen mehrere Bilder vom Monde selbst mit einem Auge, diese Bilder sind durch einander geschoben und decken sich nur zum Theil. Jedes hat seine besonderen R\u00e4nder. Bei mir wie hei vielen k\u00f6mmt diese Erscheinung nur heim Sehen in so grossen Entfernungen vor. Bei anderen tritt die Erscheinung seihst bei n\u00e4heren Gegenst\u00e4nden ein. Siehe Steifensand in Graefe und \\Vaether\u2019s Journ. 1835., Muell. Archiv 183(1. CXLVIII. Die Ursachen dieser Erscheinungen liegen im optischen Bau des Auges, wahrscheinlich in den verschiedenen Faserfeldern der Crv-slalllinse, aus welchen jede Schicht zusammengesetzt ist.\nC. Von dem Wettstreit der Sehfelder beider Augen.\nEine der interessantesten Erscheinungen beim Sehen mit zwei Augen ist die, dass verschiedene Fail) en ei n dr\u00fcck e beider Augen anl identischen Stellen sich nicht zu einem gemischten Eindruck nusgleichcn, sondern dass l.heilweise, oder ganz das eine Sehfeld mit dem einen Rarheneindruek verwiegt, und der Zustand des andern Auges nur an andern Stellen des Sehfeldes zum Vorschein k\u00f6mmt. Gelegenheit zur Beobachtung dieser Erscheinungen giebt:","page":387},{"file":"p0388.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022388 V. Buch. Von den Sinnen. /. Alsclm. Vom Gesichtssinn.\ndas Betrachten einer weissen Papicrflnche durch zwei dicht vor die Augen gehaltene verschiedenfarbige Gl\u00e4ser, z.B. durch ein blaues und gelbes Glas. Siehe meine Schrift Physiol, des Gesichtssinnes p. 7,9., vergl. Muei.l. Archiv 1836. CXLIV. Volkmann und Heermann a. a. O. Statt dass man unter jenen Umst\u00e4nden das Papier gr\u00fcn sehen sollte, sieht man es theils blau, theils gelb. Zuweilen wiegt die blaue Farbe vor, zuweilen die gelbe, zuweilen wird eine blaue Wolke oder blaue Flecken auf gelbem Grunde, zuweilen das umgekehrte gesehen. Jetzt absorbirt das Blaue das Gelbe, jetzt das Gelbe das Blaue. Die Schwierigkeit der Nichtvermischung der verschiedenen Eindr\u00fccke an identischen Stellen beider Setzli\u00e4ute erkannte ich auch hei der durch Schielen hervorgebrachten k\u00fcnstlichen Deckung zweier verschiedenfarbiger Doppelbilder. Eine Ausgleichung beiderlei Eindr\u00fccke, wie sie Huschke sah, nahm ich\" bei Doppelbildern als m\u00f6glich, aber schwierig wahr. Heermann und Volkmann haben die Erscheinungen im Wesentlichen ganz so wie ich gesehen.\nWerden die Versuche sehr lange mit farbigen Gl\u00e4sern fortgesetzt, so dass man sehr lange einen weissen Papierbogen durch zwei dicht vor die Augen gehaltene farbige Gl\u00e4ser ansicht, so gleichen sich beide Eindr\u00fccke mehr aus (V\u00f6lckers in Muell. Archiv 1838. 60.), wozu Anfangs nicht die geringste Neigung ist; aber auch jetzt blitzt von Zeit zu Zeit die eine der Farben das Uebergewicht erhaltend hervor, oder tritt fleckenartig auf. Die Vermischung hat kein weiteres physiologisches Interesse, wohl aber ist der Wettstreit beider Sehfelder, und das theilweise oder g\u00e4nzliche Verdr\u00e4ngen der einen Farbe durch die andere von dem gr\u00f6ssten Interesse, und zeigt uns auf das Deutlichste, in einem leicht zu beobachtenden Ph\u00e4nomen, die Art der gleichzeitigen Th\u00e4-tigkeit beider Augen. Denn dass sich beide Augen auch bei nicht, verschiedenfarbigen Eindr\u00fccken in dieser Weise verhalten, ist schon aus dem Versuch zu schlossen und ergiebt sich auch aus anderen Tbatsacben.\nDas bald fleckenweise Ilervortreten der einen Farbe auf der andern, bald g\u00e4nzliche momentane Verdr\u00e4ngen der einen durch die andere und die schwierig zu Stande kommende Vermischung beider beweisen: 1. gleichzeitige Thatigkeit. beider Augen in gewissen Zeitmomenten, denn Flecken, Wolken der einen Farbe werden auf der andern gesehen. 2. G\u00e4nzliches oder fast g\u00e4nzliches Erl\u00f6schen des Eindrucks des einen Auges und Vorwalten des andern auf Zeitmomente. 3. Ausgleichung der Eindr\u00fccke beider Augen auf Zeitmomente. Da die Zust\u00e4nde best\u00e4ndig w echseln, so zeigen sie uns die Actionen beider Augen Ph\u00e4nomene des gest\u00f6rten Gleichgewichtes, wie das Schwanken des Wimebalkcns. Sehr schwer tritt die ltuhe oder das Gleichgewicht der Ac\u2014 tionen ein, obgleich es m\u00f6glich ist. Das Gleichgewicht wird aber theils durch innere, uns unbekannte Einfl\u00fcsse gest\u00f6rt, theils wahrscheinlich dadurch, dass sich die Aufmerksamkeit dem einen oder andern Auge zuwendet. Die Erscheinungen des Wettstreits, um welche es sich allein hier liandel f, sind \u00fcbrigens bei vollkommen gleicher Sehkraft beider Augen deutlich und lebhaft, wie","page":388},{"file":"p0389.txt","language":"de","ocr_de":"3. Wirkungen il. Sehnerven. Subjective Gesichtserscheinungen. 389\nbei mir. Das ileckige oder wolkige Auftreten einer Farbe statt der verdr\u00e4ngten andern, w\u00e4hrend an andern Stellen diese vorherrscht, zeigt uns ferner, wie eine Ungleichheit der Action auch in den einzelnen Theilen der Netzhaut m\u00f6glich ist, wie denn \u00fcberhaupt die Erscheinung zur Beobachtung der inneren Zust\u00e4nde der Netzhaut von der gr\u00f6ssten Wichtigkeit ist.\nDie St\u00f6rung des Gleichgewichtes in der gleichzeitigen Th\u00e4-tigkeit der Gesichtsfelder tritt auch sonst h\u00e4ufig auf. Zuweilen verschwindet pl\u00f6tzlich eines der Doppelbilder beim Doppeltsehen. Siml beide Augen von ungleicher Sehweite, so ist bald das eine, bald das andere vorherrschend, und verdr\u00e4ngt vollends das Bild des andern Auges. Das herrschende Auge ist dasjenige, in dessen Sehweite ein Gegenstand geh\u00f6rt. Diesem wendet sich nun die Aufmerksamkeit zu. Zuweilen schwellt dann das Bild des undeutlich sehenden Auges noch nebenher, geht aber leicht ganz der Aufmerksamkeit verloren. So ist es auch bei Schielenden, das schielende Auge hat meist eine vom gesunden Auge ganz abweichende Sehweite, sein Bild ist undeutlich, wenn das andere Auge deutlich ist, es wird von der Aufmerksamkeit vernachl\u00e4ssigt. Das g\u00e4nzliche Verschwinden desselben begreift man aus den Erscheinungen , die ich an den farbigen Gl\u00e4sern er\u00f6rtert habe. Diess ist sogar sehr oft eine Veranlassung zum Schielen, denn nun wird das unbrauchbare Auge nicht bei der Fixation der Gegenst\u00e4nde richtig angewandt und ger\u00e4th in jeder Hinsicht ausser Gebrauch.\nAuch beim Sehen durch Vergr\u00f6sserungsgl\u00e4ser mit einem Auge kann man die Isolation des Sensoriums auf das Sehfeld eines Auges beobachten. Denn oft sieht das durchs Mikroskop sehende Auge allein, oder unterscheidet allein, und das andere Auge, nebenher sehend, erkennt nichts, wenigstens sein Bild nicht auf der Stelle, wo das mikroskopische Sehfeld des andern ist. Zuweilen hingegen tritt auch die Th\u00e4tigkeit dieses Auges auf, und sein Bild, schwebt gleichsam auf dem mikroskopischen Bilde, die Beohach-lune st\u00f6rend.\nO\n5. Von den subjectiven Gesichtserscheinungen.\nPurkinje Beobachtungen und Versuche zur Physiologie der Sinne. 1. Prag 1823. II. Berlin 1S25.\nZiehen wir die Ph\u00e4nomene der Th\u00e4tigkeit der Netzhaut, bei welchen das \u00e4ussere Licht noch mitspielt, wie bei den Nachbildern, bei der Irradiation, hei dem Doppeltsehen ab, so bleiben noch viele subjective Gesichtserscheinungen \u00fcbrig, welche uns Beispiele der Th\u00e4tigkeit der Retina liefern, die durch Ursachen hervorgebracht wird, welche von dem \u00e4ussern Licht ganz verschieden sind. Mit diesen Erscheinungen hat uns die angef\u00fchrte Schrift von Purkinje vorz\u00fcglich bekannt gemacht, die aulfallendsten hierher geh\u00f6rigen Ph\u00e4nomene sind:\nI. Die Druckfiguren.\nSo nannte Purkinje die durch Druck mit den Fingern am Auge hervorgehlachten Lichterscheinungen. Sie sind theils ring-","page":389},{"file":"p0390.txt","language":"de","ocr_de":"390 V. Buch. Von den Sinnen. I. Absclm. Vom Gesichtssinn.\nf\u00f6rmig, thcils strahlig, und zuweilen regelm\u00e4ssig in quadratische Felderchen getheilt, so dass sie Purkinje mit den Klang-Figuren verglich. Wird ein mit Wasser bedeckter gl\u00e4serner Teller mit dem Fidelbogen gestrichen, so theilt sieh die Scheibe nicht bloss in schwingende und ruhende Stellen, sondern das Wasser zeigt auch auf den bewegten 1 heilen des Glases die regelnl\u00e4ssigste Eintheilung in rhombische Figuren oder stehende Wellen. Die Figur im Auge erinnert an die Kreuzung von Wellen.\nII.\tDie schon oben p. 350. beschriebene Aderfigur erscheint zuweilen leuchtend.\nPurkinje sah sie so zuweilen beim Druck, besonders am Morgen, und ich sah sie \u00f6fter leuchtend im dunkeln Sehfelde, wenn ich nach dem Ersteigen einer Treppe mich pl\u00f6tzlich in einem dunkeln Raum befand, oder auch beim pl\u00f6tzlichen Untertauchen ties Kopfes im Fluss. Die leuchtende Erscheinung wird offenbar durch den Druck der mit Elut gef\u00fcllten Gef\u00e4sse auf die Pi\u00e9tina hervorgebracht.\nIII.\tLichterscheinung des Pulses.\nBei Congestionen nach dem Kopfe bemerkt man leicht eine mit dem Pulse isochronische Ver\u00e4nderung der Helligkeit des Sehfeldes, ein pulsirendes H\u00fcpfen im Sehfelde. Diese Erscheinung ist sehr leicht zu beobachten. Einigemal sah ich eine \u00e4hnliche, aber mit dem Athrnen und der sogenannten Ilirnbewegung iso-chronische Ver\u00e4nderung des Sehfeldes oder ein rhythmisches 11er-vortreten eines kleinen lichten Fleckes in der Milte des Sehfeldes im Dunkeln; aber die Erscheinung l\u00e4sst sich nicht absichtlich hervorrufen und ist mir nur selten vorgekommen.\nIV.\tSichtbare Blutbewegung.\nEinen allgemeinen Ausdruck der Blutbewegung sieht man bei vielen Gelegenheiten. Besonders beim Befrachten hell, aber keineswegs blendend erleuchteter Fl\u00e4chen, z. B. beim Betrachten des Himmels oder bei l\u00e4ngerm unverwandtem Ansehen einer Fl\u00e4che von Schnee oder Papier. Die Erscheinung besteht in einem undeutlichen Wirrwar, in einem Durcheinanderfahren, Vor\u00fcberfahren, Springen von Puncten, oder in einer unregelm\u00e4ssigen Bewegung wie von D\u00e4mpfen. Die Erscheinung ist so unbestimmt, dass sieh die Richtung der Bewegung nicht angeben l\u00e4sst. Sie r\u00fchrt offenbar von der Blutbewegung her. Hieher ist auch die viel bestimmtere Erscheinung zu rechnen, welche man zuweilen bei Con-gestionen nach dem Kopfe oder Vollbl\u00fctigkeit sieht, wenn mau sieb geb\u00fcckt hat und pl\u00f6tzlich aufrichtet. Man sieht ein Springen und Fahren, wie von dunkeln geschw\u00e4nzten K\u00f6rpern in den mannigfaltigsten Richtungen. Das Analogon davon in den Gef\u00fchlsnerven ist das Ameisenlaufen.\nV.\tErscheinen leuchtender Kreise im dunkeln Gesichtsfelde bei pl\u00f6tzlicher Seitenbewegung der Augen.\nDiese Erscheinung tritt jedesmal bei pl\u00f6tzlicher Wendung der Augen im Dunkeln ein. Die Affection muss an nicht identischen Stellen beider Ketzh\u00e4utc (Gegend der Eintrittsstellen der Sehnerven?) stattfinden, denn die Erscheinung wird nicht an demselben Orte, sondern doppelt gesehen.","page":390},{"file":"p0391.txt","language":"de","ocr_de":"3. Wiirkunge.n des Sehnerven, Subj, Gesichtserscheinungen. 391\nGl. Electrische Figuren im Auge.\nSie sind von Ritter, Purkinje und IJjort untersucht. Liegt das Auge innerhalb eines galvanischen Stromes, indem z. B. beide Pole an der Conjunctiva beider Augenlieder applicirt werden, so wird beim Schliessen oder Oeffnen der Kette, ein blitzartiger Schein gesehen. Die Erscheinung erfolgt auch, wenn das Auge nicht direct in dem Strome zwischen beiden Polen liegt, n\u00e4mlich durch Ableitung eines Theifs der Electrieit\u00e4t, z. B. wenn die Pole das untere Augenlied und die Schleimhaut des Mundes ber\u00fchren. Schon ein einfaches Plattenpaar von Kupfer und Zink reicht am dunkeln Ort zur Erregung des blitzartigen Scheines hin. Lebhaftere Ph\u00e4nomene erh\u00e4lt man durch eine kleine S\u00e4ule. Dann zeigt sich nach Purkinje s Versuchen heim Zinkpole der Schein als gelblicher Dunst, heim Kupferpol hell violet. Unter bestimmten Bedingungen, welche Purkinje angegeben, treten noch specielle \u00f6rtliche Erscheinungen im Sehfelde, der Eintrittsstelle des Sehnerven und dem Achsenpunct der Retina entsprechend auf.\nVII.\tSpontane Licht erscheinung im dunkeln Sehfelde.\nBeobachtet man das Sehfeld der Augen hei geschlossenen\nAugen, so sieht man nicht bloss zuweilen einen gewissen Grad von Erleuchtung desselben, sondern auch zuweilen einen st\u00e4rker sich entwickelnden Schimmer, ja zuweilen eine Ausbreitung des Schimmers in Form von Kreiswellen, welche sich von der Mitte nach der Peripherie entwickeln und verschwinden. Zuweilen erscheint der Schimmer mehr wolkenartig, nebelig, fleckig und selten wiederholt er sich hei mir mit einem gewissen Rhythmus. An diese noch mehr unbestimmte spontane Lichterscheinung im Auge sch Hessen sich die heim Einschlafen und vor dem Einschlafen sichtbaren Erscheinungen von bestimmterer Gestaltung an, indem aus den nebelartigen Gestalten, dem Traumchaos von Gruitiiuisen, unter Mitwirkung des Vorstellungsverm\u00f6gens, bestimmtere Gestalten sich isoliren und verwandeln.\nEine diesen Erscheinungen entgegengesetzte ist das zuweilen bei nervenschwachen Personen verkommende Vergehen des Gesichtes unter Erscheinung von Nebel, farbigem Rauch u. dgl., eine vor\u00fcbergehende Erm\u00fcdung der Nervenhaut. Auch der Gesunde kann die Erscheinung k\u00fcnstlich herbeil'\u00fcbren durch sein-lange anhaltendes Betrachten eines weissen oder farbigen Feldes.\nVIII.\tFlimmern vor den Augen nach dem Gebrauche der Nar-cuiica.\nDiese Erscheinung tritt am leichtesten heim Gebrauch der Digitalis ein. Purkinje hat dar\u00fcber Beobachtungen an sich seihst angestellt. Bei st\u00e4rkerem Grade der Einwirkung treten auch bestimmte Gestalten auf, Purkinje s sogenannte Fiimmerrosen.\nlXr Scheinbewegungen der Gegenst\u00e4nde nach h\u00e4ufigem Drehen des K\u00f6rpers.\nDiese Erscheinung ist schon oben gelegentlich erl\u00e4utert. Man muss sie in Hinsicht ihrer Ursachen, die auch angegeben sind, wohl unterscheiden, von den Scheinbewegungen, die man sieht, wenn man vorher wahre Bewegungen beobachtet hat, Scliein-beweeunsen, welche von dem successiven Verschwinden der Nach-Muller\u2019s Physiologie. 2r IM. II.\t26","page":391},{"file":"p0392.txt","language":"de","ocr_de":"392 V. Buch, l'on den Sinnen. I. Abschn. Vorn Gesichtssinn.\nbilder entstellen. Die Scheinbewegung nacb dem Drehen des K\u00f6rpers findet auch statt, wenn inan sieb bei geschlossenen Augen gedreht bat.\nX. Mangel ties Farbensinnes.\nEs giebt siele Menschen, welche die Farben aus einer ange-bornen Disposition der Retina schlecht unterscheiden. Eine Untersuchung des J\u00fcngern Sekbeck Poggekd. Ann. 42. lieferte folgende Resultate aus zahlreichen Beobachtungen. Ausser solchen Personen, welche in der Bestimmung der Farben Schwierigkeit finden, ohne jedoch ungleiche Farben f\u00fcr gleich zu halten, kommen nicht selten solche vor, die bald in li\u00f6herm, bald in geringerni .Masse, gewiss ganz ungleiche Farben m.l; einander verwechseln. Aber nicht bloss in Beziehung auf die St\u00e4rke, sondern auch in Beziehung auf die Art dieser Verwechselungen sind Unterschiede bemerkbar. In der letzten Beziehung zerfallen die von Seebeck untersuchten Individuen, kleinere Verschiedenheiten nicht gerechnet, in zwei Klassen. Zur ersten Klasse geh\u00f6ren die F\u00e4lle, welche zwar in Beziehung auf den Grad der Verwechselungen ziemlich betr\u00e4chtliche, aber in Beziehung auf die Art derselben nur unbedeutende Verschiedenheiten zeigen. Folgende Farben werden hei diesen leicht verwechselt:\nHelles Orange und reines Gelb,\nGes\u00e4ttigtes Orange, helles Gelblich- oder Br\u00e4unlichgr\u00fcu und\nGelbbraun,\nReines Hellgr\u00fcn, Graubraun und Fleischfarb,\nRosenrotb, Gr\u00fcn (mehr bl\u00e4ulich als gelblich) und Grau. Carmoisin, Dunkelgr\u00fcn und Haarbraun,\nBl\u00e4ulich Gr\u00fcn und unreines Violet,\nLila und Blaugrau,\nHimmelblau, Graublau und Graulila.\nDiese Menschen haben einen sehr mangelhalten Sinn f\u00fcr den specilischen Eindruck aller Farben \u00fcberhaupt, am unvollkommensten ist er f\u00fcr das Roth, und f\u00fcr das complement\u00e4re Gr\u00fcn, indem sie diese beiden Farben vom Grau wenig oder gar nicht unterscheiden; n\u00e4chstdem f\u00fcr das Iiiau, das sic vom Grau ziemlich unvollkommen unterscheiden ; am meisten pflegt ihr Sinn liir das Ei-gentb\u00fcmliche des Gelb empfindlich zu seyn, doch ist ihnen auch diese Farbe viel weniger vom Farblosen verschieden, als dicss beim normalen Auge der Fall ist.\nDie zur zweiten Klasse geh\u00f6rigen erkennen Gelb noch am besten, sie unterscheiden Roth etwas besser, Blau etwas weniger vom Farblosen, vorz\u00fcglich aber Roth vom Blau viel unvollkommener, als die erste Klasse. Die von ihnen verwechselten Farben sind folgende:\nHell Orange, Gr\u00fcnlichgelb, Br\u00e4unlichgelb und reines Gelb, Lebhaft Orange, Gelbbraun und Grasgr\u00fcn;\nZiegelrot!), Rostbraun und dunkel Olivengr\u00fcn,\nZinuoberroth und Dunkelbraun,\nDunkel Carminroth und schw\u00e4rzlich Blaugr\u00fcn,\nFleischroth, graubraun und Bl\u00e4ulichgr\u00fcn,\nMattes Bl\u00e4ulichgr\u00fcn und Grau (etwas br\u00e4unlich),","page":392},{"file":"p0393.txt","language":"de","ocr_de":"11. Abschnitt. Vom Geh\u00f6rsinn.\n\u25a03.93\nUnreines Rosa (etwas gelblich), und reines Grau,\nRoseuroth, Lila, Himmelblau und Grau (etwas ins Lila fallend), Carmoisin und V iolet,\nDunkclviolet und Dunkelblau.\nSie balien, was bei der ersten Klasse nicht der Fall ist, nur eine geschw\u00e4chte Empfindung -von den wenigst brechbaren Strahlen.\nVon den subjectiven Gesichtserscheinungen m\u00fcssen ausgeschlossen werden die Bilder von Gegenst\u00e4nden, die im Innern des Auges selbst sich befinden und auf die Retina einen Schatten werfen. Hiehcr geh\u00f6ren fadenartige, verschlungene Figuren, in denen Reihen von K\u00fcgelchen enthalten zu sevn scheinen. Sie sind beweglich, sowohl in der relativen Lage der einzelnen Theile der Figur, als in Hinsicht ihrer Lage im Sehfelde. Durch eine kr\u00e4ftige Bewegung der Augen kann man sie etwas zur Seite oder in die H\u00f6he bewegen, aber sic kommen bald wieder, und aufgestiegen senken sie sich wieder ailmnhlig. Bei manchen Menschen sind viele solcher Figuren im Sehfelde, obgleich nur diejenigen im mittlern Theile des Sehfeldes deutlicher gesehen werden. Bei mikroskopischen Beobachtungen liegen sie oft vor dem untersuchten Object, und st\u00f6ren einigermassen die Unterscheidung; ich pflege sie dann durch einen Ruck der Augen zur Seite zu schieben. Bei vielen Menschen kommen diese Bilder gar nicht vor, aber vielen andern sind sie qu\u00e4lend, liier und da sind die Lrscheinurgen unrichtiger Weise Mouches volantes genannt, und mit gewissen subjectiven Gesichtserscheinungen, welche die Ausbildung des schwarzen Staars begleiten, verwechselt worden. Die vorher beschriebenen Erscheinungen sind ganz unschuldiger IVa-tur, und kommen bei der sch\u00e4rfsten Sehkraft vor. Ich bin seit der Kindheit daran gew\u00f6hnt. Ob sie von Theilchen in der w\u00e4ssrigen Feuchtigkeit oder im Glask\u00f6rper herr\u00fchren, ist noch unbekannt.\n//. Abschnitt. V o nt ( > t> h \u00f6 r s i n n,\nl. Gapiict. Von den physikalischen Bedingungen des\nG eh \u00f6 r s.\nEin mechanischer Impuls auf das Geh\u00f6rorgan bringt in dem Geh\u00f6rnerven die Empfindung des Schalls herv or. Wird dieser icgelm\u00e4ssig schnell wiederholt, so entsteht die Empfindung des Tons, dessen H\u00f6he mit der Zahl der St\u00f6sse in bestimmter Zeit zunimmt. Schwingungen elastischer K\u00f6rper sind am h\u00e4ufigsten die. Ursache des Tons. Bei dem Ger\u00e4usch einer S\u00e4ge, oder mit-","page":393},{"file":"p0394.txt","language":"de","ocr_de":"394 V. Buch. Von den Sinnen. II Ahschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\ntelst des SAVART\u2019schen Rades, so wie bei derSirene von Cagniaed Latour (siehe oben p. 134.) summiren sich blosse St\u00f6sse, welche f\u00fcr sich h\u00f6chstens die Empfindung des Ger\u00e4usches hervorbringen, zum Werth eines bestimmten Tones. Von einem schwingenden elastischen K\u00f6rper, welcher jdie Pendelbewegungen nach beiden Seiten gerechnet, 1000 Schwingungen in der Secunde machen w\u00fcrde, erh\u00e4lt das Geh\u00f6rorgan 500 St\u00f6sse in der Secunde, durch Vermittelung der Luft, oder des schalileitenden Mediums. Diese sind im Erfolge ebenso viel, als 500 St\u00f6sse eines K\u00f6rpers, welcher durch blosse St\u00f6sse, und nicht durch Pendel-Schwingungen t\u00f6nt.\nM\u00f6gen die T\u00f6ne durch Schwingungen oder St\u00f6sse erregt werden, so geschieht die Fortpflanzung der Schwingungen wie der St\u00f6sse nach dem Geh\u00f6rorgan, jedenfalls nach den Gesetzen der Wellenbewegung, und diese gelten auch f\u00fcr die urspr\u00fcngliche Entstehung derjenigen T\u00f6ne, welche aus Schwingungen erzeugt werden. Von der .Wellenbewegung wird daher zuerst gehandelt werden m\u00fcssen.\n1. Von der Wellenbewegung im Allgemeinen.\n(E. H. Weber und W. Weber Wellenlehre. Leipz. 1825. Eisenlohr Lehrbuch der Physik. Mannheim 1836. 121.)\nWird die Lage des Gleichgewichtes der Theile eines K\u00f6rpers von aussen gest\u00f6rt, so tritt vor Herstellung des Gleichgewichtes eine Bewegung der Theile des K\u00f6rpers ein, verm\u00f6ge welcher sie sich der Lage des Gleichgewichtes abwechselnd n\u00e4hern und davon entfernen. Wird das Pendel nach einer Seite gestossen, so geht es so lange fort, bis seine Bewegungskraft \u2014 0 wird, nun wird es verm\u00f6ge der Schwere herabgezogen, mit vermehrter Geschwindigkeit, f\u00e4llt es, und kann deswegen wieder nicht zur Ruhe kommen, es steigt daher auf der entgegengesetzten Seite auf u. s. w., bis das Gleichgewicht hergestellt ist. Bewegungen, dutch welche die Theile eines K\u00f6rpers sich der Lage des Gleichgewichtes abwechselnd n\u00e4hern und davon entfernen, heissen Schwingungen oder Wellen. Die Wellen sind entweder Beugungswel len oder Verdichtungswellen. Im ersteu Fall ver\u00e4ndert sich die Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers in Wellenberge und Welienth\u00e4ler, ohne Aenderung seiner Dichtigkeit; im letzten Fall besteht die Welle in einer Verdichtung ohne Aenderung der Oberfl\u00e4che. DemWcl-lenthal der Beugungswellen entspricht hier eine Verd\u00fcnnung. Die Schwingung ist entweder eine fortschreitende, wenn die Schwingung successiv \u00fcber den K\u00f6rper fortschreitet, oder stehende, wenn die Schwingungen pendelartig ihren Ort, nicht ver\u00e4ndern.\nA. Bcugungswellun der Fl\u00fcssigkeiten.\nDie Beugungswellen der Fl\u00fcssigkeiten sind Ver\u00e4nderungen des Gleichgewichts derselben auf ihrer Oberfl\u00e4che bis in eine gewisse Tiefe. Die Schwere liegt dieser Wellenbewegung zu","page":394},{"file":"p0395.txt","language":"de","ocr_de":"1. Physicalische Bedingungen des Geh\u00f6rs. Wellenbewegung. 395\nGrunde. Dergleichen Wellen des Wassers sind viel zu langsam, als dass sie die Ursache von T\u00f6nen werden k\u00f6nnten. Gleichwohl ist es wichtig die Gesetze zu kennen, da sich die Gesetze der Wellenbewegung an ihnen am leichtesten beobachten lassen.\na. Fortschreitende Schwingungen oder Wellen.\nWird das Gleichgewicht einer Fl\u00fcssigkeit an einer Stelle gest\u00f6rt, so bilden sich kreisf\u00f6rmige Wellen mit kreisf\u00f6rmigem Wellenberg und Wellenthal um diesen Punct, welche nach aussen t\u00f6rtschreiten, und denen neue Wellen folgen. Je st\u00e4rker der Stoss war, um so h\u00f6her sind die Wellen, und um so gr\u00f6sser ist ihre Geschwindigkeit, aber diese ist auch von der Tiefe der Fl\u00fcssigkeit abh\u00e4ngig. Werden Wellen in einer tiefen Rinne (Wellenrinne) mit parallelen W\u00e4nden durch einen Stoss, welcher die ganze Breite der Rinne einnimmt, erregt, so schreiten die Wellen geradlinig und nicht kreisf\u00f6rmig fort. Die Wellenbewegung ist \u00fcbrigens keine progressive Bewegung der Wassertbeilchen, vielmehr bleiben die Wassertbeilchen an ihrem Orte, w\u00e4hrend die Wellen \u00fcber das Wasser hingehen. Die Wassertbeilchen an dem Orte einer vor\u00fcbergehenden Welle erleiden nur eine Rotation indem sie, wenn die Welle ankommt, noch niedrig liegen, bei ihrem Weitergehen suecessiv in den Gipfel der Welle kommen; die Welle geht unter-dess weiter fort, und sie kommen in den hintern abh\u00e4ngigen Theil der Welle, so fort, wenn sie vom Wellenthal erreicht sind, ins Wcllcnthal, von wo sie durch die Ankunft der n\u00e4chsten Welle wieder steigen.\nBegegnen sich zwei an entgegengesetzten Orten erregte Wellen von gleicher H\u00f6he, so durchkreuzen sic sich ohne sich zu hindern. Der Wellenberg der einen und der andern fallen zusammen, und bilden einen doppelt so hohen Wellenberg, ebenso f\u00e4llt das Wellenthal der einen mit dem Wellenthal der andern zusammen. Die Theilchen der Fl\u00fcssigkeit werden hier durch zwei entgegengesetzt wirkende Kr\u00e4fte zu Rotationen entgegengesetzter Richtung bestimmt. Diese Bestimmungen heben sich auf, und die Theilchen bewegen sieh bloss vertical. Nach der Durchkreuzung schreiten die Wellen wieder fort, jede in ihrer Richtung.\nF\u00e4llt von Wellen die sich begegnen, ein Wellenberg der einen mit einem Wellcntbal der andern zusammen, so gleichen sieh beide aus und die Stelle bleibt eben. Nach der Kreuzung geben die Wellen wieder in ihrer Richtung fort. Bei der Durchkreuzung paralleler Wellen mit anderen parallelen Wellen von anderer, aber nicht entgegengesetzter Direction, treten die vorhergenannten verschiedenen F\u00e4lle zugleich an verschiedenen Stellen ein. Denn wenn in der beistehenden Figur die ganzen Striche die Wellenberge, die punctirtcn Striche die Wellen-th\u00e4ler bezeichnen, -\u2022<, entstehen, wo sich die ganzen Striche untereinander kieuzen, Wellenberge von doppelter Hohe, wo -sich die punctirlen Stri-","page":395},{"file":"p0396.txt","language":"de","ocr_de":"396 y. Buch. Von den Sinnen. II. Ahschn. Vorn Geh\u00f6rsinn.\ndie kreuzen, Wellenth\u00e4ler von doppelter Tiefe, und wo sieh die ganzen Stricke mit den punctirten kreuzen, lieben sieb der Wellenberg der einen und das Weilentbal der andern Welle gegenseitig auf, und diese Stellen bleiben eben. Diess ist die Interferenz der Wellen.\nDie Wellen werden von den Wanden fester K\u00f6rper reflee-tirt. Die Reflexion einer Welle geschieht unter demselben W inkel, unter welchem sie auflallt, wie bei dem Lieble. Denkt man sieb eine Welle in eine Reibe Kr\u00e4fte zerlegt, welche nebeneinander fortgelien, so wird jeder Tbeil der Welle unter demselben Winkel von der festen Wand reflectirt werden, unter welchem er gegen dieselbe st\u00f6sst, daraus entstellt ein System von reflectir-ten Wellentheilen, die zusammen eine reflectirte Welle bilden, welche entweder mit den urspr\u00fcnglichen Wellen dieselbe,- oder eine verschiedene Direction haben. Die reflectirten und urspr\u00fcnglichen Wellen haben eine gleiche Direction, wenn geradlinige Wellen in einer Wellcurinnn erregt werden, und wenn ihre Direction senkrecht auf die reflectirende Wand gebt, oder auch, wenn kreisf\u00f6rmige Wellen von einem Punct ausgeben, und gegen eine Wand anstossen, die selbst ein Kreis um jenen Punct ist ; im letztem Falle geben die reflectirten Wellen wieder gegen den Miltelpunct des Kreises zur\u00fcck.\nEine kreisf\u00f6rmige Welle wird von einer geraden Wand so zur\u00fcckgeworfen, als k\u00e4me sie von einem Puncte hinter der W and, der ebenso weit hinter der Wand liegt, als der Miltelpunct der urspr\u00fcnglichen Welle von der Wand entfernt ist.\nWellen, welche vom Brennpuncte einer Ellipse ausgeben, und auf eine in der Peripherie der Ellipse befindliche W and stossen, werden so reflectirt, dass der Mittelpunct der reflectirten Wellen der andere Brennpunct der Ellipse ist. Denn jedes Theilchcn einer vom Brennpunct der Ellipse ausgehenden Welle wird, bei Gleichheit des Reflexions- und Einfallswinkels, von der Wand der Ellipse nach dem andern Brennpunct der Ellipse reflectirt.\nWellen, welche vom Brennpunct einer Parabel kreisf\u00f6rmig ausgeben, und gegen eine in der Peripherie der Parabel liegende Wand anstossen, gehen verm\u00f6ge der Eigenschaften der Parabel nach der Reflexion geradlinig fort, und zwar in mit der Achse der Parabel gleicher Richtung. Denn ein Theilchen einer vom Brennpunct der Parabel ausgehenden Welle wird, hei Gleichheit des Reflexions- und Einfallswinkels, an der Peripherie der Parabel angelangt, in einer mit der Achse der Parabel parallelen Linie reflectirt.\nUmgekehrt m\u00fcssen geradlinige Wellen, welche in, mit der Achse einer Parabel gleicher Direction fortgehen, von den Wauden der Parabel so zur\u00fcckgeworfen werden, dass die reflectirten Wellen einen gemeinschaftlichen Mittelpunct in dem Brennpuncte der Parabel haben, also kreisf\u00f6rmig und concentrisch in dem Brennpunct der Parabel Zusammenkommen.\nGehen daher kreisf\u00f6rmige Wellen vom Brennpuncte einer Parabel aus, (fuerlinig durch die Reflexion von den W\u00e4nden der Parabel ab, in mit der Achse der Parabel gleicher Richtung fort,","page":396},{"file":"p0397.txt","language":"de","ocr_de":"i. P/ifsicalische Bedingungen des Geh\u00f6rs. Wellenbewegung. 397\nin der ganzen L\u00e4nge\nso werden sie von einem ihnen entgegenstehenden zweiten Parabelst\u00fcck abermals so reflectirt werden, dass sie in dem \u00dfrennpuncte der zweiten Parabel Zusammenkommen.\nWerden Wellen im Wasser durch einen Stoss bewirkt, der einer Linie stattfindet, so kann man sich jeden Punct der Linie als Mittelpunct von kreisf\u00f6rmigen Wellen vorstellen, die gleichzeitig abgeben, und daher hei ihrer weitern Ausdehnung immer gleich gross sind. 'Durch die Deckung der Kreise entsteht parallel mit der Linie, von welcher der Stoss ausging, eine gr\u00f6ssere vordere und hintere gerade Welle a, h. Schreitet ein K\u00f6rper im Wasser fort, so erregt er fortdauernd kreis-i\u00f6rmige Wellen. Die j\u00fcngsten sind noch klein, w\u00e4hrend die \u00e4lteren hinter dem K\u00f6rper sich schon um so mehr ausgedehnt haben, je fr\u00fcher sic entstanden sind.\nDiese Wellen bringen an den Seiten, wo sie sich decken, gr\u00f6ssere Wellen a, h hervor, die von dem stossenden K\u00f6rper aus divergiren.\nGehen Wellen durch eine Oelfnung durch, so behalten sie nicht die Form, die sie in der Oellimng hatten, sondern ihre an den R\u00e4ndern iler Oelfnung vorbeigegangenen Enden erhalten eine kreisf\u00f6rmige Umbeugung um die R\u00e4nder, so dass sich die Wellen nach dem Durchgang nicht bloss vorw\u00e4rts, sondern auch nach den Seiten verbreiten. Diess ist die Beugung der Wellen.\nb. Stellende Schwingungen.\n1st A abode eine auf einer Fl\u00fcssigkeit erregte Welle, ode der Wellenberg, abc das Wel-lenthal, e eine feste Wand, gegen welche die Welle anprallt, so giebt es einen Zeitpunct, 1. wo die Welle um die H\u00e4lfte ihres Berges, oder um { ihrer L\u00e4nge sich der Wand e gen\u00e4hert hat und die Lage Al abcd hat. Die erste H\u00e4lfte ihres Wellenberges ist dann schon rellectirt, daher der\nA 1\nAI!\nA IV\nlialbcBerg an der Wand aus einer halben fortschreitenden Welle cd, und einer halben reflectirten Welle d\u2019e besteht, und darum h\u00f6her ist. Nach einem Verlaufe von zwei Zeittheilchen ist die Welle bis zu ihrem Thal gcceu","page":397},{"file":"p0398.txt","language":"de","ocr_de":"39S V. Buch. Von den Sinnen. 11. Abschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\ndie Wand fortgeschritten, und der ganze Wellenberg ist rellec-tirt. II. abc das Wellenthal, c'd'e der reflectirte Wellenberg, beide gleichen sich aus, die Stelle ist daher im Zeitmoment 2 eben. Wach Verlauf des dritten Zeittheilchens ist auch das Wellenthal um seine H\u00e4lfte fortgeschritten, und nur die H\u00e4lfte des Thals ab noch \u00fcbrig. III. die erste H\u00e4lfte des Thaies ist schon re-flectirt b'c , der fr\u00fcher reflectirte Wellenberg aber ist um die H\u00e4lfte seiner L\u00e4nge r\u00fcckw\u00e4rts geschritten c'd'e. Nach Verlauf des vierten Zeittheilchens ist auch die zweite H\u00e4lfte des Thals der urspr\u00fcnglichen Welle abgelaufen, und reflectirt a b\u2018c , der fr\u00fcher reflectirte Wellenberg aber ist wieder um die H\u00e4lfte seiner L\u00e4nge r\u00fcckw\u00e4rts vorger\u00fcckt. Die Stellung der reflcctirten Welle IV a'b'cd'e' ist daher nach Verlauf der vier Zeittheile dieselbe, wie die urspr\u00fcngliche W elle vor dem ersten Zeittheil, aber umgekehrt, wo der Berg der ersten war, ist nun das Thal, wo das Thal der ersten war, nun der Berg.\nBefand sich nun hinter der ersten urspr\u00fcnglichen Welle B abc.de eine zweite xa, so wird die Stellung nach dein ersten Zeittheil wie in Hl seyn, nach dem zweiten Zeittheil wie in BiI seyn,","page":398},{"file":"p0399.txt","language":"de","ocr_de":"1. Phys. Bedingungen d. Geh\u00f6rs. IVellent\u00f6nender K\u00f6rper. 399\nnach dem dritten Zeittheil B\\11. Nun decken sich der Wellenberg der zweiten urspr\u00fcnglichen, und der Wellenberg der reflectirten ersten Welle. Hier ist ein gr\u00f6sserer Wellenberg. Nach dem vierten Zeittheil deckt der Wellenberg der zweiten urspr\u00fcnglichen Welle das Wellenthal der reflectirten ersten Welle, und umgekehrt. In diesem Moment wird die Fl\u00e4che eben seyn BIV. Im n\u00e4chstfolgenden Moment sind beiderlei Wellen wieder um J einer ganzen Welle in entgegengesetzter Richtung fortgeschritten, oder die vorher sich deckenden Theile haben sich um eine halbe Wellenl\u00e4nge von einander entfernt, die Stellung wird also wie in C seyn, wo sich die Wellenth\u00e4ler und wieder die Wellenberge decken, und daher ein tieferes Wellenthal und einen hohem Wellenberg hervor-bringen. Im n\u00e4chsten Momeftt CI decken wieder die Wellenberge die Wellenth\u00e4ler. Diese regelm\u00e4ssig sich wiederholenden Wellen heissen stehende Wellen oder stehende Schwingungen. Hierbei schreiten die Berge und Th\u00e4ler der Wellen nicht fort auf andere Theile der Fl\u00fcssigkeit, sondern es bleiben die bloss verticalen Ver\u00e4nderungen an ihrem Orte. Es sind abwechselnde verticale Erhebungen und Senkungen, welche die Folge von zwei sich kreuzenden Wellenbewegungen sind.\nStehende Schwingungen werden in der geraden Wellenrinne durch tactm\u00e4ssige Erregung von hintereinander folgenden Wellen bewirkt, die dann reflectirt werden, oder in einem kreisf\u00f6rmigen Gef\u00e4sse durch tactm\u00e4ssige Erregung von Wellen in der Mitte. Auch in mit Fl\u00fcssigkeit gef\u00fcllten Gelassen, die auf einer Trommel oder Pauke oder auf einem Rohrstuhl stehen, beobachteten die Gebr\u00fcder Weber die stehende Schwingung, wenn die elastische Unterlage tactm\u00e4ssig angestossen wurde.\nlf. Beug ungs wellen fester K\u00f6rper.\nDie Ursache der Beugungswellen der Fl\u00fcssigkeiten ist die Schwere; die Ursache der Beugungswellen fester K\u00f6rper ist die St\u00f6rung und Herstellung der Cohaesion und Elasticit\u00e4t. Sic sind viel schneller, als die Beugungswellen des Wassers und werden in elastischen K\u00f6rpern Ursache von T\u00f6nen.\nWird ein gespanntes Seil oder eine gespannte Saite nicht in der Mitte, sondern n\u00e4her dem einen Ende angestossen, so entsteht eine Ausdehnung des K\u00f6rpers an dieser Stelle, welche als eine Welle oder Schwingung sich dem ganzen Seile mittheilt, und von dem einen zum andern Ende fortschreitet, am Ende angelangt wieder zur\u00fcckgeht u. s. w., wie hei der Wellenbewegung der Fl\u00fcssigkeiten.\nWird das Anstossen des Seils oder der Saite mehrmals hintereinander wiederholt, so folgen sich regelm\u00e4ssige Wellen, wie auf dem Wasser, und indem diese am andern Ende des Seils re-tlectirt werden, entstehen auch stehende Wellen, wie im vorher erl\u00e4uterten Fall, durch die Kreuzung entgegengesetzter Wellen. So entstehen aus fortschreitenden Schwingungen stehende. Die ruhenden Puncto zwischen den Wellen heissen Schwingungsknoten.\nDie einfachste stehende Schwingung eines Seils oder einet","page":399},{"file":"p0400.txt","language":"de","ocr_de":"400 V. Buch. Von den Sinnen. 11. Abschn. Vorn Geh\u00f6rsinn.\nSaite ist indess diejenige, welche nicht aus der fortschreitenden hervorgeht, sondern wobei die Saite zwischen ihren Befestigungen hin und her schwingt, transversale Schwingung. Die Bcfestiguugs-enden sind hier die Schwingungsknoten. Diese Art der Schwingung erfolgt am leichtesten, wenn man eine Saite zerrt oder streicht. Eine stehende Schwingung ist auch die transversale Schwingung ungespannter fester K\u00f6rper, z. B. der MetaIIstabe, die an einem Ende angehalten werden.\nC. Vc rdi ch t a n g s w cl 1 cn der Fl\u00fcssigkeiten, Gase, und testen\nK \u00fc rpc r.\nBei den Beugungswellen des Wassers findet keine Verdichtung und Verd\u00fcnnung statt, und auch hei den Beugungswelleft eines Seils ist die Verdichtung und Verd\u00fcnnung nicht nothwendig mit den Beugungswellen verbunden. 1st das Seil nicht ausdehnbar oder nicht elastisch, so k\u00f6nnen die Beugungswellen durch blosse Verschiebung und das Bestreben der Theile wieder in gerade Richtung zu gelangen hervorgebracht werden. Meist sind freilich die Beugungswellen der Saiten auch mit Verdichtung und Verd\u00fcnnung verbunden. Das Eigenth\u00fcmliehe der Beugungswellen besteht darin, dass vielen Ehelichen eines K\u00f6rpers zugleich eine so starke Bewegung in einer auf die Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers senkrechten Richtung ertheilt wird, dass die Oberfl\u00e4che sichtbar ver\u00e4ndert wird. Verdichtungswellen hingegen entstehen in allen K\u00f6rpern, wenn der Stoss bloss die kleinsten Theilchen des K\u00f6rpers successive und eines durch das andere bewegt. Daher nennt man diese Wellen auch Wellen des fortschreitenden Stosses. Durch den Stoss der bewegten Theilchen auf die n\u00e4chsten findet nothwendig Verdichtung statt, und diese bedingt wieder hinter sich Verd\u00fcnnung. Die sich fortpllanzende Bewegung der Theilchen ist hierbei so klein, dass eine Ver\u00e4nderung der Oberfl\u00e4che der K\u00f6rper nicht sichtbar wird. So schreitet der Stoss auch durch eine Reihe von Kugeln fort, w\u00e4hrend sic ihren Ort behalten.\nDie Richtung der Bewegung der Theilchen, welche der verdichtende Stoss hervorbringt, kann bei einem Stab oder einer Saite von der Richtung, in welcher die Verdichtungswelle fortschreitet, verschieden seyn. Wird z. B. der Stab oder die Saite\na \u2014\u2014\u2014\ti i g in der N\u00e4he von a senkrecht auf\nseine L\u00e4nge gestossen, so rcissen die bew egten Theilchen die n\u00e4chsten in derselben Richtung, d. h. senkrecht auf ab fort, diese wieder die n\u00e4chsten, bis zuletzt b bewegt wird; es werden also suecessiv alle zwischen a und b liegenden Theilchen in einer auf ab senkrechten Richtung bewegt oder in Verdichtung gesetzt;, d. h. von a bis b l\u00e4uft eine Welle, w\u00e4hrend die Bewegung def Theilchen durch den Stoss eine ganz andere, n\u00e4mlich senkrecht auf ab ist. Wird der Sloss der Mitte des Stabs ertheilt, so l\u00e4uft die Welle in zwei Richtungen nach a und nach b. Auch in einer Platte entstehen solche Wellen, wie SavaM gezeigt hat. Vergl-Wem:\u00ab a. a. 0. p. 140.","page":400},{"file":"p0401.txt","language":"de","ocr_de":"1. Phys. Bedingungen d. Geh\u00f6rs. IVdient einender K\u00f6rper. 401\nDie Fortpflanzung des Stosses in K\u00f6rpern, die einen cubi-sclien Raum ausfu\u00fcen, z. R. in Felsen, Wasser und Luftmassen, geschieht nach allen Seiten. Die Fortpflanzung des Schalls in allen K\u00f6rpern geschieht durch Fortpflanzung des Stosses oder der Verdichtungswellen.\nWellen, welche in der Luft erregt werden, bestehen in fortlaufenden Verdichtungen und Verd\u00fcnnungen. Die verdichtete Stelle ist der Wellenberg, die verd\u00fcnnte das Wellenthal. Eine in einer R\u00f6hre fortschreitende Luftwelle prallt, wenn jene am Ende geschlossen ist, zur\u00fcck, und heluilt zur\u00fccklaufend ihre Eigenschaften; auch an einem offenen Ende prallt die Welle unvollkommen zur\u00fcck, nimmt aber dabei, wie die Erfahrung lehrt, entgegengesetzte Eigenschaften an, indem sic verd\u00fcnnend wird, wenn sie verdichtend war und umgekehrt. Die Wellen in der freien Luft sind kugelf\u00f6rmig. Weber a. a. O. \u00a7.276.\nII. Von den stehenden und fortschreitenden Wellen t\u00f6nender\nK\u00f6rper.\nT\u00f6nende K\u00f6rper schwingen entweder mit Eeugungswellen oder Verdichtungswellen, an t\u00f6nenden. Saiten und festen K\u00f6rpern kommen entweder die einen oder die anderen oder beide zugleich vor. T\u00f6nende Luftmassen schwingen nur mit Verdichtungswellen. Die Wellen t\u00f6nender K\u00f6rper sind theils stehende, theils fortschreitende.\nWird eine Saite in der Mitte aus ihrer Lage gezogen und dann sich seihst \u00fcberlassen, so bemerkt man keine fortlaufenden Wellen, oder sie sind nicht deutlich. Dagegen schwingt die Saite in der ganzen Breite der Ausbeugung, oder mit ihrer ganzen Lange bin und her in transversaler Richtung, wie ein Pendel. Sie sucht nach der Beugung eine gerade Lage verm\u00f6ge ihrer Elasticit\u00e4t einzunehmen, aber der Zug, dem sie folgt, wirft sie auch \u00fcber die gerade Linie hinaus auf die entgegengesetzte Seite und so fort bis zu ihrer Ruhe. Dicss ist eine stehende Schwingung-\nDie Schnelligkeit ihrer Schwingungen oder die Zahl der St\u00f6sse, welche sie der Luft ertheilt, nimmt in umgekehrtem Ver-h\u00e4ltniss mit der Lange der Saite, und im geraden Verli\u00e4ltniss der Quadrate der spannenden Kr\u00e4fte zu, d. h. eine Saite, welche 100 Schwingungen in der Secunde macht, schwingt mit der H\u00e4lfte ihrer L\u00e4nge bei gleicher Spannung 200 Mal. Bleibt ihre L\u00e4nge gleich, und macht sie bei 1 Loth Spannung 100 Schwingungen in der Secunde, so schwingt sie 200 Mal bei 4 Loth, 400 Mal bei 16 Loth Spannung.\nZu transversalen stehenden Schwingungen sind auch Stabe f\u00e4hig. Die Zahl der Schwirgungen steht hier in geradem Ver-h\u00e4ltniss mit der Dicke der St\u00e4be und in umgekehrtem Verh\u00e4ltnis\u00bb niit den Quadraten der L\u00e4nge der St\u00e4be.\nUnter gewissen Umst\u00e4nden ist ein longitudinales \u00cfortlaulen des Kipfels der Welle mit einer sichenden transversalen Schwingung","page":401},{"file":"p0402.txt","language":"de","ocr_de":"402 V. Buch. Von den Sinnen. II. Ahschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nder Saite verbunden, ohne dass dadurch die Zahl der Schwingungen eine andere wird, als bei blosser transversaler Schwingung. Wird z. B. die Saite in der N\u00e4he ihres Befestigungspunctes angezogen, so macht sie nicht bloss transversale Schwingungen, so wie wenn sie in der Mitte ihrer L\u00e4nge angezogen wird, d. h. transversale Schwingungen mit einer L\u00e4nge der Welle, welche der L\u00e4nge der Saite gleich ist, sondern der Gipfel der Welle l\u00e4uft abwechselnd von einem zum andern Ende und zur\u00fcck, indem er sich heim Anstossen an den Befestigungspuncten jedesmal nach der entgegengesetzten Seite der Saite umkehrt. Die Zahl der Schwingungen einer so schwingenden Saite ist ganz dieselbe, wie wenn sie, bei gleicher Luge des Gipfels der Welle in der Mitte der Saite, schwingt, und da die H\u00f6he des Tons von der Zahl der Schwingungen in bestimmter Zeit abh\u00e4ngt, so ist die H\u00f6he des Tons in beiden F\u00e4llen gleich; aber der Klang ist etwas verschieden. Dieser Umstand ist f\u00fcr die Theorie des Klanges von Wichtigkeit.\nStehende Wellen entstehen auch, wenn man durch leichte Unterst\u00fctzung oder schwache Ber\u00fchrung einer Saite einen Schwingungsknoten bildet, und den isolirten Theil der Saite streicht. Wird z. B. die Saite in der Mitte ber\u00fchrt, dann aber die eine H\u00e4lfte der Saite mit dem Violinbogen gestrichen, so schwingt nicht bloss die gestrichene H\u00e4lfte der Saite transversal, sondern auch die andere H\u00e4lfte in entgegengesetzter Lichtung. Nun ist die Zahl der Schwingungen das Doppelte der Schwingungen der ganzen Saite, und der erregte Ton die Octave des Grundtons. Geschieht die Unterst\u00fctzung oder Ber\u00fchrung an der Grenze zwischen dem ersten und dem zweiten Drittheil, so entsteht von selbst ein Schwingungsknoten auch zwischen dem zweiten und dritten Drittheil, und die Zahl der Schwingungen ist 3 Mal so gross, als die der ganzen Saite. So l\u00e4sst sich durch Isolirung eines Viertels, F\u00fcnftels u. s. w. eine regelm\u00e4ssige Theilung der ganzen Saite in lauter Viertel, F\u00fcnftel, durch von seihst entstehende Schwingungsknoten bewirken. Papierschnitzel auf den Stellen der Schwingungsknoten angebracht, werden w\u00e4hrend des Schwingens nicht abgeworfen. Die auf diese Weise erzeugten T\u00f6ne heissen Flageolett\u00f6ne.\nScheiben, welche durch den Fidelbogon in Schwingung versetzt werden, theilcn oich regelm\u00e4ssig in aliquote, in entgegengesetzten Bichtungen schwingende 4. 6. 8 Abtheilungen, zwischen welchen die ruhenden Knotenlinien liegen, welche aufgestreuten Sand nicht abwerfen. Die Ber\u00fchrung des Bandes der Scheibe an einer Stelle erzeugt eine Knotenlinie, welche bestimmend wird f\u00fcr die Vertheilung der \u00fcbrigen Knotenlinien. Die zweite Bestimmung geht von der Stelle aus, welche mit dem Fidelbogen gestrichen wird. Diese geh\u00f6rt zu den bewegten Theilen, und wirkt bestimmend auf die Entstehung der bewegten Abtheilungen. Hierauf beruhen die Cht.vdni\u2019scIhui Klangfiguren.\nSowohl die stehenden als die fortschreitenden Schwingungen der elastischen K\u00f6rper k\u00f6nnen T\u00f6ne in unserm Geh\u00f6rorgan hervorbringen, wenn sie sich regelm\u00e4ssig wiederholen. Denn auch","page":402},{"file":"p0403.txt","language":"de","ocr_de":"1. Phys. Bedingungen d. Geh\u00f6rs. Wellent\u00f6nender K\u00f6rper. 403\ndie stehenden Schwingungen werden, den schallleitenden K\u00f6rpern mitgetheilt, zu fortschreitenden Wellen, indem jede Schwingung eine in der Luft, im Wasser oder in festen schallleitenden K\u00f6rpern fortschreitende Welle erregt.\nDurch fortschreitende Verdichtungswellen k\u00f6nnen sowohl feste K\u00f6rper, als die Luft in R\u00f6hren t\u00f6nen. Stabe werden durch Reihen der Lange nach in longitudinale Verdichtungswellen versetzt.\nEine Saite kann auch ohne alle transversale Schwingung durch bloss fortschreitende verdichtende Wellen, T\u00f6ne hervorbringen. Die Zeit zum Hin- und Herlaufen der Verdichtungen und Verd\u00fcnnungen, welche die Zahl der in der Luft erregten Wellen bedingt, h\u00e4ngt nat\u00fcrlich von der L\u00e4nge und Spannung der Saiten ab. Ohne best\u00e4ndig wiederholte St\u00f6sse behalten diese Wellen aber nicht die erforderliche St\u00e4rke und Dauer, w\u00e4hrend die transversalen Schwingungen der Saiten l\u00e4ngere Zeit dauern. Das Reiben bewirkt diese fortdauernd wiederholten St\u00f6sse. Durch eine Modification dieser St\u00f6sse hat man indess auch auf die Schnelligkeit der Folge der longitudinalen Wellen Einfluss. Dahin geh\u00f6ren die longitudinalen Schwingungen der Saiten, welche Chladni durch Streichen der L\u00e4nge nach erregte. Auch die Aeolsliarfent\u00f6ne der Saiten scheinen hieher zu geh\u00f6ren. Nach Pellisov (Poggend. Ann. XIX. 237.) findet keine messbare Transversalschwingung der Saiten bei den durch die Luft hervorgebrachten Aenlsharfent\u00f6nen statt. Je nach der St\u00e4rke des Windes entstehen verschiedene harmonische T\u00f6ne, ohne dass Schwingungsknoten bemerkbar werden. Pellisov hat ferner ein Verfahren angegeben, wie man auf einer Violin-seite von gleichbleibender Spannung durch Modification des Streichens sehr verschiedene T\u00f6ne hervorbringen kann. Diess geschieht, indem man den Rogen dicht am Stege einer zwei Schuhe langen \u25a0j Linie dicken ins g gestimmten Violinsaite aufsetzt, und so leicht als m\u00f6glich und in einem immer gleichen Zuge zu streichen anf\u00e4ngt. Der Ton richtet sich dann ganz nach der St\u00e4rke und Schnelligkeit des Streichens und man kann alle T\u00f6ne, welche die Seite sonst mittelst des Windes giebt, oder alle Aeolsharfent\u00f6ne\ng d g h d f g a und noch die meisten dazwisoten und h\u00f6her hegenden T\u00f6ne leicht hervorbringen. Hierbei laufen nach Pellisov die Schwingungen jener Molecule, welche der Bogen unmittelbar ber\u00fchrt, ans entgegengesetzte Ende und werden reflec-tirt. Durch eine besondere Handhabung des Rogens brachte er T\u00f6ne an Saiten hervor, welche tiefer sind als ihre Grundt\u00f6ne und welche also jedenfalls nicht durch Transversalschwingungen hervorgebracht werden.\nPellisov geht noch weiter, er behauptet, dass auch bei den Tranversalschwingungen der Saite der Ton nicht durch diese, sondern durch die hin- und herlaufenden, verdichtenden und verd\u00fcnnenden Wellen, die man auch Molecularschwingungen nennt, entstehe. Nach der gew\u00f6hnlichen Ansicht kommen diese kleinen Wellen eines elastischen K\u00f6rpers, welche von der Stelle des An-stosses ausgehen, und sich zufolge der Elasticit\u00e4t dem ganzen K\u00f6rper mittheilen, nur in sofern in Betracht, als sie zur Resul-","page":403},{"file":"p0404.txt","language":"de","ocr_de":"404 V. Buch. Von den Sinnen. II. Abschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\ntante die Schwingung des ganzen K\u00f6rpers zwischen seinen Enden oder zwischen seinen Schwingungsknoten hervorbringen. Pei.i.i-sov behauptet das Gegentheil, dass der Ton von der Schnelligkeit, mit der die kleinsten Theile der Saite, Lufts\u00e4ule, St\u00e4be, Scheiben u. s. w. schwingen, abh\u00e4nge. Die Schwingungen der ganzen Saite, Lufts\u00e4ule, Scheibe oder ihre grossen Abtheilungen kommen hierbei bloss in sofern in Betracht, als sie bestimmend f\u00fcr die Schnelligkeit der Molecularschwingung wirken. Daher w\u00fcrde kein Ton entstehen, wenn eine Saite transversal schw\u00e4nge, ohne dass die einzelnen Molecule Schwingungen machen, (d. h. ohne die fortschreitenden und zwischen den Knoten sich hin- und herbewegenden verdichtenden Wellen.) Pellisov a. a. O. Fechser Repertorium der Experimentalphysik. I. B. 256.\nWenn man auch die Annahme von dem Unverm\u00f6gen der Transversalschwingungen der Saiten T\u00f6ne zu erregen nicht f\u00fcr erwiesen halten kann., so l\u00e4sst sich' doch aus der Gleichzeitigkeit der Transversalschwingungen und der hin und her fortschreitenden verdichtenden Wellen in einem t\u00f6nenden K\u00f6rper die gleichzeitige Entstehung mehrerer T\u00f6ne sehr gut begreifen. Eine Saite giebt ausser ihrem Grundton leicht noch einen andern leisen, damit harmonischen Ton, die Quinte oder Terze der hohem Octave. Bekannt sind auch die mitklingenden T\u00f6ne einer Glocke.\nIn der Luft der Pfeifen hat man es gar nicht mit Transversalschwingungen, sondern bloss mit fortlaufenden und zur\u00fccklaufenden verdichtenden Wellen zu thun. Das fortdauernde Blasen hat einen intermittireuden Erfolg. Die Zahl der Wellen in gewisser Zeit, oder was dasselbe ist, die Dicke der Wellen h\u00e4ngt ab von der L\u00e4nge der Lufts\u00e4ule der R\u00f6hre.\nBeim ruhigen Anblasen der gedeckten Pfeifen entsteht der Grundton derselben, bei welchem der Schwingungsknoten am Ende der Lufts\u00e4ule liegt. In der offenen Pfeife liegt der Schwingungsknoten in der Mitte, und der Ton ist um eine Octave h\u00f6--her. Durch st\u00e4rkeres Blasen erzeugt man noch andere Abtheilungen und daher h\u00f6here T\u00f6ne. Siehe oben p. 138.\nIn Hinsicht der f\u00fcr die musikalischen Instrumente geltenden Gesetze muss ich \u00fcbrigens auf die Lehre von der Stimme verweisen, in welcher die Theorie der musikalischen Instrumente gegeben ist.\nZuletzt ist noch der Unterschied von Schall, Knall, Ger\u00e4usch, Ton und Klang auseinanderzusetzen. Jede Impression auf das Geh\u00f6rorgan von einer ihm mitgetheilten Welle, oder mehreren Wellen ist ein Schall. Ein einmaliger Stoss bringt einen einfachen Schall hervor, der, wenn er stark ist, Knall genannt wird. Die St\u00e4rke des Schalles h\u00e4ngt ab von der Gr\u00f6sse der Schwingung der Theilchen. Die Qualit\u00e4t des Schalles kann sehr verschieden seyn. Holz, Pappe, Metall haben eine andere Qualit\u00e4t des Schalles. Die Qualit\u00e4t des Schalles scheint theils von der Form der Welle, theils von der Gleichzeitigkeit verschieden schneller Wellen abzuh\u00e4ngen. Ein und derselbe K\u00f6rper kann, wenn er ungleiche Elasticit\u00e4t in verschiedenen Richtungen besitzt, auch an verschiedenen Orten \\eisehieden schnelle AVeUen heim Anstoss hervorbringen, welche","page":404},{"file":"p0405.txt","language":"de","ocr_de":"I. Phys. Bedingungen d. Geh\u00f6rs. Wellent\u00f6nender K\u00f6rper. 405\nmehr oder weniger mich einander von dem schallenden K\u00f6rper in den schallleitenden K\u00f6rper abgehen, und diesem eine zusammengesetzte Welle von eigenth\u00fcmlicher Form mittheilen. Diese zusammengesetzte Welle, oder diese Summe von Wellen k\u00f6mmt in derselben Ordnung und Form am Geh\u00f6rorgan an, als sie in das schallleitende Mediuim \u00fcberging, da alle Schwingungen mit gleicher Geschwindigkeit von einem schallleitenden K\u00f6rper fort-gepllanzt werden. Eisenlohr Lehrbuch d. Physik. 151. Zur Qualit\u00e4t des Schalles tr\u00e4gt auch bei, dass ein K\u00f6rper eine transversale und longitudinale Schwingung zugleich machen kann. Die Seite wird, nahe ihrem Ende abgezogen, und sich selbst \u00fcberlassen , transversale Schwingungen mit ihrer ganzen L\u00e4nge machen , w\u00e4hrend zugleich der Gipfel des Wellenbergs abwechselnd von einem zum andern Ende l\u00e4uft, jedesmal bei dem Wechsel zur andern Seite der Saite umkehrend. Daher ist die Qualit\u00e4t des Schalles einer und derselben Saite bei gleicher L\u00e4nge und Spannung etwas verschieden, je nach der Stelle, wo sie angezogen wird. Die Form der Welle wird endlich nach Pelusov und Eisenlohr durch die Dichtigkeit des schallenden K\u00f6rpers modificirt. Bei einem dichten K\u00f6rper ist die Ausweichung der Schwingung geringer, als hei einem weniger dichten K\u00f6rper. Die Lufttheilchen, welche ihn ber\u00fchren, werden gleichzeitiger von ihm abgestossen, und der verd\u00fcnnte Luftraum, den er bei seiner Zusammenziehung zur\u00fcckl\u00e4sst, ist schmaler. Bei ungleicher Dichtigkeit des schallenden K\u00f6rpers muss endlich auch die der Luft mitgetheilte Verdichtung, und die folgende Verd\u00fcnnung ungleich seyn.\nFolgen sich mehrere Wellen aufeinander, so entsteht ein mehr oder weniger anhaltender Schall, der bald ein Rauschen, bald ein Ton ist. Eine Folge von gleichen oder ungleichen Schallen in ungleichen Zeiten bedingt das Ger\u00e4usch. (Rasseln, Scharren, Brausen etc.) Eine Folge von einfachen Schallen oder Ger\u00e4uschen in gleichen Zeiten wird, so lange die einzelnen Acte noch unterschieden werden, noch nicht als Ton, sondern als schwirrendes Gesumme vernommen. Werden die einzelnen Acte nicht mehr unterschieden, so entsteht der Ton, dessen,H\u00f6he verschieden ist nach der Schnelligkeit, womit die einzelnen St\u00f6sse auf einander folgen. Diess h\u00f6rt man an dem SAVART'schcn Rad, dessen Z\u00e4hne Ger\u00e4usche hervorbringen, so lange die St\u00f6sse unterschieden werden. Bei schnellerer Folge summiren sich die Ger\u00e4usche zum Ton, ohgleich das Ger\u00e4uch noch durchgeh\u00f6rt werden kann. Daher wird nicht bloss eine regelm\u00e4ssige Folge von einfachen Wellen, sondern auch eine regelmassige Folge von sehr zusammengesetzten oder Ger\u00e4uschwellen zum Ton. Einklang-voller Ton ist derjenige, der durch einfache, hinl\u00e4nglich starke Wellen, ohne unregelm\u00e4ssige Zwischenwellen oder Ger\u00e4usche hervorgebracht wird. Die Qualit\u00e4t des Klanges oder das Timbre eines Tons wird durch dieselben Ursachen bedingt, wie die Qualit\u00e4t des einfachen Schalles, beim Ton kommt nur die regelm\u00e4ssige Succession der Wellen hinzu.","page":405},{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"406 V. Buch. Von den Sinnen. II. Ahschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nIII. Von der Wellenbewegung bei der Sehallleitung.\n1. Fortschreitende Wellen bei der Scha 11 ci Lu n g.\nWeber a. a. 0. p. 501.\nDie: Fortleitung der Schwingungen t\u00f6nender K\u00f6rper geschieht in der Regel durch Verdichtungs- und Verd\u00fcnnungswellen, nicht durch Beugungswellen. Auch das Wasser leitet die Schallwellen auf diese Art. Diese Art der Bewegung ist also von den Beugungswellen des Wassers ganz verschieden.\nEin der Luft, von einem Punet aus nach allen Richtungen, mitgetheilter Stoss erregt eine sph\u00e4rische Welle verdichteter Luft, von der Form einer hohlen Kugel, welche nach allen Richtungen gleichm\u00e4ssig sich ausdehnt und also ihre Kugelgestalt beh\u00e4lt. Eine sich in der Luft pl\u00f6tzlich ausdehnende Kugel w\u00fcrde eine solche Welle erregen. Die von einer sich ausdehnenden Kugel gestosse-nen Lufttheilehen erhalten eine dieser Ausdehnung entsprechende Bewegung in der Richtung des Radius und im n\u00e4chsten Augenblick, wenn die sich ausdehnende Kugel sieh wieder zusammenzieht, und in ihrer Umgebung eine Verd\u00fcnnung bewirkt, eine entgegengesetzte Bewegung. Diese Bewegung erfahren solorl alle Theilchen der Luft, durch welche die sph\u00e4rische Welle durchgeht. Aber die Gr\u00f6sse der Bahn, welche die Lufttheilehen vorw\u00e4rts und r\u00fcckw\u00e4rts durchlaufen, was mit den Wellen des Wassers verglichen, die H\u00f6he des Wellenberges ist, nimmt mit dem Fortschreiten der Welle ah, w\u00e4hrend die Dicke der Welle hei ihrer Ausdehnung gleich bleibt; gerade so, wie wenn eine auf dem Wasser erregte sph\u00e4rische Welle bei gleichbleibender Breite mit dem Grad ihrer Ausdehnung niedriger wird. Die hohle Kugel der fortschreitenden Welle nimmt gleichm\u00e4ssig an Durchmesser zu, ihr Umfang nimmt daher wie die Quadrate ihrer Durchmesser zu. In eben demselben Verh\u00e4ltniss nimmt der Wellenberg der Welle ab. Diess ist die Ursache, dass die Intensit\u00e4t des Schalls in freier Luft abnimmt, wie die Quadrate der Entfernungen der Schallwelle vom Orte ihrer Entstehung zu nehmen. Bei der Wellenbewegung der Luft in einer R\u00f6hre ist kein Grund zu dieser Abnahme.\nBewirkt der stossende oder schwingende K\u00f6rper in freier Luft keinen Stoss nach allen Richtungen, wie eine sich ausdehnende Kugel, sondern in einer Richtung, so ist die dadurch erregte Welle auch sph\u00e4risch, gerade so, wie eine auf dem Wasser durch Stoss in einer Richtung erregte Welle, doch nach allen Richtungen fortschreitet, also kreisf\u00f6rmig ist. Doch die Gr\u00f6sse des Wellenberges oder die Gr\u00f6sse der Bahn, welche die Theilchen der Luft durchlaufen, durch welche die Welle durchgeht, ist in der Richtung des Stosses st\u00e4rker, weil sie von der Richtung des Stosses selbst zum Theil abh\u00e4ngt. Finden daher die Schallwellen in dem t\u00f6nenden K\u00f6rper in einer Richtung statt, wie bei einer schwingenden Saite, und einer schwingenden Lufts\u00e4ule, so wird auch der Schall in","page":406},{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"1. Phys. Bedingungen d. Geh\u00f6rs. Schallleitung.\n407\ndieser Richtung deutlicher und st\u00e4rker geh\u00f6rt. Hierzu scheint mir auch folgender Umstand f\u00fcr gewisse F\u00e4lle beizutragen. Die Welle eines der Wellenbewegung f\u00e4higen Mediums, kann, wenn der Anstoss in einer gewissen Breite auf dasselbe geschieht, zusammengesetzt gedacht werden aus lauter nebeneinander liegenden cirkelf\u00f6rmigen Wellen von gleichem Durchmesser. Diese Wellen decken sich in einer mit der Breite des Anstosses parallelen Richtung, decken sich aber nicht an den freien Enden der Wellen. Die Welle wird also in einer auf die Breite des Anstosses senkrechten Richtung st\u00e4rker seyn.\nDie St\u00e4rke der Schallleitung h\u00e4ngt ceteris paribus vom Verh\u00e4ltnis des t\u00f6nenden K\u00f6rpers zum schallleitenden ab. Je gleichartiger der schallleitende K\u00f6rper dem t\u00f6nenden ist, um so vollkommener ist die Mittheilung, umgekehrt um so unvollkommener. Die t\u00f6nende Luft, z. B. eines Blaseinstrumentes theilt der Luft ihre Schwingungen so vollkommen mit, dass eine Verst\u00e4rkung durch andere Medien nicht stattfindet, theilt hingegen ihre Schwingungen festen K\u00f6rpern schwer mit. Feste K\u00f6rper hingegen theilen ihre Schwingungen unvollkommen der Lrd\u2019t, und vollkommen andern festen K\u00f6rpern mit. Die Schwingungen werden ferner beim Uebergang aus einem Medium in ein ungleichartiges anderes, wie beim Licht, theils fortgeleitet, theils zur\u00fcckgeworfen. Hieraus erkl\u00e4rt sich, warum Felsenmassen dem in der Luft erregten Ton ein Iiinderniss sind, w\u00e4hrend hingegen der Ton eines festen K\u00f6rpers, z. B. eines Stahes, st\u00e4rker dem Ohr durch eine Schnur, als durch die Luft mitgetheilt wird. Nach Wheatstone kann man die T\u00f6ne eines Saiteninstrumentes durch einen Dratlr auf einen fernen Resonanzboden leiten.\nAbgesehen von der eben bezeichnetcn verschiedenen St\u00e4rke der Mittheilung kann ein Ton durch Resonanz selbst st\u00e4rker werden, als er im t\u00f6nenden K\u00f6rper selbst war. Die Resonanz entsteht durch die Vergr\u00f6sserung der Oberfl\u00e4che der gleichartigen schwingenden Theile. Daher t\u00f6nt eine Stimmgabel st\u00e4rker, wenn sie auf einen festen K\u00f6rper aufgesetzt wird. Hierauf beruht auch die Wirkung des Steges und des Resonanzbodens bei den Saiteninstrumenten.\nDie Resonanz ist ferner st\u00e4rker bei einem begrenzten, als bei einem unbegrenzten K\u00f6rper. Ein begrenzter K\u00f6rper wirft n\u00e4mlich die Schallwellen zum Theil von seinen R\u00e4ndern und Fl\u00e4chen zur\u00fcck und diese r\u00fcckkehrenden Wellen mit den vom t\u00f6nenden K\u00f6rper neu erregten Wellen. Bei der Durchkreuzung der Wellenberge wird aber die H\u00f6he der Wellenberge verst\u00e4rkt. Weber a. a. O. p. 536.\t'\n2. Stehende Schwingungen in sc h a 11 1 eit en d en K\u00f6rpern.\nStehende Schwingungen entstehen bei schallleitenden, begrenzten und zugleich elastischen K\u00f6rpern. Schon vorher wurde angef\u00fchrt, dass ein begrenzter schallleitender K\u00f6rper von seinen R\u00e4ndern und Ecken die fortschreitenden Wellen zur\u00fcckwerfe, und dass sich dem zufolge die kommenden und r\u00fcckkehrenden\nMuller\u2019s Physiologie. 2r Rd, IF,\t27","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"40S V. Buch. Von den Sinnen. II. Ahschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nWellen kreuzen. Bei einem resonirenden K\u00f6rper h\u00e4ngt die Breite dieser Wellen nicht von ihm seihst ah, und es sind nicht notwendig aliquote Theile seines Ganzen, sondern die Breite der Wellen ist durch den t\u00f6nenden K\u00f6rper bedingt. Bei einem t\u00f6nenden K\u00f6rper sind die entstehenden Wellen immer aliquote Theile seines Ganzen. Aber ein begrenzter schallleitender K\u00f6rper kann sich seJbst wie ein t\u00f6nender in n\u00e4here, gr\u00f6ssere Abtheilungen thcilen, indem sieh Knoten und Knotenlinien bilden. Solche Knotenlinien z. B. zeigen sich nach Savart\u2019s Versuchen auf gespannten den Schall leitenden Membranen, wenn man sie mit einem leichten Pulver bestreut. Scheiben zeigen dasselbe, wenn man sie mittelst eines Stabes mit dem t\u00f6nenden K\u00f6rper in Verbindung bringt, wie Savaet gezeigt hat. Ueber den Unterschied der Klangfiguren mitt\u00f6nender und selbstt\u00f6nender K\u00f6rper siehe Weber Wcl-lenlehre. p. 541.\nDer Ton eines K\u00f6rpers kann unter bestimmten Bedingungen in einem begrenzten elastischen K\u00f6rper nicht bloss Resonanz, sondern auch ein Selbstt\u00f6nen des letztem erregen, in welchem Fall der letztere K\u00f6rper seinen eigenen, vom ersten verschiedenen Ton giebt. Gespannte Saiten sind des Mitklingens in ihrem eigenen Ton f\u00e4hig. Hierzu scheint nicht bloss ein hoher Grad von Elasficit\u00e4t und scharfe Begrenzung, sondern auch die Bedingung n\u00f6thig zu seyn, dass die Wellen des ersten Tons zu den Wellen des Grundtons des mitl\u00f6nendcn K\u00f6rpers in einem einfachen Verh\u00e4ltnisse stehen.\nEndlich aber kann ein elastischer und begrenzter K\u00f6rper, unter bestimmten Bedingungen auch den Ton eines selbstt\u00f6nenden K\u00f6rpers in der H\u00f6he modificiren, indem sich beiderlei Schwingungen gegenseitig zur Bildung von Wellen modificiren, welche weder dem einen, noch dem andern K\u00f6rper eigen seyn w\u00fcrden. So modificirt die mit einer Zunge verbundene mitschwingende Lufts\u00e4ule den Ton der Zunge. Siehe oben p. 146. Ein anderes merkw\u00fcrdiges Beispiel dieser gegenseitigen Einwirkung beobachtete ich an einer Pfeife, deren offenes Ende ich mit einer Membran (Schweinsblase) schloss. Eine einf\u00fcssige am Ende mit einem Stopfen gedeckte Pfeife giebt bekanntlich c als Grundton, wird aber das Ende der Pfeife statt des Stopfens mit einer locker gespannten Membran gedeckt, so ist der Grundton der Pfeife beim schw\u00e4chsten Blasen nicht mehr c, sondern eine Terze bis Quinte tiefer, wird die Membran st\u00e4rker gespannt, so erh\u00f6ht sich der Grundton der Pfeife, und bei der st\u00e4rksten Spannung wirkt die Membran, wie ein fester Stopfen.\nDie schallleitenden Fl\u00fcssigkeiten zeigen in unmittelbarer Ber\u00fchrung mit den t\u00f6nenden K\u00f6rpern noch eigent\u00fcmliche Beu-gungswellen an ihrer Oberfl\u00e4che, welche von den Verdichtungswellen der Schallleitung wohl zu unterscheiden sind. Sie zeigen n\u00e4mlich auf ihrer Oberfl\u00e4che sehr regelm\u00e4ssig kleine wellenartige Erhebungen und Vertiefungen, wie stehende Wellen. Diese Erscheinungen sind von Oersted, Purkinje, Chladni und W. Soemmering und Faraday beschrieben. Siehe Chladni und W. Soem-","page":408},{"file":"p0409.txt","language":"de","ocr_de":"10.')\n1. Phys. Bedingungen d. Geh\u00f6rs. Schallleitung.\nMERiNG in Kastner\u2019s /Archiv f\u00fcr die gesummte Naturlehre. E. 8. p.91. Faradav Philos. Transact. 1831. 319.\nL\u00e4sst man eine horizontal gehaltene Stimmgabel, deren eine obere Seite mit einer d\u00fcnnen Wasserschicht bedeckt ist, in der Luft schwingen, so sieht man die sch\u00f6nsten parallelen stehenden Wellen in der d\u00fcnnen Wasserschicht, welche meist die ganze Breite der Stimmgabel einnehmen, und ungef\u00e4hr Linie lang sind. Sie sind gleichsam Abdr\u00fccke der Schwingungen des t\u00f6nenden K\u00f6rpers, entstanden durch die Bewegungen, welche den Theil\u2014 eben des Wassers dadurch mitgetbeilt worden. H\u00e4lt man die t\u00f6nende Stimmgabel mit einer ihrer Flachen in ein Becken mit Wasser, so sieht man von ihren Seiten sehr regelm\u00e4ssige parallele Abtheilungen des Wassers ausgehen, gerade so, als wenn das die Gabel ber\u00fchrende Wasser gleichzeitig mit der Gabel in eine Wellenbewegung geriethe, welche nur eine Fortsetzung oder Verl\u00e4ngerung der Wellen der Gabel w\u00e4ren. Ist die breite Oberfl\u00e4che der Gabel \u00fcber dem Wasser des Beckens und nur mit einem d\u00fcnnen Uebcrzug von Wasser versehen, tauchen die Seiten aber ins Wasser des Beckens, so sieht man, dass die Wellen auf der Oberfl\u00e4che der Gabel, und diejenigen im Wasser des Beckens Verl\u00e4ngerungen von einander sind. Merkw\u00fcrdig ist aber, dass, welche Fl\u00e4che der Gabel man ins Wasser tauchen mag, man immer stehende Wellen im Wasser sieht, deren Grenzen senkrecht auf der Oberfl\u00e4che der Gabel sind. Nur an den Kanten findet hiervon eine Abweichung statt, indem die Linien hier divergirend werden.\nDie Erscheinung zeigt sich auch in t\u00f6nenden Becken, die mit W asscr gef\u00fcllt sind, z. B. in Glasgef\u00e4ssen, die mit dem Fidelbogen ' angesprochen werden, die Wassermasse ist dann wie das Becken je nach der H\u00f6he des Tons in 4, G oder 8 Abtheilungen mit Knotenlinien getheilt, zwischen den Knotenlinien zeigen sich hei schwachem Streichen stehende Wellen, deren Grenzen senkrecht sind auf der inneren Fl\u00e4che des Beckens. Bei st\u00e4rkerem Streichen entstehen andere Figuren, und durch Kreuzung der Wellen rhom-boidische stehende Wellen. Die Breite der Wellen steht in genauem Verh\u00e4ltnis mit der H\u00f6he des Tons, sie sind breiter hei tiefen T\u00f6nen. Das Wasser h\u00e4uft sich \u00fcbrigens auch an den schwingenden Abtheilungen des Beckens an, und wird spritzend bei st\u00e4rkerem Streichen ausgeworfen. Wird das Glasgefass durch Streichen des Bandes mit dem Finger in Schwingung versetzt, so bewegen sich die schwingenden Abtheilungen und Knotenlinien best\u00e4ndig, je nach der Lage des streichenden Fingers im Kreise herum.\nGlasscheiben, die mit einer d\u00fcnnen Schichte Wassers bedeckt sind, zeigen die Erscheinnng heim Streichen mit dem Fidelbogen noch sch\u00f6ner.\nHeftet man auf die Membran einer Trommel ein Korkst\u00fcck, und befestigt an diesem ein St\u00e4bchen von Holz, das mit einer runden oder viereckigen Platte endigt, und stellt die Trommel so auf, dass die Platte des St\u00e4bchens leicht in Wasser taucht, so sicht man heim Schwingen der Membran \u00e4hnliche Wellen im\n27 *","page":409},{"file":"p0410.txt","language":"de","ocr_de":"410 V. Buch. Von den Sinnen. II. Abschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nWasser, deren Grenzen wieder senkrecht auf die Seite der Platte sind. Daher erh\u00e4lt man eine sternf\u00f6rmige Figur im Wasser, wenn die Platte rund ist. Eine gen\u00fcgende Erkl\u00e4rung dieser Erscheinungen ist f\u00fcr ietzt nicht m\u00f6glich.\nFaraday sagt, der kleinste m\u00f6gliche Unterschied :n irgend einem Umstande k\u00f6nne w\u00e4hrend der Schwingungen einer Platte eine Erhebung oder Depression des Fluidums bedingen, und so den ersten Anstoss zum Phaenomcn geben, allein ich glaube nicht, dass man hieraus allein und ohne eine regelm\u00e4ssige Unterabtheilung oder ohne die Wellenbewegung im t\u00f6nenden K\u00f6rper jene so regelm\u00e4ssigen Erscheinungen erkl\u00e4ren kann, obgleich eine befriedigende Erkl\u00e4rung auch in dieser Weise f\u00fcr jetzt nicht m\u00f6glich ist.\nUebrigens sind die Wellen bei der Schallleitung, Verdichtungswellen, auch im Wasser, wie in der Luft. Die zuletzt erw\u00e4hnten Wellen an der Oberfl\u00e4che des Wassers aber sind Erhe-bungs- oder Beugungswcllcn.\nDie Geschwindigkeit der Fortpflanzung des Schalls h\u00e4ngt von der Dichtigkeit und Elasticit\u00e4t der K\u00f6iper ab. In trockner Luft betr\u00e4gt diese in 1 Secunde hei 0\u00b0 W\u00e4rme 332,49 Meter oder 1022,194 P. Fuss. Durch W\u00e4rme wird sie vergr\u00f6ssert. Im Wasser geschieht die Fortpflanzung des Schalls ohngef\u00e4hr viermal so schnell, als in der Luft. Feste K\u00f6rper leiten den Schall noch schneller. Eisen leitet den Schall 10:'- Mal, IIolz 11 Mal so schnell als die Luft.\nIn Hinsicht der Reflexion verhalten sich die Schallwellen, wie die Lichtwellen, sie werden beim Uebergang in ein ungleichartiges Medium theils weiter geleitet, theils reilectirt. Eine im Brennpunctc eines Hohlspiegels aufgestellte Uhr, l\u00e4sst ihr Picken in dem Brennpunct eines andern, die Schallstrahlen sammelnden Hohlspiegels h\u00f6ren. Da sich die Schallwellen der Luft schwerer den festen K\u00f6rpern mittheilen, als sie in der Luft weiter geleitet werden, so erh\u00e4lt sich die St\u00e4rke des Schalls in einem Commu-nicationsrohr sehr vollkommen, so wie hinwieder die einem stabf\u00f6rmigen festen K\u00f6iper mitgetheilten Schallwellen in grosse Fernen fast unver\u00e4ndert ihre St\u00e4rke erhalten. Ein Sprachrohr stellt eine Parabel vor, in deren Brennpunct der Schall erregt wird. Zufolge der Reflexion an den W\u00e4nden der Parabel gehen die Schallstrahlen in Richtungen fort, welche mit der Achse parallel sind. Vergl. oben p. 396. Die Ursache der Verst\u00e4rkung ist grossentheils das Zusammenfallen der urspr\u00fcnglichen Wellen mit den reflectirten, wodurch gr\u00f6ssere Verdichtungen entstehen. Aber auch die Resonanz der begrenzten Luftmasse im Rohr kommt in Betracht. Denn die Luft einer an beiden oder an einem Ende offenen R\u00f6hre resonirt, wenn sie den Schall leitet. Das H\u00f6rrohr wird gegen das Ohr enger und condensirt demnach die Schallwellen. Sind seine W\u00e4nde parabolisch und befindet sich das Ohr nahe dem Brennpuncte der Parabel, so kommen Schallwellen, deren Direc-tionen der Achse der Parabel parallel sind, in einem dem Ohr nahen Pnnctc zusammen. Eisenlohr a. a. O. p. 164. Ein Nachhall entsteht, wenn bei gr\u00f6sserer Entfernung einer reflectirenden Wand, die reflectirten Wellen merklich sp\u00e4ter zum Ohr gelangen,","page":410},{"file":"p0411.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik der Geh\u00f6r Werkzeuge. Anatomische Formen. 411\nals die urspr\u00fcnglichen. Ist der Unterschied so gross, dass sieh beide nicht mehr an einander schliessen, so ist es das Echo.\nII. Capitel. Von den Formen und akustischen Eigenschaften der Geh\u00f6rwerkzeuge.\nI. Von den Formen des Geh\u00f6rorgans.\nBei den mehrsten wirbellosen Thieren kennt man keine dem Geh\u00f6rorgan vergleichbaren Theile, und cs kann sogar f\u00fcr Manche zweifelhaft seyn ob sie h\u00f6ren, da nicht jede Reaction gegen Schwingungen Ton genannt werden kann, dieselben Schwingungen vielmehr auch durch das Gef\u00fchl als Bebung vernommen werden k\u00f6nnen.\nUeber die mit dem Geh\u00f6rorgan verglichenen Theile bei In-seclen siehe: Comparetti obs. anat. de au re interna comparala. Patavii 1789. Treviranus Ann. d. IVetlerauischen Gesellschaft B. I. 2. Frankf. 1809. p. 169. Ramdohr Magazin d. Gesellschajt naturjurschender Freunde. Berlin 1811. p. 389. J. Mueller Physiologie des Gesichtssinnes 437.\nDas Wesentlichste am Geh\u00f6rorgan ist in alten Fallen der spe-cifische Geh\u00f6rnerve, welcher die Eigenschaft hat, St\u00f6sse als Ton zu empfinden, n\u00e4chstdem ein Apparat, welcher diese St\u00f6sse zum Geh\u00f6rorgan gut zu leiten vermag. Da aber alle Materien die Sehallschwingungen als Verdichtungswellen leiten, so sieht man leicht ein, dass ein besonderer Leitungsapparat auch fehlen k\u00f6nne.* Daher ist es zu erkl\u00e4ren, warum bisher hei so vielen Wirbellosen keine besonderen Geh\u00f6rorgane aufgefunden werden konnten. Der Geh\u00f6rnerve wird, wenn er bloss an festen Theilcn des Kopfes anliegt, die Schwingungen, welche diesen mitgetheilt wurden, nicht minder empfinden m\u00fcssen, als wenn er sich an einem eigenen Organ ausbreitet. Die einfachste Form des Geh\u00f6rorgans als besondern Apparates ausser dem specifischen Nerven, ist ein mit Fl\u00fcssigkeit gef\u00fclltes Bl\u00e4schen, auf welchem sich der H\u00f6rnerve ausbreitet. Die Schwingungen werden diesem entweder durch die harten Kopftheile, oder zugleich durch eine nach aussen freiliegende Membran zugef\u00fchrt. In dieser Form ist das Geh\u00f6rorgan unter den Articulate\u00bb bei den Krebsen, unter den Mollusken bei den Cephalopoden bekannt.\nBei den Krebsen liegt es jederseits an der Unterseite des Kopfes am Grundglied der \u00e4ussern gr\u00f6sser\u00bb Antenne. Es besteht aus einem kn\u00f6chernen Vestibulum, dessen nach aussen f\u00fchrendes Fenster durch eine Membran, wie bei den li\u00f6hern Thieren die Membrana tympani secundaria, geschlossen ist. Im Innern d-er kn\u00f6chernen H\u00f6hle liegt ein h\u00e4utiger, mit Wasser gef\u00fcllter Sack, auf welchem sich der Geh\u00f6rnerve ausbreitet.\nDas Geh\u00f6ror\nVestibulum, eine .... ..............\t\u2014,\t,\nstcr und ohne Membran nach aussen In dieser H\u00f6hle liegt ein\nder Cephalopoden besitzt ein knorpeliges","page":411},{"file":"p0412.txt","language":"de","ocr_de":"412 V. Buch. Von den Sinnen. II. Ahschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nh\u00e4utiger Sack, auf welchem sich der Geh\u00f6rnerve ausbreitet. Bei den Octopus ist die innere Wand des Vestibulum glatt, bei Sepia undLoligo mit weichen Kn\u00f6tchen oder Forts\u00e4tzen besetzt, welche das Bl\u00e4schen schwebend tragen. Im Innern des Bl\u00e4schens befindet sich cine Concretion, H\u00f6rstein.\nSiehe \u00fcber das Geh\u00f6rorgan des Flusskrebses und des Octopus: E. H. Weder de dure et auditu hominis et animalium. hips. 1820. Tab. 1. 2.\nBei keinem Wirbelthier ist das Geh\u00f6rorgan so einfach, als hei jenen Thieren. Fr\u00fcher glaubte man, dass die Petromyzon in dieser Hinsicht jenen gleichen, aber sie besitzen nach meinen Beobachtungen ein complicirtes Labyrinth und zwei halbcirkelf\u00f6rmige Can\u00e4le. Das Geh\u00f6rorgan zeigt \u00fcbrigens eine fortschreitende Ausbildung und Zusammensetzung von den Fischen bis zu den S\u00e4ugethieren. Uebcr seinen Bau hei den Wirbelthieren und heim Menschen handeln die Schriften von Scarta de auditu et olfactu. Ticini 1789. Weber a. a. O. Breschet recherches anatom, et physiol, sur l'organe de fouie. Paris 1836.\nA. Fische.\nBei den Fischen fehlt die Schnecke der h\u00f6heren Wirbelthiere und die Trommelh\u00f6hle. Dagegen haben sie das h\u00e4utige Labyrinth, n\u00e4mlich den Alveus communis canalium semicircularium, und meist den sackartigen Anhang desselben und halbcirkelf\u00f6rmige Can\u00e4le. Das membran\u00f6se Labyrinth liegt entweder ganz in der Substanz der Sch\u00e4delknorpel, wie hei den Knorpelfischen, n\u00e4mlich den Plagio-stomen und Cyclostomen, oder zum Theil in den Sch\u00e4delknochen, zum L heil innerhalb der Sch\u00e4delh\u00f6hle zwischen Gehirn und Sch\u00e4delwand, wie bei den Knochenfischen, bei den St\u00f6ren und Chi-maeren.\nWesentlicher sind folgende Hauptdifferenzen hei den Fischen.\n1.\tKur ein halbcirkelf\u00f6rmiger Canal, welcher ringf\u00f6rmig in sich zur\u00fcckkehrt, und wovon ein Thcd dem Alveus communis entspricht, wo sich n\u00e4mlich der Geh\u00f6rnerve ausbreitet. Die Myxi-noiden (Myxirie und Bdellostoma). Von Hetzius zuerst hei My-xiue beobachtet.\n2.\tZwei halbcirkelf\u00f6rmige Can\u00e4le, wovon jeder mit einer dreih\u00fcgeligen Ampulle aus dem Alveus communis canalium semicircu-laiium entspringt. Beide Can\u00e4le convergiren, in dem sie auf der Oberfl\u00e4che des Alveus communis aufliegen, und vereinigen sich bogenf\u00f6rmig; an dieser Stelle stehen sie durch eine Spalte zugleich zum zweiten Mal mit dem Alveus communis in Verbindung, an letzterm zugleich ein s\u00e4ckchenf\u00f6rmiger Anhang. Petromyzon und Ammocoetes. Siehe J. Mueller im Bericht \u00fcber die zur Bekanntmachung geeigneten Verhandlungen der K\u00f6nig!. Akademie der Wissenschaften. April 1836. Archiv 1836. LXXXIV.\nIn den beiden ersten Formationen enth\u00e4lt das Labyrinth keine Il\u00f6rsteine.\n3.\tDrei halbcirkelf\u00f6rmige Can\u00e4le in derselben Anordnung, vie hei den h\u00f6heren 1 liieren, n\u00e4mlich von einem Alveus com-","page":412},{"file":"p0413.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik der Geh\u00f6r Werkzeuge. Anatomische Formen. 413\nmunis ausgehend. Als Anhang des letztem der Sack. In beiden Concremcnte, wie hei Plagiostomen, oder harte kn\u00f6cherne H\u00f6r-steine, wie hei den Knochenfischen frei enthalten. Der Sack entspricht nicht der Schnecke der hohem Thiere und des Menschen, da der Alveus communis auch hei diesen einen kleinen sackartigen Anhang besitzt.\nBei den Plagiostomen giebt es auch eine Fortsetzung des Labyrinthes bis unter die Haut.\nBei den Haifischen setzt sich bloss die H\u00f6hle des Vestibuluni eartilagineum durch die Oeffnuug im ohern Hinterhauptstheil des Sch\u00e4dels bis unter die Haut fort. Bei den Rochen hingegen geht sowohl die H\u00f6hle des knorpeligen Labyrinthes, als das h\u00e4utige bis unter die Haut. Eine Grube im mittlern Hinterhauptstheil des Sch\u00e4dels, die von verd\u00fcnnter oder auch dichter \u00e4usserer Haut \u00fcberzogen ist, enth\u00e4lt vier Oeffnungen, zwei rechte, zwei linke. Jede hintere f\u00fchrt bloss zum knorpeligen Vorhof, und ist durch ein H\u00e4utchen geschlossen. Jede vordere geh\u00f6rt der Verbindung mit dem h\u00e4utigen Labyrinth an. Zwischen den zwei Oeffnungen im Sch\u00e4del und der Haut liegen n\u00e4mlich zwei h\u00e4utige S\u00e4cke, die H\u00f6hle eines Jeden setzt sich durch einen Canal, der durch die Sch\u00e4del\u00f6ffnung durchgeht, bis in den Alveus communis des h\u00e4utigen Labyrinthes fort. Dieser Sinus auditorius externus und sein Canal sind mit kohlensaurem Kalk gef\u00fcllt, wie solcher auch concremenlartig im Alveus communis vork\u00f6mmt. Der mit der Haut verwachsene Theil des Sinus auditorius \u00f6ffnet sich durch drei sehr enge Ca-n\u00e4lchen durch die \u00e4ussere Haut nach aussen. Mo Mio Vergleichung des Baues und der Physiologie der Fische. 1787. E. H. Weber a. a. 0. Tal/. IX. Bei den Chimaeren fand ich auch eine Oeff\u2019-nung im Sch\u00e4del und zwei entsprechende Verd\u00fcnnungen der Haut, aber die Oeff\u2019nung f\u00fchrt in die Sch\u00e4delh\u00f6hle, wo ein Theil des Labyrinthes liegt.\nBei den Knochenfischen k\u00f6mmt die Verbindung des kn\u00f6chernen Labyrinthes mit der \u00e4ussern Oberfl\u00e4che durch h\u00e4utig geschlossene Oeffnungen am Sch\u00e4del nur Ausnahmsweise vor, wie hei zwei Arten von Lepidoleprus nach Otto (Tiedemann Zeitschrift jiir Physiologie. 2. 1. p. 86. Lepidoleprus norv\u00e9giens hat diese Oeffnung nicht) und Mormyrus cyprinoides nach Heusinger (Meck. Arch. 1826. 324.)\nNach E. H. Weber\u2019s Entdeckung steht das Labyrinth mehrerer Fische mit der Schwimmblase in einer mittelbaren Verbindung.\nBei mehreren Fischen, wie den Cyprinus, Silurus, Cobitis geschieht diese Verbindung durch Vermittelung einer Kette von beweglichen Kn\u00f6chelchen. Bei den Cyprinen z. B. stehen beide membrau\u00f6se Labyrinthe, aus ihrem Alveus communis, den halb-cirkelf\u00f6rmigen Can\u00e4len und dem Steinsack bestehend, durch Con-tinuit\u00e4t der Membranen mit einem in der Basis des Hinterhaupts verborgen liegenden h\u00e4utigen Sinus impar in Verbindung, welcher sich nach hinten jederseits in ein h\u00e4utiges Atrium fortsetzt, welches an der Oberfl\u00e4che des ersten Wirbels gelegen, zum Theil eine kn\u00f6cherne Bedeckung hat. An dieses Atrium st\u00f6sst das er-","page":413},{"file":"p0414.txt","language":"de","ocr_de":"4 J 1 V. Buch. Von den Sinnen. 11. Abschn. Vorn Geh\u00f6rsinn.\nsie muschelartige Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen, das letzte ist mit dem -vordem Ende der Schwimmblase verbunden.\nBei den Sparoiden (Boops und Sargus) gehen vom vordem Ende der Schwimmblase zwei Can\u00e4le aus, deren Winde Enden an besondere, h\u00e4utig geschlossenen OefFnungen des Sch\u00e4dels befestigt sind.\nBei den Clupeen setzt sich das vordere Ende der Schwimmblase in einen Canal fort, der sich gabelig theilt. Jeder dieser Can\u00e4le tritt in einen Knochenkanal des Hinterhaupts, hier theilt er sich wieder gabelig, bis jedes der Can\u00e4lchen in einer kn\u00f6chernen Capsel sich erweitert. Die eine dieser Capsein enth\u00e4lt bloss das blinde Ende des Fortsatzes der Schwimmblase, in der andern aber st\u00f6sst ein Fortsatz des h\u00e4utigen Labyrinthes an den blinden Fortsatz der Schwimmblase.\nBei den Myripristis findet nach Cuvier auch eine Verbindung der Schwimmblase mit dem Labyrinthe statt. Der Sch\u00e4del ist unten offen, und nur von einer h\u00e4utigen Wand geschlossen, an welcher die Schwimmblase anh\u00e4ngt.\nDie Trommelh\u00f6hle und Eustachische Trompete der hohem Thiere, die Nebenh\u00f6hlen der Nase bei denselben, die Luits\u00e4cke der V\u00f6gel und die Schwimmblase der Fische geh\u00f6ren \u00fcbrigens in eine Klasse von Bildungen, indem sie sich als mit Luft gef\u00fcllte Recessus des Tractus respiratorius und intestinalis urspr\u00fcnglich bilden, m\u00f6gen sie sp\u00e4ter noch durch G\u00e4nge oder OefFnungen mit diesen H\u00f6hlen Zusammenh\u00e4ngen, oder sich davon ganz isoli-ren, wie die Schwimmblase mehrerer Fische, denen sp\u00e4ter der Verbindungsgang mit dem Schlunde fehlt, v. B.aer.\nVon den Amphibien an sind allgemein entweder ein oder zwei Fenster des Labyrinthes vorhanden, welche entweder ohne mit einer Trommelh\u00f6hle in Verbindung zu stehen, und bloss von Haut und Muskeln bedeckt, an die unter die Haut f\u00fchrenden Fortsetzungen des Labyrinthes einiger Fische erinnern, oder mit einer lufthaltigen Trommelh\u00f6hle in Verbindung stehen. Das membran\u00f6se Labyrinth liegt ganz innerhalb der Sch\u00e4dclknochen. Das Labyrinthwasser enth\u00e4lt nur selten H\u00f6rsteinchen, wie hei einigen Amphibien, namentlich den Fischartigen (Menobranchus), meist nur eine Kalkmilch von mikroskopischen Crystallen.\nBei den Amphibien kommen noch gr\u00f6ssere Variationen im Bau der Geh\u00f6rwerkzeuge vor. Sowohl unter den nackten als beschuppten Amphibien giebt es Familien, bei welchen die Trommelh\u00f6hle ganz fehlt, und andere, hei welchen sie mit Trommelfell und Eustachischer Trompete vorhanden ist, aber beide Abtheilungen sind darin durchaus verschieden, dass die nackten nur ein Fenster des Labyrinthes und keine Schnecke haben.\n\u00df, Nackte A in p h i b i c n.\nDas einzige Fenster, welches sie besitzen, ist das ovale odei Sleigb\u00fcgelfenster, welches durch den plaltenarligen oder kegel f\u00f6rmigen Steigb\u00fcgel geschlossen wird. Das runde oder Schuck keufenstcr fehlt mit der Schnecke,","page":414},{"file":"p0415.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik der Geh\u00f6rwerkzeuge. Anatomische Formen. 415\na.\tNackte Amphibien ohne Trommelh\u00f6hle.\nIhr Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen ist die Platte des Steigb\u00fcgels, bedeckt von den Muskeln und der Haut. Das membran\u00f6se Labyrinth besteht, wie bei den mehrsten Fischen, aus dem Alveus communis und drei halbcirkelf\u00f6rmigen Can\u00e4len. Hieher geh\u00f6ren die Coecilien, (Coecilia und Epicrium), die Derotreten, (Ainphiuma, Menopoma), die Proteideen, (Proteus, Menobranchus, Siren, Axolotes, wahrscheinlich auch Lepidosiren), die Salamandrinen, (Salamandra, Triton) und die Bombinatoren unter den Batrachiern oder schwanzlosen nackten Amphibien. Siehe Windischmann de penitiori au-ris in arpphibiis structura. Bonnae. 1831.\nb.\tNackte Amphibien mit Trommelh\u00f6hle.\nSie besitzen ein Trommelfell, welches entweder frei oder unter der dicken Haut verborgen liegt, 2\u2014 3 Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen, den mit dem Trommelfell verbundenen Hammer, welcher bloss ein kleines Knorpelpl\u00e4ttchen darstellt, den kn\u00f6chernen Amboss und Steigb\u00fcgel. Die Eustachische Trompete, ein Recessus [der Rachenh\u00f6hle, ist hier, wie immer mit dem Vorhandenseyn der Trommelh\u00f6hle verbunden. Hierher geh\u00f6ren alle Batrachier oder ungeschw\u00e4nzte nackte Amphibien mit Ausnahme der Bombinatoren.\nBei den ungeschw\u00e4nzten nackten Amphibien kommen die gr\u00f6ssten Verschiedenheiten im Aussentheil des Geh\u00f6rorganes vor. Man kann sie in 3 Familien bringen.\n1.\tBatrachier ohne Trommelh\u00f6hle, Trommelfell und Eustachische Trompete. Bombinatoren: die Gattungen Bombinator, (igneus), Cultripes Muell. (C. provincialis) und Pelobates Wagl. (P. fuscus Wagl.) es ist Cultripes minor Muell.\n2.\tBatrachier mit \u00e4usserlich sichtbarem oder unter der Haut verborgenem Trommelfell, Trommelh\u00f6hle, die grossentheiis h\u00e4utig ist, drei Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen und von einander getrennten Oetl-nungen der Eustachischen Trompeten. Hierher geh\u00f6ren die meisten Gattungen der Fr\u00f6sche und Kr\u00f6ten, von unseren z. B. Rana, Bufo, Alytes u. A.\n3.\tFr\u00f6sche mit knorpeligem Trommelfell, ganz von Knochen eingeschlossener Trommelh\u00f6hle, zwei Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen und vereinter einfacher Oeffnung der Eustachischen Trompeten in der Mitte des Gaumens. Hierher geh\u00f6ren bloss die zungenlosen Gattungen Pipa und Dactylethra. Von den drei Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen der vorigen, ist das erste zum knorpeligen Trommelfell geworden, das zweite erscheint als sehr langer gebogener Stiel, das\u2019 dritte ist ein kaum bemerkbarer, das Fenster verschliessender bl\u00e4ttchen-artiger Anhang des vorhergehenden. Siehe J. Mueller in Tie-demann\u2019s Zeitschrift 4. 2. und Muell. Archiv 183C. LXV1I.\nC. Beschuppte Amphibien.\nSie haben das Steigb\u00fcgel- und Schneckenfcnsler. Ihre Schnecke besitzt den Bau der Vogelschnecke (mit Ausnahme der Schildkr\u00f6ten,).\nit Beschuppte Amphibien ohne 'Trommelh\u00f6hle,","page":415},{"file":"p0416.txt","language":"de","ocr_de":"416 V. Buch. Von den Sinnen. II. Abschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nDas Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen ist die Steigb\u00fcgelplatte, welche in einen mehr oder weniger langen Stiel auslauft (Columella). Dieser und die Fenster sind von Muskeln und Haut bedeckt. Schlangen, auch Chirotes, Lepidosternon und Amphisbaena.\nb. Beschuppte Amphibien mit Trommelh\u00f6hle und Eustachischer Trompete.\nDie Columella der vorigen, ihr Ende ist an das Trommelfell durch eine faserknorpelige Masse befestigt. Schildkr\u00f6ten, Crocodile, Eidechsen. Auch die fusslosen mit Augenliedern versehenen Eidechsen, Bipes, Pseudopus, Ophisaurus, Auguis, Acontias. Siehe J. Mueller in Tiedemann\u2019s Zeitschrift 4. 2. Bei den meisten ist das Trommelfell aussen sichtbar, hei einigen der letzteren von der Haut bedeckt.\nD. V\u00f6gel.\nDas Geh\u00f6rorgan der V\u00f6gel gleicht in den mehrsten Puncten, so im Bau der Trommelh\u00f6hle, der Columella und der Schnecke demjenigen der Crocodile und Eidechsen. Die Trommelh\u00f6hle f\u00fchrt den H\u00f6hlungen der Kopfknochen Luft zu, wodurch der Umfang der resonirenden W\u00e4nde vergr\u00f6ssert wird. Die Schnecke ist nicht gewunden, und ein fast gerader blind geendigter Canal, der durch eine sehr feine membran\u00f6se Scheidewand in zwei Gange getheilt ist, die Scala tympani und Scala vestibuli. Die Scheidewand ist in einem Knorpelrahmen ausgespannt, der nach dem Ende sich wieder schlauchf\u00f6rmig umbiegt, und sich zur Lamelle der Scheidewand, wie der Schuh des Pantoffels zur Sohle verh\u00e4lt. Die W\u00f6lbung dieser Flasche wird durch eine gefassreiche in Querrunzeln gelegte Gef\u00e4sshaut \u00fcber die ganze L\u00e4nge der Schnecke fortgesetzt. Diese Runzeln sind es, welche Treviranus f\u00fcr isolirte Claviertastenartige Bl\u00e4tterchen (?) zuerst beschrieben. Im Alveus communis canalium semicircularium und der Flasche der Schnecke befindet sich ein crystallinisches Pulver von kohlensaurem Kalk. Siche Windischmann a. a. O. Vergl. Huscuke in Muell. Archiv. 1835. 335. Breschet Ann. d. sc. not. 1836. Muell. Archiv. 1837. LXIV.\nK. S\u00e4uget liiere.\nDas Geh\u00f6rorgan der S\u00e4ugethiere unterscheidet sich im Wesentlichen nicht vom Geh\u00f6rorgan des Menschen, und die Unterschiede der Einzelnen sind meist nicht von solcher physiologischen Wichtigkeit, dass sie hier erw\u00e4hnt werden d\u00fcrften. Die Schnecke ist immer gewunden, und besitzt eine um die Spindel laufende theils kn\u00f6cherne, tbeils h\u00e4utige Spiralplatte, nur die Schnecke des Schnabelthiers und der Echidna gleicht in allen Beziehungen derjenigen der V\u00f6gel. Die kn\u00f6cherne Trommelh\u00f6hle vieler S\u00e4ugethiere stellt eine grosse Knochenhlase dar, die meist von dein Os tympanicum gebildet wird. Bei Vielen setzt sich die Trommelh\u00f6hle in andern angrenzenden Knochen fort. Siche Uaukkbach die Paukenh\u00f6hle der S\u00e4ugethiere. Basel. 1835. Bei ci-","page":416},{"file":"p0417.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik der Geh\u00f6rwerkzeuge. Anatomische Formen. 417\nnigen giebt es aucli eine obere Trommel, indem das Felsenbein blasenartig nach oben und hinten heraustritt, wie bei den Pede-tes, Dipus, Macroscclides. Auf diese Weise werden die resoni-renden R\u00e4ume vergr\u00f6ssert. Die Cetaceen und das Schnabelthier haben kein \u00e4usseres Ohr, die Eustachische Trompete der Delphine \u00f6ffnet sich in die Nase, und der \u00e4ussere Geb\u00f6rgang der ganz im Wasser lebenden S\u00e4ugethiere ist ausserordentlich enge.\nUeber die feinere Ausbreitung der Nerven in der Schnecke und Tbeviramus und Gottsche\u2019s Beobachtungen siehe oben B.'I.Z.Aufl. p. 610. So wie die Nervenfasern in der Schnecke sich auf der Spiral-platte ausbreiten, um von zwei Seiten von Labyrinthwasser umgeben zu seyn, so breiten sie sich auch in den Ampullen nach Steifensands Entdeckung (Muell. Archiv. 1835. 171.) auf einem Vorsprunge aus, der aber die Ampulle nicht ganz durchsetzt, sondern bloss hineinragt. In der Ampulle der S\u00e4ugethiere befindet sich der Ausbreitung des Nerven entsprechend ein querer Wulst als unvollkommenes Septum. Bei den V\u00f6geln hingegen befindet sich auf diesem Septum ein oberer und unterer knopff\u00f6rmigendigender freier Schenkel, so dass das Ganze ein Kreuz darstellt, dessen quere Schenkel angewachsen, dessen senkrechte Schenkel frei sind. Bei der Schildkr\u00f6te hat das Septum als Wulst in der Mitte bloss einen erhabener. Umbo. Das Septum der vordem Ampulle steht schief auf der Wand der Ampulle und bat nicht den Umbo, in der \u00e4ussern Ampulle ist nur die eine H\u00e4lfte des Septum vorhanden. Beim Crocodil und den Eidechsen ist die \u00e4ussere Ampulle, wie bei der Schildkr\u00f6te; die anderen haben die kreuzf\u00f6rmige Bildung im Innern. Das Septum der Fische ist eine wulstige Querfalte.\nAlle akustischen Vorrichtungen am Geh\u00f6rorgan sind nur Leitungsapparate, wie am Auge die optischen Leitungsapparate des Lichtes sind. Da alle Materie Schallwellen leitet, so muss das H\u00f6ren schon unter den einfachsten Bedingungen m\u00f6glich seyn, denn alle materiellen Umgebungen des H\u00f6rnerven m\u00fcssen nun einmal den Schall leiten. Beim Auge war eine gewisse Construction nothwendig, die Lichtstrahlen oder Wellen so zu dirigiren, dass sie dieselbe Ordnung auf dem Nerven annehmen, wie sie vom Object ausgehen. Beim Geh\u00f6rsinn f\u00e4llt diess weg. Alle Medien leiten die in der Direction wie in der Zeitfolge verschiedensten Schallwellen trotz der mannigfaltigsten Kreuzungen ungest\u00f6rt; wo immer diese Wellen das Organ und seinen Nerven treffen, m\u00fcssen sie zur Perception kommen. Die ganze Ausbildung des Geh\u00f6rorganes kann daher bloss in der Erleichterung der Leitung und Multiplication der Wellen durch Resonanz beruhen und in der That lassen sich alle akustischen Apparate des Geh\u00f6rorganes auf diese beiden Principien zur\u00fcckf\u00fchren.\nZum H\u00f6ren an und f\u00fcr sich sind also weder Trommelfell, noch Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen, noch Schnecke, noch halhcirkelf\u00f6rmigc Can\u00e4le, noch seihst Vestibulum und Labyrinth Wasser noting. Daher alle diese Theile auch fehlen k\u00f6nnen. Das Geh\u00f6rorgan der Wirbellosen ist schon auf ein blosses Bl\u00e4schen reducirt und bei vielen Wirbellosen wird selbst dieses vermisst und cs scheint der","page":417},{"file":"p0418.txt","language":"de","ocr_de":"418 V. Buch. Von den Simen. II. Abschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nblosse specifische Nerve zu gen\u00fcgen. Jeder K\u00f6rper leitet Wellen; der K\u00f6rper eines Thiers und die n\u00e4chsten Umgebungen des Geh\u00f6rnerven nehmen sie in derselben Ordnung auf, in der sie das schallleitende Medium fortpflanzt, es kann daher nicht einmal behauptet werden, dass die Unterscheidung der H\u00f6he und der relativen St\u00e4rke der Wellen besondere Apparate erfordere, aber die Sch\u00e4rfe und absolute Intensit\u00e4t der T\u00f6ne wird mit der akustischen Ausbildung des Organes zunehmen.\nDie Bedeutung dieser Apparate wird am besten erkannt, wenn man sie v\u00f6n ihren einfachsten Formen bis zu dem, was allm\u00e4hlig hinzuk\u00f6mmt, verfolgt; auf diesem Wege lernt man das kennen, was von anderem unabh\u00e4ngig ist und was sich gegenseitig bedingt.\nII. Von der Schallleitung bis zum Labyrinth bei den im Wasser h\u00f6renden Thieren.\nBei den in der Luft lebenden Thieren gehen die Schallwellen der Luft zuerst an feste Theile des Thieres und des Geh\u00f6rorganes und von diesen zum Labyrinthwasser \u00fcber. Die St\u00e4rke des Geh\u00f6rs eines in der Luft lebenden und in der Luft h\u00f6renden Thieres muss daher davon abh\u00e4ngen, in welchem Grade die festen Theile des Geh\u00f6rorganes Luftwellen aufzunehmen f\u00e4hig sind und welche Verminderung der Excursionen der schwingenden Theilchen beim Uebergang der Schwingungen aus der Lull an die \u00e4usseren Theile des Geh\u00f6rorganes stattfindet, in welchem Grade ferner das Wasser des Labyrinthes Schwingungen der \u00e4usseren Theile des Geh\u00f6rorganes aufzunehmen f\u00e4hig ist. Der ganze \u00e4ussere Theil des Geh\u00f6rorgans ist, wie wir sehen werden, darauf berechnet, die an sich schwierige Aufnahme von Luftschwingungen an feste Theile zu erleichtern.\nBei den im Wasser lebenden und i:n Wasser h\u00f6renden Thieren ist das Problem ein ganz anderes. Das Medium, welches die Schallschwingungen zuf\u00fchrt, ist Wasser, es bringt sie zu den festen Theilen des Thierk\u00f6rpers, von da sie gelangen wieder in Wasser, zum Labyrinthwasser. Die Intensit\u00e4t des Geh\u00f6rs h\u00e4ngt hier wieder davon ab, in welchem Grade die festen Theile des Geh\u00f6rorganes, durch welche die Schallwellen zuerst hindurch m\u00fcssen, f\u00e4hig sind, Wellen aus dem umgebenden Wasser aufzunehmen und wieder an Wrasser (des Labyrinthes) abzugehen, und welche Verminderung der Excursionen der schwingenden Theilchen bei diesem Uebereange stattfindet. Wir werden hier wieder sehen, dass der ganze \u00e4ussere Theil des Geh\u00f6rorganes darauf berechnet ist, diesen Uebergang zu erleichtern.\nDa die Mittheilung der Wellen aus der Luft an feste K\u00f6rper, und aus dem Wfasser an feste K\u00f6rper sehr ungleich ist und durch sehr ungleiche Mittel verst\u00e4rkt wird, so hat die Natur im \u00e4ussern Theile des Geh\u00f6rorganes bei den in der Luft und im Wasser h\u00f6renden Thieren ganz verschiedene Apparate dazu noting gehabt, w\u00e4hrend hingegen der innere Theil des Geh\u00f6rorga","page":418},{"file":"p0419.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik d. Geh\u00f6r Werkzeuge. Schallleitung />. d. JVasserlh. 419\nnes in beiden F\u00e4llen viel mehr uniform ist. Im Allgemeinen ist das Problem bei den im Wasser lebenden Thieren einfacher. Der Uebergang der Schwingungen vom \u00e4ussern Medium bis zum Nerven geschieht durch 3 aufeinanderfolgende Leiter, wovon 2 aber gleich sind; 1) \u00e4usseres Wasser, 2) feste Theile des Thieres und Geh\u00f6rorganes, 3) Labyrinthwasser. Bei den Luftthieren geschieht die Mittheilung durch 3 aufeinander folgende Medien, welche s\u00e4rnmtlich ungleich sind, Luft, feste Theile des Thieres und Geh\u00f6rorganes, Wasser des Labyrinthes. Aus. diesem und keinem andern Grunde ist das Geh\u00f6rorgan der Luftthiere im Allgemeinen zusammengesetzter, als das der Wasscrthiere. Da das Geh\u00f6rorgan der im Wasser lebenden Thiere, wie der Fische, in der Regel ganz von festen Theilen eiugeschlossen ist, so ist die erste Frage diese, wie verh\u00e4lt sich die Mittheilung von Schallwellen aus dem Wasser an feste Theile und von diesen an Wasser (das Labyrinthwasser)? Beim Uebergang von Luftwegen an feste K\u00f6rper findet eine betr\u00e4chtliche Verminderung der Excur-sionen oder St\u00f6sse der schwingenden Theilcben statt, w\u00e4hrend die Mittheilung der Wellen aus t\u00f6nender Luft an Luft, und von t\u00f6nenden festen K\u00f6rpern an feste K\u00f6rper ohne alle Verminderung' geschieht. Den vollen Ton eines festen K\u00f6rpers, wie einer Saite (ohne Resonanzboden), h\u00f6rt man nur dann, wenn er vom festen K\u00f6rper durch feste K\u00f6rper bis zu festen Theilen des Geh\u00f6rorganes geleitet wird, z. B. indem man einen Stab zwischen den Steg der Saite und das ausgestopfte \u00e4ussere Ohr legt. Befindet sich aber Luft zwischen dem t\u00f6nenden festen K\u00f6rper und dem Ohr, so ist der Ton schwach, denn die Mittheilung der Weben aus einem festen K\u00f6rper an die Luft ist schwer und geschieht mit einer Verminderung der Excursion der schwingenden Theilchen oder des Stosses. Umgekehrt wird der Ton t\u00f6nender Luft (wie eines Blaseinstrumentes) vortrefflich durch die Luft fortgeleitet und zum Geh\u00f6rorgan gebracht, theilt sich dagegen schwer und nur mit einer Verminderung der Intensit\u00e4t der St\u00f6sse festen K\u00f6rpern mit. Daher der Ton einer Pfeife nicht besser geh\u00f6rt wird, wenn man an das zugestopfte Ohr einen Stab bringt, der bis in d'ie N\u00e4he der t\u00f6nenden Luft reicht. Ist es nun ebenso beim Uebergang von Wellen des Wassers an feste K\u00f6rper? findet auch hier eine Verminderung der St\u00f6sse statt?\nUeber diesen Gegenstand sind noch gar keine Untersuchungen angestellt. Der bisherige unvollkommene Zustand der Akustik der Geh\u00f6rwerkzeuge, welche, richtiger gesagt, wohl kaum noch existirte, bestimmte mich, eine Reihe Untersuchungen zu diesem Zwecke anzustellen, wovon ich hier die Resultate mittheile.\n1. Die festen K\u00f6rper nehmen die im IVasser seihst erzeugten Schallwellen mit grosser St\u00e4rke aus dem Wasser auf.\nEin Becken von Glas, Porzellan, Holz ist bis an den Rand mit Wasser gef\u00fcllt. Auf dem Wasser schwimmt eine Schale, ohne das Becken zu ber\u00fchren, in der Schale erregt man durch Herabfallen eines K\u00f6rpers einen Schall. Stopft man sich die Ohren fest mit Bolzen von gedrehtem Papier zu, deren in den Ge-","page":419},{"file":"p0420.txt","language":"de","ocr_de":"420 V. Buch. Von den Sinnen. II. Abschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nh\u00f6rgang gebrachtes Ende vorher gekaut war, und deren \u00e4usseres, trockenes Ende aus dem Ohr heraussteht, so h\u00f6rt man durch die Luft den Schall eines festen K\u00f6rpers \u00e4usserst schwach, durch einen Stab von Holz oder besser eine Glasr\u00f6hre, die man an den t\u00f6nenden festen K\u00f6rper und an den Bolzen im Ohr h\u00e4lt, \u00e4usserst stark. Taucht man nun den an das Ohr gehaltenen Stab in das Wasser des Beckens, w\u00e4hrend man etwas in die schwimmende Schale fallen l\u00e4sst, so h\u00f6rt man aus dem Wasser einen sehr starken und reinen Klang, wie er der Schale eigen ist und sehr viel st\u00e4rker, als dieser Schall durch die Luft geleitetwird. In diesem Fall sind die Schallwellen aus der Schale oder dem festen K\u00f6rper an das Wasser und aus dem Wasser wieder an den Stab und so zum Geh\u00f6rorgan gelangt. Daraus sieht man beides, dass t\u00f6nende feste K\u00f6rper nicht bloss ihre Schallwellen mit grosser St\u00e4rke an das Wasser abgeben, sondern dass auch das Wasser sie mit grosser St\u00e4rke wieder an feste K\u00f6rper, den Stab abgiebt, durch welchen man sie h\u00f6rt. Wird der Stab beim Versuch ins Wasser gehalten, oder damit die Wand des grossem Beckens ber\u00fchrt, so sind die Bedingungen ziemlich gleich. Der Schall geht aus der Schale ins Wasser, aus diesem entweder unmittelbar in den Stab, oder durch Vermittelung eines zweiten festen K\u00f6rpers in den Stab. Im letztem Fall kann der Schall etwas st\u00e4rker seyn, indem noch die Besonanz des Beckens in Betracht kommt.\nII.\tSchallwellen fester K\u00f6rper gehen st\u00e4rker durch andere damit in Verbindung gesetzte, feste K\u00f6rper fort, als aus festen K\u00f6rpern in Wasser, aber viel st\u00e4rker aus festen K\u00f6rpern im Wasser, als aus festen K\u00f6rpern in der Luft fort.\nDiess ergiebt sich leicht bei dem vorhergehenden Versuch. Am st\u00e4rksten ist n\u00e4mlich der Ton, wenn man den mit dem Bolzen des Ohrs in Verbindung gesetzten Stab lose an die auf dem Wasser schwimmende Schale selbst h\u00e4lt, w\u00e4hrend ein Ton darin erregt wird. Schon viel schw\u00e4cher ist der Ton des Wassers umher, wenn man den Stab hineinh\u00e4lt. Aber die Luft leitet den Schall der Schale am schw\u00e4chsten; denn der Ton, der durch sie allein zum Bolzen des Ohrs k\u00f6mmt, ist sehr viel schw\u00e4cher im Verh\u00e4ltniss zu dem Ton, der aus der Schale selbst und aus dem Wasser durch den Stab zum Bolzen oder Obturator des Ohrs geleitet wird.\nIII.\tSchallwellen der Luft theilen sich dem Wasser sehr schwer und sehr viel schwerer, als sie in der Luft fort gehen; sie theilen sich aber dem Wasser sehr leicht mit durch Vermittelung einer gespannten Membran.\nDass man im Wasser T\u00f6ne vernimmt, welche in der Luft erregt werden, ist eine bekannte Thatsache; aber von grossem Interesse scheint mir die von mir beobachtete Thatsache, dass eine gespannte Membran, welche Wasser und Luft zugleich ber\u00fchrt, den Uebergang der Luftwellen in das Wasser in einem ausserordentlichen Grade erleichtert. Lasse ich eine einfach ; messingene oder h\u00f6lzerne Pfeife ohne Seitenl\u00f6cher, so anbla-sen, dass das untere Ende in Wasser taucht, so h\u00f6re ich Lei","page":420},{"file":"p0421.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik d. Geh\u00f6rwerkzeuge. Schallleitung L. d. Wasserfh. 421\nverstopften beiden Obren den Ton mittelst des in das Wasser getauchten Stabes nur sehr schwach, selbst dann, wenn die Fl\u00e4che des Wassers senkrecht auf die Achse der Pfeife ist, die Luftwellen also senkrecht auf das Wasser stossen. Wird hingegen das untere Ende der Pfeife mit einer d\u00fcnnen Membran (Schweinsblase) zugebunden, die nur wenig gespannt ist, so h\u00f6re ich bei verstopften Ohren, wenn die ins Wasser gehaltene Pfeife angeblasen wird, den Ton sehr stark mit dem an den Obturator des Ohrs und ins Wasser gehaltenen Stabe, besonders, wenn sich der Stab in der Richtung der Wellenbewegung oder in der Direction der Pfeife befindet. Diese T\u00f6ne sind sehr klangreich. Der tiefste oder Grundton der Pfeife beim schw\u00e4chsten Blasen oder auch einer der mittlern T\u00f6ne eignen sich am besten zum Versuch. Zum Stabe bedient man sich eines Stabs von Holz oder noch besser einer Glasr\u00f6hre von 6 \u2014 8 Linien Durchmesser, deren W\u00e4nde senkrecht gegen die Direction der Schallwellen des Wassers gehalten werden. F\u00e4hrt man, bei an das verstopfte Ohr gehaltener R\u00f6hre, mit dieser im Wasser hin und her, so schwillt jedesmal der Ton sehr stark an, so wie er vor der Membran der Pfeife vorbei geht. Diese Vorrichtung ist bei den weiteren Versuchen \u00fcber das H\u00f6ren im Wasser und die akustische Bedeutung der einzelnen Theile des Geh\u00f6rorganes unentbehrlich; sie hat mir die gr\u00f6ssten Dienste geleistet und ich w\u00e4re ohne dieselbe zu keinen Resultaten gekommen. Bei den hohen T\u00f6nen der Pfeifen ist die Verst\u00e4rkung wenig oder gar nicht bemerkbar. Dieser Versuch beweist auch, dass die Verbreitung der Schallwellen sich im Wasser wie in der Luft verh\u00e4lt, dass n\u00e4mlich die Stosswellen in der Richtung des urspr\u00fcnglichen Stosses st\u00e4rker sind, wenn gleich die Wellen auch im Allgemeinen kreisf\u00f6rmig oder kugelf\u00f6rmig sind.\nIV. Schallwellen, die sich im Wasser jurtp\u00dfanzen, und durch begrenzte feste K\u00f6rper durchgehen, theilen sich nicht bloss stark dem festen K\u00f6rper mit, sondern resoniren auch von den Oberfl\u00e4chen des festen K\u00f6rpers in das Wasser, so dass der Schall im Wasser in der N\u00e4he des festen K\u00f6rpers auch da stark geh\u00f6rt wird, wo er zufolge der blossen Leitung im Wasser schw\u00e4cher seyn w\u00fcrde.\nWird n\u00e4mlich der im vorhergehenden \u00a7. beschriebene Versuch angestellt, so h\u00f6rt man bei verstopften Ohren den Ton der ins Wasser gehaltenen, am Ende durch Membran geschlossenen Pfeife, mittelst des ins Wasser getauchten Conductors in der Direction der Pfeife sehr stark, wenn sich bloss Wasser zwischen dem Ende der Pfeife und dem Conductor befindet. Wird nun zwischen beide ein d\u00fcnnes Brettchen von Holz gebracht, so dass die Schallwellen vom Wasser durch die Zwischenwand, dann wieder durchs Wasser bis zum Conductor gelangen, so h\u00f6rt man den Ton in der Direction der Pfeife so stark, oder fast eben so stark, als wenn das Brettchen weggenommen wird, aber man h\u00f6rt auch den1 Ton in der N\u00e4he der Oberfl\u00e4chen des ganzen Brettchens ziemlich stark, wenn der Conductor bloss das Wasser in der N\u00e4he der W\u00e4nde des Brettchens ber\u00fchrt, ohne an das Brettchen an-zustossen. Der Ton ist hier st\u00e4rker, als im \u00fcbrigen Wasser.","page":421},{"file":"p0422.txt","language":"de","ocr_de":"422 V. Buch. Von den Sinnen. II. Ahsclm. Vorn Geh\u00f6rsinn.\nDiese Verst\u00e4rkung findet in der N\u00e4he aller W\u00e4nde des Brettchens statt, und ist in ziemlicher Entfernung von dem Hauptzug des Stosses noch merklich. Wird das resonirende Brettchen entfernt, so ist der Ton nur an den Stellen stark, welche dem Stoss der Wellen der Pfeife gegen\u00fcber liegen. Auch in der N\u00e4he der W\u00e4nde des Wasserbeckens ist die Resonanz dieser W\u00e4nde merklich, wenn sie von Holz sind.\t\u2022\nV.\tSchallwellen, die sich im IVtasset- fortpflanzen, erleiden, auch eine theilweise Reflexion von den Wiitiden des festen K\u00f6rpers.\nDieser Satz, der hei der Akustik des Labyrinthes benutzt wird, muss hier schon im Zusammenh\u00e4nge erw\u00e4hnt werden. Am besten \u00fcberzeugt man sich von der theilweisen Reflexion der Schallwellen im Wasser, mittelst der mehrfach erw\u00e4hnten Vorrichtung. Die mit Membran geschlossene Pfeife wird n\u00e4mlich in das Wasser eines grossem Beckens getaucht. In diesem befindet sich ein mit Wasser ebenfalls gef\u00fcllter, am Ende verschlossener, gl\u00e4serner Cylinder von \u00f6 Zoll L\u00e4nge, der von einer Person mit den H\u00e4nden umfasst und so gehalten wird, dass keine Ber\u00fchrung mit den W\u00e4nden des Beckens stattfindet. Das Ende der Pfeife wird in die M\u00fcndung des Cylinders eingesenkt und dann schwach ihr Grundton \u00e4ngeblasen. Wird nun der Conductor ebenfalls gegen die M\u00fcndung des Cylinders gehalten, ohne die W\u00e4nde des Cylinders und der Pfeife zu ber\u00fchren, so h\u00f6rt man hei verstopften Ohren mittelst des Conductors den Ton der Wasserwellen eben so stark, als wenn er der M\u00fcndung der Pfeife entgegengesetzt w\u00e4re. Diese St\u00e4rke des Tons ist eine Folge der Reflexion von den W\u00e4nden des Cylinders, nicht bloss der Reson-nanz des Cylinders. Denn die St\u00e4rke des Tons bleibt sich gleich, wenn man die Resonanz des Cylinders m\u00f6glichst geschw\u00e4cht hat durch Ueberziehen seiner inneren W\u00e4nde mit. einer Lage von Talg und D\u00e4mpfung seiner \u00e4usseren W\u00e4nde durch Umfassen mit beiden H\u00e4nden. Dagegen ist der Ton im Wasser an der \u00e4ussern Umgebung des Cylinders viel schw\u00e4cher.\nVI.\tD\u00fcnne Membranen leiten den Schall im IVasset- ungeschlacht, m\u00f6gen sie gespannt oder ungespannt seyn.\nWurde n\u00e4mlich im Wasser zwischen das membran\u00f6s geschlossene Ende der Pfeife und den in der Direction der Pfeife gehal-nen Conductor, eine membran\u00f6se Scheidewand aufgestellt, so zeigte sich nicht der geringste Unterschied in der St\u00e4rke des Schalles, w\u00e4hrend er in den seitlichen Richtungen \u00fcberall schwach war. Zuerst wurde zur Scheidewand eine gespannte Membran benutzt, ein St\u00fcck Schweinsblase \u00fcber einen grossen Ring gespannt. Aber ungespannte Membranen, die bloss im Wasser aufgeh\u00e4ngt werden, zeigen denselben Erfolg. Ich legte mehrere Schichten getrockneter und wieder erweichter Schweinsblase auf einander, dr\u00fcckte sie zusammen und die Luft zwischen ihnen aus, und hing die st\u00e4rkere Scheidewand auf. Selbst wenn 4 \u2014 8 Lamellen dicht auf einander lagen, wurde noch einige Verst\u00e4rkung in der Richtung der Pfeife bemerkt. Noch mehrere Membranen hoben sie auf. Ein St\u00fcck Haut des Menschen und die 3 Linien dicke Wand des Uterus eiuer Schw\u00e4ngern als Scheidewand benutzt,","page":422},{"file":"p0423.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik d. Geh\u00f6r Werkzeuge. Schaf/leitung h. d. Wasscrth. 423\nlioben alle Verst\u00e4rkung auf, und der Ton wurde hinter der Scheidewand nicht st\u00e4rker, als an jeder andern Stelle des Wassers vernommen, die ausser der Hauptdirection der Wellen war.\nVII.\tAus dem III. IV. und VI. Satze erkl\u00e4rt sich der Vorgang der SchalHeitung hei den meisten im Wasser lebenden, nicht luftath-menden Thieren.\nWenn wir bei sehr fest verstopften Ohren Schallwellen des Wassers mittelst eines h\u00f6lzernen. Conductors h\u00f6ren, so versetzen wir uns ganz in den Zustand des Fisches, und h\u00f6ren die T\u00f6nte so wie dieser. Untertauchen des Kopfes ins Wasser ist weder noting, noch zu einer ruhigen Beobachtung geeignet. Der feste Conductor erweitert die festen Theile unseres Kopfes, und setzt sie wie heim Fisch unmittelbar den Schallwellen des Wassers aus. Das einfache oder zusammengesetzte Labyrinth der im Wasser lebenden Thiere ist entweder ganz von den Sch\u00e4delknorpeln und Knochen eingeschlossen, wie bei den Sepien, Cyclostomen und Knochenfischen, oder es ist zugleich eine Communication des Labyrinthes mit der Oberfl\u00e4che des Thiers vorhanden , und die Vermittelung geschieht auch durch Membran. Dahin geh\u00f6rt die Membran vor der H\u00f6rcapsei der Krebse, und das Fenster der Plagiostomen auf der Oberfl\u00e4che des Kopfes, welches von verd\u00fcnnter Haut geschlossen ist. Die Kopfknochen sind \u00fcbrigens auch der Resonanz im Wasser f\u00e4hig, d. h. die ihnen mitgetheil-ten Schwingungen prallen zum Theil von ihren Oberfl\u00e4chen zur\u00fcck, und bilden in ihnen seihst zur\u00fccklaufende Wellen, welche dem Labyrinth zu Gute kommen. Diess folgt aus den im IV. Satz erw\u00e4hnten Thatsachen. Bei den Haifischen und Rochen mit weichem knorpeligem Skelet mag diese innere Resonanz der Kopfknochen geringer seyn, als hei den Knochenfischen. Daher ist vielleicht bei ihnen die fensterartige membran\u00f6se Verbindung des Labyrinthes mit der Oberfl\u00e4che noting gewoi\u2019den. Bei den Cyclostomen geh.\u00f6rt die Geh\u00f6rcapsel zu den festen Thei-len des Skelets. Bei ihnen liegen noch Muskeln \u00fcber der Ge-h\u00f6-rcapsel, welche die Schallleitung vermindern m\u00fcssen.\nVIII.\tLu\u00dfmassen resoniren im Wasser von den Schallwellen des Wassers, wenn die Luft, von Membranen oder festen K\u00f6rpern eingeschlossen ist, und bringen dadurch eine ansehnliche Verst\u00e4rkung des Tones hervor.\nEine Person erregte mittelst der mit Membran geschlossenen in Wasser gesenkten Pfeife Schallwellen im Wasser in bestimmter Richtung, w\u00e4hrend ich mit dem ins Wasser getauchten Conductor, diese meinem verstopften Ohr zuleitete. Nun wurde zwischen das Ende der Pfeife im Wasser und den Conductor die Schwimmblase einer Pl\u00f6tze mit den Fingern frei im Wasser hingehalten, so dass die Schwimmblase weder die Pfeife noch den Conductor ber\u00fchrte. In diesem Falle wird der mit dem Conductor h\u00f6rbare Ton ausserordentlich viel st\u00e4rker, als wenn die Schallwellen zu dem im Wasser, in derselben Entfernung gehaltenen Conductor bloss durch das Wasser, und nicht zugleich durch die Schwimmblase gelangen. Hierdurch wird bewiesen, 1) dass der Schall durch Vermittelung von Membranen sehr leicht vom\nM\u00fcller\u2019s Physiologie. 2r Bd. II.\t28","page":423},{"file":"p0424.txt","language":"de","ocr_de":"424 V. Buch. Von den Sinnen. II. Abschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nWasser zur Luft nn<l umgekehrt \u00fcbergeht, und keine Schw\u00e4chung erleidet; 2) dass er, wenn die Luft zugleich von Membranen eingeschlossen ist, die von Wasser allseitig umgehen sind, durch die Resonanz der begrenzten Luft bedeutend verst\u00e4rkt wird, indem die Schallwellen von den Grenzen der Luft zum Theil zur\u00fcckgeworfen werden und dadurch st\u00e4rkere Schallwellen entstehen.\nXI. Mit Luft gejiillte Membranen resoniren im Wasser, auch wenn die Schallwellen von festen K\u00f6rpern der Blase mitgefheilt werden.\nWurde die Schwimmblase einer Pl\u00f6tze in den Spalt eines St\u00e4bchens durch Einklemmung befestigt, der Stab an die W\u00e4nde eines Beckens festgehallen, so dass die Schwimmblase ins Wasser frei fcineinragle, dann eine t\u00f6nende Stimmgabel auf den Rand des Reckens aufgesetzt, so h\u00f6rte ich die dem Wasser mitgetheil-ten Schallwellen mittelst des an die verstopften Ohren gehaltenen Conductors sehr viel st\u00e4rker in der N\u00e4he der Schwimmblase, als an anderen Stellen des Wassers, die gleichweit von der Ursprungsstelle des Schalls entfernt waren und der Ton war so stark, wie wenn ich den Conductor im Wasser den W\u00e4nden des Beckens n\u00e4herte.\nBei dichterer Luft muss diese Resonanz st\u00e4rker scyn. Diess folgt bereits aus dem f\u00fcr die Schallleitung in der Luft geltenden Gesetz, dass die Intensit\u00e4t mit der Dichtigkeit der Luft zunimmt, und dass der Schall einer Glocke im verd\u00fcnnten Luftraum sehr schwach wird bis zum Schweigen. Directe Versuche mit einer Schwimmblase zeigen jedoch nur einen sehr geringen Unterschied, wenn ihre Luft comprimirt wird, als wenn sie schlaff ist. Ich stellte den Versuch so an, dass ich die Schwimmblase an das Rohr einer luftdichten Spritze anband, durch welche die Blase mit sehr condensirter Luft gef\u00fcllt werden konnte. Die Schwimmblase dehnt sich dabei fast gar nicht aus, weil sie von einer \u00e4ussern sehnigen Haut umgeben ist.\nX. Aus den vorhergehenden Thalsachen folgt, dass die Schwimmblase bei den Fischen zugleich Resonator f\u00fcr die durch den K\u00f6rper, des Fisches durchgehenden Schallwellen ist.\nDieser Luftraum bekommt die Schallwellen des Wassers theils durch die weichen Theile (fes K\u00f6rpers des Fisches, theils durch die Knochen, namentlich die Wirbels\u00e4ule, vor weicher sie liegt, zugeleitet, und wird eine Ursprungsstelle f\u00fcr Resonanzwel-len, welche sich hier wieder ihren Umgebungen, namentlich den Knochen mittheilen. Im Allgemeinen kann daher nicht gel\u00e4ugnet wepden, dass die Schwimmblase selbst Lei den Fischen, hei welchen sie nicht mit dem Geh\u00f6rorgane zusammenh\u00e4ngt, Einiges zur st\u00e4rkern Wirkung des Schalles auf das Geh\u00f6rorgan beitrage. Wo aber diese Verbindung besieht, sei es durch eine Ivette von Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen bis zum Labyrinth, oder durch unmittelbares An-stossen der Schwimmblase an das membran\u00f6se Labyrinth, steht die Schwimmblase als Resonanzboden, Condensat\u00f6r und Leiter der den ganzen K\u00f6rper treffenden Schallwellen mit dem Labyrinthe in der unmittelbarsten Wechselwirkung. Bei den Cobi-tis scheint diese Function der Schwimmblase Hauptzweck gewor-","page":424},{"file":"p0425.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik d. Geh\u00f6r Werkzeuge. Schallleitung b. d. Was $ er th. 425\nden zu seyn. Ihre selir kleine Schwimmblase liegt in einer blasigen Aush\u00f6hlung des. zweiten Wirbelk\u00f6rpers, und ist zum gr\u00f6ssten Theile von Knochensubstanz umgeben, w\u00e4hrend sie nach vorne mit dem Labyrinthe durch die Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen zusammenh\u00e4ngt.\nDa die F\u00e4higkeit zur Leitung und Resonanz mit der Dichtigkeit der Luft ip der Schwimmblase zunimmt, so muss die Einwirkung dieses Organes in grossen Tiefen des Wassers, wo es durch den verst\u00e4rkten Druck bedeutend comprimirt wird, auf das Geh\u00f6r st\u00e4rker seyn. J. Mueller\u2019s Physiologie des Gesichtssinnes 1826. p. 441. Vergl. Carus im Bericht \u00fcber die Versammlung der Naturforscher in Jena. IVeimar 1837.\nBei den im Wasser lebenden Amphibien wie den Proteideen, Amphiumen, Menopomen, Tritonen, Bombinatoren ist die Schall-leitnng vom Wasser zum Labyrinthwasser ausser der Leitung der Kopfknochen nicht durch ein mit der Haut geschlossenes Fenster, wie bei den Rochen und Haifischen , sondern durch ein Fenster mit einem beweglichen Deckelchen, der Steigb\u00fcgelplatte erleichtert. Dieses ist durch Membran an den Band des Fensters geheftet, \u00fcber ihm, wie \u00fcber den Kopfknochen liegen Haut und Muskeln. Man kann mittelst einer \u00e4hnlichen Vorrichtung leicht sich \u00fcberzeugen, wie viel dieses Fenster beim H\u00f6ren im Wasser leistet. Die Uauptvorlheile dieser Einrichtung sind jedoch nicht f\u00fcr das H\u00f6ren im Wasser, sondern f\u00fcr das H\u00f6ren in der Luft berechnet, wie sich hernach ergeben wird. Zum H\u00f6ren im Wasser w\u00fcrde die Einrichtung des Fensters nicht n\u00f6thig gewesen seyn. Die genannten Amphibien sind Luftthiere und Wasserthiere zugleich.\nIII. Von der Schallleitung bis zum Labyrinth bei den in der Luft lebenden Thieren.\nDie intensive Schallleitung von der Oberfl\u00e4che des Thiers bis zum Labyrinthwasser erfordert bei einem in der Luft lebenden Thiere einen viel zusammengesetztem Apparat, als bei den Wasserthieren. Denn die Mittheilung des Schalls von der Luft an die festen Theile, welche das Geh\u00f6rorgan und Labyrinthwasser umgeben, ist sehr viel schwieriger, als die Mittheilung des Schalls im Wasser von diesen an feste' Theile. Daher kommen nun hei den meisten Luftthieren zwei Fenster vor, wovon das eine durch Membran, das andere durch einen festen Deckel geschlossen ist, Die meisten haben auch eine Trommel und Trompete und eine doppelte Leitung zum Labyrinth, die eine, wo die Leitung vom Trommelfell aus durch feste K\u00f6rper, Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen zum Labyrinthwasser geschieht, Weg des ovalen Fensters; die zweite, wo die Leitung vom Trommelfell zum secund\u00e4ren Trommelfell des runden Fensters und Labyrinthwassers durch Vermittelung von Luft geschieht Der Disput in den physiologischen Schriften, auf welchem dieser Wege die Leitung geschehe, hat gar keinen physicalischen Sinn. Die Luft leitet, Membranen leiten, Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen leiten, jedes tliut also, was cs nicht lassen kann.\n28*","page":425},{"file":"p0426.txt","language":"de","ocr_de":"426 V. Buch-, Von den Sinnen. II. Abschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nEine doppelte gleichzeitige Leitung verschiedener Art muss nat\u00fcrlich den Eindruck verst\u00e4rken. Die Gesetze dieser Leitung sind bisher nicht ermittelt. Hier wird dieser Gegenstand einer ebenso ausf\u00fchrlichen Untersuchung unterworfen, wie das H\u00f6ren im Wasser.\nUm den akustischen Werth jedes Organtheils kennen zu lernen, muss man sie in ihrer stufenweisen Entwickelung studiren.\na. Luftt liiere o Ii n c Tr omm e 1 li \u00f6 h 1 e.\nDie Lufttliiere ohne Trommelh\u00f6hle sind fast nie auf die blosse Leitung durch die Kopfkuocbcn angewiesen. Die Mittheilung von der Luft an feste Theile ist zu schwach, als dass sie gen\u00fcgen k\u00f6nnte. Fast alle Lufttliiere, auch diejenigen ohne Trommelh\u00f6hle, haben Fenster, welche zum Labyrinth f\u00fchren, und bei den letztem sind sie von Haut und Muskeln bedeckt. Nur bei Rhinopbis und Typhlops fand ich keine Fenster und Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen.\nI. Schallwellen, welche aus der Luft ins IVasser \u00fcbergehen, erleiden eine betr\u00e4chtliche Verminderung ihrer Intensit\u00e4t, gehen aber mit der gr\u00f6ssten St\u00e4rke von der Luft zum Wasser durch Vermittelung einer gespannten Membran \u00fcber.\nDieses ist das Grundph\u00e4nomen, von welchem wir ausgehen. Der einfache Beweis ist in dem Versuche gegeben, dass die T\u00f6ne einer Pfeife, die mit ihrem Ende in Wasser getaucht wird, auch wenn die Schallwellen senkrecht auf das Wasser stossen, nur sehr schwach aus dem Wasser mittelst des an die verstopften Ohren gehaltenen Conductors geh\u00f6rt werden, dass der Ton aber sehr stark ist, wenn das ins Wasser getauchte Ende der Pfeife mit einer d\u00fcnnen Membran geschlossen ist. Hierdurch ist sogleich die Wirkung des runden Fensters und seiner Membran klar. Es vermittelt die intensive Leitung der Schallwellen aus der Luft an das Labyrinthwasser, mag eine Trommelh\u00f6hle vorhanden sev-n oder nicht. Liegt auch die d\u00fcnne Membran des runden Fensters nicht frei an der Oberfl\u00e4che, sondern ist bei den Schlangen von Haut und Muskeln bedeckt, so sind doch diese Bedeckungen kein wesentliches Hinderniss. Auch wenn man den Verschluss der Pfeife aus mehreren Lamellen von Schweinsblase macht, und das Ende in Wasser gesetzt, den tiefsten Ton der Pfeife anbl\u00e4sst, kann man den Ton im Wasser mittelst des Conductors sehr viel st\u00e4rker h\u00f6ren, als wenn die Pfeife durch einen eingesetzten Stopfen geschlossen war. Diese eigcnth\u00fcmliehe Wirkung der Membranen h\u00e4ngt, wie man leicht einsielit, nicht bloss von ihrer D\u00fcnnheit, sondern von der Verschiebbarkeit und Elasticit\u00e4t ihrer Theilchen ab. Boi einem festen K\u00f6rper wird die Mittheilung des Schalles aus der Luft an ihn gleich geschw\u00e4cht, mag er click, oder d\u00fcnn seyn. Denn das Hinderniss findet bloss beim ersten Uebergang statt. Eine Membran kann daher bei jenen Wirkungen nicht bloss unter dem Gesichlspuncte eines sehr d\u00fcnnen K\u00f6rpers aufgefasst werden. Von ihrem eigenen ausdehnungsl\u00e4higen Zustande h\u00e4ngt es ab, dass sie die Luftwellen leicht aufnimmt, als w\u00e4re sic se Ibst Luft, und leicht an das Wasser abgiebl, als w\u00e4re sie Wasser.","page":426},{"file":"p0427.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik d. Geh\u00f6r Werkzeuge. Schallleitung b. d. Luftth. 427\nDurchn\u00e4ssung der Membranen ist \u00fcbrigens zu jenen Erscheinungen nicht noting, die Membran am Ende der Pfeile kann auch trocken seyn, die Mittheilung ist auch dann schon sehr stark, ehe sie im Wasser aufgequollen ist. Diess ist wieder aul die Membran des runden Fensters bei den Thieren mit Trommelh\u00f6hle anzuwenden.\nII.\tSchallwellen gehen eus der Luft ohne merkliche Ver\u00e4nderung ihrer Intensit\u00e4t an Wasser auch dann \u00fcber, wenn die vermittelnde gespannte Membran mit dem gr\u00f6ssten Theil ihrer Fl\u00e4che an einem kurzen, festen K\u00f6rper angeheftet ist, der allein das Wasser ber\u00fchrt.\nDieser Satz erl\u00e4utert die Wirkung des ovalen Fensters, und seiner beweglich eingesetzten Steigb\u00fcgelplatte bei den Luftthieren ohne Trommelh\u00f6hle und Trommelfell, wie bei den Bombinatoren und Schlangen. Auf die Membran, welche icli locker \u00fcber das Ende der Pfeife gespannt, leimte ich einen Korks topfen auf, welcher ^ Zoll lang und so breit war, dass er die Membran bis auf eine Linie vom Rande bedeckte. Wurde nun das Ende der Pfeife ins Wasser gesenkt und der tiefste Ton angeblasen, so h\u00f6rte ich mittelst des gegen die Richtung der Pfeife im Wasser gehaltenen Conductors bei verstopften Ohren last denselben starken Ton, wie wenn die Pfeife mit blosser Membran geschlossen ist. Sogleich wird der Unterschied bemerklich, so wie der Conductor aus der Richtung der Pfeife und des Stopfens k\u00f6mmt, dann ist der Ton n\u00e4mlich viel schwacher. Wurde hingegen das Ende der Pfeife durch einen Stopfen ganz zugestopft und das Ende ins Wasser gesenkt, die Pfeife angeblasen, so war in der Richtung der Pfeife keine merkliche Verst\u00e4rkung zu vernehmen, und derselbe Stopfen war nun ein Hinderniss, der die starke Schallleitung zul\u00e4sst, wenn er begrenzt und mittelst eines Saumes von Membran beweglich ist.\nEs geht aus diesen Beobachtungen hervor, dass beide Fenster, das von Membran geschlossene und das mit beweglichem Steigb\u00fcgel geschlossene, sehr gute Leiter f\u00fcr die Mittheilung der Schallwellen an das Labyrinthwasser sind;\nVon den in der Luft lebenden Thieren ohne Trommelh\u00f6hle haben die Bombinatoren, die Landsalamander und die Coecilicn nur das mit dem Deckel geschlossene; die Schlangen hingegen haben beide Fenster.\nb. Trommelfell und Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen.\nIII.\tSchon ein kleiner fester K\u00f6rper, der beweglich durch einen h\u00e4utigen Saum in ein Fenster eingesetzt ist, leitet die Schallwellen von der Luft zum Wasser (oder Labyrinthwasser) viel besser, als andere feste Theile. Diese Leitung wird aber noch viel mehr verst\u00e4rkt, wenn der solide, das Fenster schliessende Leiter an der Mitte einer gespannten Membran befestigt ist, die von beiden Sehen von Luft umgeben ist.\nLuftschwingungen gehen schwer an feste K\u00f6rper, und mit einer betr\u00e4chtlichen Verminderung ihrer Intensit\u00e4t \u00fcber. Eine Membran wird aber leicht dadurch in Bewegung gesetzt. Schon","page":427},{"file":"p0428.txt","language":"de","ocr_de":"428 V. Buch. Von den Sinnen. II. Als\u00e0n. Vom Geh\u00f6rsinn.\naus Savart\u2019s Versuchen weiss man, dass kleine gespannte Membranen, ja clas Trommelfell selbst, bei einem in dessen Nabe erregten starken Ton, den Sand abwerfen. Es l\u00e4sst sich auch durch Versuche direct beweisen, dass eine gespannte Membran viel leichter, als andere begrenzte feste K\u00f6rper die Luftwellen leitet, und dass wieder, was ebenso wesentlich ist, die Leitung der Schwingungen einer gespannten Membran an feste begrenzte K\u00f6rper sehr leicht geschieht. Unter diesem Gesichtspunct n\u00e4mlich als Vermitteler zwischen Luit und Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen ist das Trommelfell bisher nicht aufgefasst worden. Ich stellte folgende Versuche an.\nEine auf einem Becher gespannte sehr d\u00fcnne Membran von Papier wirft Lycopodiumsamen bei Ann\u00e4herung der t\u00f6nenden Stimmgabel durch Mittheilung der Luits chwingun geh leicht, ein fester K\u00f6rper von einiger Dicke dagegen gar nicht ab. Die gespannte Membran leitet aber auch die von der Luft milgetheilten Schwingungen mit grosser Leichtigkeit oder St\u00e4rke auf feste, sie in einem Punct 'ber\u00fchrende K\u00f6rper fort. Legt man n\u00e4mlich eine Holzplatte mit dem einen Ende auf die Membran einer Trommel, und fasst das andere Ende mit der ganzen Hand, so empfindet diese die Be-bungen vollkommen deutlich, wenn die t\u00f6nende Stimmgabel frei \u00fcber die Membran gehalten wird. Dagegen leitet die von der Membran isolirte Holzplatte unter gleichen Bedingungen die von der Luft milgetheilten Schwingungen nur sehr schwach. Die Resonanz des Luftraums der Trommel ist in dem folgenden Versuch vermieden. Spannte ich auf einen Ring ganz d\u00fcnnes Papier und fasste den Ring mit der einen Hand, so f\u00fchlte ich die Behlingen, als ich die Stimmgabel der Membran n\u00e4herte. War die Membran entfernt, so f\u00fchlte die den Ring haltende Hand die Behlingen nicht, wenn auch die Gabel dem Ring sehr gen\u00e4hert wurde.\nAuf folgende Weise l\u00e4sst sich nun noch genauer die intensive Schallleitung durch die Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen durch Vermittelung der die Luftschwingungen aufnehmenden Membrana tympani\nzur Anschauung bringen\nIch spannte auf das Ende der einl\u00fcssigen Pfeife a, eine trockene d\u00fcnne Membran h (Schwcinsblase), leimte auf die Mitte derselben ein kleines Korkst\u00fcckchen, und befestigte auf dieses ein d\u00fcnnes St\u00e4bchen von Holz c, an dessen anderes Ende wieder eine Korkscheibe d angesteckt wurde. Das Ende des Stabes wurde in Wasser e getaucht, und dann der tiefste Ton oder einer der mittlern T\u00f6ne der Pfeife angeblasen. Wurde der Conductor (eine \u2019 Zoll weite Glasr\u00f6hre) bei verstopften Ohren mit dem einem Ende ans Ohr, mit dem andern ins Wasser ge-","page":428},{"file":"p0429.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik der Geh\u00f6r Werkzeuge. Schallleitung l. d. Luftth. 429\nhalten, so wurde der Ton in einer anf die Korkplatte senkrechten Richtung im Wasser ausserordentlich stark, viel schw\u00e4cher aber an den andern Stellen des Wasser empfunden. Bei diesem Versuch kann man sich auch \u00fcberzeugen, dass die st\u00e4rksten Wellen in longitudinaler Richtung im Stiebe fortgehen. Denn wird der Conductor von der Seite dem St\u00e4bchen im Wasser gen\u00e4hert, so h\u00f6rt man den Ton zwar etwas st\u00e4rker, aber bei weitem nicht v. stark, als in einer auf die Korkplatte d senkrechten Richtung. Ist die Membran ceteris paribus durch einen fest eingesetzten Korkstopfen ersetzt, so h\u00f6rt man im Wasser keine oder eine sehr geringe Verst\u00e4rkung des Tones in der Richtung des Stabes.\nDer Erfolg ist ganz derselbe, wenn man die Trommelh\u00f6hle im Grossen nachbildet und ihre Schallleitung von der Luft auf das Wasser untersucht, a ist die Pfeife, a eine h\u00f6lzerne R\u00f6hre, welche in das Ende der Pfeife fest eingesteckt werden kann. Auf dem der Pfeife zugewandten Ende dieser R\u00f6hre ist eine Membran l gespannt, an welche der Stab c st\u00f6sst. Das untere Ende des Stabes ist an eine Korkscheibe d gefestigt, welche auf eine \u00fcber das Ende der R\u00f6hre gespannte Membran so fest geleimt ist, dass die Scheibe durch einen h\u00e4utigen, eine Linie breiten Saum mit dem Rohr d in Verbindung steht. Die Pfeile a stellt den \u00e4usseren Geh\u00f6rgang vor, durch welchen Luft-wellen dem Trommelfell b zugeleitet werden. Der mit Luft gef\u00fcllte Raum zwischen i- und a stellt die Trommelh\u00f6hle vor, cd ist der Steigb\u00fcgel, in seinem Fenster beweglich. Wird das Ende des Apparates in Wasser getaucht, und die Pfeife angeblasen, so h\u00f6rt man den Ton in der Richtung des Steigb\u00fcgels so stark,\nL\nwie in dem vorigen Versuch.\nDie Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen leiten die ihnen mit-getheilten Schwingungen um so besser, als sie von Luft begrenzte feste Theilchen sind und nicht continuo in die Sch\u00e4delknochen \u00fcberge- , hen. Denn jeder begrenzte feste K\u00f6rper leitet Schallwellen durch sich selbst st\u00e4rker, als auf d\tseine Umgebungen, wodurch eine Zerstreuung\nnach den Umgebu gen so sicher, wie in der begrenzten Lufts\u00e4ule eines Communicationsrohrs (bei Luftschwingungen) vermieden wird. Die Schwingungen des Trommelfells gelangen also durch die Kette der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen zum ovalen Fenster und Labyrinthwasser, indem eine Zerstreuung von den Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen auf den Luftraum der Trommelh\u00f6hle durch die erschwerte Mittheilung von festen Th eilen auf luftf\u00f6nnige vermieden wird. Da das Trommelfell als gespannter und begrenzter K\u00f6rper selbst wieder die Wellen von seinen Grenzen zur\u00fcckwirft, und also kreuzende Verdichtungswellen auf ihn erzeugt werden, so k\u00f6mmt cs auch unter dem Begriff der Resonanz in Betracht. Die auf diese W eise ver-","page":429},{"file":"p0430.txt","language":"de","ocr_de":"430 V. Buch. Von den Sinnen. II. Absehn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nst\u00e4rkten Wellen wirken wieder gegen die Rette der Geh\u00f6rkn\u00f6-ehelcnen.\nEs entstellt nun die Frage, von welcher Art die Schwingungen des Trommelfells sind, Beugungsschwingungen wie an trans-versalschwingenden Saiten und Membranen oder Verdichtungs-wellen. Erhalt eine Saite oder ein Stab in der Richtung ihrer L\u00e4nge einen Stoss, so entstehen keine Ausbeugungen, sondern blosse fortschreitende Verdichtungen oder Verdichtungswellen, erh\u00e4lt aber ein hinreichend d\u00fcnner K\u00f6rper, eine Saite, eine Membran in einer auf ihre L\u00e4nge oder Ebene senkrechten Richtung einen Stoss, so entstehen auch Beugungswellen, welche, wenn der Stoss nur eine Stelle des K\u00f6rpers traf, vom Ort ihrer Entstehung nach den Grenzen des K\u00f6rpers ablaufen und zur\u00fccklaufen, wie Wellen des Wassers, oder wenn der Stoss die ganze Breite des K\u00f6rpers vor sich her trieb, in ganzer Breite des K\u00f6rpers stattfindende transversale Beugungen verursachen. Entstehen solche Bcugungswellen auch an schallleitenden Membranen, wenn der Stoss senkrecht auf sie trifft, oder bewirkt er blosse Verdichtungen? Allerdings h\u00fcpft Sand und Lycopodiumpulver auf schallleitenden schwingenden d\u00fcnnen Platten und d\u00fcnnen Membranen, ja selbst wie Savart zeigte, auf dem Trommelfell, wenn sehr starke T\u00f6ne in seiner N\u00e4he erregt werden. Daraus kann man aber nicht gerade schliessen, dass der K\u00f6rper, auf welchem sie sich bewegen, eine Beugungsschwingung mache, denn auch eine Verdichtungsschwingung k\u00f6nnte als Stoss leichte K\u00f6rperchen bewegen, und die in die Luft \u00fcbergehende Verd\u00fcnnungswelle kann sie auch mit sich fortreissen. Auch die Knotenlinien schallleitender Platten beweisen keine Transversale!) wingungen, denn auch ein mit Verdichtungswellen schwingender K\u00f6rper kann mit Knoten schwingen, wie die Luft in den Pfeifen. Saiten, welche den Ton einer andern dicht neben ihnen aufgespannten Saite leiten, schwingen wenigstens f\u00fcr das Gesicht nicht mit Beugungsschwingungen. Daraus folgt wieder nicht, dass diese nicht da sind. Sie werden nicht gesehen, wenn die Excursionen nicht hinreichend breit sind. Einen sichern Beweis von der M\u00f6glichkeit dieser Schwingung bei einer schallleitenden Membran liefert aber die Trommel. Wird das eine Fell derselben durch Schlag in Schwingung gesetzt, so schwingt sehr deutlich das zweite Fell mit ansehnlichen Excursionen transversal. Auch die Fensterscheiben sind bei Kanonenschall der Beugung und selbst Zerorechung durch die Luftwelle ausgesetzt. Es k\u00f6mmt also hloss auf die St\u00e4rke des durch die Tonschwingungen mitgetheilten Stosses an, ob ein inembran\u00f6ser, gespannter, schallleitender K\u00f6rper Beugungsschwingungen machen wird. Es kann daher die M\u00f6glichkeit der Beugungsschwingungen hei dem Trommelfelle nicht in Abrede gestellt werden, obgleich die Excursionen seiner Beugungen auch bei den st\u00e4rksten Schallen bei seiner Kleinheit sehr gering seyn werden. Genauer ausgedr\u00fcckt wird das Trommelfell in allen F\u00e4llen in Transversalschwingungen gerathen, wenn seine Excursionen oder die progressiven Bewegungen der Theilrhen, die ihnen von einer Vcrdichtungswelle der Luft mitgetheilt werden, gr\u00f6sser sind, als die Dicke des Trommelfells.","page":430},{"file":"p0431.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik d. Geh\u00f6rwerkzeuge. Schallleitung h. d. Luftth. 431\nBei einer gewissen St\u00e4rke der St\u00f6sse der Luft muss diess aber der Fall seyn. Da die Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen articulirt und so angelegt sind, dass eine Ann\u00e4herung ihrer \u00e4ussersten Enden m\u00f6glich ist, so werden die Excursionen des Trommelfells durch die Kette der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen nicht gest\u00f6rt werden. Seihst bei den Thie-ren, die nur ein Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen besitzen, wie die V\u00f6gel und beschuppten Amphibien, ist das \u00e4usserste mit dem Trommelfell verbundene Ende mobil. Hieraus ergiebt sich auch, dass die Articulation der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen keine blosse Folge ihrer Muskulatur ist, was auch durch die vergleichende Anatomie bewiesen wird, da die Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen des Frosches so gut articulirt, als die des Menschen, aber ohne Muskulatur sind.\nEine genauere Zergliederung der Fortpflanzung der Schallwellen im freien Luftraum zeigt jedoch, dass nur hei den st\u00e4rksten Sl\u00f6sseu Beugungsschwingungen des Trommelfells entstehen k\u00f6nnen. 1st die Excursion der Theile eines t\u00f6nenden K\u00f6rpers oder der Stoss so stark, dass die Schnelligkeit der Theile des stossenden K\u00f6rpers so gross ist, als die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Schalls in der Luft, so wird die Bahn, welche die schallleitenden Lufttheilchen in einer R\u00f6hre durchlaufen, wenn die Welle durch ihre Stelle durchgeht, auch so gross seyn, als die Bahn des stossenden K\u00f6rpers. Ist die Schnelligkeit des Stosses nur halb so gross, als die Schnelligkeit des Schalls in der Luft, so ist die Bahn der schwingenden Theilchen der Luft in einer R\u00f6hre auch nur halb so gross, als die Bahn des stossenden K\u00f6rpers. Diese Bahn bleibt sich dann gleich f\u00fcr alle Lufttheilchen der R\u00f6hre, durch welche die Welle durchgeht. Weber Wellenlehre p. 503. Am leichtesten werden daher im Allgemeinen Beugungsschwingungen des Trommelfells entstehen, wenn der Schall hei grossen Excursionen des t\u00f6nenden K\u00f6rpers gleich stark durch eine R\u00f6hre bis zum Trommelfell fortgepflanzt wird. Die Fortpflanzung des Schalls im freien Luftraum 'bedingt aber eine fortschreitende Abnahme der Bahnen der schwingenden Theilchen der Luft. Bleibt sich gleich die Dicke der Welle, d. h. der Raum vom Anfang einer Welle bis zum Anfang der n\u00e4chsten Welle bei der Vergr\u00f6sserung des Umfanges der sich ausdehnenden kugelf\u00f6rmigen Welle unver\u00e4ndert, so nimmt doch die Bahn der Theilchen, durch welche die Welle durchgeht, ab, wie die Quadrate der Entfernungen. Weber Wellenlehre p. 504. W\u00e4re z. B. die Bahn der schwingenden Theilchen in unmittelbarer N\u00e4he des stossenden oder t\u00f6nenden K\u00f6rpers ein Zoll gewesen, so w\u00fcrde die Bahn derselben bei 2 Fuss Zoll, hei 3 Fuss \u25a0\u00a7-, bei 4 Fuss -jfg-, hei 10 Fuss\nZoll oder weniger, als die Dicke des Trommelfells seyn. Beim Trommelfell k\u00f6mmt \u00fcherdiess noch der Untersehied seiner Fortpflanzungsgeschwindigkeit von derjenigen der Luft und der Widerstand seiner Befestigungen in Betracht, welche eine viel geringere Progression zulassen werden, selbst wenn die dasselbe stossenden Lufttheilchen eine Excursion machen, welche seine Dicke \u00fcbertrifft.\nDie dem Trommelfell durch sehr starke St\u00f6sse mitgetheilte Beugungsschwingung wird das Trommelfell in ganzer Breite ein-","page":431},{"file":"p0432.txt","language":"de","ocr_de":"432 V. Buch. Von den Sinnen. II. Abschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nnehmen, wenn die Wellen der Luft senkrecht das Trommelfell treffen. Treffen sie schief auf dasselbe, so dass ein Theil des Trommelfelles zuerst davon bcr\u00fclirt'wird, so wird auch die Bewegung an dieser Stelle zuerst entstehen, und sich \u00fcber das Trommelfell so hinbewegen, wie die Beugungswelle, die am Ende eines Seiles, einer Saite oder an einer einzelnen Stelle des Felles einer Trommel erregt wird. Diese Wellen werden von den R\u00e4ndern abgeworfen hin und herlaufen.\nBei der schiefen Stellung des Trommelfells muss diess selbst in dem Falle geschehen, wenn die Schallwellen gerade durch den Meatus auditories externes durchgeben, oder wenn die Sehallstrahlen parallel mit seiner Achse sind. Bei anderen Direetionen der Wellen k\u00f6mmt die Reflexion von den W\u00e4nden des Ganges in Betracht und davon h\u00e4ngt es ab, wie und wo sich zuerst Wellen auf dem Trommelfell bilden.\nVon der Fortpflanzung blosser Verdichtungswellen durch das Trommelfell gilt dasselbe. Entweder treffen die Wellen der Luft es in ganzer Breite zugleich, oder eine Stelle desselben zuerst, und laufen dann auf dessen Breite, je nach der Direction der Wellen, in einer bestimmten Richtung ah, und wieder zur\u00fcck zur Bildung kreuzender Verdichtungswellen. Alle. Wellen, welche von festen Theilen auf das Trommelfell geleitet werden, z. B. durch den Ohrknorpel, die W\u00e4nde des Geh\u00f6rganges, die Kopl-knochen sind nat\u00fcrlich auch Verdichtungswellen. Das Trommelfell wird auch zum Condensator f\u00fcr diejenigen Wellen, welche ihm von festen Theilen irgend zugeleitet werden.\n1st die Welle der Luft zusammengesetzt, so dass sie, w\u00e4hrend sie fortschreitet,- abwechselnd das Maximum ihrer Verdichtung oder den Scheitel ihres Berges bin und herwirft, wie eine Saite, die an einem Ende gestossen, diese Bewegung zugleich, w\u00e4hrend einer Transversalschwingung macht, so wird auch das Trommelfell diese Bew egung theilend, die davon abh\u00e4ngige Modification des Klanges, Timbre bewirken. Die Beugungsschw'ingung des Trommelfells w\u00fcrde dabei ganz derjenigen der vorher erw\u00e4hnten Saite gleichen, Die Verdichtungsschwingungen w\u00fcrden dabei eine gerade, durch das Trommelfell schreitende Verdichtungswelle mit einem zugleich seitlich hin- und her wogenden Maximum der Verdichtung und Verd\u00fcnnung seyn. Man sieht leicht ein, wie dergleichen zusammengesetzte Wellen auch durch die Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen unver\u00e4ndert geleitet werden m\u00fcssen.\nDie Nothwendigkeit der Luft auch auf der innern Seite des Trommelfells, oder die Nothwendigkeit der Trommelh\u00f6hle ergiebt sich von selbst, wenn das Trommelfell und die Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen dem vorher aufgestelltcn Zweck entsprechen sollen. Ohne diese Bedingung sind weder die Schwingungen des Trommelfells frei, noch sind die Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen zur concentrirten Fortpflanzung der Wellen isolirt. So leicht sich die Beugungsschwingungen des Trommelfells der Luft der Trommelh\u00f6hle mittheilen werden, so wenig ist die feste Substanz der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen geeignet, ihre Wellen an die Luft der Trommelh\u00f6hle abzugeben und zu zerstreuen. Ebenso nothwendig ist aber auch \"die Communication","page":432},{"file":"p0433.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik der Geh\u00f6r Werkzeuge. Schallleitung h. d. Lujlth. 133\ndieser Luft der Trommelh\u00f6hle mit der \u00e4ussern Luft, durch die Eustachische Trompete zur Herstellung des Gleichgewichts des Drucks und der Temparatur der \u00e4ussern und innern Luft.\nDie Fortpflanzung der Schwingungen durch die Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen bis zum Labyrinth kann nat\u00fcrlich bloss durch Verdichtungswellen geschehen, auch dann, wenn das Trommelfell Beugungen macht. Nicht der ganze Steigb\u00fcgel wird bei dieser Leitung abwechselnd dem Labyrinth gen\u00e4hert' und davon entfernt. Denn dann m\u00fcsste das Labyrinthwasser sehr zusammendr\u00fcckbar seyn. Die Bahnen der schwingenden Theilchen, durch welche die Welle durchgeht, sind nur sehr kleine Theile der L\u00e4nge des Steigb\u00fcgels.\nDer Stiel des Hammers empf\u00e4ngt die Wellen des Trommelfells und der Luft in einer auf ihn selbst fast senkrechten Richtung. Diese Direction behalten die Wellen auch in der ganzen Kette der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen, welches auch die relative Lage der-selben und ihret einzelnen Theile seyn mag. Aus dem Stiel des Hammers pflanzt sich zwar die Welle zun\u00e4chst in den Kopf des Hammers fort, welcher unter einem Winkel vom Stiele abgeht, und aus dem Kopf des Hammers geht die Welle in den Ambos \u00fcber, dessen langer Fortsatz wieder dem Stiele des Hammers fast parallel ist. Aus diesem Fortsatz des Ambosses gelangt die Welle durch den Steigb\u00fcgel, welcher wieder eine senkrechte Richtung auf den langen Fortsatz des Ambosses hat. Siehe die beistehende Figur aa Trommelfell, h Hammer, c Ambos, d Steigb\u00fcgel. Alle diese Wendungen in der Lage der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen ver\u00e4ndern die Direction des Stosses nicht, und er beh\u00e4lt dieselbe Direction, welche er durch den Geh\u00f6rgang auf das Trommelfell und den Stiel des Hammers hatte, so dass der Steigb\u00fcgel, welcher eine auf das Trommelfell senkrechte Stellung hat, longitudinale St\u00f6sse erf\u00e4hrt und dem ovalen Fenster zuleitet. Diess ergiebt sich zur Evidenz aus Savart\u2019s Untersuchungen \u00fcber die Schallleitung durch feste Platten, welche unter Winkeln aufein-aneinder stossen. W ird die Platte b auf den Steg einer Saite a befestigt, so dass sie die Schwingungen der Saite empf\u00e4ngt, so ger\u00e4th die Platte, wie die Saite in transversale Schwingungen. Eine senkrecht auf ihr befestigte Platte c ger\u00e4th in longitudinale Schwingungen, d. h. in solche,die wieder mit den Schwingungen der ersten Platte b in derselben Richtung erfolgen. Die Schwingungen der Platte d sind wieder transversal, wenn sie aul der vorhergehenden c senkrecht ist, und die auf d senkrechte Platte e\n","page":433},{"file":"p0434.txt","language":"de","ocr_de":"\u00cf34 V. Buch. Von den Sinnen. II. Abschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nschwingt wieder longitudinal. Dieses ergiebt sich, wie Savart zeigte, aus der Richtung in welcher der Staub abgeworfen wird. Die Richtung der Schwingungen ist in der Figur durch Pfeile angezeigt. Vergleicht man mit dieser Figur, die vorhergehende Figur von den Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen, so lasst sich die Aehnlichkeit nicht verkennen. In der Figur von Savart kann man die Saite a mit dem Trommelfell vergleichen. Die am Steg befestigte Platte h gleicht dem Stiel des Hammers, der als Spanner des Trommelfells seihst auch Steg desselben ist. Die Platte c entspricht dem Kopf des Hammers, die Platte d dein langen Fortsatz des Ambo-ses, die Platte e dem Steigb\u00fcgel.\nb, Spannung des Trommelfells.\nIV. Eine kleine, stark gespannte Membran leitet den Schall schw\u00e4cher, als im schlafjen Zustande.\nDie Frage, ob das Trommelfell besser im schlaffen, oder im gespannten Zustande den Schall leite, lasst sich auf Membranen \u00fcberhaupt ausdehnen. Hier muss man sogleich zwischen Mitklin gen, Resonanz und Starke der Schallleitung* unterscheiden. Was zuerst das Mitklingen betrifft, so ist ein durch Spannung elastischer K\u00f6rper dazu f\u00e4hig, wenn er gespannt ist, im schlaffen Zustande ist er dazu nicht f\u00e4hig. Eine gespannte Saite ist des Mitklingens in ihrem eigenen Ton unter gewissen Umst\u00e4nden, und im Allgemeinen der Resonanz f\u00e4hig. Ein gespanntes Fell einer Trommel verst\u00e4rkt den Ton einer frei dar\u00fcber gehaltenen Stimmgabel viel mehr, als wenn die Gabel \u00fcber eine ganz schlaffe Membran gehalten wird. Soll aber ein K\u00f6rper in seinem eigenen Grundton mitklingen, so muss er so gestimmt seyn, dass sein Grundton entweder unison ist mit dem primitiven Ton, oder sein Grundton muss wenigstens in einem einfachen Verh\u00e4ltniss zum primitiven Ton stehen. Sonst wird er bloss resoniren, aber nicht in seinem eigenen Ton mitklingen.\nAuch die St\u00e4rke der Resonanz h\u00e4ngt ceteris paribus von der Stimmung eines K\u00f6rpers, und ihrem Verh\u00e4ltniss zum primitiven Ton ab. H\u00e4lt man eine Stimmgabel \u00fcber die Oeffnung verschieden langer Pappr\u00f6hren, so ist die Resonanz der Lufts\u00e4ule um so geringer, je mehr der Grundton der Lufts\u00e4ule von dem Ton der Gabel abweiehen w\u00fcrde, die Resonanz ist also bei einer gewissen L\u00e4nge der R\u00f6hre am st\u00e4rksten. Ist die L\u00e4nge der Lufts\u00e4ule so gross, dass der Grundton der Lufts\u00e4ule dem primitiven Ton gleich ist, so tritt Mitklingen ein, auch wird die Resonanz nach Wheatstone stark seyn, wenn die L\u00e4nge der Lufts\u00e4ule einMultiplum ist derjenigen L\u00e4nge der Lufts\u00e4ule, welche einen unisonen Grundton mit derStimm-gabel hat. Denn dann k\u00f6nnen sich in dem schallleitenden K\u00f6rper Schwingungsknoten bilden. Ein Glasgef\u00e4ss kann man durch Eingiessen von Wasser so stimmen, dass es den Ton der Stimmgabel stark oder schwach resonirt. Diess angewandt auf die Saiten und Felle, so ist zwar eine ganz schlaffe Saite, und eine ganz schlaffe Membran zur Resonanz ungeschickt, oder ungeschickter als eine gespannte, aber mit der St\u00e4rke der Spannung wird die","page":434},{"file":"p0435.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik d. Geh\u00f6rwerkzeuge. Schallleitung l. A. Luftth. 435\nResonanz nicht im geraden Verh\u00e4ltnis* zunehmen k\u00f6nnen. Sie wird vielmehr hei gleich bleibender Masse des gespannten K\u00f6rpers dann am st\u00e4rksten seyn, wenn der Grundton des gespannten K\u00f6rpers unison ist mit dem primitiven Ton.\nBei so kleinen Membranen, wie die Membrana tympani w\u00fcrde die speeiellc Anwendung nicht gut ausf\u00fchrbar seyn. Viel wichtiger wird liier die Frage, ob die St\u00e4rke der Mittheilung von der Luft an das Trommelfell mit der Spannnng des Trommelfells zu oder abnimmt.\nSavart war der Erste und bis jetzt der Einzige, der sich auf dem Wege der Erfahrung mit der Beantwortung dieser Frage besch\u00e4ftigt hat. Er beobachtete, dass das trockene Trommelfell bei Ann\u00e4herung eines stark t\u00f6nenden K\u00f6rpers aufgestreuten Sand st\u00e4rker ah warf, wenn es schlaff, als wenn es gespannt war, und schloss daraus, dass das H\u00f6ren durch st\u00e4rkere Spannung des Trommelfells ged\u00e4mpft werde. Ann. d. chim. et phys. 26\u2018. Savart beobachtete denselben Erfolg, wenn er eine Membran durch einen aufgesetzten Hebel st\u00e4rker spannte. Wenn ich ganz d\u00fcnnes Papier auf einen Becher spannte, sah ich denselben Erfolg, den Savart beobachtete. Indessen l\u00e4sst sich aus dem starken Abwerfen des Sandes nicht sicher auf die Intensit\u00e4t der St\u00f6sse schlies-sen. Muncke (Gehler\u2019s physic. W\u00f6rter!). 4. 2. p. 1210. 8. p. 501.) bemerkt, dass das H\u00fcpfen des Sandes ohne von der Intensit\u00e4t der Bebungen herzur\u00fchren, auch bloss von weiterer Ausdehnung, Amplitudo der Bebungen entstehen k\u00f6nne und dass der die Spannung bewirkende Hebel einen Knoten in der Membran bilde, der die Breite der schwingenden Theile verk\u00fcrze. Auch von Fechner wurde die Richtigkeit der Schlussfolge von Savart in, Zweifel gezogen. Unter diesen Umst\u00e4nden schien es mir von grossem Interesse, directe Versuche \u00fcber die Schallleitung kleiner Membranen im schlaffen und gespannten Zustande mit Benutzung des eigenen Geh\u00f6rs als Messers der St\u00e4rke der Schallleitung anzustellen.\nEine h\u00f6lzerne R\u00f6hre von 8 Linien Durchmesser des Lumens\ni____0 und 4 Zoll L\u00e4nge, a l\u00e4uft an dem einen\nEnde in einen schm\u00e4lern Hals c aus, welcher so eingerichtet, dass er tief und fest\nin den \u00e4ussern Geh\u00f6n\neingesetzt werden\nkann. Dieses engere Ende ist offen. Das andere Ende h ist mit einer Membran schlaff\u2019 \\ j\t\u00fcberzogen. Auf die Membran c ist ein\ne\\ j\td\u00fcnnes St\u00e4bchen e von 2 Lin. Breite so\naufgeleimt, dass das St\u00e4bchen bis \u00fcber die Mitte der Membran reicht und dass das gr\u00f6ssere Ende frei absteht. Wo das St\u00e4bchen auf dem mit Membran bedeckten Rande des Rohrs aufliegt, ist es durch ein Band auf das Rohr festgehalten, wodurch ein Gelenk entsteht. Wird das Ende e erhoben, so wird das auf der Membran aufliegende Ende gesenkt, die Membran eingedr\u00fcckt und gespannt. So gleicht der Apparat im Allgemeinen den nat\u00fcrlichen Verh\u00e4ltnissen und das St\u00e4bchen mag den Hammer vorstellen. Wurde nun das engere","page":435},{"file":"p0436.txt","language":"de","ocr_de":"436 V. Buch. Von den Sinnen. II. Ahselm. Vom Geh\u00f6rsinn.\nEnde des Apparats ins Ohr fest eingesetzt, uud das andere Ohr durch einen Stopfen von gekautem Papier fest geschlossen, so konnte die Starke der Schallleitung bei gr\u00f6sserer und geringerer Spannung leicht verglichen werden. Durch eine ganz kleine Oeff-nung in der R\u00f6hre bei d kann man auch noch den Einfluss der Eustachischen Trompete anbringen, und die Luft im Innern des Rohrs ins Gleichgewicht mit der \u00e4ussern Luft setzen. Der Erfolg bleibt sich indess im Allgemeinen gleich und es ist besser die Oelfnung weg zu lassen, weil durch dieselbe auch Schallwellen ins Innere des Rohrs und zum Ohr gelangen k\u00f6nnen, ohne durch die Membran durch zu gehen. In allen F\u00e4llen wurde der gleiche Eifolg beobachtet. Die Schallleitung war viel st\u00e4rker hei schlaffer Membran, als wenn durch Heben des St\u00e4bchens die Membran gespannt wurde. Als t\u00f6nender K\u00f6rper kann eine Taschenuhr benutzt werden. Indess jedes Ger\u00e4usch wird st\u00e4rker bei schlaffer Membran geh\u00f6rt, und die D\u00e4mpfung nimmt in geradem Verh\u00e4lt-niss mit der Spannung der Membran zu.\nMan kann aber auch sein eigenes Trommelfell st\u00e4rker spannen und denselben Einfluss erfahren. Das Trommelfell kann man am Cadaver, abgesehen vom Anziehen des Hammers, auf doppelte Weise st\u00e4rker spannen: 1) wenn die Luft in der Trommelh\u00f6hle von der Eustachischen Trompete aus durch Saugen verd\u00fcnnt wird, 2) wenn die Luft der Trommel durch Blasen in die Trompete verdichtet wird. Im ersten Fall wird das Trommelfell von aussen nach innen gedr\u00fcckt, im zweiten Fall von innen nach aussen ge-dr\u00fcekt, ohne dass im letzten Falle der Stiel des Hammers nach-giebt, so dass die Mitte des Trommelfells auch bei der Ausweichung nach aussen ihre Stelle behauptet.\nBeide Arten der Spannung des Trommelfells kann man auch leicht am lebenden K\u00f6rper,- an sich selbst bewirken, entweder, indem man bei zugehaltener K\u00e4se uud Mund stark und anhaltend ausathmet, oder indem man unter denselben Umst\u00e4nden stark und anhaltend die Brust durch die Inspirationsbewegung ausdehnt. Im ersten Falle wird die verdichtete Luft mit einem Gezisch in die Trommelh\u00f6hle getrieben, augenblicklich h\u00f6rt man schlecht. \u2019 Dieselbe Schwerh\u00f6rigkeit tritt ein bei der Spannung des Trommelfells nach innen durch Einathrnen Dm letztere Thatsache ist von Wollaston {Phil. Transact. 1820.) zuerst beobachtet. Da im letztem Falle die Schwerh\u00f6rigkeit auch nach dem \u00fceffnen des Mundes noch fortdauert, indem wegen Collapsus der W\u00e4nde der Trompete durch das vorhergehende Einathrnen, das Gleichgewicht nicht eintreten kann, so hat man auch Gelegenheit zu bemerken, dass auch die eigene Stimme bei st\u00e4rkerer Spannung des Trommelfells schw\u00e4cher geh\u00f6rt wird. Habe ich die st\u00e4rkere Spannung des Trommelfells durch Verdichtung der Luft der Trommelh\u00f6hle bewirkt, so tritt bei der Wie-derer\u00f6ifnung des Mundes oder der Nase gew\u00f6hnlich schnell wieder das Gleichgewicht der Luft der Trommel und der \u00e4ussern Luft ein, und das Geh\u00f6r stellt sich gew\u00f6hnlich sogleich her. Kur zuweilen erfolgt die Herstellung erst allm\u00e4hlig Habe ich hingegen die Spannung des Trommelfells durch Verd\u00fcnnung der Luft der Trommel bewirkt, so dauert die Schwerh\u00f6rigkeit ge-","page":436},{"file":"p0437.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik der Geh\u00f6rwerkzeuge. Schallleitung l. d. Lujtth. 437\nwohnlich sehr lange an, und w\u00e4hrend der ganzen Zeit f\u00fchle ich sehr deutlich eine Spannung im Trommelfell. In Leiden F\u00e4llen kann ich die Schwerh\u00f6rigkeit und f\u00fchlbare Spannung des Trommelfells, wenn sie nicht von seihst hei Oeffnung des Mundes vergehen, durch eine eigene Bewegung im Ohr wieder verschwinden machen, von der ich hernach beweisen werde, dass es eine wdl-k\u00fchrliche Bewegung des Musculus tensor tympani ist. Wahrscheinlich geschieht die Herstellung oder Wieder\u00f6ffnung der zusammen liegenden W\u00e4nde der Eustachischen Trompete durch leichte Compression der Luft der Trommelh\u00f6hle, verm\u00f6ge der Anziehung des Trommelfelles durch den Musculus tensor tympani. Wer diese Bewegung des Tensor tympani nicht machen kann, kann die, auf die angezeigte Weise hervorgebrachte Schwerh\u00f6rigkeit leicht durch die entgegengesetzte Ursache aufheben. War die Schwerh\u00f6rigkeit durch Ausw\u00e4rtstreihen des Trommelfells hervorgebracht, so athme man bei zugehaltener Nase und Mund gewaltsam ein, und umgekehrt im umgekehrten Falle.\nWird die \u00e4ussere Luft oder die Atmosph\u00e4re stark verdichtet, ohne dass die Luft der Trommelh\u00f6hle wegen Aneinanderliegen der W\u00e4nde der Trompete sogleich ins Gleichgewicht mit der \u00e4ussern Luft tritt, so wird nat\u00fcrlich das Trommelfell nach einw\u00e4rts getrieben und gespannt, und dann Schwerh\u00f6rigkeit eintreten. So muss man meines Erachtens die r\u00e4thselhafte Beobachtung von Colladon in der Taucherglocke erkl\u00e4ren, wo er die Stimme seiner Gef\u00e4hrten, sowohl als seine eigene Stimme nur schwach h\u00f6rte. Aus schlechter Schallleitung der verdichteten \u00e4ussern Luft, wie Einige den Erfolg erkl\u00e4rt haben, l\u00e4sst sieh jene Thatsache nicht einsehen. Denn verdichtete Luft leitet den Schall besser.\nDie Schwerh\u00f6rigkeit, welche durch gr\u00f6ssere Spannung des Trommelfells eintritt, ist keine ganz allgemeine f\u00fcr die hohen und tiefen T\u00f6ne zugleich. Wollaston Jiat vielmehr beobachtet, dass wenn er die Spannung des Trommelfells durch Verd\u00fcnnung der Luit der Trommelh\u00f6hle verst\u00e4rkte, er nur taub f\u00fcr die tiefen T\u00f6ne Wurde. Schlug er einen Tisch mit der Spitze seines Fingers an, so gab das Brett einen dumpfen tiefen Ton, schlug er ihn mit dem Nage! an, so entstand ein h\u00f6herer durchdringender Ton. Bei der Verd\u00fcnnung der Luft in der Trommelh\u00f6hle h\u00f6rte er nur den letztem Ton, nicht den tiefen. Das dumpfe, tiefe Gerassel eines Wagens wurde bei der Luftverd\u00fcnnung und Spannung des Trommelfells nicht mehr wahrgenommen, aber das Geklirr der Ivetten und andern Eisenwerkes am Wagen wurde auch dann sehr scharf geh\u00f6rt. Diese Versuche sind vollkommen richtig und ich glaube, dass sie jeder an sich wird best\u00e4tigen k\u00f6nnen, der sich hinreichend \u00fcbt. Es ist \u00fcbrigens zu bemerken, dass die Spannung des Trommelfells durch Luftverdichtung ganz denselben Erfolg hervorbringt. Das dumpfe Dr\u00f6hnen beim Fahren der Wagen \u00fcber eine Br\u00fccke oder der Kanonen in der N\u00e4he meiner Wohnung, der Schlag ferner Trommeln verschwinden bei der Spannung des Trommelfells auf die eine oder andere Weise augenblicklich, aber das Trippeln der Pferde auf dem Steinpflaster, das feinere Ge-knarr der Wagen, das Knistern an Papier h\u00f6re ich sehr scharf","page":437},{"file":"p0438.txt","language":"de","ocr_de":"438 V. Buch. Von den Sinnen. II. Ahschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nbei gespanntem Trommelfell. Sehr auffallend ist der Erfolg beim Picken einer 8 Fuss von mir entfernten Taschenuhr. Dicss h\u00f6re ich bei gespanntem Trommelfell durchaus so scharf, wie im gew\u00f6hnlichen Zustande, vielleicht noch sch\u00e4rfer, w\u00e4hrend bei dieser Spannung augenblicklich aller dumpfe L\u00e4rm der Strasse stumm wird.\nDie Erkl\u00e4rung dieser Erscheinungen ist aus dem vorausgeschickten leicht. Je mehr das Trommelfell gespannt wird, um so mehr w\u00fcrde sein Grundton und alle T\u00f6ne, die es seihst mit Schwingungsknoten angeben k\u00f6nnte, sich erh\u00f6hen, in demselben Grade w\u00fcrde aber auch seine F\u00e4higkeit zu vollkommenen Mitseh wingungen f\u00fcr tiefere T\u00f6ne abnehmen. Je mehr ein Ton dem Eigenton des sehr gespannten Trommelfells homolog ist, um so leichter wird er auch im gespannten Zustande des Trommelfells noch geh\u00f6rt werden.\nBei dieser Gelegenheit l\u00e4sst sich eine Auwendung auf die Pathologie machen. Es k\u00f6mmt nicht ganz selten vor, dass Schwerh\u00f6rige bloss die F\u00e4higkeit zum H\u00f6ren tieferer T\u00f6ne verloren haben, w\u00e4hrend sie die F\u00e4higkeit f\u00fcr hohe, wenn auch schwache T\u00f6ne behalten. Ein schwerh\u00f6riger College von mir h\u00f6rt hohe T\u00f6ne besser als tiefe. In einem solchen Falt l\u00e4sst sich eine zu starke Spannung des Trommelfells als sehr wahrscheinlich vermuthen. Dieser Umstand kann in der dunkeln Diagnostik der Ohrenkrankheiten als wichtiges Moment benutzt werden. Diese zu starke Spannung kann nat\u00fcrlich auf mehrfache Weise verursacht werden, 1) durch Yerschliessung der Eustachischen Trompete. Die Luft der Trommelh\u00f6hle kann sich dann verm\u00f6ge der K\u00f6rperw\u00e4rme ausdehnen, sie kann auch theilweise resorbirt werden, in beiden F\u00e4llen muss aber das Trommelfell entweder nach aussen oder innen stark gespannt werden. 2) Contractor des Musculus tensor tympani. Bei meinem Collegen ist die Trompete frei, denn er kann Luft in die Trommelh\u00f6hle blasen. Im ersten Fall, wenn die Spannung des Trommelfells entweder durch Ausdehnung der Luft der Trommelh\u00f6hle oder Piesorption derselben entstanden ist, wird begreiflicherweise die Operation der Anbohrung des Trommelfells oder des Zitzenfortsatzes der Trompete, von Nutzen f\u00fcr die Schwerh\u00f6rigen seyn, im zweiten Fall hingegen wird sie nichts n\u00fctzen. Hieraus erkl\u00e4rt sich zum Theil schon der so verschiedene Erfolg jener Operationen.\nDer Antheil des Musculus tensor tympani an der Modification des H\u00f6rens l\u00e4sst sich jetzt aus den aufgestellten Pi'incipien beur-theilen.\nDarf man als sehr wahrscheinlich annehmen, dass der Musculus tensor tympani bei einem sehr starken Schall, ebenso durch Reflexbewegung in Th\u00e4tigkeit tritt, wie die Iris und der Orbicularis palpebrarum bei einem sehr starken Liehteindruck, indem die Reizung von den Sinnesnerven zum Gehirn, vom Gehirn zu den motorischen Nerven verpflanzt wird, so ist einleuchtend, dass bei sehr starkem Schall durch Reflexbewegung dieses Muskels eine D\u00e4mpfung des Geh\u00f6rs eintritt. Der starke Schall bewirkt schon durch Reflexion Nicken der Augenlieder und bei nervenreizbaren Personen","page":438},{"file":"p0439.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik der Geh\u00f6r Werkzeuge. Schallleitung l. d. Lujtth. 439\nein Zusammenfahren vieler Muskeln. Die genannte Annahme ist daher sehr wahrscheinlich *). Bei st\u00e4rkerer Spannung des Trommelfells durch den Tensor tympani, aus was immer f\u00fcr einer Ursache, muss ferner die F\u00e4higkeit zum H\u00f6ren tiefer T\u00f6ne mehr abnehmen, als f\u00fcr das H\u00f6ren hoher T\u00f6ne.\nHier k\u00f6mmt nun zur Frage, oh der Musculus tensor tympani auch der Willk\u00fchr unterworfen sei. Nach meinen Beobachtungen verh\u00e4lt sich dieser Muskel, wie auch der Stapedius, mikroskopisch, wie alle animalischen Muskeln, er besitzt n\u00e4mlich die regelm\u00e4ssigen Querstreifen seiner primitiven B\u00fcndel. Die sogenannten La-xatoren sind dagegen keine Muskeln. Im sogenannten Musculus mallei \u00e8xternus konnte ich keine Charactere der Muskeln erkennen, welche im Tensor tympani so deutlich sind, und er ist blosses Band. Aber die beiden wirklichen Muskeln der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen geh\u00f6ren ohne allen Zweifel dem animalischen System an. Zwar haben die Muskeln des Gef\u00e4sssystems, Herz und Lymph-heizen, auch Querstreifen, und dieser Character geh\u00f6rt ausser den animalischen Muskeln, die sich aus dem \u00e4ussern Blatt der Keimh\u00e4ut entwickeln, auch denjenigen an, welche sich aus der mitt-lern oder Gef\u00e4ssschicht der Keimhaut bilden. Aber die organischen Muskeln der Eingeweide sind constant ohne Querstreifen der primitiven B\u00fcndel der Fasern. Da ferner die kleinen Muskeln des \u00e4ussern Ohrs willk\u00fchrlich sind (ich bewege sie, namentlich den M. antitragicus, deutlich), so ist kein Grund vorhanden den Muskeln der Trommelh\u00f6hle eine gleiche Stellung abzusprechen. Daf\u00fcr spricht auch der Ursprung des Nervus tensor tvmpani vom dritten Ast des Trigeminus, n\u00e4mlich vom Nervus pterygoideus internus und der Ursprung des Nervus stapedius vom Nervus facialis.\nDie willk\u00fchrliche Bewegung des Musculus tensor tympani lehrte schon Fabricius ab Acjuapendente. Fabricius behauptete durch willk\u00fchrliclien Einfluss auf den Tensor tympani eiriwirken zu k\u00f6nnen, indem er willk\u00fchrlich ein Ger\u00e4usch im Ohr erregen konnte. Er konnte die Bewegung nur gleichzeitig in beiden Ohren zugleich verursachen. Mayer kannte einen Gelehrten, der die Bewegung seiner Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen so sehr in seiner Gewalt hatte, dass man sogar das feine Geknirsche deutlich h\u00f6ren konnte, wenn man das Ohr dicht an das seine legte. Vergl. Likcke Handbuch der Ohrenheilkunde. Leipz. 1837. I. p. 472. Ich besitze denselben willk\u00fcrlichen Einfluss in beiden \u00d6hren, st\u00e4rker auf das linke, kann den Einfluss auch auf das linke Ohr isoliren. Das Ger\u00e4usch besteht in einem Knacken, wie das Knistern des electri-sehen Funkens, oder wie wenn man die klebrig gemachte Fingerspitze auf Papier dr\u00fcckt und dann pl\u00f6tzlich abzieht. Verstopft sich\n*) Ein sehr starter Schall, wie der einer Kanone, wenn er in der N\u00e4he derselben geh\u00f6rt wird, kann \u00fcbrigens auch durch die Einbeugung des 1 roiumeliells einen Eigen-Ton des Trommelfells hervorbringen.\tD iess\nglaube ich wenigstens an mir bemerkt zu haben. Ich empfand bei dem Schall der Kanone zugleich einen Kuck, \u00e4hnlich, wie inan ihn h\u00f6rt, wenn man pl\u00f6tzlich hei zugehaltencr Nasen- und Mund\u00f6ffnung durch Inspiration das Trommelfell nach einw\u00e4rts spannt.\n.ll\u00fcllcr\u2019s Physiologie. 2r Bel. I!.\n29","page":439},{"file":"p0440.txt","language":"de","ocr_de":"440 V. Buch. Von den Sinnen. II. Ahschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nJemand die Ohren, und h\u00e4lt einen Stab an sein verstopftes Ohr und an das meinige, so h\u00f6rt er das Knacken. Er h\u00f6rt es auch, wenn er sein offenes Ohr an das meinige legt, und sogar in einiger Entfernung bis zu 1\u20142 Fuss. Einer h\u00f6rte das Knacken in meinem Ohr ohne Stab hei offenen Ohren bis auf 3 Fuss Entfernung, wenn mein Ohr in der Direction des H\u00f6renden stand. Bei jeder Bewegung, die ich im Ohr hervorbrachte, gab er den Erfolg an. Es ist nun der Beweis zu f\u00fchren, dass dieses Ger\u00e4usch wirklich durch die Zusammenziehung des Tensor tympani und seine Wirkung aut das Trommelfell hervorgebracht wird, indem er es nach innen zieht, was einem Stoss von aussen gleich ist. Daf\u00fcr spricht schon der Umstand, dass wenn ich, bei zugehaltener Nase und Mund, Luft durch -die Trompete treibe, ich ausser dem, von dem Andrang der Luft gegen das Trommelfell h\u00f6rbaren Summen, auch zuweilen noch das mir so wohlbekannte Knacken in dem Momente h\u00f6re, wo ich mit dem Druck nachlasse, wo also das Trommelfell wieder in seine Lage k\u00f6mmt. Dieser Ton kann auch von einer zweiten Person geh\u00f6rt werden. Von besonderem Interesse wurde mir die Untersuchung der Mundh\u00f6hle, w\u00e4hrend ich das willk\u00fclirliche Knacken im Ohr hervorbringe. Bei Untersuchung des Mundes und Rachens mit dem Spiegel sehe ich, dass ich zugleich die oberen Gaumenmuskeln bewege, indem sich der Gaumen jedesmal zugleich erhebt. Diess f\u00fchrt auf die Vermuthung, dass das Ger\u00e4usch davon abh\u00e4ngt, dass durch Erhebung des Gaumens ein Luftstrom nach den Oeffnungen der Eustachischen Trompeten bewirkt wird. Indess wird diese Ansicht dadurch widerlegt, dass ich die st\u00e4rkste Erhebung des Gaumens von dem Ger\u00e4usch v\u00f6llig isoliren kann. Singe ich z. B. bei weit vor dem Spiegel ge\u00f6ffnetem Mund, so sehe ich, dass bei hohen und selbst ieisen Fistelt\u00f6nen der Gaumen sich ganz hoch erhebt. Diess geschieht ohne das fragliche Ger\u00e4usch in den Ohren. W\u00e4hrend dieser Erhebung des Gaumensegels kann ich aber nach Willen das Ger\u00e4usch in den Ohren hervorbringen. Hieraus widerlegte ich mir zugleich den . Einwurf, dass wegen des Ursprungs der obern Gaumenmuskeln zugleich vom knorpeligen Theil der Eustachischen Trompete durch die Zusammenziehung dieser Muskeln und durch die Zerrung der Trompete ein Ton entstehe, welcher zum Geh\u00f6rorgan geleitet werde. Diese Idee ist auch schon deswegen unstatthaft, w'eil die Bewegung nicht bloss von mir, sondern das Knacken auch von Andern auf mehrere Fuss Entfernung geh\u00f6rt wird. Die Bewegung scheint also eine willk\u00fclirliche Zusammenziehung des Tensor tympani zu seyn.\nAusser dem Knacken bringe ich willk\u00fchrlich auch noch einen zweiten Ton im Geh\u00f6rorgan, und zwar auf beiden Seilen hervor. Er ist brummend und kann \u00fcber eine Secunde und mehr angehalten werden. Er entsteht auch mit Erhebung des Gaumensegels, und scheint in der That von der Zusammenziehung der Gaumenmuskeln herzur\u00fchren. Dies Brummen tritt zuweilen heim G\u00e4hnen und Aufstossen ein, auch wenn dieses w illk\u00fchrlich hervorgebracht wird. Unter den Bewegungen, welche das Knacken als Mitheweguiig hervorbringen, ist bei mir das Schlingen zu nennen;","page":440},{"file":"p0441.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik (l. Geh\u00f6rwerkzeuge. Schallleitung h. d. Luftth. 441\naber das Knacken ist nicht immer nothwendig damit verbunden. W\u00e4hrend ich den knackenden Ton hervorbringe, h\u00f6re ich \u00fcbrigens nicht merklich undeutlicher. Der davon wohl zu unterscheidende brummende Ton st\u00f6rt das H\u00f6ren.\nEin unwillk\u00fcrliches Zucken des Musculus tensor tympani muss auch ein Ger\u00e4usch im Ohr hervorbringen. Mancher wird leicht solche T\u00f6ne im Ohr vernommen haben. Vergl. Lincke a. a. O. p. 481.\nDie Wirkung des Musculus stapedius beim H\u00f6ren ist unbekannt. Er zieht den Steigb\u00fcgel so, dass sein Fusstritt schief im ovalen Fenster stellt, indem er auf der Seite des Zuges ein wenig tiefer in das Fenster eintritt, und ebenso viel auf der andern Seite heraustritt. Die ' einzige Wirkung, welche man ihm dem zufolge zuschreiben k\u00f6nnte, w\u00e4re meines Erachtens eine Spannung des H\u00e4utchens, welches den Fusstritt des Steigb\u00fcgels mit dem Fenster verbindet.\nc. Ovales und rundes Fenster.\nDie Leitung durch zwei Fenster ist keine nothwendige Bedingung zum Geh\u00f6r bei den in der Luft lebenden Thieren mit Trommelh\u00f6hle. Denn wie die vorher erz\u00e4hlten Versuche zeigen, l\u00e4sst sich dem Wasser, sowohl durch eine gespannte Membran (Membrana tympani secundaria), als durch einen beweglichen festen K\u00f6rper, der mit einer gespannten Membran verbunden ist, der Schall intensiv mittheilen. Auch die vergleichende Anatomie liefert diesen Beweis. Denn die Fr\u00f6sche haben bei einem sonst vollst\u00e4ndigen Tympanum kein zweites oder rundes Fenster, sondern nur die Leitung durch die Kette der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen. In diesem Falle kommt die Luft der Trommelh\u00f6hle als Leiter kaum in Betracht, da sie an die festen Theile des Geh\u00f6rorgans ihre Wellen nicht in einiger St\u00e4rke abzugeben vermag. Sie dient haupts\u00e4chlich zur Isolirung der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen und des Trommelfells.\nSind beide Fenster gleichzeitig mit einer Trommelh\u00f6hle vorhanden, so verursachen sie eine doppelte Leitung, durch feste K\u00f6rper und durch Membran auf Wasser, welche beide intensiv sind, wie meine Versuche zeigen. Diese muss nat\u00fcrlich das Geh\u00f6r verst\u00e4rken. Denn nun kommen von zwei nebeneinander liegenden Stellen kreisf\u00f6rmige Wellen ins Labyrinthwasser, welche noch dazu durch Kreuzung st\u00e4rkere Verdichtungen oder Wellenberge an den Kreuzungsstellen verursachen.\nEs entsteht hier die Frage, welche Leitung st\u00e4rker sei, diejenige vom Trommelfell durch die Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen zum ovalen Fenster, oder diejenige vom Trommelfell durch die Luft der Trommelh\u00f6hle und die Membran des runden Fensters zum Labyrinthwasser.\nDie Beantwortung dieser Frage bestand bisher meist in einem willk\u00fchrlichen Stimmgeben. Einige l\u00e4ugneten die Leitung durch die Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen, und beriefen sich auf das H\u00f6ren nach Verlust der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen, wie es A. CoorER (Phil. Transact. 1801.,\n29 *","page":441},{"file":"p0442.txt","language":"de","ocr_de":"442 V. Buch. Von den Sinnen. If. Ahsrhn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nund schon fr\u00fcher Caldani, Cheselden beobachtet. Andere l\u00e4ug-neten die Leitung durch das runde Fenster, weil nach zahlreichen Erfahrungen auf Zerst\u00f6rung und Verlust der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen das Geh\u00f6r verloren gehe. Siehe Haller Eiern. Physiol. V. 285. Vergl. Lincke a. a. O. 465. Ein ausschliessliches\nAnerkennen einer Art der Leitung w\u00fcrde unstatthaft seyn, denn jeder leitungsf\u00e4hige Theil timt, was er nach physikalischen Gesetzen\u2019 muss. Es kann sich daher nur um den quantitativen Unterschied handeln. Eine kritische Uebersicht der Meinungen und Gr\u00fcnde gab Muncke in Kastner\u2019s Archiv fl d. ges. Naturlehre. 7. 1. Derselbe entscheidet sich zugleich f\u00fcr die st\u00e4rkere Leitung durch die Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen.\nMuncke sagt: man denke sich, dass Jemand zwei gleich stark schlagende Taschenuhren in gleicher Entfernung vom Ohre, die eine durch einen kn\u00f6chernen Stab damit verbunden, die andere in freier Luft schwebend halten wollte. Offenbar w\u00fcrde er die eine vollkommen, die andere gar nicht h\u00f6ren. Man d\u00fcrfe nur den bekannten Versuch ber\u00fccksichtigen, mit welcher St\u00e4rke man die T\u00f6ne eines, an eiirem Faden h\u00e4ngenden und durch diesen mit dem Ohre verbundenen L\u00f6ffels h\u00f6rt, welches durch die Luft geleitet, gar nicht wahrgenommen wird. Dieser Fall, welcher die st\u00e4rkere Leitung durch die Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen beweisen soll, hat aber keine vollkommene Aehnlichkeit mit dem, was bei der Fortpflanzung des Schalls durch die Trommelh\u00f6hle geschieht. Prim\u00e4re Schallwellen fester K\u00f6rper gehen allerdings mit der gr\u00f6ssten St\u00e4rke unmittelbar auf einen festen Stab, der das feste Ohr ber\u00fchrt und so an dieses \u00fcber, sehr schwach werden sie geleitet, wenn die Luft der Leiter prim\u00e4rer Schallwellen fester K\u00f6rper ist. Nur ein prim\u00e4r in der Luft erzeugter Schall pflanzt sich viel st\u00e4rker in der Luft, als aus der Luft auf einen festen Stab fort. Bei unserer Frage handelt es sich darum, ob Schallwellen, die in der Luft entstanden oder ihr mitgetheilt sind, und durch die Luft auf das Trommelfell gelangen, leichter von dem Trommelfell auf die Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen oder auf die Luft der Trommel, und leichter von den Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen auf das Labyrinthwasser, oder von der Luft der Trommel durch die Membrana tympani secundaria auf das Labyrinthwasser geleitet werden.\nDiese Frage kann auch so ausgedr\u00fcckt werden. Welche Leitung vermindert die Excursion der schwingenden Theile am wenigsten, die Leitung von der Luft auf eine gespannte Membran, von dieser auf einen begrenzten beweglichen festen K\u00f6rper, von diesem auf Wasser, oder die Leitung Von der Luft auf eine gespannte Membran, von dieser auf Luft, von dieser auf gespannte Membran, von dieser auf Wasser? Die Versuche, die ich dar\u00fcber angestellt habe, beweisen sehr bestimmt als Thatsacbe:\nV. Schwingungen, welche von der Luft auf eine gespannte Membran, von dieser auf frei bewegliche, begrenzte, feste Theile, von diesen auf Wasser verpflanzt werden, theilen sich sehr viel st\u00e4rker dem Wasser mit, als Schwingungen, welche von der Luft auf dieselbe gespannte Membran, von dieser auf Luft, von dieser auf eine Membran und von dieser auf Wasser verpflanzt werden; oder auf die","page":442},{"file":"p0443.txt","language":"de","ocr_de":"2, Akustik d. Geb\u00f6rwerkzeuge. Schallleit urig h. d. Luftlh. 443\nTrommelh\u00f6hle angewandt, dieselben Luft wellen wirken viel intensiver vom Trommel}eil durch die Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen und das orale lenster, als durch die Luft der Trommelh\u00f6hle und die Membran des runden Fensters, auf das Labyrinthwasser,\nleb bildete den doppelten Leitungsapparat der Trommelh\u00f6hle in ftugendei Weise nach. Ein Glascylinder a von 2 g Zoll Durchmesser und 6 Zoll L\u00e4nge l\u00e4uft, an dem einen Ende in einen Hals aus, in dessen M\u00fcndung die h\u00f6lzerne R\u00f6hre b von 8 Lin. Durchmesser Lumen luftdicht eingesetzt wird. Das \u00e4ussere Ende b passt genau in das Ende der einf\u00fcssigen Mes-singpfeife. Das innere Ende der R\u00f6hre b ist mit einer gespannten Membran c (Schweinsblase) \u00fcberzogen, welche das Trommelfell vorstellt, w\u00e4hrend b der Geh\u00f6rgang ist. Der Glascylinder ist an seiner weitern Oellhung mit einer dicken Korkplatte d geschlossen, sein Raum ist die Trommelh\u00f6hle. In zwei L\u00f6cher dieser Korkplatte, welche gleichweit vom Umfang des Cylinders entfernt sind, sind kurze h\u00f6lzerne R\u00f6hrchen von 3-\t4 Li-\nnien Durchmesser des Lumens luftdicht Heide R\u00f6hrchen sind am \u00e4ussern Ende mit Mem-Sie stellen die beiden Fenster vor. Nur die Membran des einen R\u00f6hrchens f ist mit der ohern Membran am Anfang des Cylinders c durch ein St\u00e4bchen g in Verbindung gesetzt. Dieses h\u00f6lzerne St\u00e4bchen, welches die Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen vorstellt, ber\u00fchrt die' obere das Trommelfell voi-stellende Membran c nur in der Mitte, die untere Membinn oder die des R\u00f6hrchens f aber im gr\u00f6ssten Theil ihres Umfanges, indem das St\u00e4bchen hier in eine Platte ausl\u00e4uft, welche nur wenig kleiner ist, als die gespannte Membran des R\u00f6hrchens /. Das St\u00e4bchen steht straff zwischen Trommelfell und der Membran des R\u00f6hrchens e, und h\u00e4lt beide etwas gespannt. 8o ist das R\u00f6hrchen e das runde Fenster mit der Membrana tympan i secundaria, das R\u00f6hrchen f das ovale Fenster. Wird das untere Ende des Apparates in Wasser gehalten, auf das Rohr h die Pfeife aufgesetzt und geblasen, so ist die Leitung bis zum Wasser genau so, wie die doppelte Leitung der nat\u00fcrlichen Trommelh\u00f6hle zum Labyrinthwasser. Die Membran, welche das Trommeliell vorstellt, r erh\u00e4lt Wellen, welche sich aller sowohl durch den Stab g nach dem ovalen Fenster /, als durch die Luft der Trommel aul die Membran des runden Fensters e forlpflanzen, und zugleich ms Wasser \u00fcbergehen. L\u00e4sst man an der Verbindungsstelle der grossen Korkplatte, worin die Fenster sind, mit dem Cylinder, z\"'r0.u.\" dem Rand des Glascylinders und dem Kork eine L\u00fccke, und *\u25a0* das untere Ende des Apparates so ins Wasser, dass die \u00ef enstei t as Wasser ber\u00fchren, dass aber die letztgenannte L\u00fccke in du u\nbran geschlossen.","page":443},{"file":"p0444.txt","language":"de","ocr_de":"444 V. Buch. Von den Sinnen. II. Abschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nist, so stellt, die Luft im Cylinder zugleich, w\u00e4hrend der Leitung mit der \u00e4ussern Luft in Communication. Dadurch kann man die Eustachische Trompete nachbilden. Der Erfolg ist aber ganz derselbe, wie wenn diese Communication nicht stattlindet.\nBei verstopften Ohren kann man nun mittelst eines in das Wasser und an das Ohr gehaltenen Conductors, w\u00e4hrend Jemand die Pfeife anbl\u00e4st, die St\u00e4rke der Wellen, welche durch die beiden Fenster ins Wasser gelangen, durch sein eigenes Geh\u00f6r pr\u00fcfen. Die Verschiedenheit ist h\u00f6chst auffallend. Die durch den Stab vom Trommelfell zum Wasser geleiteten Wellen sind ganz ausserordentlich viel st\u00e4rker, ais die von denselben Schwingungen des Trommelfells durch die Luft der Trommel, und die Membrana tympani secundaria zum Wasser geleiteten Wellen. Man vernimmt die starken T\u00f6ne des ovalen Fensters bis in den Raum vor dem runden Fenster. Um daher den viel schw\u00e4chern An-theil der Leitung des runden Fensters isolirt zu beobachten, ist es n\u00f6thig, den Stab aus dem Apparat herauszunehmen und das ovale Fenster, oder das Fenster des Stabs durch einen Stopfen ganz zu schlicssen. Dann bemerkt man, dass die Leitung durch die Membran des runden Fensters wenig st\u00e4rker ist, als durch die festen Theile der Korkplatte.\nAusser der Intensit\u00e4t k\u00f6nnen vielleicht die durch beide Fenster geleiteten Wellen desselben Tons auch in der Qualit\u00e4t, im Klang einigermassen verschieden seyn. Die Wellen, welche zum runden Fenster kommen, bleiben Luftwrellen bis zu der Membran dieses Fensters. Die Wellen der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen sind Wellen fester K\u00f6rper. Bekanntlich erh\u00e4lt aber ein und derselbe Ton ein anderes Timbre, je nachdem er von verschiedenen K\u00f6rpern resonirt. Wie verschieden ist z. B. der Ton einer Stimmgabel, wenn man sie t\u00f6nend frei \u00fcber eine mit Luft gef\u00fcllte Schale, oder nahe den W\u00e4nden der Schale selbst h\u00e4lt. Wie verschieden klingt eine Glocke im Wasser, wenn man den Ton durch einen Stab aus dem Wasser, oder durch die Luft aus uem Wasser h\u00f6rt. Im ersten Fall ist er klangvoll, im letztem klanglos. Directe Versuche \u00fcber jene qualitative Verschiedenheit sind schwer, da die T\u00f6ne der beiden Fenster an jenem Apparat jedenfalls gleich stark seyn m\u00fcssten, um ihren Klang sicher zu vergleichen. Die angestellten Versuche sind aber jener Hypothese aher g\u00fcnstig, als nachtheilig.\nDie durch das ovale Fenster geleiteten Wellen wirken n\u00e4her auf den Vorhof und die halbcirkelf\u00f6rmigen Can\u00e4le, die durch das runde Fenster geleiteten n\u00e4her auf die .Schnecke, aher auch die in den Vorhof gelangenden Wellen, welche sich kreisf\u00f6rmig ausbreiten, gelangen in die Schnecke, und \u00fcberhaupt ist die Beziehung des runden Fensters zur Schnecke kein constantes Attribut dieses Fensters, da d:e Schildkr\u00f6ten das eine und andere Fenster, aber keine eigentliche Schnecke besitzen.\nd. Tuba Eustachii.\nDie Eustachische Trompete ist in allen F\u00e4llen vorhanden,","page":444},{"file":"p0445.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik der Geh\u00f6rwerkzeuge. Schallleitung b. d. Luftth. 445\nwo die Trommelh\u00f6hle da ist. Dass sie f\u00fcr die Integrit\u00e4t des Geh\u00f6rs von grosser Wichtigkeit ist, beweisen die Krankheiten der Tuba; bei ihrer Verstopfung entstellt immer Schwerh\u00f6rigkeit und Ohrenbrausen. Ob sie aber unmittelbar zur Scharfe und Intensit\u00e4t der Leitung nothwendig ist, oder ob ihre Verstopfung mittelbar zur Ver\u00e4nderung des Geh\u00f6rs wirkt, l\u00e4sst sich aus den pathologisclsen Beobachtungen nicht schliessen. Begreiflich k\u00f6nnte die Ver\u00e4nderung des Geh\u00f6rs eben so gross von Verschliessung der Trompete seyn, wenn diese R\u00f6hre bloss bestimmt w\u00e4re, die gr\u00f6ssere Spannung des Trommelfells durch Verdichtung und Verd\u00fcnnung der Luft der Trommel, zu verh\u00fcten, oder wenn sie die Bestimmung h\u00e4tte, den in der Trommelh\u00f6hle erzeugten Schleim durch ihre Wimperbewegung abzuf\u00fchren. Anf\u00fcllung der Trommelh\u00f6hle mit Schleim muss alle Vortheile der Leitung dieses Apparates auflieben.\nDie Zwecke, welche man der Trompete hypothetisch beilegen kann und beigelegt hat sind folgende, wir wollen sie nach einander untersuchen.\n1)\tEinige glauben, wiewohl unrichtig, dass ein eingeschlossener Luftraum nicht zur Fortleitung der Schwingungen geeignet sei. Sauhders (anat. of the human ear) sagt: die Luft der Trommelh\u00f6hle k\u00f6nne bei Verschliessung der Tuba nicht ausweichen, als durch Condensirung, und hebe die Schwingungen wieder auf. Munciie bemerkt mit Recht, dass diese Vorstellung den physica-lischen Gesetzen widerspricht. In der That ist keinerlei Ausweichung zur Fortleitung des Stosses n\u00f6thig.\n2)\tNoch eher k\u00f6nnte an das Gegentheil jener Ansicht nach physicaiisclien Principien gedacht werden. Denn sieht man von der Leitung durch die Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen ab, und vergleicht man den Luftraum des Geh\u00f6rganges und der Trommel der Lufts\u00e4ule eines sogenannten Communicationsrohrs, worin die Schallwellen ungeschw\u00e4cht z\u00fcsammengehalten werden, so m\u00fcsste hier, wie in einem Comrnunicationsrohr, eine seitliche Oeflnung eine theilweise Ausbreitung der Wellen nach aussen bewirken, und bei einem zu heftigen Stoss diesen Eindruck, so weit er von der Luit aut das runde Fenster wirkt, d\u00e4mpfen.\n3)\tAndere sehen die ungleiche Dichtigkeit der Luft in und ausser der Trommelh\u00f6hle f\u00fcr ein Hinderniss des Geh\u00f6rs an, wie Muncke a. a. O. 26. Auch diese Meinung kann ich nicht theilen. Die Fortleitung des Schalls durch ungleich dichte Luftschichten scheint wohl den Schall zu schw\u00e4chen, aber sobald zwei gleiche Luftschichten durch einen festen K\u00f6rper, wie das Trommelfell getrennt sind, so ist der dreifache Unterschied der Media schon vorhanden. Die Stosswelle geht aus der Luft an Membran, von Membran an Luft \u00fcber, und es k\u00f6mmt nicht in Betracht, in we weit die innere Luft von der \u00e4ussern verschieden sei, sondern in wie weit die innere Luft geeignet sei, die Welle aus der Substanz des Trommelfells aufzuuehmen. Denn die innere Luft empf\u00e4ngt die Verdichtung nicht von der \u00e4ussern, sondern vom Trommelfell.\n4)\tDie Tuba ist bestimmt, das Mitklingen der Luft der irommelh\u00f6hle zu hindern. Diese Ansicht ist wohl am wenigsten statt-","page":445},{"file":"p0446.txt","language":"de","ocr_de":"446 V. Buch. Von den Sinnen. IL Abschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nh\u00f6rgang zum Ohr kommen.\nhaft. Denn ein Luftraum resonirt, mag der Beh\u00e4lter an einem Ende oder an beiden Enden offen seyn. Die einfache Resonanz w\u00e4re eher ein Vortheil, als ein Nachtheil. Nur das Mitklingen eines Luftraums in seinem eigenen Tone w\u00e4re nachtheilig. In Hinsicht des Mitklingens der Luftr\u00e4ume ist zu bemerken, dass die Luft einer offenen R\u00f6hre als schwingende S\u00e4ule der H\u00e4lfte einer doppelt so grossen S\u00e4ule einer gedeckten R\u00f6hre zu vergleichen ist.\n5) Sie ist bestimmt die Resonanz zu verst\u00e4rken. Unter diesem Gesichtspunct l\u00e4sst sich die Ansicht von IIenle betrachten, welcher die Oeffnung der Trompete in die Trommelh\u00f6hle den L\u00f6chern im Resonanzboden vergleicht, welche zu einem klangvollen Ton der Geige so nothwendig sind. JEncyclop. W\u00f6rterh. d. med. Wissensch. Geh\u00f6r. Sie sind die Ursache, dass ausser dem Resonanzboden der Geige, auch die Luft ihres Kastens resonirt. So w\u00fcrde die Luft der Mundh\u00f6hle und Nasenh\u00f6hle f\u00fcr das Geh\u00f6r resonirend werden, wenn auch die T\u00f6ne durch den \u00e4ussern Ge-\nDiese Art der Wirkung l\u00e4sst sich im Allgemeinen nicht in Abrede stellen. Dixectc Versuche \u00fcber die re-sonirende Wirkung von Seitenr\u00f6hren, die auf eine kurze Hauptr\u00f6hre angesetzt werden, und durch eine Oeffnung damit communieiren, sind dieser Idee auch g\u00fcnstig. Der Schall einer Stimmgabel, die \u00fcber die Oeffnung einer k\u00fcrzen R\u00f6hre (4 Zoll lang, 1 Zoll breit,) mit 2 Fuss langer Seitenr\u00f6hre) gehalten wurde, schien mir st\u00e4rker, als wenn der Ton der Gabel bloss von der Luft der kurzen R\u00f6hre mit kleiner Seiten\u00f6ffnung resonirt wurde. Ist die Oeffnung sehr klein, so scheint kein Einfluss statt zu finden.\nAuch direct l\u00e4sst sich untersu-suchen, ob hei einer so engen Oeffnung, wie die Eustachische Trompete, der Einfluss nicht wieder gr\u00f6s-stentheils aufgehoben wird. Aid\u2019folgende Weise l\u00e4sst sich der Leitungsapparat der Ti'ommelh\u00f6hlc mit der Tuba i'ob nachbilden.\nEine h\u00f6lzerne R\u00f6hre a. von 8 Linien Durchmesser und 3 Zoll L\u00e4nge, ist an dem einen Ende mit Membran \u00fcberzogen, am andern Ende verengt lief in xlen Geh\u00f6rgang eingeschoben werden\nsic sich, so dass sie\nbai\nAn der Seite der R\u00f6hre, welche die Trommelh\u00f6hle vor-\nstellt, ist eine sehr kleine Oeffnung, an dieser Stelle kann das Seilenrohr b angesetzt werden. Das Rohr c dient als \u00e4usserer Geh\u00f6rgang, in dasselbe kann a fest und schliessend eingesetzt wer-","page":446},{"file":"p0447.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik der Geh\u00f6r Werkzeuge. Schallleitung b. d. Luftth. 447\nden. Als Ton kann jedoch kein frei in der Luft entwickelter Scliall benutzt werden, weil dieser sowohl durch das Rohr, b als c, und wenn das Seitenrohr b weggenommen ist, durch die kleine Oeffnung in die Trommel a eindringen w\u00fcrde. Der Schall muss daher in dem Rohr c auf eine Weise erregt werden, dass er ausser dem Rohr c sich wenig ausbreitet. Hierzu fand ich am zweck-massigsten, dass eine Person die Lippen dicht an die M\u00fcndung des Rohrs d ansetzt, und bei zugleich zugehaltener Nase die Z\u00e4hne der Ober-und Unterkinnlade auf einander schlagen l\u00e4sst, w\u00e4hrend der Schall von den Z\u00e4hnen sich der Luft des Rohrs mittheilen kann. Dann verbreitet sich der Schall wenig in den W\u00e4nden des Rohrs, wegen der weichen Theile der Lippen, aber durch die Luft des Rohrs c zur Membran und in die Luft der Trommel. Habe ich nun die Trommel mit dem engen Theil des Rohrs in mein Ohr fest eingesetzt, so vergleiche ich die St\u00e4rke des Schalls hei zugehaltener Seiten\u00f6fFnung der Trommel, hei offener Seiten-\u00f6ffnung und hei eingesetztem Seitenrohr b. Ist die Seiten\u00f6ffnung, welche die Tubam\u00fcndung vorstellt, durch den Finger verschlossen, so ist der Schall der Z\u00e4hne dumpfer, als wenn sie offen ist, aber die St\u00e4rke ist wenig oder gar nicht verschieden, viel geringer ist der Unterschied des Tons, wenn entweder das Seitenrohr c angesetzt wird, oder ohne das Rohr die einfache Oeffnung offen bleibt. Der Klang efes Tons ist n\u00e4mlich in beiden F\u00e4llen derselbe und cs ist auch kein merklicher Unterschied der St\u00e4rke zu bemerken, wenigstens kein sicher\u00ab'. Bei einer nur engen Oeffnung zwischen der Trommel und dem resonirenden Luftraum b verliert dieser daher ganz oder last ganz seine Bedeutung, f\u00fcr einen Schall, der nicht direct auf ihn einwirken kann.\n6) Die Tuba ist bestimmt die Leitung durch den Trommelh\u00f6hlenapparat von einem Hinderniss zu befreien, das eine ganz eingeschlossene Luit darbietet, indem entweder die Leitung des Trommelfells selbst in diesem Fall zu schwach, oder die Resonanz des Trommelfells und der Luft der Trommelh\u00f6hle zu gering ist. Diese Ansicht ist die gew\u00f6hnlichste von der Eustachischen Trompete. Itard erl\u00e4uterte sie durch die Soldatentrommel, welche ohne Seitenloch in ihrer Wand nur einen dumpfen und ged\u00e4mpften Ton habe. Dieses Beispiel kann nun freilich wenig aufkl\u00e4ren, es hat gar keine Aehnlichkeit mit dem Verh\u00e4ltnissen, von welchen die Rede ist. Denn wenn eine Soldatentrommel einen st\u00e4rkern Klang hat bei offenen Seitenloch, so ist es, weil jetzt die Luftschwingungen im Innern der Trommel nicht mehr bloss durch die W\u00e4nde der Trommel und die Felle durchgehen, sondern durch den besten Leiter f\u00fcr Luftschwingungen die Luft seihst an die Atmosph\u00e4re und zum Ohr \u00fcbergehen. Ueberdiess finde ich dazu den Unterschied \u00e4ussert gering, wie es scheint kaum einigen Unterschied des Klanges, wenn das Loch einer kleinen Trommel offen ist oder geschlossen wird. An eine Vermehrung der St\u00e4rke des Tons durch diejenigen Wellen, welche durch die Luft des Mundes und der Trompete in die Trommelh\u00f6hle gelangen, lasst\nsich \u00fcbrigens nicht denken. Denn der Gesunde h\u00f6rt bei geschlossener Mund- und Nasen\u00f6ffnung eben so gut, als wen:\u00ab sie ollen sind.","page":447},{"file":"p0448.txt","language":"de","ocr_de":"448 V. Buch. Von den Sinnen. II. Ahschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nIch stellte mehrere Versuche \u00fcber den als Thesis hingestellten Satz auf, welche ihm nicht eben g\u00fcnstig sind. Wurde eine vorn mit Membran geschlossene kurze R\u00f6hre, wie das blosse St\u00fcck a der vorigen Figur in das Ohr tief und fest eingesetzt, das zweite Ohr durch einen Stopfen von gekautem Papier ganz verstopft, so konnte ein an der Membran seihst erregter Schall ungeschw\u00e4cht sich durch die R\u00f6hre fortpflanzen. Ein in der freien Luft erregter Schall konnte nat\u00fcrlich nicht benutzt werden. Denn dieser, wie der Ton einer Pfeife kann sich durch die Luft vermittelst der Seiten\u00f6ft'nung st\u00e4rker der innern Luft der R\u00f6hre mittheilen, als durch die Membran. Erregt man nun durch einen Schlag mit dem Finger auf die Membran oder durch. Reiben mit dem Finger an derselben einen Ton, so ist er jedesmal dumpf, wenn die Seiten\u00f6ffnung mit dem Finger geschlossen wird, klarer und gleichsam sch\u00e4rfer, wenn die Oeffnung offen ist. Aber in der St\u00e4rke des Schalls konnte ich keinen deutlichen Unterschied bemerken; wenn die Membran nass war, so schien mir sogar der dumpfe Ton noch st\u00e4rker bei geschlossener Seiten\u00f6ft'nung, als der klare bei ge\u00f6ffneter. Einen im Allgemeinen ganz \u00e4hnlichen Erfolg beobachtet man mit dem in der vorigen Figur erl\u00e4uterten Apparat. Setzt Jemand die Lippen auf die M\u00fcndung des Rohrs d, und st\u00f6sst die Z\u00e4hne aufeinander, bei zugleich zugehaltener Vase, so h\u00f6rt man den Ton durch die Luft der R\u00f6hre und die Membran zwischen c und a sehr deutlich, wenn man a fest in sein eigenes Ohr steckt. Das Rohr h wird weggenommen. Der Ton ist dumpfer bei geschlossener, klarer bei offener Seiten\u00f6ffnung. Aber ein merklicher Unterschied der St\u00e4rke ist nicht vorhanden.\nDaher kann man wohl zugestehen, dass vielleicht eine gewisse Dumpfheit des Klanges von der Resonanz des Trommelh\u00f6hlenapparates durch die Tuba vermieden w'ird, aber die Verst\u00e4rkung des Tons in der Weise, wie es in der Thesis ausgesprochen ist, kann man nicht zugeben.\nAuch einige andere Versuche \u00fcber das H\u00f6ren mit oder ohne Verschliessung der Trompete stimmen damit \u00fcberein, Ohnstreitig w\u00fcrde es das sicherste Mittel seyn, den Einfluss der Trompete kennen zu lernen, wenn man sich k\u00fcnstlich die Trompete so verstopfen lassen k\u00f6nnte, dass durch den Mechanismus nicht zugleich die Luft der Trommelh\u00f6hle verdichtet, und dadurch das Trommelfell gespannt w\u00fcrde. Aber diess ist nicht gut m\u00f6glich, \u00fcber-diess w\u00fcrde es immer eine Glaubenssache f\u00fcr den Experimentator seyn, wenn er sich die Tuba catheterisiren l\u00e4sst, ob die Tuba wirklich durch die Sonde verstopft sey oder nicht. Man kann daher diese Idee, als der Physiologie wenig f\u00f6rderlich, sogleich aufgeben. Auch die pathologischen Beobachtungen geben keine Schl\u00fcsse zur L\u00f6sung des Problems an die Hand. Chesei.den beobachtete nach Einspritzen von Wasser in die Tuba pl\u00f6tzliche Taubheit. Sauk-dkrs hingegen beobachtete bei Schwerh\u00f6rigen Verbesserung des Geh\u00f6rs nach dieser Operation, die so lange dauerte, als die eingespritzte Fl\u00fcssigkeit im Ohr behalten wurde. Dieser entgegengesetzte Erfolg scheint von etwas ganz Ariderm als von blosser","page":448},{"file":"p0449.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik d. Geh\u00fcriverkzeuge. Schallleitung b. d. Luftth. 449\nEr\u00f6ffnung oder Schliessung der Tuba herzur\u00fchren. Es k\u00f6mmt hier vielmehr die Spannung des Trommelfells in Betracht, welche durcli die Operation herbeigef\u00fchrt wird oder wenn es vorher durch Rarefaction der Luft zu sehr nach innen gespannt war, die verminderte Spannung durch die verm\u00f6ge der Injection bewirkte Compression der Luft der Trommelh\u00f6hle. Dagegen hat man ein anderes Mittel, sich die Tuba zu verstopfen und auch wieder weiter zu machen, bei gleicher, freilich starker Spannung des Trommelfells, n\u00e4mlich das erste leistet das im vorigen \u00a7. beschriebene Verd\u00fcnnen der Luft der Trommel durch starke Inspirationsbewegung bei zugehaltener Mund- und Nasen\u00f6ffnung. Hierbei legen sich die W\u00e4nde der Tfiba an einander, diess erkennt man daran, dass die eingezogene, f\u00fchlbar gespannte Stellung des Trommelfells bleibt, bis man sie durch den beschriebenen Mechanismus aufhebt. Ferner kann man die Tuba weiter als gew\u00f6hnlich machen durch die Exspirationsbewegung bei zugehaltener Mund-und JNasen\u00f6ffnung. Auch in diesem Fall wird das Trommelfell gespannt. Die Verh\u00e4ltnisse bleiben sich also (ausser der Dichtigkeit der Luft) ziemlich gleich. In beiden F\u00e4llen ist das Trommelfell gespannt, aber in dem einen die Tuba weit, in dem andern geschlossen. Nun h\u00f6rt man aber gleich schlecht in beiden F\u00e4llen.\n7) Sie ist bestimmt zum H\u00f6ren der Stimme. Diese Thesis scheint schon hinl\u00e4nglich durch \u00e4ltere Erfahrung, namentlich Schei-lhammer\u2019s Versuch widerlegt. Er brachte eine t\u00f6nende Stimmgabel ins Innere des Mundes und sie ward nun fast gar nicht geh\u00f6rt. Vor dem massig ge\u00f6ffneten Mund t\u00f6nt sie sehr stark , wegen der Resonanz der Luft der Mundh\u00f6hle, wie eine \u00fcber die Oeffnung einer Flasche gehaltene t\u00f6nende Stimmgabel. Der resonirende Ton wird aber auch grossentheils durch die Leitung des \u00e4ussern Ohrs zum Tympanum gebracht. Eine Uhr wird, im Mund frei und ohne Ber\u00fchrung der Z\u00e4hne und Z\u00fcngle gehalten, nicht leicht geh\u00f6rt. Volle Beweiskraft bat allerdings der ScHELLHAMMER\u2019sehe Versuch nicht. Denn der Ton der Stimmgabel wird, als von einem festen K\u00f6rper kommend, schwer an die Luft abgegeben, beim Ton der Stimme erregen aber die primitiv t\u00f6nenden Stimmb\u00e4nder regelm\u00e4ssige Mitschwin-gung;en der Luft, wie an jedem Zungenwerk. Man kann sich indess auclii auf andere Weise \u00fcberzeugen, dass der Einfluss der Tuba auf das H\u00f6ren der Stimme \u00e4usserst gering ist. Man hat es, wie vorher beschrieben worden, durch die Respirationsbewegungen in seiner Gewalt, die Tuba zu schliessen und zu \u00f6ffnen. Beim Ausziehen der Luft aus der Trommel oder bei der Verd\u00fcnnung derselben mittelst Inspiration bei zugehaltener Mund- und Nasen\u00f6ffnung schl\u00fcesst sich die Tuba f\u00fcr einige Zeit, bei der Verdichtung der Luft der Trommel durch Exspiration bei verschlossenen Luftwegen wird sie noch weiter als gew\u00f6hnlich. Es k\u00f6mmt also nur darauf an, bei verschlossener Mund- und Nasen\u00f6ffnung in dem eine n und andern Fall einen Stimmton hervorzubringen, was wenigstens als kurzes Gesumme nicht unm\u00f6glich ist. Man h\u00f6rt es m dem einen und andern Falt sehr deutlich und es ist wenig","page":449},{"file":"p0450.txt","language":"de","ocr_de":"150 V. Buch. Von den Sinnen. II. Ah sehn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nUnterschied, es klingt bei erweiterter Trompete nur ein klein wenig st\u00e4rker als im geschlossenen Zustande derselben. Unsere Stimme b\u00f6ren wir also sicher nicht vorzugsweise durch die Tuba; wir h\u00f6ren sie zum Theil durch den \u00e4ussern Geh\u00f6rgang. Vom Mund aus breiten sich kreisf\u00f6rmige Schallwellen aus, die hinteren St\u00fccke dieser Kreise stossen auf die Concha und werden gegen den Tragus, von diesem in den Geh\u00f6rgang reflectirt. Gerade f\u00fcr die g\u00fcnstige Reflexion der aus dem Mund ausgehenden Schallwellen hat die Concha des \u00e4ussern Ohrs meines Erachtens die geeignetste Stellung. Dann aber wird unsere Stimme geh\u00f6rt durch die Schallleitung von der Luft an die Nasen- und Mundw\u00e4nde und sofort an die Kopllnochen und noch unmittelbarer durch eine blosse Kette fester Theile bis zum Labyrinth, n\u00e4mlich von den Stimmb\u00e4ndern an durch die weichen und festen Theile des Halses und Kopfes. Wie wirksam diese Art der Leitung seyn muss, ergiebt sich aus der H\u00f6rbarkeit des ganz von festen Theilen unseres K\u00f6rpers eingeschlossenen Ger\u00e4usches, der Borborygmi im Darm und dergleichen. Noch besser bringt man sieb das H\u00f6ren unserer eigenen Stimme durch Leitung fester Theile zur Anschauung, -tvenn man bei verstopften Ohren einen Stab an sein eigenes Ohr, und auf den Kehlkopf eines sprechenden Menschen legt. Alan h\u00f6rt dann die Stimme des Andern unter denselben Umst\u00e4nden, wie man seine eigene h\u00f6rt. Bei pathologischer Verschliessung der Tuba tritt zwar Schwerh\u00f6rigkeit f\u00fcr \u00e4ussere T\u00f6ne ein, allein die eigene Stimme wird nicht schlecht geh\u00f6rt, wie Autenrieth und Lincke beobachteten. Autenrieth in Reil\u2019s Archiv. 9. 321. Lincke a. a. O. 502.\nS) Die Tuba ist bestimmt, den Schleim der Trommelh\u00f6hle durch ihre Wimper-Bewegung auszuf\u00fchren. Hieran l\u00e4sst sich nicht zweifeln und es l\u00e4sst sich auch die Schwerh\u00f6rigkeit nach Verschliessung der Trompete zum Theil aus dem Anf\u00fcllen der Trommelh\u00f6hle mit Schleim erkl\u00e4ren. Indess wird dies nicht der einzige Zweck der 7'rompete seyn.\n9) Sie ist bestimmt, die. Luft der Trommelh\u00f6hle mit der \u00e4ussern Luft ins Gleichgewicht zu setzen und namentlich eine durch einseitig verdichtete oder verd\u00fcnnte Luft entstehende, gr\u00f6ssere Spannung des Trommelfells und die daraus erfolgende Schwerh\u00f6rigkeit zu vermeiden. Diess halte ich f\u00fcr den Hauptzweck der Tuba als einer allgemeinen mit der Trommelh\u00f6hle und dem Trommelfell gleichzeitigen Erscheinung. Nicht die einseitige Verdichtung der Luft oder die Verd\u00fcnnung der Luft kommt hierbei vorz\u00fcglich in Betracht (der Erfolg ist in beiden F\u00e4llen gleich), sondern die dadurch notbwendig herbeigef\u00fchrte Spannung des Trommelfells, welche jedesmal Schwerh\u00f6rigkeit verursacht. Und so ist auch wohl in vielen F\u00e4llen der Schwerh\u00f6rigkeit von chronischer Verschliessung der Tuba durch irgend eine Krankheit der Nutzen des Cathetcris-mus und sein Zusammentreffen mit der Perforation des Trommelfells und des Zitzenlortsatzes zu betrachten. Dabei l\u00e4ugne ich nicht die andern schon gew\u00fcrdigten Vorlheilc und lege vielmehr zun\u00e4chst noch den meisten Werth auf die erw\u00e4hnte Mo-","page":450},{"file":"p0451.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik A. Grhiinvrrkzeugc. Schaffleihmg b. d. Luftlh. 151\ndification des Klanges durcli die Tuba, der dadurch von seiner dumpfen Resonanz befreit wird, auf die Versorgung der Trommel mit Luft, und ihre Erhaltung und die Ausf\u00fchrung der S\u00e9cr\u00e9ta der Trommelh\u00f6hle.\nBei Menschen deren Tuba hinl\u00e4nglich weit ist, muss sieb das ver\u00e4nderte Gleichgewicht der Luft unmerklich hersteilen, wenn die \u00e4ussere Luft schnell an Dichtigkeit zunimmt; dass es aber in anderen F\u00e4llen nicht unmerklich geschieht, und vielmehr eine Zeitlang eine St\u00f6rung des Gleichgewichtes eintreten kann, daf\u00fcr kann man schon die Erfahrungen in der Taucherglocke anf\u00fchren. Carus bemerkte beim Besteigen hoher Berge eine Spannung im Ohr, und nach einer gewissen zur\u00fcckgelegten H\u00f6he ein Knacken im Ohr, was sich ohngef\u00e4hr auf 600 Fuss H\u00f6henunterschied wiederholte. Carus in Bericht \u00fcber die Versammlung der ISaturjorscher in Jena. In wie w'eit diess hei Andern sich in dieser Art wiederlindet, h\u00e4ngt nat\u00fcrlich zum Theil von individuellen Verh\u00e4ltnissen ah. Ich erinnere mich eigener Erfahrungen in diesem Puncte nicht. Ich w\u00fcrde \u00fcbrigens das gest\u00f6rte Gleichgewicht, ehe es zu einem Maximum k\u00e4me, auf die schon beschriebene Weise durch willk\u00fchrliche Action des Tensor tym-pani beseitigen, was hei mir auch ein Knacken hervorbringt.\nMuncke nimmt an, dass die Membrana tympani secundaria des runden Fensters hei einem zu heftigen Stoss auf das Labyrinthwasser dazu diene, durch ihr Ausweichen den Eindruck zu d\u00e4mpfen. Eine Ableitung des Schalls ist allerdings in einem Luftcanal oder Comnmnicalionsrohr- m\u00f6glich, wenn die W\u00e4nde des Rohrs, welche die Wellen wegen der schwierigen Mittheilung Zusammenhalten, eine Oeffnung haben, aber die Stosswellen des Wassers gehen sehr leicht an feste K\u00f6rper \u00fcber.\nAeusscrer G c h \u00f6 r g a n g.\nDer \u00e4ussere Geh\u00f6rgang ist hei der Schallleitung in dreifacher Hinsicht wichtig, erstens indem er die aus der Luft einfallenden Schallwellen durch seine Luft unmittelbar auf das Trommelfell leitet, und die Schallwellen zusammenh\u00e4lt, zweitens indem seine W\u00e4nde die dem \u00e4ussern Ohre selbst rnitgetheilten Wellen auf dem n\u00e4chsten Wege auf die Befestigungsorte des Trommelfells und so auf dieses seihst leiten, drittens insofern die im Gehor-gang enthaltene begrenzte Luftmasse der Resonanz f\u00e4hig ist.\nAls Luftleiter empf\u00e4ngt er die directen Luftwellen, welche die st\u00e4rkste Wirkung hervorbringen m\u00fcssen, wenn sie in der Achse des Geh\u00f6rganges einfallen. Fallen sie schief in den Gang ein, so werden sie durcli Reflexion dem Trommelfell zugeleitel. Auf diese Weise erh\u00e4lt der Gch\u00f6rgang auch durch Reflexion die gegen die Concha des \u00e4ussern Ohrknorpels stossenden Wellen, wenn ihr Reflexionswinkel geeignet ist, sie gegen den Tragus zu werfen. Schallwellen der Luft, welche weder unmittelbar, noch durch Reflexion in den \u00e4ussern Geh\u00f6rgang gelangen, k\u00f6nnen noch zum Theil durch Beugung in ihn eintreten, z. B. Luftwellen, welche","page":451},{"file":"p0452.txt","language":"de","ocr_de":"452 V. Buch. Von den Sinnen. II. Ahsclin. Vom Geh\u00f6rsinn.\ndie Richtung der L\u00e4ngsache des Kopfes haben und an dem Ohre Vorbeigehen, m\u00fcssen nach den Gesetzen der Beugung an den R\u00e4ndern des \u00e4ussern Geh\u00f6rganges in diesen umbiegen. Am st\u00e4rksten werden indess jedenfalls die directen, weder reflectirten noch gebeugten Wellen seyn. Hierdurch vermag man die Direction des Schalles wahrzunehmen, wenn man den \u00e4ussern Geh\u00f6rgang in verschiedene Directionen bringt.\nAls feste Leiter kommen ferner die W\u00e4nde des \u00e4ussern Geh\u00f6rganges in Betracht. Denn diejenigen Wellen, welche sich dem \u00e4ussern Ohrknorpel einmal mitgethcilt, ohne rellectirt zu seyn, gelangen auf dem k\u00fcrzesten Wege durch die W\u00e4nde des Geh\u00f6rganges zum Trommelfell. Rei fest verstopften Ohren ist der Ton einer Pfeife st\u00e4rker, wenn ihr mit Membran geschlossenes Ende auf den Ohrknorpel selbst aufgesetzt wird, als wenn sie die Oberfl\u00e4che des Kopfes ber\u00fchrt.\nEndlich -ist auch der begrenzte Luftraum des Geh\u00f6rganses als Resonator wichtig. Jeder begrenzte Luftraum resonirt. Man braucht die R\u00f6hre des \u00e4ussern Geh\u00f6rganges nur durch eine angesetzte andere R\u00f6hre zu verl\u00e4ngern, um sich von diesem Einfluss zu \u00fcberzeugen. Jeder Ton, auch der Ton der eigenen Stimme wird dann viel st\u00e4rker geh\u00f6rt. Werden l\u00e4ngere R\u00f6hren angesetzt, so klingt die Lufts\u00e4ule sogar nach Massgabe ihrer L\u00e4nge in ihrem eigenen Tone mit, wie die Br\u00fcder Weber zeigten. Bei kleinen Lufts\u00e4ulen h\u00f6rt diess Mitklingen auf, und sie bewirken blosse Verst\u00e4rkung durch Resonanz.\nAeusserer Ohrknorpel.\nDer \u00e4ussere Ohrknorpel ist theils Reflector, theils Condensa-tor und Leiter der Schallwellen. Als Reflector k\u00f6mmt vorz\u00fcglich die Concha in Betracht, indem sie die Schallwellen der Luft gegen den Tragus wirft, von wo sie in den Geh\u00f6rgang gelangen. Die \u00fcbrigen Unebenheiten des Ohrs sind der Reflexion nicht g\u00fcnstig. Siehe Esser in Kastner\u2019s Archiv 12. Man k\u00f6nnte sie aber nur dann f\u00fcr zwecklos halten, wenn man den Ohrknorpel als Selbstleiter von Schallwellen ausser Acht liesse. Er empf\u00e4ngt St\u00f6sse der Luft und wirft sie als fester K\u00f6rper theils wieder ah, theils leitet und condensirt er sie, wie es jeder andere feste und elastische K\u00f6rper thun w\u00fcrde, wie Savart mit Recht hervorhebt. Er nimmt die Schallwellen in grosser Breite auf, und leitet sie auf seine Insertionsstelle. Das Fortschreiten des Stosses im Ohrknorpel kann man sich zufolge Savart\u2019s Untersuchungen \u00fcber die Fortleitung des Stosses in K\u00f6rpern mit verschie-, deutlich gestellten Zweigen, die ich oben auf die Fortleitung des Stosses in den Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen anwandte, deutlich machen. Die dem Ohrknorpel mitgetheilte Stosswelle wird nicht dessen Biegungen folgen, sondern indem sie ihn in der urspr\u00fcnglichen Richtung durchsetzt,- werden die angrenzenden noch so verschiedenartig gestellten Theile des Ohrknorpels durchaus in derselben","page":452},{"file":"p0453.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik d. Geh\u00f6r Werkzeuge. Schallleitung h. d. Luftth. 453\nRichtung vom Stosse fortgerissen. Diess geschieht von Theilchen zu Theilchen bis ins Innere des Ohrs, zum Troinme'fell und den Kopfknochen.' Wegen des Zusammenhanges der W\u00e4nde des Geh\u00f6rganges mit den festen Theiien des ganzen Kopfes, hndet zwar Zerstreuung statt, aber die Befestigungsstellen des Trommelfells empfangen die Wellen auf dem k\u00fcrzesten Wege, und theiien sie dem Trommelfell so gewiss mit', als die Wand einer Trommel einem Trommelfell, und der Steg einer Saite dieser selbst.\nFasst man nun aber den Ohrknorpel als Selbstleiter auf, so werden alle seine Unebenheiten, Erhabenheiten und Vertiefungen, welche in Beziehung auf Reflexion zwecklos sind, zweckmassig. Denn diejenigen Erhabenheiten und Vertiefungen, auf welche gerade die Schallwellen senkrecht sind, werden diese auch am st\u00e4rksten aufnehmen. Die Unebenheiten sind aber so mannigfaltig, dass die Schallwellen, m\u00f6gen sie kommen von wo sie wollen, auf die Tangente einer dieser Erhabenheiten senkrecht seyn werden. Auf diese Weise l\u00e4sst sich der Zweck der wunderlichen Bildung des \u00e4ussern Ohrs einsehen.\nDas \u00e4ussere Ohr der Thiere gleicht ganz einem willk\u00fchrlich zu dirigirenden H\u00f6rrohr, in dem die Luftwellen in der Luft con-densirt fortgehen, und dessen W\u00e4nde zugleich Selbstleiter sind. Zugleich verl\u00e4ngert dasselbe die resonirende Lufts\u00e4ule des \u00e4ussern Geh\u00f6rganges, wie ein H\u00f6rrohr* *).\nResonirende feste K\u00f6rper und Luft in der Umgehend des Labyrinthes.\nJeder begrenzte feste K\u00f6rper und jede begrenzte Luftmasse ist in der N\u00e4he des Labyrinthes ein Resonator. Unter diesem Gesichtspunct m\u00fcssen nicht bloss die Kopfknochen, sondern alle in der N\u00e4he des Geh\u00f6rorganes liegenden Knorpel, Membranen, betrachtet werden.\nDurch das Resoniren begrenzter Luftmassen wird unsere Stimme nicht bloss f\u00fcr andere, sondern auch f\u00fcr uns vernehmlicher. Jeder begrenzte Luftraum resonirt, wenn ein Ton angegeben wird. Wird die t\u00f6nende Stimmgabel \u00fcber die Oeffnung eines Medicinglases gehalten, so resonirt die darin enthaltene Luft sehr stark, w\u00e4hrend die Resonanz viel geringer ist, wenn die Gabel in die N\u00e4he der W\u00e4nde des Glases geh.alten wird, \u00dfie Luft einer R\u00f6hre resonirt stark, mag sie an einem oder an beiden Enden offen seyn. H\u00e4lt man die t\u00f6nende Stimmgabel dicht vor den Mund, so ist die Resonanz ausserordentlich stark, und man h\u00f6rt sie sowohl selbst, als sie ein anderer h\u00f6rt**).\n*) Man \u00fcbersieht h\u00e4ufig, sowohl beim H\u00f6rrohr als Sprachrohr, die grosse Verst\u00e4rkung des Schalls, durch die begrenzte, resonirende Lufts\u00e4ule des Rohrs.\n*) Die Resonanz klingt als u, wenn die Mund\u00f6ffnung klein ist, als a, wenn sie gr\u00f6sser ist. Auch ist der Ton einer Stimmgabel, die \u00fcber eine gleich weite, auf den Tisch aufgesetzte R\u00f6hre von 8 Lin. Durch-\nmesser und of Zoll L\u00e4nge gehalten wird, wie u, wenn man die Oeffnung","page":453},{"file":"p0454.txt","language":"de","ocr_de":"! 51 V. Buch. Van den Sinnen. II. aIhsehn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nH\u00e4lt man dagegen die t\u00f6nende Gabel tief in den weit offenen Mund hinein, so ist ihr Ton ausserordentlich schwach, sowohl f\u00fcr uns selbst, als f\u00fcr andere. Hiermit scheint in Verbindung zu stehen, dass Schwerh\u00f6rige den Mund \u00f6ffnen. Das Mith\u00f6ren durch die Eustachische Trompete kann hierbei gar nicht in Betracht kommen , da eben eine Stimmgabel in der Tiefe des Rachens so schwach geh\u00f6rt wird. Indess kann das Offenheiten des Mundes zum H\u00f6ren bei Schwerh\u00f6rigen noch mehr darin seinen Zweck haben, dass der knorpelige Theil des \u00e4ussern Geh\u00f6rganges beim Oeffnen des Mundes weiter wird, wie bereits Elliot bemerkt.\nJedenfalls h\u00e4ngt das starke H\u00f6ren, wenn man sich durch eine R\u00f6hre an den Mund oder an die Nase sprechen l\u00e4sst, zum Theil von der Resonanz der Lufth\u00f6hlen ab.\nAuch die Luft des \u00e4ussern Geh\u00f6rgangs und der Trommelh\u00f6hle ist ein Resonator. Man bemerkt diess schon, wenn man den Geh\u00f6rgang dadurch verl\u00e4ngert, dass man eine R\u00f6hre in den Meatus auditorius setzt. Nicht bloss h\u00f6rt man ein Rauschen von der Blutbewegung im Ohr, und den kleinen auch bei scheinbarer Ruhe in der Luft vorhandenen Bewegungen, welche ohne gerade nothwendig Schallwellen zu seyn, die Luft der R\u00f6hre, wie die einer Pfeife durch Blasen, zum T\u00f6nen bringen; sondern jeder Ton, sowohl der eigenen Stimme, als \u00e4usserer K\u00f6rper ist mit einer schallenden Resonanz begleitet. So wie man das Factum bei Verl\u00e4ngerung des Geh\u00f6rganges durch eine R\u00f6hre wahrnimmt, so bemerkt man es auch, bei Verk\u00fcrzung der Lufts\u00e4ule des Gc-h\u00f6rganges durch einen tief eingesetzten Stopfen. Denn dann werden nicht bloss alle T\u00f6ne \u00e4usserer K\u00f6rper schwach geh\u00f6rt, wegen unterbrochener Luftleitung, sondern man h\u00f6rt eben so schwach den Ton der eigenen Stimme. Die Erkl\u00e4rung, dass nun keine Schallwellen aus dem Munde in den Geh\u00f6rgang fallen, reicht nicht hin. Allerdings fallen die kreisf\u00f6rmigen Schallwellen von unserer Stimme, die sich von der Mund\u00f6ffnung aus nach allen Richtungen verbreiten, bei offenem Geh\u00f6rgang einigermassen durch Reflexion von der Concha des \u00e4ussern Geh\u00f6rganges und durch Beugung in diesen Gang. Man kann aber diesen Einfluss ganz neutralisiren, und die Stimme bleibt doch stark, wenn der ganze Geh\u00f6rgang noch Luft enth\u00e4lt. H\u00e4lt man sich die flachen H\u00e4nde dicht vor beide Ohren, so dass keine Luftwellen unserer Stimme mehr in diese einfallen k\u00f6nnen, so h\u00f6rt man die eigene Stimme noch sehr stark. Denn hier ist noch 'die ganze resonirende Lufts\u00e4ule des \u00e4ussern Geh\u00f6rganges vorhanden. Stopft man sich aber einen grossen Theil des Ganges durch den kleinen Finger oder einen Stopfen gekauten Papiers zu, so h\u00f6rt man die eigene Stimme nur sehr schwach. Die aufgehobene Resonanz der Luft des Geh\u00f6rganges ist also zum Theil die Ursache, dass die eigne Stimme bei verstopften Ohren so schwach geh\u00f6rt wird.\ndurch die Hand verengt, mehr dem a \u00e4hnlich, wenn man die ganze OeHnung der R\u00f6hre zu l\u00e4sst.","page":454},{"file":"p0455.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik cl. Geh\u00f6r Werkzeuge. Schallleitung h. d. Luftth. 455\nL ci t u ng durch die T r omin e 1 h\u00fc h 1 e und Leitung d u r ch die Kopfknochen.\nDie Schallleitung durch die Trommelh\u00f6hle theilt dem Labyrinthe einseitige St\u00f6sse durch die Fenster mit, von wo aus dann die Wellen sich im Labvririthwasser verbreiten.\nD ie'Leitung durch die Kopfknochen zum Labyrinth, welche bei den Knochenfischen die einzige ist, f\u00fchrt dem Labyrinthe von jeder Seite aus gleich leicht Schallwellen zu. Diese a\u00eelseitige Zuleitung k\u00f6mmt auch bei den Luftthieren vor, kann aber nur sehr schwach in der Luft seyn, weil die Mittheilung der Luftwellen an die festen Theile des Kopfes so schwer ist. Wir haben keine Gelegenbeit, zu empfinden, wie stark die alleinige Leitung der Luftwellen durch die Kopfknochen seyn w\u00fcrde. Denn wenn wir auch die Ohren fest verstopfen, so leitet das Ohr die Luftwellen immer noch st\u00e4rker, als die Kopfknochen, und die begrenzten Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen machen einen starkem Eindruck auf das Labyrinth, als d:e nicht isolirten Kopfknochen. Diese Verst\u00e4rkung der Leitung durch die Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen kann auch dann eintreten, wenn die Luftwellen zuerst den Kopfknochen zugef\u00fchrt werden. Denn dann werden sie auch zum Trommelfell und zu den Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen mittelbar zugeleitet, und der Trommelh\u00f6hlenapparat resonirt. So ist es auch bei den von unserer eigenen Stimme den Mund-, Rachen- und Nasentheilen mitgetheilten Wellen. Sie bewirken auch eine Resonanz des Trommelh\u00f6hlenapparates. Diess gilt aber auch von den Wellen, welche von festen Theilen den Kopfknochen mitgetheilt werden. Auch hier wirkt immer jene Resonanz mit. Setzt man eine t\u00f6nende Stimmgabel bei verstopften Ohren auf den Scheitel, so ist der Ton am schw\u00e4chsten, st\u00e4rker ist er, wenn sie auf die Schl\u00e4fe aufgesetzt wird, je n\u00e4her sie dem Geh\u00f6rgang steht, um so st\u00e4rker wird der Ton, und der Ton nimmt nicht bloss in dem Verh\u00e4lt-niss zu, je n\u00e4her der t\u00f6nende K\u00f6rper dem Labyrinth ist, sondern zugleich, je n\u00e4her die schallleitenden Theile des Kopfes der \u00e4us-sern Ohr\u00f6ffnung sind.\nDie blosse Leitung von Luftwellen durch die Kopfknochen k\u00f6nnte nur Jemand h\u00f6ren, bei dem der Trommelh\u00f6hlenapparat gar nicht vorhanden, und der \u00e4ussere Geh\u00f6rgang geschlossen w\u00e4re. Wahrscheinlich w\u00fcrden in diesem Falle Luftwellen gar nicht, oder \u00e4usserst schwach geh\u00f6rt werden. Dagegen das H\u00f6ren von St\u00f6ssen fester K\u00f6rper, die durch feste K\u00f6rper auf die Kopfknochen geleitet werden, hei unversehrtem Labyrinth noch stattfinden muss. Dieses Mittels kann man sich bei Tauben, welche Luftwellen nicht h\u00f6ren, bedienen, um zu ermitteln, ob ihr Labyrinth und ihr Gch\u00f6rnerve noch in Integrit\u00e4t sind.\nEin Tauber, der keine Wellen aus der Luft zu h\u00f6ren vermag, h\u00f6rt zuweilen doch das starke Klopfen auf den Boden, welches ihm durch die festen Theile des K\u00f6rpers zugeleitet wird. Doch ist hiebei schwer zu unterscheiden, was der Empfindung M\u00fc l ler\u2019s Physiologie. 2r J\u00bb<!. I!\u00ab\t30","page":455},{"file":"p0456.txt","language":"de","ocr_de":"/\n456 V. Buch. Von den Sinnen. II. Ahsrhn. Vom Geh\u00f6rsinn.\ntier Hebung durch das Gef\u00fchl und was dem Geh\u00f6r angeh\u00f6rt. Alle tiefen T\u00f6ne wirken leicht auf die Gef\u00fchlsnerven und man empfindet die Hebungen als Gef\u00fchl, wenn man w\u00e4hrend des Sprechens an die Brust die Hand legt, oder einen t\u00f6nenden festen K\u00f6rper mit der Hand h\u00e4lt. Die im Wasser durch die Pfeife erregten Schallwellen f\u00fchlt man durch das Gef\u00fchl nicht, wenn man die Hand ins Wasser h\u00e4lt, wohl aber, wenn man mit der Hand einen festen K\u00f6rper in das Wasser taucht. Diese Gef\u00fchlsempfindungen von Schwingungen haben zu der falschen Vorstellung Veranlassung gegeben, dass man durch andere Verven als den Geh\u00f6rnerven auch h\u00f6ren k\u00f6nne.\nH\u00f6ren der Schallwellen verschiedener Medien.\nI. Unmittelbare Schallleilung der Luft zum Geh\u00f6rorgan.\nWir h\u00f6ren am h\u00e4ufigsten durch Wellen der Luft, m\u00f6gen sie prim\u00e4r in der Luft erzeugt seyn, oder in andern K\u00f6rpern erzeugt durch die Luft zu unserm Ohr gelangen. Sind die Wellen zuerst in der Luft erzeugt, so gelangen sie viel st\u00e4rker zum Geh\u00f6rorgan, als wenn sie von andern K\u00f6rpern erzeugt, der Luft, mitgetheilt werden. Denn im letzten Fall findet eine Verminderung der St\u00e4rke bei der Mittheilung an die Luft statt. Saiten und Stimmgabeln t\u00f6nen darum so schwach ohne Resonanzboden, der mit dem t\u00f6nenden festen K\u00f6rper durch Steg oder anderweitig in Verbindung stehen muss. Der Resonanzboden ist hingegen hei den Blaseinstrumenten ganz unn\u00f6thig, da die prim\u00e4r erzeugten Luftwellen am st\u00e4rksten durch die Luft seihst fortgepflanzt werden. Ein wirksamer Resonanzboden f\u00fcr prim\u00e4re Luftwellen k\u00f6nnte nur die Luft selbst in einem begrenzten Raume seyn. Ein fester Resonanzboden w\u00fcrde wenig zur Verst\u00e4rkung des Tons beitragen , da hei der Mittheilung der Schallwellen aus der Luft an feste K\u00f6rper und von diesen an die Luft eine Verminderung der St\u00e4rke der St\u00f6sse stattfindet.\nSo wie die Schallwellen fester K\u00f6rper sich schwierig der Luft mittheilen, ebenso gehen auch die Schallwellen des Wassers schwer an die Luft \u00fcber. Befindet sich das Ohr in der Luft, so wird ein im Wasser erzeugter Schall immer sehr schwach von uns vernommen, und bei einem sehr schiefen Winkel der Direction der Schallwellen gegen die Wasser- und Luftfl\u00e4che gar nicht, wie diess auch beim Licht der Fall ist. Diese Schwierigkeit erfuhr auch Colladon bei seinen Versuchen \u00fcber die Schnelligkeit der Fortpflanzung des Schalls im Wasser. Eine ins Wasser und ans Ohr gehaltene R\u00f6hre leistete fast gar keinen Dienst, wenn nicht am untern Ende der R\u00f6hre eine die Schallwellen des Wassers aufnehmende feste Platte war. Um den Schall des Wassers, wenn man in der Luft ist, stark zu h\u00f6ren, muss man aber die Schallwellen des Wassers nicht bloss in einen festen Stab leiten und diesen ans Ohr halten, sondern diesen auch mit einem das Ohr ausf\u00fcllenden Stopfen in Verbindung bringen, so dass der Zwischenk\u00f6rper der Luft so viel als m\u00f6glich ausgeschlossen ist.","page":456},{"file":"p0457.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik d. Geh\u00f6rwerkzeuge. Schallleitung h. d. Luftth. 457\nNur auf diese Weise h\u00f6rt man eine im Wasser selbst l\u00e4utende kleine Glocke mit ihrem vollen Klange*).\nMuss der Schall zuerst in Wasser und aus diesem wieder in Luit zu unserm Geh\u00f6rorgan gelangen, so ist die Schw\u00e4chung noch gr\u00f6sser; daher h\u00f6ren Taucher von dem \u00fcber dem Wasser erzeugten Schall nichts. Gehler\u2019s physiol. W\u00f6rterb. 8. p. 41.9.\nBeim H\u00f6ren in der Luft h\u00e4ngt \u00fcbrigens die St\u00e4rke des Schalls von der Dichtigkeit und der Trockenheit der Luft ah. Die Schnelligkeit der Schallleitung nimmt zwar mit der Verd\u00fcnnung der Luft zu, aber die St\u00e4rke der Schwingungen nimmt mit der Verd\u00fcnnung ab. Eine im verd\u00fcnnten Luftraum t\u00f6nende Glocke wird fast gar nicht geh\u00f6rt. Genau genommen ist allerdings damit doch nur bewiesen, dass die Verminderung des Stosses beim Ue-bergang der Wellen aus der Glocke an die verd\u00fcnnte Luft und von dieser an den Recipienten sehr gross ist. Ueher das unmittelbare H\u00f6ren von Luftwellen verd\u00fcnnter und verdichteter Luft, n\u00e4mlich solcher Wellen, die ohne durch feste K\u00f6rper durchzugehen, auf das Trommelfell stossen, sind noch fast gar keine Versuche angestellt. Man hat nur die von Saussure auf dem Montblanc angestellte Erfahrung, dass in den d\u00fcnneren Luftschichten ein Pistolenschuss nicht mehr Ger\u00e4usch machte, als ein kleiner Schw\u00e4rmer es gew\u00f6hnlich thut.\nII.\tUnmittelbare Schallleitung des Wassers mm Geh\u00f6rorgan.\nWenn wir im Wasser selbst untertauchen, gelangen die Schallwellen des Wassers zum Trommelfell. Alle im Wasser selbst erzeugten Schalle werden dann vortrefflich geh\u00f6rt, wie die Erfahrungen von Nollet und Monro zeigten, und jeder, der im Wasser untergetaucht, weiss. Schwieriger w'erden im Wasser die aus der Luft ins Wasser \u00fcbergehenden Schallwellen geh\u00f6rt, welche bei fiesem Uebergang eine betr\u00e4chtliche Verminderung der St\u00f6sse ihrer schwingenden Theilchen erleiden.\nIII.\tUnmittelbare Schallleitung fester K\u00f6rper zum Geh\u00f6rorgan.\nDie gr\u00f6sste Intensit\u00e4t des Schalles bei prim\u00e4ren Luftwellen\nfindet statt bei unmittelbarer Leitung des Schalles durch die Luft zum Geh\u00f6rorgan; die gr\u00f6sste Intensit\u00e4t des Schalles prim\u00e4rer Wellen fester K\u00f6rper findet statt bei unmittelbarer Leitung derselben durch feste K\u00f6rper zum Geh\u00f6rorgan. Der Klang eines St\u00fcckes Holz oder Metall ist schwach von der Luft geleitet, ausserordentlich stark, wenn eine Schnur vom klingenden K\u00f6rper an die Z\u00e4hne oder in beide verstopfte Ohren gehalten wird. Bei 300 Ellen Entfernung h\u00f6rten Herhold und Rsfn den Klang eines L\u00f6ffels durch eine am L\u00f6ffel selbst befestigte Schnur auf diese Weise noch wie den Ton einer Glocke. Jeder weiche und feste\n*) Dass eine Glocke ans dem Wasser keinen Klang, sondern nur einen kurzen Stoss wahrnehmen Hess, wie CoiXADOK fand, konnte von der grossem Entfernung oder auch von der Unvollkommenheit der angewandten Leitung abh\u00e4ngen. Denn klanglos wird der Ton einer nahen im Wasser t\u00f6nenden Glocke nach meinen Versuchen nur geh\u00f6rt, wenn er nicht durch eine Kette fester K\u00f6rper ans dent Wasser zum Labyrinth kommt, sondern durch eine Luftschicht durchgehen muss.\n30 *","page":457},{"file":"p0458.txt","language":"de","ocr_de":"458 V. Buch. Ven dm Sinnen. II. Ahschn. Von} Geh\u00f6rsinn.\nTli eil des Kopfes ist zur Aufnahme der St\u00f6sse fester K\u00f6rper geeignet. Am schw\u00e4chsten werden sie durch die Weichtheile des Kopfes fortgepllanzt, wenn man den Stab, der den t\u00f6nenden K\u00f6rper ber\u00fchrt, an sie anlegt *) St\u00e4rker ist diese Leitung, wo die Kopfknochen d\u00fcnn bedeckt sind, noeb st\u00e4rker, wo sie frei liegen, wie an den Z\u00e4hnen. Wird eine Uhr an die Z\u00e4hne angelegt, so ist ihr Schlag ungemein deutlich, am st\u00e4rksten an den Z\u00e4hnen des Oberkiefers, von wo die Leitung bloss durch harte Thnile durchgeht. Schw\u00e4cher ist die Leitung bei Ber\u00fchrung der Zunge, am schw\u00e4chsten, wenn die Uhr nur in die Luft der Mundh\u00f6hle gehalten wird. Ebenso stark, und noch st\u00e4rker ist die Leitung durch die W\u00e4nde des \u00e4ussern Geh\u00f6rganges, wenn dieser verstopft ist und ein Stab zwischen Uhr und Stopfen oder die n\u00e4chste Umgegend des Geh\u00f6rganges angelegt wird. In diesem Fall kommen die Wellen fester K\u00f6rper statt durch die Kopfknochen ins Labyrinth, vielmehr unmittelbar durch eine Kette von festen W\u00e4nden und zun\u00e4chst von den W\u00e4nden des Geh\u00f6rganges auf das Trommelfell und die Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen. Die Wirkung des H\u00f6rrohrs der Schwerh\u00f6rigen beruht zum Theil auf der ungeschw\u00e4chten Fortleitung der LuftWtdlen, zum Theil auf der Resonanz der Lufts\u00e4ule des H\u00f6rrohrs, zum Theil aber auch auf der Communication der resonirenden W\u00e4nde des Rohrs mit den festen Theilen des Geh\u00f6rganges. Dass auch letztere von Wichtigkeit ist, kann man an einem Beispiel sehen, wo die Condensation der Luftwellen wegf\u00e4llt. L\u00e4sst man n\u00e4mlich in ein Rohr sprechen, und fasst, bei verstopften Ohren, das Rohr von der Seite zwischen den Z\u00e4hnen, so h\u00f6rt man einen ausserordentlich starken Schall, welcher von der Resonanz des Rohrs abh\u00e4ngt, die man durch die Luft allein zum Ohr gelangend kaum h\u00f6ren w\u00fcrde.\nDie unmittelbare Leitung fester Theile zu den festen Thei-len des Geh\u00f6rorgans wird auch in Anspruch genommen beim H\u00f6ren durch Aullegen des Ohrs auf den Erdboden. Ist das Ohr dabei verstopft und ber\u00fchrt der Stopfen die Erde, so ist die Leitung noch viel st\u00e4rker. Nat\u00fcrlich k\u00f6nnen hiebei nur solche T\u00f6ne stark vernommen werden, welche prim\u00e4r im Erdboden entstehen oder in festen Theilen entstehend, durch feste Theile dem Erdboden zugeleitet werden, wie die Fusstritte der Menschen und Pferde; dagegen prim\u00e4re Luftwellen viel schwerer dem Erdboden sich mittlieilen und in diesem keinen geeigneten Leiter f\u00fcr das anliegende Ohr haben.\nBei der Stethoskopie geschieht ganz dasselbe. T\u00f6ne in festen Theilen erregt, oder durch feste Theile durchgehend, werden von diesen ab in die festen Theile des aulliegenden Ohrs geleitet. DasSte-\n*) Kack den Erfahrungen von Perier und Larrey an Trepanirten sollte man glauben, dass die Schallwellen leichter aus der Luft durch bloss weiche Thctle zum Geh\u00f6rnerven, als durch den von der Haut bedeckten Sch\u00e4del geleilet werden. Bei verstopften Ohren sollen Trepanirte den Schall \u00fcber der \u00fcberh\u00e4uteten Trepanations\u00f6ffnung besser h\u00f6ren. T) er Erfolg, der mir nicht hinreichend constatirt scheint, soll aber nur stattfinden, wenn die Oeffnung an dem vordem 'theile des Kopfs sich befindet. Larrey clinique chirurgicale. Paris 1836 33","page":458},{"file":"p0459.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik d. Geh\u00f6rwerkzeuse. Labyrinth.\n159\nthoskop selbst leistet wenig mehr als das aulliegende Ohr selbst, ausser durch seine Resonanz. Bei seiner gew\u00f6hnlichen Einrichtung findet eine doppelte Leitung statt, von den festen Theilen des t\u00f6nenden K\u00f6rpers durch das Holz zu den festen Theilen des Geh\u00f6rorgans, und zweitens von den festen Theilen des t\u00f6nenden K\u00f6rpers an die Lufts\u00e4ule im Stethoskop und sofort durch die Luft auf das Trommelfell. Die letztere Leitung ist viel schwieriger, da die Schallwellen von der Oberfl\u00e4che des festen menschlichen K\u00f6rpers schwer an die Luft \u00fcbergehen, ist aber doch durch Resonanz n\u00fctzlich. Daher ein blosser Stab nicht dieselben Dienste timt wie ein Stethoskop. Dagegen kann man den Ton auch durch einen blossen Stab stark h\u00f6ren, wenn man sich das Ohr durch einen Papierstopfen ausstopft, und den Stab, zwar nicht an den Stopfen (denn die Reibungen st\u00f6ren das beobachten), sondern an die weiche Umgebung des \u00e4ussern Ohrs h\u00e4lt, ln diesem Falle theilt. sich die Leitung fester Theite durch den Stopfen vollst\u00e4ndiger den W\u00e4nden des Geh\u00f6rganges und sofort dem. Trommelfell mit.\nBei Schwerh\u00f6rigen, welche die Luftwellen selbst durch ein H\u00f6rrohr nicht mehr vernehmen, ist es zuweilen n\u00fctzlich, die Luftwellen in Wellen fester K\u00f6rper zu verwandeln, und diese durch Ber\u00fchren des festen K\u00f6rpers h\u00f6ren zu lassen. Am zweck-massigsten ist hierzu, wenn es sich um das H\u00f6ren der Stimme Anderer handelt, in ein Becken sprechen zu lassen, von dem ein Stab ausgeht, der zwischen die Z\u00e4hne gefasst oder einen Stopfen im Ohr gehalten wird.\nDie hieher geh\u00f6rigen Erfahrungen \u00fcber das H\u00f6ren Schwerh\u00f6riger durch feste Theile finden sich gesammelt in Culadni\u2019s Akustik p. 262. 286. und Lincke a. a. 0. p. 530.\nIII. Akustische Eigenschaften des Labyrinthes.\nLabyrinth wasscr.\nUnter den akustischen Einrichtungen des Labyrinthes nimmt das allgemeinste und nie fehlende zuerst die Aufmerksamkeit in Anspruch, das Labyrinthwasser. In allen F\u00e4llen werden n\u00e4mlich die Schwingungen immer erst auf Schwingungen des Wassers re-ducirt, ehe sie den Geh\u00f6rnerven treffen. Warum hat es die Natur bei den meisten Thieren vermieden, die den Kopfknochen mitge-theilten Stosswellen von diesen selbst aus ohne Labyrinthwasser auf den H\u00f6rnerven zu verpflanzen ? Bei den Lultthieren l\u00e4sst sich sogleich als Grund anf\u00fchren, dass die Miltheilung der Stosswellen aus der Luft an die festen Theile des Kopfes zu schwierig ist, w\u00e4hrend sie hingegen aus der Luft an Wasser durch Vermittelung einer gespannten Membran leicht ist, mag diese selbst das Wasser ber\u00fchren oder erst durch einen beweglichen frei begrenzten festen K\u00f6rper auf dasselbe wirken. Aber bei den im Wasser lebenden Thieren reicht diese Erkl\u00e4rung nicht aus. Die Mittheilung von Schwingungen aus dem Wasser au feste K\u00f6rper, und also an die Kopfknochen (wie bei den Knochenfischen) ist leicht.","page":459},{"file":"p0460.txt","language":"de","ocr_de":"460 V. Buch. Von den Sinnen. II. Ahschn. Vum Geh\u00f6rsinn.\nDennoch werden auch hier wieder die Schwingungen der Kopfknochen auf Schwingungen des Labyrinthwassers reducirt, uni von diesem aus den H\u00f6rnerven zu treffen. Der Grund muss also wohl ein allgemeinerer seyn. Er liegt wahrscheinlich in Folgendem. Der letzte Endzweck des Geh\u00f6rorganes ist vollkommene Mittheilung der Stosswellen an die Nervenfasern. Da diese wie alle Nerven weich und von Wasser durchdrungen sind, so w\u00fcrde schon die Mittheilung der Stosswellen von festen Theilen an diese weichen Nerven zum Theil eine Reduction auf Schwingungen des Wassers seyn. Ausser der Weichheit der Nerven durch Wasser sind aber auch alle Zwischenr\u00e4umchen zwischen den Nerven-lasern wie in allen weichen Theilen von fl\u00fcssigen Theilen, sei es Blut oder Zellgewebefl\u00fcssigkeit, ausgel\u00fcllt. Geschieht die Mittheil ung der Stosswellen vom Labyrinthwasser aus auf die Fasern des H\u00f6rnerven, so ist das Medium der n\u00e4chsten Mittheilung gleichartig mit dem, welches alle Porosit\u00e4ten und Interstitien der Nerven selbst einnimmt. In diesem Fall mag die Schwingung der Theilchen in dem Nerven selbst viel gleichartiger seyn, als wenn bloss die Oberfl\u00e4chen des Nerven feste Theile ber\u00fchrten. Im letztem Falle w\u00fcrden die Theilchen des Nerven, welche die testen Theile ber\u00fchren, eine andere Contiguit\u00e4t haben als diejenigen Theilchen des Nerven, welche mehr im Innern des Nerven und von der Ber\u00fchrungsfl\u00e4che mit festen Theilen entfernt liegen. Mus cke (Geiiler\u2019s physic. W\u00f6rterb. 4. 2. p. 1211.) bemerkt in Beziehung auf das Labyrinth wasser, dass das Wasser, obgleich untauglich zur Tonerzeugung, den Schall vortrefflich, ja noch besser als die Luft leite. Diess m\u00f6chte ich nicht zugeben, und es kann sich nur auf die Geschwindigkeit der Leitung beziehen. Denn die Luft leitet ihre eigenen Wellen, und das Wasser seine eigenen Wellen am wenigsten ungeschw\u00e4cht weiter.\nDie sogenannten Wasserleitungen scheinen mir in der Physiologie des Geh\u00f6rs gar keine Stelle zu verdienen. Sie enthalten keine h\u00e4utigen Can\u00e4le und keine Fl\u00fcssigkeit, auch keine Venenst\u00e4mme, sie sind nur Verbindungen der Beinhaut und Dura mater mit der innen\u00bb Beinhaut des Labyiinths. Mueller\u2019s Archiv 1834. 22.\nln der Ausbildung des Labyrinthes giebt es 3 Stufen, 1) blosser Vorhof mit einem Bl\u00e4schen; 2) Vorhof mit halbciikeif\u00f6rmi-gen Can\u00e4len mit \u00e4hnlicher Bildung des inembran\u00f6sen Labyrinthes; 3) die vorhej'gehende Stufe mit der Schnecke.\nV o r h o 1. H a 1 b c i r k e 1 i \u00f6 r ni i & e C a 11 a 1 v .\nMan setzt die Function der halbcirkelf\u00f6rmigen Can\u00e4le gew\u00f6hnlich mit Scarpa in die Sammlung der Wellen aus den Kopfknochen. Bei Can\u00e4len k\u00f6mmt die Resonanzf\u00e4higkeit ihres Inhaltes, die condensate Fortleitung im hinein derselben und die Resonanz der W\u00e4nde in Betracht.\nWas zuerst die Resonanz des Inhaltes eines Rohrs betrifft, so muss dieser im Labyrinth alle Bedeutung abgesprochen wer-","page":460},{"file":"p0461.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik d. Geh\u00f6r Werkzeuge. Labyrinth.\n461\nden, da das Wasser, an feste K\u00f6rper angrenzend, in sich wahrscheinlich keine merkliche Resonanz durch Abwertung der Wellen von seinen Grenzen besitzt. Auch zum Sammeln der Schallwellen aus festen K\u00f6rpern scheint das Wasser wenig geschickt zu seyn. Wurde in die vielfach cornmunicirenden Rinnen eines anatomischen Tisches Wasser gegossen, dann am Ende des Tisches die t\u00f6nende Stimmgabel aufgesetzt, so h\u00f6rte ich den Ton im Wasser mittelst des in das Wasser allein eingetauchten Conductors nicht st\u00e4rker, als wenn auf der Oberfl\u00e4che des Tisches eine kleine Stelle mit Wasser bedeckt war und mit diesem Wasser der Conductor in Ber\u00fchrung gebracht wurde. Ich liess ferner in ein dickes Brett Can\u00e4le bohren, parallel mit der Fl\u00e4che des Brettes. Diess Brett konnte in die Seite eines h\u00f6lzernen Beckens eingesetzt werden, so zwar, dass die Oeffnungen der Can\u00e4le mit der H\u00f6hle des Beckens communicirten. Wurde das Becken und von da aus die Can\u00e4le mit Wasser gef\u00fcllt, und wurden in dem Wasser des Beckens mit der durch Membran geschlossenen Pfeife Schallwellen erregt, so wurde der Ton mit dem Conductor nicht schw\u00e4cher geh\u00f6rt, wenn die Communica-tions-L\u00f6cher der Can\u00e4le mit dem Becken durch Stopfen geschlossen, als wenn sie offen waren.\nNun fragt sich, in wie weit ein mit Wasser gef\u00fclltes Rohr mit einem durch Luft gef\u00fcllten schallleitenden Communications-rohr verglichen werden k\u00f6nne. In letzterem l\u00e4sst sich bekanntlich der Schall mit fast unver\u00e4nderter St\u00e4rke weit fortleiten, weil sich die Wellen der Luft schwer den festen W\u00e4nden des Rohrs mittheilen und an den Kr\u00fcmmungen auch reflectirt werden. Bei einem mit Wasser gef\u00fcllten Rohr, das Schallwellen des Wassers leitet, ist es ganz anders; einige Reflexion findet auch im Wasser statt (siehe p. 422); aber das Wasser giebt seine Wellen viel leichter an feste K\u00f6rper als die Luft ah und die St\u00e4rke des in einer gewissen Richtung fortschreitenden Stosses im Wasser erh\u00e4lt sich in Wasserrohren nur auf ganz kurze Strecken. Wurde z. B. das mit Membran geschlossene Ende der einf\u00fcssigen Pfeife mit einem Rohr von 4 Zoll L\u00e4nge, 8 Linien Breite verbunden und in Wasser so gehalten, dass die Membran ganz mit dem Wasser in Ber\u00fchrung war, so war allerdings der Ton der St\u00f6sse der angeblasenen Lufts\u00e4ule im Wasser am Ende des Rohrs, also auf 4 Zoll L\u00e4nge, mit dem Conductor noch st\u00e4rker h\u00f6rbar, als im \u00fchrigen Wasser, st\u00e4rker als im Wasser an der Aussenseite des Communio\u00fctionsrohrs und st\u00e4rker als hei gleicher Entfernung ohne Commuuicationsrohr. War aber die L\u00e4nge des Communications-rohrs 4 Fuss, so war es mir unm\u00f6glich, eine gr\u00f6ssere St\u00e4rke im Wasser des Beckens am Ende des Rohrs als an anderen Stellen des Wassers wahrzunehmen. Ich verband auch 2 Wasserbecken durch eine 6 Fuss lange R\u00f6hre von Glas und erhielt keinen der Wirkung eines Communicationsrohrs \u00e4hnlichen Erfolg. Der Schall wurde nicht st\u00e4rker am andern Ende des Rohrs im Wasser geh\u00f6rt, als wenn der Conductor den resonirenden W\u00e4nden des Beckens nahe kam.\nHieraus geht hervor, dass man hei den halbeirkelf\u00f6rmigcn","page":461},{"file":"p0462.txt","language":"de","ocr_de":"462 V. Buch. Von den Sinnen. I. Ahschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nCan\u00e4len zwar auf einige st\u00e4rkere Fortleitung des Sclialls in der Richtung ihrer Kr\u00fcmmung rechnen, dass aber diese ungeschw\u00e4chte Portleitung durch R\u00f6hren hei weitem nicht so vollkommen ist wie in mit Luft gef\u00fcllten R\u00f6hren.\nEinige aber nur geringe Condensation des Geh\u00f6rs wird daher dadurch entstehen, dass dieselbe Welle, welche durch die Schenkel eines Canals im Vorhof eintritt, mit einem Theil ihres Stosses durch die entgegengesetzten Schenkel zur\u00fcckgelangt. Ta. Young hat hierauf gerechnet.\nK\u00f6mmt der Stoss nicht durch die Fenster, sondern durch die Koptknochen wie bei den Fischen und auch zum Theil bei uns, so wird dieser Grad von Condensation auch durch die halbkreisf\u00f6rmigen Can\u00e4le stattfinden.\nIn den balbcirkelf\u00f6rmigen Can\u00e4len k\u00f6mmt endlich auch die Resonanz der Kopfknochen von den Schwingungen des Labyrinthwassers in Betracht. Denn in der N\u00e4he fester W\u00e4nde im Wasser, denen Schallwellen mitgetbeilt werden, werden diese immer st\u00e4rker als ceteris paribus im \u00fcbrigen Wasser geh\u00f6rt. Dass der Conductor nicht die W\u00e4nde selbst ber\u00fchren d\u00fcrfe, versteht sich von selbst. Liegen sich 2 im Wasser resonirende W\u00e4nde nahe, so sind nat\u00fcrlich die W eilen des Wassers zwischen ihnen noch st\u00e4rker. Diess konnte man an dem vorher erw\u00e4hnten Apparat mit dem Von Can\u00e4len durchzogenen Brett, das mit einem Wasserbecken verbunden war, wahrnehmen. Wurde der Conductor ins Innere des Canals des Brettes vom Becken aus gehalten, so wurde der mit der Stimmgabel dem Brett mitgetheilte Ton ein wenig st\u00e4rker geh\u00f6rt, als wenn der Conductor bei gleicher Entfernung den W\u00e4nden des Beckens selbst gen\u00e4hert wurde. Zur richtigen Vergleichung muss in beiden F\u00e4llen ein gleich langes St\u00fcck des Conductors mit dem Wasser in Ber\u00fchrung seyn, denn der Ton ist st\u00e4rker, wenn der Conductor tiefer eingetaucht wird.\nNimmt man nun an, dass die balbcirkelf\u00f6rmigen membran\u00f6-sen Can\u00e4le im Stande seien, die Resonanz der Kopfknochen in das Wasser zu sammeln und in der Richtung ihrer krummen Bahn besser fortzuleiten als in der Direction d\u00e8s Stosses, so wird die Verst\u00e4rkung den Ampullen und dem Alveus communis, wo sich der Nerve ausbreitet, zu Gute kommen.\nIn wie weit die inembran\u00f6sen Can\u00e4le die festen Can\u00e4le ber\u00fchren, muss diese Wirkung noch viel st\u00e4rker werden. Aber auch auf eine von den umgebenden festen Theiien unabh\u00e4ngige Mitwirkung der halbcirkelf\u00f6rmigen inembran\u00f6sen Can\u00e4le w'ird man durch die f\u00fcr die Physiologie des Geh\u00f6rs wichtige That-sache gef\u00fchrt, dass die balbcirkelf\u00f6rmigen Can\u00e4le der Petromy-zon gar nicht von festen Theiien isolirt umgeben sind, sondern mit dem alveus communis in derselben gemeinschaftlichen festen Capsel liegen.\nAuienrietii und Kerner nahmen an, dass die verschiedenen Can\u00e4le auch im Stande seien die Direction des Schalls dem Nerven anzuzeigen. Allein die Direction des Schalls scheint ausser der st\u00e4rkern Wirkung auf eines der Ohren, und ausser der verschiedenen St\u00e4rke des Schalls nach der Direction des Gch\u00f6rgan-","page":462},{"file":"p0463.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik d. Geh\u00f6r Werkzeuge. Labyrinth.\t463\n\u201eeS) und der Conclu\u00bb kein Gegenstand der Empfindung zu seyn. Waren wir auch im Stande die Richtung des Stosses der schwin-\u201eenden Theiteheu zu unterscheiden, so w\u00fcrde doch diese Richtung immer eine doppelte und entgegengesetzte seyn, denn die Theilchcn schwingen auch zur\u00fcck und bei einem Ton wechselt diess regelmassig ah.\nDie im Labyrinth der Fische und fischartigen Amphibien enthaltenen H\u00f6rsteine*) und der crystallinische Brei im Labyrinth der \u00fcbrigen Thiere, m\u00fcsste durch Resonanz den Ton verst\u00e4rken, selbst wenn diese K\u00f6rper die Membranen, auf welcher die Nerven sich ausbreiten, nicht ber\u00fchrten. Nun ber\u00fchren aber diese K\u00f6rper die membran\u00f6sen Theile des Labyrinthes, die membra-n\u00f6sen Tlieile und der Nerve erhalten dadurch, in soweit diese Ber\u00fchrung stattfindet, auch Stosswellen aus diesen festen Theilen, welche intensiver sind, als die aus dem Wasser. Man f\u00fchlt die Schwingungen des Wassers bei der Schallleitung nicht mit der ins Wasser gehaltenen Hand, wohl aber wenn man ein St\u00fcck Holz mit der Hand im Wasser h\u00e4lt.\nDiess scheint mir die wahre Bedeutung des crystallinischen Breies und der H\u00f6rsteine zu seyn. Die Ansicht, dass der crystallinische Staub beim H\u00f6ren von den W\u00e4nden abgeworfen werde, wie der Staub auf schwingenden Scheiben und Membranen, l\u00e4sst sich physicalisch nicht rechtfertigen. Denn im Wasser sieht man w\u00e4hrend der Schallleitung den im Wasser schwebenden Staub nie die geringste Bewegung machen.\nAndere directe Versuche lassen sich nicht gut anstellen. Ich band ein St\u00fcck erweichte Schweinsblase im Wasser mit Wasser und Sand zu einem Beutelchen, welches ich platt dr\u00fcckte, ich ahmte das membran\u00f6se Labyrinth mit dein crystallinischen Brei nach, und untersuchte seine Wirkung auf Schallwellen des Wassers, die mit der Pfeife erregt werden, mittelst des Conductors. Das Beutelchen wurde n\u00e4mlich im Wasser zwischen das Ende der Pfeife und den Conductor gehalten, ohne sie zu ber\u00fchren. Allerdings war der Ton st\u00e4rker, als wenn ceteris paribus das Beutelchen weggenommen wurde. Bei einem Gegenversuch bemerkte ich indess, dass dieses platt gedr\u00fcckte Beutelchen von Membran,- auch ohne den Sand bloss Wasser enthaltend, den Ton (durch Resonanz) verst\u00e4rkte. Wovon die Resonanz membran\u00f6ser Theile im Wasser abh\u00e4ngt, ist mir nicht klar geworden. Ein von der Kalkerde befreiter Oberarmknochen eines Vogels zeigte, aussen und inwendig mit Wasser in Ber\u00fchrung, fast gar keine Resonanz, ebenso wenig ein mit Wasser gef\u00fclltes Darmst\u00fcck des Kalbes, und es war bei einem im Wasser erregten Ton ganz gleich, ob der Conductor an ein langes Darmst\u00fcck, oder bei\n*) D ie Otolitlicn der Knochenfische haben eine \u00e4hnliche Structur, \u25a0wie der Schmelz der Z\u00e4hne. Die des Zanders bestellen z. \u00df. aus zonenartig geordneten Schichten, in denen man sogleich schon eine regelm\u00e4ssige faserartige Bildung erkennt. Werden die geschliffenen Bl\u00e4ttchen mit Salzs\u00e4ure behandelt, so sieht man, dass die Schichten aus eben solchen zugespitzten K\u00f6rperchen bestehen, wie ich sie aus dem noch nicht hart gewordenen Schmelz beschrieben babe. PoGGEND. Ann. 38.","page":463},{"file":"p0464.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022164 V. Buch. Von den Sinnen. II. Jbschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\ngleicher Entfernung von der Ursprnngsstelle des Tons an ein kurzes im Wasser liegendes Darmst\u00fcck angelegt wurde.\nSchnecke\nBei der Akustik des Labyrinthes k\u00f6mmt ferner die Direction der Fortpflanzung des Stosses und der Wellen im Wasser Und den festen Theilen des Labyrinthes in Betracht. Savart\u2019s Untersuchungen \u00fcber die Fortpflanzung der Stosswellen von festen Theilen auf Wasser, und vorn Wasser auf feste Theile k\u00f6nnen hierauf angewandt werden. Diese Fortpflanzung scheint ganz wie in andern Medien zu erfolgen. Ist a ein Gef\u00e4ss mit Wasser, h ein an den Boden desselben befestigter Stab, c eine auf dem Wasser schwimmende Holzplatte, so theilen sich longitudinale Wellen, welche in dem Stab h erregt werden, durch das Wasser in derselben Richtung der Platte c mit, wie der darauf h\u00fcpfende Sand zeigt. 1st ferner a ein Ge fass mit Wasser, h eine darauf schwimmende Platte, deren R\u00e4nder schief sind zu den W\u00e4nden des Gebisses \u00df, und wird die Wand des Gebisses durch den Fidelbogen in der Richtung des Pfeils in Schwingung' versetzt, so pflanzt sich der Stoss durch das Wasser auf die Platte und durch dieselbe in derselben Richtung fort, die schiefe Richtung der R\u00e4nder der Platte gegen die Richtung des Stosses \u00e4ndert also die Direction des fortgepflanz-ten Stosses nicht ab. Die Fortpflanzung geschieht also, gerade so, wie wenn im ersten Fall der Stab h unmittelbar mit der Platte c, und im zweiten Fall die Wand a mit der Platte h, deren Fl\u00e4che senkrecht zur Wand liegt, durch einen Stab verbunden w\u00e4ren. Daher lassen sich auch die Gesetze der Fortpflanzung des Stosses durch Platten, welche unter Winkeln auf einander slossen, auf das Labyrinth anwenden.\nAus den schon p. 433. initgetheilten Thatschen ergiebt sich, dass wenn a. h, r., d unter einander verbundene Platten sind, und der Platte \u00df Schallwellen in der Richtung der Pfeile ertheilt werden, die Schallwellen mit gleicher Direction durch den Stiel\nh d so wie durch die obere Platte cc sich fortsetzen. Diess l\u00e4sst sich nun auf die Schnecke anwenden. Der Stiel hd l\u00e4sst sich mit dem Modiolus, die Querplattcn mit der Spiralplatte vergleichen und zeichnet\nman diese Figur\ndie folgende\nFigur um, so f\u00e4llt die Aehnlichkeit noch mehr in die Augen. In welcher Richtung daher entweder dem Modiolus, oder der Spiral platte selbst Schallwellen mitgetheilt werden\", im-","page":464},{"file":"p0465.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik d. Gefwrwerkzeuge. Labyrinth. ,\n165\n\nmer wird sich die Direction des Stosses in allen Theilen der Schnecke gleich bleiben, mag nun der Stoss zun\u00e4chst von den Kopfknochen dem Modiolus, oder den W\u00e4nden der Schnecke, und von diesen der Spiralplatte oder einem von diesen Theilen durch das Labyrinthwasser mitgetheill werden. Was die vom Labyrinthwasser ausgehenden Schwingungen betrifft, so ist das ovale Fenster so gerichtet, dass eine auf sein Feld gezogene senkrechte Linie fast parallel mit dem Modiolus der Schnecke lauft, daher werden die von diesem Fenster ausgehenden Sl\u00f6sse wahrscheinlich in den festen Theilen der Schnecke mit dem Modiolus gleich laufende St\u00f6sse erregen, d. h, die Spiralplatte wird am leichtesten in ihrer ganzen Ausdehnung in einer auf ihre Fl\u00e4che beinahe senkrechten Richtung schwingen. Ich erkenne die Direction des Stosses an Platten, die sich im Wasser einen Ton mittheilen, leicht mit dem festen Conductor. Der Ton ist immer st\u00e4rker, wenn der Conductor in der Richtung auf die Platten aufgesetzt wird, in welchen sich der Stoss fortpflanzt.\nBei der vorhergehenden Er\u00f6rterung sind die verschiedenen Tlieile der Schnecke als gleichzeitig oder fast gleichzeitig vom Stosse ergriffen angesehen. Es entsteht nun die Frage, ob nicht auch eine successive Fortleitung des Stosses entlang der Windungen der Schnecke, z. B. vom Vorhof oder vom runden Fenster aus bis in die Kuppel stattfinden k\u00f6nne; so dass ihn entweder Jas Wasser successiv durch die Scalen fortpflanzt, oder diese Succession der Spiralplatte entlang erfolgt? Da der Canal der Schnecke und mit diesem die Spiralplatte eine betr\u00e4chtliche L\u00e4nge, n\u00e4mlich die Windungen am \u00e4ussern Umfang eine L\u00e4nge von 18 \u201419 Linien haben, so k\u00f6nnte, falls ein solches Abl\u00e4ufen des Stosses entlang der Windungen der Schnecke m\u00f6glich w\u00e4re, die Schnecke zur Verl\u00e4ngerung des Eindrucks dienen. Diese Hypothese ist jedoch sehr zweifelhaft. Eine solche Fortleitung w\u00fcrde durch die Luft in einem gewundenen Rohr statlfinden m\u00fcssen. Bei der leichten Mittheilung des Stosses vom Wasser an feste Theile wird hingegen die successive Fortleitung der in einem festen K\u00f6rper gelegenen Spirale von Wasser sich nicht rein erhalten, und die Wellen werden aus dem Anfang der Windungen fast ebenso leicht durch den Modiolus einen andern Tlieil der Windungen durch-schneiden. Auch auf der Spiralplatte ist diese Art der Leitung nicht gut m\u00f6glich, indem sie sich in die festen W\u00e4nde der Schnecke fortsetzt und die ihr mitgetheilten Wellen ebenso leicht den W\u00e4nden der Schnecke und der Spindel miltheilt, als selbst weiter leitet. Die der Spindel und den Schneckenw\u00e4nden mitgetheilten St\u00f6sse werden aber wieder andere Theile der Spiral-platte, ausser der in der Spiralplatte selbst stattfindenden Forlleitung stossen. Nur wenn der Schneckencanal ohne Windung in der Richtung des Stosses in ganzer L\u00e4nge gerade angelegt w\u00e4re, w\u00fcrde ein Abl\u00e4ufen der Stosswelle durch denselben erfolgen.\nEs ist daher wohl gewiss, dass auf dieses ungest\u00f6rte Ablauten ,des Stosses iin Wasser der Schnecke und auf der Spiralplatte","page":465},{"file":"p0466.txt","language":"de","ocr_de":"466 V. Ilitch. Von den Sinnen. II. Abschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nnicht zu rechnen ist. Ein solches Abl\u00e4ufen der St\u00f6sse auf einer li- Zoll langen Bahn nervenreicher Theile w\u00fcrde auch der Scharfe der Empfindung eher nachtheilig, als n\u00fctzlich seyn. Denn cs w\u00fcrden auf einer solchen Bahn der Welle Theilchen des Nerven im Maximum des Stosses und der Verdichtung seyn, w\u00e4hrend andere ihr Maximum noch nicht erreicht haben, wie heim Nachhall. Die Windungen der Schnecke m\u00fcssen vielmehr, indem sie den Schneckencanal auf einen kleinen Raum beschr\u00e4nken, diesen Nachtheil, wenn er sonst stattfinden k\u00f6nnte, aufheben.\nDie Spiralplatte der Schnecke muss dah\u00e8r als eine die Nervenfasern ausgebreitet tragende'Platte betrachtet werden, auf welcher alle Fasern des Schneckennerven fast gleichzeitig die Stoss-welle empfangen, und gleichzeitig in das Maximum der Verdichtung und dann wieder in das Maximum der Verd\u00fcnnung eintre-ten. Nach dieser Theorie w\u00e4re es im Allgemeinen ziemlich gleichg\u00fcltig, ob die Nervenfasern auf mehreren um die Spindel angebrachten cirkul\u00e4ren Platten, wie in der letzten Figur, oder auf einer zusammenh\u00e4ngenden, treppenartig herumlaufenden Platte sich ausbreiten. Die letzte Form, welche die Natur angewandt hat, hat zugleich den Vortheil, dass alle Theile der Platte untereinander im Zusammenh\u00e4nge stehen, und sich ihre St\u00f6sse leichter mittheilen.\nDie Windungen der Schnecke haben zugleich den Vortheil, eine zur Ausbreitung der Nervenfasern n\u00f6thige ansehnliche Fl\u00e4che irn kleinsten Raum zu verwirklichen.\nDer letzte Endzweck der Schnecke scheint die Ausbreitung der Nervenfasern auf einer festen Platte, die sowohl mit den festen W\u00e4nden des Labyrinthes und Kopfes, als mit dem Labyrinthwasser in Ber\u00fchrung steht, und die sowohl den Vortlieil dieser doppelten Leitung, als den Vortheil hat, dass die Platte begrenzt ist. Aus diesem Principe lassen sich alle akustischen Vorz\u00fcge der Schnecke ahleiten.\nDie Verbindung dieser Platte mit den festen W\u00e4nden des Labyrinths macht die Schnecke zum H\u00f6ren der Schallwellen der festen Theile des Kopfes und der W\u00e4nde des Labyrinthes f\u00e4hig. Diese Bestimmung der Schnecke hat bereits E. H. Weber angegeben. Annotationcs anatomicae et physiologicae. Lips. 1834. Der membran\u00f6se Labyrinth liegt frei im Labyrinthwasser, und ist offenbar mehr zum H\u00f6ren der dem Labyrinthwasser selbst mitge-theilten St\u00f6sse bestimmt, m\u00f6gen die St\u00f6sse durch die Kopfknochen, wie bei den Fischen, beim Menschpn beim H\u00f6ren mit den Kopfknochen und Z\u00e4hnen, oder durch die Fenster ins Labyrinthwasser gelangen. Allerdings ist auch der membran\u00f6se Labyrinth der Resonanz der festen W\u00e4nde des Labyrinthes ausgesetzt, denn die dem Wasser mitgetheilten Schallwellen werden, wie ich gezeigt, in der N\u00e4he fester W\u00e4nde st\u00e4rker geh\u00f6rt. Indess h\u00f6rt der membran\u00f6se Labyrinth die St\u00f6sse doch immer zun\u00e4chst nur aus dem Wasser. Die Spiralplatte der Schnecke hingegen mit den festen Wanden des Labyrinthes im Zusammenhang, b\u00f6rt die den festen W\u00e4nden mitgetheilten St\u00f6sse unmittelbar aus den festen W\u00e4nden. Diess ist ein bedeutender Vortheil ; denn die den festen","page":466},{"file":"p0467.txt","language":"de","ocr_de":"2. Akustik d. Geh\u00f6rwerkzeuge. Labyrinth. .\t467\nTheilen mitgetheilten St\u00f6sse sind ceteris paribus absolut st\u00e4rker, als die des Wassers.\nDiess folgt mit aller Evidenz aus den bereits mitgetheilten Untersuchungen. Wollte man die Intensit\u00e4t der St\u00f6sse fester K\u00f6rper und des Wassers so vergleichen, dass man den Conductor einmal an die festen K\u00f6rper legt, das andere Mal ins Wasser taucht, so w\u00fcrde man sich irren. Denn die St\u00f6sse fester K\u00f6rper gehen mit unver\u00e4nderter St\u00e4rke an den sie ber\u00fchrenden festen Conductor, geschw\u00e4cht hingegen aus dem Wasser an den festen Conductor \u00fcber. Vergleicht man aber mittelst des Conductors Schallwellen im Wasser, in der N\u00e4he fester W\u00e4nde ohne Ber\u00fchrung derselben, und in Entfernung davon, so ist das Mittel der Vergleichung \u25a0 in beiden F\u00e4llen dasselbe. In beiden F\u00e4llen h\u00f6rt man mittelst des Conductors aus dem Wasser. Beiderlei St\u00f6sse werden hier auf dasselbe Mittel reducirt. Da nun selbst bei der Erregung eines Tons im Wasser, das Wasser in der N\u00e4he der W\u00e4nde des Beckens st\u00e4rker schallt, als an anderen gleichweit von der Ursprungsstelle des Schalls entfernten Stellen des Wassers, so folgt, dass ceteris paribus, die Schallwellen fester K\u00f6rper intensiver wirken, als die des Wassers. Und hieraus sieht man sogleich den grossen Vortheil der Schnecke ein.\nDie Schnecke ist indess nicht bloss in dieser Absicht angelegt, die Spiralplatte empf\u00e4ngt auch, so gut wie der membran\u00f6se Labyrinth, die Stosswelien des Labyrinthwassers vom Vorhof und vom runden Fenster aus. Die Spiralplatte des Menschen und der S\u00e4ugethiere ist hierzu noch viel geeigneter, als der membran\u00f6se Labyrinth ; denn als fester und begrenzter K\u00f6rper ist sie der Resonanz f\u00e4hig. Von dieser Wirkung kanr^ man sich durch einen Versuch \u00fcberzeugen. Klemmt man eine d\u00fcnne Holzplatte in ein mit Wasser gef\u00fclltes Becken von Holz von sehr dicken W\u00e4nden ein, so resonirt die Platte ceteris paribus st\u00e4rker ins Wasser, als die dicken W\u00e4nde des Beckens. L\u00e4sst man n\u00e4mlich mit der mit Membran geschlossenen Pfeife Schallwellen im Wasser des Beckens erregen, indem das Pfeifenende im Wasser senkrecht gegen die festgeklemmte Platte gerichtet ist, ohne sie zu ber\u00fchren, so h\u00f6rt man mittelst des Conductors in der N\u00e4he der W\u00e4nde der Platte \u00fcberall den Ton im Wasser stark, auch entfernt von der Ursprungsstelle des Schalls. L\u00e4sst man die Pfeife gleichweit entfernt gegen die W\u00e4nde des dicken Beckens von Holz richten, so h\u00f6rt man mittelst des Conductors in der N\u00e4he der W\u00e4nde auch stark, aber nicht so stark wie im vorhergehenden Fall. Es ist gleichviel, ob man die Platte an einem Rande oder an beiden entgegengesetzten R\u00e4ndern befestigt, wenn nur ihre Seiten frei sind und das Wasser ber\u00fchren.\nZuletzt l\u00e4sst sich einsehen, warum die Fasern des Nerven einzeln neben einander auf der Spiralplatte ausgebreitet werden.\nJe dicker der Schneckennerve auf festen Theilen der Schnecke sich ausbreitete, um so weniger w\u00fcrde er die St\u00f6sse der festen Theile der Schnecke empfangen, da er den festen Theilen der Schnecke ungleichartig ist, je feiner er aber darauf vertheilt ist,","page":467},{"file":"p0468.txt","language":"de","ocr_de":"468 V. Buch. Von den Sinnen. II. Abschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\num so leichter werden seinen Fasern die St\u00f6sse der sie ber\u00fchrenden festen Theilc initgetheilt.\nMit der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers, welche die Schallwellen ber\u00fchren, w\u00e4chst ferner auch die St\u00e4rke der Mittheilung. Wird der Conductor bei verstopften Ohren in Wasser gehalten, worin ein Schall erregt wird, so nimmt dieser Schall an St\u00e4rke zu, je tiefer der Conductor ins Wasser gesenkt wird, oder auch je breiter er auf das Wasser aufgelegt wird,\nIII. Capitel. Wirkung der Schallwellen auf den Geh\u00f6rnerven und Eigenwirkungen desselben.\n1. Wirkungen der Schallwellen auf den Geh\u00f6rnerven.\nDie Untersuchung dieses Gegenstandes muss von den Eigenschaften der Wellen ausgehen, welche ins Labyrinthwasser gelangen.\nBei einer von einem t\u00f6nenden K\u00f6rper erregten und zum Labyrinth gelangenden Stosswelle m\u00fcssen folgende Eigenschaften unterschieden werden: .\n1)\tIhre Dicke und die Dauer ihres Eindrucks.\n2)\tIhre Breite.\n3)\tDie St\u00e4rke der Excursion oder die Gr\u00f6sse der Bahn der schwingenden Theilchen.\nDie Dicke der Wellen ist die Ausdehnung einer Welle in der Richtung, in welcher sie fortschreitet. Die Dicke einer Welle in einem schallleitenden Medium h\u00e4ngt ab theils von der Zeit, welche der t\u00f6nend schwingende K\u00f6rper von einer bis zur andern Schwingung oder zu einer ganzen Schwingung braucht, theils von dem Fortpflanzungsverm\u00f6gen des schallleitenden Mediums. Die Lufts\u00e4ule der 32 f\u00fcssigen Orgelpfeife macht in der Secunde 32 Doppelschwingungen , oder 16 St\u00f6sse in einer Richtung. Der eine Theil der Doppelschwingungen bringt die Verdichtung des schallleitenden Mediums oder den Wellenberg, der andere r\u00fcckkehrende Theil der Schwingung die Verd\u00fcnnung oder das Wellenthal hervor. Da nun die Geschwindigkeit des Schalls in der Luft 1022 Fuss in der Secunde betr\u00e4gt, so ist die Distanz zwischen dem Anfang und dem Ende einer Stosswelle oder die Dicke einer Welle in der Luft ^ oder beinahe 64 Fuss beim G der 32 f\u00fcssigen Orgelpfeife.\nBeim Ton der 16 f\u00fcssigen Orgelpfeife contra C mit 64 Doppelschwingungen oder 32 einseitigen St\u00f6ssen ist die Dicke der Welle in der Luft -411 oder beinahe 32 Fuss.\nBeim Ton der 8 f\u00fcssigen Orgelpfeife oder grossen C mit 128 Doppelschwingungen oder 64 einseitigen St\u00f6ssen ist die Dicke der Welle in der Luft l-jf2 oder beinahe 16 Fuss.\nBeim Ton der 4 f\u00fcssigen Orgelpfeife oder kleinen c ist die\nDicke der Welle in der Luft 8 Fuss, hei c 4 Fuss, hei c 2 Fuss, bei e 1 Fuss.","page":468},{"file":"p0469.txt","language":"de","ocr_de":"3. Wahrnehmung des Schalls.\n\u2022169\nDie Geschwindigkeit des Schalls im Wasser ist 4 Mal schneller als in der Luft, und betr\u00e4gt 4090 Fuss in der Seeunde. Die Dicke der Wellen ist daher im Wasser *n llieser\u2122 Verh\u00e4ltnis gr\u00f6sser, n\u00e4mlich beim C der 32 f\u00fcssigen Pfeife = 256 Fuss, beim contra C 128, beim grossen C 64, beim ungestrichenen c 32, beim c\n16, beim c 8, beim c 4 Fuss. Mit dieser Dicke gehen die Wellen also auch durch das Labyrinthwasser, und es ergiebt sich hieraus, dass bei dem kleinen Umfang des Labyrinthes, selbst bei den h\u00f6chsten T\u00f6nen nicht mehrere Wellen gleichzeitig auf ihrem Durchgang durch das Labyrinth sich befinden, dass vielmehr in der Regel'eine Welle mit dem Gipfel, mit dem Maximum ihrer Verdichtung oder dem Wellenberge das Labyrinth verlassen hat, wenn das Labyrinth von dem Maximum der Verdichtung der n\u00e4chsten Welle getroffen wird.\nDie Dauer des Eindrucks, den eine Welle beim Durchgang durch irgend ein Theilchen des Labyrinthes an diesem hervorbringt, h\u00e4ngt von der Dauer einer Schwingung des t\u00f6nenden K\u00f6rpers ab. Beim C der 32 f\u00fcssigen Pfeife betr\u00e4gt diese\nDauer j\u00efj-, Leim c xth\u00ef Seeunde.\nMan muss \u00fcbrigens f\u00fcr gewisse F\u00e4lle noch die Dicke der Wellen von der Distanz der Wellen unterscheiden. Wird der Ton durch hin und herschwingende K\u00f6rper erregt, so ist diese Distanz gleich 0, und die Wellen stossen unmittelbar aneinander, wie in beistehender Figur versinnlicht ist, nur dass\nman sich statt der Beugungen Verdichtungen und Verd\u00fcnnungen denken muss. Wird der Ton aber durch St\u00f6sse erregt, zwischen welchen Momente der Ruhe sind, so ist das schallleitende Me-\n---------______________\\/~S dium schon hinter einer Welle\nZur Ruhe gekommen, ehe die n\u00e4chste Welle beginnt, wie in beistehender Figur versinnlicht wird. Diess ist bei der Erregung der T\u00f6ne durch blosse St\u00f6sse, wie beim SAVART\u2019schen Rad und bei der Sirene m\u00f6glich. Demgem\u00e4ss kann auch unter gewissen Bedingungen die Dauer des Eindrucks oder Durchgangs der Wellen durch einen gegebenen Punct des Labyrinths kleiner seyn, als die Zwischenzeit ihrer Maxima.\nln der Dicke einer Welle findet eine allm\u00e4hlige Abstufung der Dichtigkeit vom Anfang bis ans Ende statt. Am Anfang der Welle f\u00e4ngt die Dichtigkeit an zuzunehmen, ihre Dichtigkeit steigt am Ende des ersten Viertels zum Maximum, und nimmt bis zur H\u00e4lfte ihrer L\u00e4nge ab, in dem Hintertheil der Welle ist Verd\u00fcnnung, denn hier streben die vorher verdichteten Theilchen sich von einander zu entfernen. Die Verd\u00fcnnung wird gegen das hintere Viertel immer st\u00e4rker, und nimmt im hintern Viertel wieder ab.\nIndem die Stosswelle im Labyrinthwasser fortschreitet, gehen","page":469},{"file":"p0470.txt","language":"de","ocr_de":"470 V. Buch. Von den Sinnen. II. Absehn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nalle Theilchen desselben in der Richtung des Stosses snccessiv durch diese Grade der Verdichtung und Verd\u00fcnnung durch.\nDa die Verdichtung durch Ann\u00e4herung der Molecule, die Verd\u00fcnnung durch Entfernung derselben von einander hervorgebracht wird, so durchlaufen alle Theilchen der Welle gleichzeitig eine gewisse Bahn des Stosses. Diese Bahn ist am Anfang der Welle gering, denn der Stoss ertheilt den Theilchen eine um so geringere Bewegung, je entfernter sie von der unmittelbar gestossenen Stelle liegen. Im Hintertheil der Welle schwingen die Theilchen wieder zur\u00fcck, und es findet derselbe Unterschied ihrer Geschwindigkeiten statt. Beim Durchgang der Welle durch einen Punct des Mediums, erhalten die an diesem Ort befindlichen Theilchen successive eine steigende, dann wieder abnehmende Verdichtung, und gerathen wieder im Hintertheil der Welle in Verd\u00fcnnung. Zugleich wird die Geschwindigkeit, mit welcher ein Theilchen des Mediums heim Durchgang der Welte durch diesen Punct sich bewegt, successive schneller, erreicht ein Maximum wird wieder langsamer. W\u00e4hrend des Durchgangs des Wellenthals durch diesen Punct macht das Theilchen seine r\u00fcckkehrende Schwingung mit anfangs zunehmender, dann wieder abnehmender Geschwindigkeit. Alles diess ist auf den H\u00f6rnerven .anwendbar.\nDie Dicke der Wellen bleibt sich hei der Fortpflanzung des Schalles in alle Entfernungen gleich, aber die Bahn der schwingenden Theilchen nimmt mit dem Quadrat der Entfernungen alt. Von der Gr\u00f6sse der Bahn der schwingenden Theilchen h\u00e4ngt allein die Intensit\u00e4t oder St\u00e4rke des Schalls oder Geh\u00f6rs ab.\nDer Umfang der Wellen in der Luft ist kugelf\u00f6rmig. Auf das Geh\u00f6rorgan trifft nur ein St\u00fcck dieser Kugel, welches man die Breite oder Fl\u00e4chenausdehnung der Welle nennen kann. Die Breite der Welle, welche zum Geh\u00f6r benutzt wird, h\u00e4ngt von der Breite ab, in welcher der Geh\u00f6rnerve von der Welle getroffen wird. Die von der Trommelh\u00f6hle aus zum Labyrinth gelangenden Wellen haben heim Eintritt in das Labyrinth nur die Breite des ovalen und runden Fensters, von hier aus aber breiten sie sich aus.\n2. Unterscheiden der Tone.\nZur Empfindung des Schalls scheint ein einfacher Stoss auf denGeh\u00f6rnerven hinzureichen, wie eine Explosion, die Theilung der Luft, das Zusammenfahren zweier getrennter Luftschichten heim Peitschenknall u. dergl. Dieser Ansicht steht wenigstens nichts entgegen, und auch Chladni findet sie wahrscheinlich, obgleich zugegeben w erden muss, dass auch ein einfacher Stoss in der Luft leicht Wellen errege. Am h\u00e4ufigsten liegen allerdings dem Eindruck des Stosses als Schall mehrere Wellen zu Grunde. Doch kann die Frage entstehen, ob nicht bei dem Schall, der aus einer Succession von St\u00f6ssen entsteht, jeder einzelne Stoss von der St\u00e4rke sevn muss, dass er allein schon als Schall geh\u00f6rt w\u00fcrde, und ob eine Succession von so schwachen St\u00f6ssen, wovon jeder einzelne","page":470},{"file":"p0471.txt","language":"de","ocr_de":"3. Wtahrnehmung des Schalls,\n471\nwenn er allein statt! \u00e4nde,- keinen Eindruck auf das Geh\u00f6r hervorbr\u00e4chte, noch geh\u00f6rt wird. Diese Frage ist ])is jetzt nicht untersucht worden, und die Mittel scheinen zu fehlen sie zu beantworten.\nDurch die schnelle Succession mehrerer St\u00f6sse von ungleichen Zwischenzeiten entsteht ein, Ger\u00e4usch oder Gerassel, durch die schnelle Succession mehrerer St\u00f6sse von gleichen Zwischenzeiten ein bestimmter Ton, dessen H\u00f6he mit der Zahl der St\u00f6sse in bestimmter Zeit zunimmt. Mittelst der Sirene von Cagniard Latour und des SAVART\u2019schen Rades kann man sich diess zur Anschauung bringen. Ein bestimmter Ton entsteht auch, wenn jeder einzelne der regelm\u00e4ssig folgenden St\u00f6sse selbst wieder aus mehreren St\u00f6s-sen zusammengesetzt ist, die f\u00fcr sich allein schon ein Ger\u00e4usch hervorbringen w\u00fcrden, oder aus einer hinreichend schnellen regelm\u00e4ssigen Folge von Ger\u00e4uschen. Diess lindet gerade bei den T\u00f6nen statt, die durch die erw\u00e4hnten Apparate hervorgebracht werden. Denn hier ist jeder einzelne Stoss schon ein zusammengesetztes Ger\u00e4usch, welches man auch leicht durchh\u00f6rt, wenn durch die Summirung der Ger\u00e4usche der Eindruck des Tones von bestimmter H\u00f6he entsteht.\nNun entsteht zun\u00e4chst die Frage, wie viele St\u00f6sse mindestens hintereinander erforderlich sind, um als bestimmter vergleichbarer Ton geh\u00f6rt zu werden. Nach Savart\u2019s Untersuchungen reichen selbst 2 St\u00f6sse (das Aequivalent von 4 Schwingungen) dazu hin. Werden n\u00e4mlich die St\u00f6sse durch das Anschl\u00e4gen der Z\u00e4hne eines Rades an einen K\u00f6rper hervorgebracht, so kann man successiv alle Z\u00e4hne des Rades bis auf 2 wegnehmen, ohne dass der Ton als bestimmter in der Scala aufgehoben wird. Wird ein Rad mit 2000 Z\u00e4hnen, das sich einmal in der Seconde umdreht, auf die H\u00e4lfte der Z\u00e4hne reducirt, indem man sie an der ganzen einen H\u00e4lfte des Rades wegnimmt, so wird das Intervall der St\u00f6sse nat\u00fcrlich nicht gest\u00f6rt, aber man kann mit dem Wegnehmen der Z\u00e4hne fortfahren, bis auf 2 und dreht sich das Rad noch mit derselben Geschwindigkeit, n\u00e4mlich einmal in der Secunde um, so kann der aus beiden Sl\u00f6ssen resultirende Ton noch mit dem Ton eines Instrumentes verglichen, und der Einklang dazu aufge-sitcbt werden.\nWerden hingegen die Z\u00e4hne des Rades bis auf einen reducirt, so wird nicht mehr der bestimmte Ton, sondern nur das Ger\u00e4usch geh\u00f6rt, welches der eine Zahn hervorbringt, es sev denn, dass das Rad so schnell gedreht werde, dass das Intervall von dem einem bis zum n\u00e4chsten Stoss des einen Zahnes nicht gr\u00f6sser ist, als das Intervall der St\u00f6sse des bestimmten Tons es erfoi dert.\nWerden die T\u00f6ne durch Schwingungen erregt, wovon- die n\u00e4chste regelm\u00e4ssig anf\u00e4ngt, wenn die vorhergehende aufgeh\u00f6rt hat, so kann es zweifelhaft seyn, ob nicht die H\u00f6he des Tons von der L\u00e4nge der Welle oder einer andern Eigenschaft derselben abh\u00e4ngig ist. Aus den Versuchen mit dem SAVART\u2019schen Rad folgt hingegen, dass die Eigenschaft der H\u00f6he des Tones in keiner Weise von der Beschaffenheit der Wellen abh\u00e4ngig ist. Bei\n\u2022 Muller\u2019s Physiologie. 2r Bd. II.\t31","page":471},{"file":"p0472.txt","language":"de","ocr_de":"472 V. Buch. Von den Sinnen. II. Ahschn. Vorn Geh\u00f6rsinn.\nden T\u00f6nen, die durcli das Bad erzeugt werden, sind die St\u00f6sse eines K\u00f6rpers, der durch die Z\u00e4hne des Rades erhoben wird, gegen die Luft ganz gleich, mag das Rad schnell oder langsam gedreht werden, nur das Intervall der St\u00f6sse ist ungleich.\nDie Frage, von dem Maximum und Minimum der Intervalle der St\u00f6sse, welche als T\u00f6ne noch vergleichbar sind, ist auch durch Savart befriedigender und richtiger als fr\u00fcher beantwortet worden. Bei geh\u00f6riger St\u00e4rke k\u00f6nnen noch T\u00f6ne geh\u00f6rt werden, die 48000 einfachen Schwingungen in der Seconde oder 24000 St\u00f6ssen entsprechen und wahrscheinlich ist selbst diess nicht die Grenze der h\u00f6chsten h\u00f6rbaren T\u00f6ne. Auch sind 32 einfache Schwingungen in der Secunde nicht die Grenze der tiefsten T\u00f6ne, wie man angenommen, vielmehr konnte Savart noch T\u00f6ne vernehmlich machen, bei denen nur 14 \u201418 einfache Schwingungen oder 7 \u20148 St\u00f6sse in der Seconde stattfinden; und auch noch tiefere T\u00f6ne sind wahrscheinlich h\u00f6rbar, wenn die St\u00f6sse die hinl\u00e4ngliche Dauer haben. Die Dauer, welche ein Stoss haben muss, um geh\u00f6rt zu werden, ist n\u00e4mlich in dem Verh\u00e4ltniss k\u00fcrzer als der Ton h\u00f6her ist, weil die Zwischenzeit zwischen 2 St\u00f6ssen bei den h\u00f6heren T\u00f6nen in entsprechendem Verh\u00e4ltniss abnimmt. Bei den tieferen h\u00f6rbaren T\u00f6nen muss also die Dauer der St\u00f6sse um so l\u00e4nger seyn, je tiefer sie sind. Um den St\u00f6ssen bei den tiefsten T\u00f6nen l\u00e4ngere Dauer zu gehen, wandte Savart ein Rad mit 2 oder 4 freien Speichen an, welche, indem sic zwischen 2 Latten, ohne sie zu ber\u00fchren, durchschlagen, beim Drehen des Rades durch Verdichtung und Verd\u00fcnnung der Luft starke, einzeln h\u00f6rbare St\u00f6sse hervorbringen, welche sich zum Eindruck eines Tones bei hinreichend schneller Umdrehung des Rades summiren. Die SAYART\u2019schcn Apparate lassen \u00fcbrigens eine genaue Z\u00e4hlung zu, da sie mit einem Z\u00e4hler verbunden sind, dessen Uml\u00e4ufe sich nach Belieben arretirsn lassen.\nDurchWegnehmen einzelner oder mehrerer Z\u00e4hne aus einem umlaufenden Rade konnte sich Savart auch \u00fcberzeugen, dass der Eindruck auf den Geh\u00f6rnerven (wie das auch beim Lioht der Fall ist) l\u00e4nger als der Stoss dauert. Denn das Wegnehmen eines Zahns bringt keine Unterbrechung des Tons hervor, wie weit dieser Nacheindruck dauert, ist schwer auszumitteln, da der Eindruck nur allm\u00e4hlig erlischt.\nAnn. de Chim. et de Phys. XLIV. 337. XLVII. 69. Poggend. Ann. XX. 290. Fechner\u2019s Reperl. I. 335.\n3. H\u00f6ren mehrerer gleichzeitiger T\u00f6ne.\nDer einfachste Fall dieser Art ist das H\u00f6ren zweier gleich-zeitigei 3 \u00f6ne, die im Einklang sind, ln diesem Fall sind die Intervalle gleich; entweder fallen die Maxima der St\u00f6sse aufeinander, was selten zutreffen wird, oder sie fallen nicht auf einander. Im ersten Fall entstehen st\u00e4rkere Verdichtungen, wie die erste Figur versinnlicht, im letzte\u2122 bei 2 oder mehreren T\u00f6nen, die im","page":472},{"file":"p0473.txt","language":"de","ocr_de":"3. Wi\u00e0hrnehmung des Schalls.\n473\nEinklang sind, hinter einander folgende Maxima, die eine Reihe bilden, wie in beistehender zweiter Figur, so dass die Glieder der\n\nReihen unter einandercor-respondiren und die Intervalle dieselben bleiben. Diess kann in keiner Weise st\u00f6rend f\u00fcr das Geh\u00f6r seyn. Hierher geh\u00f6rtauch die Resonanz, denn die\nresonirenden und urspr\u00fcnglichen Wellen verhalten sich, da sie gleich sind, gerade so, wie die Wellen mehrerer unisoner T\u00f6ne, die primitiv angegeben werden. Hie beistellende Figur kann daher auch als Bild f\u00fcr die Gleichzeitigkeit primitiver und resoni-render Wellen dienen. Bei der Erzeugung des Klanges kreuzen sich die Wellen des Tons mit Nebenwellen.\nDas H\u00f6ren zweier gleichzeitiger T\u00f6ne von verschiedener Zahl der Schwingungen muss schwerer seyn, als das H\u00f6ren eines Tons, denn die Vergleichung der Intervalle ist erschwert dadurch, dass die Maxima der Schwingungen des einen in die Schwingungen des andern fallen. Werden z. B. 2 T\u00f6ne a, h mit den hierneben a\u00bb\t\u2022\t\u2022\t\u2022\t\u2022 bezeichneten Interyallen\nb\u00bb\t\u2022\t\u2022\t\u2022\t*\tgeh\u00f6rt, >o entsteht aus\nden beiden Reihen der unter einander verzeich-neten Intervalle die zusammengesetzte Reihe c. Werden die 2 T\u00f6ne durch 2 R\u00e4der mit gleich gebildeten Z\u00e4hnen hervorgebracht, so sind selbst die einzelnen St\u00f6sse gleich, und die Art des Stosses kann nicht die Ursache seyn, dass man den einen Ton durch den andern durchh\u00f6rt. Dennoch findet die Unterscheidung beider gleichzeitiger T\u00f6ne statt, wie ich mich durch einen Versuch \u00fcberzeugt habe. Diese Unterscheidung muss also auch dann von der Wahrnehmung der Intervalle des einen und andern Tones in der ganzen Reihe der St\u00f6sse abh\u00e4ngen. W\u00e4hrend die ganze zusammengesetzte Reihe der St\u00f6sse abl\u00e4uft, hat also das Ohr die F\u00e4higkeit die durch gleiche Intervalle getrennten Maxima der St\u00f6sse \u00df, zwischen den \u00fcbrigen St\u00f6ssen h wahrzunehmen und umgekehrt, weil sie immer wiederkehren. Die noch kleineren Intervalle, welche durch die Kreuzung der beiden Reihen entstehen m\u00fcssen, werden \u00fcberh\u00f6rt, weil sie nicht regelm\u00e4ssig wiederkehren, sehr ungleich ausfallen, ]e nach ihrer Lage. Diese Unterscheidung hat Aehnlichkeit mit dem Unterscheiden bei zusammengesetzten Gesichtsbildern. In der F igur p. \u2022364. kommen die Hauptdreiecke, ferner das mittlere Sechseck und die peripherischen kleineren Dreiecke zugleich zur Anschauung, aber es h\u00e4ngt auch von der Vorstellung ab, welche Impression augenblicklich die lebhafteste ist. So ist es auch bei mehreren oder vielen T\u00f6nen. Die Vorstellung nimmt dann bestimmte Intervalle st\u00e4rker oder deutlicher wahr, als die \u00fcbrigen. So sind wir im Stande einzelne T\u00f6ne eines Instrumentes in einem ganzen Tutti zu unterscheiden. Hierzu tr\u00e4gt nat\u00fcrlich sehr viel bei, dass\n31 *","page":473},{"file":"p0474.txt","language":"de","ocr_de":"474 V. Buch. Von den Sinnen. II. Ahschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nverschiedene Instrumente einen verschiedenen Klang haben. Daher dann die Sl\u00f6sse ihrer T\u00f6ne durcli Nebenschwingungen sich auszeichnen werden.\nVon besonderem Interesse wird der Fall, wenn zwei gleichzeitige T\u00f6ne beinahe unison, aber nicht ganz unison sind, so dass z. B. der eine 100, der andere 101 St\u00f6sse in der Secunde macht. -Dann werden die St\u00f6sse des einen allm\u00e4hlig denen des andern voraus eilen, bis sie aile Se-cunden wieder aufeinander fallen. Die Maxima der St\u00f6sse beider T\u00f6ne werden in der H\u00e4lfte einer Secunde am weitesten auseinander liegen, und hier sogar eine Verd\u00fcnnung des einen und eine Verdichtung des andern sich decken, oder aufheben, wie in beistehender Figur bei wenigen Wellen versinnlicht ist. Dagegen decken sich ajle Secun-den die Maxima beider T\u00f6ne, oder verst\u00e4rken sich. Vom Anfang bis zur Mitte der Figur nimmt die St\u00e4rke des Tones \u25a0 ab, indem mehr und mehr auf die Verdichtung des einen, etwas von der Verd\u00fcnnung des andern kommt, bis sie sich ganz aufheben, von da an wird der Ton durch allm\u00e4hlige Entfernung der Verd\u00fcnnung des einen von der Verdichtung des andern wieder zunehmen, bis sich am andern Ende wieder bloss die Verdichtungen decken. In der Mitte m\u00fcsste eigentlich einen Moment vollkommene Stille sevn. Da keine Enterbrechung ein tritt, sondern hier nur der Ton am schw\u00e4chsten ist, so kann der Versuch auch als zweiter Beweis dienen, dass der Eindruck auf den Geh\u00f6rnerven l\u00e4nger dauert, als die Ursache. Sind 2 gleichzeitige T\u00f6ne beinahe aber nicht ganz unison, so h\u00f6rt man, ausser dem bestimmten W'erthe des Tons, ein wogendes Wachsen und Abnehmen desselben an St\u00e4rke. Man nennt diess die Schwebung. Diess Pbaenomen wird leicht beim Anschl\u00e4gen zweier nicht ganz unisono gestimmter Saiten des Monochords bemerkt.\nZwei gleichzeitige T\u00f6ne, die ein einfaches Verh\u00e4ltnis\u00bb ihrer Schwingungen zu einander haben, wie 2 zu 3, 3 zu 4, 4 zu 5 und bei welchen sich das Zusammenfallen zweier St\u00f6sse hinreichend schnell wiederholt, bringen durch dieses Zuammenfallen einen dritten subjectiven Ton hervor, der jedoch seine Ursachen auch ausser dem H\u00f6renden hat.\nGesetzt der eine Ton a \u2022\t\u2022\t*\t*\t\u2022 a mache 2 Schwingun-\ni\tgen, w\u00e4hrend der an-\ndere h drei macht, so fallen, wenn die St\u00f6sse c *\t\u2022\t\u2022 beider zugleich begon-\nnen haben, jedesmal nach 2 Intervallen des einen und 3 des andern, die St\u00f6sse des einen und andern auf einander und diess giebl Veranlassung, dass diese st\u00e4rkeren St\u00f6sse c mit gr\u00f6sseren Intervallen f\u00fcr sieb noch als dritter oder Tartinischer Ton geh\u00f6rt werden. Beistehepde Figur erl\u00e4utert diess, nur muss bemerkt werden, dass die Puncte nicht","page":474},{"file":"p0475.txt","language":"de","ocr_de":"3. Wahrnehmung des Schalls. Tartinische T\u00f6ne. 475\n<lie St\u00f6sse, sondern nur die Maxima der St\u00f6sse andeuten, und dass man sicli mitten zwischen den Puncten die Maxima der Verd\u00fcnnung vorstellen muss. Diese T\u00f6ne kann man sowohl durch Saiten- als Pfeif\u2019ent\u00f6ne zur Erscheinung bringen, wenn die primitiven T\u00f6ne hinl\u00e4nglich stark und anhaltend sind. Wird die d Saite einer Gerne i.i e gestimmt und diese mit der a Saite anhaltend gestrichen, so kommt das tiefe A zum Vorschein. So\nerh\u00e4lt inan mit c und e das c, mit h und d das g. Siehe Gehler s physical. W\u00f6rterbuch. 8. p. 318. Fechner\u2019s Repert. I. p. 257. Unter Umst\u00e4nden k\u00f6mmt auch noch ein zweiter Tartinischer Ton zum Vorschein, wie sich schon aus den Voraussetzungen erwarten l\u00e4sst und Blein beobachtet hat.\nIn obigem Beispiel wurde angenommen, dass beide T\u00f6ne in demselben Moment ihren ersten Stoss machen. Ist das nicht der Fall, so wird auch ein vollst\u00e4ndiges Coincidiren der St\u00f6sse nicht stattfinden k\u00f6nnen, sondern nur ein Maximum der Approximation an den bestimmten Zeitpuncten eintreten, d. h. der eine Ton hat dann hier das Maximum seines Stosses erreicht, wenn der andere es noch nicht erreicht hat, wie in beistehender Figur versinnlicht wird. Die Reihen a und b haben dieselben Intervalle, wie in obigem Beispiel, a macht 2 St\u00f6sse, w\u00e4hrend b 3 macht. Aus beiden Reihen entsteht die zusammengesetzte Reihe c. Diese sich wiederholende Approximation der Maxima ist aber auch schon hinreichend um wahrgenommen zu w erden und den Tartinischen Ton hervorzubringen, der nur nicht so stark seyn kann, als im vor-\nhergehenden Fall. Je gr\u00f6sser die Approximation der Maxima ist, um so st\u00e4rker ist der Tartinische Ton. Hieraus wird zugleich klar, warum in der Beobachtung dieses Tons so viel Inconstantes ist, und wie auf ihn niemals in der Musik gerechnet werden k\u00f6nne.\nDer Tartinische Ton, welcher immer tiefer ist, als die primitiven T\u00f6ne, muss als subjectiver wohl unterschieden werden von den h\u00f6heren Nebent\u00f6nen der Saiten, Glocken u. s. w., welche ausser dem Grundton geh\u00f6rt werden, und welche zu den Flageo-lett\u00f6nen geh\u00f6ren. Sie haben eine objective Ursache in dem t\u00f6tenden Instrumente selbst.\nHarmonie der T\u00f6ne.\nMusical i sehe T o n v e r h \u00e4 11 n i s s e.\nDie \u00fcblichen musicalischen Tonverh\u00e4ltnisse gr\u00fcnden sich theil\u00bb","page":475},{"file":"p0476.txt","language":"de","ocr_de":"476 V. Buch. Von den Sinnen. II. Abschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\ndarauf, wie gross oder gering die Unterscheidungskraft des Geh\u00f6rsinnes f\u00fcr den Gesammteindruck einer gewissen Zahl der Schwingungen ist, theils darauf, dass einfache Verh\u00e4ltnisse der T\u00f6ne zu einander in Hinsicht der Zahl ihrer Schwingungen dem Sinn angenehm sind.\nAm leichtesten aufzufassen ist f\u00fcr das Geh\u00f6r das Verh\u00e4ltnis von 1 ; 2 I 4 : 8 u. s. w., das des Grundtons zur Octave und zu weiteren Octaven. T\u00f6ne, wovon der eine noch einmal so viel St\u00f6sse in derselben Zeit, als der andere macht, sind sich so \u00e4hnlich, dass sie nur als Wiederholungen wirken, daher wird das Verh\u00e4ltnis zweier T\u00f6ne nicht wesentlich ge\u00e4ndert, wenn man einen von beiden um eine oder mehrere Octaven h\u00f6her oder tiefer nimmt. Leicht wahrnehmbar und angenehm, weil einfach, ist auch das Verh\u00e4ltnis von 2 zu 3 oder des Grundtons zur Quinte, von 4 zu 5 oder des Grundtons zur Terze. Bezeichnet man den Grundton mit 4, so ist die Terze also 5, die Quinte 6 und die Octave 8, oder nimmt man 1 als Grundton, so erh\u00e4lt man:\nc\te\tg\tc\n1\tI\tf\t2\nGrundton,\tTerze,\tQuinte,\tOctave,\nwelche vier T\u00f6ne zusammen den einfachsten und wirksamsten Accord bilden, w\u00e4hrend schon die 3 ersten einen sehr angenehmen Dreiklang hervorbringen.\nHierbei ist jedoch die Musik nicht stehen geblichen, und es giebt noch andere Tonverh\u00e4ltnisse, welche einer leicht verst\u00e4ndlichen angenehmen Anwendung f\u00e4hig sind. Der Ton, zu welchem die Octave 2 eine Quinte bildet, oder sich wie 3 12 verhalten w\u00fcrde, ist | oder f, er hat ein ebenso einfaches Verh\u00e4ltniss zum Grandton c als zur Octave c, die Terze von g ist ferner oder h. ,\tc\te\tf\tg\th\tc\nZwischen c und e liegt noch ein Ton, der sich zu g der tiefem Octave, wie eine Quinte verh\u00e4lt, das ist d mit -f.\nEndlich verh\u00e4lt sich c zu d oder lj\u00ae, wie ein zwischen g und h liegender Ton a zu h, es ist\nDiess sind die T\u00f6ne der musicalischen Tonleiter.\nc\td\te\tf\tg\ta\th\nI\tV\t5\t4\t3^\t5\t1 b\n8\t4 _ ;i 2\t3 S\nln dieser Reibe verh\u00e4lt sich\nzu d wie 1 ;\ne\nf\n\u00d6\na\nh\n8\n\\ \u2022 ij> X r <j A \u2022 1 6 L \u2022 1 5 j \u2022 9\ni \u2022_9_\nA \u2022 1 0\ni:f\nA \u2022 i 6 A \u2022 1 5\nll \u00bb C\nDie Verh\u00e4ltnisse l;| und 1 nennt man ganze T\u00f6ne oder grosse Intervalle, das Verh\u00e4ltniss 1 l einen halben Ton oder kleines Intervall. Zwischen den T\u00f6nen, die durch das grosse","page":476},{"file":"p0477.txt","language":"de","ocr_de":"3. Wahrnehmung d. Schalls. Harmonie.\n477\nIntervall getrennt sind, werden noch kleine Intervalle oder halbe T\u00f6ne unterschieden.\nDie Erh\u00f6hung eines Tons um einen sogenannten halben oder um das Yerh\u00e4ltniss 1 : {| ist nat\u00fcrlich der Erniedrigung des folgenden um ebenso viel nicht gleich, und also ns von des verschieden. Das Intervall 1 ;-J oder cle heisst die grosse, Terze, das Intervall 1;-| oder c;es die kleine Terze.\nBei einem consonirenden Accord von mehreren T\u00f6nen m\u00fcssen sie ein einfaches Verh\u00e4ltnis zum Grundton haben, und auch unter sich in einem einfachen Verh\u00e4ltnis stehen. Nur in diesem Falle bringt die Vereinigung dieser T\u00f6ne eine angenehme Wirkung hervor, c ; e g oder 1 : | ; f bilden einen harmonischen Dreiklang, denn e verh\u00e4lt sich zu c einfach wie 5; 4, und g zu c wie 3:2, aber auch e und g consoniren; denn sie verhalten sich wie lj4. Dagegen werden des Je oder\tkeinen harmoni-\nschen Accord bilden. Denn c consonirt zwar mit es wie 1 : f, und c consonirt mit e wie 1; J; aber e und es consoniren nicht; denn \u2022\u00a7\u25a0 : -J ist = 1 ; Die Ursache der Harmonie ist also die Einfachheit der Zahlenverh\u00e4ltnisse.\nDer Drciklang des Grundtons mit der grossen Terze und der Quinte d e tg oder 1 heisst der Durdreiklang, der Dreiklang des Grundtons mit der kleinen Terze und der Quinte des;g oder l;f:f heisst der Molldreiklang. Sie bestehen beide aus einer grossen Terze und einer kleinen Terze | und \u2022\u00a7-, beide zusammen bilden eine Quinte. Im Durdreiklang gebt die grosse der kleinen Terze, im Molldreiklang die kleine der grossen Terze voraus. Beide Dreikl\u00e4nge haben eine verschiedene Wirkung auf das Geh\u00f6r. Beim Durdreiklang ist die Consonanz befriedigender als beim Molldreiklang.\nAudi die Dissonanzen sind von angenehmer Wirkung aut das Geh\u00f6r, wenn sie den \u00fcebergang zu Consonanzen bilden, und die Dissonanzen also aufgel\u00f6st werden. Ein dissonirender Accord enth\u00e4lt ausser consonirenden Intervallen, auch ein dissonirendes. Mit dem Grundton, der Terze und der Quinte consonirt die Octave, die Septime aber dissonirt. Der Septimaccord kann als Beispiel eines dissonirenden Accordes dienen, er enth\u00e4lt zu Grundton, Terze und Quinte noch die Septime. Eine Dissonanz wird aufgel\u00f6st durch einen Accord, der statt des dissonirenden Tons den consonirenden enth\u00e4lt, oder mit dem dissonirenden Ton consonirt. Das Verh\u00e4ltniss ist ein Aehnlichcs, wie beim Sehen mehrerer Farben, die Disharmonie von Blau und Roth wird aufgel\u00f6st, dadurch, dass zwischen beide eine andere Farbe tritt, welche harmonisch zu einer von beiden, indifferent zur andern ist. Gr\u00fcn zwischen Both und Blau l\u00f6st die Disharmonie auf, weil es harmonisch mit Gr\u00fcn, indifferent gegen Blau ist. Dieselbe Wirkung thut Orange, welches harmonisch zu Blau, indifferent zu Roth ist. Siehe oben p. 375. Die Wirkung der Dissonanzen sowohl als Consonanzen auf das Geh\u00f6r hat Descartes sehr gut in der von Culadni angef\u00fchrten Stelle bezeichnet. Inter objecta sensus illud non animo gratissimum est, quod facile sensu percipitur, neque etiam difficillime, sed quod non tarn facile, ul","page":477},{"file":"p0478.txt","language":"de","ocr_de":"478 V. Buch. Von den Sinnen. 11. Ahschn. Vom Geh\u00f6rsinn.\nnaturale desiderium, quo sensus feruntur in objecta, plane non impleat, neque etiam tarn difficulter, ut sensus t\u00e4tiget. Die Harmonie der Octaven ist zu einfach, um zu befriedigen, und selbst die Dissonanz wird befriedigend, wenn sieb ihre schwierige Aulfassung in ein leichteres Verh\u00e4ltmss abspannt.\nDie Anwendung der Intervalle mit arithmetischer Reinheit, wie sie das Geh\u00f6r an sich erfordert, wird bei einer grossem Folge von T\u00f6nen unm\u00f6glich, w ie aus folgendem von Cm,adni erw\u00e4hnten Beispiel erhellt. Wenn man allein die Intervalle von g, c, f, d, g, c hintereinander rein aus\u00fcbt, so hat schon das zweite c nicht mehr den Werth des ersten, und ebenso mit g. Rein ausge\u00fcbt verh\u00e4lt sich\tglc = 3;2\ncif = 314 f;d = 6:5 d:g = 3:4 g:c = 3:2\noder g:c:f:d:8:c verh\u00e4lt'sich wie 243:162:216:180:240:160. Das erste Mal hat g den Werth von 243, das zweite Mal von 240, das erste Mal c den Werth von 162, das zweite Mal von 160 Bei weiterer Wiederholung w\u00fcrde man sich immer mehr von dem urspr\u00fcnglichen Werthe der T\u00f6ne entfernen. Die sogenannte Temperatur hilft diesem Lehelstande durch eine geringe aber dem Geh\u00f6r urmerkliche Unreinheit der F\u00f6ne ah, die Abweichung heisst die Schwebung. W7enn die Unreinigkeit gleichf\u00f6rmig vertheilt wird, so heisst die Temperatur g leie lisch wehend, wenn dieVertheil\u00fcng ungleichf\u00f6rmig ist ungleichschwebend. Die erstere hat sich als brauchbarer allgemein in der Musik erhalten. Dagegen der Versuch die Reinheit einzelner T\u00f6ne zwischen den Octaven, zu erhalten nur zum grossem Nachtheil f\u00fcr die \u00fcbrigen T\u00f6ne ausf\u00e4llt. Die Nachtheile der gleich-schwebenden Temperatur sind dem Geh\u00f6r nicht merklich, so wenig als \u00fcberhaupt geringe Abweichungen in der Stimmung eines Instrumentes auffallen. W\u00e4ren so kleine Unterschiede dem Geh\u00f6r bemerkbar, so w\u00fcrde \u00fcberhaupt die Aus\u00fcbung der reinen Intervalle auf Instrumenten unm\u00f6glich seyn, da eine vollkommen reine Stimmung eines Instrumentes f\u00fcr den practischen Gebrauch schon mit den gr\u00f6ssten Schwierigkeiten verbunden ist.\nAusf\u00fchrliche Belehrung \u00fcber die Tonverh\u00e4ltnisse findet man in Chi.adni\u2019s Akusiik.\nH\u00f6ren und Vorstellen.\nDie Unterscheidung der Richtung des Schalls ist kein Act der Empfindung selbst, sondern des Urtheils, zufolge schon gewonnener Erfahrungen, aber wegen der Modification des Geh\u00f6rs nach der Richtung des Schalls versetzt die Vorstellung den schallenden K\u00f6rper in eine gewisse Richtung. Das einzige sichere Leitungsmittel hierbei ist die st\u00e4rkere Wirkung des Schalles auf eines der beiden Ohren. Die Reflexion, die Resonanz, die ungeschw\u00e4chte Fortleitung des Schalls , durch die Luft gekr\u00fcmmter Communica-tionsr\u00f6hren machen jedoch auch hier vielfache.T\u00e4uschung m\u00f6glich.","page":478},{"file":"p0479.txt","language":"de","ocr_de":"3. Wahrnehmung des Schalls. Nachempfindung.\n479\nDurch die condensirte Fortleitung des Schalles in lufthaltigen R\u00f6hren, oder durch feste Leiter auf einen fernen Resonanzboden kann die T\u00e4uschung entstehen, als wenn der Ort der Entstehung das Ende des Rohrs oder im zweiten Fall der Resonanzhoden w\u00e4re. Ferner kann die Richtung des Schalles auch durch ein Ohr ermittelt werden, dadurch, dass dem Kopfe und Ohr eine verschiedene Stellung gegeben wird, wodurch die Schallwellen bald senkrecht, bald schief auf das Ohr einfallen m\u00fcssen. F\u00e4llt das erst genannte und das letztere H\u00fclfsmittel der Unterscheidung weg, haben beide Ohren eine gleiche Stellung gegen den Ort des Schalls, wenn er z. B. vor oder hinter uns erregt wird, so haben wir kein Mittel zu unterscheiden, ob die Schallwellen von vorne oder hinten kommen, wie aus Yenturini\u2019s Versuchen (Voigt\u2019s Magazin B. 2.) und schon aus phvsicalischen Gesetzen folgt. Die Wellen bewirken nicht bloss den verdichtenden Stoss in einer, sondern auch den verd\u00fcnnenden Stoss in der entgegengesetzten Richtung; folgen sich mehrere Wellen auf einander, so wechseln beiderlei St\u00f6sse regelm\u00e4ssig mit einander ab. W\u00fcrde man auch die Richtung des Stosses selbst auf den Nerven unterscheiden k\u00f6nnen, so h\u00e4tte man doch im zuletzt erw\u00e4hnten Fall ebenso viel Grund den Schall in die eine, als in die entgegengesetzte Richtung zu setzen.\t'\nDie Bauchredner benutzen die Unsicherheit der Unterscheidung der Richtung des Schalls und die Macht der Vorstellung auf unser Urtheil, indem sie in eine gewisse Richtung sprechen und thun als wenn sie von dort aus den Schall h\u00f6rten.\nDie Entfernung des Schalls wird nicht empfunden, sondern nach seiner St\u00e4rke beurtheilt, der Schall selbst ist immer an einem und demselben Ort in unserm Ohr, den-schallenden K\u00f6rper setzen wir nach aussen. Die D\u00e4mpfung der Stimme, wie sie geh\u00f6rt wird aus der Ferne, erregt auch die Vorstellung ihrer Ferne, wie beim Bauchreden.\nDie Vorstellung wirkt aber auch auf den Act der Empfindung selbst ein, und die Empfindung erh\u00e4lt durch die Aufmerksamkeit Sch\u00e4rfe. Diese unterscheidet einzelnes bestimmtes Ger\u00e4usch unter mehreren oder vielen T\u00f6nen st\u00e4rker, begleitet das Spiel eines einzelnen Instrumentes in einem vollen Orchester. Wird uns durch beide Ohren von verschiedenen Personen verschiedenes gesagt, so vermengen sich beiderlei Eindr\u00fccke; nur durch angestrengte Aufmerksamkeit und hei Ungleichheit des Klanges von beiderlei T\u00f6nen sind wir im Stande der einen Reihe zu folgen und die andere Reihe als st\u00f6rendes Ger\u00e4usch mehr oder weniger zu \u00fcberh\u00f6ren. Die willk\u00fchrliche Steigerung der Aufmerksamkeit auf F\u00f6ne heisst das Horchen. Fehlt die Intention der Seele auf das, was durch den H\u00f6rnerven dem Sensorium commune beigebracht wird, so h\u00f6ien wir selbst den vorhandenen Schall nicht. Oft aber auch wird Etwas nur so schwach geh\u00f6rt, dass man es wegen; Mangel an Aufmerksamkeit bei anderweitiger Besch\u00e4ftigung augenblicklich \u00fcberh\u00f6rt, hernach aber sich des Schalls erinnert und Aehnliches k\u00f6mmt bei andern Sinnen vor. Die entgegengesetzten Acte des Vorstellens st\u00f6ren sich gleichsam, wie Wellen von entgegen-","page":479},{"file":"p0480.txt","language":"de","ocr_de":"480 V. Buch. Von aen Sinnen. II. Abschn. Vorn Geh\u00f6rsinn.\ngesetzten Eigenschaften, welche nach dem Durchgang durch einander ihre Bahn fortsetzen.\nNachempfindung des Geh\u00f6rs.\nSchon aus den oben angef\u00fchrten Versuchen von Savart folgt, dass der Eindruck der Schallwellen auf den Geh\u00f6rnerven etwas l\u00e4nger dauert, als der Durchgang der Wellen durch das Ohr. Durch eine sehr lange Dauer oder lange anhaltende Wiederholung desselben Schalles l\u00e4sst sich aber die Nachempfindung im Nerven noch viel l\u00e4nger, ja \u00fcber 12 \u2014 24 Stunden festhaltcn, wie jeder weiss, der \u201cmehrere Tage ohne Unterbrechung in einem schweren Postwagen gefahren ist. Leicht h\u00f6rt man dann in der Ruhe sehr lange das Poltern und Ger\u00e4usch fort.\nHieraus l\u00e4sst sich einsehen, dass das Empfinden des Schalles als Schall nicht in letzter Instanz von der Existenz der Stosswel-len abh\u00e4ngt, und dass der Schall als Empfindung ein Zustand des Geh\u00f6rnerven ist, der durch St\u00f6sse zwar erregt werden kann, aber auch in anderer Weise m\u00f6glich ist. Beim Gesichtssinn hat man die Nachempfindungen durch die Annahme erkl\u00e4ren zu k\u00f6nnen geglaubt, dass das Licht als Materie von der Retina eine Zeit iang festgehalten werde, wie hei der Absorption des Lichtes. Hier beim Geh\u00f6r f\u00e4ht dagegen die Unstatthaftigkeit einer solchen Erkl\u00e4rung sogleich in die Augen. Rein reizender Stoff und kein Stoss kann hier festgehalten werden, und wenn die durch den Stoss erregten Wellen perenniren sollten, so m\u00fcssten es jedenfalls Fluctuationen des Nervenprincips seihst im H\u00f6rnerven seyn, die so lange erfolgten, bis das Gleichgewicht hergcstellt ist.\nDoppelt h\u00f6ren.\nDein Doppeltsehen desselben Gegenstandes durch zwei Augen entspricht das Doppelth\u00f6ren durch 2 Ohren, dem Doppeltselicn mit einem Auge wegen ungleicher Brechung, das Doppelth\u00f6ren mit einem Ohr wegen ungleicher Leitung. Die ersterc Art des Doppelth\u00f6rens ist sehr selten. Hierher geh\u00f6ren die von Sauvages und Itard angef\u00fchrten F\u00e4lle, ln dem einen der zwei F\u00e4lle von Sauvages wurde ausser dem Grundton auch dessen Octave geh\u00f6rt, was, wenn es richtig, schwer erkl\u00e4rlich seyn w\u00fcrde. In dem Falle von Itard wurden durch beide Ohren verschieden hohe T\u00f6ne geh\u00f6rt. Dergleichen F\u00e4lle m\u00f6gen wohl hei aufmerksamerer Beobachtung nicht so selten seyn ; mich \u00e4ngstigte selbst einmal eine Art hohem Nachhalls, den ich hei T\u00f6nen von massiger St\u00e4rke, wie der menschlichen Stimme h\u00f6rte. Diese Erscheinung war aber sehr vor\u00fcbergehend und sie ist mir seitdem nicht wieder vorgekommen, auch weiss ich nicht, oh der Nachhall von ungleicher Wirkung beider Ohren herr\u00fchrte.\nDie zweite Art des Doppelth\u00f6rens, die nicht von der ungleichen Wirkung beider Ohren, sondern von ungleicher Leitung desselben Tones durch zwei Media zum Ohr herr\u00fchrt, kann man leicht versuchen, z. B. wenn man den Ton eines im Wasser schal-","page":480},{"file":"p0481.txt","language":"de","ocr_de":"3. Wahrnehmung d. Schalls. Subjective T\u00f6ne.\t481\nlenden Gl\u00f6ckchens bei verstopften Ohren durch die Luft h\u00f6rt und zugleich mittelst eines festen Conductors, der ans Ohr und ins Wasser gehalten wird, aus dem Wasser h\u00f6rt. Beide T\u00f6ne sind an St\u00e4rke und Klang verschieden. Ebenso wenn man durch die mit Membran geschlossene Pfeife, die ins Wasser gehalten wird, einen Ton hervorbringen l\u00e4sst, der auf die eine und andere Art, durch die Luft und durch den Conductor aus dem Wasser zu dem verstopften Ohre kommt.\nSch\u00e4rfe des Geh\u00f6rs.\nBeim Sehen muss die Sch\u00e4rfe des Gesichtes in verschiedene Fernen, f\u00fcr die r\u00e4umlichen Unterschiede der Netzhauttheilchen, f\u00fcr Hell und Dunkel und f\u00fcr die Farbenn\u00fcancen unterschieden werden. Beim Geh\u00f6r giebt es keine Parallele zur F\u00e4higkeit f\u00fcr verschiedene Fernen das Sehen einzurichten; auch die Sch\u00e4rfe der r\u00e4umlichen Unterscheidung im Nerven f\u00e4llt weg. So wie Einer im Hellen nur deutlich, ein Anderer nur bei massigem Lichte deutlich sieht, so giebt es eine verschiedene Ausbildung des Geh\u00f6rs f\u00fcr das Unterscheiden tiefer und hoher T\u00f6ne. Und so wie ein scharf sehender doch die Farben schlecht unterscheiden und keinen Sinn f\u00fcr Farbenharmonie und Disharmonie haben kann, so fehlt bei gut H\u00f6renden, welche auch schwaches Ger\u00e4usch unterscheiden, zuweilen der Sinn f\u00fcr Unterscheidung der m\u00fcsi-calischen Unterschiede der T\u00f6ne und f\u00fcr Harmonie und Dissonanz, da hingegen auch ein Schwachh\u00f6render diesen Sinn haben kann. Manche Menschen h\u00f6ren im Allgemeinen gut, aber die Grenze des H\u00f6rens hoher T\u00f6ne tritt bei ihnen bald ein. Wollaston hat Beispiele davon beobachtet. Schwerh\u00f6rige h\u00f6ren zuweilen sehr hohe T\u00f6ne noch ganz gut. Unter die Ursachen dieser Erscheinung geh\u00f6rt, wie oben erkl\u00e4rt worden, die zu grosse Spannung des Trommelfells aus was immer f\u00fcr einer Ursache. Manche Schwerh\u00f6rige h\u00f6ren besser bei starkem L\u00e4rm schw\u00e4chere T\u00f6ne. Paracusis Willisiana. Willis beschrieb zwei Beispiele dieser Art, von einer Person, die sich nur unterhalten konnte, wenn eine Trommel neben ihr geschlagen wurde, einer andern, die nur w\u00e4hrend des L\u00e4utens der Glocken h\u00f6rte. Aehnliche F\u00e4lle sind von Holder, Bachmann, Fielitz beobachtet. Siehe Muncke in Geh-ler\u2019s physic. W\u00f6rterbuch. 4. 2. p. 1220. Diese Erscheinung kann von einem Torpor des Geh\u00f6rnerven herr\u00fchren, welcher zur Sch\u00e4rfung seiner Th\u00e4tigkeit erregt werden muss. Zuweilen mag auch der Umstand, dass ein Schwerh\u00f6riger bei grossem L\u00e4rm besondere T\u00f6ne so gut wie Andere h\u00f6rt, davon herr\u00fchren, dass er von dem Ger\u00e4usch wenig, Guth\u00f6rende aber viel davon gest\u00f6rt werden. So erkl\u00e4rt z. B. der Schwerh\u00f6rige, von dem p. 438. berichtet wurde, dass er in einem fahrenden geschlossenen Wagen mit Andern sitzend, an der Unterhaltung sehr gut Theil nehmen kann. Die Anderen, sagt er, h\u00f6ren dann die Stimmen der im Wagen sprechenden nicht besser als er selbst, weil sie das Gerassel des Wagens st\u00e4rker h\u00f6ren. Das zu scharfe Geh\u00f6r, Ilyperacusis entspringt von zu grosser Reizbarkeit des H\u00f6rnerven und entspricht der Pho-","page":481},{"file":"p0482.txt","language":"de","ocr_de":"482 V. Buch. Von den Sinnen. II. Ahschn. Vorn Geh\u00f6rsinn.\ntophobie beim Sehen. Die Ursachen des Mangels des musicali-scben Geh\u00f6rs sihd unbekannt. Wer ein schlechtes musicalisches Geh\u00f6r hat, wird bei einer sch\u00f6nen Stimme ein schlechter S\u00e4nger seyn.\nSubjective Tone.\nRein subjective T\u00f6ne sind nur solche, die nicht durch Stoss-wellen, sondern durch einen Zustand der Reizung im H\u00f6rnerven bedingt werden, der H\u00f6rnerve h\u00f6rt in jedem Zustande von Reizung diese als Schall. Hierher geh\u00f6rt das nerv\u00f6se Klingen und Brausen in den Ohren hei Nervenschwachen, Hirnkranken und bei solchen, deren H\u00f6rnerve selbst krank ist und das Rauschen in den Ohren nach langem Fahren in polternden Wagen. Die Electricit\u00e4t erregte in Ritter\u2019s Versuchen einen Ton im Ohr. ln diesem Fall wird die Affection des H\u00f6rnerven von dem blossen Strome des electrischen Fluidums bewirkt, der in der Retina Lichtsehen, in den Gef\u00fchlsnerven eine Gef\u00fchlsempfindung, in den Geruchsnerven einen phosphorigen Geruch, in den Geschmacksnerven einen s\u00e4uerlichen oder scharfen Geschmack bedingt. Siehe die Einleitung in die Physiologie der Sinne.\nVon den rein subjektiven T\u00f6nen, m\u00fcssen diejenigen unterschieden werden, deren Ursache nicht bloss im H\u00f6rnerven, sondern in einem in den Geh\u00f6rwerkzeugen seihst erzeugten Schall liegt. Dahin geh\u00f6rt das Braussen hei Congesfionen nach dem Kopf und Ohr, hei aneurysmatischer Ausdehnung der Gef\u00e4sse. Oft schon h\u00f6rt man die einfache pulsirende Circulation des Bluts im Ohr, als stossweises Gezisch. Hierher geh\u00f6rt ferner das Knacken bei der Zusammenziehung der Muskeln der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen, das Rauschen bei der Zusammenziehung der obern Gaumenmuskeln, beim G\u00e4hnen, bei der Verdichtung der Luft der Trommel und Spannung des Trommelfells, beim Schneutzen, bei gewaltsamer weiter Abziehung des Unterkiefers u. s. w.\nDas Ohrenbraussen von Verstopfung der Eustachischen Trompete l\u00e4sst sich noch nicht hinreichend erkl\u00e4ren.\nBei Hehle findet die individuelle Eigenth\u00fcmlichkeit statt, dass ein leises Fahren mit dem Finger \u00fcber die Backe, ein Rauschen im Ohr bewirkt. Diess kann von einer Reflexwirkung vom Facialis auf das Gehirn und sofort auf den Acusticus, oder auch von einer Reflexbewegung der Muskeln der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen entstehen. ,\nS y ni p a t h i e e n des Geh \u00fc r n erven.\nReizungen des Geh\u00f6rnerven k\u00f6nnen Bewegungen und auch Empfindungen in andern Sinnen hervorbringen. Beides geschieht wahrscheinlich nach den Gesetzen der Reflexion durch Vermittelung des Gehirns. Ein heftiger Schall bewirkt bei jedem Menschen ein Zucken der Augenlieder, bei Nervenschwachen ein Zusammenfahren des ganzen K\u00f6rpers.","page":482},{"file":"p0483.txt","language":"de","ocr_de":"1. Physicalische Bedingungen des Geruchs.\t483\nDie Empfindungen nach Geh\u00f6reindr\u00fccken sind vorz\u00fcglich Gef\u00fchlsempfindungen. Bei Nervenschwachen entsteht auf einen pl\u00f6tzlichen Schall zuweilen eine unangenehme Gef\u00fchlsempfindung, wie von einem electrischen Schlag im ganzen K\u00f6rper, oder auch wohl eine Gef\u00fchlsempfindung im \u00e4ussern Ohr. Manches Ger\u00e4usch, wie das von Reiben des Papiers, von Ritzen in Glas u. dgl., erregt Vielen eine unangenehme Empfindung in den Zahnen, oder gar ein Rieseln durch den K\u00f6rper.\nManchen Menschen soll bei heftigen T\u00f6nen der Speichel im Munde Zusammenfl\u00fcssen. Mehrere andere hierher geh\u00f6rende Beispiele von Sympathie haben Tiedemann (Zeit sehr. j. Physiol. B. 1. II. 2.) und Lincre a. a. O. p. 567. gesammelt.\nDas Geh\u00f6r kann ferner von vielen Theilen des K\u00f6rpers aus, namentlich aber in Krankheiten des Unterleibs und in fieberhaften Affectionen, ver\u00e4ndert werden. Auch in diesen F\u00e4llen ist die Vermittelung durch die Centraltheile wahrscheinlich.\nVer\u00e4nderungen des Geh\u00f6rs durch Sinnesempfindungen anderer Art sind sehr selten. Hierher geh\u00f6rt die oben erw\u00e4hnte Beobachtung von Henle an sich, dass leises Bestreichen der Backe ein Braussen im Ohr bei ihm erzeugt. Hin und wieder ist behauptet worden, dass auch Gef\u00fchlsnerven der Geh\u00f6rempfindung, oder wenigstens der st\u00e4rkern Leitung der Schallwellen zu dem Orte der Geh\u00f6rempfindung f\u00e4hig seyen. Eine solche Leitung ist in keinem Falle wahrscheinlich. Dass hingegen eine Gef\u00fchlsempfindung durch Reflexion auf den Geh\u00f6rnerven wirke, ist sehr wahrscheinlich, da \u00e4hnliche Wechselwirkungen zwischen den anderen Sinnen Vorkommen, und das Geh\u00f6r auch Gef\u00fchlsempfindungen hervorruft. Allein die Wirkung einer Gef\u00fchlsempfindung auf das Geh\u00f6r ist ausserordentlich selten.\nDie Chorda tympani und der Nervus facialis sind dem Geh\u00f6r fremd und nur in dem letztgenannten Sinne einer Wechselwirkung mit demselben f\u00e4hig.\nIII. Abschnitt. Vom Geruchssinn\nI. Capitel. Von den physicalischen Bedingungen des Geruchs.\nDer Geruchssinn wird in der Regel nur durch materielle Einwirkungen und entsprechende Ver\u00e4nderungen des Geruehsner-ven zur Tb\u00e4tigkcit gereizt. Wie der Geschmackssinn ist der Geruchsnerve nach Art der materiellen Einwirkung unendlich vielfach bestimmbar.\nDie erste Bedingung des Geruchs ist der specifische Nerve,","page":483},{"file":"p0484.txt","language":"de","ocr_de":"484 V. Buch. Von den Sinnen. III. Abschn. Vom Geruchssinn.\ndessen materielle Ver\u00e4nderungen in der Form des Geruchs empfunden werden ; denn kein anderer Nerve tlieilt diese Empfindung, wenn er auch von denselben Ursachen bestimmt wird, und dieselbe Substanz, welche f\u00fcr den Geruchsnerven riecht, schmeckt dem Geschmackssinn und kann dem Gef\u00fchlssinn scharf, brennend u. s. w. sein. Dass der Geruch ein Geschmack in die Ferne sei, wie Kant sagte, scheint mir nicht richtig.\nDie zweite Bedingung des Geruchs ist ein bestimmter Zustand des Geruchsnerven oder eine bestimmte materielle Ver\u00e4nderung desselben durch den Reiz oder das Riechbare.\nDas Riechbare sind bei den Luftthieren in der Luft ausser.st fein vertheilte Stoffe, Ausd\u00fcnstungen der K\u00f6rper im gasf\u00f6rmigen Zustande, oft so subtiler Art, dass es kein Reagens f\u00fcr ihreNaeh-weisung, als eben den Geruchsnerven giebt. Bei den Fischen sind die riechbaren Stoffe im Wasser enthalten. Der Mangel aller n\u00e4hern physicalischen Kenntnisse \u00fcber die Art der Verbreitung der Riechstoffe l\u00e4sst es ungewiss, wie man sich die Verbreitung dieser Stoffe im Wasser zu denken hat und ob sie so im Wasser aufgel\u00f6st -sind, wie ein vom Wasser absorbirtes Gas. Die Aufl\u00f6sung dieser Stoffe im Wasser kann nat\u00fcrlich kein Grund seyn, den Fischen den Geruch abzusprechen und in die Nase der Fische den Geschmack zu setzen. Denn das Wesentliche der Geruchsempfindung liegt nicht in der gasf\u00f6rmigen Natur des Riechbaren, sondern in der specifischen Empfindlichkeit der Riechnerven und ihrem Unterschied von der specifischen Empfindlichkeit der Geschmacksnerven. Auch das Riechbare muss sich erst im Schleim der Nasenschleimhaut aufl\u00f6sen, ehe es die Geruchsnerven afficiren kann und dieselbe Art der Verbreitung muss hier stattfinden, die bei der Vertheilung eines Riechstoffes im Wasser geschehen mag. Auch ist wieder der Geschmacksnerve nicht allein f\u00fcr das fl\u00fcssige oder feste Schmeckbare empfindlich ; auch gasf\u00f6rmige Stoffe werden zuweilen geschmeckt, wenn sie sich in der Feuchtigkeit der Zunge aufl\u00f6sen, wie die schweflichte S\u00e4ure und meh-reres Andere. Es ist also denkbar, dass ein und dasselbe Princip in dem Geruchsnerven und in dem Geschmacksnerven verschiedene Empfindungen hervorrufe, in dem einen den Geruch, in dem andern den Geschmack. Die Ansicht von Treviranus, dass das Geruchsorgan der Luftthiere einer Lunge, dasjenige der Fische einer Kieme zu vergleichen sey, ist zwar im Allgemeinen ein gutes Bild, aber man darf sich eine Verwandlung der riechbaren Stoffe, die im Wasser aufgel\u00f6st sind, in gasf\u00f6rmige vor der Einwirkung auf den Geruchsnerven so wenig vorstellen, als die Kiemen n\u00f6thig haben, die im Wasser resorbirten oder aufgel\u00f6sten Gase in luftf\u00f6rmige Gase vor der Aufnahme ins Blut zu verwandeln. Der Zustand, in welchem diese Gase im Blute enthalten sind, ist schon ganz derselbe, in welchem sic sich im Wasser befinden. Endlich sind die Geruchsnerven der Fische identisch mit den Geruchsnerven aller \u00fcbrigen Thiere, sic entspringen as denselben Stellen des Gehirns, aus denselben Riechlappen des Gehirns, Lobi olfacto-rii, welche man selbst noch hei den S\u00e4ugethieren als Geruchskolben des Gehirns wahrnimmt.","page":484},{"file":"p0485.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom Geruchsorgan.\n485\nEine weitere Bedingung zum Geruch ist die Befeuchtung der .Nasenschleimhaut, denn eben die Feuchtigkeit ist das Vehikel, durch welches die Riechstoffe zun\u00e4chst his zum Nerven durchgehen. Im trocknen Zustande der Nasenschlcimhaut riecht man gar nicht, und schon die Verminderung der Schleimabsonderung im ersten Stadium des Catarrh\u2019s ist mit Aufhebung oder Verminderung des Geruchs verbunden.\nBei den in der Luft lebenden Thieren ist auch eine Str\u00f6mung der Riechstoffe durch das Geruchsorgan zum Geruch erforderlich; die Athemhewegungen bedingen diesen Impetus der Riechstoffe; durch willk\u00fchrliche Aenderung der Athemhewegungen haben wir auf das Riechen Einfluss, wir unterbrechen den Geruch durch den Stillstand des Athmens und sch\u00e4rfen ihn durch wiederholte Inspirationen.\nBei den das Wasser riechenden Thieren f\u00e4llt diese Bewegung gr\u00f6ssentheils weg, da ihre Nase in der Regel nicht durchbohrt ist, und nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Athem-organ steht. Doch findet auch hier ein Ersatz f\u00fcr diese Str\u00f6mung statt. Denn verm\u00f6ge der Athemhewegungen der Kiemendeckel wird best\u00e4ndig ein Strom-des Wassers durch deu Mund ein und durch die Riemen\u00f6ffnung wieder ausgef\u00fchrt.\nII. Capitel. Vom Geruchsorgan.\nDie Geruchsorgane der wirbellosen Thiere sind noch wenig bekannt, obgleich viele von ihnen scharf riechen, wie die Scbmeiss-fliegen, die in faulende Thiersubstanzen ihre Eier legen, und sieh selbst durch den Geruch der Stapelia hirsuta t\u00e4uschen lassen. Die hieher geh\u00f6rigen Beobachtungen \u00fcber die Geruchsorgane der Gliedertliiere siehe in R. Wagner oergl. Anal. 1834. 1. 467.\nDas hei der Bildung und Ab\u00e4nderung des Geruchsorganes angewandte Princip ist Vermehrung der riechenden Oberfl\u00e4chen im kleinen Raume. In dieser Hinsicht sind sich Athemorgane und Geruchsorgane sehr verwandt.\nBei den Fischen und unter den nackten Amphibien heim Proteus anguinus nach Rusconis Entdeckung geschieht die Vermehrung der Oberfl\u00e4che durch Falten der Schleimhaut, die entweder neben einander liegen wie Kiemenbl\u00e4tter, wie hei den Cy-clostomen, oder von einem Mittelpunct radial auslaufen wie beim St\u00f6r, oder von einer mittlern Leiste nach 2 Seiten parallel \u00fcbgehen. Die Bl\u00e4tter sind oft wieder von Neuem in B\u00fcschel, Aeste u. s. w. abgetheilt.\nBei den meisten Fischen sind die Nasenh\u00f6hlen oberfl\u00e4chliche Gruben, welche den Gaumen nicht durchbohren. Bei Lophius piscatorius sind es gestielte Gl\u00f6ckchen, in deren Grund sich die Falten befinden.\nBei den Cyclostomen sind die Nasenh\u00f6hlen in eine vereinigt, ohne Scheidewand, sie ist mit einer R\u00f6hre versehen, die sich auf der Oberfl\u00e4che des Kopfes (Petromyzon, Ammocoetes), oder am vordem Ende der Schnautze endigt (Myxinoiden). Diese Nasen-","page":485},{"file":"p0486.txt","language":"de","ocr_de":"486 V. Buch. Von den Sinnen. III. Abschn. Vom Geruchssinn\nr\u00f6hre ist bei den Myxinoiden sehr lang und mit Knorpelringen versehen, ganz so wie die Luftr\u00f6hre.\nBei den Cyclostomen ist die Nase durchbohrt und ein Gang durchbohrt den harten Gaumen. Bei den Petromvzon ist jedoch keine Oeffnung im weichen Gaumen, sondern der Nasen-gaumengang geht als blind geendigter Sack durch den harten Gaumen und liegt zwischen Sch\u00e4del und Rachenhaut. Auch der Nasengaumengang der Ammocoetes ist blind geschlossen. Dieser Apparat dient daher bloss zum Einziehen und Ausspritzen des AYassers in und aus der Nase. Bei den Myxinoiden ist dagegen nicht bloss der harte, sondern auch der weiche Gaumen durchbohrt, und hinter der Nasengaumen\u00f6ft'nung liegt bloss eine segelartige, r\u00fcckw\u00e4rts gerichtete Klappe, welche zur Bewegung und Erneuerung des in der Nase enthaltenen Wassers zu dienen scheint.\nDer Spritzapparat der Nase hei den Petromvzon und die bewegliche Klappe hei den Myxinoiden scheinen eine nothwendige Folge der \u00fcbrigen Organisation dieser Tbiere zu seyn. Zum Riechen ist Bewegung des Mediums gegen die riechende Flache nothwendig, in der Luft riecht man nicht ohne Luftzug durch die Nase. Im Wasser geschieht die Erneuerung der riechbaren Wasserschichten, um den Kopf, dadurch, dass das Wasser zufolge der Athembe-wegungen zum Munde ein und an den Kiemenspalten ausstr\u00f6mt. Bei den Cyclostomen ist auf diese Weise die Erneuerung des Wassers in der Nase nicht m\u00f6glich, wenn sie mit dem Maule saugen. Daher der Spritzapparat der Nase, durch welchen frisches Wasser in die Nase eingezogen und das alte ausgespritzt wird.\nDie Nase der Amphibien ist immer durchbohrt. Bei einigen Proteiden geht die Nasengaumen\u00f6ffnung nicht einmal durch den Knochen durch, sondern wegen der abortiven Beschaffenheit des nur im Fleisch liegenden Oberkiefers, durch die Oberlippe, diess ist aber nicht allgemeiner Character der Proteiden; denn beim Axolotl ist die Nasengaumen\u00f6ffnung wie gew\u00f6hnlich von Knochen begrenzt Auch haben nicht alle Proteiden die der Fischnase \u00e4hnlichen Falten der Nasenschleimhaut, sondern nur der Proteus. Bei den beschuppten Amphibien und A7\u00f6geln treten muschelartige Forts\u00e4tze zur Vermehrung der Oberfl\u00e4che auf. Die S\u00e4ugethiere haben das Labyrinth des Siebbeins, die Muscheln und Nebenh\u00f6hlen der Nase. Die Vermehrung der Fl\u00e4che in der untern Muschel ist unter den S\u00e4ugethieren sehr bemerkenswert!]. Die eigenthiimlichsten Formen zeigen sich einestheils hei den Wiederk\u00e4uern, Einhufern u. A., und \u00fcberhaupt h\u00e4ufiger bei Pflanzenfressern, anderntheils hei den Fleischfressern. Bei den Ersteren bilden die untern Muscheln ein Blatt, dessen befestigter Theil einfach ist, dessen anderer Theil sich in eine obere und untere Lamelle theilt, die sich nach entgegengesetzten Richtungen, das eine nach oben, das andere nach unten rollen, wie Piollen von Papier. Bei den Fleischfressern theilt sich dagegen der Stamm des Blattes in Aeste und Neben\u00e4ste, ohngef\u00e4hr wie die Bl\u00e4tter am Lebensbaum des kleinen Gehirns. Die Muscheln des Menschen erscheinen gegen diese ausserordentliche Vermehrung der Oberfl\u00e4che als Rudimente. Die Stenson-schen Organe unterhalten bei vielen S\u00e4ugethieren eine Verbindung","page":486},{"file":"p0487.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom Geruchsorgan.\n487\nder Nase und des Mauls an der Stelle des Foramen incisivum. Von den Stensonschen G\u00e4ngen ist noch das Jaeobsonsche Organ zu unterscheiden, eine theils h\u00e4utige, theils knorpelige R\u00f6hre, die auf dem Boden der Nase zwischen Vomer und Schleimhaut liegt, und mit dem Stensonschen Gange zusammenh\u00e4ngt. Die Function dieser Theile ist unbekannt. Rosenthal in Tiedemann\u2019s Zeitschr. f. Physiologie. 2. 289. Ueber den angeblichen Mangel der Geruchsnerven bei den Cetaceen siebe oben B. I. 3. Auflage, p. 781.\nDie Nebenh\u00f6hlen der Nase scheinen nicht zum Geruch zu dienen. Mit Kampferd\u00fcnsten geschw\u00e4ngerte Luft wurde in eine Fistel der Stirnh\u00f6hle von Deschamp, riechende Substanzen in die Highmorsh\u00f6hle von Richeband eingespritzt, ohne dass sie gerochen wurden. Es scheint der Natur ziemlich gleich zu seyn, oh sie die R\u00e4ume in den Knochen mit Luft oder Fett f\u00fcllt, durch Beides werden die Knochen leichter, als sie ganz fest seyn w\u00fcrden. Bei den V\u00f6geln werden viele Knochen des Stammes von Luft durch die Lungen und des Kopfes durch die Tuba gef\u00fcllt, heim Menschen nur einzelne Kopfknochen, die Zellen des Processus ma-stoideus und die Nebenh\u00f6hlen der Nase. Die Schleimhaut der Nase auch der Nebenh\u00f6hlen zeigt hei allen Thiercn die Wimperbewegung.\nDer Mechanismus der Leitung, der bei den andern Sinnen so verwickelt ist, ist beim Riechen sehr einfach. Die in der Luft schwebenden gasf\u00f6rmigen, vielleicht auch selbst pulverig fein vertheilten Riechstoffe werden durch die Bewegung des Einathmens in einem Strome den Schleimhautfl\u00e4chen zugel\u00fchrt. Auch die str\u00f6mende Bewegung der Luft nach aussen kann den Geruch erregen, wenn es sich um den Geruch von Stoffen handelt, die sich in den Athemwerkzeugen und Verdauungswerkzeugen nach oben entwickeln wie hei der Eructation. Nur die Art wie der Geruch gesteigert und gehindert wird, kann hier noch erw\u00e4hnt werden.\nWir k\u00f6nnen den Geruch willk\u00fclirlich aufheben, und uns vor der Empfindung unangenehmer D\u00fcnste so lange sichern, als wir das Einathmen durch die Nase zu unterbrechen verm\u00f6gen.\nDie Steigerung des Geruchs geschieht durch verst\u00e4rktes Einziehen der riechenden D\u00fcnste oder auch schnell wiederholte kleine Inspirationen. Beim Sp\u00fcren wird die Schichte eines Riechstoffes in der Atmosph\u00e4re aufgesucht, indem schnell wiederholte Inspirationsbewegungen in verschiedenen Richtungen gemacht werden. Die einmal aufgefundene Schichte des Riechstoffes in der Atmosph\u00e4re wird dann auf dieselbe Weise verfolgt und ergr\u00fcndet. Die Str\u00f6mung der Riechstoffe kann auch durch den Wind beg\u00fcnstigt werden. Ohne zu sp\u00fcren sollen Pflanzenfresser hierdurch |oi\u2019t die fern entwickelten Riechstoffe wittern.\nAusser dem Geruch findet in der Nase auch Gef\u00fchl durch die Nasenzweige vom 1. und 2. Ast des Trigeminus statt. Dahin geh\u00f6rt die Empfindung der K\u00e4lte, W\u00e4rme, des Juckens, Kitzels, Schmerzes, der Gef\u00fchlsmodus des Druckes in der Nase. Dass diese Nerven nicht den Geruchsnerven ersetzen k\u00f6nnen, sieht man deutlich hei Den jenigen, die gar keinen Geruch, aber eine sehr gute Gef\u00fchlsempfindung in der Nase haben. Vergl. oben B. I. 3. Aufl. p. 781\nM\u00fcller\u2019s Physiologie. 2r R<I. U.\t32","page":487},{"file":"p0488.txt","language":"de","ocr_de":"ISS V. Buch. Von ihm Sinnen. III. Jbschn. Vom Geruchssinn.\n, Bei manchem Dunstf\u00f6rmi^en ist es schwer die Gef\u00fcliLsempfin-iliing von der Geruchscmpfind\u00fcng zu trennen und was jeder von beiden geh\u00f6rt zu ermitteln, wie bei der Empfindung sch\u00e4rfer D\u00fcnste, des Ammoniakgases, Mecrrettigs, Senfes u. s. w. Diese Empfindungen haben viel Aehnlichkcit mit den Gef\u00fchlsempfindungen, besonders wenn man bedenkt, dass diese scharfen D\u00fcnste einigermassen \u00e4hnlich auf die Schleimhaut der Augenlieder wirken.\nIII. Gapitel. Von der Wirkung der Geruchsnerven.\nDie F\u00e4higkeiten der Thiere zu verschiedenen Ger\u00fcchen sind nicht gleich, und es muss von den Kr\u00e4ften der centralen Theile des Geruchsapparates abh\u00fcngen, dass die Welt der Ger\u00fcche eines Pflanzenfressers eine ganz andere als die eines Fleischfressers ist. Die fleischfressenden Thiere sind mit dem sch\u00e4rfsten Geruch f\u00fcr specifische Eigent\u00fcmlichkeiten tierischer Stoffe, f\u00fcr das Auswittern der Spur begabt, haben aber keine merkliche Empfindlichkeil f\u00fcr den Geruch der Pflanzen, der Blumen. Der Mensch steht zwar in Beziehung auf die Sch\u00e4rfe des Geruchs weit unter den Fleischfressern, aber seine Geruchswelt ist mehr gleichartig ausgebildet.\nWas beim Gef\u00fchlssinn das Schmertafte, beim Gesichtssinne das Blendende und die Disharmonie der Farben, heim Geh\u00f6rsinn die Dissonanz, ist beim Geruchssinn der Gestank, der Gegensatz des Wohlgeruchs. Die Ursachen dieses Unterschiedes sind unbekannt, aber gewiss, dass Gestank und Geruch in der Thierwelt relativ sind, denn in dem uns Uebelriechenden treiben viele Thiere ihr Wesen. Ja seihst die Menschen zeigen sieh darin sehr verschieden. Manche Wohlger\u00fcche sind einigen unausstehlich, gebranntes Horn riecht manchen \u00fcbel, anderen gut, ohne dass einer im letzten Fall hysterisch zu seyn braucht. Mehreren riecht Reseda nicht sehr sublim und mehr krautartig, wie Blumenbach anf\u00fchrt und auch ich bin in diesem Fall. Dass manche Ger\u00fcche unter sieh in einem Gegensatz stehen, wie bei den Farben und T\u00f6nen, dass es auch hier Consonanzcn lind Dissonanzen gebe, ist zwar nicht im Einzelnen bekannt, aber sehr wahrscheinlich, da bei dem Geschmackssinn dasselbe gewiss ist. Auch die Nachempfindungen sind vom Geruchssinn nicht bekannt, obgleich schwerlich fehlend. Eine reine Beobachtung ist schwer, und der oft sehr lange in der Nase verharrende cadaver\u00f6se Geruch nach Sec-tionen kann nicht f\u00fcr einen Beweis der Nachempfiudungen gehalten werden, da er wahrscheinlich objectiv ist, von Aufl\u00f6sung, des Riechstoffs in dem Schleim.\nDie subjectiven Ger\u00fcche ohne objective Riechstoffe sind noch wenig bekannt. Aufl\u00f6sungen von Stoffen, die nicht riechen, wie von Salzen, in die Nase gespritzt, bewirkten keinen Geruch. Man weiss, dass das Reiben der electrischen Maschine einen phosplio-rigen Geruch erregt. Ritter beobachtete bei Anwendung des Galvanismus auf das Geruchsorgan am negativen Pol, ausser dem Drang zuin Niesen und dem Kitzel, einen Geruch wie von Ammoniak, am positiven Pol einen sauren Geruch, beide Wirkungen","page":488},{"file":"p0489.txt","language":"de","ocr_de":"IV. Abschnitt. Vom Geschmackssinn.\n489\nhielten beim geschlossen seyn der Kette an, und gingen hei Oeff-nung derselben in die entgegengesetzten \u00fcber. Manche riechen oft etwas Specifisehes, was doch nicht da ist und was Andere nicht riechen k\u00f6nnen ; bei nervenreizbaren Menschen k\u00f6mmt dieses oft vor, aber es ereignet sich auch bei jedem Menschen.\nBei einem Manne, der immer einen \u00dcbeln Geruch empfunden hatte, fanden Cullerier und Maignault die Arachnoidea mit Verkn\u00f6cherungen besetzt und in der Mitte der Hemisph\u00e4ren des Gehirns scrophul\u00f6se in Eiterung \u00fcbergegangene B\u00e4lge. Dubois Gatte einen Mann gekannt, der nach einem Falle vom Pferde mehrere Jahre bis zum Tode einen Gestank zu riechen glaubte.\nOb stark riechende Stoffe in das Blut eines Individuums gebracht, einen Geruch vom Blute aus durch die Circulation bedingen, ist noch nicht versucht.\nKein Sinn steht \u00fcbrigens in so inniger Wechselwirkung mit den instinktm\u00e4ssigen Wirkungen in der thierischen Oeconomie, als der Geruch und Geschmack. Die Ger\u00fcche erregen m\u00e4chtig den Geschlechtstrieb der Thiere und bringen durch die Erregung des Gehirns und R\u00fcckenmarkes das Spiel der geschlechtlichen Wirkungen hervor.\nEine Zusammenstellung der auf den Geruch bez\u00fcglichen Tliat-sachen lieferte II. Clo-quet, Osphr\u00e9siologie Paris. 1821.\nIV. Abschnitt. Vom Geschmackssinn.\nI. Capitel. Von den physicalischcn Bedingungen des Geschmacks.\nDie \u25a0 Bedingungen des Geschmacks sind: 1) der specifische Nerve, 2) die Reizung dieses Nerven durch das Schmeckbare und 3) die Aufl\u00f6sung des Schmeckbaren in den Feuchtigkeiten des Geschmackorganes. Das Schmeckbare ist so schwer als beim Geruch ein bloss mechanischer Reiz, sondern eine materielle Ver\u00e4nderung des Nerven durch eine aufgel\u00f6ste Materie, je nach der Verschiedenheit der Materien ist auch der Nerve unendlich verschieden bestimmbar und die Empfindung verschieden. Doch l\u00e4sst sich die Erregung von Geschmack durch eine mechanische Ver\u00e4nderung der Geschmacksnerven nicht ganz als unm\u00f6glich anse-ben. Druck, Zerrung, Stechen, Reiben der Zunge erregen zwar nur Gef\u00fchlsempfindungen, aber Henle beobachtete, dass ein feiner Luftstrom hier einen k\u00fchlend salzigen Geschmack wie von Salpeter bewirkt, und die mechanische Reizung des Schlundes und Gaumens bewirkt die Empfindung des Eckels, die dem Gef\u00fchl nicht, aber dem Geschmack so verwandt ist, dass sie davon nicht getrennt werden kann. Von den impondcrabeln Materien bewirkt nur die Electricit\u00e4t Geschmack.\n32 *","page":489},{"file":"p0490.txt","language":"de","ocr_de":"490 V. Ruch. Von den Sinnen. IV. Al/sclin. Vom Geschmackssinn.\nEin schmeckbarer Stoff\u2019 muss in der Kegel entweder aufgel\u00f6st, oder wenigstens in der Feuchtigkeit der Zunge aufl\u00f6slich seyn, nicht aufl\u00f6sliche Stoffe bewirken nur Gtf\u00fchlsempfindungen der Zpnge. Oh auch der blosse Contact eines nassen thierischen Nahrungsmittels und des lebendigen Organes Geschmack errege, ohne die in dem Nahrungsstoffe enthaltenen aufgel\u00f6sten Theile ist zweifelhaft. Gase erregen zuweilen auch den Geschmack, wie die schweflichte Saure.\nZur innigen Einwirkung des schmeckbaren Stoffes ist die Befeuchtung der Zunge, gleichwie der Nasenschleimhaut beim Geruch noting. Besondere Leitungsapparate ausser dem Schleim der Zunge fehlen bei diesem Sinne. Daher sieh die Untersuchung wie heim Geruchssinn sehr vereinfacht.\nII. Capitel. Vom Geschmacks organ.\nDer Sitz des Geschmacks sind die Fauces und besonders die Zunge, die jedoch als Sehlin kwerkz-eug oft bei den Tbieren wichtiger wird, so dass die zahlreichen Abweichungen dieses Organes in -vergleichend anatomischer Beziehung nur wenig Interesse f\u00fcr die Physiologie des Geschmacks seihst haben und hier \u00fcbergangen werden k\u00f6nnen. Wenn die Zunge fleischlos und spr\u00f6de ist, wie hei den Fischen und vielen V\u00f6geln (mit Ausnahme der Papageien, Enten, G\u00e4nse u. A.), so darf man deswegen doch nicht Mangel des Geschmackssinhes voraussetzen. Denn diese Empfindung ist eine Eigenschaft der ganzen Fauces, nicht eines besondern Organes, sondern der Schleimhaut jener H\u00f6hle. Nur bei denjenigen Tbieren, welche ganze Thiere mit Federn und Haaren verschlingen, wird die Geschmacksempfindung schon durch die Art des Fressens vermieden, wie bei den Schlangen u. a. Hierher geh\u00f6ren auch die Jnsecten- und K\u00f6rnerfressenden V\u00f6gel. Ueber das bewegliche, von Einigen f\u00fcr ein Geschmackswerkzeug gehaltere Organ am Gaumen der Cyprinen siehe oben p. 35.\nBeim Menschen erregt die mechanische Ber\u00fchrung des weichen Gaumens die Empfindung des Eckels, was immer noch von einer Reflexion auf die Geschmacksnerven erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnte, die Empfindlichkeit des Gaumens f\u00fcr schmeckbare Substanzen ist aber durch die Versuche von Dumas, Autenrieth, Richerand, Horn, Lenhossec, Treviranus, Bischoff best\u00e4tigt, ich empfinde deutlich den Geschmack des K\u00e4ses am Gaumen, wenn ich z. B. ein St\u00fcckchen Schweitzerk\u00e4se am weichen Gaumen reibe. Dass der N. bypoglossus Bewegungsnerve, der Lingualis Empfindungsnerve der Zunge ist, geht aus den Versuchen von Dupuytren, Mayo und mir hervor, nach welchen die Reizung des Ilypoglossus durch Galvanismus oder Zerrung, Zuckungen der Zunge, die Zerschneidung des Lingualis aber lebhafte Schmerzen bewirkt. Die Versuche am Lingualis erfordern in Beziehung auf Bewegung die Vorsicht, die auch bei den Versuchen \u00fcber die Wurzeln der R\u00fcckenmarksnerven noting ist. Der Nerve muss erst vom centralen Theil abgeschnitten, und dann das peripherische St\u00fcck gereizt werden. Reizt","page":490},{"file":"p0491.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom Gesc/imacksorgan.\nli)i\nman den Lingualis, so lange er noch mit dem centralen Ende in Verbindung siebt, so ist zu bef\u00fcrchten, dass eine Zuckung der Zunge und anderer Theile durch Reflexion entstehe, wie ich sie selbst neulich einmal beobachtete.\nIn Hinsicht der Controverse, welcher der Nerven der Zunge, ausser dem motorischen Hypoglossus, als Geschmacksnerve anzusehen sey, der N. lingualis oder glossopharyngeus, und der Ansicht von Panizza, Biscuoff u. A. \u00fcber diesen Punct verweise ich aui das fr\u00fcher mitgetheilte und Bischoff im encyclop. W\u00f6rter!), der med. Wissensch. R. Wagner tritt aus physiologischen und anatomischen Gr\u00fcnden der Theorie von Panizza bei (Frohiep\u2019s Not. 1837. N. 75.), ebenso Valentin und Bruns Versuchen zufolge, w\u00e4hrend die Versuche von Kornfeld, Gurlt und mir jener Ansicht nicht g\u00fcnstig sind. Vergl. Muell.Arch. 1838. CXXXIV. Valent. Repert. 1837. 221. Valentin\u2019s Versuche betrachte ich nicht als entschieden zum Vortheil jener Theorie sprechend, da vierzehn Tage nach der Durchschneidung des Glossopharyngeus ein Thier wieder anfangen soll zu schmecken. Dieser Zeitraum ist so kurz, dass es gerade hierdurch wahrscheinlich wird, dass die Thiere den Geschmack nicht verloren hatten. Alcock\u2019s Versuche (Lond. med. gaz. 1836. Nov.) hatten kein ganz entschiedenes Resultat. Der Geschmack f\u00fcr Bitteres war nach Durchschneidung des Glossopharyngeus verloren, nach Durchschnei dung des Lingualis nur am vordem Theile der Zunge verloren. Der Verf. thcilt sowohl dem Glossopharyngeus als Lingualis und auch den Gaumerf\u00e4sten des Quintus Geschmack zu, die Versuche an diesen letztem Nerven fielen nicht ganz definitiv aus. Von grosser Wichtigkeit sind die pathologischen Beobachtungen, dass n\u00e4mlich nach Zerst\u00f6rung des Quintus der Geschmack verloren geht, wie in den Beobachtungen von Parry, Bishop und Romberg vorliegt. Druck, einer Geschwulst auf den N. lingualis brachte Verlust des Geschmacks hervor. Siehe Muell. Arch. 1834. 132. und Romberg in Muell. Archiv. 1838. 3. Hcjt. Im letztem Fall war bei einer Person, die auf der einen Seite dei Zunge nicht schmeckte und nicht f\u00fchlte, der Anfang des dritten Astes durch eine kleine Geschwulst ver\u00e4ndert, der Glossopharyngeus aber gesund.\nDass der Lingualis der Hauptgeschmacksnerve der Zunge ist, halte ich aus den Versuchen von Magendie, Gurlt, Kornfeld und mir, so wie aus den pathologischen Beobachtungen von Parry, Bishop und Romberg erwiesen, nicht aber f\u00fcr erwiesen, dass der N. glossopharyngeus ohne Antheil am Geschmack am hintern Theil der Zunge und in den Fauces ist. Romberg schreibt ihm die Empfindung des Eckels zu, wodurch der Eingang in das Verdauungssystem gesch\u00fctzt wird.\n111. Capitel. Vom Geschmack und von den Wirkungen der Geschmacksnerven.\nEine Theorie der verschiedenen Gcschinackswirkungeu ist vollends unm\u00f6glich. Das Qualitative des Geschmacks an stell, in","page":491},{"file":"p0492.txt","language":"de","ocr_de":"492 V. Buch. Von den Sinnen. III. Ahschn. Vom Geschmackssinn\nwie weit er von Geruch. Gef\u00fchl, Gesicht, Ton verschieden, ist hier, wie in alien Sinnen ein Unerkl\u00e4rliches. Das Wesen des Illauen als Empfindung lasst sich nicht \u00fcbersetzen, es kann nur empfunden werden und man muss dabei stehen bleiben, dass es eine Eigenschaft der specifischen Nerven ist, dass der eine blau sieht, der andere Schall h\u00f6rt, der andere riecht u. s. w. Aber die Ursachen der Unterschiede mehrerer Empfindungen, deren ein und derselbe Nerve f\u00e4hig ist, lassen sich wohl auffinden, wie es beim Gesicht, Geh\u00f6r auch geschehen ist. Man weiss, dass der eine Ton von dem andern durch die Zahl der St\u00f6sse verschieden ist, dass bei den farbigen Eindr\u00fccken eine verschiedene Zahl der Wellen in gleicher Zeit stattfindet. Beim Geschmack, gleichwie beim Geruch sind wir weit von einer solchen Theorie entfernt.\nBellini wandte die alte Ansicht von der verschiedenen Form der kleinsten Theilchen der K\u00f6rper zur Erkl\u00e4rung der verschiedenen Geschm\u00e4cke an, eine Ansicht, wogegen sich theoretisch Nichts einwenden l\u00e4sst, die aber nicht bewiesen werden kann. Zur Zeit, wo man Alles aus chemischen Polarit\u00e4ten erkl\u00e4rte, war auch die Anwendung der Polarit\u00e4ten auf das Geschmacksorgan gel\u00e4ufig.\nAusser dem Geschmack empfindet die Zunge durch das Gef\u00fchl sehr fein und richtig, nie W\u00e4rme und K\u00e4lte. Kitzel, Schmerz, Druck und dadurch Form der Oberfl\u00e4chen.\nDie Gef\u00fchlsempfindung kann in der Zunge seyn, w\u00e4hrend der Geschmack bleibt und umgekehrt. Siehe Muell. Arch. 1835. p. 139. Hieraus wird es wahrscheinlich,' dass die Leiter f\u00fcr beiderlei Empfindungen, wie in der Nase, nicht dieselben sind. Begreiflicher Weise k\u00f6nnten in einem Nervenstamm Fasern von sehr verschiedenen qualitativen Eigenschaften enthalten seyn.\nAus den schon mitgetbeilten Thatsachen geht hervor, dass der N. lingualis Ursache von Geschmacksempfindungen ist, aber die lebhaften Schmerzens\u00e4usserungen beim Durchschneiden dieses Nerven beweisen augenscheinlich, dass er auch Gef\u00fchlsnerve der Zunge ist. Auch dem N. hypoglossus k\u00f6mmt ausser seiner motorischen Eigenschaft Gef\u00fchl zu. Siche oben B. I. 3. Aull. p. 66\u00f6.\nDa viele Substanzen w\u00e4hrend sie geschmeckt werden auch riechen, so ist der Gesammteindruck derselben f\u00fcr die Vorstellung oft mehr oder wenig vermischt. Durch Zuhalten der Nase l\u00e4sst sich aber in solchen F\u00e4llen ermitteln, was dem Geruch angeh\u00f6rt. Manche feine Weine verlieren sehr viel v on ihrer Wirkung, wenn man beim Trinken die Nase zuh\u00e4lt.\nNach den Versuchen von Hohn (lieber den Geschmackssinn des Menschen. Heidelberg 1825.) scheinen nicht alle Substanzen auf den verschiedenen Papillen der Zunge gleich zu schmecken, eine Ansicht, worauf besonders auch die von dem ersten Geschmack oft verschiedenen Nachgeschm\u00e4cke zu f\u00fchren scheinen. Horn hat Versuche mit einer Menge von Substanzen angeslellt, welche theils gleich schmeckten in allen Beginnen des GesehmacksorgancS, theils sehr verschieden schmeckten, in der Gegend der Papillae filiformes und Papillae va\u00fcalae. In Umsicht des kinzehteu verweise ich auf die Abhandlung.","page":492},{"file":"p0493.txt","language":"de","ocr_de":"3. Von den IVirkimgen der Geschmackmeroen.\n193\nDie Nachempfmdutigcn sind beim Geschmack sein- deutlich und oft lange dauernd, das Schmecken einer Substanz ver\u00e4ndert den Geschmack einer andern. Wenn ich Calamus Wurzel gekaut habe, so schmeckt mir nachher Milch und Calle s\u00e4uerlich; der Geschmack des S\u00fcssen verdirbt den Geschmack des Weines, der Geschmack des K\u00e4ses erh\u00f6ht ihn. Es ist also wie bei den Farben, wovon eine die Empfindung der ihr entgegengesetzten oder complementaren erh\u00f6ht. Doch ist cs noch nicht gelungen die Gegens\u00e4tze der Gcschm\u00e4ckc unter allgemeinen Prin-eipien wie bei den Farben aufzufassen ; aber die Kochkunst benutzt die Consonanzen in der Folge und Verbindung der Gescbm\u00e4cke von jeher practise!), gleichwie die Malerei und Musik die Grunds\u00e4tze der Harmonie practiseh angewandt haben, ohne das Gesetzliche zu kennen.\nH\u00e4ufige Wiederholung desselben Geschmacks hintereinander stuniplt ihn immer mehr ab, so wie eine Farbe um so schmutziger erscheint, je l\u00e4nger sie betrachtet wird. Kann man bei verbundenen Augen zwar im Anfang weissen und rothen Wein unterscheiden, so verliert man doch bald diese F\u00e4higkeit, wenn man \u00f6fter den einen und andern probixt, wie man leicht erfahren kann.\nKommen die schmeckbaren Substanzen nur einlach mit der Oberfl\u00e4che des Organes in Ber\u00fchrung, ohne darauf herum bewegt zu werden, so werden sie oft sehr undeutlich, zuweilen gar nicht geschmeckt. Dagegen wird der Geschmack gesch\u00e4rft durch wiederholtes Andr\u00fccken, Reiben und Bewegen der schmeckbaren Substanz zwischen Gaumen und Zunge. Entweder ist liier der mit Impetus veibundene Eindruck st\u00e4rker, wie beim Geruch, oder die Thatsacbe h\u00e4ngt von der schnellen Abstumpfung der schmek-kenden Theilchen ab, so dass die Bewegung noting ist, um das schmeckbare aul immer neue, noch frische oder unerm\u00fcdete Theilchen des Nerven zu bringen. Eine Wechselwirkung von 2 thierischen, sich ber\u00fchrenden Oberfl\u00e4chen, die Raspail neulich annahm, ist deswegen ganz unwahrscheinlich, weil die Reibung denselben Erfolg bat, wenn die schmeckbare Substanz auf andere Art auf der Zunge bewegt wird, ohne dass die Zunge den Gaumen ber\u00fchrt.\nDie subjectiven Gescbm\u00e4cke sind noch wenig bekannt. Ausser der Empfindung des Eckels von mechanischer Reizung der Zungenwurzel und des Gaumensegels geh\u00f6rt hierher die oben angef\u00fchrte Beobachtung von Henle von Geschmacksempfindung durch einen feinen Strom tier'Luft und die Empfindung des s\u00e4uerlichen und' alkalischen Geschmacks bei der Belegung der Zunge durch zwei heterogene Metalle die kettenartig verbunden werden. Was der Erkl\u00e4rung dieser Erscheinung durch Zersetzung der Speichelsalze entgegen zu stellen scheint, wurde bereits oben 13. h A- Aull. 629. angef\u00fchrt.\nAuch eine Ver\u00e4nderung des blutes scheint auf den Geschmack zu wirken, so wie narkotische Stoffe im Blut Ver\u00e4nderung des Sehens, flimmern vor den Augen u. dgl. bewirken. Hierher geh\u00f6rt die Beobachtung von Magendie, dass Hunde, denen Milch ms Blut injicirt worden, mit der Zunge sich das Maul zu lecken","page":493},{"file":"p0494.txt","language":"de","ocr_de":"494 V. Buch. Von den Sinnen. V. Abschn. Vom Gef\u00fchlssinu\npflegen. Ver\u00e4nderungen des Geschmacks und eigent\u00fcmliche Ge-sehmacke von innerer Ver\u00e4nderung der Nerven sind wahrscheinlich, aber schwer von denjenigen Geschm\u00e4cken zu trennen, die von objectiven Ursachen ausser der Zunge, n\u00e4mlich durch Ver\u00e4nderungen in dem Mundschleirn entstehen.\nV. .Abschnitt. Vom Gef\u00fchlssinn.\nDer Gef\u00fchlssinn hat eine viel gr\u00f6ssere Ausdehnung als die \u00fcbrigen Sinne; alle Theilc, in welchen die Empfindung von der Gegenwart eines Reizes, als einfaches Gef\u00fchl bis zu den Modificatione.1 des Schmerzes und der Wollust, und die Empfindungen der W\u00e4rme und K\u00e4lte m\u00f6glich sind, geh\u00f6ren diesem Sinne an. Die \u00e4usseren Ursachen, welche diese Empfindung erregen, sind mechanische chemische, electrische Einwirkungen und Temperaturver\u00e4nderungen. Diese Empfindungen dehnen sich aber \u00fcber das ganze animalische und organische System aus, obgleich die Sch\u00e4rfe derselben in den verschiedenen Theilen \u00e4usserst verschieden ist. Selbst in d.e Sinnesorgane anderer Sinne dringt der Gef\u00fchlssinn ein, wo er dann durch andere Nerven als die specifischen Nerven der Sinnesorgane bedingt wird, so ist Gef\u00fchlsempfindung am Auge, im Ohr, in der Nase, im Geschmacksorgan. Die Nerven der Gef\u00fchlsempfindungen sind die mit Knoten an ihrem Ursprung versehenen hintern Wurzeln der Nerven des Vertebral- oder Spinalsystems, wozu zum Theil Gehirnnerven und alle R\u00fcckenmarksnerven geh\u00f6ren. Die sensoriellen F\u00e4den, aus welchen diese hinlern mit einem Knoten versehenen Wurzeln bestehen, geben gr\u00f6ssten Theils in die Nerven des animalischen Systems, zum kleinen Theil in die des organischen Systems ein, in ersteren die lebhafte, in letzteren die dunkle und wenig scharfe Gef\u00fchlsempfindung bedingend. Das sogenannte Gemeingef\u00fchi ist nichts Eigent\u00fcmliches, sondern nur das Gef\u00fchl in den innern Theilen, dessen Modus im krankhaften Zustande von der M\u00fcdigkeit bis zum Schmerz, und im gesunden von dem Gef\u00fchl des Rehagens bis zur Wollust und zum Kitzel unendlicher Modificationen f\u00e4hig ist.\nAusbreitung des Gef\u00fchls, Gef\u00fchlsorgane.\nDas Tastgef\u00fchl ist dem Wesen nach nicht von der Gef\u00fchlsempfindung verschieden, der Unterschied liegt nur in der Beziehung des mit den,i Gef\u00fchl versehenen Organes zur Aussenwelt. .leder durch Gef\u00fchl empfindliche Theil, der an der Oberfl\u00e4che liegt, hat in so fern Tastgef\u00fchl, indem er geeignet ist, die Empfindung von \u00e4ussern K\u00f6rpern angeregt zu erhalten. Hierzu","page":494},{"file":"p0495.txt","language":"de","ocr_de":"Gef\u00fchlsorgane. Gef\u00fchlsnerven. Relative Empfindlichkeit. 495\nwird er noch geeigneter, wenn er fein unterscheidet und beweglichist. Tastwerkzeuge sind dem zu Folge die ganze Haut, besonders aber die H\u00e4nde, die Zunge, die Lippen, namentlich bei den Ratzen und Seehunden, wo sie mit Tasthaaren versehen sind, die einen empfindlichen und nervenreicheu Keim haben, die Nase bei den mit einem R\u00fcssel versehenen Thieren, die Tentakeln der Mollusken, die Antennen und Palpen der Insecten, die fingerf\u00f6rmigen Forts\u00e4tze an den Brustflossen der Triglen, deren Nerven sogar von einer Reihe von eigenen Lappen oder Anschwellungen des R\u00fcckenmarks entspringen.\nIn der Haut ist das zum Tasten ausgebildete Gef\u00fchlsorgan, der Papillark\u00f6rper, kleine mit der Loupe zu sehende Unebenheiten der Oberfl\u00e4che, welche von dem Rete Malpighii scheidenartig bedeckt sind und in welchen sich die Nerven endigen. Siehe Breschet und Roussel de Vauz\u00e8me Ann. d. sc. nat. 1834. T. I. p. 167.\nAusf\u00fchrlichere Er\u00f6rterungen \u00fcber die Tastwerkzeuge geh\u00f6ren in die vergleichende Anatomie.\nDie mit Gef\u00fchl versehenen Theile sind gewisse Regionen der Centralorgane des Nervensystems selbst, die Vertebralnerven oder Nerven des Spinalsystems und die meisten Organe durch diese.\nIn den Centralorganen giebt es solche Theile, welche ohne alle Empfindlichkeit zu seyn scheinen, wie die Oberfl\u00e4che der Hemiph\u00e4-ren, deren Verletzlichkeit ohne Empfindung in zahlreichen Erfahrungen bei Menschen und Thieren vorliegt. In F\u00e4llen, wo nach Kopfverletzungen bei bewussten Menschen, theilweise zerst\u00f6rte und vorgefallene Theile der Oberfl\u00e4che des Gehirns von dem \u00fcbrigen getrennt werden mussten, ist dieses ohne alles Gef\u00fchl und Bewusstseyn geschehen.\nAndere Theile der Cenfralorgane hingegen sind lebhafter Empfindungen f\u00e4hig. Diese Empfindungen sind aber nicht \u00fcberall Gef\u00fchlsempfindungen.\nDie Centraltheile des Gesichtssinnes bewirken gereizt Lichtempfindungen. Man weiss aus alten Erfahrungen, dass Druck auf das Gehirn bei Menschen ein Sehen von Lichtern und Blitzen hervorbrachte. Doch giebt es auch Theile des Gehirns, welche der gew\u00f6hnlichen Gef\u00fchlsempfindungen f\u00e4hig sind. Obgleich manches Kopfweh nur Gef\u00fchl in den Nerven der \u00e4ussern Bedeckungen.ist, so ist doch die M\u00f6glichkeit der Gef\u00fchlsempfindung, z. B. des Drucks und des Schmerzes auch im Gehirn m\u00f6glich, wie in den Erfahrungen von chronischen Gehirnkrankheiten vorliegt, wo der Kranke ein mehr oder weniger deutliches Gef\u00fchl hatte von dem Orte einer Ver\u00e4nderung. Siehe Nasse \u00fcber Geschw\u00fclste im Gehirn p. 26., in Abercrombie \u00fcber die Krankheiten des Gehirns, \u00fcbersetzt von De Blots. Bonn. 1821.\nIm Spinaltheil des Gehirns und im R\u00fcckenmark kommen keine anderen Empfindungen als Gef\u00fchlsempfindungen vor. Diese Empfindungen werden theils au dem Orte ihres objectiveu Sitzes, n\u00e4mlich in der Mitte des R\u00fcckens, theils aber auch in den \u00e4ussern rIheilen, zu welchen die R\u00fcckenmarksnerven hingehen, ge i\u00fchlt, als Schmerzen. Ameisenlaufen. Die letztem kommen zu","page":495},{"file":"p0496.txt","language":"de","ocr_de":"496 V. Buch. Van den Sinnen. V. Abschn. Vom GeJuhlssinn.\nweilen ohne alle \u00f6rtliche Empfindung im R\u00fccken selbst vor und die ersteren wieder zuweilen ohne jene. Die Ursache dieses merkw\u00fcrdigen Verh\u00e4ltnisses ist unbekannt.\nDie Gesetze, welche f\u00fcr die Empfindung in den Nerven hei Reizung derselben gelten, k\u00f6nnen hier \u00fcbergangen werden, da alles dahin Geh\u00f6rige schon in der Physik der Nerven mitgetheilt worden.\nWir haben es, daher hier zuletzt nur mit den Gef\u00fchlsempfindungen zu thun, welche von den peripherischen Endigungen der Nerven aus erregt werden.\nGanz unempfindlich sind das Horn- und Zahngewebe bis auf ihre Keime, zu welchen Nerven gleich wie Gef\u00e4sse hingehen. Das Stumpfwerden der Z\u00e4hne von S\u00e4uren muss daher als eine Affection des Zahnkeimes angesehen werden; bei der r\u00f6hrigen Bildung der Zahnsubstanz l\u00e4sst sich indess eine Fortleitung der S\u00e4ure durch die capillaren R\u00f6hren des Zahnes zum Keime leicht ein-sehen, mag die S\u00e4ure nun an dem vom Schmelze unbedeckten Theil des Zahnes oder durch die h\u00e4ufigen Risse des Schmelzes einwirken.\nAn den Sehnen, Knorpeln und Knochen fehlt die Empfindlichkeit im gesunden Zustande, wie Haller in zahlreichen Versuchen bewies. Auch die Beinhaut der Knochen ist nach diesen Versuchen unempfindlich. Die Dura mater scheint eine Ausnahme zu machen. Es ist wenigstens gewiss, dass die Dura mater Nerven besitzt. Siehe oben B. I. 3. Aull. p. 764. In Krankheiten k\u00f6nnen die Knochen sehr schmerzhaft werden, so wie auch die vom N. sympathicus versehenen schwach empfindlichen Organe des chylopoetischen Systems in Krankheiten sehr schmerzhaft werden, ln Hinsicht der zahlreichen Versuche \u00fcber diesen Gegenstand muss ich auf Haller\u2019s Zusammenstellung verweisen. Haller dem. physiol. IV. p. 271 \u2014 289.\nIn den Muskeln ist die Empfindlichkeit viel geringer als in der \u00e4ussern Haut, wie man beim Durchstechen der Haut und Muskeln mit einer Nadel sieht. In der Haut seihst zeigt sich eine grosse Verschiedenheit, wahrscheinlich je nach der Zahl der Nervenfasern, die sich in den verschiedenen Haultheilen ausbreiten. Die hierher geh\u00f6renden, von E. H. Weber entdeckten That-sachen sind bereits oben B. 1. 3. Aull. p. 711. mitgetheilt. An denselben Stellen der Haut, wo eine geringe Entfernung zweier gereizter Puncte wahrgenommen wird, werden nach Weber\u2019s Beobachtungen auch die Unterschiede der Temperatur und die Gewichte aufgelegter K\u00f6rper am sichersten unterschieden. Auch die Gr\u00f6sse eines Gewichtes wurde an diesen Stellen st\u00e4rker empfunden, und ein auf der Volarfl\u00e4che des Fingers aufgelegtes Gewicht erschien gr\u00f6sser als der Druck desselben Gewichtes auf die Haut der Stirn, ln den Schleimh\u00e4uten ist die Empfindlichkeit sehr gross, so weit sie dem respiratorischen System, den Sinnesorganen und den Gesehlechtstheilen angeh\u00f6ren und von animalischen Nerven abh\u00e4ngen, sehr viel geringer in dem Tractus intestinalis, dessen Empfindlichkeit hingegen im krankhaften Zustande zu dem h\u00f6chsten Grade sich steigern kann, Das \u00e4ussere","page":496},{"file":"p0497.txt","language":"de","ocr_de":"Modi des Gef\u00fchls\n197\nund innere Hautsystem unterscheiden sich in Hinsicht der Art ihrer Empfindungen noch darin, dass die aus inneren Ui\u2019sachen eintretende und in R\u00fcckenmarksaffectionen h\u00e4ufige subjective Empfindung der Formication nur in der \u00e4ussern Haut, nicht in den Schleimh\u00e4uten vorzukommen scheint.\nModi oder Energieen des Gef\u00fchls.\nDer Modus der Gef\u00fchlsempfindungen ist so eigenth\u00fcmlicb, wie in irgend einem Sinnesorgane. Die Art, wie das Gef\u00fchl bei der leisesten Affection bis zur heftigsten die Gegenwart eines Reizes anzeigt, ist hier weder Ton, noch Licht und Farbe u. s.w., sondern eben das unbeschreibliche, das man Gef\u00fchl nennt, dessen Modificationen oft nur von der Ausdehnung der aflicirten Theile abh\u00e4ngen. Das stechende Gef\u00fchl z. B. zeigt die Affection beschr\u00e4nkter Theilchen in heftiger Art, das dr\u00fcckende eine geringere Affection in gr\u00f6sserer Ausdehnung und Tiefe an. Der letztere Umstand unterscheidet das Gef\u00fchl des Drucks von dem Gef\u00fchl der blossen Ber\u00fchrung.\nDie Empfindung des Stosses oder Schlages entstellt durch eine pl\u00f6tzliche Ver\u00e4nderung des Zustandes der Nerven von aussen oder innen, durch den mechanischen Einfluss eines K\u00f6rpers, oder auch durch St\u00f6rung des electrischen Gleichgewichts. Auch eine vom Gehirn aus bewirkte pl\u00f6tzliche Str\u00f6mung des Nervenprincips im Ei'schrecken kann als Schlag oder Stoss gef\u00fchlt werden. Der Modus dieser Empfindung h\u00e4ngt also durchaus nicht von der mechanischen Wirkung eines K\u00f6rpers ah.\nEine schnelle Wiederholung von St\u00f6ssen bewirkt in einigen andern Sinnen eigenth\u00fcmliche Empfindungen, deren Qualit\u00e4t von der Zeitfolge der St\u00f6sse abh\u00e4ngt, wie beim Geh\u00f6rsinn und wie es scheint auch beim Gesichtssinne. Diese Art der Reizung bat hingegen gar keinen Erfolg beim Geruchs- und Geschmackssinne. Wie verh\u00e4lt sich in dieser Hinsicht der Gef\u00fchlssinn?\nEine schnelle Folge von gleichen St\u00f6ssen, wie sie zur Empfindung eines Tones noting sind, wird vorn Gef\u00fchlssinne als Schwirren empfunden. So f\u00fchlt man nicht bloss die Resonanz eines festen K\u00f6rpers, sondern auch einen im Wasser erregten Ton, wenn man mit der Hand einen festen K\u00f6rper, ein St\u00fcck Holz ins Wasser h\u00e4lt. 1st die Empfindung der Schwingungen st\u00e4rker, und findet sie an reizbaren Theilen, wie an den Lippen statt, so kann sie. den Gesammtausdruck des Kitzels haben, wie wenn man eine schwingende Stimmgabel der Lippe n\u00e4hert. Dieselbe Empfindung entsteht leicht an der Zunge durch Schwingungen. Diess k\u00f6nnte auf die Vermuthung f\u00fchren, dass-auch bei den anderweitig entstandenen Empfindungen des Kitzels von Ber\u00fchrung, Schaukeln u. A. und der dem Kitzel nahe verwandten Wollust Schwingungen des Nervenprincips selbst in den Nerven mit bestimmter Geschwindigkeit stallfindeu. Die Empfindung des Kitzels und der Wollust ist in allen dem Gef\u00fchl \u00fcberhaupt unterworfenen Theilen des K\u00f6rpers, m\u00f6glich, am heiligsten in","page":497},{"file":"p0498.txt","language":"de","ocr_de":"498 V. Buch. Von den Sinnen. V. Abschn. Vom Gef\u00fchlssinn.\nden Genitalien, geringer in der weiblichen Brust, in den Lippen, in der Haut und in den Muskeln.\nDie Empfindung des Schmerzes scheint durch die Heftigkeit der r Gef\u00fchlserregung bestimmt zu seyn.\nDas Gef\u00fchl der W\u00e4rme und K\u00e4lte entsteht am leichtesten durch Ver\u00e4nderung des Zustandes der Materie in den thierischen Theilen, verm\u00f6ge der physicalischen W\u00e4rme, aber oft auch entsteht das Gef\u00fchl der W\u00e4rme und K\u00e4lte, wo sie mittelst des Thermometers nicht nachweisbar sind, durch eine Verstimmung in den Nerven, und die pl\u00f6tzliche Empfindung der gr\u00f6ssten K\u00e4lte und der Verbrennung scheinen sich sehr \u00e4hnlich zu seyn.\nBei der Vergleichung der Temperaturen ungleicher Medien durch das Gef\u00fchl k\u00f6mmt \u00fcbrigens auch die Mittheilungsf\u00e4higkeit der K\u00f6rper f\u00fcr die physicalische W\u00e4rme in Betracht. Dieselbe Temperatur wirkt sehr viel st\u00e4rker auf unsere Haut, und wird viel w\u00e4rmer gef\u00fchlt, wenn es Wasser als wenn es Luft ist. Kaltes Wasser erscheint auch k\u00e4lter als Luit von derselben Temperatur, weil das Wasser die W\u00e4rme unserem K\u00f6rper schneller entzieht.\nGef\u00fchl und Vorstellung.\nEine Gef\u00fchlsempfindung wird immer dann bewusst, wenn das Sensorium commune darauf aufmerksam ist. Ohne diese Intention kann der organische Vorgang der Empfindung vorhanden seyn, aber sie wird nicht bemerkt. Durch die Intention der Vorstellung erh\u00e4lt eine Gef\u00fchlsempfindung auch gr\u00f6ssere Sch\u00e4rfe und Intention. Eine schmerzhafte Empfindung ist um so schmerzhafter, je mehr sich die Aufmerksamkeit darauf richtet. Eine an sich unbedeutende Empfindung kann auch durch die Vorstellung eine sehr l\u00e4stige Dauer erhalten, wie die Empfindung des Juckens au einer ganz beschr\u00e4nkten Stelle der Haut. Wenn Jemand heim Sprechen Theilchen Speichel umherspritzt, die uns im Gesichte treffen, so wird die Empfindung davon durch die Vorstellung des Speichels sehr gesteigert und dadurch langwierig.\nDurch die Mitwirkung der Vorstellung und den Gebrauch der schon gewonnenen Erfahrungen kommen wir dahin, das Empfundene bald in uns, bald ausser uns zu setzen. An und f\u00fcr sich kann man nur den in den Nerven vorhandenen Zustand empfinden, mag er von aussen oder innen erregt seyn. F\u00fchlen wir etwas an, so f\u00fchlen wir nicht das \u00e4ussere Ding selbst, sondern nur die Hand, welche das Ding ber\u00fchrt, die Vorstellung der \u00e4ussern Ursache bewirkt, dass wir das Empfundene den K\u00f6rper selbst nennen. Wie die Vorstellung von der Aussenwelt als dem eigenen K\u00f6rper entgegengesetzt zuerst erworben werde, ist schon oben p. 355. auseinander gesetzt. Vorstellung von f\u00fchlbaren Gegenst\u00e4nden beruht in letzter Instanz auf der M\u00f6glichkeit die verschiedenen Theile unseres K\u00f6rpers als r\u00e4umlich verschieden zu unterscheiden. Diese Unterscheidung wird durch den Gebrauch des Sinnes lebhafter und sicherer. Sie erlangt hei dem Erwachsenen einen solchen Grad von Gewissheit, dass wir seihst hei ei-","page":498},{"file":"p0499.txt","language":"de","ocr_de":"499\nGef\u00fchl und Bewegung.\nner gezwungenen Lagever\u00e4nderung unserer K\u00f6rpertheile, wenn wir nicht auf diese Lagever\u00e4nderung aufmerksam sind, uns die Gef\u00fchle dieser Theile in der relativen Ordnung vorsteilen, welche die f\u00fchlenden Theile im naturgem\u00e4ssen Zustande haben. Daher die schon Aristoteles bekannte Erfahrung, dass ein zwischen iwei \u00fcbereinandergelegten Fingern derselben Hand rollendes K\u00fcgelchen, wie zwei entgegengesetzte Kugelfl\u00e4chen, die verschiedenen Kugeln anzugeh\u00f6ren scheinen, empfunden wird.\nDie Ausdehnung einer Gef\u00fchlsempfindung \u00fcber eine grosse Oberfl\u00e4che erscheint der Vorstellung ceteris paribus als intensiverer Eindruck, als wenn nur ein kleiner Theil diese Empfindung hat. Weber f\u00fchlte warmes Wasser mit der ganzen darin getauchten Hand w\u00e4rmer, als w\u00e4rmeres Wasser, in das er nur einen Finger der andern Hand getaucht hatte. Aehnliche Erfahrungen macht inan beim Baden in warmem und kaltem Wasser.\nDa jede Empfindung mit einer Vorstellung verbunden ist und eine Vorstellung zur\u00fcckl\u00e4sst, welche reproducirt werden kann, so kann auch eine Vorstellung von einer Empfindung mit einer wirklichen Empfindung verglichen werden. So f\u00fchlen wir ein Gewicht schwerer oder leichter, als ein anderes, welches wir vorher empfunden haben, und wovon wir zur Zeit des Fuhlens des zweiten Gewichtes nur noch die Vorstellung haben. E. H. Weber konnte sogar den Unterschied zweier Gewichte oder zweier Temperaturen deutlicher wahrnehmen, wenn er sie nach einander empfand, als wenn sie zu gleicher Zeit von verschiedenen H\u00e4nden empfunden wurden. Die F\u00e4higkeit der Vergleichung verliert sich aber mehr und mehr, je mehr Zeit zwischen der ersten und zweiten Empfindung verstreicht.\nGef\u00fchl und Bewegung.\nEin gewisser Grad von Gef\u00fchlsempfindung ist auch den Muskeln eigen, bei krankhafter Affection der Muskelnerven kann er sehr gesteigert seyn. Diese Empfindung steht nicht immer in geradem Verh\u00e4ltniss mit der Zusammenziehung der Muskeln und schon daraus ist es wahrscheinlich, dass es nicht derselbe Act in denselben Nervenfasern ist, welcher die Bewegung und die Empfindung in den Muskeln hervorruft. So z. B. kann die Empfindung von Krampf der Wadenmuskeln sehr heftig und die Bewegung dabei \u00e4usserst gering seyn. Dasselbe beobachtet man zuweilen in dem Musculus digastricus maxillae inferioris beim G\u00e4hnen. Bei einer Disposition zu wiederholtem G\u00e4hnen tritt zuweilen nach einem sehr heftigen G\u00e4hnen ein Krampf im vordem Bauch jenes Muskels ein, der \u00e4usserst schmerzhaft ist. Dann hat aber die Bewegung des G\u00e4hnens schon aufgeh\u00f6rt und die krampfhafte Bewegung ist viel geringer, als sie w\u00e4hrend des G\u00e4hnens war.\nDie Empfindung der Zusammenziehung in den Muskeln macht uns geschickt, die Kraft der Muskeln beim Widerstand gegen Druck und beim Heben der Gewichte zu vergleichen. Diese Empfindung der Gew'ichte ist nach Weber sch\u00e4rfer als die ihres einfachen Druk-k\u00f6s. Nach E. H. Weber nimmt man eine zwischen zwei Gewichten","page":499},{"file":"p0500.txt","language":"de","ocr_de":"500 V. Buch. Von den Sinnen. V. Abschn. Vom Gef\u00fchlssinn.\nstattfindende Gewichlsverschiedenheit noch dann wahr, wenn der Unterschied auch nur oder des einen Gewichtes betragt. Hierbei k\u00f6mmt cs nicht auf die absolute, sondern auf die relative Gr\u00f6sse des Gewichtsunterschiedes an. Es ist \u00fcbrigens nicht ganz gew'iss, oh die Vorstellung von der angewandten Kraft der Muskelzusammenziehung allein von der Empfindung abh\u00e4ngig ist. Wir haben eine sehr sichere \\orstellung und Vorausbestimmung von dem Mass der vom Gehirn ausgehenden Servenwirkung, welche n\u00f6thig ist, um einen gewissen Grad der Bewegung hervorzubringen. Ein Gef\u00e4ss, dessen Inhalt wir nicht kennen, heben wir mit einem Mass von Kraft, die nach einer blossen Vorstellung voraus bestimmt und gemessen wird. War zuf\u00e4llig ein sehr schwerer Inhalt, z. 15. Quecksilber darin, so entfallt uns das Gef\u00e4ss leicht, oder zieht schnell die Hand herab, die es zu heben versuchte, weil das voraus bestimmte Mass der Zusammenziehung oder der Nervenwirkung falsch war. Diese T\u00e4uschung erfahren wir auch beim Gehen im Dunkeln auf einer Treppe, indem wir die Bewegungen f\u00fcr eine Stufe einleiteten, die nicht vorhanden war. Es k\u00f6nnte wmhl m\u00f6glich seyn, dass die Vorstellung des Gewichtes und des Druckes beim Heben und Widerstehen auch zum Theil nicht Gef\u00fchl im Muskel, sondern ein Wissen von dem Mass der vom Gehirn incitirten Nervenwirkung ist. Die Gewissheit der Kraftlosigkeit, ein Gewicht nicht ferner halten zu k\u00f6nnen, muss auch wohl von dem wirklichen Gef\u00fchl der Erm\u00fcdung in den Muskeln unterschieden werden.\nBei den Tastvorstellungen, von Empfindungen die mit Bewegung verbunden sind, dr\u00e4ngt sich dieselbe Idee auf. Die Empfindung der Bewegung ist bei den Bewegungen der Hand sehr gering und die Menschen, welche die Lage der Muskeln f\u00fcr eine gewisse Bewegung nicht kennen, ahnden nicht einmal, dass die Bewegung der Finger am Vorderarm ausgef\u00fchrt wird. Dennoch ist die Vorstellung von dem r\u00e4umlichen Effect der Bewegung eine sehr bestimmte, und die dadurch hervorgebrachte Vorstellung von der Raumerf\u00fcllung eines K\u00f6rpers und seiner Form h\u00e4ngt gros-sentheils von der Vorstellung des Bewegungseffectes ab. \u00cbs kann daher wohl seyn, dass das Sensorium, ohne dass Gef\u00fchle dazu noth wen dig sind, doen die durch willk\u00fchrhche Bewegung zur\u00fcck-gelcgten R\u00e4ume zu beurtbeilen weiss, aus den Gruppen von Nervenfasern, denen der Strom des NervOnprincips zugewendet wird. Am bewunderungsw\u00fcrdigsten erscheint die Sicherheit des Masses der Bewegungen oder der sogenannte Muskelsinn bei allen Bewegungen, bei welchen das Gleichgewicht des K\u00f6rpers oder \u00e4usserer von uns gest\u00fctzter K\u00f6rper bei sehr geringer Unterst\u00fctzungsfl\u00e4che, oder gar bei willk\u00fchrlichen oder unwillk\u00fchrlichen Bewegungen unseres ganzen K\u00f6rpers erhalten wird.\nDas Tasten ist nichts Anderes, als ein willk\u00fchrliches F\u00fchlen mit Bewegungen, wie das Sp\u00fcren beim Riechen. Jeder empfindliche Theil, der durch Bewegungen in verschiedene r\u00e4umliche Relationen zu \u00e4ussern K\u00f6rpern durch Ber\u00fchrung treten kann, ist auch tastend. Das Tasten ist daher keinem bestimmten Theil des K\u00f6rpers allein eigen. Allerdings ist die Hand dazu am geschieh-","page":500},{"file":"p0501.txt","language":"de","ocr_de":"Siibj ective Gefiihlsempfmdungen.\n501\ntesten durch ihren Bau, namentlich durch die M\u00f6glichkeit der Pronation und Supination, wodurch der Raum rotirend dnrch-messen wird, durch die Opposition des Daumens gegen die Hand, und durch die relative Beweglichkeit c\u00eeer Finger. Ferner hangt, die F\u00e4higkeit zum Tasten von der Feinheit des Gef\u00fchls und von der Isolirung der Empfindung in den Theilchen des empfindlichen Organes ah. Die regelmassige Furchung der Haut an der Hohlhand mit Ordnung der Hautpapillen in Reihen muss die Feinheit des Getastes erh\u00f6hen, insofern diese Unebenheiten leichter die Unebenheiten der K\u00f6rper entdecken und leichter isoiirt davon aflicirt werden.\nBei der Bildung einer Tastvorstellung von der Gestalt und Ausdehnung einer Flache, multiplicirt die Vorstellung das Mass der Hand oder des ber\u00fchrenden Fingers so oft, als diess Mass in dem Raum enthalten ist, den das bewegende Glied heim Tasten zur\u00fccklegt. Di\u00e7 Tastvorstellung von r\u00e4umlicher Ausdehnung wiederholt diesen Act nach den verschiedenen Dimensionen des K\u00f6rpers.\nNachempfindung und Gegens\u00e4tze des Gef\u00fchls.\nDie Nachenipfindungen des Gef\u00fchls sind sehr lebhaft und dauernd. So lange der Zustand dauert, in den der Reiz das Organ versetzt hat, so lange dauern auch seine Empfindungen, wenn der Reiz l\u00e4ngst entfernt ist. Die schmerzhaften, wie woll\u00fcstigen Empfindungen liefern davon Beispiele.\nDie heim Sehen er\u00f6rterten Verh\u00e4ltnisse \u00fcber die Gegens\u00e4tze der Empfindungen wiederholen sich bei den Gef\u00fchlsempfindungen. Wenn man in einer warmen Temperatur zngebracht hat, so f\u00fchlt man die geringste Erniedrigung der Temperatur als kalt, die sonst noch f\u00fcr warm gehalten worden w\u00e4re. Ein pl\u00f6tzlicher Unterschied von einigen Graden W\u00e4rme, kann, wenn die W\u00e4rme vorher anhaltend war. bis zum Frieren empfunden werden. Daher erk\u00e4ltet sich der Mensch in allen Climaten, auch den w\u00e4rmsten leicht. W\u00e4rme und K\u00e4lte sind relativ. Das Warme ist der Empfindung kalt, je nach dem Zustand, worin das Organ ist. Ein Ahnehmen eines lange dauernden Schmerzes ist Wohithat, wenn die Reizung auch nur bis zu einem Grade sich er-m\u00e4ssigt, der hei vorher gesunder Stimmung unertr\u00e4glich erschienen w\u00e4re.\nSubjective Gef\u00fchlsempfindungen.\nBei keinem Sinne sind die subjectiven Empfindungen aus von innen entstandenen Zust\u00e4nden k\u00e4ufiger, als beim Gef\u00fchlssinn. W ollust, Schmerz, Gef\u00fchl der K\u00e4lte, W\u00e4rme, Leichtigkeits- und Sch wergef\u00fchl, Gef\u00fchl der Erm\u00fcdung u. A. sind aus innern Ursachen m\u00f6glich. Die Neuralgien, das Schaudergef\u00fchl, das Ameisenlaufen, die im Schlafe entstehenden spontanen Zust\u00e4nde der Geschlechtsorgane liefern auffallende Beispiele. Der mit dem Herzschlag verst\u00e4rkte Strom des Blutes zu den Organen wird in fast allen Sinnesorganen empfun-","page":501},{"file":"p0502.txt","language":"de","ocr_de":"502 V. Buch. Von den Sinnen. V. Abschn. Vom Gef\u00fchlssinn.\n*len, in jedem auf die dem Sinnesnerven eigene Weise, als pulsirende Lichtfigur im Sehnerven, als pulsirendes Zischen und Brausen im Ohr, als pulsirendes Gef\u00fchl im Gef\u00fchlsnerven. Diese Empfindung hat mechanische Ursachen, aber sie kann durch einen Zustand der Nerven bedingt werden, wo sonst der Puls nicht empfunden wird, und so wird oft der Puls in Theilen gef\u00fchlt, zu welchen keine verst\u00e4rkte Bewegung des Blutes stattfindet. Auch die durch Vorstellungen erregbaren Empfindungen des Gef\u00fchls m\u00fcssen hier erw\u00e4hnt werden. So wie die gesehmacksaknlichc. Empfindung des Eckels durch die'Te\u00dcIiafte Vorstellung des Eckelhaften entstehen kann, so erregt auch die Vorstellung des Schmerzes oft den Schmerz, in einem Theil, der zum Schmerz disponirt ist. 1st ein Organ der Empfindung wie von Schiessen und Str\u00f6men dahin ausgesetzt, so entsteht das einige Zeit ausgehliebene Str\u00f6men j wenn man daran denkt. Die Vorstellung des Schauderhaften erregt die Gef\u00fchlsempfindung des Schauders; hei der Spannung, R\u00fchrung, Begeisterung, tritt hei Einigen ein Gef\u00fchl von Concentration im Scheitel und ein Rieseln durch den K\u00f6rper ein; heim Erschrecken hat man Empfindungen in vielen Theilen des K\u00f6rpers und selbst die Vorstellung des Kitzelns erregt dem Kitzlichen die Empfindung, wenn er sieht, dass Jemand die Bewegung macht.\nDie meisten subjectiven Gef\u00fchlsempfindungen kommen hei Menschen von reizbarem Nervensystem, sogenannten Hypochon-dristen, und Hysterischen vor, von denen man zuweilen sagt, dass sie sich Schmerzen einbilden. Wenn darunter bloss vorgestellte Schmerzen verstanden werden sollen, so ist es gewiss unrichtig, dass man ihnen eingebildete Schmerzen zuschreibt. Der Schmerz ist niemals eine Einbildung und aus innern Ursachen gewiss so wahrhaft, wie von \u00e4ussern, nur die Vorstellung des Schmerzes ist ohne Empfindung, aber \u00fcber die Vorstellung des Schmerzes wird Niemand klagen. Allerdings aber kann das gereizte Vorstellen den vorhandenen Schmerz steigern und hei der Disposition zum Schmerz, den empfundenen Schmerz hervorrufen.\nDie Sympathieen des Gef\u00fchlssinnes mit anderen Sinnen und mit den Bewegungen erfolgen durch Reflexion, das dahin geh\u00f6rige ist in der Lehre von der Reflexion abgehandelt, und die Wechselwirkung der Gef\u00fchlsempfindungen mit den Absonderungen sind auch in der Nervenphysik erl\u00e4utert worden.","page":502},{"file":"p0503.txt","language":"de","ocr_de":"Der\nsp eciellen Physiologie\nSechstes Buch.\nV o m Seelenlebe n.\nMuller\u2019s Physiologie. 2rBd. III.\n33","page":503},{"file":"p0504.txt","language":"de","ocr_de":"/. /Ibschnitt. Von der Natur der Seele im Allgemeinen.\nI.\tVom Verh\u00e4ltnis der Seele mr Organisation und zur Materie.\nII.\tVom Seelenleben im cngern Sinne.\nII.\tAbschnitt. Von den Seelen\u00e4usserungen.\nI.\tVom Vorstellen.\nII.\tVom Denken.\nIII.\tVom Gem\u00fct!].\nIII.\tAbschnitt. Von der Wechselwirkung der Seele und\ndes Organismus.\n1.\tVon der Wechselwirkung der Seele und des Organismus im Allgemeinen.\nII.\tVon den Wirkungen der Seele auf die Sinne.\nIII.\tVon den Temperamenten.\nIV.\tVom Schlaf und Wachen.","page":504},{"file":"p0505.txt","language":"de","ocr_de":"Der speciellen Physiologie\nSechstes Buch.\nVom Seelen! e-beu.\n/. Abschnitt. Von der Natur der Seele ini Allgemeinen.\nI. Capitel. Vom Verh\u00e4ltnis der Seele zur Organisation und zur Materie.\nA. Erfah rungsmassige Kenntnisse.\nIm Anfang dieses Werkes wurde der Organismus mit einem System von Theilen verglichen, die f\u00fcr Erf\u00fcllung eines gewissen Zweckes verbunden sind und deren Wirksamkeit von der ungest\u00f6rten Harmonie der zusammensetzenden Glieder abh\u00e4ngt. Bei dieser Vergleichung zeigte sich eine noch gr\u00f6ssere Verschiedenheit als Aehn\u00fccbkeit. Der Organismus gleicht einem mechanischen Kunstwerk in der systematischen Zusammensetzung f\u00fcr Erf\u00fcllung eines gewissen Zweckes ; aber der Organismus erzeugt im Keim den Mechanismus der Organe selbst und pflanzt ihn fort. Das Wirken der organischen K\u00f6rper h\u00e4ngt nicht bloss von der Harmonie der Organe ab, sondern die Harmonie selbst ist eine Wirkung der organischen K\u00f6rper selbst, und jeder Theil dieses Ganzen hat seinen Grund nicht in sich selbst, sondern in der Ursache des Ganzen. Ein mechanisches Kunstwerk ist hervorgebracht nach einer dem K\u00fcnstler vorschwebenden Idee, dem Zwecke seiner Wirkung. Eine Idee liegt auch jedem Organismus zu Grunde, und nach dieser Idee werden alle Organe zweckm\u00e4ssig organisirt, aber diese Idee ist ausser der Maschine, dagegen in dem Organismus und hier schafft sie mit Nothwendigkeit und ohne Absicht. Denn die zweckm\u00e4ssig wirksame Ursache der organischen K\u00f6rper hat keinerlei Wahl und die Verwirklichung eines einzigen Plans ist ihre Nothwendigkeit, vielmehr ist zweckm\u00e4ssig wirken und nothwendig wirken in dieser wirksamen Ursache eines und dasselbe.\nDie nach einer Idee zweckm\u00e4ssig und nothwendig wirkende Ursache eines organischen K\u00f6rpers wirkt daher nur innerhalb ihrer bestimmten Gesetze, und n\u00e4hert sich in den Formen und Kr\u00e4ften ihrer Producte nicht denjenigen eines andern organischen\n33*","page":505},{"file":"p0506.txt","language":"de","ocr_de":"50(i VI. Buch. Vom Seelenleben. I. Abschn. Natur der Seele,\nWesens, dessen Lebensidee eine verschiedene ist. Dennoch sind aucli die verschiedenen organischen Wesen durch ein h\u00f6heres ihrer Sch\u00f6pfung zu Grunde liegendes Rand verbunden, welches sie nach Classen, Ordnungen, Familien, Gattungen, Arten geordnet hat. Die Gattung existirt nur in den von einander unabh\u00e4ngigen Arten, aber nicht als Organismus, welcher die Arten erzeugt. Einheit des Grundgedankens in der h\u00f6chsten logischen Mannigfaltigkeit der Ausf\u00fchrung spricht sich \u00fcberall in dem System der Pflanzenwelt und ebenso im Thierreiche aus; aber jede einzelne Form in der Mannigfaltigkeit von Arten, die zu einer Gattung geh\u00f6ren, vermag den Tvpus ihrer Bildung und ihres innern Lebens nicht zu verlassen. Die Art stirbt daher aus, sobald alle dazu geh\u00f6renden lebenden Individuen und ihre Reime ausgerottet sind. Ausser diesem Sinne ist sie unverg\u00e4nglich, da ein Theil ihrer Kraft aus den verg\u00e4nglichen Producenten sich in die Pro-ducte ergiesst.\nD ie Th\u00e4tigkeit des in den Organismen eine Idee verwirklichenden Lebensprincips ist uns nur in so weit bekannt, als sie in den Organismen selbst stattfindet. Eine freiwillige Erzeugung bestimmter organischer Formen ausser den vorhandenen ur.d ohne cyclische Ueberlieferung der gleichen Form von den Producenten auf das Product, w\u00fcrde, wenn sie wirklich best\u00e4nde, ein Beispiel einer, ausser den Organismen vorhandenen, Ideen verwirklichenden Naturkraft seyn. Aber die Generatio aequivoca entr\u00fcckt sich der exacten Forschung als ein Unerwiesenes und Unerweisliches.\nEs ist in keiner Weise wahrscheinlich, dass das nach einer Idee th\u00e4tige Lebensprincip eines Organismus, welches die Zusammensetzung der Organe erzeugt, selbst etwas aus Theilen Zusammengesetztes sei, und dasselbe gilt von der empfindenden Seele der Tbiere. Etwas, was durch die Zusammensetzung seine Wesenheit erh\u00e4lt, verliert seine Wesenheit durch die Theilung. Das organisirende Princip einer Pflanze und eines Thiers kann aber mit der Pflanze und mit dem Thiere gelheilt werden, und beh\u00e4lt seine Wesenheit zu organisiren, so dass die ge theil len Polypen und Planarien neue zweckm\u00e4ssig organisirende, und ihr Ebenbild schaffende, organische Wesen werden, oder schon sind. Dasselbe gilt auch von der empfindenden und vorstellenden Seele der Thiere, wenn sie von dem Lebensprincipe verschieden seyn sollte. Sie kann nichts aus Theilen Zusammengesetztes seyn, denn so m\u00fcsste sie durch die Theilung eines Thieres ihre Wesenheit verlieren. Die Seele wird aber mit dem Thiere getheilt und beh\u00e4lt ihre Wesenheit, denn die getrennten Theile sind wieder selbstisch beseelt, empfinden, wollen und begehren. Was von der Seele der Thiere gilt, muss auch von der des Menschen gelten. Denn Alles, was empfindet und sich freiwillig nach dem Begehrten bewegt, ist auch beseelt, wie bereits Aristoteles in der Schrift von der Seele lehrte, indem er sagt: Sobald sie empfinden, haben sie auch Vorstellung und Begierde; denn wo Empfindung, da ist Schmerz und Vergn\u00fcgen und w/o einmal diese, da ist auch Begierde. Das Lebensprincip und die Seele eines Thiers verhalten sich also in dieser Hinsicht gleich. Sie sind in der ausgedehnten Materie","page":506},{"file":"p0507.txt","language":"de","ocr_de":"1. Verh\u00e4ltniss der Seele zur Materie. Erfahrungskenntnisse. 507\nder tbierischen Wesen, ;iber nicht aus Theilcn zusammengesetzt, und sie sind mit der Materie theilbar ohne Ver\u00e4nderung ihrer Wirksamkeit.\nAnlangend die Verbreitung des zweckm\u00e4ssig wirkenden Le-bensprincips in dem K\u00f6rper eines Organismus, so wurde schon an einer andern Stelle bewiesen, dass dasselbe in keinem Organe allein seinen Sitz hat. Denn es ist vor allen Organen im Keim, es wirkt noch ohne Gehirn in dem hirnlosen und kopflosen Monstrum, obgleich mit geringem Mitteln. Das Fortleben getrennter Theile von Thieren und Pflanzen und ihre Umbildung in vollst\u00e4ndige Organismen beweisen dasselbe. Auch der vom Ganzen sich abl\u00f6sende Keim enth\u00e4lt bei den h\u00f6chsten Thieren und beim Menschen das zweckm\u00e4ssig wirkende Prineip der Organisation. Seine Abl\u00f6sung vom Mutterthiere ist auch eine Theilung, und das abgetrennte unterscheidet sich von einer abgetrennten Sprosse und dem fortlebenden St\u00fcck eines getrennten Thiers nur, dass diese schon vollst\u00e4ndig organisirt sind, der Keim hingegen die Kraft zur vollst\u00e4ndigen Organisation enth\u00e4lt. Die Kraft selbst ist in beiden F\u00e4llen gleich. Die Erregung des Keims dur ch die Befruchtung zur Organisation und der Dualismus der Geschlechter kann hier ganz ausser Betracht bleiben. Denn zum Fortleben schon organisirter losgetrennter Theile ist diese Einwirkung nicht n\u00f6lhig, und selbst bei der Befruchtung kann das Wesen des Dualismus der Geschlechter auf einen Dualismus der Geschlechtsorgane in demselben Individuum reducirt werden, wie die Pflanzen und hermaphroditischen Tbiere zeigen, von welchen letztem einige, wie die Bandw\u00fcrmer, sich seihst befruchten k\u00f6nnen.\nAn jener Stelle wurde auch bewiesen, dass die Seele als Ursache der Seelenerscheinungen im engern Sinne, des Vorstellens, Denkens u. s. w. nicht allein dem Gehirne zugeschrieben werden kann, dass sie vielmehr ihrem Wesen nach, wenn auch nicht als Aeusserung, im ganzen Organismus verbreitet seyn muss, da sie im Keim und Samen, in der Sprosse der sprossenden Thiere und in den Theilen der sich freiwillig theilenden thierischen Wesen, wiedererscheint und empfindend, wollend, begehrend sich \u00e4ussert, so bald der abgetrennte Theil die f\u00fcr die \u00c4usserung der' Seelenerscheinungen n\u00f6thige Organisation herbeigef\u00fchrt hat.\nDagegen wurde ebendaselbst bewiesen, dass die Seele als bewusste Seelen\u00e4usserung nur in einem bestimmten Organe, im Gehirne wirke. Nur als Potenz ist ihr Wesen dem einfachen Keim einwohnend, als Aeusserung des Bewusstsei ns und Wirken desselben auf die Organe des K\u00f6rpers ist sie durchaus der ganzen Organisation des Gehirnes bed\u00fcrftig und ohne diese ist kein Empfinden, Wollen, Vorstellen, Denken. Aber der Keim erzeugt sich das Organ der Seele, worin sie bewusst wird, Wirkungen im Organismus durch ihre Werkzeuge die Sinne empfindet und Wirkungen mit ihren bewegenden Werkzeugen wollend zur\u00fcckgiebt.\nDie Entwickelung des Keims ist von \u00e4usseren Bedingungen abh\u00e4ngig. Die Organisation der Materie durch das Lebensprincip eines Keims erfolst nicht ohne eine gewisse Vorbereitung der","page":507},{"file":"p0508.txt","language":"de","ocr_de":"508 VI. Buch. Vom Seelenleben. 1. Abschn. Natur der Seele.\nMaterie durch \u00e4ussere Einwirkungen, wie W\u00e4rme und Luft. Ohne diese Hiilfsmittel vermag der Keim nicht die umgebende Materie anzueignen, weil sie nicht geschickt ist, sich mit der Materie des Reims zu vereinigen, und die n\u00f6thige chemische Beschaffenheit nicht erhalten bann. Das Lebensprincip kann daher seihst im Keim latent oder potentia vorhanden seyn, wie die Seele des schon organisirten und belebten K\u00f6rpers, in den Theilen des K\u00f6rpers ausser dem Gehirn ist.\nAus den letztem Bemerkungen erhellt, in welchen Puncten das Lebensprincip und die empfindende Seele in ihrem Verh\u00e4ltnis zur Materie \u00fcbereinstimmen und abweichen. Beide sind nicht aus Theilen zusammengesetzt, aber mit der Materie theilbar, beide k\u00f6nnen latent seyn. Das Lebensprincip bedarf zu seiner Aeusse-rung in der Materie, wo es vorhanden ist, nur der chemischen Mitwirkung \u00e4usserer Einfl\u00fcsse. Die empfindende und vorstellende Seele bedarf der schon organisirten Materie und der Organisation des Gehirns.\nDer Keim und das Junge unterscheiden sich von dem erwachsenen Organismus nicht bloss, dass jene noch nicht vollst\u00e4ndig organisirt sind, der Erwachsene aber in der Organisation vollendet ist, und dass die Organe im Erwachsenen ausgedehnter, als im jungen Wesen sind. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Keim und dem erwachsenen, zeugungsf\u00e4higen und proliferirenden Organismus besteht vielmehr auch darin, dass der Erwachsene ein Multiplum des Keimes ist; und daraus wird erst erkl\u00e4rbar, dass ein Theil des Multiplums sich wieder abl\u00f6sen und der Stamm zu einem neuen Multiplum werden kann, w\u00e4hrend der Rest ties m\u00fctterlichen Organismus nicht die F\u00e4higkeit zur fernem Organisation verliert.\nDass die Pflanzen beim Wachsen ein Multiplum des Keimes bilden, ist am leichtesten zu beweisen. Denn die Theile, welche sie bilden w\u00e4hrend des Wachsthums, sind best\u00e4ndige Wiederholungen von gleichen Gliedern, bei allein weitern Sprossen werden immer neue analoge Theile, Stengel und Bl\u00e4tter erzeugt, alle Sprossen zusammen sind ein Multiplum des sprossenden, in Stengel und Bl\u00e4tter zerfallenden Keimes. Der Stamm der erwachsenen Pflanze enth\u00e4lt in den Gef\u00e4ssen, die zu allen Sprossen hingehen, gleichsam die Summe aller ihrer Stengel und nimmt daher an St\u00e4rke zu, in dem Verh\u00e4ltnis, als neue Sprossen sich bilden. Jeder sprossende Zweig ist schon ein Multiplum des sprossenden Keims. Nat\u00fcrlich muss also der abgel\u00f6ste und in die Erde gesteckte Zweig ein neuer Stock f\u00fcr die Multiplication werden.\nDie Corallenthiere bilden auch Sprossen und diese entwickeln sich zu Multipla des aus dem Ei keimenden Polypen.\nBei den W\u00fcrmern liegt diese Vermehrung durch das Wachsthum zwar nicht so deutlich vor Augen, es kann aber dem Wesen nach auch das Analoge gezeigt werden. Es ist bekannt, dass manche W\u00fcrmer durch das Wachsthum die Zahl ihrer Ringe vermehren. Die jungen Bandw\u00fcrmer haben noch so wenig Glieder, dass sie mehr dem Kopftheil eines Bandwurms, als einem ganzen Bandwurm gleichen. Sind nun gleich die reifen Glieder des","page":508},{"file":"p0509.txt","language":"de","ocr_de":"1. Verh\u00e4ltniss der Seele zur Materie. Erfahrungskenntnisse. 509\nBandwurms keine formellen Wiederholungen des jungen Bandwurmes, so zeigt sich die Multiplication doch darin, dass die reifen Glieder s\u00e4mmtlich besondere Eierst\u00f6cke bilden und in unz\u00e4hligen Keimen den ersten Keim, aus dem der puige Bandwurm entstand, wiederholen. Die Waiden theilen sieb sogar von selbst, wenn sie eine gewisse Gr\u00f6sse erreicht haben, und die Theile cr-ganisiren sich schon zu einem Organismus, ehe die Theilung cin-tritt. Die Vorticellen theilen sieh der L\u00e4nge nach. Die Planarien und Hydren k\u00f6nnen getheilt werden.\nDaraus, dass die St\u00fccke der zerschnittenen Hydra nicht schon den Bau einer ganzen Hydra haben, aber ihn bald von selbst in sich bilden, folgt, dass die Multiplication nicht bloss als ein Vermehren analoger Formen mit analogen Kr\u00e4ften anzunehmen ist, sondern auch virtuell stattfindet, indem ungleiche Formen gleiche virtuelle Eigenschaften haben. Hiervon l\u00e4sst sieb der Uebergang zu den h\u00f6heren Thieren machen, welche zwar nicht durch Thei-lung zeugen und nicht getheilt fortleben, gleichwohl aber ein virtuelles Multiplum ihres Keimes sind. Hier kann sich ein Theil des Multiplums entwickelungsf\u00e4hig nur dann abl\u00f6sen, wenn er sich als Keim oder unentwickelt isolirt. In der Zeugung von Keimen, die wieder zu Multipla heranwachsen, zeigt sich derselbe Process, dessen Variationen hier summarisch angef\u00fchrt sind. Bei dem Theilen, Sprossen, Zeugen, tbeilt sich nun, wie vorher gezeigt worden, das Lebensprincip und psychische Princip.\nUnd so entsteht nun zuletzt die Frage, wie ist es m\u00f6glich, dass sich durch das Wachsthum eines organischen Wesens ein Multiplum seiner organisirenden Kraft bildet, und wie ist mit dieser eine Theilungsf\u00e4bigkeit des psychischen Principes zu verstehen? Liegt es in der Natur des Lebensprincips und der Seele als Potenz, dass sie durch Vertheiiung auf mehr Materie und durch Theilung an Kraft nicht vermindert werden k\u00f6nnen, oder entsteht durch das Aneignen von mehr Materie in einem wachsenden Organismus auch mehr von jenen Principien, so dass diese Princi-pien in dem Nahrungsstolf schon latent vorhanden sind, aber an der Materie, in der sie sind, erst in den organischen Wesen zur Erscheinung kommen.\nDie letztere Annahme schliesst auch eine zweite nothwendig in sich, dass das Princip des Lebens und der Seele in aller Materie latent vorhanden seyen, denn wenn Thiere bloss von Pflanzen leben k\u00f6nnen, so k\u00f6nnen Pflanzen die organische Materie aus den unorganischen Stoffen vermehren, und ohne eine solche neue Bildung von organischer Materie w\u00fcrde diese zuletzt ganz zersetzt werden, wegen des Faulens und Verbrennens so vieler Materien, die nicht als Nahrung in organische Wesen eingehen.\nWeiter als bis zu dieser Alternative l\u00e4sst sich die Untersuchung \u00fcber das Verh\u00e4ltniss des Lebensprincips und der Seele zur Organisation und zur Materie auf erfahrungsm\u00e4ssigem Wege nicht f\u00fchren. Von hier an entfernt sich die ETntersuchung von dem Gebiete der empirischen Physiologie und geht in das der hypothetischen Speculation und Philosophie \u00fcber, ln der ganzen bisherigen Entwickelung der physiologischen Poctrin haben wir eine","page":509},{"file":"p0510.txt","language":"de","ocr_de":"510 IV. Buch. Vom Seelenleben. I. Abschn. Natur der Seele.\nBetrachtung der letztem Art vermieden, und die Aufgabe war vielmehr auch das Wahrscheinliche nur hinzustellen, wie es sich aus einer philosophischen Zergliederung der Empirie ergiebt. Da es mir durchaus unschicklich erscheint, diese Methode mit einer andern in unserer Wissenschaft zu verwechseln und aus der einen in die andere nach Bed\u00fcrl\u2019niss und Vorliebe \u00fcberzugehen oder zu interpoliren, so muss ich mich darauf beschr\u00e4nken, eine speculative Entwickelung jener beiden Alternativen ohne Beg\u00fcnstigungen des einen und andern einfach in dem Folgenden hinzustellen. Ich bin einer besondere Form der Philosophie nicht ausschliesslich gefolgt, sondern habe jedes der beiden Systeme so dargestellt, wie es ohne Verwickelung mit den physiologischen That-sachen und im m\u00f6glichsten Einklang mit denselben am reinsten geschehen kann.\nB. C o sm o i o gi s cli e Systeme.\n1. Hypothese von den bewegenden, den organischen K\u00f6rpern eingebildeten Ideen ah Ursache der Organisation und des Seelenlebens.\nIn der ganzen Weltordnung sind zwar Ideen des g\u00f6ttlichen Geistes ausgef\u00fchrt, aber nur in den organischen Wesen wirken solche g\u00f6ttliche Ideen, welche ihres Gleichen immer wieder erzeugen, und den Mechanismus zu den Wirkungen organischer K\u00f6rper selbst aus der Materie hervorrufen. Die bewegende Idee eines organischen K\u00f6rpers ist daher ein Ausfluss der Gottheit, der von der Sch\u00f6pfung an in ihm und seinen, Producten lebt. Diese Idee ist das Einzige, was in den organischen K\u00f6rpere Bestand bai, denn die Materie verl\u00e4sst sie, und fort und fort wird neue Materie dieser bewegenden Idee unterworfen. Die Materie selbst ist ohne ihr einwohnende Seele und Leben. Nicht einmal die Potenz zu diesen Wirkungen k\u00f6mmt der Materie an sich zu. Vielmehr h\u00e4ngen alle Lebens- und Seelenerscheinungen, die in der von den organischen K\u00f6rpern verarbeiteten Materie auftreten, lediglich von der die Organismen beherrschenden Idee ab. Diese Lehre, welche mythisch im Timaeus des Platon vorgetragen wird, aber auch die am meisten verbreitete Ansicht vom Verh\u00e4ltniss des Lebensprincips und der Seele zum K\u00f6rper ist, kann die bewegende Idee des Lebens nach dem Tode die Vereinigung mit dem K\u00f6rper aufgeben und die Seele als Ausfluss der Gottheit dahin gehen lassen, von wo sic bei der Sch\u00f6pfung der beseelten Wesen ausgegangen ist. Die Seele ist also an und f\u00fcr sich der, durch die blossen physicalischen Kr\u00e4fte th\u00e4tigen Materie fremd, nur an sie gebunden, und dieses Band kann sich l\u00f6sen. Die verschiedenen Mythen \u00fcber den Zustand der Seele nach dem Tode, was die Pythagor\u00e4er und was Platon lehrten \u00fcber das Schicksal der Geister nach dem Tode, die Ideen der Neuplatoniker und Mystiker von der m\u00f6glichen Befreiung der Seele von den Banden der Materie in diesem Lehen selbst, und was davon in das Practische \u00fcbergegangen ist, alle diese Lehren sind Variationen einer und derselben cosmo-logischen Grundansicht, und diese ist, dass die Seele dem physischen","page":510},{"file":"p0511.txt","language":"de","ocr_de":"1. Verh\u00e4llniss der Seele zur Materie. Cusmo/ogische Systeme. 511\nLeibe fremd, keine Kraft desselben und \u00fcberhaupt keine Kralt der Materie ist, und dass die Seele mit dem K\u00f6rper in den organischem Wesen nur vereinigt ist. Das Interesse des selbstigen Ichs an seinem pers\u00f6nlichen Fortbestehen leibt diesem Glauben Starke und Zuversicht, und praetendirt die Fortdauer seiner Person auch \u00fcber das Grab hinaus. Da hingegen nur selten Menschen gefunden werden, welche sich mit dem Aufgehen der Pers\u00f6nlichkeit ihres Geistes in den allgemeinen Geist befriedigen und mit Fichte die Seeligkeit schon jetzt wahrend des Erdenlebens in dem Streben nach dem Unendlichen und Ewigen finden.\nWeil aber das Leben und die Seele oder die bewegende Idee keine latenten Eigenschaften aller Materie sind, so kann die Vermehrung und Theilung der organischen Wesen, und die gleiche Theilung der Seelen bei dieser Hypothese nicht von der Aneignung der Materie durch die Ern\u00e4hrung abgeleitet werden, und es muss vielmehr die Multiplication der pers\u00f6nlich belebten und beseelten Wesen durch eine Eigenschaft des Lebensprincips und der Seele erkl\u00e4rt werden, zufolge welcher, allem Verhalten der K\u00f6rper fremd und entgegengesetzt, ihre Kraft durch die Theilung ins Unendliche nicht vermindert und geschw\u00e4cht wird. Eine Eigenschaft, welche dem Verstand schwierig zu denken ist. Dagegen ist bei dieser Vorstellung von dem Verh\u00e4ltniss der bewegenden Ideen zu der Materie, als Ausfl\u00fcssen der Gottheit, leichter einsichtlich, wie die verschiedenen Organismen, die Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen, Arten bei aller Unabh\u00e4ngigkeit von einander, doch so ganz eine \u00fcber ihnen im Anfang wirksame Idee aussprechen. Dieser Gedanke ist durch alle Modificatio-nen der Gattungen einer Familie so vollst\u00e4ndig logisch durchgedacht, dass die Zoologen aus den Eigenschaften einer Familie und einiger dazu geh\u00f6rigen Gattungen oft die Existenz der \u00fcbrigen Gattungen und ihre Kennzeichen Voraussagen k\u00f6nnen. Auch entspricht jener Ansicht der actuelle Zustand der Sch\u00f6pfung, dass n\u00e4mlich, was aus der Welt der organischen Reiche durch zuf\u00e4llige Zerst\u00f6rung aller Individuen einer Art verloren geht, nicht durch ein allgemeines Naturlehen ersetzt werden kann, und die Uehereinstimmung der urspr\u00fcnglichen Slructur der Keime der verschiedensten organischen Wesen als Zelle mit Kern, welches zu beweisen scheint, dass die Ursache der Verschiedenheit der Classen, Familien, Gattungen und Arten, in dem aus dem Keim sich bildenden Thier oder Pflanze nicht die Structur oder die chemische Beschaffenheit des Keims, sondern die eingehorne bewegende Idee ist.\nII. Pantheistische Ansicht von der IVeltseele und ihrem Verh\u00e4ltniss zur Materie.\nDie der vorherigen entgegengesetzte Lehre ist, dass das Prin-cip des Lebens aller Materie einwobnt und so wenig zu der Materie hinzugekommen ist, dass es nichts Anderes, als eine Kraft der Materie selbst ist, die sieb aber nur unter bestimmten Bedingungen und in bestimmter Zusammensetzung der Materie und bestimmter Structur bei dieser und jener Form \u00e4ussert. In den organischen K\u00f6rper kommend findet die Materie die Bedingungen.","page":511},{"file":"p0512.txt","language":"de","ocr_de":"512 VI. Buch. Vom Seelenleben. I. Abschn. Natur der Seele.\nunter welchen sich das ihr einwohnende latente Princip des Lebens in der bestimmten Form des organischen K\u00f6rpers \u00e4ussern muss. So wird dann die Vermehrung der organischen Kraft zu einem Multiplum durch das Wachsthum und die F\u00e4higkeit der Thei-lung einsichtlich. Alles Lebendige aber, was vergeht, verliert bloss die Bedingung zur Aeusserung des Lebens in der bestimmten Form und die lebensf\u00e4hige und beseelte Materie geht wieder in den Schooss der Natur zur\u00fcck.\nSo ausgedr\u00fcckt w\u00fcrde jene zugleich pantheistische und materialistische Ansicht von der Materie am reinsten und frei von historischen Eigenth\u00fcmiichkeiten ausgesprochen und so hingestellt seyn, wie sie zur Erl\u00e4uterung der vorher aufgestellten Probleme geeignet ist. Mehr oder weniger eigent\u00fcmlich gef\u00e4rbte cosmo-logische Lehren dieser Art linden sich bei den Naturphilosophen Griechenlands Heraklit, Anaxagoras u. A. Der Letztere lehrte, dass Alles aus Allem werden k\u00f6nne, und dass der Geist die Seele aller Dinge und die Universalform aller Dinge sey.\nHeraklit iiess die belebten Wesen, das geistige Princip des Welltalls durch das Alhmen und die Sinne in sich aufnehmen. Aber keiner hat diese Grundansicht von der Welt klarer vorgetragen als Giordano Bruno in seinem Werke Dialoghi de la causa, principio et uno. Siehe die Uebersetzung dieses Werkes in \u00c4ixner und Siber Leben und Lehrmeinungen ber\u00fchmter Physiker am F.nde des 16. und Anfang des 17. .Jahrhunderts als Beitr\u00e4ge zur Geschichte der Physiologie. V. Heft. Jordanus Brunus. Sulzbach 1824. Die folgenden S\u00e4tze aus |enem speculativen Werke m\u00f6gen zu einem Begriff von diesem cosmologischen System, welches sich in der neuern Philosophie wiederholt und weiter entwickelt hat, gen\u00fcgen.\n\u201eDie Weltseele erf\u00fcllt und erleuchtet das ganze Weltall und unterweiset die Natur, die Gattungen und Arten der Dinge, wie es seyn soll, hervorzubringen. Dieser schaffende allgemeine Verstand verh\u00e4lt sich gerade so zur Hervorbringung der Naturdinge wie sich unser Verstand in Hervorbringung der vorgestellten Gattungen und Arten verh\u00e4lt.\u201c a. a. O. p. 4.\n\u201eDie Endursache, welche die allererste Ursache, die schaffende Weltseele sich vorsetzt, ist die Vollkommenheit des Alls, die darin besteht, dass an verschiedenen Theilen und Massen der Materie alle m\u00f6gliche Formen verwirklicht seien, an welchem Endzweck sich der allgemeine Verstand so sehr erg\u00f6tzt und gef\u00e4llt, dass er nimmer erm\u00fcdet, alle Arten von Formen aus dem Schoosse der Materie hervorzurufen.\u201c a. a. O. p. 45.\n\u201eEine Seele muss die allgemeine aller Dinge seyn, jene Seele n\u00e4mlich, die durch das ganze All \u00fcber die gesammte Materie herrscht, und welche an sich Eine demnach nach der Verschiedenheit der Gestaltsamkeit der Materie und der F\u00e4higkeit ihrer th\u00e4tigen Kr\u00e4fte verschiedene Dinge hervorbringt, die verschiedene F\u00e4higkeiten zeigen. Einige n\u00e4mlich leben ohne Empfindung, je nachdem die geistigen Kr\u00e4fte entweder ihrer eigenen Schwachheit (?) wegen, oder aus andern Ursachen von der \u00fcberwiegenden Materie unterdr\u00fcckt werden.\u201c a. a. O. p. 5\u00f6.\n\u201eDaraus, dass jene Himmelsk\u00f6rper und die Natur \u00fcberhaupt","page":512},{"file":"p0513.txt","language":"de","ocr_de":"1 Verhiiltniss der Seele zur Materie. Cusrnologische Systeme. 513\nnicht menschliches Denkverm\u00f6gen oder Ged\u00e4chtniss haben, folgt gar nicht, dass sie ohne allen Verstand oder Absicht hervorbrin-gCn, was sie hervorbringen; indem ja auch vollkommen ausge-iernte Musiker und Schreiber, obschon sie wenig oder gar nicht auf das was sie vollbringen aufmerken, doch nicht gegen die Regeln verstossen.\u201c a. a. O. p. 48.\n\u201eIch sage also, dass die Tafel als Tafel nicht beseelt ist, noch das Kleid als Kleid, noch das Leder als Leder, noch das Glas als Glas, gleichwohl aber haben sie als Naturproducte und zusammengesetzte Dinge nothwendig Materie und Form. Sei also ein Ding so klein und geringf\u00fcgig, als man will, so bat es doch allemal einen Theil der geistigen und begeistigenden Substanz an sich, welche immer eine schickliche Grundlage ist, woraus allerlei werden mag z. B. eine Pflanze, ein Thier, kurz ein Geist findet sich in allen Dingen und es ist kein K\u00f6rper so klein, der nicht einen Theil der g\u00f6ttlichen Substanz in sich enthielte, wodurch er beseelt wird.\u201c a. a. O. p. 53.\nDem zu Folge sind also die Organismen Wirkungen der ersten aller Ursachen, beseelte K\u00f6rper, in welchen die Erscheinung des Lebendigen und Geistigen in bestimmter Form durch eine gewisse Structur und chemische Zusammensetzung bedingt wird. Diese Structur ist durch keinen Zufall entstanden, denn auch sie ist von dem schaffenden Geist Gottes ausgegangen und der ideale Zusammenhang aller zu Classen, Familien, Gattungen, Arten geordneten organischen Wesen schliesst schon allen Zufall aus. Sobald aber die sogenannte todte Materie mit dem vorhandenen Or ganismus in Wechselwirkung k\u00f6mmt und von demselben in dieselbe Structur verwandelt und dem Lebensprincip des Organismus unterworfen wird, tritt auch die in ihr latent gewesene F\u00e4higkeit zum Leben in einer bestimmten Form in Aeusserung und die Form des Wirkens ist durch die schon vorhandene Organisation in ihrer Grenze eingeschlossen. Auf diese Weise wird durch das Aneignen der Materie von einem organischen Wesen, die organische Kraft mit der angeeigneten und organisirten Materie vermehrt und durch die Vermehrung der Kraft wieder eine Thei-lung derselben m\u00f6glich. Als analoge Erscheinungen f\u00fcr die Aeusserung des in der Materie latenten allgemeinen Prineips der Lebensf\u00e4higkeit w\u00e4ren dann die physicalischen Erscheinungen anzuf\u00fchren, bei welchen eine vorhandene aber f\u00fcr die Erscheinung latente Kraft, Electricit\u00e4t, Licht u. a. unter bestimmten Bedingungen der Wechselwirkung der K\u00f6rper in Erscheinung tritt.\nBei dieser Darstellung der pantheistischen eosmologischen Lehre hat man bloss das Allgemeinste im Auge gehabt. Die verschiedenen Formen der hierher geh\u00f6rigen philosophischen Systeme zu er\u00f6rtern, liegt ausser dem Zweck dieser Darstellung, bei welcher es \u00fcberhaupt bloss Aufgabe war, die beiden Hypothesen durchzudenken, welche ausser dem Gebiete der erfabrungsmassi-gen Physiologie, den Faden fortf\u00fchren, wo er bei der empirisch-physiologischen Zergliederung nothwendig abgebrochen wird.","page":513},{"file":"p0514.txt","language":"de","ocr_de":"514 IV. Buch, Vom Seelenleben. I. Abschn. Natur der Seele.\nII. Capitel. Vom Seelenleben im en gern Sinne.\nUnterschied vom Leben \u00fcberhaupt.\nDie nicht in das Bewustsevn fallenden Wirkungen des Lebens in den Organismen sind, dass sie die zweckm\u00e4ssige Organisation erzeugen und erhalten und ihres Gleichen bilden. Diese Th\u00e4tigkeit ist in den Pflanzen und Thieren gleich.. Was der Keim von beiden als Grundstein ihres Baues von dem m\u00fctterlichen Organismus mitbekommt, ist die Zelle mit ihrem der Wand der Zelle anliegenden Kern versehen, hei den Thieren das sogenannte Keimbl\u00e4schen mit dem Keimfleck. Die ersten Wirkungen der Organisation sind die Bildung neuer \u00e4hnlicher Zellen aus Kernen. Die Keimhaut der Thiere besteht nach Schwann\u2019s Beobachtungen (Froriep\u2019s Not. 1838. N. 3.) aus einer Aggregation von Zellen und die erste Bildurg der foetalen Gewebe scheint nach Schwann\u2019s Beobachtungen durchg\u00e4ngig pflanzenzellig zu seyn, indem meist wie hei den Pflanzen die Zellen mit ihrem Kern an der Wand versehen sind und aus diesem entstehen. Erst sp\u00e4ter entfernen sich die Structuren der Pflanzen und Thiere durch Verwandlung der Zellen in die bleibenden Gewebe.\nVergleicht man die nur den Thieren und Menschen zukommenden Seelenerschcinungen mit den, der. Pflanzen und Thieren gemeinsamen Erscheinungen der zweckm\u00e4ssigen Organisation, so zeigt sich eine theilweise Uebereinstimmung und Verschiedenheit. Beide gleichen sich dann, dass sie das Zweckm\u00e4ssige, ja seihst das Vern\u00fcnftige realisiren k\u00f6nnen, aber in den organischen Wirkungen geschieht diess unbewusst, in den Seelenwirkungen bewusst und mit Empfindung. Daher ist das Erzielen des Zweckm\u00e4ssigen in den vegetativen Wirkungen ohne Wahl, das Einzige, was erzielt werden kann ist die Form und Eigenschaft der bestimmten Pflanze, des bestimmten Thiers. Alles, was diesem Ziel nicht homolog ist, bleibt zur Seite liegen, das Angemessene wird angezogen und festgehalten. Die Idee der bestimmten Pflanze ist das Thema, welches wieder und wieder ausgef\u00fchrt wird, und keine andere als diese Idee liegt in der Natur und in dem Streben der bestimmten Pflanze. Sie wird ausgef\u00fchrt, wie ein gelerntes Kunstst\u00fcck in den Regeln dieses Kunstst\u00fccks. In den Seelenerscheinungen ist eine viel gr\u00f6ssere Bestimmbarkeit innerhalb gewisser Grenzen gegeben.\nVon den mannigfaltigen Dingen der Aussenwelt werden Bilder aufgenommen, reproducirt, combinirt. Der Mensch erkennt auch das Allgemeine von mehreren! aufgefasstem, und es bleibt als ein Bild zur\u00fcck, das man Begriff nennt, auch die Begriffe werden unter sich und mit Bildern verbunden, das allgemeinere davon aufgefasst und das ist Denken. Kein Modell ist hier vorhanden f\u00fcr das Schaffen, als die Nothwendigkeit zu combiniren und Begriffe d. i. Bilder aus mehreren Bildern zu machen, die ganze mit Sinnen erfassbare Natur kann aber den Stoff zu Bil-","page":514},{"file":"p0515.txt","language":"de","ocr_de":"2. Seelenleben im engem Sinn. Instinkt.\n515\n(lern hergeben. Das Seelenleben gleicht daher einem h\u00f6chst mannigfaltigen Abspiegeln von lauter Dingen, die ausser und in dem Organismus existiren nach einem einfachen Gesetz der Combination. Das Organisiren und Leben hingegen erzeugt immer das Gleiche wieder, die bestimmte Form und ihre Kr\u00e4fte aus den Eigenschaften der unterworfenen Materie und nimmt keine Notiz der \u00e4us-sern Objecte. Giebt es einige Aehnlichkeit zwischen dem einen und andern Process, so ist es nur der Verbrauch der Bilder nach dem einwohnenden Gesetz der Combination -beim Seelenleben und der Verbrauch der Stoffe und ihrer physicalischen Kr\u00e4fte nach dem einwohnenden Gesetz der Organisation.\nIst es nun gleich m\u00f6glich in Gedankenbildern die nat\u00fcrlichen Gegenst\u00e4nde gleich wie in Zeichen statt der Dings selbst zu wiederholen, so ist doch der ganze Process nur ein gewusster, aus Gewusstem wird nur Gew'usstes, aus Zeichen nur Zeichen. Die organisirende Kraft oder das Lebensprincip hingegen rea\u00fc-sirt das zwar in engen Grenzen gehaltene Thema der Operation in Gegenst\u00e4nden, an der Materie. Aus dem vorgestellten Allg\u00e9-meinen kann ferner das einzelne als vorgeslelltes im Denken ausgeschieden werden. Das allgemeine der Keimhaut producirt die besondere Structur, die zur Natur des_ Ganzen geh\u00f6rt, aber das Product ist im ersten Fall immer nur ein Gewusstes, im zweiten Fall ein Gewebe, ein Organ. Bei dieser innern Verschiedenheit in dem Process der Seelenerscheinungen und in dem Process der Vegetation verhalten sich beide zur Materie, an welcher sie als Kr\u00e4fte Vorkommen, in den meisten Puncten gleich, wie vorher bewiesen worden. Beiderlei Kr\u00e4fte k\u00f6nnen mit der Materie ge-theilt werden, beide sind nichts aus Theiten Zusammengesetztes. Beide k\u00f6nnen latent seyn und erfordern Ver\u00e4nderung der Materie zu ihrer Wirksamkeit, und bei den thierischen Wesen ist die eine immer an die andere gebunden, so dass die Vegetation immer zuerst wirken muss, ehe die latente psychische Kraft in Erscheinung tritt, bis die Organisation des Gehirns zum Wirken der Seele erzeugt ist.\nIn einer gewissen Classe von Erscheinungen greift die zweckm\u00e4ssig wirkende allgemeine Lebenskraft eines thierischen Gesch\u00f6pfs selbst in den Process des Seelenlebens bestimmend ein, erzeugt Reihen von Vorstellungen, wie Tr\u00e4ume, und bestimmt zum bewussten Handeln, das sind die instinctm\u00e4ssigen Handlungen. Die Biene muss den ihr traumartig vorschwebenden Typus der Bienenzellen realisiren, ein Thier muss Wohnungen, Gespinnste bauen, ganz so wie seine Vorg\u00e4nger, singen wie diese und wandern wie sie, seine Brut besch\u00fctzen mit Leidenschaften, die erst durch das Gesch\u00e4ft der Generation entstehen. Der Anstifter von diesen durch die Seele ausgef\u00fchrten, aller nicht von der Seele concipir-ten Vorstellungen ist die Organisationskraft, die erste Ursache eines Gesch\u00f6pfs, die Gleiches aus Gleichem schafft, derselbe Baumeister, der alle Organe zweckm\u00e4ssig bildet. Er lehrt die Thiere die Begattung, und ohne Erziehung die Jungen das Gleichgewicht halten, die Enten auf das Wasser gehen, den Maulwurf graben und die Fauitbiere klettern, wie er auch den Bau der Extremit\u00e4-","page":515},{"file":"p0516.txt","language":"de","ocr_de":"516 VI. Buch. Vom Seelenleben. 1. ylbschn. iXatur der Seele.\nten hierzu und nicht zum Springen eingerichtet. In diesen Erscheinungen wirkt eine Kraft, die nach der vorausgegangenen Definition des Lebensprincips und des Unterschiedes von der Seele ganz identisch ist mit ersterin, aber sie verwirklicht nicht selbst das Thema, sie giebt bloss das Thema der Seele an zur Realisation ausser dem K\u00f6rper. Die Zellen der Bienen und die S\u00e4ulen der electrischen Organe der Zitterrochen verdanken daher ihren Ursprung derselben letzten Ursache, aber ihre n\u00e4chste Ursache ist verschieden, und im ersten Fall tritt die Seele als Vermittler f\u00fcr einen Bau ein, der ausser dem K\u00f6rper des Thiers errichtet werden soll.\nEine Beschreibung der instinctm\u00e4ssigen Wirkungen der Thiere liegt ausser dem Plan dieses Werkes und geh\u00f6rt der Naturgeschichte an, und verweise ich in Hinsicht des N\u00e4hern auf Kirby und Spence Entomologie B. 2. Darwin Zoonomie. Ueber die instinctm\u00e4ssigen Bewegungen siehe oben p. 106.\nEine Wirkung der Lebenskraft auf die Bildung der Vorstellungen und das Lehen der Seele kann also bis zur engsten Verkn\u00fcpfung stattfinden, aber es l\u00e4sst sich weder beweisen noch widerlegen , dass die erste Ursache von beiderlei Wirkungen eine und dieselbe sei. Es muss daher auch zweifelhaft bleiben, ob das alleinige Wirken der Vegetationskraft in den Pflanzen von dem Mangel der zur Seelen\u00e4usserung n\u00f6thigen Structur, oder von der Verschiedenheit der den organischen Wesen eingebornen bewegenden Ideen herr\u00fchrt.\nW i r k u n g des Gehirns beim Seelenleben.\nDie Energie oder der Modus des Seelenlebens im engern Sinne ist das Bewusstwerden, Etwas, was sich nicht weiter, als durch das Bewusstwerden an sich selbst aufkl\u00e4ren und so wenig beschreiben l\u00e4sst, als Ton, Blau, Both, Bitter. So wie es Eigenschaft des specifischen, mit dem Sensorium verkn\u00fcpften Nerven ist, empfinden zu k\u00f6nnen, so ist es die Eigenschaft des Gehirns, und der n\u00e4her in der Lehre vom Gehirnlehen bezeichneten Organe desselben, bewusst zu werden. Der Modus des Bewusstwerdens ist das Vorstellen, Denken und Leiden oder die Leidenschaft. Nichts berechtigt uns im Gehirne besondere Organe oder Provinzen f\u00fcr diese Th\u00e4tigkeiten oder sie als f\u00fcr sich bestehende Verm\u00f6gen der Seele anzunehmen. Siehe oben B. I. 3. Zufl. p. 854. Sie sind vielmehr nur Arten der Wirkung einer und derselben Kraft, wie sich im Verfolg der Untersuchung ergeben wird. Obgleich ferner die Klarheit und Sch\u00e4rfe des Vorstcllens, Denkens und die Tiefe des Leidens durch materielle Ver\u00e4nderungen des Gehirns ver\u00e4ndert werden, und die Integrit\u00e4t des Gehirns durchaus zum Bewusstwerden n\u00f6tbig ist, so kann doch das Seelenleben nicht aus materiellen Ver\u00e4nderungen des Gehirns erkl\u00e4rt werden, und muss das Lehen der Seele vielmehr als eine von r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnissen, seinem Wesen nach ganz unabh\u00e4ngige Th\u00e4-tigkeit angesehen werden, auf deren Klarheit und Sch\u00e4rfe nur der","page":516},{"file":"p0517.txt","language":"de","ocr_de":"517\n2. Seelenleben im engem Sinn. V\u2019erstandeshegriffe.\nZustand des Gehirns Einfluss hat. Zum Bewusstwerden von Empfindungen k\u00f6mmt die Seele allerdings nur dureh die Sinnesnerven und ihre Wirkung auf das Gehirn, aber das Behalten und Re-produciren der Vorstellungsbilder von sinnlichen Gegenst\u00e4nden schliesst jede Idee von einem Fairen der Ordnungen von Vorstellungen in Hirntheilchen, z. B. den Ganglienk\u00f6rperchen der grauen Substanz aus. Denn die in der Seele angesammelten Vorstellungen verbinden sich untereinander nach den verschiedensten Prin-eipien, z. B. der zeitlichen Succession, der Gleichzeitigkeit, der Aehrtlichkeit, des Widerspruchs und die Relationen der Vorstellungen \u00e4ndern sich jeden Augenblick. Es ist zwar richtig, dass nach organischen Ver\u00e4nderungen des Gehirns, zuweilen das Ged\u00e4chtnis f\u00fcr gewisse Zeitperioden, oder f\u00fcr gewisse Arten von Namen, Hauptw\u00f6rter, Eigenschaftsw\u00f6rter schwindet. Die erstere Thatsache w\u00e4re indess materiel nur durch die Annahme einer successiven Fixirung der Erfahrungen der Seele in geschichteten Theilen zu erkl\u00e4ren, woran nicht entfernter Weise gedacht werden kann. Wollte man ferner im Allgemeinen den Ganglienk\u00f6rperchen das Vorstellen und Denken zuschreiben, und das Erheben der Vorstellung vom Einzelnen zum Allgemeinen, vom Allgemeinen zum Besonderen einer relativen Steigerung der Action des peripherischen Theils der Ganglienk\u00f6rperchen im Verh\u00e4lt-' niss zu ihren Kernen, oder der Kerne im Verh\u00e4ltniss zu den peripherischen Theilen zuschreiben, wollte man das Verbinden der Vorstellungen zu einem Gedanken oderUrtheil, welches durch die Vorstellung von dem Objecte, Pr\u00e4dicate und der Copula zugleich geschieht, von einer Wechselwirkung der Ganglienk\u00f6rperchen und einer Th\u00e4tigkeit der sie verbindenden Forts\u00e4tze als Copula ableiten, wollte man die Association der Vorstellungen nach der Zeit ihrer ersten Entstehung und nach der Gleichzeitigkeit ihrer ersten Entstehung von einer successiven Action verbundener Ganglienk\u00f6rperchen oder gleichzeitigen Action mehrerer Ganglienk\u00f6rperchen begleiten lassen, so w\u00fcrde man sich nur in vagen und ganz unbegr\u00fcndeten Hypothesen bewegen.\nMan kann daher nur im Allgemeinen vermuthen, dass von der Intensit\u00e4t der organischen Wirkungen jener Theilchen die Klarheit und Sch\u00e4rfe unserer Vorstellungen abh\u00e4ngt.\nPrimitive Vorstellungen, Verstandesbegriffe.\nDie Erfahrung, dass unsere Gedanken mit den Verh\u00e4ltnissen der Objecte \u00fcbereinstimmen k\u00f6nnen, hat die Philosophen von jeher veranlasst, zu untersuchen, ob diese Uebereinstimmung in der sinnlichen Erfahrung, in dem Zeugniss der Sinne allein ihre Quelle oder zugleich in einer gewissen praestabilirten Harmonie zwischen der Welt der Erscheinungen, dem Macrocosmus und dem denkenden Microcosmus habe und durch gewisse dem Zusammenh\u00e4nge der W elterscheinunge n und dem Zusammenh\u00e4nge der Gedanken gleich nolhwendige Gesetze entstehe. Im erstem Falle behauptet man: Nihil est in intellectu, quod non erat in sensu, im zw\u2019eiten behauptet man die Existenz a priorischer Begriffe,","page":517},{"file":"p0518.txt","language":"de","ocr_de":"518 VI. Buch. Vom Seelenleben. I. Absclin. Sahir der Seele.\ndie dem Verst\u00e4nde gleichsam eingeboren sind, Verstandesbegriffe, Categorien des Aristoteles, wie der Begriff der Qualit\u00e4t, Quantit\u00e4t, Relation, Modalit\u00e4t. Diese Begriffe bilden dann den reinen Inhalt des apriorischen Denkens, welches zwar auch durch die Erfahrung der Sinne angeregt wird, welches aber bestimmend und ordnend f\u00fcr alle durch die Sinne gewonnenen Erfahrungen wird. Sie werden daher nicht aus der Erfahrung deducirt, sondern an der Erfahrung erl\u00e4utert. Locke hatte hingegen bei Zergliederung des menschlichen Verstandes keinen solchen primitiven Inhalt des Denkens gefunden, und die in der Erfahrung angetrof-fenen reinen Begriffe des Verstandes sind ihm von der Erfahrung abgeleitet; der Verstand kann sie weder erzeugen noch ver\u00e4ndern, und er muss sie aufnehmen, wie sie ihm gegeben werden. Da indess die Sinneserscheinungen nicht selbst Begriffe sind, die Begriffe vielmehr das Verh\u00e4ltnis der sinnlichen Erscheinungen ausdr\u00fccken, so fragt sich wieder, wie kann der Verstand Etwas erkennen, was wenn auch vorhanden, doch nicht sinnlich erfahren wird, und entsteht die Verbindung der sinnlichen Erfahrungen zu einem Begriff durch a priorische Begriffe des Verstandes oder durch eine N\u00f6thlgung, die bloss auf Gewohnheit beruht? Diess letztere behauptete David Hume. Nach ihm entstehen die Verbindungen der Vorstellungen aus ihrer \u00f6fteren Association, so dass die Association selbst zur subjectiven Nothwendigkeit wird, wie die Association der Ursache und Wirkung aus der Gewohnheit beide folgen zu sehen. Da wir nun \u00fcber die angew\u00f6hnle Verbindung unserer Vorstellungen nicht hinauskommen, so giebt cs nach Hume keine objective Erkenntniss.\nKant bestritt diese Lehre, weil die Wirklichkeit einer wissenschaftlichen Erkenntniss a priori, n\u00e4mlich der reinen Mathematik die Existenz der a priorischen Begriffe beweise. Seine reinen Verstandesbegriffe sind: 1) die Categorie der Quantit\u00e4t (Einheit, Vielheit, Allheit). 2) der Qualit\u00e4t (Realit\u00e4t, Negation, Limitation). 3) der Relation (Wesen und Zufall, Causalit\u00e4t, Wechselwirkung). 4) der Modalit\u00e4t (M\u00f6glichkeit, Dasevn, Nothwendigkeit).\nSo wie diese Begriffe nach Kant -den formalen Inhalt des denkenden Verstandes ausmachen, so sollen nach ihm die Vorstellungen von Raum und Zeit die primitiven Anschauungsformen f\u00fcr das sinnliche Empfinden seyn. Ausser der Anwendung dieser Principien auf die Erfahrung und die Erkenntniss dessen, was mit den Categorien \u00fcbereinstimmt, giebt es aber nach Kant kein Erkennen der Dinge an sich.\nDass es angeborne Vorstellungen geben k\u00f6nne, l\u00e4sst sich nicht im Geringsten l\u00e4ugnen, es ist sogar eine Thatsache. Alle Vorstellungen der Thiere, welche von dem Instincte eingeleitet werden, sind angeboren und unmittelbar, ein der Phantasie vorschwebendes, wozu der Trieb vorhanden ist, es zu erreichen. Das neuge-borne Schaf und F\u00fcllen haben solche angeborne Vorstellungen, deren zufolge sie auf die Mutter gehen und ihre Zitzen suchen. Findet nicht auch bei dem Menschen etwas Aehnlichcs in Hinsicht seiner Verstandesbegriffe statt?","page":518},{"file":"p0519.txt","language":"de","ocr_de":"2. Seelenlehen. Verstandeshegriffe.\n519\nIch glaube, dass mau diese Frage in Beziehung auf das Denken des Menschen weder zu Gunsten von Hume noch zu Gunsten von Kant entscheiden kann. Aus der Gewohnheit der wiederkehrenden Verbindung zweier Dinge in der Vorstellung wird nur die Noth Wendigkeit, dass, wenn das eine vorgestellt wird, auch das andere vorgestellt werden muss, oder, dass wenn Etwas wieder kommt, was einst eine angenehme oder unangenehme Empfindung in uns hervorbrachte, diese angenehme oder unangenehme Empfindung jetzt auch als gewiss erwartet wird. Auf diese Art verkettet der Hund die Vorstellung der Schl\u00e4ge nothwendig mit der Vorstellung des Stocks und der Zusammenhang zwischen Stock und Schl\u00e4ge ist ihm ein durchaus notli-wendiger geworden. Aber diesen Zusammenhang abstract als vielen \u00e4hnlichen Verkettungen gemein unter dem Begriff der Ursache und Wirkung aufzufassen, ist dem Hunde und jedem Thiere vollends unm\u00f6glich. Die Thiere bilden keine allgemeinen Begriffe. Es liegt nicht an der Klarheit und Unklarheit der Eindr\u00fccke, denn diese sind bei den Thieren gewiss ebenso wie beim Menschen. Ich bin daher der Meinung, dass auch ein Mensch durch blosse Erfahrung der Sinne und durch die Gewohnheit nie zu dem abstracten Begriff der Causalit\u00e4t komme, wenn der Verstand des Menschen nicht ein gewisses Verm\u00f6gen der Abstraction hat, n\u00e4mlich ein Gedankending von dem Gemeinsamen vieler wiederkehrenden Verkettungen zweier Dinge, wovon das eine das andere fordert, zu machen.\nDagegen halte ich nicht f\u00fcr den urspr\u00fcnglichen Inhalt des Verstandes die Verstaudeshcgriffe von Kant oder die Categorien des Aristoteles, diese scheinen mir vielmehr ein Product der Erfahrung und des Abstractionsverm\u00f6gens zu seyn; sondern urspr\u00fcnglich ist das Verm\u00f6gen, durch welches die verschiedenen Categorieen w\u00e4hrend der Erfahrung erst entstehen, die F\u00e4higkeit, das Allgemeine von mehreren Besonderheiten oder von mehreren Thatsachen der Empfindung als Gedankending sich vorzustellen, d. b. einen Begriff zu bilden, loyog. Ist diese F\u00e4higkeit vorhanden, so wird die durch Gewohnheit erfahrene Noth-wendigkeit der Ver\u00e4nderung meiner selbst, durch ein Aeusseres mit den Erfahrungen, in welchen sich dieses Verh\u00e4ltniss wiederholt, als Begriff der Causalit\u00e4t vorgestellt, n\u00e4mlich als Nothwen-digkeit der Ver\u00e4nderung eines Objectes durch ein anderes, und so entstehen nun alle Verstandesbegriffe aus dem Erheben von Thatsachen der sinnlichen Erfahrung zu Allgemeinem.\nEtwas erscheint vor unseren Augen nicht mehr so wie vor-her, von Anderen und Vielen erfahren wir dasselbe. Beim Thier bleibt es bei diesen einzelnen sinnlichen Erfahrungen, bei uns aber entsteht der Begriff der Ver\u00e4nderung, er enth\u00e4lt bloss das, \u25a0worin die anders gewordenen Erscheinnngen a, b, c, d \u00dcbereinkommen, und es fehlt daran Alles, wras bloss einer dieser Erscheinungen a, b, c, d eigen ist. Findet der Wechsel mit Aenderung des Raums statt, so entsteht der Begriff der Bewegung. Bei Erscheinungen, die sich \u00e4ndern, sind die einzelnen Acte nur gleich MuIIer\\s Physiologie. 2r. R<l. III.\t34","page":519},{"file":"p0520.txt","language":"de","ocr_de":"520 VI. Buck. Vom Seelenleben. I. Abschn. Natur der Seele.\ndarin, dass sie sich folgen. Indem dieses von mehreren Erscheinungen aufgefasst wird, entsteht der Begriff der Folge.\nDie F\u00e4higkeit des Begriffhildens ist \u00fcbrigens nicht etwa ein besonderes Verm\u00f6gen der Seele, welches auf die Vorstellungen einwirkt, sondern er ist die Wechselwirkung der verwandten Vorstellungen selbst. Das Vorstellen des Menschen li\u00e2t den Grad der Ausbildung, dass mehrere Vorstellungen zugleich vorhanden seyn und aufeinander einwirken k\u00f6nnen. Sind mehrere verwandte gegenw\u00e4rtig in welchen das Eine verschieden, das Andere aber gleich ist, so verdunkelt sich das Verschiedene in den Vorstellungen, welche die Vorstellungsmasse bilden, und es bleibt nur das Gleiche oder Gemeinsame der verschiedenen Vorstellungen zur\u00fcck. Herbart Lehrb. d. Psychologie 143. So entsteht der Begriff der Causalit\u00e4t, als eine nothwendige Folge von a und b, in welcher a und b gar nichts Bestimmtes mehr sind, und so entstehen alle Begriffsvorstellungen von dem Allgemeinen in vielem Einzelnen enthaltenen. Verdunkeln sieb die einander wiederstrebenden und aufhebenden Vorstellungen von den Eigenschaften verschiedener Species, so bleibt von selbst das Gleiche oiler der Begriff der Gattung als unverdunkelt zur\u00fcck. Je allgemeiner die Anwendung dieser Begriffe ist, um so bindender werden sie, wenn sie einmal erfahren sind, f\u00fcr den Verstand. Der Begriff der Causalit\u00e4t ist deswegen so bindend, weil er allen Verh\u00e4ltnissen sowohl den geistigen, als physischen adaequat ist. W\u00fcrde der, auch aus der Erfahrung abstrahirte Begriff der Schwere eine so allgemeine Anwendung finden, wie der Begriff der Causalit\u00e4t, so w\u00fcrde er f\u00fcr den Verstand auch als ebenso bindend erscheinen, wie ein sogenannter Verstandesbegriff.\nDie allgemeinsten Begriffe, die auf diese Weise gebildet werden sind Ver\u00e4nderung, Wesen, Unendliches, Endliches, Form, Gr\u00f6sse, Qualit\u00e4t, Raum, Zeit, Bewegung, Kraft, Materie, Object, Subject, leb, Causalit\u00e4t, Daseyn, Nichtseyn. Unter diesen Begriffen ist dann noch der Unterschied, dass einige von allen Dingen entnommen werden k\u00f6nnen, von materiellen, wie immateriellen Dingen. Das sind gleichsam die vornehmsten Begriffe, eben die, welche man auch Verstandesbegriffe oder Categorieen nennt. Bei anderen Begriffen wird der Inhalt, theils aus den physischen Erscheinungen, den Phaenomena, theils aus der Gedankenwelt, Noumena entnommen. Dahin geh\u00f6ren z. B. die Begriffe Materie, Kraft, Bewegung, Object, Subject, Ich u. s. w.\nHier schliesst sich nun die Frage an, in wie weit das Denken seinen Objecten entspreche, und ob es einer absoluten Erkenntniss der Dinge f\u00e4hig sei. Im Gefolge der grossen Entwickelung und Erweiterung, welche die Philosophie durch einige speculative Denker wie Bruno, Spinoza, Scuelling, Hegel erfahren hat, ist auch der Satz behauptet W'orden, dass ein absolutes Erkennen allerdings m\u00f6glich sey, und dass der reine Gedanke des Geistes durch eine Zergliederung seiner selbst auch den Dingen in der Natur vollkommen entsprechende Gedanken erzeuge. Der Ursprung dieses Satzes ist hei Bruno zu suchen, in der Stelle, die W'ir oben anf\u00fchrten: \u00bbdieser schaffende allgemeine Verstand ver-","page":520},{"file":"p0521.txt","language":"de","ocr_de":"2. Seelenleben. Entsprechen der Phaenome.na nnd Saume rin. 521\nh\u00e4lt sich gerade so zur Hervorbringung der Nalurdinge, wie sich unser Verstand in Hervorbringung der vorgestellten Gattungen und Arten verh\u00e4lt.\u00ab Innerhalb gewisser Grenzen ist das Nachdenken der Dinge durch den menschlichen Verstand wohl m\u00f6glich, und wer das Wesentliche in dem Ver\u00e4nderlichen und Zuf\u00e4lligen durcli sp\u00e9culatives Talent aufzufassen versteht, oder Gesetze und Thatsachen auffindet, aus welchen sich viele Erscheinungen ableiten lassen, erkennt am meisten davon, aber diess kann schwerlich schon eine absolute Erkenntniss der Dinge ge. nannt werden. Vom Begriff des unendlichen Seyns aus ist es, auch mit Benutzung der Erfahrungen im Sinne Hegel\u2019s, noch nicht gelungen eine absolute Erkenntniss des Lichtes, der Electri-cit\u00e4t, des Lebens zu geben, dieses setzt vielmehr die Erkenntniss eines andern absoluten Unendlichen voraus, als von welchem die Philosophie auszugehen gezwungen ist. Die Zergliederung der philosophischen Idee in sich selbst kann daher hei den gr\u00f6ssten Philosophen nur ein mehr oder minder gl\u00fcckliches Versuchen des speculativen Talentes bei einer nicht strengen beweisf\u00fchrenden Methode seyn.\nBei Dingen, deren Eigenschaften in einem so einfachen Zusammenh\u00e4nge und in einer solchen gegenseitigen Bedingung stehen, dass sich aus ihrer Definition alle unbekannten Eigenschaften ableiten und finden lassen, und welche ausser diesen Eigenschaften nichts weiter enthalten, ist auch ein absolutes Wissen m\u00f6glich, wie bei den reinen Gr\u00f6ssen- und Formenverh\u00e4ltnissen. Mit einem Dreieck, Kreis, Kegel u. s. w. sind alle seine Eigenschaften gegeben. Die reine Mathematik ist daher eine absolute Wissenschaft. Die Axiome, von welchen sie ausgeht, sind von dem Verstand unbestrittene S\u00e4tze \u00ab\tjede\nGr\u00f6sse ist sich seihst gleich und dergl. Ausser den reinen Gr\u00f6ssen- und Forrnenverh\u00e4ltnissen giebt es aber viele Dinge in der Natur, von welchen keine solche Definition, kein Begriff gegeben werden k\u00f6nnte, aus dem alle Eigenschaften derselben abgeleitet werden k\u00f6nnten utjd welche ausserdem nichts weiter in sich enthielten. Es lassen sich zwar auch hier Eigenschaften entdecken, aus denen viele andere abgeleitet werden k\u00f6nnen, aber immer bleibt an den nat\u00fcrlichen Dingen ausser dem durch die Sinne erfahrenen und durch den Xnyog zergliederten Eigenschaften das Meiste \u00fcbrig. Das Wissen dehnt sich hier nicht auf die absolute Erkenntniss des Wesens des Dinges aus, und ist nur insofern absolut, insofern gewisse Schlussfolgen aus einem Grundsatz, sei er Thesis oder Erfahrungssatz, mit absoluter Nothwendig-keit folgen, womit aber nur eine gewisse Reihe von Erscheinungen oder Verh\u00e4ltnissen aufgekl\u00e4rt ist. Alle Wissenschaften sind dieser mathematischen Behandlung f\u00e4hig, wenn sie einen gewissen Grad von Ausbildung erlangt haben. Die Philosophie wurde in dieser exacten Form von Spinoza behandelt. In den Naturwissenschaften k\u00f6mmt es auf die Entdeckung solcher Thatsachen an, aus welchen sehr viele wie aus einem Begriff abgeleitet werden k\u00f6nnen. Wo die Fortschritte am gr\u00f6ssten sind, gleicht auch die Methode der Wissenschaft am meisten der mathematischen. Aus dem Gesetze\n34*","page":521},{"file":"p0522.txt","language":"de","ocr_de":"522 VI. Buch. Vom Seelenleben. I. ALschn. Natur der Seele.\n\u00ab1er Gravitation lassen sich die Gesetze der Mechanik der Himmelsk\u00f6rper ableiten, aber das Wesen der Gravitation der Materie bleibt verborgen. Auf dem Gesetze der Tr\u00e4gheit, dass ein bewegter K\u00f6rper sich so lange bewegt, bis er aufgehalten wird, beruht die Phoronomie, aber jenes Gesetz ist ein blosser Erfahrungssatz, denn a priori l\u00e4sst sich nur sagen, ein K\u00f6rper wird bewegt so lange als er bewegt wird, a~a. Das Studium der Wirkungen electrischer Str\u00f6me aufeinander durch Ampere, f\u00fchrte zur Entdeckung von Gesetzen, aus welchen die electromagnetischen Erscheinungen mit gleicher Evidenz abgeleitet werden k\u00f6nnen, wie die geometrischen Wahrheiten aus ihren Axiomen. So das fundamentale Gesetz, dass zwei electrische Str\u00f6me sich anziehen, wenn sie nach gleicher Richtung gehen, sich abstossen, wenn sie nach entgegengesetzten Richtungen gehen. Aber die Natur der Electricit\u00e4t ist doch verborgen. Die Mechanik der Nerven beruht gr\u00f6sstentheils auf dem Erfahrungssatze, dass die Nervenfasern in ihrem Verlaufe getrennt bleiben. Die Physik der Entwickelung und des Lebens der Zellen in den organischen K\u00f6rpern wird die Grundlage f\u00fcr die Theorie der zusammengesetztesten Erscheinungen der pflanzlichen und thierischen Vegetation werden. Die Erscheinungen der Seele werden erfahren, wie alle physischen Erscheinungen, und die Psychologie ist den Naturwissenschaften durchaus \u00e4hnlich, auch hier l\u00e4sst sich das Geschehen so beobachten, dass eine Ableitung der Erscheinungen m\u00f6glich ist, aber das Wesen der Seele bleibt immer verborgen.\nHieraus l\u00e4sst sich einsehen, welche Methode in den Naturwissenschaften die fruchtbarste seyn m\u00fcsse. Die wichtigsten Wahrheiten in denselben sind weder allein durch Zergliederung der Begriffe der Philosophie, noch allein durch blosses Erfahren gefunden worden, sondern durch eine denkende Erfahrung, w elche das Wesentliche von dem Zuf\u00e4lligen in den Erfahrungen unterscheidet und dadurch Grunds\u00e4tze lindet, aus welchen viele Erfahrungen abgeleitet werden. Diess ist mehr als blosses Erfahren und wenn man will eine philosophische Erfahrung.\nIn allen Wissenschaften kommen Begriffe vor, denn sie sind das wirklich vorhandene Allgemeine, was durch die Sinne selbst nicht mehr erfuhren, sondern durch den Geist abstrahirt wird. Die Begriffe kommen uns nur aus der Zergliederung der Erfahrungen. Die Naturwissenschaften zergliedern die Erscheinungen, um daraus Begriffe und Verh\u00e4ltnisse der Vorstellungen von den Dingen zu bilden. Das eigentliche Gebiet der Philosophie sind die Begriffe vorzugsweise und ihre Verh\u00e4ltnisse zu einander, und sie zieht daher aus allen andern Wissenschaften ihre Nahrung und verbindet alle Wissenschaften. Sie ist trotz ihrer Verwandtschaft zu der philosophischen Behandlung der einzelnen Wissenschaften doch um so mehr eine selbstst\u00e4ndige Wissenschaft f\u00fcr sich selbst, als sie es auch mit den Begriffen zu thun hat, die nicht einer Wissenschaft allein, sondern vielen oder mehreren zugleich zu Grunde liegen, wie Seyn, Wesen, Zufall, Ver\u00e4nderung, Ursache Quantit\u00e4t, Qualit\u00e4t, Raum, Zeit, Materie, Geist u. s. w. Manche Begriffe sind nur einzelnen Wissenschaften vorzugsweise eigen,","page":522},{"file":"p0523.txt","language":"de","ocr_de":"2. Seelenleben. Menschen- und Thierseele.\n523\nwie der der Kraft, und Materie, der Bewegung, der Schwere, aber soweit Begriffe in einer Wissenschaft Vorkommen, aus welchen Erscheinungen abgeleitet werden, so weit ist sie auch philosophisch.\nMenschen- und T h i e r s e e 1 e.\nDie Seelenerscheinungen der Thiere und des Menschen stini-inen in mehreren Puncten \u00fcberein, in anderen unterscheiden sie sieb. Beide bilden Vorstellungen von Sinneserscheinungen, bewahren sie und reprodueiren sie, hei beiden findet Association oder Anziehung der Vorstellungen nach gewissen Gesetzen statt, aber nur der Mensch vermag aus mehreren einzelnen Erscheinungen sich ein Gedankending zu bilden, welches nicht f\u00fcr die einzelnen Erscheinungen, sondern f\u00fcr das Gemeinsame in ihnen gilt, nur der Mensch vermag Begriffe zu bilden. Sobald diess Gemeinsame mehr ist als der Inbegriff der h\u00e4ufigsten und unver\u00e4nderlichsten Charactere eines sinnlichen Dings, so ist das Thier unf\u00e4hig es aufzufassen. Man kann daher mit einem Worte den Unterschied des thierischen und menschlichen Seelenlebens so ausdr\u00fccken, dass den Thieren der hoyng durchaus fehlt. Mit ihm ist die ganze geistige Bildungsf\u00e4higkeit des Menschen und auch die M\u00f6glichkeit der Sprache gegeben. Das ganze Seelenleben der Thiere geht nicht \u00fcber das niedere Vorstellen und Streben, und die Association der Vorstellungen sinnlicher Eindr\u00fccke.\nDie Association der Voi\u2019stellungen von sinnlichen Eindr\u00fccken geschieht bei den Thieren und dem Menschen nach dem Gesetz der Anziehung des Aehnlicben, des gleichzeitig nebeneinander vorhanden Gewesenen, und des sich Folgenden. Aber beim Menschen associiren sich auch Begriffe zu Vorstellungen, das Allgemeine schreitet zu seinen sinnlichen Einzelheiten, das Einzelne wieder zu einem allgemeinen Begriff fort, zu welchem das Einzelne geh\u00f6rt.\nDas Thier k\u00f6mmt zwar sehr leicht dahin, zwei Dinge mit einander in Verbindung zu bringen, aber es ist, was man auch von der Vernunft der Thiere gesagt hat, platterdings unf\u00e4hig, einen allgemeinen Begriff zu bilden. Dass man hier von allen instinktartigen vern\u00fcnftigen Handlungen der Thiere absehen muss, versteht sich nach den fr\u00fcheren Bemerkungen \u00fcber den Instinkt von selbst. Ein Hund wird sich naeh und nach gew\u00f6hnen sich vorzustellen, dass mehrere H\u00fcte und M\u00fctzen von verschiedener Gestalt sammt und sonders auf den Kopf gesetzt werden, aber er wird nie daraus den Begriff einer Kopfbedeckung bilden. Es findet zvrar schon bei den einfachsten Vorstellungen sinnlicher Gegenst\u00e4nde etwas dem Begriff bilden Analoges statt, wie Herdart mit Recht bemerkt, insofern in der Seele nicht ein allen Einzelheiten Entsprechendes, alle einem Dinge entsprechenden Theilvorstcllungen Zur\u00fcckbleiben, sondern nur ein dunkeles Bild von denjenigen Eigenschaften, welche einem Ding am best\u00e4ndigsten eigen sind. In diesem Sinne wird auch ein Thier Begrilfsvorstellungen haben. Hin Hund wird seinen Herrn noch erkennen, wenn er mit dieser","page":523},{"file":"p0524.txt","language":"de","ocr_de":"524 VI. Buch. Vorn Seelenleben. I. Abschnitt. Natur der Seele.\noder jener Kopfbedeckung oder ohne sie, nackt oder am K\u00f6rper bekleidet erscheint, er erkennt dasselbe Ding aus mehreren Verschiedenheiten heraus, weil einige Hauptsachen bleiben. Ein Hund wird hei sehr verschiedener Beschaffenheit eines Stockes diesen doch f\u00fcr das gleiche halten, und die Schl\u00e4ge dazu in Association bringen. Aber alle weiteren Begriffe, die \u00fcber die sinnlichen Erscheinungen hinausgehen, und auf der Wirkung in den Vorstellungsmassen beruhen, sind ihm fremd. Der Hund erkennt das gleiche Ding trotz seiner Verschiedenheiten wieder; aber die Vorstellung der Gleichheit, des W esentlichen, Best\u00e4ndigen im Gegensatz des Zuf\u00e4lligen, Verschiedenen, Ver\u00e4nderlichen sind ihm unzug\u00e4nglich. Denn diese beruhen auf den gegenseitigen Wirkungen von Vorstellungsmassen wie A, a, a, fl, und B, b, \u00df, 1) und C, c, y, C u. s. w., die sich gegenseitig, das Verschiedene dem Verschiedenen, A, B und C untereinander das Gleichgewicht halten, bis zu v\u00f6lliger Verdunkelung, so dass nur das in Allen vorkommende Gleichseyn \u00fcbrigbleibt.\nDie zusammengesetzten Seelenerscheinungen der Thiere k\u00f6nnen sehr zweckm\u00e4ssig seyn, ohne doch Etwas von einem Begriff zu enthalten, und ohne etwas mehr als Associationen von Sinneseindr\u00fccken zu seyn. Die Katze, welche die Th\u00fcre der Stube ihrer menschlichen Hausgenossen verschlossen findet, bleibt davor liegen bis sie eingelassen wird. Sie l\u00e4sst ihren instinktartigen Klagelaut h\u00f6ren, ihr wurde schon einmal oder mehrmal unter diesen Umst\u00e4nden die Th\u00fcre ge\u00f6ffnet und sie associirt die schon dagewesene Reihe der Acte, bis das durch die Association Geforderte wirklich wird. Ein Thierw\u00e4rter hielt einen seiner Affen auf einer langen Stange, eine Schnur hing von dem Affen herab. Der Herr wollte an der Schnur den Affen herabziehen, aber dieser, der keine Lust hatte herabzukommen, zog jedesmal die Schnur mit den H\u00e4nden herauf, sobald der W\u00e4rter sich anschiekle ihn herabzuziehen. Diess alles erfolgt nach fr\u00fcheren Associationen, nicht anders wie das Davonlaufen des Thiers, wenn der Stock gezeigt wird, mit dem er Schl\u00e4ge erhalten li\u00e2t, und das versch\u00e4mte Hingehen des Hundes, der auf einer That ertappt wird, die fr\u00fcher unangenehme Folgen f\u00fcr ihn gehabt hat.\nBei den Associationen des Menschen laufen ausser der Verbindung des Gleichzeitigen, Successiven und Aehnlichen best\u00e4ndig Begriffe mit ein. Vom Blauen springt die Phantasie auf die Malerei, von dieser auf Raphael, von diesem auf den Begriff der Sch\u00f6nheit, von diesem auf ein speciell Sch\u00f6nes, und so vom Allgemeinen zum Concreten, von diesem zu anderem Allgemeinen und anderen Concreten ab. Geschieht diess bei der Association unbewusst oder dunkel, so werden beim Denken das Allgemeine und Besondere mit Bewusstseyn verglichen, und das Eine auf das Andere angewandt.\nDie Begierden und Leidenschaften sind den Menschen und Thieren zugleich und gleich heftig eigen, aber in die Leidenschaften der Thiere gehen keine Begriffe, sondern nur sinnliches ein. Die Anh\u00e4nglichkeit und Treue der Thiere haben ihren Grund in der Association der angenehmen Erfahrungen mit der Vorstellung","page":524},{"file":"p0525.txt","language":"de","ocr_de":"2. Seelenleben. Menschen- und Thierseele.\n525\nund dem Bilde der bestimmten Person. Menschen und Thicre erstreben was angenehm ist und fliehen das Unangenehme. Aber nur die Menschen sind von Begriffen und Gedanken angenehm und unangenehm bewegt.\nAus dem Vorhergehenden l\u00e4sst sich schliessen, dass das Seelenleben des Menscher: und derThiere sich nicht bloss durch Dunkelheit und Klarheit der Vorstellungen, sondern durch Einfachheit und Zusammensetzung und Wechselwirkung der Vorstellungen unterscheiden. Das niedere hegriffslose Vorstellen kann sehr klar seyn. Das Begriffe bilden ist aber so wenig ein klareres Vorstellen, dass es vielmehr die gegenseitige Verdunkelung des Verschiedenen an einer Vorsteliungsmasse bis auf den Rest den Begriff voraussetzt. Das Begriffe bilden und Denken ist ein zusammengesetzterer, verwickelterer Process, und darum ist man im Schlaf und Fieber, wo das Vorstellen durch die Behaftung des Gehirns auf das Einfachere angewiesen wird, sehr wohl zum niedern thierischen Vorstellen, aber nicht zum Denken bef\u00e4higt.\nII. Abschnitt. Von den Seelen\u00e4ussemngen.\nAlle Th\u00e4tigkcit der Seele ist Vorstellen und Streben, und es giebt in dem ganzen Leben der Seele keine anderen Erscheinungen als Vorstellungen und Strebungen. Diese aber sind sowohl verschiedener Art, bald einfacher, bald zusammengesetzter, als nach ihrer Verkettung, Verbindung und Wechselwirkung unter sich und mit den Actionen des K\u00f6rpers verschieden. Die Vorstellungen, die Verh\u00e4ltnisse und Wirkungen der Vorstellungen aufeinander nennt man auch den Verstand, die Strebungen und die Verh\u00e4ltnisse der Strebungen unter sich und zu den Vorstellungen nennt man auch Gem\u00fctb und Gemiithsbewegungen oder Leidenschaften.\n1. Capitel. Vom Vorstellen.\nDie Vorstellung ist das, was von Sinneseindr\u00fccken und unseren k\u00f6rperlichen Actionen, insoweit sie bewusst sind, zun\u00e4chst in der Seele erregt wird und bleibt und zwar das den Sinneseindr\u00fccken selbst Entsprechende, oder das dem Allgemeinen von mehreren Sinneseindr\u00fccken Entsprechende, eine bestimmte R\u00fcckwirkung der Seele gegen einen bestimmten Eindruck (Energie in dem Sinne der Physiologen, Selbsterhaltung Herbart\u2019s.), Von anderen Dingen als von Sinneseindr\u00fccken, Zust\u00e4nden unsersK\u00f6r-","page":525},{"file":"p0526.txt","language":"de","ocr_de":"526 VI. Buch. Vom Seelenleben. II. ylbschn. V. <1. Seelen\u00e4usserungen.\npers und den daraus gebildeten Begriffen und ihren Verh\u00e4ltnissen giebt es keine Vorstellungen. Ein Beispiel von Vorstellungen der ersten Art ist die Vorstellung eines blauen Fleckes, eines bestimmten Tons, einer bestimmten Melodie, eines bestimmten Gem\u00e4ldes, eines bestimmten Baums. Vorstellungen der zweiten Art sind die der Farbe im Allgemeinen, des Schalls, des Geschmacks, Geruchs im Allgemeinen, der Tugend, Kraft, u. s. w. Man kann daher sinnliche Vorstellungen und Begriffsvorstellungen unterscheiden. Es giebt endlich wieder Vorstellungen, die aus beiden zusammengesetzt sind. Ich kann mir einen Menschen in einem gewissen geistigen Zustande vorstellen.\n1. Einfache Vorstellungen sinnlicher Gegenst\u00e4nde.\nWie verh\u00e4lt sich die Vorstellung zur Sinnesempfindung, die Vorstellung des Blauen zur Empfindung des Blauen, die Vorstellung einer Melodie zum H\u00f6ren einer Melodie? Es ist bekannt, dass von allen Sinneseindr\u00fccken eine Nachempfindung zur\u00fcckbleibt, die oft viel l\u00e4nger dauert, als der Reiz gewirkt bat; ist dis von der Empfindung entstehende und hernach durch die Erinnerung wiederkehrende Vorstellung, vielleicht seihst ein Rest der Sinnesempfindung, verblasst und geschw\u00e4cht, so dass die Vorstellung des Blauen von der Empfindung des Blauen nur durch die Intensit\u00e4t verschieden ist? Allein wir k\u00f6nnen die lebhafteste Vorstellung einer Farbe sehr gut von der letzten Spur einer wirklichen Empfindung unterscheiden, wir k\u00f6nnen uns, indem wir auf eine gelbe Fl\u00e4che sehen, eine blaue vorstellen, und es scheint hiernach, als wenn das Vorstellen vom Empfinden einer sinnlichen Qualit\u00e4t noch etwas durchaus Verschiedenes ist. Zur letztem geh\u00f6rt die Energie eines Sinnesorganes, z. B. der Schmerz, zur erstem geh\u00f6rt sie nicht. Die Vorstellung verh\u00e4lt sich daher zur Empfindung vielmehr wie ein Zeichen f\u00fcr eine Sache, aber wie ein Zeichen, welches nur f\u00fcr eine bestimmte Sache eintritt, und dessen Art daher von der Empfindung abh\u00e4ngig ist.\nF\u00fcr diese Ansicht spricht noch mehr die M\u00f6glichkeit von Vorstellungen, die in keinem Falle verblasste Sinnesempfindungen seyn k\u00f6nnen, indem sie nur das Allgemeine mehrerer Sinnesempfindungen enthalten, wie die Vorstellung der Farbe im Allgemeinen oder der Empfindung im /Allgemeinen Es l\u00e4sst sich darauf nicht erwiedern, dass es gar keine solche allgemeine Sinnesvorstellungen gebe, und dass immer eine bestimmte Farbe, etwas bestimmtes, vorgestellt werde. Denn wir wissen die Vorstellung der Farbe \u00fcberhaupt beim \u00fcrtheilen und Denken von der Vorstellung einer bestimmten Farbe zu unterscheiden, und ohne diese Unterscheidung w\u00e4re keine Vergleichung der Begriffe mit dem in einem Begriff Enthaltenen m\u00f6glich.\nDie Vorstellung des Sinnlichen ist also von der Sinnesempfindung der Qualit\u00e4t nach geschieden, sie ist ein bloss Gewusstes, die Sinnesempfindung ein in der Energie des Sinnes Empfundenes und Gewusstes, das erste ein Zeichen f\u00fcr das letzte. Dass Vorstellungen in den Sinnesorganen Zeichnungen hervorbringen k\u00f6nnen ist allerdings richtig, diess ist aber eine zusammengesetzte Erscheinung. Die Vorstellung und die Empfindung verhalten","page":526},{"file":"p0527.txt","language":"de","ocr_de":"1. Vom Vorstellen. Sinnliche Vorstellungen.\nbtl\nsich ohngef\u00e4br zu einander, wie ein Wort f\u00fcr eine Sache, eine Melodie in Noten f\u00fcr die Melodie seihst.\nDass der Gegenstand beim Wiederempfinden an seiner aul-liewahrten Vorstellung wiedererkannt und damit identisch genommen wird, setzt nicht sowohl die Gleichheit oder Aehnlichkeit der Vorstellung des Gegenstandes mit der Empfindung des Gegenstandes -voraus, als vielmehr, dass jede Empfindung immer auch eine bestimmte Vorstellung hervorruft, und dieselbe Empfindung immer dieselbe Vorstellung erzeugt. Wird nun die Empfindung nicht, wohl aber die Vorstellung aufbewahrt, so wird bei der erneuerten Empfindung auch wieder die Vorstellung in derselben Weise wiederentstehen, und mit der bei der fr\u00fchem Empfindung entstandenen Vorstellung, wegen der v\u00f6lligen Gleichheit beider Vorstellungen, f\u00fcr identisch genommen werden m\u00fcssen. So rufen auch Schriftzeichen Vorstellungen auf, ohne dass (lie Schriftzeichen dem Inhalt der Vorstellungen wirklich \u00e4hnlich sind.\nDie Vorstellung r\u00e4umlicher Gegenst\u00e4nde muss nicht noth-wendig im Raume ausgedehnt zu seyn. Vielmehr kann sich die Vorstellung zum sinnlichen Gegenstand, wie der Ausdruck einer Figur in einer algebraischen Gleichung zur Figur selbst oder wie die unendlich kleinen Differentialen zu den Integralen in der Analysis verhalten. Bei der Ungewissheit, ob im Opticus oder im Gehirn das sichtbare empfunden wird (siehe oben p. 351.), l\u00e4sst sich jedoch auch die Ansicht aufstellen, dass die Vorstellungen sinnlicher Gegenst\u00e4nde jedesmal auch in den Sinnesorganen, durch welche die Eindr\u00fccke stattgefunden haben, statt-linden, und also in r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnissen wiederkehren. Diese Ansicht ist von Henle in einer Abhandlung \u00fcber das Ged\u00e4chtnis in den Sinnen ( Wochenschrift f\u00fcr die gesummte Heilkunde 1838. 18.) aufgestellt und ausgef\u00fchrt, und es sind hierbei vorz\u00fcglich die Ged\u00e4chtnissbilder benutzt worden, welche nach einer langen Besch\u00e4ftigung mit einem sinnlichen Gegenstand, verschieden von den Nachempfindungen, und lange nach der Empfindung pl\u00f6tzlich mit der Sch\u00e4rfe\" des Sichtbaren vor das Auge zu treten scheinen. Der Anatom, der an einem Tage lange dieselben Configurationen zergliederte und dem Auge einpr\u00e4gte, sieht nach taglanger Ruhe und anderweitiger Besch\u00e4ftigung zuweilen pl\u00f6tzlich die Configuration der Can\u00e4lchen, der mikroskopischen Gebilde mit scharfen Umrissen, wenn gleich ohne eigenes Licht und ohne eigene Farbe vor sich. Davon wird sp\u00e4ter ausf\u00fchrlicher bei den Phantasmen gehandelt. Es scheint, dass die Empfindung sinnlicher Eindr\u00fccke sich von der Vorstellung derselben ohne die qualitative Energie der Empfindung dadurch unterscheidet, dass bei einer bewussten Empfindung eigene Zust\u00e4nde der Nerven, z. B. der Netzhauttheilchen, zugleich Eindr\u00fccke aut die Seele machen und dadurch die Vorstellung durch etwas modificiren, welches beim einfachen Vorstellen nicht vorhanden ist.\nWird die Vorstellung von einem sinnlichen Gegenst\u00e4nde oft mit der Vorstellung von einem gewissen, auch noch so unadae-","page":527},{"file":"p0528.txt","language":"de","ocr_de":"528 VI. Buch. Vom Seelenleben. II. Abschn. V. d. Seeleniiusscrungen.\nquaten und ganz willk\u00fcrlichen Zeichen verbunden, so treten sie in Folge der sp\u00e4ter zu erl\u00e4uternden Gesetze der Association in wechselseitige Verbindung, und es wird dann sp\u00e4ter jedesmal die Vorstellung des sinnlichen Gegenstandes hervorgerufen, so oft die Vorstellung des Zeichens eintritt und umgekehrt. Hierauf beruht die Verst\u00e4ndigung durch die Sprache, Notenschrift und dergl. Reihen von Zeichen rufen hier ganze Reihen von Vorstellungen sinnlicher Gegenst\u00e4nde hervor.\n2.\tBegrijfsuorstel/ungen. Begriffe.\nJede Vorstellung von dein Allgemeinen in mehreren Vorstellungen enthaltenen oder mehrere Vorstellungen umfassenden, ist ein Begriff. Die einfachsten Begriffsvorstellungen stehen den Einzelheiten noch so nahe, dass sie sich nur durch die Empfindungen selbst n\u00e4her bezeichnen lassen, wie das Blaue, das Rothe, der aus vielen blauen, rothen Einzelheiten abstrahirte Begriff des Blauen, Rothen, die Vorstellung der Farbe, die sich doch nur als das Gleiche bei verschiedenen Empfindungen bestimmen l\u00e4sst. Auch die allgemeinen Verstandesbegriffe, verkn\u00fcpfen sich mit Zeichen, und ihre Vorstellungen wiederholen sich mit den Zeichen. Bei diesen allgemeinen Begriffen trifft es sich oft, dass die mit ihren Zeichen gew\u00f6hnlich popul\u00e4r verkn\u00fcpften Vorstellungen nicht der wahren tiefem Bedeutung dieser Begriffe vollkommen entsprechen. Davon r\u00fchrt es dann her, dass viele Menschen statt mit wahren Begriffen, vielmehr wie man sagt, mit Worten denken, und dass es in einigen Sprachen oft so schwer ist, gewisse tiefere und nach wahren Begriffen gedachte Vorstellungen wiederzugeben.\n3.\tProcess des Vorstellens, Association der Vorstellungen.\nJede Vorstellung, welche in der Seele entsteht, beh\u00e4lt nur\nf\u00fcr einen gewissen und sehr kurzen Zeitraum ihre Lebhaftigkeit; sehr bald wird sic von anderen Vorstellungen, die ihr an Lebhaftigkeit zuvorkommen, verdr\u00e4ngt und diese erfahren dasselbe Schicksal. Eine auf diese Weise verdr\u00e4ngte Vorstellung ist nicht mehr bewusst, und es k\u00f6nnen immer nur eine oder mehrere untereinander verbundene Vorstellungen bewusst seyn. Bei den Sinnesempfindungen beobachtet man etwas Aehnliches. Von mehreren zugleich stattfindenden Einwirkungen auf verschiedene Sinne wird oft nur diejenige bewusst, auf welche sich die Seele fixirt, und zuweilen bleiben alle Sinneseindr\u00fccke unbewusst, wenn die Seele mit einer, den Sinneseindr\u00fccken fremden Vorstellung besch\u00e4ftigt ist.\nDie einmal dagewesenen Vorstellungen sind aber der Seele nicht verloren, sie treten unter gewissen Bedingungen mit ihrer ganzen Lebhaftigkeit wieder ein und werden wieder bewusst.\nEs fragt sich, ob das Bewusstseyn zu dem die Vorstellungen kommen, von der Vorstellung selbst verschieden ist, und ob die Vorstellungen davon gleichsam erleuchtet und hernach wieder verdunkelt werden, w'enn sie dem Bewusstseyn entfallen, oder ob die lebhafteste Vorstellung vielmehr nur die bewusste Vorstellung ist. Wir k\u00f6nnen uns aber ein blosses and von den Vorstellungen isolirtes Bewusstseyn schwer denken, auch das Selbstbewusstseyn","page":528},{"file":"p0529.txt","language":"de","ocr_de":"1. Vom Vorstellen. Association der Vorstellungen.\n529\nist Bevvusstseyn einer Vorstellung. Die Annahme, dass das Be-wusstseyn die lebhafteste, d. h. die wirkliche Vorstellung ist, scheint zur Erkl\u00e4rung der Erscheinungen zu gen\u00fcgen. Der Process des Vorstellens wird dadurch zu einem einfachem Vorgang, bei dein es nur darauf ankommt die Gesetze zu erkennen, nach welchen die Vorstellungen lebhaft oder bewusst oder wirklich werden, und aus dem Chaos der m\u00f6glichen Vorstellungen hervortreten, w\u00e4hrend bei der Annahme eines von den Vorstellungen getrennten verschiedenen Bevvusstseyns, immer wieder ein unerkl\u00e4rtes hinter den Vorstellungen liegt. Siehe Herbart Lehrl/. d. Psychologie p. 12, Stiedenrotu Psychologie p. 50. Darum k\u00f6nnen die unbewussten Vorstellungen, welche bloss m\u00f6glich, aber nicht wirklich sind, als ruhende Vorstellungen, die sich gegenseitig hemmen und im Gleichgewicht halten, die wirkliche oder bewusste Vorstellung aber als frei th\u00e4tige Vorstellung oder die sich vorstellende Vorstellung angesehen werden.\nEine Vorstellung, weiche einer andern wirklichen folgt, um seihst wirklich zu werden, muss der vorigen entweder \u00e4hnlich seyn oder wenn un\u00e4hnlich, ihr verwandt seyn dadurch, dass sie ihr schon einmal gefolgt ist, und sie mit ihr zu einer Vorstellung von gr\u00f6sserm Umfang verbunden war. Diese Verh\u00e4ltnisse, welche sich bedingen, haben insgesammt mit einander die Verwandtschaft gemein. Das \u00e4hnliche zieht sich an und so ziehen sich auch die \u00e4hnlichen Vorstellungen an. Siehe Hegel Encyclopaedic p. 422, vergl. Beseke Psychologie p. 32. 72. Man dr\u00fcckt sich ebenso richtig und ebenso bildlich aus, wenn man sagt, die Bewegung heim V orstellen pflanzt sich in dem durch Gleichartigkeit, Succession oder Zusammenseyn aneinander Gebundene, oder noch einfacher in dem bei ir\u00fcherm Vorstellen aneinander Gebundenen fort.\nDie Th\u00e4tigkeit in der bewussten Vorstellung besteht darin, dass sie in ihrer Intensit\u00e4t oder Helligkeit von einem Minimum bis Maximum w\u00e4chst und wieder abnimmt. Hierbei wirkt die wirkliche Vorstellung auf die Masse der ruhenden Intelligenz durch Wahlverwandtschaft, und gleichsam das Gleichgewicht zersetzend ein, und zieht zu sich die verwandte Vorstellung in Th\u00e4tigkeit oder pflanzt ihre Bewegung auf sie fort. Die herrschende Vorstellung hat selbst keinen Bestand, sie wird verdr\u00e4ngt in Folge einer neuen eintretenden Sinneserscheinung und der durcii sie hervorgerufenen Vorstellung. Sind diese der fr\u00fchem Vorstellung heterogen und tritt die neue Vorstellung in gr\u00f6ssere Th\u00e4tigkeit, was schon jede von einer Sinneserscheinung geweckte Vorstellung voraus hat, so k\u00f6mmt die fr\u00fchere Vorstellung um so mehr aus der Intention, als die sp\u00e4tere hineintritt. Zweitens hat aber auch hei dem ohne alle neuen Sinneseindr\u00fccke stattfindenden Vorstellen, eine einmal entstandene Vorstellung nicht lange Bestand Da sie als th\u00e4tige Vorstellung die verwandten anzieht, so entstehen bald mehrere Glieder, die sich anzie-hen. Von der Vorstellung eines Baums finde ich mich also-bald hei der Vorstellung eines Waldes. Die Vorstellung des Waldes wirkt aber auch anziehend auf das Verwandte und es","page":529},{"file":"p0530.txt","language":"de","ocr_de":"530 VI. Buch. Vom Seelenlehen. II. Ahschn. V. d. Seelen\u00e4usserungen.\nstellt sicli die Vorstellung des Holzes ein, diese wirkt wieder anziehend und es tritt die Vorstellung eines Geb\u00e4udes, eines Marmortempels, einer Statue ein. Diese Glieder h\u00e4ngen zwar unter sich durch Verwandtschaft zusammen, aber das letzte nicht mit dem ersten, die Vorstellung der Marmorstatue hat keine Verwandtschaft zur Vorstellung eines Baumes. Immer aber wird die letzte Vorstellung zu einem neuen Anziehungspuncte, w\u00e4hrend die \u00e4lteren Vorstellungen sich beruhigen. Soll eine Vorstellung eine l\u00e4ngere Dauer behalten, so muss sich ihre Anziehungskraft auf Vorstellungen \u00e4ussern, welche in der Verwandtschaft zur fr\u00fchem Vorstellung bleiben, z. B. indem man vom Ganzen zu einem Theil, von diesem zu einem andern Theil, zu den Verh\u00e4ltnissen der Theile und von Zeit zu Zeit wieder zur Vorstellung des Ganzen \u00fcbergeht. Zwei gleichartige Vorstellungen verst\u00e4rken sich gegenseitig, zwei heterogene schw\u00e4chen sich gegenseitig, eine traurige Vorstellung w\u00e4chst durch das Verwandte, eine freudige und traurige stumpfen sich ab und beruhigen sich gegenseitig, oder ist die eine im wachsen und anziehen des Verwandten begriffen, so ger\u00e4th die andere zur Ruhe.\nDie Anziehung der Vorstellungen erkl\u00e4rt, wie sich aus dem vorhergehenden ergiebt, bei weitem nicht alles, und es l\u00e4sst sich durchaus nicht einsehen, warum die neue oder angezogene Vorstellung lebhaft wird, die anziehende oder fr\u00fchere Vorstellung aber sich verdunkelt. W\u00e4re es mit der blossen Anziehung geschehen, so w\u00fcrden sich Haufen bilden, und nicht die neueste Vorstellung, sondern die Summe der schon vorhandenen gleichartigen Vorstellungen anziehend wirken. Macht man den Versuch abgezogen von allen Sinneseindr\u00fccken in der Stille und im Dunkeln sich etwas vorzustellen und diese Vorstellung dauernd zu behalten, so wird man finden, dass es durchaus unm\u00f6glich ist. Trotz aller Intention auf die Vorstellung Vogel wird uns schnell eine andre verwandte vorschweben, z. B. Pegasus, dann vielleicht Dichtkunst, sofort Homer, Achilles, Achillessehne, Muskellehre, Albin u. s. w. Es scheint daher, dass es ausser der Anziehung verwandter Vorstellungen noch etwas giebt, welches jeder Vorstellung so gut ihr Ende bestimmt, wie eine Bewegung eines K\u00f6rpers, der eine fortschreitende Bewegung in anderen hervorbringt, selbst doch zur Ruhe kommt und noch ehe sich die von ihm ausgehende Bewegung auf alle Glieder fortgepflanzt hat. Ohne eine solche Hemmung l\u00e4sst sich nicht einsehen, wie eine einmal bewegte Vorstellung zur Ruhe kommen soll. Bei der Wellenbewegung ist das Beruhigende das Streben nach dem physischen Gleichgewicht,. Bei der Bewegung der Vorstellungen kann nicht an ein materielles Hinderniss gedacht werden. Es scheint aber, dass auch hier das Gleichgewicht der in der Seele vorhandenen, aber beruhigten Vorstellungen die Storung des Gleichgewichtes durch die Spannung einer Vorstellung wiederherstellt. Die Dauer einer Vorstellung h\u00e4ngt daher von der Zeit ah, welche noting ist, bis sic ins Gleichgewicht getreten ist. Uriterdess hat sich die Bewegung der in der Spannung befundenen Vorstellung auf eine andere fortgepflaiizt und diese befindet sich jetzt in der Spannung.","page":530},{"file":"p0531.txt","language":"de","ocr_de":"i. Vom Vorst eilen. Association der Vorstellungen. 531\nDie Dauer einer Vorstellung h\u00e4ngt \u00fcbrigens auch von der Gr\u00f6sse ihrer Bewegung und davon ab, wie schnell und weit sich ihre Bewegung in ihrem eigenen Inhalte fortpflanzt.\nEs liegt also in der Natur des Vorstellens ein Fluss, indem die Spannung \u00fcber die fr\u00fcher beruhigten und im Gleichgewicht befindlichen Vorstellungen wie eine Welle weggeht, und es gera-then die Vorstellungen hierbei wie die Theilchen in einer lort-laufenden W7elle von einem Minimum in ein Maximum und wieder in ein Minimum der Bewegung. Es versteht sich von seihst, dass diess nur ein von k\u00f6rperlichen Erscheinungen hergenommenes Bild ist. Die sich fortpflanzende Spannung der Vorstellungen ist die W7elle, das Vorgestellte wechselt, wie die Theile, die nacli einander in die Welle geratben und von der fortschreitenden Welle hinter sich gelassen w'erden.\nDie Vorstellungen, \u00fcber welche sich das Vorstellen oder die Spannung fortpflanzt, sind immer nur verwandte. Alle in der beruhigten Masse der Vorstellungen befindlichen heterogenen oder indifferenten Vorstellungen werden davon nicht ber\u00fchrt. Die folgende Vorstellung ist der vorhergehenden weder absolut gleich, noch absolut davon verschieden, in einigem ist sie gleich, in anderen verschieden, wie Blatt und Baum, Gattung und Species, Achilles und Achillessehne, Meer und Fisch. Das folgende und vorhergehende sind sich n\u00e4mlich verwandt in Hinsicht des Inhaltes -oder der Theile, oder, wenn ganz heterogen, verwandt durch ein fr\u00fcheres gleichzeitiges Vorkommen in einer Sinnesanschauung, oder durch eine fr\u00fcher stattgefundene Succession. Mit Leichtigkeit wird das Nebeneinander einer Gegend, und das Successive einer erlebten Periode einer Reise nach einander vorgestellt. Auch die Gegens\u00e4tze sind nicht ausgeschlossen. Denn die Contraste sind nicht heterogen, sondern geh\u00f6ren unter den Begriff des Verwandten. Das Kleinste und Gr\u00f6sste, die leicht associirt werden, sind relativ, die Vorstellungen von gross und klein, von hell und dunkel liegen sich so nahe, dass klein und gross, heller und dunkler oft nur nebeneinander unterschieden werden k\u00f6nnen.\nDa jede Vorstellung viele verwandte hat, eine Vorstellung aber immer nur eine der verwandten zur Folge hat, so wird es auf die Disposition der verwandten und beruhigten Vorstellungen zur Bewegung ankommen. Vorstellungen die gestern und wiederholt da gewesen, bed\u00fcrfen zur Wiederkehr keiner so grossen Verwandtschaft als sehr selten und l\u00e4ngst vorhanden gewesene. Hierbei ergiebt sich, dass die beruhigten unbewussten Vorstellungen nicht als im absoluten Gleichgewicht befindlich angesehen werden d\u00fcrfen. .Sie bilden nicht bloss die ruhende Intelligenz, aus w'elcher das Vorstellen seine Nahrung erh\u00e4lt, und welche die bewegtere Vorstellung ins Gleichgewicht zieht, sie sind selbst auch nicht ohne kleine dunkel bleibende Bewegungen, und sie kommen zwar nicht auf den Tummelplatz des wirklichen Vorstellens, bleiben aber der Bewegung nicht ganz gleichg\u00fcltig bei den stattfindenden Spannungen, und geratben je nach den vorkommenden gespannten Vorstellungen in Disposition zur Spannung. Zuweilen bemerken wir deutlich, dass eine Vorstellung dunkel neben anderen hellen","page":531},{"file":"p0532.txt","language":"de","ocr_de":"532 VI. Buch. Vom Seeleniel en. II.Abschn. V. d. Seelen\u00e4usserungen.\nvorhanden, und im Streben zur Klarheit ist. Wir erinnern uns dunkel einer Person, einer Sache.\nFassen wir Alles zusammen, so kann behauptet werden, jede Vorstellung ist im Zustande der Bewegung, d. h. des Freiwerdens aus dem allgemeinen Gleichgewichte, im Stande eine verwandte in Bewegung zu setzen, und verliert, indem sie dieses thut, ihre eigene Bewegung. Ihre vollst\u00e4ndige Beruhigung erfolgt allm\u00e4hlig, nachdem schon l\u00e4ngst andere Vorstellungen an der Reihe sind, das geht daraus hervor, dass man sich der vorher da gewesenen Vorstellungen leicht erinnert.\nOh der Fluss der Vorstellungen heim wachenden Menschen jemals f\u00fcr einige Zeit zur Ruhe komme, ist zweifelhaft. Wir glauben zuweilen in einem so ruhigen abgespannten Zustand zu seyn, dass wir uns gar nichts vorzustellen Vorkommen. Indessen kann liier die gespannte Vorstellung eben die seyn, dass wir uns vorstellen nichts vorzustellen. Es steht jedoch nichts der Annahme entgegen, dass bei Abhaltung aller neuen Sinneseindr\u00fccke im Schlafe eine v\u00f6llige Beruhigung aller Vorstellungen f\u00fcr einige Zeit m\u00f6glich sei. Uebrigens ist der Fluss der Vorstellungen nicht bloss bei verschiedenen Menschen, sondern auch bei demselben Menschen, je nach den Umst\u00e4nden verschieden schnell. Geistige Anstrengungen und manche k\u00f6rperliche Zust\u00e4nde, Fieber, Nervenreizung, ein gewisses Stadium der Narkose, Schlaflosigkeit machen diesen Fluss schneller. Die Nahrung, zu viel der Spiri-tuosa, k\u00f6rperliche Ruhe, Schlaf machen ihn offenbar langsamer.\nDie Association der Vorstellungen beschr\u00e4nkt sich bei dem niedern Vorstelten, dessen auch die Thiere f\u00e4llig sind, auf Vorstellungen von r\u00e4umlich nebeneinander dagevvesenen Dingen, und auf die in der Zeit sieb gefolgten Vorstellungen von bloss sinnlichen Gegenst\u00e4nden und ihren Theilen. Die Begriffe sind auch Vorstellungen und sic gehen auch in die Association der Vorstellungen mit den Vorstellungen der Einzeldinge ein. Ein ver\u00e4ndertes Einzelnes kann den Begriff der Ver\u00e4nderung, der Begriff der Ver\u00e4nderung den Begriff der Bewegung associiren, der sich zu jenem als Art verh\u00e4lt. Das Grosse erregt den Begriff der Gr\u00f6sse, die Vorstellung des sehr Grossen die Vorstellung des unendlich Grossen, der des sehr Kleinen des un endlich Kleinen, das sich heim Wechsel mehrerer Eigenschaften Gleichbleibende erregt den Begriff des Wesens, dieser den des Zuf\u00e4lligen u. s. w. Bei dieser Art der Association der Begriffs vorstell ungen ist die zeitliche Succession und das r\u00e4umliche Nebeneina nder untergeordnet. Vielmehr besteht hier der Wechsel der Vorstellungen in einem best\u00e4ndigen Erweitern und Zusammenziehen dies Vorgestellten, die Association schreitet vom Einzelnen zum Allge meinen, von diesem wieder zum Einzelnen, von da wieder zu einem andern Allgemeinen u. s. w. fort. Narcisse, Blume, Pflanze, organisches Wesen, Thier, Elephant, Elfenbein, Kunst, Gem\u00e4lde, Pinsel, Haare, Horn, Schwiele, Narbe, Entz\u00fcndung u. s. w.\nBeim Lesen greifen zwei Reihen von Verstellungen ineinander, die der Zeichen und die der Dinge die sie bedeuten, wobei die Glieder der entsprechenden\" Reihe unter einan-","page":532},{"file":"p0533.txt","language":"de","ocr_de":"1. Vom Vorst eilen. Association der Vorstellungen.\n533\nder in st\u00e4rkerer Anziehung bleiben. Wird das Gelesene vorgetragen, so ist noch eine dritte Reihe vorhanden, ebenso heim Spiel der Musik nach Noten. Bei einem so zusammengesetzten Mechanismus, wo best\u00e4ndig Vorstellungen von Zeichen mit Vorstellungen von Begriffen und Einzelheiten abwechseln, muss nat\u00fcrlich die Verkettung der Vorstellungen unter sich erschwert sein* je mehr best\u00e4ndig die Vorstellungen der Zeichen die Kette der Ideen unterbrechen. Daher \u00fcberraschen wir uns so leicht beim Lesen unter einer ganz richtigen Association der Vorstellungen nach den Zeichen bei g\u00e4nzlichem Unverst\u00e4ndnis des Zusammenhanges der Vorstellungen.\nDas Vergessen einer Sache beruht auf der Versetzung ihrer Vorstellung ins Gleichgewicht mit den \u00fcbrigen, die Erinnerung auf der Bewegung dieser Vorstellung aus dem Gleichgewicht. Aus dem Vorhergehenden ergiebl sich, dass es ein Ged\u00e4chtniss als besonderes Geistesverm\u00f6gen nicht giebt. Keine Vorstellung ist verloren, und es giebt keine Th\u00e4tigkeit des Vorstellens ohne Ged\u00e4chtniss. In dem Grade als Jemand die F\u00e4higkeit der lebhaften Association verliert, verliert er auch das Ged\u00e4chtniss. Die Art des Ged\u00e4chtnisses ist daher auch verschieden nach der verschiedenen F\u00e4higkeit der Menschen zum niedere und hohem Vorstellen. Manche haben ein grosses Ged\u00e4chtniss f\u00fcr W\u00f6rter, S\u00e4tze, Reden, Succession der Einzelheiten und Nebeneinander der Einzelheiten, ohne ein gutes Ged\u00e4chtniss f\u00fcr Begriffsvorstellungen und ihre Verbindungen zu haben und ohne viel geistiges Talent zu besitzen. Diess k\u00f6mmt daher, dass ihre Association am meisten sich in Einzelheiten bewegt. Andere stossen beim Associiren best\u00e4ndig auf Allgemeinheiten, welche ihren Geist von den Reihen der zeitlich folgenden oder r\u00e4umlich verbundenen Einzelheiten abziehen, und zum Abschweifen auf Gedanken verleiten. Diese sind dann weniger zu dem Ged\u00e4chtniss in der Weise des niedern Vorstellens bef\u00e4higt, k\u00f6nnen aber ein sehr gutes Ged\u00e4chtniss f\u00fcr Verh\u00e4ltnisse der Vorstellungen nach den Begriffen haben.\nWir k\u00f6 nnen der Association der Vorstellungen eine Direction geben und dadurch auch das Erinnern dirigiren. Wenn ich mir die Vorkommnisse einer Reise vorstelle, so kann ich die Succession des Historischen auch r\u00fcckw\u00e4rts vom Ende bis zum Anfang der Reise ahlaufen lassen. Es wird dann das Ablaufen der Vorstellungen einer Hauptvorstellung untergeordnet, n\u00e4mlich der Vorstellung der umgekehrten Folge. Eigentlich ist auch diese Direction eine nothwendige, die Hauptvorstellung ist gegeben und das \u00fcbrige erfolgt mit physischer Nothwendigkeit, weil das Gesetzgegeben ist. Diese Direction wird so lange bleiben, bis die Hauptvorstellung ins Gleichgewicht gezogen ist. So kann ich mir vornehmen eine Zeitlang lauter Gegens\u00e4tze vorzustellen, weiss und schwarz, Wesen und Zufall, unendliches und endliches, klein und gross, innerliches und ausserliches u. s. w. Auf diese Weise suchen wir auch einer Sache uns zu besinnen. Oft gelingt es nicht, gerade darum, weil die zu einer verwandten Vorstellung gesuchte Vorstellung, z. B. das Wort zum Begriff nicht in der eingeschlagenen Direction der leitenden Vorstellung liegt. Die","page":533},{"file":"p0534.txt","language":"de","ocr_de":"534 VI. Buch. Vom Seelenleben. II. J/ischn. V. <1. Seclen\u00fcusserungen.\ngesuchte Vorstellung stellt sich auch zuweilen im Minimum der Klarheit ein, und wir merken, dass sie ganz nahe ist, aber nicht zur vollen Klarheit kommen kann, oder das gesuchte Wort ist da, aber fehlerhaft, weil ein Theil seiner Laute oder Schriftzeichen durch eine contr\u00e4re Vorstellung noch im Gleichgewicht gehalten ist. Zuweilen gelingt das Besinnen leichter, indem man von ganz heterogenen gleichg\u00fcltigen Dingen denkt oder redet, unter diesen findet sich dann leicht eine Assonanz die zur gedachten Vorstellung f\u00fchrt. Auch w\u2019enn nnm sich vornimmt etwas zu behalten und zur bestimmten Zeit auszuf\u00fchren, und es h\u00e4lt, sind die Vorstellungen unter der Herrschaft einer leitenden Vorstellung, und f\u00fchren von Zeit zu Zeit, avenn auch auf grossen Umwegen, auf das Thema zur\u00fcck.\nDas productive Vorstcllen oder Phantasiren in Vorstellungen unterscheidet sich vom einfachen reprodueirenden Vorstellen durch die freie Umgestaltung des Vorgestelllen \u00fcber die in den Erinnerungen vorgeschriebenen Grenzen. Man kann diese Productivity der lebendigen Vorstellung, diese Gestaltung derselben am besten am Abend im Dunkeln an sich seihst beobachten. Am hellen Tage ist die Gesetzm\u00e4ssigkeit in den Sinneserscheinungen ein Hinderniss f\u00fcr die reine Productivit\u00e4t des \\orslellens. Stellt man sich im Dunkeln ein Gesicht vor, so beh\u00e4lt es nicht leicht lange seine Formen, sondern es gestaltet sich um, verzerrt sich oft mit schreckender Lebendigkeit, und die daraus entstehenden Gestalten sind keineswegs nur solche, die durch die Sinne schon einmal fertig in die Seele eingegangen sind, sondern neue \u00fcberraschende Combinationen. Man hat sich dar\u00fcber gestritten ob die Phantasie neues zu bilden verm\u00f6ge- Die Elemente aller Phantasiegebilde sind immer nur aus Vorstellungen genommen, die durch Erfahrung in uns gekommen sind. Aber die Ver\u00e4nderung und Combination dieser Elemente zu neuen Producten ist vollkommen frei. Im dunkeln Sehfelde vor den Augen zieht die Phantasie alle beliebigen Grenzen, und da die Gestalten bloss von ihren Grenzen abhangen, und da jederlei Grenze vorgestellt werden kann, so m\u00fcssen durch diese Tb\u00e4tigkeit Figuren vorgestellt werden k\u00f6nnen, w'elche nie als solche da gewesen sind. Ein weniger productives Vorstellen wird auch hier beim blossen Com-biniren des schon fr\u00fcher vorgestellten bleiben, wie bei der \\ er-bindung der Fl\u00fcgel des Vogels mit der Schulter des Pferdes, des Fischschwanzes mit der Gestalt eines Vierfiissers. Die freieste Productivit\u00e4t wird ausser der Combination des fr\u00fcher vorgestellten dieses auch ver\u00e4ndern, sich erweitern, uingestalten lassen. Wenn Goethe sich eine Blume im dunkeln Sehraume vor den geschlossenen Augen vorstellte, so nahm diese Gestalt, wie er von sich selbst erz\u00e4hlt, die \u00fcberraschendsten Ver\u00e4nderungen an, sie entwickelte neue Bl\u00e4tter von neuen Formen aus sich, und wandelte sich in die mannigfaltigsten Figuren mit einer gewissen Gesetzm\u00e4ssigkeit und Symmetrie um.\n4. Denken.\nDer Anfang des Denkens ist das Bcgrilfbilden oder das Abs-trahiren. Dass sich Vorstellungen associiren und verdr\u00e4ngen,","page":534},{"file":"p0535.txt","language":"de","ocr_de":"1. Vom Vorstdien. Denken.\n535\nist viel leichter, als dass sie gleichzeitig auf einander wirken nnd daher das Begriffbilden schwieriger als das Phantasiren. Wenn aber zwei oder mehrere verschiedene Vorstellungen gegenw\u00e4rtig sind, so verdunkeln sie sich so weit sie ungleichartig sind, und es bleibt unverdunkelt der Rest, worin sie gleich sind, bewegt zur\u00fcck, denn das Gleiche verst\u00e4rkt sich. Siehe oben p. 524. Von dieser Abstraction ist zuin Urtheilen nur ein Schritt, und das Urtheilen ist auch, ein Vorstellen auf einer h\u00f6hern Stufe. Das Vorgcstellte sind nicht mehr einfache Vorstellungen tinter sich und mit Begriffsvorstellungen abwechselnd, sondern Verh\u00e4ltniss-Vorstellungen. Der Gedanke ist die Vorstellung von dem Verh\u00e4ltniss zweier oder mehrerer Vorstellungen zu einander. Die einfachste Th\u00e4tigkeit der Seele beschr\u00e4nkt sich auf ein best\u00e4ndiges Abspringen von Einem zum Andern. Beim letztem folgen sich a, b, c, d u. s. w. ohne dass der Bezug derselben zu einander bewusst, d. h. vorgestcllt wird, beim Denken wird das Verh\u00e4ltniss von a\\b\\c\\d u. s. w. vorgestellt. Auch eine Reihe Vorstellungen, in welcher Begrilfs-vorstellungen unterlaufen, ist noch kein Denken, z. B. die Association von Kerze, Licht, Blau, Optik, Acustik, Wellen, Meer, Tiefe, Unendliches. Denn die Copula dieser Einzelheiten und Begriffe, welche hier das Gesetz der Anziehung des Aehnlichen ist, geht bloss dunkel in der Seele vor sich und wird selbst nicht vorgestellt, nur das copulirte oder associirte f\u00e4llt ins Bewusstsevn. Ich stelle mir dabei nicht vor blau ist licht, Meer ist tief. Beim Urtheilen f\u00e4llt auch die Copula das ist ins Bewusstseyn und ist Vorstellung. Zu jedem Gedanken geh\u00f6ren daher mindestens drei Vorstellungen, wovon zwei durch die dritte oder die Vorstellung der Copula verbunden werden.\nDie einfachste Copula ist die Vorstellung der Gleichheit oder Aehnlichkeit, sie wird durch das Wort seyn ausgedr\u00fcckt. Entweder ist der Inhalt der einen Vorstellung dem Inhalt der andern ganz gleich, oder er ist nur ein Theil davon. In beiden F\u00e4llen wird die Copula durch ist ausgedr\u00fcckt.\nDer erste Fall ist A\u2014A. Ein Ding ist sich selbst gleich, oder a und b sind sich so gleich, dass sie f\u00fcr eins genommen \u25a0werden m\u00fcssen, a-=.b oder a\u2018.b=za\u2018.a.\nIm zweiten Fall ist die eine Vorstellung nur ein Theil der andern, z. B. Ultramarin ist blau, T\u00f6ne sind Schwingungen. Nicht alle Schwingungen sind T\u00f6ne. Unpassend dr\u00fcckt man diese Gedanken durch a = a aus. Denn der Gedanke T\u00f6ne sind Schwingungen gleicht ganz dem Gedanken in 4 ist j 0(ler\u2014enthalten. Die Formel dieser Verbindung ist also, wenn T\u00f6ne durch a, Schwingung durch b ausgedr\u00fcckt wird, a=b \u2022+\u25a0 x oder T\u00f6ne sind gleich Schwingungen und einiges mehr, oder auch a \u2014 bXy oder ~ = b, wodurch ausgedr\u00fcckt W'ird, dass der Inhalt der einen Vorstellung nur einen Theil vom Inhalt der andern ausmacht.\nIn den meisten Gedanken ist seyn oder die Vorstellung der ganzen oder theilweisen Gleichheit die Copula. Es kann aber auch jeder andre Verh\u00e4ltnissbegriff die Verbindung bilden.\nMuller's Physiologie. 2r Btf. 111.\t35","page":535},{"file":"p0536.txt","language":"de","ocr_de":"536 VI. Buch. Vom Seelenleben. II- Absrhn. V. d. Seelentiusserungen.\nVerbindungen von Vorstellungen mit Begriffs Vorstellungen durch eine Begi'iffsvorstellung sind Urthcile, wie die vorhergehenden Beispiele* Werden hingegen Urtbeilc seihst in dasselbe Verh\u00e4ltniss zu einander gesetzt, durch die Anerkennung der Identit\u00e4t oder durch die Vorstellung der theilweisen Gleichheit, wie heim einfachen Urtbeil, so entsteht der Schluss, dessen Schema ist: * = fl, yz=zoc, folglich y = a.\nAusser diesen allgemeinsten Formen der Gedankenwelt giebt cs noch eine Menge von Begiilfen, welche als Nebenvorstellungcn in die Urtheile und Schl\u00fcsse eingeben, und welche in der Sprache durch die Partikeln bezeichnet werden. Die Modalit\u00e4t der Urtheile und der Schl\u00fcsse, ihre Verkettung und ihre Verh\u00e4ltnisse werden dadurch ausgedr\u00fcckt.\n5. Selbstbewusstseyn.\nNeben den Verh\u00e4ltnissen zwischen den Vorstellungen bilden sich Vorstellungen von der Aussenwelt und dem Subject oder Tch, in welchem die Vorstellungen stattlinden. Den Grund dazu bieten die organischen A ppetite gegen Dinge, die uns gleichsam vervollst\u00e4ndigen. Sch\u00e4rfer bildet sich diese Vorstellung aus durch die Erfahrung von dem Unterschied unsres empfindenden K\u00f6rpers und der Aussenwelt, als Ursache seiner Empfindungen, und als R\u00fcckwirkendes gegen seine Actionen. Die Anschauungen unserer K\u00f6rpei'theile bleiben constant unter allem Wechsel der Aussenwelt. Dieses Sicbgleicbbleibende lernen wir als unsern K\u00f6rper kennen, insofern wir sehen, dass dieses unser k\u00f6rperliches sich mit unserm Willen ver\u00e4ndert, das \u00fcbrige sich aber gegen unseren Willen ver\u00e4ndert. Die von uns empfundenen spontanen Actionen lassen Vorstellungen zur\u00fcck, und wir lernen diese Actionen von der Masse der Vorstellungen von anderen Dingen unterscheiden. So entsteht die Vorstellung vom eigenen Lehen. Die Begriffsvorstellung von Allem, was zum eigenen Lehen geh\u00f6rt, ist das Ich. Alle unterschiedene Eigenwirkungen lassen n\u00e4mlich, indem sie sich gegenseitig verdunkeln, den Begriff des Ichs als P*est oder Gleichbleibendes zur\u00fcck. Das Ich als vorstellendes vorgestellt, oder die Vorstellung von den Vorstellungen als Behaftungen des Ichs ist das Selbstbewusstseyn. Letzteres ist offenbar kein urspr\u00fcnglicher, sondern sp\u00e4t entstehender Zustand. Unter den urspr\u00fcnglich entstehenden Empfindungen und Vorstellungen ist ferner anfangs kein Unterschied zu machen, in wie fern sie sich auf das absolut \u00e4ussere Object oder auf das Object beziehen, das wir als unsern K\u00f6rper kennen lernen.\n6. Gef\u00fchle.\nDie Bedeutung des Wortes Gef\u00fchle ist in der Sprache und in der Psychologie so mannigfaltig, dass dieser Ausdruck zum sichern Gebrauch wenig geeignet ist. Bald versteht man darunter Unlust und Lust oder ihnen verwandte leidenschaftliche Zust\u00e4nde, bald Zust\u00e4nde, in welchen gar nichts leidenschaftliches enthalten ist, und welche man nur f\u00fcr dunkele Vorstellungen halten kann, wie Wahrheitsgef\u00fchl, Vorgef\u00fchl, bald hingegen gewisse leitende oder herrschend gewordene Vorstellungen, wie Ehrgef\u00fchl, sittliches Gef\u00fchl, Schicklichkeilsgef\u00fchl. Einige Psychologen mengen","page":536},{"file":"p0537.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom Gem\u00fcth. Einfache Gem\u00fcthszust\u00e4nde.\n537\nalles dies durcheinander, und doch beziehen sich alle Gef\u00fchle der Lust und Unlust nur auf Zustande des Subjects und seine Strebungen, w\u00e4hrend sittliches Gef\u00fchl, aesthetisches Gef\u00fchl u. a. nur ganz objective Verh\u00e4ltnisse betreffen. Die meisten geistigen Zust\u00e4nde befinden sich auf dem Gebiet der Vorstellungen. Besondere Verh\u00e4ltnisse der Vorstellungen mit besonderen Namen zu bezeichnen ist ganz angemessen. Die W\u00f6rter Gedanken, Begriffe, Urtheile dr\u00fccken solche Verh\u00e4ltnisse aus, und daher w\u00fcrde auch das Wort Gef\u00fchle einem bestimmten Verh\u00e4ltniss angemessen seyn. Aber leider bezeichnet es ganz verschiedene Zust\u00e4nde.\nDie Gef\u00fchle der Unlust, Lust und so vieler verwandter Zust\u00e4nde werden wir in dem folgenden Capitel untersuchen, es sind vorgestellte Strebungszust\u00e4nde.\nDie sogenannten Gef\u00fchle, welche ausgebildete leitende und herrschende Vorstellungen, Begriffe und Urtheile sind, wie das sittliche Gef\u00fchl, Ehrgef\u00fchl, aesthetische Gef\u00fchl, Schicklichkeitsgef\u00fchl u. a. und die Verirrungen dieser Begriffe, die man Vorur-theile nennt, unterscheiden sich von anderen Vorstellungen, Begriffen und Urtheilen nicht, als dass sie eben wegen ihrer Anwendbarkeit in der practischen Beziehung zu den Menschen zu einer Richtschnur werden. Die grosse Anzahl vieler anderer sogenannter Gef\u00fchle bedeutet nichts Anderes als unzergliederte und deswegen dunkle Vorstellungsmassen, von einem gewissen Ge-sammteindruck, welche der Seele vorschweben, wie die Ahnungen, Vorgef\u00fchle.\nII. Capitel. Vom Gem\u00fcth, von den Leidenschaften und von der Freiheit.\nManche Vorstellungen sind von etwas begleitet, welches auf die Vorstellung selbst nicht reducirt werden kann, es ist das Streben. Wird Schmerz empfunden und diese Empfindung vorgestellt, so ist auch ein Streben dagegen vorhanden. Auch die blosse Vorstellung von Schmerz und Lust erregt Streben. Jede Hemmung dieses Strebens erregt unangenehme, jede F\u00f6rderung angenehme Gef\u00fchle. Es giebt also in der Seele ausser dem Vorstellen etwas ganz anderes zust\u00e4ndliches, dessen Steigerung nicht, wie bei den Vorstellungen, gr\u00f6ssere Klarheit, Sch\u00e4rfe des Vorge-gestellten, sondern eine Heftigkeit des Strebens ist. Die Strebungen der Seele gehen nicht bloss darauf aus, Schmerz und Vorstellungen von Schmerz zu meiden und Lust und Vorstellungen von Lust zu suchen, sondern auch in einer gewissen Gr\u00f6sse des Eigenlebens zu behalten, darin zu beharren. Das Streben der Seele ist im allgemeinsten Sinne Selbstbeharrungsstreben und Streben nach Erweiterung des Selbst. Alles Hemmende macht unlustig, alles Erweiternde lustig. Die Objecte wechseln, das Streben bleibt. b\u00fcr die Vorstellung ist heute hemmend, was morgen gleichg\u00fcltig oder sogar f\u00f6rdernd ist. Es wird daher zu verschiedenen Zeiten verschiedenes erstrebt und immer dasjenige,\n35*","page":537},{"file":"p0538.txt","language":"de","ocr_de":"538 VI.Buch. Vom Seelenleben. II.Abschn. V. d. Seelen\u00fcusserungen.\nwas der Integralion oder Erweiterung des jedesmaligen Seelenzustandes adaerjuat ist.\nDas Streben ist best\u00e4ndig mit Vorstellungen verbunden. Erstens wird diess Streben und die Empfindungen und Actionen, die es im K\u00f6rper bervorbringf, vorgestellt; dann fallen die Dinge, die erstrebt werden, best\u00e4ndig ins Bewusstseyn. Allen Vorstellungen, die mit Strebungen sieb verbinden, ist die Vorstellung vom Selbst, vom Eigenleben das Grundthema. Aber die Vorstellung vom Selbst und seiner Ver\u00e4nderung macht noch keine Leidenschaft aus ohne Streben. So ist die Vorstellung vom jetzigen Zustand des Selbstes gegen den fr\u00fcheren, //\u2014a noch keine Traurigkeit, und die Vorstellung A-\\-a noch keine Freude. Vielmehr geh\u00f6rt dazu, dass eine Leidenschaft werden soll, die Strebung, die durch Vorstellungen gehemmte oder erweiterte Strebung.\nAnderseits sind aber auch durchaus nur solche Vorstellungen im Stande Leidenschaft zu erregen, welche auf das Selbst Bezug haben.\nSo lange Ver\u00e4nderungen, ohne Beziehung auf uns und unserer Selbstempfindung verwandte Wesen, gedacht werden, fliessen ihre Vorstellungen auch an uns vor\u00fcber ohne Leidenschaft, und sie sind nicht unangenehm, sie erregen weder Traurigkeit noch Begierden. Sobald aber die. Vorstellung von uns selbst eintritt, von einer Schm\u00e4lerung oder Erweiterung von uns selbst durch die andere Vorstellung, so tritt, so lange gestrebt wird, die Leidenschaft der Traurigkeit und Freude und das Selbsterhaltungsstreben in der Form der Begierden ein, indem die zur Vorstellung gekommene, geschm\u00e4lerte oder mit Mangel behaftete Gr\u00f6sse des Selbst zur Integration strebt. Das Selbstgef\u00fchl ist daher ein Element aller Leidenschaften. Die Menschen gerathen zw'ar auch \u00fcber blosse Meinungen ohne mein und dein in leidenschaftlichen Streit; aber bloss dann, w'enn sie eine gewisse Meinung mit ihrem Selbst durch Gew\u00f6hnung, Erziehung, Schicksale idenlificirt haben und sie gleichsam einen Theil des Selbst in der Vorstellung ausmacht. Wir gerathen auch in Leidenschaft f\u00fcr Andere und \u00fcber Ereignisse die Anderen begegnen, aber nur in w iefern sie unser Selbstgef\u00fchl interessirt haben, als Andere uns \u00e4hnlich sind, und als in dem Geschick der Andern das eigene Selbst beeintr\u00e4chtigt wird. Ein leidenschaftliches Verfechten von Meinungen verliert alles leiden-denschaftliche und reducirt sich auf das objective, sobald man das Object ohne Beziehung zum eigenen Selbst aufzufassen vermag. Ist man mit einer Untersuchung besch\u00e4ftigt und man st\u00f6sst nachdem man lange einer Meinung gefolgt war, auf eine Thatsache, welche beweist, dass diese uns schon stillschweigend eigen gewordene Meinung falsch ist, so ist das unangenehm, weil diese Meinung schon einen Theil von unserm Selbst auszurnachen angefangen bat. An und f\u00fcr sich sollte uns eine nicht ver\u00f6ffentlichte, in der Stille concipirte und in der Stille abgelegte Ansicht gleichg\u00fcltig lassen, und vielmehr das Bichlige allein angenehm seyn und dennoch ist es eine allgemeine Erfahrung, dass eine zum Irrlhum gewordene lange gehegte Meinung traurig macht. Erst wenn die den Irrthum beweisende neue Erfahrung vielfach durchdacht und gleich-","page":538},{"file":"p0539.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom Gemiith. Einfache Gem\u00fcthszust\u00e4nJe.\n53.9\nsam wieder ein Theil unseres Selbst geworden ist, ist das Gleichgewicht hergestellt.\nAlle Leidenschaften lassen sieb auf Lust, Unlust, Begierde zur\u00fcckf\u00fchren, und in allen wiederholen sich als Elemente Vorstellung des Selbst oder Eigenlebens, Vorstellung der dem Eigenleben entgegengesetzten, dasselbe hemmenden oder erweiternden Gr\u00f6ssen, Selbsterhaltungsstreben und Hemmung oder F\u00f6rderung desselben.\nWas das Verh\u00e4ltnis der Leidenschaften zur Organisation und zum Gehirn betrifft, so k\u00f6mmt es, wie ich glaube, vor allem darauf an, die schon \u00f6fter er\u00f6rterte Thatsache voranzustellen, dass das organische Wirken vor dem Vorstellen ist und durch die Organisation des Gehirns erst das Seelenleben in der Weise des Vorstellens m\u00f6glich macht. Vorstellen und Gem\u00fcthsbewegung verhalten sich nicht gleich in Beziehung auf das Gehirn. Ein unbewusstes Streben der Organismen hat seinen Grund nicht allein im Sensorium commune. In allem Organischen findet sich ein Umsichgreifen und Beharren im Besitz. Auch die Pflanze strebt wachsend in diesem Sinn, und insofern ist das Streben auch im Menschen viel weiter begr\u00fcndet, und vielmehr eine im ganzen Organismus sich \u00e4ussernde, die Organisation selbst bedingende Th\u00e4tigkeit. Bei den Thieren hat aber dieser orgauische Appetitus seinen R.eflex im Sensorium, und erscheint dem vorstellenden Wesen, was die auf die Aussenwelt und das Ich sich beziehenden Vorstellungen unterscheidet, als eine dunkle instinktartig sich geltend machende Macht des Eigenlebens (ich will), als eine Macht, die sich selbst fort und fort bejaht und affirmirt und aus allen mit dem Eigenleben zusammenh\u00e4ngenden Vorstellungen Nahrung zieht, indem sie Hemmung und Erweiterung darin vorfindet. Ob die Aufnahme und Sammlung dieser Reflexe im Gehirn irgendwo durch die Organisation desselben erleichtert ist, ob es in ihm in diesem Sinne eine affective Provinz giebt, diess zu verneinen liegen keine allgemeinen Gr\u00fcnde vor. Es fehlen aber auch alle Thatsachen, welche die Absonderung von Organen f\u00fcr die Appetite wahrscheinlich machten, und jedenfalls giebt es nnr \u00fcberhaupt einen einzigen uncl gleichen Appetitus, eine einzige urspr\u00fcngliche Sucht der Beharrung und des Umsichgreifens, welche verschiedene Vorstellungsobjecte haben kann und durch die organischen Zust\u00e4nde derjenigen Organe, die mit der Aussenwelt in specifischem Verkehr sind, Richtung erhalten kann. Siehe \u00fcber die Grn/sche Sch\u00e4dellehre oben I. Band, 3. Auflage //. 854.\nMan kann durch bloss k\u00f6rperliche Ver\u00e4nderungen einmal weniger, eia andermal mehr zu Leidenschaften, zu Freude, Traurigkeit und Begierden disponirt seyn. Die Leidenschaften und Begehrungen der Liebe werden bei geringer Disposition zur organischen Mittheilung und Erregung und hinreichender \u00e4usserer Ursache zuweilen gar nicht erregt, dagegen bei geringer \u00e4usserer Ursache und grosser organischer Spannung im Nervensystem und den Geschlechtstheilen sehr leicht erreg!. Eine Leidenschaft, eine Zutraulichkeit, Offenheit, Freundschaft, die im n\u00fcchternen Zustande nicht m\u00f6glich ist, wird durch Ver\u00e4nderung der organi-","page":539},{"file":"p0540.txt","language":"de","ocr_de":"540 VI. Buch. Vom Seelenleben. II.Ahsclm. V. d. Seelen\u00e4usserungen.\nsehen Spannung m\u00f6glich. Daraus sieht man, dass die Gr\u00f6sse der organischen Spannung zur Strebung, bei einer das Selbstgef\u00fchl betreffenden Vorstellung die Intension dieser Vorstellung bestimmt und ihren Impuls oder Heftigkeit ausmacht. Die Erregbarkeit der organischen Zustande compensirt die Gr\u00f6sse des Erregenden zur Erzielung eines Quantums von Leidenschaft.\nDie Strebungszust\u00e4nde der Seele haben wieder organische Folgen in vielen oder den meisten Theilen des ganzen Organismus. Auch leidenschaftlose Vorstellungen erregen bei geh\u00f6riger Lebhaftigkeit Wirkungen in vom Gehirn verschiedenen Theilen, Sinnesorganen, Muskeln, wie die Visionen und die Bewegungen zeigen, die von Vorstellung einer Bewegung, z. B. des G\u00e4hnens entstehen. Siebe oben p. 89. Aber die Wirkungen der Strebungen auf den Organismus sind verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig viel st\u00e4rker und umfangreicher. Jede Hemmung des Selbstbeharrungsstrebens bringt deprimirende Wirkungen auf das geistige Verm\u00f6gen und die k\u00f6rperlichen Actionen, unangenehme Empfindungen und Hemmung der Bewegungen hervor, jede Erweiterung des Selbstbeharrungsstrebens und Strehens zur Integration wirkt dagegen imcitirend auf Empfindung und Bewegung, und in beiden F\u00e4llen wird selbst die Ern\u00e4hrung und Absonderung ver\u00e4ndert. Diese Mittheilung geht vom Gehirn aus. Nach allen Richtungen der Nerven verbreitet sie sich und bringt \u00f6rtlich st\u00e4rkere Wirkungen nach der verschiedenen Disposition der Individuen hervor. Hierbei entstehen besondere Str\u00f6mungen nach den Organen, die das Vorgestellte der Leidenschaft realisiren, z. B. zu den Geschlechts-theilen bei den Liebesappetiten, zu den Speicheldr\u00fcsen bei den Verdauungsappetiten. Deswegen ist der Sitz der verschiedenen Leidenschaften aber nicht in den verschiedenen peripherischen Organen. Die Organe haben nur so fern Antheil daran, als ihre Erregung auf das Sensorium und die organischen Zust\u00e4nde bei den Strebungen wirkt. Bei denjenigen Leidenschaften, wo die Ausf\u00fchrung der Begierden nicht durch besondere Organe vorgesehen ist, ist das organische Gefolge eine ganz allgemeine Irradiation durch das Nervensystem, Bewegungen, Empfindungen, Ern\u00e4hrung ver\u00e4ndernd, erhebend und angenehm erweiternd in den excitirenden, deprimirend in den deprimirenden Leidenschaften. Der mit besonderen localen Diathesen Behaftete erf\u00e4hrt die Excitation und Depression vorzugsweise an diesen, z. B. an der Leber, am Herzen, am Darmkanal, am R\u00fcckenmarkssystem. Siehe das N\u00e4here hier\u00fcber Bd. I. .\u2018J. Auf], p. 833. Bd. II. p. 90.\nDie Grundleidenschaft der Traurigkeit hat die Vorstellung des Unangenehmen zum Object, die Grundleidenschaft der Freude vom Behagen bis Jubel hat die Vorstellung vom Angenehmen zum Object. Das Unangenehme ist im einfachsten Fall und meist bei dem Thiere die unangenehme k\u00f6rperliche Empfindung. Die davon herr\u00fchrende Hemmung der Strebung ist die Traurigkeit. Da an die Stelle der Empfindungen die Vorstellungen treten, so ist das Unangenehme auch die Vorstellung der unangenehmen Empfindung ohne Wirklichkeit der Empfindung, und auch die Vorstellung macht traurig, und erregt wieder unangenehme wirk-","page":540},{"file":"p0541.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom Gemiith. Einfache Gemiithszustande.\n541\nliebe Empfindungen. Aber auch jede nicht aut Empfindung bez\u00fcgliche Vorstellung, welche eine Hemmung des Strebens invol-virt, ist dem Menschen unangenehm und erregt die Traurigkeit. A\u2014a. Die Hemmung des Strebens bei dem Selbstgef\u00fchl A durch die Vorstellnng A\u2014a ist das Trauern. So lange das Selbstgef\u00fchl nicht bis auf A \u2014 a reducirt ist, ist man traurig, die Traurigkeit erneut sich mit der Vorstellung A, so lange das \u2014 a nicht aufgehoben ist. Ist das Gleichgewicht ganz hergestellt, so hat das Unangenehme allen Stachel verloren. Daher werden die vorgestellten Uebel durch die Zeit geheilt.\nDas Angenehme ist im einfachsten Fall und meist bei dem Thiere das, was k\u00f6rperliche Empfindung von Behagen und Lust und freien Vorgang der k\u00f6rperlichen Actionen hervorbringt, auch die blosse Vorstellung davon ist angenehm und macht Freude. Im Allgemeinen macht aber beim Menschen jede Vorstellung freudig, welche das vorgestellte strebende Eigenleben erweitert, ein Hinderniss beseitigt und uns befreit. A -{- a. Das Streben mit Erweiterung des Selbstgef\u00fchls A bis zu A+a ist das Behagen und Erfreuen, es dauert bis zur Herstellung des Gleichgewichts zwischen A und A+a. 1st dieses eingetreten, so hat a keine Wirkung mehr, es sei denn dass die Vorstellung A eintritt und von neuem in A+a \u00fcbergeht.\nDas angenehm vorgestellte und noch nicht mit uns vereinigte wird begehrt. Das Begehren beruht darin, dass zwei Vorstellungen von Zust\u00e4nden unsers Eigenleben durch das Streben in Spannung gegen einander treten, welche sieh nicht sogleich ausgleichen kann. Die Vorstellung a ist das Angenehme; die Vorstellung des wirklichen Zustandes unserer seihst ist A \u2014 \u00ab; die Vorstellung des m\u00f6glichen Zustandes unserer seihst ist A -f- a. Wir streben diese Vorstellungen ins Gleichgewicht zu setzen, sind aber durch ein Hinderniss in Spannung erhalten. Die Spannung zwischen A \u2014 a und A + a durch das Streben ist das Begehren, es unterscheidet sich von der Freude, dass das Eine nicht in das Andere \u00fcbergeht, sondern das Eine das Andere balancirt, so dass das A\u2014a die Vorstellung von A-f-\u00ab hervorruft, die Vorstellung von A-J-a aber die Vorstellung von A \u2014 a. Sobald sich das wirkliche Eigenleben von A\u2014\u2022a zu A und A + a erweitern kann, geht das Begehren in Freude (in diescin Fall Befriedigung) \u00fcber. Die Spannung zwischen dem wirklichen A \u2014\u2022 a und A ist das Streben das Hemmende zu entfernen, die Spannung zwischen A \u2014 a und A+a ist das Streben das Erweiternde zu erreichen.\nDurch die Leidenschaften werden unsere Vorstellungen von deji Verh\u00e4ltnissen der Dinge leicht fehlerhaft. Sobald die Dinge ausser uns oder auch sobald Wahrheiten, Meinungen in Beziehung zu uns als strebenden gedacht werden, sind wir nach dein Vorhergehenden auch im Stande, objective \\ erh\u00e4ltnisse leidenschaftlich aufzufassen. Durch die Leidenschaft erhalten die Meinungen von objectiven Dingen eine Intensit\u00e4t, dass sie durch Gr\u00fcnde nicht widerlegt werden k\u00f6nnen. An und f\u00fcr sich ist keine Vorstellung von objecliven Dingen in diesem Sinne intensiv oder heftig, sondern nur klar oder unklar und durch Gr\u00fcnde mehr","page":541},{"file":"p0542.txt","language":"de","ocr_de":"512 VI. Buch. Vom Seelenleben. II.Abschn. V. tl. Seelen\u00e4ussevungen.\noder weniger \u00fcberzeugend. Unter Intensit\u00e4t oder Heftigkeit der Meinungen verstehen wir daher hier nur ihre individuelle in dem strebenden Eigenleben motivirte leidenschaftliche Gr\u00f6sse, Quantit\u00e4t der Vorstellung. Je gr\u00f6sser das Misbehagen ist, das eine unangenehme Vorstellung erregt, desto mehr ist diese Vorstellung f\u00e4hig verwandte Vorstellungen anzuziehen. Durch die Leidenschaft, die das Unangenehme hervorbringt, wird das Unangenehme noch unangenehmer und durch das Vorstellen des Unangenehmen, wieder die Leidenschaft gr\u00f6sser. Indem daher die Seele von der Vorstellung des Hindernisses auf die Vorstellung der Hemmung ihrer seihst, und von dieser auf jene und so abwechselnd \u00fcbergeht, muss nothwendig die Vorstellung von der Beschaffenheit des Unangenehmen zu einer ganz unadaequaten Gr\u00f6sse wachsen. Hierdurch ist sie aber unf\u00e4hig durch Gegengr\u00fcnde ins Gleichgewicht gesetzt oder corrigirt zu werden. Daher ist es oft unm\u00f6glich einen leidenschaftlichen von der Beschaffenheit objectiver Dinge zu \u00fcberzeugen, als durch vorausgehende Beruhigung der Leidenschaft oder Befreiung der Seele von einer Hemmung oder allzugrossen Erweiterung des Eigenlebens. Diess wird am leichtesten auf Umwegen vollbracht. Denn alles auch noch so verschiedene beruhigt, was das beschr\u00e4nkte Selbst wieder erweitert. Sobald die Beruhigung vollbracht ist, sind die Vorstellungen aus ihren intensiven Gr\u00f6ssen auf ihre nat\u00fcrlichen Gr\u00f6ssen herabgesunken, und sind dem einfachen Gleichgewicht des Gegensatzes d. h. der Gegengr\u00fcnde unterworfen. Eine intensiv oder leidenschaftlich gewordene Meinung kann also auch durch eine leidenschaftliche Meinung aufgehoben werden. Ist man geneigt, weil Jemand uns unangenehmes erzeigt, leidenschaftlich und ohne hinreichende Gr\u00fcnde diesen f\u00fcr schlecht zu halten, zu hassen, so reicht eine uns durch dieselbe Person erzeugte Freude hin, wenn sie gross genug ist, uns v\u00f6llig zu beruhigen, indem sie uns mit nicht besseren Gr\u00fcnden bestimmt, diese Person f\u00fcr gut zu halten. Hier wird eine intensive Vorstellung durch die andere aufgehoben. Beispiele von der bis zum l\u00e4cher-chen gesteigerten intensiven Gr\u00f6sse, welche die Meinungen von den Leidenschaften erhalten, liefert die Eifersucht der Liebenden. Die Leidenschaften mischen sich in die edelsten wie unedelsten Bestrebungen der Menschen, und ertheilen \u00fcberall den Vorstellungen intensive Gr\u00f6sse zum Handeln oder zum Durchsetzen geistiger Richtungen, zum Absolutismus, zum Umw\u00e4lzen und Gegen-umw\u00e4lzen. Mit den Menschen identisch gewordene Lebensansichten, JXaturansichten, religi\u00f6se Ansichten bringen sie auf leidenschaftliche Bestrebungen f\u00fcr die von ihnen erkannten Wahrheiten. Der Mysticismus besteht in einer solchen einseitigen Richtung der Vorstellungen und Verdunkelung des richtigen Gegensatzes derselben, welche daraus entsteht, dass man nur ausschliesslich denjenigen Vorstellungen von h\u00f6heren Dingen nachgeht, welche dem stabilen Eigenleben angenehm sind, und diejenigen meidet und hasst, welche unangenehm sind. Hier wird die Richtigkeit der Vorstellungen durch die Intensit\u00e4t derselben neutralis\u00e2 t. Der Fanatismus ist ganz verwandt und greift handelnd ein.","page":542},{"file":"p0543.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom Gern\u00fclh. Statik der Leidenschaften.\n513\nSoviel \u00fcber die allgemeine physiologische Begr\u00fcndung der Leidenschaften, so weit sie uns klar geworden ist. In Hinsicht der statischen Verh\u00e4ltnisse der Leidenschaften unter sich ist es nicht m\u00f6glich etwas Besseres zu liefern, als was Spinoza mit un\u00fcbertrefflicher Meisterschaft gelehrt. Ich muss mich daher darauf beschr\u00e4nken, in Folgendem die dahin geh\u00f6rigen Lehrs\u00e4tze des Spinoza mitzutheilen. Es muss bemerkt werden, dass diese Statik bloss insofern ein nothwendiges Gesetz ausspricht, als der Mensch allein von Leidenschaften bewegt gedacht werden kann, dass sie dagegen durch die Vernunft der Menschen modificirt wird.\nLehrs\u00e4tze von Spinoza\n\u00fcber die Statik der Gem\u00fcthsbewegungen.\nEthik. 3. Theil.\nDer Geist sucht, so viel er vermag, das vorzustellen, was das Verm\u00f6gen der Th\u00e4tigkeit des K\u00f6rpers vermehrt oder erweitert.\nWenn der Geist das sich vorstellt, was das Verm\u00f6gen der Th\u00e4tigkeit des K\u00f6rpers vermindert oder hemmt, sucht er, soviel er vermag, die Dinge in das Ged\u00e4chtniss zu rufen, welche das Daseyn von jenem ausschliessen. Hieraus folgt, dass der Geist sich weigert das vorzustellen, was sein und des K\u00f6rpers Verm\u00f6gen vermindert oder hemmt.\nWenn der Geist einmal von zwei Gem\u00fcthsbewegungen zugleich erregt war, wird er, wenn er nachher von einer derselben erregt wird, auch von der andern erregt werden.\nJedes Ding kann zuf\u00e4llig Ursache der Lust, Unlust oder Begierde seyn. War der Geist zugleich von zwei entgegen<>e-setzteu Gem\u00fcthsbewegungen erregt, n\u00e4mlich von zwei Vorstellungen, wovon die eine Lust, die andere Unlust hervorbringt, so wird er hernach, wenn eine derselben wiederkehrt, zugleich \u2019von der entgegengesetzten erregt werden. Die erste wird dann zuf\u00e4llig Ursache der Lust und Unlust.\nDaher k\u00f6nnen wir bloss deshalb, weil wir ein Ding mit der Bewegung von Lust oder Unlust betrachtet haben, wovon es selbst nicht wirkende Ursach ist, es lieben oder hassen. Daraus folgt:\nBloss deshalb, weil wir uns vorstellen, dass ein Diim etwas \u00e4hnliches mit einem Gegenst\u00e4nde hat, welcher den Geist mit Lust oder Unlust zu erregen pflegt, werden wir es lieben oder hassen, wenn auch das, worin das Ding dem Gegenst\u00e4nde \u00e4hnlich ist, nicht die wirkende Ursache jener Bewegungen ist.\nWenn wir uns vorstellen, dass ein Ding, welches uns mit der Gem\u00fcthsbewegung der Unlust zu erregen pflegt, etwas \u00e4hnliches hat mit einem andern, welches uns mit einer eben so grossen Bewegung von Lust zu erregen pflegt, so werden wir es lie-","page":543},{"file":"p0544.txt","language":"de","ocr_de":"544 VI. Buch. Vom Seelenleben. II. Absclin. V. d. Seelen\u00e4usserungen.\nben und zugleich hassen. Dieses Schwanken verh\u00e4lt sich zu der Gemiithsbewegung, wie das Zweifeln zur Vorstellung.\nDer Mensch wird von der Vorstellung eines vergangenen oder k\u00fcnftigen Dinges mit derselben Gemiithsbewegung der Lust und Unlust erregt, als von der Vorstellung eines gegenw\u00e4rtigen Dinges. Denn die Vorstellung des Dinges, bloss f\u00fcr sich betrachtet, bleibt dieselbe, mag sie auf Zukunft oder Vergangenheit gehen.\nAus dem eben Gesagten erkennen wir, was Hoffnung, Furcht, Zuversicht, Verzweiflung, Freude und Leid sei. Hoffnung ist unstete Lust, entsprungen aus der Vorstellung eines k\u00fcnftigen oder vergangenen Dinges, \u00fcber dessen Ausgang wir zweifelhaft sind. Furcht hingegen ist unstete Unlust, auch entsprungen aus der Vorstellung eines zweifelhaften Dinges. Ferner wenn das Zweifeln in diesen Gem\u00fcthsbewegungen aufh\u00f6rt, wird aus der Hoffnung Zuversicht, und aus der Furcht Verzweiflung, n\u00e4mlich Lust oder Unlust, entsprungen aus der Vorstellung eines Dinges, welches wir gef\u00fcrchtet oder gehofft haben. Freude ist Lust entsprungen aus der Vorstellung eines vergangenen Dinges, \u00fcber dessen Ausgang wir zweifelhaft waren. Leid endlich ist der Freude entgegengesetzt.\nWer sich vorstellt, dass das, was er lieht, zerst\u00f6rt werde, wird Unlust haben, stellt er sich aber vor, dass es besteht, wird er Lust haben. Denn was das Daseyn des geliebten Dinges ausschliesst, hemmt das Bestreuen des Geistes nach Beharrung in dem Zustande der Lust.\nWer sich vorstellt, dass das, was er hasst, zerst\u00f6rt werde, wird Lust haben. Denn der Geist sucht dasjenige vorzustellen, was das Daseyn der Dinge ausschliesst, wodurch das Verm\u00f6gen der Th\u00e4tigkeit des K\u00f6rpers gehemmt wird.\nWer sich vorstellt, dass das, was er lieht, mit Lust oder Unlust erf\u00fcllt wird, wird auch mit Lust oder Unlust erf\u00fcllt werden. Bedauern, Theilnahme. Denn die Vorstellungen der Dinge, die das Daseyn des geliebten Dinges setzen, unterst\u00fctzen das Bestreben des Geistes, wodurch er das geliebte Ding selbst sich vorzustellen sucht, und umgekehrt. Die Lust setzt aber das Daseyn des lusthabenden Dinges voraus, und ist eine Bejahung und Vervollkommnung des geliebten Dinges.\nDaraus folgt weiter: Wenn wir uns vorstellen, dass Jemand das Ding, welches wir lieben, mit Lust erf\u00fcllt, werden wir mit Liebe zu ihm erf\u00fcllt werden. Wenn wir dagegen uns vorstellen, dass er es mit Unlust erf\u00fcllt, werden wir mit Hass gegen ihn erf\u00fcllt werden. Beifall, Unwille.\nWer sich vorstellt, dass das, was er hasst, mit Unlust erf\u00fcllt werde, wird Lust haben, wenn er dagegen sich vorsLellt, dass es mit Lust erf\u00fcllt werde, wird er Unlust haben. Schadenfreude, Neid. Denn so fern das verhasste Ding mit Unlust erf\u00fcllt wird, wird es zerst\u00f6rt und wir suchen, was das Daseyn von Dingen ausschliesst, die uns ausschliessen.\nWenn wir uns vorstellen, dass Jemand ein Ding, das wir hassen, mit Lust erl\u00fcllt, werden wir auch gegen ihn mit Hass erf\u00fcllt werden. Wenn wir dagegen uns vorstellen, dass er das-","page":544},{"file":"p0545.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vorn Gem\u00fcih. Statik der Leidenschaften.\n545\nselbe Ding mit Unlust erf\u00fclle, werden wir mit Liebe zu ihm erf\u00fcllt werden.\nWir streben alles das von uns und vom geliebten Dinge zu bejahen, wovon wir uns vorstellen, dass es uns oder das geliebte Ding mit Lust erf\u00fcllt und dagegen alles das zu verneinen, wovon wir uns vorstellen, dass es uns oder das geliebte Ding mit Unlust erf\u00fcllt. Eingebildeter Ilochmuth, Selbstt\u00e4uschung, Ueber-sch\u00e4tzung der Freunde und Liebenden.\nInsofern wir hochmiithig sind in Lust \u00fcber eine tr\u00e4umerische Vorstellung von uns Selbst verm\u00f6gen wir Alles, was wir durch die blosse Vorstellung erreichen.\nWir streben alles das von dem Dinge, das wir hassen, zu bejahen, wovon wir uns vorstellen, dass es dasselbe mit Unlust erf\u00fclle, und dagegen das zu verneinen, wovon wir uns vorstellen, dass es dasselbe mit Lust erf\u00fclle. Verachtung, Geringsch\u00e4tzung, Verkleinerungssucht.\nDadurch dass wir uns vorstellen, dass ein uns \u00e4hnliches Ding, in Beziehung auf welches wir keine Gem\u00fctsbewegung gehabt haben, von einer Gem\u00fctsbewegung erregt werde, werden wir von einer \u00e4hnlichen Gem\u00fctsbewegung erregt. Mitfreude, Mitleid. Denn diese Vorstellung hat im Gefolge diejenige, dass wir selbst dieser Gem\u00fctsbewegung ausgesetzt seyn k\u00f6nnen.\nWenn wir uns vorstellen, dass Jemand, in Beziehung auf welchen wir keine Gem\u00fctsbewegungen gehabt haben, ein uns \u00e4hnliches Ding mit Lust erf\u00fclle, werden wir mit Liebe zu ihm erf\u00fcllt werden. Wenn wir dagegen uns vorstellen, dass er es mit Unlust erf\u00fclle, werden wir mit Hass gegen ihn erf\u00fcllt werden. R\u00fchrung, Abscheu.\nEin Ding, das wir bemitleiden, k\u00f6nnen wir nicht deshalb hassen, weil es uns mit Unlust erf\u00fcllt. Denn wenn wir es dess-balb hassen k\u00f6nnten, dann w\u00fcrden wir Lust haben an seiner Unlust; Mitleid besteht aber aus Unlust wegen Unlust des uns \u00e4hnlichen.\nWir werden uns vielmehr bestreben das Ding, das wir bemitleiden, soviel wir verm\u00f6gen, von seinem Leiden zu befreien. Denn dadurch entfernen wir unsere eigene Unlust und dasjenige, was unserm eignem Daseyn entgegengesetzt ist. Wohlwollen, Grossmutb.\nWir suchen alles das, wovon wir uns vorstellen, dass es zur Lust f\u00fchre, zum werden zu bringen, aber alles widerstrebende und zur Unlust f\u00fchrende suchen wir zu entfernen und zu zerst\u00f6ren.\nAVir werden -uns bestreben auch alles das zu thun, wovon wir uns vorstellen, dass die uns \u00e4hnlichen Menschen es mit Lust ansehen und dagegen vermeiden das zu thun, wovon wir uns vorstellen, dass jene es vermeiden. Denn dass Andere Lust oder Unlust \u00fcber uns empfinden, macht auch uns Lust oder Unlust. Gefallsucht, Leutseligkeit.\nWenn wir loben, so bejahen wir die That, die uns Lust erregt.\nWenn Jemand etw'as gethan hat, wovon er sich vorstellt, dass es die Aehnlichen mit Lust erf\u00fclle, wird er mit Lust erf\u00fcllt werden, verbunden mit der Vorstellung seiner selbst als Ursache","page":545},{"file":"p0546.txt","language":"de","ocr_de":"516 VI. Buch, Vom Seelenleben. II. Alschn. V. d. Seelcn\u00fcusscrungen.\noder er wird sich mit Lust betrachten. Wenn er dagegen etwas gethan hat, wmvon er sich vorstellt, dass es die Aehnhchen mit Unlust erf\u00fclle, wird er sich selbst mit Unlust betrachten. Denn Lust und Unlust in den mit uns selbst gleichen Wesen, macht uns selbst Lust und Unlust. Selbstzufriedenheit, Eitelkeit, Stolz, Scham, Iteue.\nWenn wir uns vorstellen, dass ei\u00fcer etwas liebt, begehrt oder hasst, was wir selbst lieben, begehfen oder hassen, so werden wir es desto beharrlicher lieben, bngehren, hassen. Wenn wir aber uns vorstellen, dass er das, wa* w*r lieben, verschm\u00e4ht, dann werden wir ein Schwanken in der Seele erfahren. Denn die Lust eines Andern macht auch Lust, und die Unlust des Andern macht Unlust.\nHieraus folgt, dass ein jeder, so viel er vermag, sich bestrebe, dass jeder das, was er liebt, liebe, und was er selbst hasst auch hasse. Ambition, Verketzerungssucht, Verd\u00e4chtigung.\nWenn wir uns vorstellen, dass Jemand eines Dinges sich erfreut, das nur Einer allein besitzen kam), werden wir zu bewirken suchen, dass er das Ding nicht besitze. Denn dadurch, dass wir uns vorstellen, dass ein \u00e4hnlicher s<ch eines Dinges erfreut, werden wir es lieben und begehren, aber wir stellen uns den Besitz des Andern als Hinderniss unserer Lust vor. Neid.\nWenn wir ein uns \u00e4hnliches Ding lieben, suchen wir so viel als m\u00f6glich zu bewirken, dass es uns wieder liebe. Denn wir suchen, dass das uns \u00e4hnliche, was uns Lust erregt, auch von Lust erregt werde. Diese Lust sehliesst die Idee von uns als Ursache ein.\nWir werden um so mehr uns r\u00fchmen, eitel seyn und an uns Lust haben, je gr\u00f6sser wir die Gem\u00fcthsbewegung uns vorstellen, mit welcher das geliebte zu uns erregt ist.\nWenn Jemand sich vorstellt, dass das Geliebte durch ein gleiches oder noch engeres Band, der Freundschalt mit einem Andern sich vereinige als zu ihm, so wird er mit Hass gegen das Geliebte erf\u00fcllt werden. Denn der andere vorgezogene erregt Unlust oder Neid, und die Ursache desselben ist das Geliebte, das dadurch auch Unlust erregt, daher nin Schwanken zwischen Liehe, Hass und Neid. Eifersucht.\nWer sich des Dinges erinnert, woran er sich einmal erg\u00f6tzt hat, w\u00fcnscht dasselbe unter denselben Umst\u00e4nden zu besitzen. Wenn aber der Liebende erf\u00e4hrt, dass einer der Umst\u00e4nde mangele, wird er Unlust haben. Sehnsucht.\nBegierde, welche aus Unlust oder Dust und aus Hass und Liebe entsteht, ist desto gr\u00f6sser, je gr\u00f6sser die Gem\u00fcthsbewe-gung ist.\nWenn Jemand ein geliebtes zu hassen angefangen hat, so dass die Liebe v\u00f6llig vertilgt ist, wird er es bei gleicher Ursache mehr hassen als h\u00e4tte er es nie geliebt. Denn dass Liebe in Hass \u00fcbergeht, erfordert viel mehr Ursachen als bei einfachem Hass.\nWer Jemand hasst wird ihm \u00fcbles zuzuf\u00fcgen suchen, wenn er nicht daraus gr\u00f6sseres Uebel f\u00fcr sich bef\u00fcrchtet, und dagegen wird wer Jemand liebt, ihm wohl zu tlxun suchen. Denn Jemand hassen ist ihn als Ursache der Unlust verstellen. Um diese Un-","page":546},{"file":"p0547.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom Gemiilh. Statik der Leidenschaften.\n547\nlust zu zerst\u00f6ren wird das Streben darauf gerichtet seyn, das Daseyn jenes zu verneinen und zu zerst\u00f6ren.\nWer sich vorstellt, dass er von Jemand gehasst werde ohne Ursache, wird ihn wieder hassen. Der Hass erregt in uns Unlust, und der hassende wird als die Ursache der Unlust mit Unlust vorgestellt werden.\nWer sich vorstellt, dass der, den er liebt, ihn hasst, wird von Hass und Liebe zugleich best\u00fcrmt werden, wie aus dem Vorhergehenden folgt.\nWenn Jemand sich vorstellt, dass ihm von Jemand, der ihm gleichg\u00fcltig war, aus Hass ein \u00fcebel zugef\u00fcgt sei, so wird er sogleich suchen ihm dasselbe Uebci zuzuf\u00fcgen.\nWenn Jemand sich vorstellt, dass er von einem geliebt werde und keine Ursache dazu gegeben zu haben glaubt, so wird er ihn wieder lieben. Denn die Lust an uns erregt Lust. Daher die Neigung gegen falsche und wahre Liebe und gegen Schmeichelei.\nWer sich vorstellt, dass er von dem, den er gehasst, geliebt werde, wird von Hass und Liebe zugleich best\u00fcrmt w\u2019erden.\nWer aus Liebe oder Hoffnung des Ruhms Jemand eine Wohlthat erzeigt hat, wird Unlust haben, wenn er sieht, dass die Wolthat mit undankbarem Gemiithe aufgenommen worden. (Die Undankbarkeit selbst folgt aus dem Widerstreit gr\u00f6sserer gegenw\u00e4rtiger Bestrebungen gegen die Vorstellungen fr\u00fcherer Zust\u00e4nde.)\nHass wird durch gegenseitigen Hass vermehrt und kann durch J_,iebe getilgt iverden.\nDer Hass, der von der Liebe g\u00e4nzlich besiegt wird, geht in Ijiebe \u00fcber und die Liebe ist desshalb noch gr\u00f6sser, als wenn der Hass nicht vorangegangen w\u00e4re. Denn die Kraft, welche den Hass besiegt, ist gr\u00f6sser und wird unter gleichen Ursachen st\u00e4rker erregt.\nWenn Jemand sich vorstellt, dass ein ihm \u00e4hnlicher ein ihm \u00e4hnliches geliebtes Ding hasst, wird er einen solchen hassen. Denn dieser verneint das geliebte und macht deswegen Unlust.\nWenn Jemand von Einem aus einem andern Stande oder Volke als das seinige mit Lust oder Unlust erf\u00fcllt wird, verbunden mit der Vorstellung desselben und zugleich des Standes oder Volkes als der Ursache, so wird er nicht nur diesen, sondern alle desselben Standes oder Volkes lieben oder hassen.\nDie Lust, welche daraus entsteht, dass wir uns das verhasste Ding als zerst\u00f6rt, oder von einem andern Uebel erf\u00fcllt denken, entsteht nicht ohne einige Unlust, insofern wir ein uns \u00e4hnliches zerst\u00f6rt denken.\nLiebe und Hass gegen eine Person wird zerst\u00f6rt, wenn die Lust und Unlust, welche sie erregt, eine andre Ursache erh\u00e4lt, und wird ver\u00e4ndert, wenn die Ursache auf mehrere Personen vertheilt wird.\nLiebe und Hass gegen ein Ding, das wir uns als frei vorstellen, muss bei gleicher Ursache gr\u00f6sser seyn als gegen ein nothwendiges Ding. Denn im letzten Falle beschr\u00e4nkt sich die","page":547},{"file":"p0548.txt","language":"de","ocr_de":"548 VI. Buch. Vom Seelenleben. II. Abschn. V. cl. Seelen\u00e4usserungen.\nUrsache nicht auf eines, sondern dehnt sich auf eine Kette von Ereignissen aus.\nJegliches Ding kann zuf\u00e4llig Ursache der Hoffnung und Furcht seyn, wie jedes Ding zuf\u00e4llig Ursache der Lust und Unlust. Gute oder \u00fcble Vorbedeutungen. Aberglaube.\nVerschiedene Menschen k\u00f6nnen von einem und demselben Gegenstand verschiedenartig erregt werden, und ein und derselbe Mensch kann von einem und demselben Gegenstand zu verschiedenen Zeiten verschieden erregt werden.\nEin Gegenstand, welchen wir mit anderen zugleich fr\u00fcher gesehen, und von dem wir uns vorstelle*n, dass er nichts hat, als was mehreren gemein ist, erregt uns weniger als einer, von dem wir uns vorstellen, dass er etwas besonderes hat. Dieses Interesse wird durch Lust, Bewunderung, Verehrung und Huldigung, durch Unlust, Best\u00fcrzung, Entsetzen.\nWenn der Geist sich selbst und sein Verm\u00f6gen der Th\u00e4tig-keit betrachtet, hat er Lust und um so mehr, je bestimmter er sich und sein Verm\u00f6gen sich vorstellt.\nDer Geist bestrebt sich nur das vorzustellen, was sein Verm\u00f6gen in Th\u00e4tigkeit setzt. Wenn der Geist sein Unverm\u00f6gen sich vorstellt, hat er Unlust. Diese Unlust wird durch die Vorstellung des Tadels gen\u00e4hrt.\nJeder beneidet nur seines Gleichen um seine Tugend.\nEs giebt so viele Formen der Lust, der Unlust und Begierde und folglich jeder Gem\u00fcthsbewegung, die aus diesen zusammengesetzt ist, wie auch des Schwankens der Seele oder was daraus abzuleiten ist, n\u00e4mlich der Liebe, des Hasses, der Hoffnung, der Furcht u. s. w., als es Formen der Gegenst\u00e4nde giebt, von welchen wir erregt werden.\nJegliche Gem\u00fcthsbewegung eines jeden Individuums weicht nur um so viel ab von der Gem\u00fcthsbewegung eines andern, als das Wesen des einen sich von dem Wesen des andern unterscheidet. Daher auch die Leidenschaften der Thiere sich nur insofern von den menschlichen unterscheiden, als ihre Natur von der menschlichen sich unterscheidet.\nAusser derjenigen Lust und Begierde die leidend sind, giebt es auch solche, die sich auf uns beziehen, wie fern wir th\u00e4tig sind. Dahin geh\u00f6rt die Lust, die der Geist bei Betrachtung seiner klaren Ideen und beim Begreifen seiner Th\u00e4tigkeit hat.\nUnter allen Gem\u00fcthsbewegungen, die auf den Geist, in wiefern er th\u00e4tig ist, sich beziehen, giebt es nur solche, die auf Lust und Begierde sich beziehen. Als solche betrachtet Spinoza den Muth, den Edelsinn. So weit Spinoza.\nGem\u00fct lisart.\nDas Gem\u00fcth ist das Zust\u00e4ndliche der auf das Selbst und die dem Selbst verwandten Wesen bez\u00fcglichen Vorstellungen und Strebungen, der beschwichtigten oder unbeschwichtigten Erregungen und ihrer statischen Consequenzen, endlich des Streites dieser Bewegungen mit der Vernunft.","page":548},{"file":"p0549.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom Gemiith. Verschiedenheit des Gem\u00fclhs.\n549\nWessen Geist f\u00fcr die Zust\u00e4nde der Lust und Unlust und der Begehrung wenig empf\u00e4nglich ist, und wessen K\u00f6rper unf\u00e4hig ist zu den organischen Ver\u00e4nderungen in Folge von Ver\u00e4nderungen des Selbstgef\u00fchls, bat, wie man sagt, wenig Gem\u00fcth und ist kalt und gleichg\u00fcltig. Wer die gegenteiligen Eigenschaften besitzt, hat Gem\u00fcth, und ein rohes oder feinf\u00fchlendes Gem\u00fcth, je nachdem in die Statik der Gem\u00fctsbewegungen die Vernunft eingreift und mildert oder nicht.\nGem\u00fcthlos wird im engern Sinn auch derjenige genannt, der zwar in Beziehung auf das eigene Selbst von Lust, Unlust und Begierde stark bewegt werden kann , aber unempf\u00e4nglich ist f\u00fcr die Unlust und Lust der Mitmenschen, und welcher daher das Selbst der Mitmenschen nicht zum Theil in sein eigenes Selbst aufgenommen, und das eigene Selbst durch diese Aufnahme erweitert hat. Wer dagegen dies gethan, dem wird das Gem\u00fcth im engern Sinne zugeschrieben.\nDie Anlage zum Gem\u00fcth im ersten und zweiten Sinn h\u00e4ngt nicht von der F\u00e4higkeit der Menschen zu zusammengesetzten Vorstellungen und Vorstellungsverh\u00e4ltnissen ab. Denn alle Erregbarkeit des Gem\u00fcths bezieht sich eines Theils auf eine Klasse von Vorstellungen, die das Selbst und die dem Selbst \u00e4hnlichen Wesen betreffen, anderntheils auf die F\u00e4higkeit zu Strebungen und Ver\u00e4nderung derselben durch dergleichen Vorstellungen. Daher Menschen von geringen Verstandesf\u00e4higkeiten viel Gem\u00fcth und Menschen von grossen Verstandesf\u00e4higkeiten wenig Gem\u00fcth besitzen k\u00f6nnen. Was das Gem\u00fcth im zweiten Sinne, n\u00e4mlich das Gemiilh zugleich f\u00fcr Andere betrifft, so wird der verst\u00e4ndige Gem\u00fcthlose seine Verstandesf\u00e4higkeiten zu seinem Interesse vorzugsweise benutzen, der Gem\u00fcthvolle hingegen bei gr\u00f6sseren oder geringeren Verstandesf\u00e4higkeiten geneigt seyn f\u00fcr das Wold der Mitmenschen, und zwar nicht bloss aus \u00dceberlegung, sondern aus Mitleidenschaft, und mit Lust und Unlust an Anderer Wohl und Wehe.\nD iese Art des Gem\u00fcths setzt voraus, dass wie gross oder klein die F\u00e4higkeit zu zusammengesetzten Vorstellungsverh\u00e4ltnissen oder der Verstand sei, die Vorstellung vom Eigenleben und Selbst und dem ihm n\u00fctzlichen, durch die Vorstellung von dem allen Menschen zugleich n\u00fctzlichen im Gleichgewicht erhalten werde, oder dass sich die Vorstellung vom Selbst bis dahin erweitere. Ist das hei einem Menschen geschehen, wozu die Erziehung viel beitr\u00e4gt, so handelt er entweder aus \u00dceberlegung recht und f\u00fcr das Gemeinwohl, oder zugleich mit Lust und Unlust li\u00fclfreich in dieser Art und dann mit Gem\u00fcth. Bei Kindern ist das Streben f\u00fcr das eigne Selbst zuerst die Hauptsache, denn diese Vorstellung bildet sich zuerst aus und verkettet sich mit organischen Umstimmungen, Empfindungen und Actionen, sp\u00e4ter und in Folge der Erziehung erweitert sich das Eigenleben mehr oder weniger in das Eigenleben im Sinne der Familie, und ihres gemeinschaftlichen Interesses und sofort mehr oder wenigerweiter.\nD ie Menschen haben bei gleicher Erregbarkeit auch ein verschiedenes Gem\u00fcth, je nachdem sie durch die organischen Zu-","page":549},{"file":"p0550.txt","language":"de","ocr_de":"550 VI. Euch. Vom Seelenlehen. II. Absehn. V. \u00e0. Seelen\u00e4usscrunsen.\nst\u00fcnde mehr f\u00fcr die Bewegungen der Lust, Unlust oder Begierde ausgebildet sind, und je nachdem die einen oder anderen Vorstellungen eine st\u00e4rkere organische Umstimmharkeit zur Action oder Depression der Activit\u00e4t vorfinden.\nDie Thiere haben auch Gem\u00fcth, sie sind freudig, traurig, mitleidig, neidisch, hassend, liebend, eifers\u00fcchtig u. s. w. Verschiedene haben ein sehr verschiedenes. Denn wiewohl alle zu den Erscheinungen der Statik der Gem\u00fcthsbewegungen ausgebildet sind, so ist die F\u00e4higkeit zu organischen Spannungen und Abspannungen f\u00fcr gewisse Vorstellungen bei ihnen sehr verschieden, und die Sch\u00f6pfung hat durch die in ihnen traumartig erregten instinktm\u00e4ssigen Vorstellungen (siehe oben p. 106. 515.) die F\u00e4higkeit f\u00fcr gewisse Cirkel leichter entstehender und leichter sich wiederholender Erregungen vorgesehen.\nIn die Statik der Leidenschaften greift hei den Menschen das sittliche Gef\u00fchl modificirend ein, und so weit als diess geschehen kann, l\u00e4sst sich ihr Handeln nicht aus den vorausgegangenen statischen Zust\u00e4nden und aus der Statik der Leidenschaften \u00fcberhaupt berechnen.\nInsofern ein Mensch bloss leidenschaftlich f\u00fcr sich und andere bewegt ist, ist alles gute nur relativ, n\u00e4mlich das ist gut, was die vorhandenen Zust\u00e4nde der Lust und Begierde f\u00f6rdert, alles schlecht, was sie hemmt und Unlust und die ihr folgenden Begierden erregt. Eins und dasselbe kann jetzt gut und morgen schlecht seyn. In Beziehung auf das allen Menschen gute ist das dem einzelnen Zustand gute bald ein gutes, bald ein schlechtes. Denn Neid und Mitleid k\u00f6nnen aus denselben Quellen entspringen, wie die Statik der Leidenschaften ergiebt, und der jetzt mitleidige kann alsohald neidisch seyn, ohne mitleidig Vernunft mehr zu haben denn als neidisch. Spinoza Ethik 4 Buch. Die Thiere sind auch des Mitleidens f\u00fcr Andere, selbst f\u00fcr den Menschen f\u00e4hig, insofern er ihnen gut thut, Lust erregt und sie mit Lust zu ihm kommen, und sein Uebel ihr Uebel ist. Hierin ist keine Spur von Sittlichkeit.\nDas Allen oder Vielen gute k\u00f6mmt ein w'enig mehr zu Stande dadurch, dass die Leidenschaften der Menschen und Thiere f\u00fcr ihr Interesse durch andere Leidenschaften ihrer selbst im Gleichgewicht gehalten werden, z. B. durch die Furcht vor der Strafe, heim Menschen durch die Gem\u00fcthsbewegungen, die der Aberglaube erzeugt, der aber beinahe eine ebenso ergiebige Quelle b\u00f6ser als guter Handlungen ist.\nWenn die Vorstellung in den Menschen herrschend wird von dem ihrer Familie, ihrem Stand, ihrer Corporation, ihren Landsleuten allgemein n\u00fctzlichen oder guten, und sie die Vorstellung ihres Eigenlebens und ihres Selbst dadurch erweitern, so ist ein allgemeinerer Begriff des n\u00fctzlichen, des guten gegeben. Auch der Begriff des den engern Kreisen und ihren Zust\u00e4nden guten ist noch w\u2019eit vom sittlich guten entfernt. Je mehr Individuen es sind, f\u00fcr die das gute gut ist, um so besser ist es und um so mehr n\u00e4hert es sich dem sittlich guten, wie der Begriff des allen Menschen n\u00fctzlichen und guten. Noch vollkommner wird dieser","page":550},{"file":"p0551.txt","language":"de","ocr_de":"2. Vom G emit/h. Verschiedenheit des Gem\u00fct hs.\n551\nBegriff, wenn das f\u00fcr das gute angesehen wird, was allen Menschen nicht fetzt, sondern unter allen Umst\u00e4nden und f\u00fcr alle Zeiten gut ist. Diess ist auch das gute, was dem Eigenleben unter allen Umst\u00e4nden gut ist, welcher Begriff dasjenige gute ausscheidet, was bloss f\u00fcr den heutigen Zustand, aber nicht f\u00fcr die n\u00e4chsten gut ist.\nDie.Unterord nun g des Selbst unter die g\u00f6ttliche Weltordnung und das Unendliche ist die Vernunft, welche das besondere aus dem h\u00f6chsten Allgemeinen ableitet, diese erzeugt den Begriff des h\u00f6chsten guten, welcher das relativ, d. h. dem jedesmaligen Zustand des Menschen, gute bestreitend das Gewissen ist. Die Betrachtung \u00fcber die Unvollkommenheit des eignen Selbst, welches oft von diesem Begriff nicht geleitet wird, und das Streben dieses absolut gute festzuhalten, verbunden mit der Gewissheit der Abh\u00e4ngigkeit und Fehlbarkeit ist das religi\u00f6se Gef\u00fchl, die Gern\u00fcthsbewegung des Frommen. Die Befriedigung und Lust, so weit es der Vernunft zu folgen gelingt, ist die Seligkeit des Weisen, der jede andere Lust nicht verschm\u00e4ht, und die Vorstellungen von Unlust von sich entfernt h\u00e4lt, in wie weit beides der Vernunft nicht widerspricht. Siehe Spinoza Ethik 5. Buch von der Freiheit. Fichte slnleitung zum seligen Lehen. Berlin 1806.\nInsofern der Mensch dieses Begriffes f\u00e4hig ist, von ihm nicht weniger als von den Leidenschaften gef\u00fchrt zu werden, ist er frei. Im Grunde erfolgen indess die Entschl\u00fcsse und Handlungen hier mit derselben Nothwendigkeit, wie in den anderen physischen Erscheinungen die Ereignisse, und Alles geschieht aus hinreichender Ursache. Die gesetzlose Willk\u00fcr, welche \u00fcber den Bestimmungen steht, ist bloss Schein. Halten sich zwei ent-gegengesetzte Leidenschaften im Gleichgewicht, oder eine Leidenschaft k\u00e4mpft mit den Rathschl\u00fcssen der Vernunft, so scheint es, als wenn der Mensch als ein Dritter dar\u00fcber st\u00e4nde, den fremden Ratbgeber anb\u00f6rend, und er findet seinen Entschluss frei ; wenn er sich entschieden hat und hernach anders dar\u00fcber denkt, so findet er sich unfrei. Herbart Psychol. 91. Eigentlich ist diess eine l\u00e4uschung. Denn alles jenes ist in ihm, und seine Wahl ist die Zusammen Wirkung von Vernunft und Begierde.\nDer Wille ist nichts Anderes als das Begehren mit der Gewissheit des Erfolges, eine entschiedene Bejahung eines notlnven-dig folgenden Zustandes, dem ein Schwanken vorausgegangen ist, und das Schwanken, die Unschl\u00fcssigkeit dauert, bis noch etwas, Gr\u00fcnde oder Leidenschaften, auf die Wageschale kommt. Die Vermehrung der organischen Spannung durch Wein, eingeleitete Empfindungen und \u00c0ehnliches, welches zur Leidenschalt disponirt, reicht hin, dass Etwas gewollt wird, wozu bei sonst gleicher Ur-\u2022>ache noch keine volle Ursache zum Ausschlag vorhanden war. Der Wein verdunkelt Vorstellungen, die das Gleichgewicht hielten, verst\u00e4rkt die Spannung zur Passion und vergr\u00f6ssert dadurch die Empf\u00e4nglichkeit f\u00fcr die ihr adaequaten Vorstellungen.\n,Pas woza ^cr Ausschlag gegeben ist, ist entweder bloss eine k\u00fcnftige Reihe von Vorstellungen ohne Handlung des K\u00f6rpers nach aussen, wie man seinem Denken, seiner Erinnerung eine\n\u00bbHitler\u2019S Physiologie, 2r, Bil, Hl.\t36","page":551},{"file":"p0552.txt","language":"de","ocr_de":"552 VI. Buch. Vom Seelenleben. II. Ahsehn. V. d. Seelen\u00e4usserungen.\nDirection \u00abieljt; diess ist nichts Anders als das Wissen, dass diese bestimmte Wendung eintritt. Oder der Wille wirkt nach aussen durch zweckm\u00e4ssige Bewegungen, welche ablaufen nach dem Thema des begehrten und als nothwendig erfolgend vorgestcllten. Jede Bewegung, die als sicher und nothwendig erfolgend mit der Vorstellung der freien Wahl vorgestellt wird, mit der Vorstellung unserer als Ursache, ist gewollt. Eine krampfhafte Bewegung, zum Beispiel lachen, kann als sicher kommend vorgestellt werden, sie ist nicht gewollt; denn obwohl unsere Vorstellungen die Ursache davon sind, so kann doch neben dieser Bewegung eine andere ihr entgegengesetzte Verneinung, mit der Vorstellung der freien Wahl unter vielerlei, stattlinden, welche allein gewollt ist.\nDass der Wille sogleich Bewegungen hervorbringen kann, ist nicht wunderbarer, als dass jede Vorstellung Bewegung hervorbringen kann, wie die Vorstellung des L\u00e4cherlichen und die leidenschaftlichen Vorstellungen. Schon die blosse Vorstellung einer bestimmten Bewegung ruft, wenn diese in Disposition ist, die bestimmte Bewegung hervor, wie die Vorstellung des G\u00e4hnens und Lachens, obwohl wir es nicht wollen. Es geh\u00f6rt daher zu den gewollten Bewegungen, dass die Bewegung erregt wird von der Vorstellung, dass sie nothwendig erfolgt und dass wir uns als ihre Ursache vorstellen. Siehe das N\u00e4here \u00fcber diese Art der Bewegungen oben p. 92.\nWir schliessen die Lehre von den Gcm\u00fctbsbewcgungen mit der Bemerkung, dass es unter den Leidenschaften nicht minder wie bei den Vorstellungen Associationen, gegenseitige Verdunkelungen, Verkettungen giebt. Viele sogenannte Leidenschaften sind ganze Verkettungen leidenschaftlicher Zust\u00e4nde, wie die Eifersucht u. A. Diese Verh\u00e4ltnisse sind indess in dem Vorhergehenden schon hinreichend klar geworden, um sic mit den einfachen Verh\u00e4ltnissen der Vorstellungen zu vergleichen.\nIn Hinsicht aut das weitere Feld der psychologischen Forschungen muss ich auf die ausf\u00fchrlichen Werke der Psychologie und diejenigen Schriften verweisen, welche die Logik im Zusammenh\u00e4nge mit der Psychologie und Metaphvsik behandeln.\nAbistoteles de anima. Spinoza Ethiea. IIkrbart Lehrbuch zur Psychologie. K\u00f6nigsberg. 2. Auflage. 1834. Stiedenroth Psychologie. Berlin 1824. Beneke Lehrbuch der Psychologie. Berlin 1833. Schubert Geschichte der Seele. Stultg. 183!). Bobrik System der Logik. Z\u00fcrich 1838. Carus Vorlesungen \u00fcber Psychologie. ! .ein:. 1831. Flemming Beitr\u00e4ge zur Philosophie der Seele. Berlin 1830.","page":552},{"file":"p0553.txt","language":"de","ocr_de":"1. Theorie.\n553\nHI. Abschnitt. Von der Wechselwirkung der Seele und des Organismus.\nI. Capitel. Von der Wechselwirkung der Seele und des Organismus im Allgemeinen.\nDas Verh\u00e4ltniss der Seele und des Organismus kann im Allgemeinen verglichen werden mit dem Verh\u00e4ltniss jeder physischen allgemeinen Kraft und der Materie, an welcher sie sich \u00e4ussert, z. B. des Lichtes und der K\u00f6rper, an welchen es zum Vorschein kommt. Das R\u00e4thselhalte des Zusammenhanges bleibt sich in beiden Fallen gleich. An den K\u00f6rpern k\u00f6mmt das Licht zum Vorschein theils durch bloss mechanische Ver\u00e4nderung ihrer Materie, z. B. Druck, Sloss, theils durch eine chemische Ver\u00e4nderung derselben. Auch ist das Licht wieder f\u00e4hig materielle Ver\u00e4nderungen der K\u00f6rper zu Stande zu bringen. Ebenso k\u00f6mmt die Electrieit\u00e4t bei materieller Ver\u00e4nderung der K\u00f6rper zum Vorschein, und bewirkt hier wieder materielle Ver\u00e4nderungen der K\u00f6rper. Die geistigen Wirkungen erfolgen an den organischen K\u00f6rpern so lange die Materie ver\u00e4ndert wird, und die geistigen Wirkungen ver\u00e4ndern hier wieder die Materie. Der Keim n\u00e4mlich enth\u00e4lt mit der ihm einwohnenden Lebenskraft zugleich die latente Kraft zu den geistigen Wirkungen des sp\u00e4tem thierischen Wesens; ehe dass eine bestimmte Structur des Gehirns erzeugt ist, bleibt das organische Wirken des Keims auch ohne Vorstellungen. Mit der Structur ist das Wirken der schon vorhandenen Kraft gegeben, welche also von der Structur des Gehirns nicht\nin ihrem letzten Grunde abh\u00e4ngig serung von der Structur abh\u00e4ngig\n, aber in Hinsicht ihrer Aeus-ist. Bis dahin ist das Verh\u00e4ltniss der geistigen Kr\u00e4fte zur Organisation nicht r\u00e4thselhafter, als das Verh\u00e4ltniss jeder andern Naturkraft zum materiellen Zustand der K\u00f6rper, oder vielmehr beides ist gleich r\u00e4thseihaft. Das Verh\u00e4ltniss der geistigen Kr\u00e4fte zur Materie weicht nur darum von dem Verh\u00e4ltniss anderer physischer Kr\u00e4fte zur Materie ab, dass die geistigen Kr\u00e4fte nur in den organischen und insbesondere thierischen K\u00f6rpern Vorkommen , und sich nur auf ihre gleichen Producte fortpflanzen, die allgemeinen physischen Kr\u00e4fte, die man auch imponderable Materien nennt, eine viel allgemeinere Wirkung und Verbreitung in der Natur haben. Da indessen die organischen K\u00f6rper auch in der unorganischen Natur wurzeln, und aus ihr zehren, indem die Thiere von Thieren und Pflanzen, die Pflanzen aber theils von unorganischen Stoffen sich ern\u00e4hren und dabei wachsen und sich multipliciren, so bleibt es ungewiss, ob nicht selbst auch die Anlage zu geistigen Wirkungen, wie die allgemeinen physischen Kr\u00e4fte in aller Materie vorhanden ist, und durch die vorhandenen Slructuren zur Aeusserung in bestimmter Weise kommt.\nEhe wir die Wechselwirkung zwischen der Seele und dem\n3\u00ab *","page":553},{"file":"p0554.txt","language":"de","ocr_de":"554 VI. Bch. V. Seelenleben. TIT. Abschn. Wechselwirkung d. Seele\nnicht vorstellenden Tlicil des Organismus naher untersuchen, m\u00fcssen wir erst noch einige Betrachtungen vorausschicken, und zwar \u00fcher die organischen Elemente des ganzen Organismus und auch des Gehirns und \u00fcher die Monaden irn Sinne der philosophischen Schule.\na. Urt heile lien der organischen K\u00f6rper, Monaden im Sinne der Physiologen.\nDie Elemente der Organisation des Gehirns oder Seelenorgans entstehen, wie alle Elementartheile des thierischen K\u00f6rpers urspr\u00fcnglich aus Zellen, und alle Zellen entstehen aus der Ur-zelle, dem Keime, welcher die Kraft des Ganzen enthalt. Die secund\u00e4ren Zellen, aus welchen Muskelfasern, Nervenfasern, Zellgewebefasern, Sehnenfasern, Knorpel u. s. w., kurz alle Gewe-betheiie sich theils durch Verschmelzung mehrerer Zellen, tlieils durch Verl\u00e4ngerung der Zellen in F\u00e4den bilden, unterscheiden sich in Hinsicht ihrer Produclionskraft von der Urzelle dadurch, dass diese implicite den Grund zur Erzeugung aller secur.d\u00e4ren Zellen, d. h. des Ganzen (explicite) enth\u00e4lt, die secund\u00e4ren Zellen oder Gewebe aber nur ihres Gleichen erzeugen. Die Knorpelzelle erzeugt innerhalb des ganzen Organismus in sich und um sich her neue Knorpelzellen, die Hornzelle neue Hornzellen, die Muskelfasern nur Muskelfasern, die Nervenfasern nur Nervenfasern. Begreiflicher Weise kann daher ein Ganzes als Urzelle oder Keim nur wieder hervorgehen durch das Zusammenwirken aller verschiedenen Zellen, oder dadurch, dass die Kraft des Ganzen sich durch alle verschiedenen Gewebetheile gleich und ganz erh\u00e4lt und sie beherrscht. Der ganze Organismus besteht aber aus einem System sich einander zu einem Ganzen erg\u00e4nzenden, bis auf einen gewissen Grad selbst\u00e4ndigen Theilcben, mit der F\u00e4higkeit ihres Gleichen zu erzeugen, gleichsam secund\u00e4ren Monaden, insofern sie ihren Grund in der Urmonade des Keims haben, und zusammen wieder die Urmonade oder die Keimzelle aber exj>1 icite vorstellen. Die verschiedenen Monaden in diesem Ganzen haben durch ihre Structur und Materie verschiedene Kr\u00e4fte, der Bewegung, Empfindung, Ern\u00e4hrung, Absonderung, oder es kommen verschiedene Naturkr\u00e4fte an ihnen durch ihre Structur zum Vorschein. So wird auch das Gehirn durch die Structur und W echselwirkung seiner Theilchen, als e'\u2022 Masse von gleichsam dele-girten Zellen (Ganglienk\u00f6rperchen), und aus Zellen entstandenen Fasern Organ der Vorstellungen, wie die Muskelzellen und Muskelfasern Organ der Bewegung. Man darf sich aber hier nicht vorstellen, dass die Seele selbst hierdurch aus Theilchen zusammengesetzt w\u00fcrde. Die Vermehrung dieser Elemente hat nicht auf die Masse des Vorgestellten, sondern auf die Sch\u00e4rfe, Klarheit und Combination der Vorstellungen Einfluss, wie denn auch der Verlust von Hirnsuhstanz bei Kopfverletzungen nicht Massen von Vorstellungen wegnimmt, sondern die Klarheit und Sch\u00e4rfe der Vorstellungen aufhebt und bet\u00e4ubt. Aber von den verschiedenen Regionen des Gehirns, von welchen Sinneswirkungen der","page":554},{"file":"p0555.txt","language":"de","ocr_de":"und des Organismus. 1. Theorie.\n555\nNerven sich verbreiten, treten verschiedene Vorstellungen zugleich iin Sensorium aut. Wie nun die wirksamen Tbeilchen des Gehirns der Urform nach eins, mit allen \u00fcbrigen Organtheilchen eins und aus Zellen entstanden, mittelst ihrer Zust\u00e4nde hei den Vorstellungen aui die monadenartigen Organtheilchen des K\u00f6rpers und diese auf jene wirken m\u00fcssen, ist zwar leicht einzusehen. Dage-gegen bleibt die Wirkung und Wechselwirkung dieser Theilchen beim Vorstellen selbst vollends unklar.\nIch muss ausdr\u00fccklich bemerken, dass ich hier unter Monaden keine Atome, sondern die organisirten verg\u00e4nglichen Urtbeil-ehen verstehe, aus welchen, nach der wichtigen Entdeckung von Schwann, urspr\u00fcnglich alle organischen Gewebe besLehen, und welche im Dienste der erschaffenden Kraft des Keims, an Materie und Kr\u00e4ften verschieden, so weit selbstst\u00e4ndig sind, als sie innerhalb des Ganzen und beherrscht von der Kraft des Ganzeu, ihres Gleichen in sich und ausser sich erzeugen, ja selbst vom Ganzen getrennt noch einige Zeit ihre Wirkung fortsetzen, aber auch auf einander wirken, ja h\u00e4utig genug unter einander zu zusammengesetzten Gebilden gleicher Kraft verschmelzen (Nervenfaser, Muskelfaser). Mayer hat das Verdienst schon vor l\u00e4ngerer Zeit, che an die Beobachtung der urspr\u00fcnglich gleichen Gewebestructur gedacht werden konnte, in seinen Supplementen die Idee wirksamer organischer Urtheilchen, organischer Monaden ausgesprochen zu haben. Mir schwebte eine \u00e4hnliche Vorstellung vor, als ich im ersten Theil dieses Werkes 1833 p. 365 die Regeneration der zer-st\u00fcckten Polypen und Planarien, und die Doppelbildung durch Thei-lung des Keimes zu erkl\u00e4ren suchte. Purkinje wurde ebenfalls durch seine Untersuchungen \u00fcber die Structur auf die Idee von selbstst\u00e4ndig wirkenden Urtheilchen im Dienst des Organismus geleitet. Das Material f\u00fcr die allgemeine Theorie der organischen Wesen liefert Schw'ann\u2019s Schrift Mikroskopische Untersuchung en iiher die \u00dcbereinstimmung in der Structur lind im Wochsthum der Thiere und Pflanzen. Berlin 1838. S,\n1>. Monaden im Sinne dor philosophischen Atomistik.\nDer Sinn, in welchem hier von organischen Monaden gesprochen worden, ist sehr verschieden von dem Sinne der Monaden in Uerbart\u2019s Lehre von der Seele und Materie. Nach Herbart (Lehrbuch zur Psychologie p. 122 \u2014133.) ist die Seele ein einfaches Wesen, ohne Theile, oh tu r\u00e4umliche Ausdehnung, ohne irgend eine Vielheit in sich, eine Monade, die Materie selbst besteht aus unr\u00e4umlichen einfachen, wirksamen Wesen, Monaden (Atome), welche im Raume sind, ohne ein Continuum zu bilden, im Gleichgewicht gegenseitiger Attraction und Repulsion sind, und dadurch die Erscheinung einer r\u00e4umlichen Existenz zur Folge haben. Undurchdringlich ist jede Materie nur f\u00fcr diejenigen Wesen, welche das in ihr vorhandene Gleichgewicht der Attraction und Repulsion nicht abzu\u00e4ndern verm\u00f6gen. Jeder organische K\u00f6rper ist ein System von Monaden, in denen ein System innerer Zust\u00e4nde vorhanden ist, welche erst in einer gegenseitigen Wechselwirkung","page":555},{"file":"p0556.txt","language":"de","ocr_de":"556 VI. Buch. V. Seelenleben. III. Abschn. Wechselwirkung J. Seele\nder Monaden auf einander entstanden sind. Diese von der Vorsehung bedingte Vereinigung ist die Ursache der Form eines organischen K\u00f6rpers. In den Keimen bestehl eine Concentration des ganzen Systems innerer Zust\u00e4nde ohne die entsprechende Gestaltung. Die Wechselwirkung zwischen Seele und Leih ist hiernach eine Wirkung der einen vorstellenden Monade auf die inneren Zust\u00e4nde der \u00fcbrigen und umgekehrt. Die vorstellende Monade, welche, wie jede Monade in Hebbart\u2019s Sinn nur einen mathematischen Punct einnehmend gedacht werden kann, bed\u00fcrfe keines festen Sitzes im Gehirn, sondern sie k\u00f6nne sich bewegen in einer gewissen Gegend, ohne dass hiervon in ihren Vorstellungen nur die geringste Ahnung, oder bei anatomischen Nachsuchungen die geringste Spur vork\u00e4me; wohl aber k\u00f6nne man Ver\u00e4nderung ihres Sitzes als eine sehr fruchtbare Hypothese zur Erkl\u00e4rung ihrer anomalen Zust\u00e4nde betrachten. Herbart bemerkt ferner, dass man ohne Grund annehmen w\u00fcrde, dass in allen Thieren und im Menschen der Sitz der Seele an derselben Stelle sei. Wahrscheinlich sei er bei Thieren, besonders bei den niederen, im It\u00fcckenmarke. Man d\u00fcrie auch nicht voraussetzen, dass jedes Thier nur eine Seele habe. Bei Gew\u00fcrmen, deren abgeschnittene Theile fortleben, sei das Ge-gentheil wahrscheinlich, und im menschlichen Nervensystem m\u00f6gen sich gar viele Elemente befinden, deren innere Bildung die einer Thierseele von der niedrigem Art weit \u00fcbertreiben. ln abgetrennten organischen Tbeilen erhalte sich \u00fcbrigens eine Zeit-lang Eeben ohne Seele. Bobrik. (System der Logik. Z\u00fcrich 1838.) geht auch von dieser Ausicht aus, und wendet sie mit Consequenz auf die Erkl\u00e4rung der organischen Vorg\u00e4nge an. Damit Einheit, Totalit\u00e4t, Zweckm\u00e4ssigkeit in die Beweglichkeit der Lebenskr\u00e4fte hineinkomme, bedarf es, sagt Bobrik, einer herrschenden Monade, welche das ganze bereits zu organischer Beweglichkeit vorbereitete Aggregat innerlich gebildeter Monaden zu einem Systeme vereinige. Diese herrschende Monade ist die Form im eigentlichen Sinn. Unter den stufenweise sich anbildenden Bestandthei-len steigen einige bis zur Vollst\u00e4ndigkeit innerer Zust\u00e4nde empor, dass sie selbst Formen k\u00fcnftiger neuer Orgamismen, oder dass sie Samen zur Fortpflanzung werden k\u00f6nnen. Diese Ansicht angewandt auf die wirksamen K\u00f6rperchen oder organisirten Elementartheile der organischen K\u00f6rper, so w\u00fcrde jedes derselben in einem organischen K\u00f6rper ein untergeordnetes System von wirksamen Atomen seyn, welches sich bilden und wieder aufl\u00f6sen kann, ohne dass die wirksamen Atome oder Monaden im Sinne von Herbart zerst\u00f6rbar seven.\nc. A eusse rung ties Seelenlebens in der Organisation des\nGehirns.\nHerbart\u2019s Ansiebt von den Monaden und von der Materie erkl\u00e4rt allerdings das Wirken der Seele auf di e Materie, ohne dass sie selbst Materie ist, da es hierbei nur auf <lie Wirkung eines einfachen Wesens aut andere einfache W esen \u00aboder Monaden ankoinmt.","page":556},{"file":"p0557.txt","language":"de","ocr_de":"und des Organismus. 1. Theorie.\n557\nBei einem weitem Versuch die Bildung r\u00e4umlicher Vorstcl-lungen in der Seelenmonade aus Ver\u00e4nderungen der r\u00e4umlich ausgedehnten Tlieilc des Organismus, und wieder die Wirkung der Seelenmonade auf ganze Summen \"von organischen Fasern zu erkl\u00e4ren, sl\u00f6sst man aber auf unaufl\u00f6sliche Schwierigkeiten. Das Problem aller Zeiten war zu begreifen, wie ein aus i heilen nicht zusammengesetztes einfaches Wesen, die Seele aus dem Nebeneinander der afficirten K\u00f6rpertheile, z. B. aus dein Nebeneinander der afficirten Netzhaultheilchen des Auges eine Anschauung von Nebeneinander erhalte, so zwar, dass ein gewisses Netzhauttheil-chen eine bestimmte Beziehung zum Sehraum erh\u00e4lt. Denn alle Anschauungen des Sehsinnes von r\u00e4umlicher Ausdehnung beruhen darauf, dass die Netzhauttheilcheu\na h c d e f g h i k Im\nin den Relationen der gegenseitigen Lage vorgestellt werden, als sic wirklich nebeneinander existiren. Nimmt man das Beispiel vom Gef\u00fchlsiun her, so ist die Schwierigkeit dieselbe. Denn wir haben jedenfalls das Verm\u00f6gen, das Nebeneinander der Aussendinge durch das Gef\u00fchl zu unterscheiden nur dadurch, dass wir eine Anschauung des r\u00e4umlichen Nebeneinander unserer K\u00f6rpertheile durch das Gef\u00fchl haben. Der ganze Sehapparat ist darauf berechnet, die an entfernten Theilen der Wissenwelt vorhandenen Unterschiede von r\u00e4umlich nebeneinander vorhandenen Dingen, in derselben Ordnung des Nebeneinander auf die r\u00e4umlich ausgedehnte Nervenhaut selbst zu verpflanzen. Ist nun die Seele ein, nur in einem mathematischen Punct denkbares Wesen ohne Bcziehug zum Baume, wie entsteht dann aus dem Nebeneinander der Nerven-theilchen die Vorstellung derselben Ordnung? Man kaipi sich wohl vorstellen, dass eine solche Monade von allen Seilen her gleichsam Impulse erhalte, und dass aus den Impulsen, welche andere Monaden auf die Seelenmonade machen, die Vorstellung des Sehraums entspringe. Allein zu einer solchen Concentration aller Wirkungen der Sinne auf einen Punct zeigt sich in der Organisation des Gehirns keine Andeutung. Am einfachsten w\u00fcrde bei jener Ansicht sejn, zu behaupten, dass wir durch unsern K\u00f6rper-gar keine Empfindungen von Nebeneinander erhalten; und diess ist, wirklich hm und wieder behauptet worden. Steinbuch (Beitr\u00e4ge zur Physiol, d. Sinne. N\u00fcrnberg 1811.) hat den verschiedenen Sinnen die Empfindung des R\u00e4umlichen ganz abgesprochen und behauptet, dass die Anschauungen von r\u00e4umlicher Ausdehnung les Empfundenen erst durch die Bewegungen entstehen. So empfinde die Nervenhaut des Auges nicht das r\u00e4umliche Nebenein-uidcr in ihren Theilchen, sondern diese Perception werde durch de Augenmuskeln vermittelt. Ein beleuchteter Punct der Retina werde durch die bewusste Contraction eines Augenmuskels zu eher leuchtenden Linie. Damit aber andere Theile der Retina beleuchtet werden, bed\u00fcrfe es anderer Conlractionsgrade der Mus-kdn. So wird der r\u00e4umliche Unterschied auf der Retina zu einen zeitlichen der Contraclionen, welche noting sind, um ver-","page":557},{"file":"p0558.txt","language":"de","ocr_de":"558 VI. Buch. V. Seelenleben. III. Ahschn. Wechselwirkung ;!. Seele\nsehiedene Tlieile der Retina nacheinander einer und derselben Beleuchtung auszusetzen. Alle Theitchen der Retina stellen in Beziehung mit bestimmten Contractionsgraden der Muskeln, und so sei durch die Erziehung die Beleuchtung und Empfindung an bestimmten Stellen der Netzhaut stillschweigend an das Bewusst-seyn der jenen Stellen ungeh\u00f6rigen Contractionsgrade gekn\u00fcpft. Bei einer weitern Zergliederung dieser Vorstellung findet sich indess leicht, dass sie etwas rein unm\u00f6gliches voraussetzt. Denn wenn nicht die einzelnen Theilchen der Retina in der Qualit\u00e4t der Empfindung von Natur verschieden sind, so lassen sie sich auch nicht von einander als verschieden wiedererkennen, und ohne diese Unterschiede der Qualit\u00e4t l\u00e4sst sich kein Con-tractionsquantum mit einem Theilchen der Retina in der Erinnerung comhiniren. In der That nimmt auch Toujvtuaj., welcher die unmittelbare Empfindung der r\u00e4umlichen Ausdehnung des Organismus l\u00e4ugnet, an, dass die Seele von allen Theilen des K\u00f6rpers Empfindungen erhalte, die in dem Wie der Empfindung verschieden sind, und dadurch entstehe die Unterscheidung verschiedener Tlieile des K\u00f6rpers. Bedenkt man aber, dass ein neu-gebornes Thier sogleich Anschauungen vom r\u00e4umlichen Nebeneinander durch den Gesichtssinn hat und Bilder wahrnimmt, indem es auf die Zitzen der Mutter hingeht, so glaube ich l\u00e4sst sich die Thatsache nicht bestreiten, dass vor aller Erziehung r\u00e4umliches in der Retina als r\u00e4umliches wahrgenommen werde. Hat aber die Seele das Verm\u00f6gen, das r\u00e4umliche Nebeneinander des K\u00f6rpers zu unterscheiden, so ist es unbegreiflich, wie eine bloss in einem Puncte existirende Monade dazu kommen soll. M\u00f6ge sie sich auch \u00fcber alle Theilchen der Retina hinbewegen k\u00f6nnen, und durch die Excursioncn nach allen Richtungen sich eine Summe aus ihren eigenen Ver\u00e4nderungen bilden, so entspricht doch das Simultane in einer Empfindung, die M\u00f6glichkeit der unmittelbaren Auffassung einer bestimmten fl\u00e4chenhalten Ausdehnung einer Empfindung nicht wohl dieser Ansicht. Wenn dem so ist, so ist auch die Ansicht wahrscheinlicher, dass die Seele in der ganzen Organisation des Gehirns zugleich wirksam sei, ohne selbst aus Theilen zusammengesetzt zu seyn, und dass sie die Unterschiede des R\u00e4umlichen in den Sinnen durch ihre allgemeine Gegenwart wahrnehme. Wir m\u00fcssen uns aber wohl h\u00fcten, dieses f\u00fcr eine Erkl\u00e4rung zu halten. Denn es bleibt hierbei immer unbegreiflich, wie das sich ber\u00fchrende materielle der Sinne, welches jedenfalls allen r\u00e4umlichen Anschauungen des sinnlich Empfundenen zu Grunde liegt, als aussereinander vorgestellt werde. Auch wenn ich mir bildlich denke, dass die sich ber\u00fchrenden materiellen Theilchen in der empfindlichen Substanz der Sinnesorgane in die Vorstellung als sich gegenseitig abstossend; Puncte, wovon andere andere abst\u00f6ssen, aufgenommen werdet, so ist diess eben nicht mehr als ein Bild, und der Uebergang von organisirten Theilchen zum Vorstellen ist noch ebenso schw:r oder nicht zu begreifen, wie das Verh\u00fcllniss der Seele zur Organisation \u00fcberhaupt.\nEs ist leicht zu sagen, den Knoten zerhauend, dass Orgaii-","page":558},{"file":"p0559.txt","language":"de","ocr_de":"und des Organismus. 2. Ph\u00e4nomene.\n559\nsation und innere Kr\u00e4fte des Vorstellens nur verschiedene Namen f\u00fcr eine und dieselbe Sache seyen, dass Materie und Geist durch die Art der Auffassung eines und desselben Dinges uns verschieden scheinen, cs aber nicht sind. Aber das Gehirn bleibt immer eine Vielheit von organisirten Theilen, und in dieser Hinsicht ein \u00e4usserst zusammengesetzter Mechanismus, der zum bloss latenten Zustand der Existenz der Seele im Keime nicht n\u00f6thig, zu ihren Wirkungen auf die Organisation aber n\u00f6thig ist, und der Gebrauch dieses auf das feinste gegliederten Mechanismus durch die Seele bleibt gleich unbegreiflich.\nIndem ich mich an dieser Stelle bescheide klare Begriffe \u00fcber Dinge zu geben, die einmal f\u00fcr immer allem physiologischen Forschen entzogen sind, und die, wenn sie irgend m\u00f6glich, von der Philosophie aufzustellen sind, habe ich es gleichwohl f\u00fcr die Aufgabe des Physiologen gehalten, den mit anderen Wissenschaften zusammenh\u00e4ngenden Stoff, so weit es auf unserm Gebiete m\u00f6glich ist, zu zergliedern und die Resultate der specuiativen Forschungen zur Erzielung einer k\u00fcnftigen N\u00e4herung pr\u00fcfend zu vergleichen. Ich verweise bei dieser Gelegenheit nochmals auf die irn Anf\u00e4nge dieses Abschnittes er\u00f6rterten cosmologischen Systeme, welche mit der zuletzt er\u00f6rterten philosophischen Monadenlehre den Kreis der m\u00f6glichen allgemeinsten Gedanken \u00fcber diesen Gegenstand durchlaufen.\nII. Capitel. Ph\u00e4nomene der Wechselwirkung.\nWenn einmal durch die Wirkung des Keims die Structur des Gehirns erzeugt ist und die Sinne zu wirken anfangen, so entstehen auch Vorstellungen oder geistige Wirkungen, und wie man Licht hervorrufen kann an einem K\u00f6rper durch Stoss und Ver\u00e4nderung seines k\u00f6rperlichen Zustandes, so k\u00f6nnen, auch die geistigen Wirkungen durch Ver\u00e4nderung der Organisation des Gehirns und Ver\u00e4nderung der Materie, welche in die Structur eingeht, ver\u00e4ndert werden. Nicht minder ver\u00e4ndern die geistigen Wirkungen, mit denen die Organisation des Gehirns gleichsam gleichen Schritt h\u00e4lt, auch die Organisation des Gehirns und die Materie, und diesem zufolge auch die Organisation in allen \u00fcbrigen, vom Gehirn beherrschten, belebten K\u00f6rpertheilen. Die Vorstellungen und Gedanken sind nicht aus Theilen zusammengesetzt, erfolgen aber an der theilbaren organisirten Materie, und die Klarheit der Vorstellungen h\u00e4ngt von der Beschaffenheit des Theilbaren durchaus ab.\nHieraus ergiebt sich, dass alle Wirkungen der Seele auf den Organismus, zun\u00e4chst durch Wirkungen auf die Organisation des Gehirns, an welchem die sonst latenten geistigen Kr\u00e4fte actu erscheinen, und vom Gehirn auf den \u00fcbrigen K\u00f6rper wie Irradiationen erfolgen und dass jedes Organ, in so fern es durch das von ihm kommende Blut und seine Nerven auf das Gehirn wirken kann, auch Einfluss auf die Vorstellungen und das Vorstellen haben muss.","page":559},{"file":"p0560.txt","language":"de","ocr_de":"5()0 VI. Buch. V. Seelenleben. III. Abschn. IV'echselmrkung d. Seele\nDieser Einfluss kann entweder erregend oder dr\u00fcckend seyn, so dass das Vorstellen durch die materiellen Einfl\u00fcsse des K\u00f6rpers Laid gef\u00f6rdert, bald gehemmt wird. Die von den Organen kommenden Einfl\u00fcsse k\u00f6nnen begreiflicher Weise keine bestimmten Vorstellungen anderer Art erzeugen, als eben Vorstellungen von Empfindungen und ihrem Inhalt. Insoweit aber \u00f6rtliche Ver\u00e4nderungen der Organe des K\u00f6rpers die Empfindungen der Lust und des Leidens, oder des physischen Impulses der Organe und die damit verbundenen Vorstellungen von F\u00f6rderung, Hemmung und Begierde hervorbringen, in soweit wird auch die Disposition zu leidenschaftlicher Stimmung durch ein dem Gehirn fremdes Organ unterhalten.\n1. Wirkungen der k \u00f6 r p e r 1 i c h en Zust\u00e4nde auf das Vorstellen und Streben.\nDie Erregung organischer Zust\u00e4nde des Gehirns durch das hellrothe Blut ist zur Th\u00e4tigkeit der Seele eine nothwendige Bedingung. Blulentleerung bringt daher Ohnmacht und Bewusstlosigkeit hervor. Aber auch die Qualit\u00e4t des Blutes ver\u00e4ndert das Vorstellen. Die gemeinste Ver\u00e4nderung der Seelen\u00e4usserungen erfolgt von der Aenderung der Nahrung. Durch die Nahrung kommt eine Menge von noch roher Materie in die Circulation. So lange diese Materie ihre Ausbildung noch nicht erreicht liaI, und ihr noch etwas Fremdartiges anklebt, ist sie auch, mit dem Blut zum Gehirn kommend, nicht ein adaequater Heiz zur Erregung der zum Seelenleben n\u00f6thigen organischen Zust\u00e4nde des Gehirns, und insofern das Gehirn von dieser Materie behaftet wird, erf\u00e4hrt auch das Seelenleben eine Hemmung. Daher bei Einigen die Unuulgelegtheit zu geistiger Arbeit nach dem Essen. Diese Hemmung erfolgt noch mehr bei materieller Umstimmung der organischen Zust\u00e4nde des Gehirns durch Alterantia nervina (Spirituosa, Narcotica). Ebenso unadaequat zur Erregung der organischen Zust\u00e4nde des Gehirns sind einige Secreta und Excreta, wie Harnstoff und Galle, welche letztere im Icterus ins Blut auf-genommen, Unaufgelegtheit und Hemmung freier Geistesth\u00e4tigkeil, so wie wegen der Hemmung der organischen Zust\u00e4nde, die aul das Streben und Selbstgef\u00fchl Einfluss haben, Niedergeschlagenheit hervorzubringen pflegt..\nEine zweite Quelle von Behaftungen der Seele durch Aenderung des Gehirns bieten die auf das Gehirn verm\u00f6ge der Nerven wirkenden Zust\u00e4nde anderer Organe dar. Jeder Theil des K\u00f6rpers, der in einem lebhaften sympathischen Verkehr mit den Centralorganen steht, kann im Zustande heftiger Erregung auch das Gehirn und dadurch die Seele heftig erregen, und im Zustande der Hemmung die Seele hemmen, woraus die Delirien und sopor\u00f6sen Behaftungen entstehen. Auch die Strebungen erfahren auf diese Art Hemmungen, und cs wird durch langwierige Hinderungen der Functionen wichtiger Organe der Grund zu \u00e4rgerlicher, niedergeschlagener Gem\u00fcthsstimmung gelegt, welche nichts ist als der Zustund gehemmter Bestrebungen der Seele. Diejeni-","page":560},{"file":"p0561.txt","language":"de","ocr_de":"und des Organismus, \u2018.i. Ph\u00e4nomene.\n561\ngen Organe welche es mit der chemischen Umwandlung der Materien zu thun haben, die Eingeweide, wirken hierbei auf doppelte Weise, th ei Is durch Hemmung der Zustande der Centralorgane verm\u00f6ge des Nervenzusammenhanges, theils durch Aenderung des Blutes und in letzterer Hinsicht kommt auch die Art dieser materiellen Ver\u00e4nderung in Betracht. Daher zeichnen sich die Unterleihseingeweide vor Allen dadurch aus, dass sie in chronischen Krankheiten dauernde Hemmungen der Strebungen der Seele hervorbringen. Vergl. oben Bd. 1. 3. Aull. p. 833. wo bewiesen wurde, dass der Sitz bestimmter Leidenschaften nicht in diesen Eingeweiden zu suchen ist.\nEs giebt auch Organe des K\u00f6rpers, von deren Zustand es abh \u00e4ngt, dass bestimmte, auf ihre Functionen bez\u00fcgliche Leidenschaften entstehen, wie die Geschlechtstheile, der Magen. Diese erregen Empfindungen bestimmter Art und Vorstellungen von Dingen in der Seele, welche die mangelhaften Zust\u00e4nde des Selbst gleichsam vervollst\u00e4ndigen. Die Vorstellung von dem, was diese Zust\u00e4nde vervollst\u00e4ndigt und erweitert, bewirkt aber wieder Str\u00f6me des Nervenprincips nach diesem bestimmten Organ. Denn, wie wir p. 89. gesehen haben, bei Vorstellungen von Zust\u00e4nden, die durch ein bestimmtes Organ ausgef\u00fchrt werden, entsteht ein Strom nach diesem Organ, sei es ein Muskel oder eine Dr\u00fcse. Auf diese Weise entsteht die Disposition zu den Leidenschaften der Liebe durch den Zustand der Geschlechtstheile, und durch den Zustand des R\u00fcckenmarks, als Vermittlers zwischen den Gc-sehiechtstheilen und dem Gehirn. Befinden sich beide in einer gewissen Spannung, so entstehen Strebungen, welche gewisse Vorstellungen heranziehen. Die Action der Organe erregt die Vorstellung, diese dagegen jene. Ohne die Potenz in jenen Tbeilen, sind dergleichen Vorstellungen kalt und entz\u00fcnden nicht die organischen Zust\u00e4nde. Auch die Art der Nahrung hat durch Wirkung auf diese Organe Einfluss auf bestimmte leidenschaftliche Zust\u00e4nde. Aphrodisiaca.\nEndlich hat auch der Zustand des ganzen Nervensystems und der Grad der Erregbarkeit und Mittheilbarkeit einen grossen Einfluss auf die Art der Strebungen. Denn wenn eine Erregung sich sehr schnell in den Nerven verbreitet und schneller eine Ersch\u00f6pfung hinterl\u00e4sst, so ist man auch zu allen Alfeclen starker geneigt, in welchen das Selbst gewaltsam und pl\u00f6tzlich ver\u00e4ndert und geschw\u00e4cht erscheint, z. B. zu Furcht, Angst, Schrecken, Zagen, Muthlosigkeil. Wenn aber das Gegentheil erfolgt und das Nervensystem seine Kr\u00e4fte in Folge einer Erregung erh\u00e4lt, so w ird auch bei einer pl\u00f6tzlichen Erregung, Muth und\" ausdauerndes Streben vorhanden seyn. So werden auch verschiedene Dispositionen in den organischen Zust\u00e4nden obwalten, wenn ein Thier von Natur aus scheu, zaghaft, furchtsam oder muthig, k\u00fchn ist. Beim Menschen ver\u00e4ndern sich diese Dispositionen mit den organischen Zust\u00e4nden, und auch ein kaltbl\u00fctiger und gefasster kann durch den Zustand seines Nervensystems so gestimmt werden, dass er leicht vor allem pl\u00f6tzlichen, wie ein von Natur","page":561},{"file":"p0562.txt","language":"de","ocr_de":"562 VI. Huch. V. Seelenleben. III. Abschn. Wechselwirkung d. Seele\nFurchtsamer, erschrickt, w\u00e4hrend volle Nahrung und ein Glas Wein dem Zaghaften Math macht.\nDie unmittelbare Ver\u00e4nderung der organischen Zust\u00e4nde des Gehirns ver\u00e4ndert das Seelenleben am meisten, wie Entz\u00fcndung, fehlerhafte Bildung, Druck. Alle Reizungszust\u00e4nde des Gehirns machen Delirien, Alles, was hemmt, sei es durch mechanischen Druck oder fehlerhafte Bildung macht schwindelig, sopor\u00f6s oder gar vollends bewusstlos. Daher erregen die verschiedensten materiellen Umwandlungen, Tuberkeln, Eiter, Extravasat, Wasser, ziemlich gleiche Erscheinungen der Jlemmung. Der Druck des Blutes in den Gef\u00e4ssen selbst wirkt ebenso wie der Druck von aussen und macht Schwindel. Die Inanition wirkt \u00fcbrigens dem Druck v\u00f6llig gleich.\nBei unmittelbaren Ver\u00e4nderungen ties Gehirns seihst entsteht viel leichter Alteration im Vorstellen und Denken als Ver\u00e4nderung der Strebung, Leidenschaft. Zu einer Leidenschaft mit Hemmung geh\u00f6rt noch ein gewisser Grad von Lebhaftigkeit der Vorstellungen, welche die Leidenschaft unterhalten, welche bei organischer Hemmung des Gehirns gar nicht mehr m\u00f6glich ist, daher diese auch vorzugsweise als Hemmung der Vorstellungen \u00fcberhaupt erscheint. Die organischen Zust\u00e4nde, welche das Vorstellen unterhalten, finden ohne Zweifel im Gehirn selbst statt, aber die Elemente, welche die Strebungen unterhalten, sind im ganzen Organismus.\n2. Wirkungen der Vorstellungen und Strebungen auf den Organismus.\nDie Wirkungen der Vorstellungen auf dem Organismus bieten ein reiches Feld der mannigfaltigsten Erscheinungen dar, welche an das Wunderbare grenzen. Int Allgemeinen kann man sagen, dass ein Zustand des Organismus, der als kommend vorgestellt und mit der vollkommensten Sicherheit, mit vollem Glauben erwartet wird, auch leicht in Folge einer solchen Vorstellung ein-tritt, wenn er \u00fcberhaupt innerhalb der Grenzen des m\u00f6glichen liegt. Ich erinnere als ein Beispiels f\u00fcr alle an den Fall, welchen Pictet in seinen Beobachtungen \u00fcber das oxydirte Slickgas erz\u00e4hlt, wo man einer Dame Miss B. statt des in Ekstase versetzenden oxydirten Stickgases, um die Wirkung der Einbildungskraft zu pr\u00fcfen, atmosph\u00e4rische Luft zu trinken gab. Sie hatte noch keine drei Ins vier Athemz\u00fcge gethan, als sie, was ihr noch nie wiederfahren war, in Ohnmacht fiel, wovon sie sieh jedoch bald wieder erhohlte. Aus der Bibi. Brit. T. 17. in der deutschen Ausgabe von if. Davy\u2019s Untersuchungen \u00fcber das oxydirte Slickgas 2 Bd. Lemgo 1814. p. 326. Die Wirkungen der Vorstellungen erfolgen hei Alterationen mit Aifect meist nach allen Richtungen auf die Sinne, die Bewegungen und Absonderungen., Aber auch die einfachen und alfeetlosen Vorstellungen bringen die lebhaftesten organischen Wirkungen hervor, wie in dem folgenden offenbar werden wird.","page":562},{"file":"p0563.txt","language":"de","ocr_de":"und des Organismus. Phan!asmcn.\n563\na. Auf die Sinne, Phantasmen.\nPhantasmen oder Haliucinntionen sind Sinnesempfindungen aus inneren Ursachen ohne \u00e4ussere erregende Objecte, mit den eigent\u00fcmlichen Energieen der Sinne. Man hat sie hin und wieder mit den Vorstellungen verwechselt, und f\u00fcr solche Vorstellungen gehalten, deren Realit\u00e4t geglaubt wird. Aber dass ihre Realit\u00e4t geglaubt wird, r\u00fchrt eben davon her, dass sie in den Sinnen sind und mit der Wahrheit der Sinneserscheinungen seihst auftreten, \u00fcberdiess geh\u00f6rt es nicht zum Wesen dieser Ph\u00e4nomene, dass die Realit\u00e4t geglaubt wird. Die Realit\u00e4t blosser Vorstellungen zu glauben, w\u00e4re ein Irrthuin des Verstandes. Vielmehr kann man ein Phantasma haben mit der vollsten Kraft einer Sinnesempfindung, mit Farbe oder Ton, ohne doch an die Realit\u00e4t desselben zu glauben. Die vorzugsweise Aufmerksamkeit auf die Hallucinationen der Geisteskranken f\u00fchrt leicht zu jener falschen Ansicht. Ich vermeide deswegen diesen Ausdruck. Die Zust\u00e4nde, von denen es sich hier handelt, f\u00fchren richtiger, sofern sie sich auf das Auge beziehen, den Namen Vision. Denn sie sind in der That Zust\u00e4nde des Gesichtssinnes und so wahr in ihm begr\u00fcndet, als es alle objectiven Visionen von \u00e4usseren Erregungen sind. Rei den Gesichtsempfindungen aus objectiven Ursachen hat man schon Gelegenheit zu. beobachten, wie das lebhaftere Vorstellen einzelner Netzhauttheilchen gewissen Theilchcn der Bilder eine vorz\u00fcgliche Sch\u00e4rfe gestattet, indem, wie man sagt, die Aufmerksamkeit die einzelnen Theile des Gesammtbildes, d. h. der Netzhaut, selbst nach und nach zergliedert. Siehe hier\u00fcber oben p. 364.\nAuch ohne Sinnesempfindungen stellen wir uns im dunkeln Seh raum der geschlossenen Augen Grenzen, Umrisse und dadurch Gestalten vor. Es scheint, dass auch dieses durch eine Vorstellung einzelner Netzhauttheilchen im ganzen Sehfelde der Netzhaut geschieht. Zur Empfindung des vorgestellten Bildes in einem Liebt oder in einer Farbe k\u00f6mmt es hierbei nicht. Dazu w\u00fcrde geh\u00f6ren, dass die Netzhauttheilchen nicht im Zustande der Ruhe, sondern im activen Zustande, d. h. licht oder farbig erscheinend vorgestellt werden. Diese Art von Vorstellung der Grenzen im Sehfelde ist indess zuweilen so lebhaft, dass scharfe Umrisse wiederkehren, die l\u00e4ngere Zeit anhaltend gesehen worden , z. B. pl\u00f6tzlich die Formen der unter dem Mikroskop lange gesehenen Theilchen vor das Auge treten, nachdem zwischen dem Sehen dieser Dinge und dem pl\u00f6tzlichen Wiedererscheinen des Ged\u00e4chtnissbildes ein Zeitraum von mehreren oder vielen Stunden verflossen ist. Aber es werden nicht blosse Umrisse von gesehenen Dingen im Sehfelde reproducirt, sondern auch neue Confi-gurationen producirt, wenn das Sehorgan von objectiven Eindr\u00fccken frei ist. Diess ereignet sich h\u00e4ufig bei Kindern von lebhafter Phantasie im Dunkeln, wo dann im dunkeln Sehfelde Gesichter und schreckende Fratzen bloss in Umrissen und ohne barbe und Licht hervorzutreten scheinen. Alles diess scheint noch durch eine Vorstellung der ruhigen Netzhauttheilchen zu","page":563},{"file":"p0564.txt","language":"de","ocr_de":"564 VI. Buch. V. Seelenleben. III. Abschn. Wechselwirkung <1. Seele\ngeschehen, von welchen \u00fcberhaupt alle Formen sichtbarer Bilder abh\u00e4ngen, und durch eine Wechselwirkung des Sensoriums und der Theile des Gesichtssinnes zu erfolgen.\nViel seltener im Zustande der Gesundheit, aber oft im Zustande der Krankheit haben dergleichen Bilder Farbe und Licht, und die Netzhautthcilchen oder Theile des Nervus opticus und seiner Fortsetzungen zum Gehirn werden in bestimmten Zustanden der Th\u00e4tigkeit vorgestellt. Das sind die Phantasmen im engern Sinne, die ebenso beim Geh\u00f6rsinne und anderen Sinnen Vorkommen. Der Vorgang bei den Phantasmen ist der umgekehrte der objectiven Sinneserscheinungen, bei dem objecti-ven Gesichtseindruck werden Theilchen der Betina im th\u00e4tigen Zustande r\u00e4umlich nebeneinander vorgestellt, bei dem subjektiven Gesichte ruft das vorgestcllte die Zust\u00e4nde der Netzhauttheil-chen oder des N. opticus hervor. Die Wirkung des r\u00e4umlichen Organes auf die Seele mit Vorstellung von nebeneinander in dem einen Fall, und die Wirkung der Vorstellung von R\u00e4umlichem auf das r\u00e4umlich ausgedehnte Organ in dem' zweiten Fall sind gleich wunderbar, und daher die Vision nicht wunderbarer, als das t\u00e4gliche Sehen.\nDie Zust\u00e4nde, bei welchen diese Erscheinung beobachtet worden ist, sind folgende.\n\u00df. Vor dem Einschlafen und beim Erwachen und Halbwachen. Wer erinnert sich nicht der lebhaften sich vor dem Einschlafen einstellenden Bilder, der Helligkeit in den geschlossenen Augen, die dann zuweilen eintritt, der pl\u00f6tzlich auffahrenden, schnell sich verwandelnden, zuweilen lichtbellen Gestalten, eines zuweilen pl\u00f6tzlich erschallenden Tons ohne \u00e4ussere Ursachen, als wenn uns pl\u00f6tzlich Etwas laut in die Ohren gerufen w\u00fcrde. Man sehe die ausf\u00fchrliche Darstellung dieser Zust\u00e4nde in Moritz und Pocket.\u2019s Magazin der Erjalirungsseelenkunde 5. \u00df. 2. p. 88. Nasse in dessen Zeitschrift fiir Anthropologie 1825. 3. p. 166. J. Mueli.\u00e8r \u00fcber die phantastischen Gesichtserscheinungen. Coblenz 1826. p. 20. Dass diess keine blossen Vorstellungen, sondern wirkliche Empfindungen sind, l\u00e4sst sich bei hinreichender Selbstbeobachtung beweisen. Wer sich vor dem Einschlafen noch beobachten kann, wird die Bilder zuweilen noch in den Augen \u00fcberraschen. Es gelingt aber auch beim Erwachen im dunkeln Zimmer. Denn wenn man schon wach ist, so kommt es zuweilen vor, dass man in den Augen noch lichte Bilder von Landschaften und dergleichen hat. Aristoteles hat diess schon erfahren und in seiner Schrift \u00fcber den Traum Cap. 3 bemerkt. Spinoza machte eine \u00e4hnliche Beobachtung, Opera posthuma epist. 30. Gruitiiuisen beobachtete die Traumbilder nach dem Erwachen in den Augen. Ich habe mich sehr oft dabei \u00fcberrascht, bin aber jetzt seltener dazu disponirt, ich habe mich aber gew\u00f6hnt, in diesem Fall, sogleich die Augen zu \u00f6ffnen, und auf die Umgebung, z. B. die W\u00e4nde zu richten. Die Bilder sind noch auf Augenblicke da, verblassen schnell; sie sind da, wo man sich hinwendet, aber ich habe sie nicht mit den Augen sieh bewegen gesehen. Aus den Nachfragen, die ich j\u00e4hrlich bei meinen Zuh\u00f6rern dar\u00fcber anstelle, ob sie schon ahn-","page":564},{"file":"p0565.txt","language":"de","ocr_de":"und des Organismus. Pliantasmcn.\n565\nliches an sich wahrgenommen, habe ich mich \u00fcberzeugt, dass diese Erscheinung verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig nur sehr wenigen bekannt ist, Denn unter hundert Individuen finden sicli einer oder mehrere, die das kennen. Ich bin indess \u00fcberzeugt, dass dieser Unterschied mehr scheinbar als wirklich ist, und dass mehrere zu der Beobachtung gelangen, wenn sie sich selbst in solchen Augenblicken beobachten lernen. Doch giebt es gewiss auch viele Menschen, denen nie dergleichen Vorkommen wird, und rnir selbst kommt es jetzt zuweilen w\u00e4hrend mehrerer Monate nicht vor, w\u00e4hrend ich in der Jugend viel st\u00e4rker dazu geneigt war. Jean Paul empfahl die Beobachtung der Phantasmen vor dem Einschlafen als Mittel zum wirklichen Einschlafen.\nb.\tDass die Traumbilder im Traume, wenn es sich um mehr als blosse Tr\u00e4ume in Vorstellungen handelt, ganz dasselbe sind, ist in dem Vorhergehenden bewiesen. Denn was man nach dem Erwachen noch in den Augen hat, ist dasselbe, was beim Tr\u00e4umen da war. Vergl. Goethe Varrede zur Farbenlehre. Treffliche Bemerkungen \u00fcber die Traumbilder gab Gruithuisen in seinen Beitr\u00e4gen zur Physiognosie und Fautognosie, p. 236. Auch die Blinden haben zuweilen Tr\u00e4ume von leuchtenden Gegenst\u00e4nden. Siehe J. Mueller a. a. O. Vergl. Heermann in v. Ammon Monatsschrift. 1838. Bis so weit kommen die Phantasmen im Zustande der Gesundheit bei allen Menschen vor.\nc.\tDie Krankheiten, in welchen die Phantasmen eine h\u00e4ufige Erscheinung sind, sind Fieber, nerv\u00f6se Beizung des Gehirns, Hirnentz\u00fcndung (auch bei Beconvalescenten noch einige Zeit), Narkose, Irrseyn, Epilepsie. Ueber die Phantasmen in der Narkose siehe Humphry Davy \u00fcber das oxydirte Stickgas. Lemgo 1814. p. 163. Bicherz in Muratori \u00fcber die Einbildungskraft. 2. Th. Leipz. 1785. p. 123. Nicolai litt einmal an einem Wechsellieber, in welchem schon vor dem Frost kolorirte Bilder in halber Lebensgr\u00f6sse, wie in einen Rahmen gefasst erschienen. Es waren Landschaften, B\u00e4ume, Felsen. Hielt er die Augen geschlossen, so \u00e4nderte sich in einer Minute immer etwas, einige Figuren verschwanden, andere erschienen. Beim Oeffnen der Augen war Alles weg. Bei Entz\u00fcndung des Nervus opticus entstehen auch leuchtende Phantasmen. Sehr merkw\u00fcrdig ist der von Lincke beobachtete Fall, wo nach Exstirpation eines Auges, w\u00e4hrend des entz\u00fcndlichen Stadiums leuchtende Erscheinungen eintraten. Lincke defungo medullari oculi. Lips. 1834. Dieser Fall, sowohl als die in der Berliner Munatssi hrift 1800. p. 253. erz\u00e4hlte Beobachtung, wo eine stockblinde Frau \u00fcber leuchtende Bilder mit grellen Farben vor den Augen klagte, beweisen auch, dass die Nervenhaut des Auges nicht zur Genesis dieser Erscheinungen n\u00f6thig ist, dass vielmehr auch die inneren Theile der wesentlichen Substanz des Sehsinnes zur Bildung leuchtender Phantasmen hinreichen, wie denn auch nach alten Beobachtungen bei Trepanirten ein Druck auf das Gehirn Blitzsehen hervorgebracht hat. Esouirol beobachtete eine tobs\u00fcchtige Person mit ftallucinationen, bei welcher er nach dem lode die Sehnerven vom Auge bis zum Chiasma atrophisch fand. Biet. d. scienc. med. Hallucinations.","page":565},{"file":"p0566.txt","language":"de","ocr_de":"5G6 VI. Buck. V. Seelenleben. III. Ahschn. Wechselwirkung d. Seele\nDie Phantasmen heim Jrrseyn, hei der Hirnentz\u00fcndung und Hirnreizung und in der Narcose werden hei offenen Augen noch \u2022wahrgenommen und comhiniren sich mit ohjectiven Sinneseindr\u00fccken.\nEinfache Hirnreizung ohne Irrseyn begr\u00fcndet die Gesichte derjenigen, die man Vision\u00e4re nennt. Je nach den geistigen Richtungen sind die Gesichter religi\u00f6se, tr\u00f6stende und h\u00fclf-reiche, oder schreckende Gestalten Lebender oder Verstorbener (hieher das second sight bei den nordischen V\u00f6lkern). Die Vision kann hei offenen Augen stattlinden, und Objectives mit Subjectivem sich vermischen. Hierbei kann es Vorkommen, dass das Objective wie durch einen Flor des subjectiven Bildes durchscheint. Einige sehen die Gestalten von Anderen, Einige die Gestalt ihrer selbst, Doppeltseher. Je nach dein Bildungszustande des Vision\u00e4rs werden die Visionen entweder f\u00fcr real oder f\u00fcr krankhafte Zust\u00e4nde des Sensoriums gehalten.\nEin Vision\u00e4r der ersten Art wird sowohl von sich selbst verkannt, als von der abergl\u00e4ubischen Menge und demjenigen, der ihn f\u00fcr einen Irren und Eingebildeten h\u00e4lt. Indem der Vision\u00e4r seine eigenen Sinneswirkungen verkennt, bleibt sein Verstand hinter seinen Naturanlagen zur\u00fcck.\nVision\u00e4re der zweiten Art waren die von Bonnet erw\u00e4hnte Person und Nicolai. Bonnet (analytische Versuche \u00fcber die Sec. lenkr\u00fcfle. Bremen 1780. 2 Th. p. 59.) kannte einen angesehenen Mann, der eine vollkommene Gesundheit, Aufrichtigkeit, \u00dfeur-theilungskraft und Ged\u00e4chtniss besass, und der mitten im wachenden Zustande ohne den geringsten \u00e4usserlichen Eindruck von Zeit zu Zeit Figuren von Personen, V\u00f6geln, Wagen, Geb\u00e4uden vor sich und sich bewegen sah. Bisweilen ver\u00e4nderten sich dem Scheine nach auf einmal die Tapeten in seinen Zimmern. Die Erscheinungen machten einen eben so lebhaften Eindruck, als die Objecte selbst. Dieser Mann wusste die Erscheinung richtig zu beurlheilen und seine ersten Urtheile zu verbessern.\nNicolai\u2019s ber\u00fchmte Visionen waren im Jahre 1791 entstanden, nachdem ein gewohnter Aderlass und das Ansetzen der Blutigel wegen H\u00e4morhoiden unterlassen worden. Auf einmal, nachdem eine heftige Gem\u00fcthsbewegung stattgefunden hatte, stand pl\u00f6tzlich die Gestalt eines Verstorbenen vor ihm, und noch denselben Tag erschienen verschiedene andere wandelnde Personen, welches sich in den n\u00e4chsten Tagen wiederholte. Die Phantasmen erschienen unwillk\u00fcrlich und Nicolai war nicht im Stande, nach Willk\u00fcr diese oder jene Personen hervorzubringen. Auch waren die Erscheinungen meistens unbekannte Personen. Sie erschienen bei Tag und Nacht und mit Licht und Farben, die aber bl\u00e4sser als an den nat\u00fcrlichen Objecten waren. Nicolai ging dabei aus. Nach einigen Wochen fingen die Phantasmen auch zu reden an. Vier Wochen nach dem Beginn dieser Affection wurden Blutigel an den After gelegt. An demselben Tage fingen die Figuren an zu verblassen, sich langsam zu bewegen, zuletzt zerflossen sic so, dass von einigen Figuren eine Zeit lang noch einzelne St\u00fccke zu sehen \u00fcbrig waren. Berliner Monatschrijt 1799 Mai. Goethe","page":566},{"file":"p0567.txt","language":"de","ocr_de":"und des Organismus. Ph\u00e4nomene.\n567\nhat sich wegen der ihm durch Nicolai zugef\u00fcgten Kr\u00e4nkungen an ihm dadurch ger\u00e4cht, dass er ihn als Proctophantasmiast in die Scene vom Blocksberg im Faust versetzte, ein Zusammenhang, der wohl bisher Wenigen bekannt geworden seyn d\u00fcrfte.\nDie seltenste Entwickelungsstufe der Phantasmen bei vollkommenster Gesundheit des Geistes und K\u00f6rpers ist die F\u00e4higkeit, bei geschlossenen Augen das willk\u00fcrlich Vorgestcllte wirklich zu sehen. Es sind nur wenige F\u00e4lle dieser Art bekannt geworden. Hierher geh\u00f6ren Cardanus, Goethe und noch einige andere F\u00fclle, die ich in der erw\u00e4hnten Schrift mitgctheilt. Goethe sagt in seiner Schrift zur Morphologie und Naturwissenschaft: \u00bbIch hatte die Gabe, wenn ich die Augen schloss und mit niedergesenktem Haupte mir in die Mitte des Sehorgans eine Blume dachte, so verharrte sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, sondern sie legte sicli auseinander und aus ihrem Innern entfalteten sich wieder neue Blumen aus farbigen, auch wohl gr\u00fcnen Bl\u00e4ttern, es waren keine nat\u00fcrliche Blumen, sondern phantastische, jedoch regelm\u00e4ssig wie die Rosetten der Bildhauer. Es war mir unm\u00f6glich, die hervorsprossende Sch\u00f6pfung zu fixiren, hingegen dauerte sie so lange als mir beliebte, ermattete nicht und verst\u00e4rkte sich nicht. Dasselbe konnte ich hervorbringen, Avenn ich mir den Zierrath einer buntgemalten Scheibe dachte, Avelcher dann ebenfalls aus der Mitte gegen die Peripherie sich immer fort ver\u00e4nderte, v\u00f6llig wie die in unseren Tagen erst erfundenen Kaleidoskope.\u00ab\nIm Jahre 1828 hatte ich Gelegenheit mich mit Goethe \u00fcber diesen, uns beide gleich interessirenden Gegenstand zu unterhalten. Da er wusste, dass bei mir, wenn ich mich ruhig bei geschlossenen Augen hinlege vor dem Einschlafen leicht Bilder in den Augen erscheinen, ohne dass es zum Schlaf kommt, indem vielmehr die Bilder sehr wohl beobachtet werden k\u00f6nnen, so war er sehr begierig zu erfahren, wie sich diese Bilder bei mir gestalten. Ich erkl\u00e4rte, dass ich durchaus keinen Einfluss des Willens auf Her-vorrufung und Verwandlung derselben habe, und dass bei mir niemals eine Spur von symmetrischer und vegetativer Entwickelung vorkomme. Goethe hingegen konnte das Thema willk\u00fcrlich angeben, und dann erfolgte allerdings scheinbar unwillk\u00fcrlich, aber gesetzm\u00e4ssig und symmetrisch das Umgestalten. Ein Unterschied zweier Naturen, wovon die eine die gr\u00f6sste F\u00fclle der dichterischen Gestaltungskraft besass, die andere aber auf die Untersuchung des Wirklichen und des in der Natur Geschehenden gerichtet ist. Man vergleiche \u00fcber die Phantasmen Abercrombie inquiries concerning the intellectual powers, lidinb. 1830, \u00fcber Geh\u00f6rphantasmen meine erw\u00e4hnte Schrift, 86 und Froriet\u2019s Not.\nB. X. p. 10.\nt). Auf BcAVCgungcri.\nDie Wirkung einer Vorstellung auf Bewegung erfolgt noch leichter als auf die Sinne. Die Ph\u00e4nomene erscheinen unter folgenden Bedingungen.\n\u00cfUiil 1 er\u2019s Physiologie. 2r. Bd, IM.\t37","page":567},{"file":"p0568.txt","language":"de","ocr_de":"568 VJ. Buch. V. Seelenleben. ITT. Absehn, JVecliselcvirkung d. Seele\n4. Der Entschluss zu einer Bewegung setzt die ihr entsprechenden Hirnfasern in Th\u00e4tigkeit, und sie wird ausgef\u00fchrt, in wie weit es durch das System der Cerebro-Spinalnerven geschehen kann. Siehe \u00fcber diese Bewegungen oben p. 92.\n2.\tDie Vorstellung einer Bewegung bewirkt einen Strom nach dem Organ der Bewegung, und f\u00fchrt sie ohne Willen aus. Diess ist hier ganz dasselbe, als die Ausf\u00fchrung einer Vorstellung in der r\u00e4umlichen Ausdehnung des Sinnesorganes. Dahin geh\u00f6ren die ohne den Willen nachgeahmten Bewegungen des G\u00e4hnens, Lachens, Seufzens, der Krampfe beim Sehen derselben. Ueber diese Erscheinungen ist schon oben p. 89. an seinem Orte in Extenso gehandelt. Die mimischen Bewegungen sind gemischte Erscheinungen, bei denen willk\u00fcrliche Darstellungen mit einlaufen.\n3.\tPl\u00f6tzliche ganz leidenschaftslose Ver\u00e4nderungen der Vorstellungen, welche vollkommen objective Verh\u00e4ltnisse betreffen, k\u00f6nnen unwillk\u00fcrliche Bewegungen kervorrufen, wie die Bewegung des Lachens. Dahin geh\u00f6rt der pl\u00f6tzliche Widerspruch zweier Vorstellungen oder die \u00fcberraschende Aufl\u00f6sung eines Widerspruchs.\n4.\tDie Vorstellung von der eignen Kraft macht kr\u00e4ftig. Wer sich Etwas getraut zu vollbringen, vollbringt es leichter, als wer sich\u2019s nicht getraut, ferner kann die Vorstellung von einer gewiss eintretenden Ver\u00e4nderung in den Kraft\u00e4usserungen des Nervensystems so heftige Ver\u00e4nderungen hervorbringen, dass eine bis dahin unm\u00f6gliche Kraft\u00e4usserung m\u00f6glich ist. Dieses geschieht um so leichter, wenn sich dabei ein Mensch zugleich in der Strebung, d. h. im leidenschaftlichen Zustande befindet. Hierher geh\u00f6rt die Selbstheilung der Krankheiten durch die von gewissen Handlungen erwartete wunderth\u00e4tige Wirkung, durch die als gewiss vorgestellte Wunderkur oder den Glauben. Wirkungen, welche innerhalb gewisser Grenzen nicht bestritten werden k\u00f6nnen.\n5.\tDie Strebungen oder Gem\u00fcthsbewegungen bringen unwillk\u00fcrliche Kraft\u00e4usserungen in den Muskeln und Nachl\u00e4sse der Kraft hervor, je nach den excitirenden oder deprimirenden Vorstellungen. H\u00e4ufig sich wiederholende Leidenschaften bedingen einen station\u00e4ren Ausdruck des Gesichts und verrathen die Grundstim-m\u00fcng, gleich wie sich der einzelne leidenschaftliche Zustand durch die physiognomischen Bewegungen verr\u00e4th. Siehe \u00fcber die leidenschaftlichen Bewegungen oben p. 90.\nc. Auf den Bildungsprocess und die Absonderung.\nGanz analog sind die Wirkungen der Vorstellungen und Leidenschaften auf den Bildungsprozess und die Absonderung. Die hierher geh\u00f6rigen Ph\u00e4nomene lassen sich folgen dermassen ordnen.\n1.\t\u00fceberm\u00e4ssige Anstrengungen des Geistes beschr\u00e4nken die Ern\u00e4hrung.\n2.\tDie Vorstellung erregt einen Strom des Nervenprincips nach dem Organ, wo das auf die Vorstellung bez\u00fcgliche abgesondert wird, und um so mehr als man sich hierbei in einer Ge-m\u00fcthsbewegung befindet. So wird der Speichel reichlicher abgesondert bei der Vorstellung der Speisen, die Milch, wenn die","page":568},{"file":"p0569.txt","language":"de","ocr_de":"und des Organismus, Ph\u00e4nomene.\n5(5.9\nMatter das Junge um sich li\u00e2t und sich dasselbe mit Strebung vorstellt (Home), der Samen bei der Vorstellung woll\u00fcstiger Bilder.\n3.\tDie Vorstellung, dass ein Bildungsfehler durch einen gewissen Act aufgehoben wird, verst\u00e4rkt die Wirkung der bildenden Th\u00e4tigkeit, dass dieser Fehler zuweilen ausgeglichen wird. Dabin geh\u00f6rt das Heilen der Warzen durch sogenannte sympathetische Curen, si fabula vera.\n4.\tDie Leidenschaften erregen profuse Absonderungen, Thr\u00e4-nenfluss, Schweiss, Diarrhoe, oder Verminderung der qualitativen Um\u00e4nderung. So wird die Milch der Amme nach Leidenschaften derselben in ihren materiellen Bestandteilen so fehlerhaft, dass sie unverdaulich und reizend f\u00fcr das Kind ist. Unter gewissen Bedingungen entstehen auch in Leidenschaften Retentionen, sey es, dass die nat\u00fcrlichen Bestandteile des Secretes zur\u00fcckgehalten werden und die Absonderung bloss w\u00e4ssrig ist, (urina aquosa nach Schrecken), oder dass die Absonderung gar nicht nach den Dr\u00fcsencan\u00e4len erfolgt, und das Secret vielmehr in das Blut der Capillargef\u00e4sse des Secretionsorganes und so in die ganze Biut-masse \u00fcbergeht, wie bei der Gelbsucht von Zorn, Aerger und anderen Alterationen.\n5.\tDie Dispositionen zu besonderen Krankheiten der Vegetation werden durch Leidenschaften schnell in Vitia manifesta umgewandelt. Kummer, tiefes Leid bringen in k\u00fcrzester Zeit disponirte Phthisis, disponirte Leberkrankheiten, Herzkrankheiten zu Tage und reiben schnell auf.\n6.\tDie Ausbildung des Geistes durch Erfahrung und vielseitige Bildung veredelt auch die k\u00f6rperlichen Formen, besonders des Gesichtes, wie man bei Vergleichung der Formen der verschiedenen St\u00e4nde sieht. Das Erworbene erbt sich dann auch fort. Man sieht diese Wirkung an den sich absondernden Standen, bei welchen wenige Vermischungen mit heterogenen Elementen Vorkommen, und wo eine sorgf\u00e4ltige Erziehung der Kinder gew\u00f6hnlich ist. Die Wirkung geistiger Bildung auf die Gesichts-iormen kann man sich \u00fcbrigens nicht anders vorstellen, als dass aller \u00fcberfl\u00fcssige Bildungsstoff entfernt wird, und die Materie von der Form des Organismus mehr beherrscht wird.\nS eel en\u00e4 uss erun g e n in den zusammengesetzten, gctlieilt.cn und verwachsenen Thier en.\na. Zusammengesetzte Thiere.\nBekanntlich giebt es unter den niederen Thieren viele, welche zu einem Ganzen verbunden sind und deren Stamm in mehrere Individuen ausl\u00e4uft. Schon die Pflanze ist mehr als System von zusammenwirkenden Individuen, denn als einzelne Pflanze zu betrachten. Denn bei ihrem Wachsthum ist jede Knospe ein dem Urtheil gleichgebildeter Theil, welcher auch das Verm\u00f6gen der selbstst\u00e4ndigen Existenz bat, wenn er getrennt wird oder sich selbst trennt, und wird f\u00e4hig zu einem System von \u00e4hnlichen Theilen heranzuwachsen. Die Gef\u00e4sse des Knospenindividuums setzen sich auch in den Gef\u00e4ssschichten des gemeinsamen Stammes\n37*","page":569},{"file":"p0570.txt","language":"de","ocr_de":"570\t/'/. Buch. V. Seelenleben. III. Abschn. Wechselwirkung d. Seele\nbis nach der Wurzel fort, und der Stamm ist gleichsam das zusammengefasste Fascikel aller Individuen, die an verschiedenen Stellen sich vom Stamme abl\u00f6sen.\nUnter die zusammengesetzten \u00cf liiere geh\u00f6ren die zusammengesetzten Vorticellinen, Polypen, Entozoen und Mollusken, alle durch Theilung sich fortpflanzenden Thiere zur Zeit ihrer eingeleiteten, aber noch nicht vollendeten Sonderung. ;Die Individuen sind theils als Aeste eines der Knospenbildung f\u00e4higen Stammes verbunden, wie die individuell belebten Polypen eines Poiy-penstamrnes, theils radial verbunden, wie die Botryllen, theils haufenweise verbunden, oder nebeneinander der Lange nach vereinigt, wie die durch L\u00e4ngstheilung sich mehrenden Infusorien, theils hintereinander verbunden, wie die durch Quertheilung sich mehrenden Infusorien, W\u00fcrmer. Die meisten Pflanzen und von den Thieren die zusammengesetzten sind als Familien von zusammenlebenden Wesen zu betrachten, welche entweder nach und nach an-wachsen und mit dem Stamm verwachsen bleiben, wie in der Mehrzahl tier F\u00e4lle, oder selbst im embryonischen Zustande zusammengesetzt sind, wie die Botryllen nach Sars Beobachtungen, Fror. Not. 1837. N. 51. Zuweilen haben die zusammengesetzten Thiere w ichtige organische Systeme mit einander gemein. Bei den Sertularien communicirt der im Stamme enthaltene Nahrnngscanal mit dem Wahrungscanal jedes Individuums. Bei den Hydren geht, wie schon Trembley. zeigte, der Darm der Knospe ununterbrochen in den Darm des Mutterthiers \u00fcber, und das Junge giebt dem Darm der Mutter, die Mutter dem Darm des Jungen Wahrung. Bei den vereinigten Familien durch Theilung zeugender Waiden, geht der Darm continuirlich durch die Generationen durch und das Mutterthier frisst f\u00fcr alle. Bei den sich theilenden W\u00fcrmern giebt es offenbar einen Zeitpunct, wo die Anlage der neuen Generation, welche nur ein Theil der Gliederung der alten ist, noch dem Sensorium am Kopftheil des Mutterthiers, seinem Willen, seinem Begehren gehorcht und seine Bestimmungen ausf\u00fchrt; in dem Grade als aber die Theilung sich ausbildet und das ausser Wechselwirkung mit dem Sensorium des Mutterthiers tretende St\u00fcck durch Entwickelung der Anlagen des Kopfes sich centralisirt, entsteht auch ein besonderes Wollen und Begehren, welches sich vor der Theilung durch die Versuche des Jungen zur Trennung von der Mutter deutlich genug \u00e4ussert.\nDie zu einem Stamm vereinigten Polypen sind centrirte Individuen, welche zwar verwachsen sind, aber sich selbst bestimmen. Die Reizung des einzelnen Polypen bringt nur ein Zur\u00fcckziehen dieses Polypen und nicht der andern des Stammes hervor. Der Stamm aber enth\u00e4lt keine individuelle Organisation, er begehrt nicht und stellt kein Begehrtes vor, er enth\u00e4lt aber die Kraft zur Erzeugung neuer Individuen durch Knospenbildung. Bei den perennirend \u00e4stigen Polypen ist dieser Stamm auch dem Willen der Individuen entzogen. Am Stamm des Veretillum beobachtete Rapp wohl zuweilen eigene schwache Bewegungen, diese haben aber mit willk\u00fcrlichen Bewegungen keine Aehnlichkeit. Bei den Hydren, welche im sprossenden Zustande Systeme von","page":570},{"file":"p0571.txt","language":"de","ocr_de":"und des Organismus. Ph\u00e4nomene.\n571\nIndividuen sind, die sieh aber von einander abl\u00f6sen, ist der Stamm etwas Anderes, als bei den perennirend \u00e4stigen Coral-lenthieren. Er ist und bleibt vorzugsweiser Tbeil des Mutter-itulividuums, welcher dem Willenseinllusse vom Kopftheil des Mutterthiers unterworfen ist; das Junge \u00e4ussert seinen Willensein-lluss hinwieder bloss bis auf die Stelle, wo es dem Stamm verbunden ist, von dem es sich hernach trennt.\nb. Pathologische Doppelbildungen des Menschen und der Thiere.\nMan kann s\u00e4mmtlicbe Formen der Doppelbildungen, \u00fcber deren Genesis das N\u00f6thige bereits Bd. I. 3. Auf], p. 396. bemerkt worden, ihren wesentlichen Verschiedenheiten nach, in folgenden nat\u00fcrlichen Abtheilungen zur Uebersicht bringen. So hat sich das \u00fcberaus reiche Material im hiesigen Museum k\u00fcrzlich ordnen lassen.\n1. Theihveise Doppelbildung in der Achse.\na.\tTheihveise Doppelbildung der Achse des K\u00f6rpers nach oben bei einfachem Untertheil. Axis sui\u2019sum duplex. Dahin geboren alle Theilungen durch die Kopf- und Wirbelachse von oben vom Minimum, Doppelbildung der Schnautze, des Kopfes, bis zur Theilung des gr\u00f6ssten obern Theils des K\u00f6rpers bis zum Kreuzbein oder noch weiter.\nb.\tTheilweise Doppelbildung der Achse des K\u00f6rpers nach unten. Axis deorsum duplex. Das Umgekehrte bis zum Minimum, Einfachheit der Schnautze bei zwei Hinterk\u00f6pfen und zwei K\u00f6rpern.\nII. Avis duplex. Vereinigung zweier K\u00f6rper bei doppelter Achse\nmit gleichnamigen Theilen ohne Verlust, oder mit Verlust\ndazwischen liegender Theile.\na.\tVereinigung ohne Verlust mit vollst\u00e4ndiger Erhaltung aller Theile zweier Embryonen. Hierbei scheinen sich die Embryonen theilweise zu spalten. Z. B. der Kopf a -jr erleidet eine Theilung der beiden Gesichtsb\u00e4lften h und h bei einfachem Hinterkopf \u00ab, und der Kopf -\u25a0 a erleidet ebenfalls eine theilweise Spaltung in die beiden Gesichtsh\u00e4lften \u00df und \u00df bei einfachem Hinterkopf. So dass die Confusion aj-~u entstellt, wo jedes Gesicht b\u00df aus H\u00e4lften besteht, die zweien verschiedenen Embryonen angeboren, wie sich aus der Untersuchung der Sch\u00e4del und des Gehirns ergiebt. Vergl. J. Geoffroy Sr. Hjt.aire hist. d. anomalies T. 3, p. 110. Hierher geh\u00f6ren der Syn-cephalus, Synthorax, Syngaster, auch der Pygodidymus von Gun LT ohne Defect. Der Syncephalus ohne Defect ist die Janusmisgeburt. Es giebt aber auch Synthorax und Syngaster, wo dasselbe an Brust und Bauch stattlin-det, was beim Janus am Kopf.\nb.\tVereinigung gleichnamiger Theile zweier Embryonen mit Verlust dazwischen liegender. Dasselbe Princip, woraus die Verschmelzungen paariger Organe bei nicht doppelten Missgeburten entstehen. Confusion und Verlust bildet bald","page":571},{"file":"p0572.txt","language":"de","ocr_de":"572 i l. Buch. V. Seelenleben. III. Abschn. Wechselwirkung d. Seele\nvon tier Seite, bald von vorne statt. Syncephalus apro-sopus mit Verlust der Gesichter, und entsprechende Formen des Synthorax, Syngaster. Die seillichen Syncephalen mit Verlust gehen in die Theilungen der Achse \u00fcber.\nc. Vereinigung zweier K\u00f6rper mit ungleichnamigen Theilen.\nIII.\tImplantatio. Vereinigung von zweien K\u00f6rpern, wovon der eine ganz bleibt, der andere bis auf einen Rest verloren geht.\na.\tImplantatio externa, aa. Implantatio externa aequalis. Implantation in homologen Stellen. Aus der Brust eines voll-k\u00f6inmnen Kindes h\u00e4ngt der Hintertheil des K\u00f6rpers eines zweiten ohne Vordertheil. Dritter Fuss, parasitischer Kopf, Kiefer etc. bb. Implantatio externa inaequalis. Implantation an heterogenen Theilen.\nb.\tImplantatio interna, foetus in foetu.\nIV.\tDupplicit\u00e4t einzelner Theile durch Theilungen ausser der Achse. Die Grenze zwischen der 3. und 4. Form ist in einzelnen F\u00e4llen schwer zu ziehen. Siehe \u00fcber die Anatomie der Doppelmissgeburten Barkow Monstra animalium duplicia per anatomen indagata. Lips. 1828.\nUnsere Kenntnisse von den Seelen\u00e4usserungen der Doppel-misgeburten sind noch sehr gering, weil die Gelegenheit zur Beobachtung derselben sehr selten ist, und die meisten Doppelt-misgeburten nach der Geburt sterben. Indessen sind doch schon einige wenige Beobachtungen \u00fcber die wichtigsten Combi-nationen vorhanden. Bei Duplicit\u00e4t des obern Theiles der Achse und Einfachheit des untern haben die beiden K\u00f6pfe nicht etwa zugleich Willenseinfluss auf den untern einfachen Theil des Rumples, -wie man es erwarten k\u00f6nnte, sondern der rechte Kopf bewegt nur die rechte H\u00e4lfte und die rechte untere Extremit\u00e4t des Rumpfes, der linke Kopf nur die linke Extremit\u00e4t, wie die an der Rita Christina angesteliten Beobachtungen erweisen. Serres recherches d'anatomie transcendante et pathologique. Paris 1832. Auch brachten R.eize an dem rechten Fuss angebracht nur Empfindungen im\u00ab rechten Kopfe, Reize am linken Fuss Empfindungen im linken Kopfe hervor. Ber\u00fchrung in der Mittellinie des einfachen Theils des Rumpfes wurde allein von beiden empfunden. So dass die F\u00e4lle dieser Art mehr aus Confusion zweier Keime mit Zerst\u00f6rung der Zwiscbentheile, als aus Theilung eines einzigen Keimes entstanden zu sevn scheinen. Rita und Christina flatten den obern Theil des Darms bis zum Ileum doppelt, den untern einfach. Das Gef\u00fchl von der Noth Wendigkeit der Darmausleerung war beinahe immer in beiden Individuen gleichzeitig. Wach der vorhererw\u00e4hnten Thatsache leidet es auch keinen Zweifel, dass der einfache Theil des Darms aus der Confusion von zweien D\u00e4rmen mit Verlust der Zwiscbentheile beider D\u00e4rme entstanden ist. Vergl. J. Geoffroy St. Hilaire III. p. 189.\nWas die F\u00e4lle mit einfachem Hirn und Sch\u00e4del und Theilung der Achse mit Verdoppelung der Schnautze oder des Rumpfes betrifft, so habe ich gl\u00fccklicher Weise selbst Gelegenheit gehabt, eine Beobachtung anzustellen. Diese betrifft ein lebendes Kalb mit einfachem K\u00f6rper und Iiinterkopf, aber doppeltem Ge-","page":572},{"file":"p0573.txt","language":"de","ocr_de":"und des Organismus. Ph\u00e4nomene..\n573\nsicht, in der Art, dass die Schnautze doppelt, von den vier Au\u00dfen aber die zwei mittleren in eines verschmolzen waren. Ich habe dieses Thier innerhalb eines K\u00e4figs vor vielen Jahren lebend gesehen, aber nur eine kurze Zeit und unvollst\u00e4ndig beobachten k\u00f6nnen, weiss auch nichts von seiner Anatomie. Da ich nicht Besitzer dieses K\u00f6rpers war, so interessirte mich nur zu wissen, wie das Thier gegen Empfindungen reagirte. Als ich nun mit einem Stock an den Mund der einen Schnautze anstiess, war ich sehr erstaunt, dass sich beide Zungen zugleich und ganz in derselben Weise nach aussen bewegten. Ich weiss mich nicht mehr ganz bestimmt zu erinnern, oh beide Zungen hierbei divergirten, oder ob die Bewegung aus dem Munde von beiden Zungen nach einer und derselben Seite ausgef\u00fchrt wurde. Doch ist mir das Erstere das wahrscheinlichere. Es ist sehr zu w\u00fcnschen, dass die Gelegenheit zur Beobachtung \u00e4hnlicher F\u00e4lle wohl wahrgenommen werde. Bei einer gleichzeitigen Ausf\u00fchrung des einen Willens durch zwei doppeltgebildete Werkzeuge ist die Idee der Genesis der Doppelbildung durch Theilung des Keimes wahrscheinlicher, als die Fusion.\nBei den F\u00e4llen von Implantation bietet sich am h\u00e4ufigsten Gelegenheit zur Beobachtung dar. Implantirte Theile von Embryonen ohne dazu geh\u00f6rigen Kopf haben meist gar keine Empfindung\u2019 so dass, auch das Individuum, welchem sie implantirt sind, von ihnen aus keinerlei Empfindung hat. So bei dem w\u00e4hrend des Lebens von Burdach (Hied. Zeitung des Vereins f\u00fcr Heilkunde in Preussen. II. 209.) untersuchten Knaben, welchem aus der Oberbauchgegend vier wohlgebildete Extremit\u00e4ten hervorh\u00e4ngen. Das Pr\u00e4parat befindet sich im hiesigen anat. Museum, Nerven des Mutterstammes gehen nicht in diese Anh\u00e4nge ein, welche von den Vasa mammaria ern\u00e4hrt werden. Vergl. \u00fcber mehrere \u00e4hnliche F\u00e4lle J. Geoffroy St. Hilaire a. a. O. Man bat aber auch schon F\u00e4lle beobachtet, wo dergleichen Anh\u00e4nge mit Empfindung ihres Mutterstammes gereizt wurden. Siehe ebendas. 227. 231. Welches nicht unm\u00f6glich scheint, wenn man bedenkt, dass implantirte Nasen anfangs gef\u00fchllos sind, allm\u00e4hlig aber Gef\u00fchl erhalten.\nEin Fall, der noch in keiner Doppelmisgeburt beobachtet worden, ist der doppelte Willenseinfluss einer doppeltk\u00f6pfigen Misgeburt auf einen einfachen Rumpf. Dass diess jedoch wenigstens bei den niederen Thieren im Reiche des M\u00f6glichen liegt, kann nicht gerade verneint werden, und es w\u00e4re vielmehr eine genauere Beobachtung an k\u00fcnstlich hervorgebrachten Doppeltbildungen von Hydren w\u00fcnschenswerth, wo sich doppeltk\u00f6pfige Thiere mit einfachem Rumpfe, wie TTkembley zeigte, leicht durch Zertlieilung des Kopfendes der L\u00e4nge nach erzeugen lassen. Die \u00e4stige Vorticelle Carchesium polypinum Eiirme., welche sich durch Selbstlheilung der L\u00e4nge nach vermehrt, und wo die getheilten Individuen auf demselben durch eitren Muskel coutraetilen Stiel sitzen, geh\u00f6rt vielleicht hieher.","page":573},{"file":"p0574.txt","language":"de","ocr_de":"574 VI. Buch. V. Seelenleben. III. Abschn. Wtechselovirkung d. Seele\nc. Mutter und F\u00f6tus.\nDie Verbindung des F\u00f6tus mit der Mutter gleicht der Verbindung der, von Anfang der Entwickelung an sieb centrirenden und isolirenden individuell belebten Sprosse eines Polypen mit dem Mutterstamm. So wenig als der Wille des Mutterstammes den entwickelten Reim bewegt, so wenig kann bei den S\u00e4uge-thieren und dem Menschen eine solche Einwirkung erwartet werden. Bei den sich durch Theilung fortpflanzenden Wahlen, wird das, was sp\u00e4ter Individuum wird, fr\u00fcher als Theil des Ganzen von dem Kopf des Mutterthiers willk\u00fcrlich bewegt, aber dieses ist ein ganz anderer Fall, es ist die Isolirung eines dem Willen unterworfenen Theiles zum Individuum.\nAn dieser Stelle ist auch die Wirkung des Geistes der Mutter auf die bildende Th\u00e4tigkeit des Foetus zu er\u00f6rtern.\nEs entsteht die Frage, ob es so ausgedehnte Wirkungen der Seele gebe, dass bestimmte Vorstellungen von r\u00e4umlichen Erscheinungen auch entsprechende r\u00e4umliche Erscheinungen in irgend einem Theil des Ganzen plastisch hervorbringen k\u00f6nnen. F\u00fcr die Empfindungen und Bewegungen giebt es ein solches Ver-h\u00e4ltniss. Kann aber der belebte K\u00f6rper, wenn eine Form von bestimmter Farbe vorgestellt wird, auf einem Theil der Haut diese Form in ver\u00e4nderten Hauttheilchen nachbilden? Diese Frage ist identisch mit der vom Versehen der Schw\u00e4ngern, bei dem letztem wird diese Wirkung nur noch \u00fcber die Grenze eines Organismus hinausgehend vorausgesetzt.\nDer Einfluss der Phantasie auf die Heilung kleiner Bildungsfehler, z. B. einer Warze bei den sympathetischen Euren kann nicht f\u00fcr diese Annahme angef\u00fchrt werden; denn die Wirkung der Vorstellung erzielt hier keine bestimmte Form, sondern Alles beruht auf einer quantitativen Steigerung des nat\u00fcrlichen Bildungs-processes. Ist diese Steigerung vorhanden, so l\u00e4sst er das Bestehen eines solchen krankhaften Productes nicht zu und es wird, da es sich nicht selbstst\u00e4ndig gegen diese Gewalt erhalten 'kann, allm\u00e4hlig aufgel\u00f6st. Beim Versehen hingegen soll etwas Positives gebildet werden, und die Form des Gebildes soll der Form in der Vorstellung entsprechen. Diese Wirkung ist schon deswegen unwahrscheinlich, weil sie sich von einem Organismus auf den andern erstrecken soll; die Verbindung von Mutter und Kind ist aber nichts Anderes, als eine m\u00f6glichst innige Juxtaposition zweier an und f\u00fcr sich ganz selbstst\u00e4ndiger Wesen, welche sich mit ihren Oberfl\u00e4chen anziehen und wovon das eine die Nahrung und W\u00e4rme giebt, die sich das andere aneignet. Aber abgesehen davon l\u00e4sst sich diese alte und h\u00f6chst popul\u00e4re Superstition vom Versehen durch viele andere Gr\u00fcnde entkr\u00e4ften. Ich habe Gelegenheit die meisten Monstra zu sehen, welche in der Preuss. Monarchie geboren werden. Gleichwohl kann ich behaupten, dass mir trotz dieser grossen Gelegenheit in der Regel nichts Neues in dieser Weise vorkommt, und dass sich hierbei nur gewisse Formen wiederholen, welche den grossen Reihen der Hemmungsbildungen, Spaltbildungen, Defecte, Verschmelzungen seitlicher","page":574},{"file":"p0575.txt","language":"de","ocr_de":"und des Organismus. Temperamente.\n575\nTheile mit Defect der mittlern u. s. w. angeboren. Und dennoch heisst es in den Berichten \u00fcber dergleichen Monstrosit\u00e4ten sehr oft, dass sich die Mutter versehen unit wie sie sich versehen habe, obgleich die Monstrosit\u00e4t nicht die geringste Aehnlichkeit mit dem Gegenstand des Versehens li\u00e2t. Bedenkt man ferner, dass sich jede Schwangere w\u00e4hrend der Zeit ihrer Schwangerschaft gewiss \u00f6iter erschreckt, und dass sehr viele sich gewiss wenigstens einmal, wenn nicht mehreremal versehen, ohne dass dieses irgend eine Folge hat, so wird es, falls eine Monstrosit\u00e4t irgendwo geboren wird, gewiss nicht an Gelegenheiten fehlen, diese auf eine dem popul\u00e4ren Glauben entsprechende Weise zu erkl\u00e4ren. Die vern\u00fcnftige Lehre vom Versehen reducirt sich daher darauf, dass jeder heftige, leidenschaftliche Zustand der Mutter auf die organische Wechselwirkung zwischen Mutter und Rind einen ebenso pl\u00f6tzlichen Einfluss haben, und dem zu Folge auch eine Hemmung iler Bildung oder ein Stehenbleiben der Formationen auf gewissen Stufen der Metamorphose herbeif\u00fchren kann, ohne dass jedoch die Vorstellung der Mutter auf die Stelle, wo sich dergleichen Retentionen erzeugen, Einfluss haben k\u00f6nne. Die meisten Monstra sind an mehreren Stellen monstr\u00f6s und oft trifft man Hemmungsbildungen in den verschiedensten Theilen des K\u00f6rpers.\nWenn die Vorstellungen eines organischen Wesens sich nicht plastisch in einem andern organischen Wesen realisiren, so ist nach allem Vorhergehenden auch wenig wahrscheinlich, dass ein vorstellendes Wesen auf die Vorstellungen eines andern organischen Wesens Einfluss \u00fcben k\u00f6nne auf andere Weise, als durch Sprache und Zeichen. Obgleich es nicht gel\u00e4ugnet werden mag, dass es noch ungekannte oder sogenannte magnetische Wirkungen der organischen Wesen auf einander und vielleicht in Distans auf die Nerven giebt, so w\u00fcrde doch die Annahme \u00fcbergehender Vorstellungen und Seelenzust\u00e4nde von einem Menschen auf einen andern, wie es von den magnetischen Rapporten, von den Ahnungen u. dergl. hin und wieder ausgesagt wird, ebenso unerweislich als unbegreiflich seyn.\nIII. Capitel. V on den Temperamenten.\nDie Temperamente sind perennirende eigenth\u00fcmliche Zust\u00e4nde und modi der Wechselwirkung der Seele und des Organismus. Sie gr\u00fcnden sich vorz\u00fcglich auf das Verh\u00e4ltniss der Strebungen zu dem erregbaren Organismus. Unterschiede der Menschen in Hinsicht der F\u00e4higkeiten zum niedern, hohem Vorstellen, Abs-trahiren, Urtheilen, Reproduciren, Produciren und Combiniren der Vorstellungen k\u00f6nnen nicht Temperamente genannt werden, sie sind vielmehr das, was man ingenia nennt. Die Aufstellung der Temperamente ist uralt, vortrefflich und vielleicht unverbesserlich. Die Begr\u00fcndung der aufgestellten Temperamente der Alten war so fehlerhaft, als ihre Ansichten von den Grundbestandteilen des menschlichen K\u00f6rpers. Die Galenische Unterscheidung des sanguinischen, phlegmatischen, cholerischen, melancholischen","page":575},{"file":"p0576.txt","language":"de","ocr_de":"576 VI. Buch, V. Seelenleben. III. Abschn. Wechselwirkung d. Seele\nTemperamentes gr\u00fcndet sieli auf die Lehre der griechischen Naturphilosophen von den vier Elementen Luft, Wasser, Feuer, Erde und den diesen entsprechenden Qualit\u00e4ten W\u00e4rme, K\u00e4lte, Trockenheit, Feuchtigkeit. Jenen Elementen sollen aber im menschlichen K\u00f6rper vier Grundbestandtheile 13lut, Schleim, Galle und Schwarzgalle entsprechen, je nach deren Vorwiegen, entstehen die Temperamente.\nEs gereicht wenig zur Aufkl\u00e4rung des Gegenstandes hier anzuf\u00fchren, welche mannigfache andere Eintbeilungen der Temperamente versucht worden. Allerdings liegt es sehr nahe, in den Grundformen der Functionen und ihrer organischen Systeme eine Begr\u00fcndung der Temperamente zu suchen, \u25a0/.. B. in dein vegetativen, motorischen und sensibeln System, und von dem Vorwiegen eines dieser Systeme die Temperamente zu erkl\u00e4ren. So w\u00fcrde man ein vegetatives, irritables und sensibles Temperament erhalten. Aber es sind nicht gerade aus dem Vorwiegen eines der organischen Systeme die geistigen Eigenschaften der Temperamente ahzuleiten. Denn die Muskelkraft ist weit entfernt cholerisch zu machen, und das phlegmatische Wesen k\u00f6mmt bei gut vegetirenden und schlecht vegetirenden vor. Nicht alle Wohlgen\u00e4hrte und Dickbeleibte sind phlegmatisch, es giebt sein-hagere Menschen genug von entsetzlichem Phlegma und es giebt cholerische von wohlgen\u00e4hrter, hagerer, muscul\u00f6ser und zarter Beschaffenheit und ebenso sanguinische. \u00fceberhaupt sind die Bestrebungen den Temperamenten einen bestimmten K\u00f6rperbau anzuweisen fehlerhaft. Man muss vielmehr von den Temperamenten gewisse physiologische Constitutionen unterscheiden, die allerdings auf die relative Ausbildung der organischen Systeme gegr\u00fcndet sind, wie die muscul\u00f6se, vegetative, sensible Constitution, welche sich mit den Temperamenten verbinden k\u00f6nnen.\nWas die Lehre von den Temperamenten gar verwirrt hat, ist die Vermischung der pathologischen Constitutionen mit den Temperamenten. Da sollen die Phlegmatischen gedunsen, blass, und lymphatisch seyn, was einen relativen Ueberfluss von Liquor sanguinis gegen die Blutk\u00f6rperchen andeuten w\u00fcrde. Krankheiten der S\u00e4ftebildung, Skrophelsucht, Bleichsucht u. dergl. sollen dabei disponirt seyn. Die Sanguinischen f\u00fchrt man bis zum phthisischen Habitus und zur phthisischen Constitution, und l\u00e4sst sie zu Fiebern, Lungenkraukheiten, activen Blutungen geneigt seyn. Die Choleriker sollen zu Krankheiten der Leber disponirt seyn. Alles diess und Aehnliches beruht auf der Verwechselung und Vermischung der leucotisclien, phthisischen, hepatischen, nerv\u00f6sen Constitutionen und anderer krankhaften Anlagen mit den Temperamenten. Es giebt viele Cholerische, die sieh im Affect Alles eher verderben, als die Leber, z. B. schlecht verdauen, Herzklopfen bekommen, zittern und zucken. Die bili\u00f6se Constitution mit der Disposition zu LeberafFectionen allein wird eine gelbliche Farbe mit sich f\u00fchren und in Leidenschaften \u00fcberhaupt, nicht bloss im Aerger und Zorn die Anlage zur Erscheinung bringen.\nNach meiner Meinung beruhen die Temperamente lediglich auf der verschiedenen Disposition zu Strebungen und Gem\u00fclhsbe-","page":576},{"file":"p0577.txt","language":"de","ocr_de":"und des Organismus. Temperamente.\n577\nwegungen, die von den Hemmungen und Erregungen der Triebe herr\u00fcbren, d. b. auf der Disposition zu den Zust\u00e4nden des Begehrens, der Lust und Unlust und auf der Nahrung, welche diese Seelenzust\u00e4nde in der Mischung und in den Zust\u00e4nden der or-ganisirten Theile vorfinden. Dass die Strebung in der Grundeigenschaft der organischen Wesen ihr Selbst zu affirmiren beruhe, welche, ohne immer bestimmte Empfindungen zu erregen, doch in das Gebiet des Vorstellens einwirkt und sich mit Vorstellungen combinirt, ist schon als wahrscheinlich hingestellt worden.\nWenn diese Strebungen wegen der organischen Grundlage weder heftig sind, noch anhalten, so entsteht das phlegmatische oder gem\u00e4ssigte Temperament, bei welchem die Vorstellungen \u00fcber die Dinge mehr oder weniger Vorstellungen und Combination von Vorstellungen bleiben, ohne auffallende Hemmungen oder Erweiterungen des Selbstgef\u00fchls, ohne merkliche Lust, Unlust und Begierde zu erregen. Der Phlegmatische, von dem wir hier bandeln, ist keine pathologische Erscheinung. Seine Gedanken gehen nicht, tr\u00e4ger vor sich, als bei Anderen, und es ist hier eine gewisse Gr\u00f6sse des geistigen Lebens, wie in jedem andern Temperamente m\u00f6glich. Bei guten geistigen Anlagen wird diese Art des Phlegma zu Handlungen und ausserordentlichen Erfolgen m\u00f6glich machen, die selbst bei gr\u00f6sseren Trieben nicht m\u00f6glich sind. Denn ohne grosse Strebungen und Gem\u00fcthsbewegungen bleibt man kalt, man l\u00e4sst sich nicht zu Handlungen hinreissen, welche man morgen bereut, man kann sicherer und zuverl\u00e4ssiger seyn, seine Erfolge sicherer berechnen; in der Gefahr und im entscheidenden Moment hat man, wenn es auf Rath, Berechnung, Erw\u00e4gung und nicht auf eine schnell zu entwickelnde Energie ankommt, seine Kr\u00e4fte zusammen. Energie des Handelns, die auf der F\u00e4higkeit zu Strebungen beruht, darf man allerdings bei unserm Phlegmatischen nicht erwarten, aber Gewinn durch Zaudern und behutsam berechnende Ausdauer. Vorg\u00e4nge, welche den Cholerischen, Sanguinischen zu schnellem leidenschaftlichen Handeln bestimmen, welche sie zu herben und bittern Empfindungen veranlassen, werden bei dem Phlegmatischen objectiv vor\u00fcbergehen und in ihm bloss das Nachdenken anregen, so dass er weder klagt, noch dreinschl\u00e4gt, sondern ruhige Betrachtungen \u00fcber die Menschen und menschlichen Zust\u00e4nde anstellt. Er empfindet seine Leiden nicht stark, tr\u00e4gt sie mit Geduld, und empfindet auch nicht allzuviel bei anderer Leiden. Er schliesst nicht h\u00e4ufige Freundschaften und bricht sie nicht, und kann dabei ein recht zuverl\u00e4ssiger und in der Gesellschaft h\u00fclfreicher Mann seyn. Seine Plane erreicht er weniger sicher, wenn es auf Kraftentwickelung in kurzer Zeit ankommt, und Andere eilen ihm dann voraus; wenn es keine Eile hat, und sich die Sache ab warten l\u00e4sst, k\u00f6mmt er ruhig zum Ziele, wenn andere Fehler \u00fcber Fehler gemacht, und l\u00e4ngst durch ihre Strebungen abwegs gef\u00fchrt sind. Der Phlegmatische kennt seine Grenzen und wird nicht in fremde Gebiete und in Conflicte gebracht. Dieses, sowie eine planm\u00e4ssige, ruhig verfolgte Th\u00e4tigkeit, bei der er weiss, was er will und Selbstt\u00e4uschungen vermeidet,","page":577},{"file":"p0578.txt","language":"de","ocr_de":"578 VI. Buch. V. Seelenlehen. III. Abschn. Wechselwirkung d. Seele\ngew\u00e4hren ihm eine zufriedene Seelenstimmung, ohne st\u00fcrmische Gen\u00fcsse und tiefe Leiden.\nEine schon pathologische Erscheinung ist jene Art des Phlegma, welches durch Tr\u00e4gheit, Apathie, Theilnahmlosigkeit, Unschl\u00fcssigkeit, Langeweile, Mangel an Fassungskraft, Langsamkeit der geistigen Fortschritte sich auszeichnet und den wenig tief empfundenen Schmerz der Arbeit und Anstrengung vorzieht.\nDie ungem\u00e4ssigten Temperamente sind das cholerische, sanguinische und melancholische. Die Gem\u00fcthsbewegungen beruhen auf den Strebungen, auf ihren Hemmungen und Steigerungen durch vorgestellte Objecte mit den Zust\u00e4nden der Unlust und Lust. Hier kann nun das Streben mit Ausdauer der organischen Actionen stark seyn bis zur Ueberw\u00e4ltigung der Hindernisse, und es kann auch die Gem\u00fctbsbewegung der Lust und Unlust stark seyn bei einer gewissen Heftigkeit des Empfindens, hei einer relativen Schw\u00e4che der Reaction durch fortdauernde Strebungen und organische Actionen. Im ersten Fall erh\u00e4lt man das cholerische, im zweiten das sanguinische und melancholische Temperament, welche beiden letztem auf derselben Grundstimmung beruhen und einander n\u00e4her verwandt sind, als den anderen Temperamenten.\nDer Cholerische ist ausserordentlicher, sowohl heftiger, als ausdauernder Kraftentwickelungen f\u00fcr leidenschaftlich aufgefasste und begehrte Zust\u00e4nde seiner selbst und Anderer f\u00e4hig. Seine Gem\u00fcthsbewegungen entflammen sich, wo sein Streben fortzuschreiten oder zu beharren eine Hemmung erf\u00e4hrt, sein Ehrgeiz, seine Eifersucht, seine Rachsucht, seine Herrschsucht kennen keine Grenzen, so lange er in seinen leidenschaftlichen Zust\u00e4nden verharrt. Er \u00fcberlegt wenig, er handelt sogleich ohne Zweilei, weil er allein Recht hat und vorz\u00fcglich weil er es will, und wird nicht bald entt\u00e4uscht, er verharrt unvers\u00f6hnlich in seinen leidenschaftlichen Strebungen bis zum eignen Ruin und zum Ruin Anderer.\nBei dem Sanguinischen ist die Lust die Grundstimmung, bei leichter Erregbarkeit und kurzer Dauer der Zust\u00e4nde. Er geniesst und sucht den Genuss, nimmt bald Antheil, schliesst bald Freundschaftsb\u00fcndnisse und giebt sic leicht auf, wechselt seine Neigungen und ist wenig verl\u00e4ssig; er wallt leicht auf und bereut bald, verspricht leicht und viel und h\u00e4lt es auch jetzt, aber nicht sp\u00e4ter; er hofft leicht und vertraut leicht, macht viele Lieblingspl\u00e4ne und l\u00e4sst sie liegen, ist nachsichtig gegen fremde Fehler und nimmt dieselbe Nachsicht f\u00fcr seine Fehler in Anspruch, er vers\u00f6hnt sich leicht, ist offen, liebensw\u00fcrdig, gutm\u00fcthig, gesellig und ohne Berechnung.\nBei dem Melancholischen ist die Unlust die Grundstimmung, Er wird so leicht erregt als der Sanguinische, aber die Empfindungen der Unlust sind nachhaltiger und h\u00e4ufiger, als die der Lust, und auch Anderer Unlust erregt sein tiefes Mitgef\u00fchl, er f\u00fcrchtet, bereut, mistraut, ahndet bei jeder Gelegenheit, und h\u00f6rt auf alle Gr\u00fcnde mehr, die diese Stimmung unterhalten. Er f\u00fcllll sich leicht beleidigt und gekr\u00e4nkt, zur\u00fcckgesetzt, die Hindernisse auf seiner Bahn machen ihn inulhlos, zaghaft, verzwei-","page":578},{"file":"p0579.txt","language":"de","ocr_de":"und des Organismus. ' Schlaf.\n579\nfeind, er verliert die F\u00e4lligkeit 7.11 handeln, sich zu rathen. Sein Begehren ist voll Wehmuth und voll der Vorstellung des Verlustes. Sein Leid ist ungemessen und ohne Trost. Diese Schilderungen lassen sich leicht erweitern, wurden aber in weiterer Ausf\u00fchrung nicht znm Zweck dieser Untersuchung geh\u00f6ren.\nI V. Capitel. Vom Schlaf.\nJene Art von Erregung der organischen Zustande des Gehirns, welche hei der Geistesth\u00e4tigkeit stattfindet, macht allm\u00e4lig das Gehirn seihst zur Fortsetzung dieser Action unf\u00e4hig, und erzeugt dadurch Schlaf, der hier dasselbe ist, was die Erm\u00fcdung in jedem andern Theil des Nervensystems. Das Aufh\u00f6ren oder die Remission der geistigen Th\u00e4tigkeit im Schlafe macht aber auch eine Integration der organischen Zust\u00e4nde, wodurch sie wieder erregbar werden, m\u00f6glich. Das Gehirn, dessen Wirkungen hei dem geistigen Leben n\u00f6thig sind, gehorcht dem allgemeinen Gesetz f\u00fcr alle organischen Erscheinungen, dass die Lehenserscheinungen als Zust\u00e4nde der organischen Theile mit Ver\u00e4nderung ihrer Materie erfolgen. Je l\u00e4nger daher die Th\u00e4tigkeit der Seele dauert, um so unf\u00e4higer wird das Gehirn diese Th\u00e4tigkeit zu unterhalten und um so st\u00e4rker wird die Hemmung der Seele, bis zuletzt die Empfindungen seihst aufh\u00f6ren, obgleich die Reize zu den Empfindungen fort-dauern. Der ganz analoge Zustand tritt theilweise auch w\u00e4hrend des Wachens bei dem Empfinden ein. Denn wenn man einen farbigen Fleck sehr lange betrachtet, so sieht man ihn zuletzt gar nicht mehr und es findet auf der Retina ein allgemeiner Eindruck ohne \u00f6rtliche Sp\u00e9cification statt. Bei Nervenschwachen wird es beim langen Sehen sogar dunkel vor den Augen. Nicht bloss die geistige Th\u00e4tigkeit selbst, auch andere anhaltende Wirkungen des animalischen Lehens, anhaltende und zuletzt erm\u00fcdende Th\u00e4tigkeit der Sinne, grosse Anstrengungen der Muskeln bewirken dieselbe Abspannung, denselben Mangel in den organischen Zust\u00e4nden des Gehirns, das Bed\u00fcrfnis des Schlafes und den Schlaf selbst, wegen der Mittheilbarkeit der organischen Zust\u00e4nde. Endlich bewirkt auch eine Hemmung der organischen Zust\u00e4nde des Gehirns durch ein an roher Nahrung reiches Blut, wie nach reichlichen spiritu\u00f6sen Mahlzeiten, Schlaf. St\u00e4rker und durch Alteration des Sensoriums wirken die schlafmachenden Mittel. Selbst der blosse gr\u00f6ssere Druck des Blutes auf das Gehirn beim'Horizontalliegen wird leicht die Ursache des Schlafes. Manche, wie ich selbst, k\u00f6nnen sich schlafen machen, wenn sie wollen, wenn sie sieh gedankenruhig hinlegen. Die Dauer und die Zeiten dieser Periodicit\u00e4t h\u00e4ngen theils von \u00e4usseren, theiis von inneren Ursachen ab. Der Schlaf f\u00e4llt gew\u00f6hnlich mit der Nacht, \u00bblas Wachen mit dem Tag zusammen, weil die Reize im Tage viele, in der Nacht wenige oder gar keine Wirkungen auf die Sinne und dadurch auf das Gehirn aus\u00fcben. Indessen liegen die Ursachen der Dauer des Schlafes und des Wachens doch auch in dem organischen K\u00f6rper selbst. Denn der Tag l\u00e4sst sich mit","page":579},{"file":"p0580.txt","language":"de","ocr_de":"580 VI. Buch. V. Seelenleben. III. Abschn. IVcchsclwirhung d. Seele\nder Nacht vertauschen, und wer sich k\u00fcnstlich jede Nacht in Th\u00e4tigkeit versetzt, schlaft so viel am Tage, als er sonst in der Nacht geschlafen haben w\u00fcrde. Auch bringt es der Zustand mancher Thiere mit sich, dass sie in der Nacht th\u00e4tiger sind, und am Tage sich ausruhen, wie alle Nachtthiere.\nDie Perioden des Schlafes und Wachens sind daher ihrem Wesen nach in der Natur der Thiere selbst und nicht in dem Wechsel von Tag und Nacht begr\u00fcndet, aber die Sch\u00f6pfung hat diese Perioden mit der t\u00e4glichen Periodicit\u00e4t der Erde durch eine pr\u00e4stabiiirte Harmonie in Uebereinstimmung gebracht.\nln dieser Hinsicht gleichen die kleinen Perioden der Ruhe und Th\u00e4tigkeit, von 24 Stunden Verlaufszeit, den grossen Perioden der Ruhe und Th\u00e4tigkeit in den Thieren, welche sich durch die Brunst und das Wandern, durch die Aenderung des Gefieders und der Haare, oder die Mauser und das H\u00e4ren, und durch den Winterschlaf und Sommerschlaf ausdr\u00fccken. Denn allerdings verfallen die Winterschl\u00e4fer in Schlaf, weil sie ohne \u00e4ussere W\u00e4rme ihre volle Lebensth\u00e4tigkeit und ihr W\u00e4rmeerzeugungsverm\u00f6gen nicht ungeschw\u00e4cht erhalten k\u00f6nnen. Aber auch bei ihnen giebt cs einen jn-nern, in dem Organismus selbst liegenden Grund, eine innere N\u00f6thi-gung zur Ruhe und zur Erholung, wie die Versuche von Czermak und Berthold bewiesen haben. Der Siebenschl\u00e4fer, Mvoxus glis schl\u00e4ft auch im Sommer oft. Die Haselschl\u00e4fer, Myoxus aveilanarius verfallen im Winter in Schlaf, sie m\u00f6gen sich im Freien oder im geheizten Zimmer befinden; der Schlaf ist nur in der K\u00e4lte tiefer und die Thiere bleiben im warmen Zimmer l\u00e4nger wach. Im ersten Falle beginnt der Schlaf schon im October, im letztem erwachen sie t\u00e4glich auf einige Zeit, gegen die Milte Dezembers aber wird der Schlaf immer anhaltender und tiefer, so dass sie vor Mitte M\u00e4rz entweder gar nicht oder nur h\u00f6chst selten erwachen. Die Ursache des Winterschlafes ist daher, schliesst Bert-hold, nicht bloss die \u00e4ussere K\u00e4lte, noch Nahrungsmangel, sondern ein allgemeiner mit dem Jahreswechsel im Zusammenh\u00e4nge stehender Mangel an Lebensenergie, wie beim Mausern und \u00e4hnlichen Erscheinungen. Siehe Muell. Arch. 1835. 150. 1837. 63.\nDer t\u00e4gliche Pflanzenschlaf und Winterschlaf der Pflanzen bietet in dieser Hinsicht ganz analoge Erscheinungen dar und zeigt, dass weder die innere Periodicit\u00e4t, noch die Abh\u00e4ngigkeit von \u00e4usseren Reizen den organischen Wesen mit Nerven und Centralisation allein eigen ist. Siehe die lehrreiche Abhandlung \u00fcber den Pflanzenschlaf von E. Meyer in Vortr\u00e4ge aus dem Gebiete der Naturwissenschajten und der Oeconomie, herausgegeben von C. v. Baer. K\u00e4nigsb. 1834. 127.\nDas Wachen der Pflanzen \u00e4ussert sich durch die Ausbreitung ihrer Bl\u00e4tter und Wendung ihrer obern Fl\u00e4che gegen das Licht. Der von Cordus zuerst gesehene, von Linn\u00e9 als allgemein beobachtete Pflanzenschlaf zeigt sich in dem Aufrichten und gegen einander Legen der Bl\u00e4tter. Die Pflanzen nehmen aber im'Tage Kohlens\u00e4ure auf und hauchen Sauerstoff aus, in der Nacht hingegen saugen sie Sauerstoff ein. Die Bewegungen zum Pflanzenschlaf sind an den j\u00fcngsten Bl\u00e4ttern des Stengels und an den","page":580},{"file":"p0581.txt","language":"de","ocr_de":"und des Organismus. Schlaf.\n581\nBl\u00e4ttern tier Bl \u00fc the am deutlichsten, an den \u00e4lteren Bl\u00e4ttern am undeutlichsten, wie auch der Schlaf der jungen Thiere st\u00e4rker ist. Wie Thiere giebt es auch Pflanzen, die den Tag \u00fcber schlafen und die Nacht \u00fcber wachen, in beiden F\u00e4llen sind die Reize des Tages im Verh\u00e4ltniss des Nachtzustandes unadaequat. Auch bei den Pflanzen ist der Schlaf von dem, durch den anhaltenden Lichtreiz bewirkten Zustand und von dem Mangel dieses Reizes, w\u00e4hrend der Nacht abh\u00e4ngig. Denn nach den Versuchen von De Candolle l\u00e4sst sich der Typus des Schlafes der Pflanzen durch k\u00fcnstliche Nacht und k\u00fcnstlichen Tag allm\u00e4iig verr\u00fccken. Aber auch hier giebt es einen innern Grund des Schlafs und Wachens. Denn nach den Beobachtungen von Duhamel, Ritter, DeCandolie \u00f6lfr.en und schliessen sich die Bl\u00e4tter auch der Pflanzen, die man in steter Dunkelheit h\u00e4lt, regelm\u00e4ssig.\nIm Allgemeinen gleichen sich also der Schlaf der Thiere und Pflanzen wohl. Gleichwohl bietet der Pflanzenschlaf auch sein sehr Eigenth\u00fcmliches dar. Die Stellung, welche die Bl\u00e4tter im Schlafe annehnien, ist dieselbe, welche sie im noch jungen und unentfalteten Zustande haben. .Sie erfolgt aber beim Schlaf nicht durch eine Erschlaffung, denn die Stellung, welche sie im Schlafe haben, l\u00e4sst sich nicht ver\u00e4ndern und sie geben nicht nach und brechen eher leicht ab. Bei den reizbaren Pflanzen ist die Stellung der Bl\u00e4tter im Schlafe auch dieselbe, welche die Bl\u00e4tter im gereizten Zustande annehmen. Der an einer Stelle auch ohne Ersch\u00fctterung angebrachte Reiz, z. B. durch Erhitzung mit einem Brennglas, pflanzt sich allm\u00e4iig auf weitere Theile fort, deren Bl\u00e4tter sich nach und nach Zusammenlegen. Nach den Untersuchungen von Lindley und Dutrociiet, welche Meyer best\u00e4tigt, wirken sieb in dem Wulst an der Basis der Blattstiele zwei Kr\u00e4fte entgegen, wovon die eine das Blatt zu erheben, das andere zu senken strebt. Wird die \u00e4ussere Seite des Wulstes durchschnitten, so senkt sieb das Blatt nach dieser Seite, wie wenn es durch Turgescenz der Zellen der andern Seite des Wulstes und also durch Druck von dieser Seite geschehe, und bei Durchschneidung des Wulstes an der andern Seite geschieht das Gegentheil. Betrachtet man das Erheben und Zusammenlegen der Bl\u00e4tter von Licbtmangel, als Folge von Reizentziehung auf der Lichtseite des Blattes, so wird der entsprechende Theil des Wulstes, wegen Entziehung des homogenen Pieizes, ausser Th\u00e4tigkeit gesetzt, w\u00e4hrend der, der Unterseite des Blatts entsprechende Theil des Wulstes vom Blattstiel, vielleicht vom Lichte weniger abh\u00e4ngig, zu wirken fortf\u00e4hrt und also durch Turgescenz das Blatt zur Stellung des Schlafes erhebt. Dieselben Wirkungen treten aber auch bei heterogenen, mechanischen, chemischen Reizungen ein, diese haben n\u00e4mlich den Erfolg, als wenn der, der Lichtseite des Blattes entsprechende Theil des Wulstes vom Blattstiel durchschnitten w\u00fcrde. Die Ersch\u00fctterung wirkt daher hier gerade so, wie eine St\u00f6rung oder wie Entziehung eines homogenen Reizes und es scheint, fast, als ob diese St\u00f6rung auf die eine Seite des Wulstes einen grossen, auf die andere Seite keinen Einfluss aus\u00fcbe. Nur bei dieser Erkl\u00e4rung l\u00e4sst sich eine","page":581},{"file":"p0582.txt","language":"de","ocr_de":"582 VI. Buch. V. Seelenleben. TU. Abschn. Wechselwirkung <1. Seele\nUebereinstimrnung zwischen ilen Ursachen des Pflanzenschlafes, und der Bewegung der Pflanzen durch heterogene Reize herstel-en. Dabei verliert aber diese Art der Bewegung ihre Analogie mit der thierischen Contraction. Die im Schlaf fortdauernd tur-gescirende Seite des Zellengewehes gleicht wegen der Fortdauer ihrer Th\u00e4tigkeit im Schlafe demjenigen Theil der Organisation der Thiere, dessen Th\u00e4tigkeit auch im Schlafe der Thiere ungest\u00f6rt fortgeht.\nDer Schlaf der Thiere ist eine Erscheinung, welche bloss das animalische Lehen betrifft. Das ganze organische Lehen, n\u00e4mlich die Vegetation mit allen dieselbe begleitenden unwillk\u00fcrlichen Bewegungen gehen ihren ruhigen Gang fort, und nehmen an dem Schlafe keinen Theil. Ja selbst die unwillk\u00fcrlichen Bewegungen des animalischen Systems, wie das Athmen, sind von der Ruhe des Schlafes ausgeschlossen, und hei den filieren noch manche andere animalische Bewegungen, wie sich hernach zeigen wird. Das organische System entbehrt der Remission und Erholung nicht ganz, aber es hat andere Perioden und sie sind sogar sehr verschieden in den verschiedenen Theilen des organischen Systems. Das Herz hat seine Ruheperiode nach jedem Schlag, die Bewegung des Darms, des Uterus haben die ihrigen, und an dem Wechsel und Neuhilden der Haare und Federn sieht man, dass auch die Vegetation die ihrige hat. Ja seihst die Bildung eines einzigen Zahns, Stachels, einer einzigen Feder zeigt uns einen jCyclus von ungleichen Tl\u00fcitigkcilen. Denn hei der Bildung des Stiels dieser Theile ist die Vegetation eine ganz andere als zu der Zeit, wo die Krone, Spitze, Fahne gebildet wurde. Bei den Thieren, deren Haare knotige Anschwellungen haben, wie die Barthaare der Seehunde, muss die Vegetation sich in einem regelm\u00e4ssigen Schwanken befinden, da diese Gebilde nur von der Wurzel aus wachsen.\nDa alle Ph\u00e4nomene des organischen Lehens und alle Erscheinungen des ganzen Thiers, mit Abzug der von der Seele beherrschten animalischen Wirkungen, wie die erste Entstehung zwar mit Zweckm\u00e4ssigkeit aber nothwendig erfolgen, und selbst die Ern\u00e4hrung und Erhaltung der Organe des animalischen Lehens nicht von dem Lehen der Seele, dem Vorstellen abh\u00e4ngt, so kann man auch sagen, Schlaf und Wachen beruhen auf einer Art Antagonismus zwischen dem organischen und animalischen Leben, so dass von Zeit zu Zeit das animalische von der Seele beherrschte Lehen freier wird; zu anderer Zeit hingegen von dem zweckm\u00e4ssigen organischen Wirken der Natur unterdr\u00fcckt wird. W\u00e4hrend der Zeit des W achens werden zwar auch die Organe des animalischen Lehens von der organisirenden Kraft beherrscht, aber die durch die Organisation gewonnenen F\u00e4higkeiten der Muskeln, Nerven des Gehirns werden f\u00fcr Actionen, die vom Organisiren seihst verschieden sind, verwandt. Im Schlafe hingegen, wo diese Actionen ganz oder gr\u00f6sstentheils Wegf\u00e4llen, wird vorzugs weise organisirt und auch die Organe des animalischen Lebens wieder f\u00fcr Actionen durch die organisirende, nicht bewusst, aber vern\u00fcnftig und zweckm\u00e4ssig wirkende Kraft bef\u00e4higt.\nDa im ganzen Organismus die Erregungszust\u00e4nde sich mit-","page":582},{"file":"p0583.txt","language":"de","ocr_de":"und des Organismus. Schlaf.\n583\ntheilen, so muss das Wachen des animalischen Lebens und die hier stattfindende Steigerung der Erregung sich allm\u00e4lig auch dem, vom organischen Nervensystem abh\u00e4ngigen organischen System mittheilen, und so weit dabei Actionen des Organisirten und nicht bloss Organisiren stattfindet, auch diese Actionen eini-germassen \u00e4ndern. Daher denn auch selbst der Herzschlag im Wachen ein wenig h\u00e4ufiger, als im Schlafe erfolgt. Im Schlaf f\u00e4llt diese Irradiation aus dem animalischen Leben in das organische weg, und es ist daher auch das organische Leben zugleich der Erholung, aber weniger als das animalische hingegeben. Wenn der wachende Zustand des animalischen Lebens l\u00e4ngere Zeit k\u00fcnstlich unterhalten wird, so wird diese Irradiation nicht bloss deutlicher, z. B. der Puls h\u00e4ufiger, sondern es findet hei einem grossen Verbrauch des durch die Organisation anwendbar gewordenen, wenig Ersatz durch die Organisation statt. Daher der bald sich zeigende Mangel in der Ern\u00e4hrung nach l\u00e4ngerm Wachen.\nNachdem nun die Natur des Schlafs im Allgemeinen erl\u00e4utert worden, wollen wir die Erscheinungen desselben noch n\u00e4her kennen lernen.\nBeim Eintreten des Schlafes h\u00f6ren die Sinne auf den gegenw\u00e4rtigen Eindruck zu bemerken, und auch das Vorstellen und Streben wird entweder ganz oder grossentbeils beschwichtigt. Der Willenseinfluss l\u00e4sst nach die Muskeln zu bestimmen, die Augenlieder, in denen sich ein Gef\u00fchl von Erm\u00fcdung einstellt, werden nicht mehr beherrscht, der Kopf wird nicht mehr getragen und bald breitet sich dieser Nachlass \u00fcber das ganze animalische System aus.\nDer Schlafende hat im vollkommenen Schlaf meist keine willk\u00fcrlichen Bewegungen, die unwillk\u00fcrlichen organischen und unwillk\u00fcrlichen vom Willen in einer gewissen Breite zu beherrschenden Bewegungen, wie die Atbembewegungen, dauern fort, und bei letzteren f\u00e4llt nur der Einfluss des Willens weg. Die Herzschl\u00e4ge und Atbembewegungen sind etwas seltener. Einige animalische Muskeln treten w\u00e4hrend des Schlafes in eine verst\u00e4rkte Th\u00e4tigkeit und sind wie von einem, w\u00e4hrend des Wachens ihnen entgegenstrebenden Gegengewichte befreit. So gewisse Augenmuskeln und die Muskeln der Extremit\u00e4ten bei den V\u00f6geln, die auf zwei Beinen oder auf einem Beine stehend schlafen. Die Augen nehmen beim Schlafenden immer eine eigenthiimliche Stellung an. Sie wenden sich (und das geschieht schon beim Einschl\u00e4fern) nach einw\u00e4rts und aufw\u00e4rts, eine Bewegung, die auch in krankhaften Nervenzuf\u00e4llen, z. B. in der Epilepsie und Catalepsie sich st\u00e4rker wiederholt. Daher hat auch das geschlossene Auge des Schlafenden einen ganz andern Ausdruck, als das Auge des Tod-ten. Die Iris des Schlafenden ist contrahirt, daher die Pupille enge und beim Erwachen wird die Iris jedesmal erst wieder weiter, anfangs sogar sehr weit, bis sie schwankend die mittlere geringe Weite der Pupille des Wachenden annimmt. Siehe \u00fcber diese Erscheinungen oben I. 3. Aufl. p. 694.\nDer Schlafende bedarf eines grossem Masses von \u00e4usserer M\u00fcller\u2019s Physiologie. 2r Bd. li'J.\t38","page":583},{"file":"p0584.txt","language":"de","ocr_de":"584 VT. Buch. V. Seelenleben. ITI.Ah.irhn. Wechselwirkung d. Seele\nW\u00e4rme als der Wachende, und nach dem Schlafe ist man oft f\u00fcr die vorhandene K\u00e4lte empfindlicher.\nFindet keine vollkommene Beruhigung der Vorstellungen statt, so entsteht der Traum, der sich meist auf die Th\u00e4tigkeit des nie-dern Vorstellens und Stechens beschr\u00e4nkt, aber auch in das h\u00f6here Vorstellen \u00fcbergehen, und mit Actionen durch die animalischen Muskeln, wie im Wachen verbunden seyn kann. Dieser Zustand ist so lange noch Traum, als das Vorstellen noch von irgend einem Druck befangen ist, der die Seelenerscheinungen des Tr\u00e4umenden in Widerspruch setzt mit dem gew\u00f6hnlichen Vorstellen und Denken derselben Person- Die Traumvorstellungen gleichen darin den Vorstellungen des Wachens, dass man aus allen erlebten Zeiten tr\u00e4umt, wie man auch im Wachen in alle erlebten Zeiten zur\u00fcckgehen kann, und sich bald mit dein von gestern, bald mit dem vor vielen Jahren besch\u00e4ftigt.\tBeh\u00e4lt das Vorstellen im\nwachenden Zustande eine gewisse Stabilit\u00e4t, so wiederholen sich die Vorstellungen auch im Traum. Einige tr\u00e4umen hingegen viel in vergangene Zeiten. Manche Blinden tr\u00e4umen in l\u00e4ngerer Zeit nach dem Erblinden nicht mehr von Sichtbarem, sondern in der Weise, wie sie t\u00e4glich mit der Aussenwelt umgehen. Andere Erblindete tr\u00e4umen die l\u00e4ngste Zeit von sichtbaren Gegenst\u00e4nden. Es k\u00f6mmt daher nicht bloss aut die Zeit nach dem Erblinden an, der 66j\u00e4hrige, seit dem 18. Jahre blinde Huber tr\u00e4umte immer noch von deutlich sichtbaren Gegenst\u00e4nden, aber aus der Zeit, wo er noch sah. Es k\u00f6mmt also hierbei nur darauf an, dass die inneren Theile des Sehsinnes noch zu Phantasmen f\u00e4hig sind, und dass die Vorstellungen aus der Zeit vor dem Erblinden zur\u00fcckkehren. Siehe Froriep\u2019s jSo/. 888. p. 118.\nBei dem einfachsten Traum ist die Th\u00e4tigkeit der Seele auf das niedere thierische Vorstellen, oder auf die Association der Vorstellungen mit Ausschluss der Begriffe reducirt, zu welchem es auch in der Trunkenheit gr\u00f6sstentheils wegen der Hemmung der organischen Zust\u00e4nde des Gehirns zur\u00fccksinkt. Hierbei finden Phantasmen statt. Siebe oben p. 564. So gut die Erregung der Sinne von innen, so gut geschieht sie auch bei hinreichend starken Eindr\u00fccken von aussen. Aber diese Eindr\u00fccke werden wegen der Schw\u00e4che der Urtheilskraft im Schlaf falsch ausgelegt. Man befindet sich in einer schwierigen Lage und man glaubt, dass man gebunden und nieder gehalten werde. Wir haben die Arme \u00fcber einander geschlagen und wir glauben, dass wir von anderen Personen so gehalten werden. In solchen F\u00e4llen werden sogar die zu dieser Vorstellung n\u00f6thigen Traumbilder vor'i handelnden Personen producirt- Der Schlafende kann das Gef\u00fchl von der V\u00f6lle der Urinblase haben, aber indem er glaubt wach und ausser dem Bett zu seyn, kann ihn das wirkliche Gef\u00fchl veranlassen den Harn zu entleeren. Die von Zeit zu Zeit gesteigerte Erregung in den Geschlechtstheilen ruft dieser entsprechende Bilder auch im Traume hervor- Die w\u00e4hrend des Schlafes brennende Lampe hat selbst und ihr Erl\u00f6schen auf die Traumbilder Einfluss. Das Aufh\u00f6ren eines Ger\u00e4usches, an das man sich im Schlafe gew\u00f6hnt, wie an den L\u00e4rm der M\u00fchle, ruft so gut Vorstellun-","page":584},{"file":"p0585.txt","language":"de","ocr_de":"und des Organismus. Schlaf.\n585\ngen in der Seele hervor, wie ein pl\u00f6tzlicher L\u00e4rm seihst. Die Nachtmusik, und ihr Verstummen wird geh\u00f6rt, aber wir schaffen dazu Phantasmen und wir verweben jene in das Spiel unseres Traumes. Verschiedene andere Beispiele f\u00fchrt Pr\u00e9vost aus selbstbeobach-teten Tr\u00e4umen an. Bil/lioth. univ. 1834. Mars. Fror. Bot. S88. 889. Die in der Seele vorwaltenden leidenschaftlichen Zust\u00e4nde haben auch auf die Art der Tr\u00e4ume Einfluss. Bei deprimirenden Affecten wird auch Furchtbares, Trauriges getr\u00e4umt.\nZuweilen urtheilt und schliesst man im Traume mehr oder weniger richtig. Man denkt \u00fcber Probleme nach, man freut sich ihrer Aufl\u00f6sung. Dergleichen Fortschritte zeigen sich jedoch, wenn man \u00fcber dem Traum aufwacht, oft nur als Schein, und die L\u00f6sung, \u00fcber die man sich gefreut hatte, ist baarer Unsinn. Dahin geh\u00f6rt auch, dass man tr\u00e4umt, wie eine andere Person ein ft\u00e4thsel aufgiebt; man kann es nicht l\u00f6sen, Andere auch nicht; man tr\u00e4umt, dass es der, der es aufgegeben, selbst aufl\u00f6st. Man erstaunt \u00fcber das Ueberraschende dieser L\u00f6sung, nach der man so lange vergeblich gesucht hatte. Erwacht man nicht und erinnert sich des B\u00e4thselaufgebens und Aufl\u00f6sens sp\u00e4ter bloss im Allgemeinen, so erscheint es wunderbar, wacht man aber schnell nach dem Traum auf, und kann die Aufl\u00f6sung mit der Frage vergleichen, so zeigt sich die L\u00f6sung als Unsinn, wie ich wenigstens mehrmals beobachtete. Bei Tr\u00e4umen mit Pieden und Antworten red.ueirt sich das Wunderbare darauf, dass die selbst entwickelten Gr\u00fcnde und Gegengr\u00fcnde mit den Vorstellungen ihnen entsprechender Personen, wie die Begriffe mit Zeichen verbunden werden. Zuweilen wird auf im Traum gestellte Fragen keine Antwort gegeben, weil wir seiht keine zu geben verm\u00f6gen. Vergl. Pr\u00e9vost a. a. O.\nZuweilen werden uns in dem selbst producirten Traum seltsame, wie Vorbedeutungen aussehende Situationen, d. h. m\u00f6gliche Zust\u00e4nde als wirklich und in bildlicher Wirklichkeit vorgestellt, und das kann, wie alles Wirkliebwerden eines M\u00f6glichen, auch eintreffen, ohne dass etw'as Wunderbares dabei ist. Z. B. eine Person, die uns sehr interessirt, die uns in leidenschaftliche Zust\u00e4nde versetzt, die wir -ziemlich genau, aber doch nicht ganz genau kennen, die f\u00fcr wahr und treu gehalten wird, die aber doch hinwieder die entfernte M\u00f6glichkeit des Gegentheils in uns hat auf-kommen lassen, wird im Traum' mit Phantasmen in Situationen versetzt, wobei es herauskommt, dass sie unwahr und untreu ist. Wenn sich das bald best\u00e4tigt, so sieht es wunderbar aus, und doch ist es nichts Anderes als ein Puppenspiel, angegeben von einer leitenden und mit der Leidenschaft der Furcht und Liebe gehegten Vorstellung. Zuweilen haben Kranke im Traume Gesichte von h\u00fclfreichen Personen, die ihnen rathen, dies oder jenes zu thun, und es hat zuweilen Erfolg. Aerzte, die dergleichen prophetisch Tr\u00e4umende in gr\u00f6sserer Anzahl beobachtet haben, haben auch bemerkt, dass sie sich Manches verschreiben, was offenbar nachtheilig ist und deswegen unterbleibt.\nDie Unklarheit der Vorstellungen im Traum geht meistens so weit, dass man nicht weiss, dass man tr\u00e4umt. Die Phantasmen\n-38*","page":585},{"file":"p0586.txt","language":"de","ocr_de":"586 VI. Buch. V. Seelenleben. III. Abschn. IVechsehvirkung d. Seele\nsind in den Sinnen gegenw\u00e4rtig. Sie haben an mul f\u00fcr sich dieselbe Beweiskraft f\u00fcr ihre wirkliche Existenz als \u00e4ussere Gegenst\u00e4nde selbst, von denen wir nur durch unsere Sinnesaff\u2019ectionen wissen. Ist daher die Sch\u00e4rfe f\u00fcr die Zergliederung der Sinnes-erscheinungen verloren, so ist auch kein Grund vorhanden, ihre Nichtrealit\u00e4t anzunehmen. Selbst der Wachende, der Phantasmen hat, h\u00e4lt sie bei geringer Sch\u00e4rfe des Vorstellungsverm\u00f6gens f\u00fcr wirklich. Dagegen weiss man auch zuweilen, wenn das Tr\u00e4umen dem wachenden Zustande n\u00e4her ist, dass man wirklich tr\u00e4umt, und man l\u00e4sst das Tr\u00e4umen mit dieser leitenden Vorstellung fortgehen.\nEine sehr h\u00e4ufige Erscheinung im Traume ist, dass wir tr\u00e4umen intendirte Bewegungen nicht ausf\u00fchren zu k\u00f6nnen. Wir wollen einer Gefahr entfliehen und wir k\u00f6nnen nicht. Hier entspricht der Traum der wirklichen Unf\u00e4higkeit des Sensoriums, die zu den willk\u00fcrlichen Bewegungen erforderlichen Wirkungen des Nervenprincips auszuf\u00fchren, oder dem gebundenen Zustande der organischen Kr\u00e4fte des Sensoriums. Einige haben im Traum noch eine gewisse Herrschaft \u00fcber die willk\u00fcrliche Bewegung, reden, bald verwirrt, bald klar, im Schlaf und Traum. Hierher auch das Schlafen hei schwierigen Stellungen, z. B. die Postillione schlafen oft zu Pferde, die V\u00f6gel schlafen stehend und seihst z\u00fcrn Theil auf einem Bein stehend. Zum Schlaf und Traum geh\u00f6rt eben nur eine Verdunkelung eines sehr grossen Theils der Vorstellungen, die im Wachen zug\u00e4nglich sind; aber diejenigen Vorstellungen, die in Th\u00e4tigkeit sind, k\u00f6nnen auch, wenn das Schlafen nicht zu tief ist, auf die Bewegungsorgane wirken. Man sieht, wie nahe sich hier die pathologischen Zust\u00e4nde des Schlafes anschliessen. Im Schlafe deutliche zusammenh\u00e4ngende Worte reden, aufstehen und Gesch\u00e4fte verrichten, das sind alles Erscheinungen von vollkommen gleicher Art. Der Somnambulist stellt fast auf gleicher Stufe mit dem Somnostatist, dem im Schlafe stehenden Vogel.\nDer einfachste Grad des Somnambulismus wird hei Kindern mit reizbarem Nervensystem beobachtet, welche im Schlafe unruhig werden, rufen, jammern, sich tr\u00f6sten lassen und Sprechende verstehen, auch bei offenen Augen sie erkennen, aber doch, ungeachtet der F\u00e4higkeit zu willk\u00fcrlichen Bewegungen und zu Sinnesvorstellungen aus dem be\u00e4ngstigenden Vorstellungskreis des Traums lange Zeit nicht erwachen. Hier ist das Vorstellen bis auf einen gewissen Grad wach, aber es fehlt an hinreichend klaren Vorstellungen, w\u2019elche die beunruhigte Vorstellungsmasse ins Gleichgewicht ziehen. Dieser Zustand gleicht dem des beginnenden Erw'achens, wo man auch mit dem Erwachenden reden kann, er aber verwirrte Antworten giebt, und das, was um ihn vorgeht, mit seinen Traumbildern und Traumvorstellungen vermengt.\nBei h\u00f6heren Graden des Somnambulismus steht der Tr\u00e4umende auf, lebt vollst\u00e4ndig in den, mit dem beunruhigten Vorstellungskreis zusammenh\u00e4ngenden Vorstellungen und Sinneseindr\u00fccken, verrichtet damit zusammenh\u00e4ngende, oft gefahrvolle Handlungen ohne \u00dfewusstseyn der Gefahr, und geht \u00fcber gefahr-","page":586},{"file":"p0587.txt","language":"de","ocr_de":"und des Organismus. Schlaf.\n587\nliehe Stege, wie das Rind, das die Gefahr nicht kennt, und deswegen nicht hebt. Ueber eine geneigte Fl\u00e4che hingehen ist nicht so schwierig, wenn man nur nicht weiss, dass sie hoch \u00fcber der Erde ist, und wir w\u00fcrden mit Leichtigkeit \u00fcber manche D\u00e4cher gehen, wenn sie auf ebener Erde angebracht w\u00e4ren. Der Somnambulist associirt nur dasjenige, was mit dem beunruhigten Vorstellungskreis im Zusammenh\u00e4nge steht. Alle \u00fcbrigen Vorstellungen sind f\u00fcr ihn nicht vorhanden. Er sieht und h\u00f6rt und wird dabei von allem, seinem Vorslcllungkreis Fremden nicht gest\u00f6rt, so lange er eben nicht erwacht.\nDas Erwachen aus dem Schlaf erfolgt, wenn sich die Erregbarkeit des Gehirns f\u00fcr die zum Vorstellen und Denken n\u00f6tbigen organischen Zust\u00e4nde v\u00f6llig hergestellt hat. Die Zust\u00e4nde des K\u00f6rpers machen dann wieder lebhaften Eindruck. Man kann aber auch aus dem unbeendigten Schlaf bei einer hinreichenden St\u00e4rke der Empfindungen von \u00e4usseren Objecten oder auch bei hinreichender St\u00e4rke der Traumvorstellungen erwachen. Besonders leicht erwacht man bei starken Gem\u00fcthsbewegungen im Traum, in der Angst u. dergl. Die Gem\u00fcthsbewegungen n\u00e4mlich erregen liier, wie im Wachen, die k\u00f6rperlichen Actionen und dadurch entsteht eine immer st\u00e4rkere Irradiation in dem Schlafenden, welche zuletzt auch das Gehirn auf seiner Gebundenheit aufregt.\nDer Erwachte erinnert sich an den n\u00e4chsten Sinneseindr\u00fck-ken, w\u2019O er ist, in diesem oder jenem Schlafgemach und daher in dieser oder jener Stadt; er erinnert sich sofort der Zeit des Tags, und verbessert die etwa in dieser Hinsicht entstandenen Irrungen. Zuweilen ist der Vorstelluugskreis w\u00e4hrend des Schlafes so beengt, und von den gew\u00f6hnlichen Vorstellungen des Eigenlebens der bestimmten Person so abgesondert, dass der Erwachende sich durch Sammlung der zu seinem Eigenleben geh\u00f6rigen A orstellungen zu erinnern hat, w\u2019er er ist.\nAlle Thiere haben ar. dem Schlafen mehr oder weniger An-theil, wie bereits Aristoteles mit Recht bemerkt. De Somno et vigilia. Einige tr\u00e4umen auch, wie der Hund, der im Schlafe bellt. Bei manchen Thieren, wie insbesondere bei den kaltbl\u00fctigen, sind die Perioden weniger deutlich und regelm\u00e4ssig. Sie scheinen indess ebenso gut dem Schlafe \u00e4hnliche Zustande zu besitzen; die Fr\u00f6sche, die einen Theil der Pf acht im Sommer quaken, werden doch meist nach Mitternacht ruhig, zumal wenn die Begattungszeit vor\u00fcber ist. Die Insecten und Spinnen trifft man oft in sclilafs\u00fcehliger Ruhe und wahrscheinlich haben alle Thiere, bei denen man noch keine regelm\u00e4ssigen Perioden des Schlafes und W'acliens bemerkt hat, ein Aequivalent des Schlafes in der von Zeit zu Zeit eintretenden Tr\u00e4gheit und Beruhigung.\nUnter den Menschen haben die vegetativen, vollsaftigen Constitutionen einen langem Schlaf und mehr Bed\u00fcrfniss des Schlafes} von den Magern gilt das Gegentheil. Die lebhaften und zugleich energischen, schwer zu erm\u00fcdenden haben weniger, die lebhaften, reizbaren und leichter zu ersch\u00f6pfenden Constitutionen haben mehr Bed\u00fcrfniss des Schlafes. In der Jugend ist der Schlaf l\u00e4nger und w ird von der Natur mehr geiordert als im Alter. Das Vorwallen","page":587},{"file":"p0588.txt","language":"de","ocr_de":"588\nVI. Buch. Vom Seelenleben.\nder vegetativen Wirkungen in der Jugend scheint davon die Ursache zu seyn. Daher schlaft das neugeborne Kind auch am meisten. So lange die organisirende Th\u00e4tigkeit hinreichendes Material in der Nahrung findet, ist auch heim Kinde die gr\u00f6ssere Disposition zum Schlafe vorhanden und das Kind erwacht, wenn es Nahrung bedarf. Auch hei dem Erwachsenen macht die reichliche Nahrung schl\u00e4frig, theils durch die Besch\u00e4ftigung des organischen Systems und die St\u00f6rung der Gegenwirkung des animalischen Lehens durch jenes, theils durch den Druck, welche die ins Blut autgenommene, noch rohe und nicht verarbeitete Nahrung auf die organischen Zust\u00e4nde des Gehirns aus\u00fcbt. Zu den Einfl\u00fcssen, welche den Schlaf bef\u00f6rdern, geh\u00f6ren auch die durch allgemeine Hautreize, Reiben der Haut, B\u00e4der u. dergl. auf das Sensorium gemachten Impressionen und die inneren Behaftungen des Sensoriums durch beruhigende und narkotische Mittel.","page":588},{"file":"p0589.txt","language":"de","ocr_de":"I) e i\ns p eciellen Physiologie\nSiebentes Buch.\nVon der Z e u\ng u n g.","page":589},{"file":"p0590.txt","language":"de","ocr_de":"J. Abschnitt. Von der gleichartigen oder ungeschlechtlichen Zeugung.\nI.\tMultiplication der organischen Wesen durch das Wachsthum.\nII.\tVermehrung durch Theilung eines entwickelten Organismus.\nIII.\tKnospenbildung.\nIV.\tTheilung zwischen Knospe und Stamm.\nV.\tTheorie der ungeschlechtlichen Fortpflanzung.\nII.\tAbschnitt. Von der geschlechtlichen Zeugung.\nI. Von den Geschlechtern.\nII.\tVon den Geschlechtsorganen.\nIII.\tVom Ei.\nIV.\tVom Samen.\nV.\tVon der Befruchtung.\nVI.\tTheorie der geschlechtlichen Zeugung.","page":590},{"file":"p0591.txt","language":"de","ocr_de":"Der speciell en Physiologie Siebentes Buch.\nVon der Zeugung.\nI. Abschnitt. Von d er gleichartigen Fortpflanzung oder ungeschlechtlichen Zeugung.\nI. Capitel. Multiplication der organischen Wesen durch das Wachst hum.\na. Pflanzen.\nEin oberfl\u00e4chlicher Vergleich der Pflanzen im erwachsenen Zustande mit ihrem j\u00fcngsten Zustande l\u00e4sst erkennen, dass die Pflanzen ihre Organe w\u00e4hrend des Wachsthums vermehren und dass Theile, welche in der ganz jungen Pflanze nur einmal oder mehrmal enthalten sind, in der erwachsenen Pflanze sehr vielmal Vorkommen. Die Verzweigung des Stengels schreitet fort, die Medianachse wiederholt .ich in den Seitenachsen, und diese werden wieder Medianachsen f\u00fcr andere Seitenachsen. Die Bl\u00e4tter anfangs in \u00e4usserst geringer Zahl vorhanden, vermehren sich fort und fort. Ein aufmerksameres Studium der Pflanzen zeigt jedoch Bald, dass diese Vermehrung w\u00e4hrend des Wachsthums keine Blosse Vermehrung der Organe eines einzigen Individuums ist, dass die erwachsene Pflanze vielmehr aus einem System von Individuen (Darwin Phytonomie) oder aus einem Multiplum des jugendlichen Individuums besteht. Dieses wird bewiesen durch die Eigenschaften, welche abgeschnittene Theile dieses Syst\u00e8mes Beurkunden. Ein Ast dieser Pflanze vom Stamme abgeschnitlen, ist, in die Erde gesetzt, vollkommen derselben Pflanze gleich, und Besteht fort, indem er wieder seine Kr\u00e4fte vermehrt. Ein Theil dieses Astes, n\u00e4mlich ein Ast des Astes verh\u00e4lt sich gerade so. Bei sehr vielen Pflanzen kann man die /Yrt fortpflanzen durch das abgeschnittene Ende der Achse, das noch Stengel und Bl\u00e4tter enth\u00e4lt. Jetzt gleicht dieser ahgesclinittene Theil am meisten dem jungen Zustande der aus dem Samen erwachsenden Pflanze, und da also jeder \u00e4hnliche Theil eines Baumes angesehen werden kann als der Baum in noch jungem Zustande mit der F\u00e4higkeit einen ganzen Baum zu entwickeln, so muss das ausgewachsene","page":591},{"file":"p0592.txt","language":"de","ocr_de":"592 VII. Buch. Von d. Zeugung. I. Abschn. Gleichart. Fortpflanzung.\nGanze, der Baum betrachtet werden als ein System von Pflanzenindividuen, die mit einander gesellig und mit gegenseitiger Einwirkung auf einander fortleben, aber auch von einander trennbar sind. Der Stamm einer Pflanze ist gleichsam das zusammengefasste Fascikel aller einzelnen Individuen, die hoch oder niedrig daraus sieb ahl\u00f6sen. Daher nimmt der Stamm an Dicke ab, je m\u00ealir Aeste abgeben, und die feinere Anatomie zeigt, wie nicht bloss das Mark des Stammes mit dem Mark der Aeste durch die Markstrahlen zusammenh\u00e4ngt, sondern wie die Gef\u00e4sse aller Sprossen sich in dem Stamme nach der Wurzel fortsetzen. Mit jeder neuen Bildung von Knospen am ganzen Baume entsteht auch eine neue Schichte von Gelassen in dem Stamme, welche diesen Sprossen entsprechen, w\u00e4hrend die alten verholzen. Die Fortsetzung dieser Gelasse der Sprossen in dem Stamm bis zur W urzel ist zwar zur Ern\u00e4hrung jeder Spr osse aus der W urzel und zum Zusammenleben aller Individuen noting, geh\u00f6rt aber nicht nothwen-dig zur Abitur eines Individuums. Denn beim Abl\u00f6sen einer Sprosse wird der gr\u00f6sste Theil dieser Fortsetzungen von der Sprosse getrennt, und sie ist dennoch eine junge Pflanze, welche zu einer alten Pflanze oder einem System von Individuen erwachsen kann. Da diese Gef\u00e4sse von den Bl\u00e4ttern kommen, so m\u00fcssen in den abgeschnittenen und fortwachsenden Endtheilen die Bl\u00e4tter es seyn, welche dem Pflanzenindividuum am n\u00e4chsten kommen, und wenn es bei den meisten Bl\u00e4ttern nicht gelingt, aus ihnen allein neue Pflanzen zu erziehen, so ist f\u00fcr die Wissenschaft die Thatsache hinreichend, dass man bei gar manchen Pflanzen sehr gut aus den abgeschnittenen und in die Erde gesetzten Bl\u00e4ttern neue Pflanzen erziehen kann. Diess gelingt z. B. an den Bl\u00e4ttern der Citroncn, Pomeranzen, der Ficus elastica u. a. Aus dem Rande der Blatter entwickeln sich dann Knospen, wie sie sich sonst an der Achse der Pflanzen zu entwickeln pflegen. Es muss also das Blatt der Pflanze selbst schon als Individuum angesehen werden, den ganzen Inbegriff der Pflanzenart seinem Wesen, seiner Potenz nach enthaltend und Aeste zu entwickeln f\u00e4hig. Aus Bl\u00e4ttern bestehen aber die meisten Pflanzentheile, und die Lehre von der Metamorphose beweist, dass alle Bl\u00fcthentheile nur verwandelte Bl\u00e4tter sind. Anderseits darf auch der von den Bl\u00e4ttern befreite, von seiner ganzen Krone getrennte Stengel nicht als ein Haufen von St\u00fccken zerschnittener Individuen angesehen werden. Auch in diesem verst\u00fcmmelten Zustande ist der Stamm noch ein Multiplem des Keims. Denn aus dem Stumpfe k\u00f6nnen sich noch neue Sprossen entwickeln. Die entwickelte Pflanze ist also, was bewiesen werden sollte, ein Multiplum der primitiven Pflanze, ein System von Individuen, die sich bis auf die Bl\u00e4tter reduciren lassen, und selbst noch im verst\u00fcmmelten Stamm enthalten sind.\nb. Tbi er e.\nDie Multiplication der im Keim vorhandenen Kralt durch das Wachsthum ist nicht den Pflanzen allem eigen, sie ist auch eine Eigenschaft der Tliiere, und wie es scheint aller tide-","page":592},{"file":"p0593.txt","language":"de","ocr_de":"1. Multiplication durch das Wachsthum.\n593\nrischen Wesen. In manchen Thieren ist sie ganz so offenbar, wie in den Pflanzen, in anderen geschieht sie versteckter und l\u00e4sst sich durch eine Rette von Schl\u00fcssen an den Tag ziehen. D as sicli aus dem Reime eines Corallenthiers entwickelnde Junge ist anfangs auch nur ein Individuum von einem Willen bewegt und gleichsam mit einem Centrum versehen. Indem dieses junge Corallenthier die Materie um sich aneignet und w\u00e4chst, wird es zu einem System von Individuen, wie eine Pflanze, und an diesem Systeme \u00e4ussern sich hernach viele Willen. Die Individuen sind durch einen Stamm verbunden. Bei den Sertularien communicirt der Canal des Stammes mit den Can\u00e4len aller Individuen, und aus diesem Stamm bilden sich neue Sprossen. Wir sehen hier von denjenigen zusammengesetzten Polypen ab, die mehr Aggregate von nebeneinander, zu einem Haufen verbundenen Individuen sind.\nAuch ein solit\u00e4r lebender S\u00fcsswasserpolyp, eine Hydra, kann, wie die Beobachtungen von T\u00e4embley lehren, durch Wachsthum ein System von Individuen werden, einer Pflanze analog, mit dem Unterschied, dass sich die Organtheile der secund\u00e4ren Individuen nicht durch den Stamm isolirt fortsetzen, und dass die Darmh\u00f6hle gemeinsam ist. Dieses System von Hydren, von welchen sich jede willk\u00fcrlich bewegt, l\u00e4sst sich theilen und enth\u00e4lt die Individuen jedes in dem Zustande, wo sie wenigstens der Form nach noch keine Multipla sind.\nBis dahin haben wir es mit Organismen zu thun, welche in ihrem, durch Wachstlmm entstandenen, zusammengesetzten Zustande Systeme sind, von nicht bloss der M\u00f6glichkeit nach individuell belebbaren Wesen, sondern Systeme von factisch individuell belebten, sich selbst mit eignem Willen bestimmenden Wesen, Individuen.\nWir gehen jetzt einen Schritt weiter, wir treffen thierische Organismen, der Form nach vollkommen einfache Individuen, auch von einem Willen beseelt und gleichsam mit nur einem Centrum begabt, und dennoch Systeme von Theilen, welche individuell leben und die Form und Organisation der Species erzeugen k\u00f6nnen. Es giebt Thiere, w\u2019elche die Zahl ihrer Glieder bei dem Wachsthum vermehren, und hei welchen ein Theil dieser Glieder des grossem Ganzen, sowohl von selbst als neues Thier sich ahl\u00f6sen, als durch die Runst lebensf\u00e4hig getrennt werden kann. Diese Glieder waren dem Willen des Stammthiers eine Zcitlang unterworfen und insofern blosse Theile desselben. Von einer gewissen Zeit an entsteht eine n\u00e4here Beziehung dieser Glieder zu einander, als zu dem Stamm, und diese zur Abl\u00f6sung sich vorbereitenden gegliederten St\u00fccke des Wurms erhalten sogar vor der Abl\u00f6sung vom Stamm ihren eignen Willen, und gleichsam ihr eignes Centrum, und befreien sich mit willk\u00fcrlicher Bewegung von der Verbindung mit dem Mutterstamm. Das aus wenigen Gliedern bestehende junge Individuum w\u00e4chst hier durch Aneignung der Materie zu einem Multiplum, das in mehrere Theile von dem Werthe eines Jungen sich theilen, oder getheilt. werden kann. Zu einer gewissen Zeit ist das Multiplum","page":593},{"file":"p0594.txt","language":"de","ocr_de":"594 VII. Buch. V. d. Zeugung. I. Ahsclm. Gleichart. Fortpflanzung.\nnoch einem Willen unterworfen, und nur insofern ein Multiplem, als die Theile des JVlultipIums nur die F\u00e4higkeit haben, Individua zu sein, aber noch nicht de facto individua sind. Und zu einer sp\u00e4tem Zeit ist das System zusammenh\u00e4ngender Theile ein Mul-tiplum wirklicher Individuen. Auch manche W\u00fcrmer lassen sieh in mehrere Individuen trennen, und sind also an und f\u00fcr sich kein Individuum, sondern ein System von mehreren, den ganzen Begriff und die ganze Potenz des Thiers enthaltenen Theilen, von welchen jeder Theil, wie gross oder klein er seyn mag, dasselbe Thier zu werden vermag, Die junge Kais proboscidea hat nur 14 Glieder. Bei ihrem Wachsthum vermehren sich die Glieder am Hinterende, und nach einer gewissen Zeit f\u00e4ngt ein Theil dieser neuen Glieder an, sich vom \u00fcbrigen Thier abzuschn\u00fcren, indem lange vor der Trennung schon wieder das Mutterst\u00fcck neue Glieder an der Einschn\u00fcrungsstelle bildet, und nach der beginnenden Abschn\u00fcrung des zweiten Individuums abermals neue Glieder bildet. Auf diese Art hat man Gelegenheit die Multer mit 3 Kindern zu einem System verbunden zu sehen, welches aus einem Glied des Syst\u00e8mes herangewachsen ist. O. Fr. Mueller JSalur-geschichte einiger Iflurmarten des s\u00fcssen und salzigen IVassers. Copenhagen 1800. Gruithuisen \u00c4'oo. act. nat. cur. XI.\nBei einer Naide, die zu einem Mnltiplum angewachsen ist, gleichen die St\u00fccke, die sich ahl\u00f6sen k\u00f6nnen, dem jungen Zustande des Individuums schon der Form nach, indem das ganze Multi\u2014 plum viele solche Glieder enth\u00e4lt, von dem das junge Individuum nur wenige hat. Es kann aber auch ein Thier der Form nach nichts von einem Multiplum zeigen, und doch ein Mnltiplum von Theilen seyn, die selbst neue Individuen weiden k\u00f6nnen. Hierher geh\u00f6ren wieder die Hydren zur Zeit, wo sie noch ein einziges, von einem Willen Beseeltes Individuum ohne Sprossen sind. Auch in diesem der Form nach einfachen Zustande sind sie zwar keine Systeme eigenlebiger Individuen, aber der Kraft nach Multipla desjenigen, was zur Bildung eines Polypenindividuums n\u00f6thig ist. Penn St\u00fccke aus dem Stammtheil des Polypen wachsen in kurzer Zeit wieder zur Form eines Polypen um, treiben Arme hervor und erhalten die Darmh\u00f6hle, ja es ist nach den Versuchen von Trembley sogar gleichg\u00fcltig, ob man den Polypen der L\u00e4nge nach oder nur in ringf\u00f6rmige St\u00fccke theile, oder St\u00fccke aus den Seiten ausschneide, in allen F\u00e4llen wandeln sich diese St\u00fccke in junge Polypen um. Trembley M\u00e9moires pour servir a I histoire d\u2019un genre de polypes d\u2019eau douce. Leide 1744. Hieraus lieht hervor, dass wie hei den Pflanzen in den Bl\u00e4ttern, so bei den Polypen in aliquoten, nicht n\u00e4her bestimmbaren Theilen ihres K\u00f6rpers Alles enthalten ist, was zum Inbegriff eines Individuums der Species geh\u00f6rt und dass jedem der Trieb einwohnet, wenn es nicht dem System solcher individuell lebensf\u00e4higer Theile, die zur Form eines Individuums verbunden sind, unterworfen ist, die Form selbst anzunehmen. Auf \u00e4hnliche Weise verhalten sich auch die Planarien, die sonst niemals zu einem System von willk\u00fcrlich sich selbst bestimmenden Wesen anwachsen, sondern dem Willen nach einfache Individuen","page":594},{"file":"p0595.txt","language":"de","ocr_de":"595\n1. Multiplication durch das Warhsthum.\nsind. Man kann sie nach den Versuchen von Dugi'.s in 8 \u2014 10 St\u00fccke zerschneiden, die wieder individuell belebt erscheinen und im Sommer innerhalb 4 Tagen die Form der Species annehmen. Fbob. Not. 501.\nSowohl die Hydren als die Planarien sind gewiss so gut wie jedes Thier in organische Systeme, Organe und Gewebe organis\u00e2t. Die Organisation der Planarien ist bereits ziemlich genau gekannt, und wenn man diejenige der Hydren ungeachtet der auch hier stattgefundenen Fortschritte noch nicht so genau kennt, als es w\u00fcnschenswert!) ist, so stehen sie jedenfalls auf gleicher Stufe mit allen \u00fcbrigen Polypen. Man weiss wie bestimmt die Details der Organisation bei den Polypen sind, man weiss, dass die Bewegung so gut wie bei irgend einem Thier durch Muskeln geschieht, man kennt die Anordnung dieser Muskeln, die des Darmkanals und bei den Actinien, und selbst den zusammengesetzten Polypen die Anordnung der Geschlechtstheile. Wenn also blosse St\u00fccke einer Planaria, einer Hydra und bei letzterer sehr kleine St\u00fccke die Kraft zur Bildung eines Individuums enthalten, so ruht diese Kraft offenbar in einer Masse von Theilchen, welche, so lange sie mit dem Stamm verbunden waren, speciellen Functionen d\u00e8s ganzen Thiers dienten und seinen Willenseinfluss erfuhren. In diesen St\u00fccken werden Muskelfasern Nervenfasern u. s. w. sevn. Eine klare Vorstellung dieser Thatsache f\u00fchrt zu dem Schluss, dass ein Haufen thierischer Gewebe von verschiedenen physiologischen Eigenschaften von einer Kraft beseelt seyn k\u00f6nne, welche von den specifischen Eigenschaften der einzelnen Gewebe ganz verschieden ist. Die Eigenschaften der Gewebe in einem abgeschnittenen St\u00fcck Hydra z. B. sind Zusammenziehungskraft der Muskelfasern, Wirkung der Nervenfasern auf die Muskelfasern u. s. w. Diese Eigenschaften hangen von der Structur und dem Zustande der Materie in diesen Theilchen ab. Jene Grundkraft hingegen ist identisch mit der, welche den ganzen Polypen erzeugt\" li\u00e2t, wovon das St\u00fcck abgeschnitten wurde.\n\"Die Ursache, welche eine Portion der Hydra und Planaria zur Function in einem grossem Ganzen zwingt, ist die Wechselwirkung dieser Portion Materie mit derjenigen eines schon orga-nisirten, durch sein Gehirn centrirten Thiers. In diesem Zustand bleibt die Grundkraft latent und die Organisation der Gewebe-theilchen dieser Portion Materie dient dem Centraleinfluss des organisirten Polypen. Sobald aber der Contact einer Portion organisirter Materie einer Hydra oder einer Planaria mit dem centrirten Ganzen aufgehoben wird, so wird der herrschende Einfluss des centrirten und vollst\u00e4ndig organisirten Ganzen aufgehoben, und dieses St\u00fcck strebt zu individueller Organisation, indem wahrscheinlich die in ihm schon vorhandenen Gewebetheil-chen ihre Bedeutung verlieren, und sich die ganze Masse in Bil\u2014 dungsstoff und Keimzellen verwandelt, aus denen beim Embryo alle Gewebe entstehen und diese Zellen wieder, wie beim Embryo, in die Urtheilclien der sp\u00e4teren Gewebe umgewandelt werden.\nEbenso oder \u00e4hnlich ist es auch bei den Pflanzen. So lange das speciell, als blosses Organ organisirte Blatt noch mit der","page":595},{"file":"p0596.txt","language":"de","ocr_de":"596 VII. Buch. V. d. Zeugung- I- Ahschn. Gleichart. Fortpflanzung.\nSprosse zusammenh\u00e4ngt, ist seine ihm inwohnende, die Species der Pflanze reproducirende Kraft unterdr\u00fcckt, dui'cli die FVech-selwirkung des Pflanzenorganes mit dem Ganzen der Sprosse und der Pflanze \u00fcberhaupt, die zWal\u2019 nicht wie der Polyp centrirt ist und von einem \u00efheil aus die flnupteinfl\u00fcsse erhalt, aber durch eine Wechselwirkung aller I lici 1c zu einem gemeinsamen Zweck sich als System erh\u00e4lt. F\u00e4lH diese Wechselwirkung durch Aufheben des Contactes weg, so hat die Organisation des Blattes l\u00fcr einen bestimmten Zweck seine Bedeutung verloren, und es \u00e4ussert sich die ihm inwohnende, die Species der Pflanze erhaltende Kraft zu der Erzielung eines zweckm\u00e4ssigen Ganzen in einer Knospe.\nWenn dieses richtig ist, s0 wird ein abgeschnittener Pflan-zentheil, z. B. ein Citronen-, Pomeranzenblatt, das in die Erde gesteckt zur Erzeugung einer Knospe f\u00e4hig w\u00e4re, vielmehr, wenn es wieder seinem Mutterstanii11 aufgeimplt wird, statt aus sich, wie in der Erde Knospen zu treiben, vielmehr anwachsen und Blatt bleiben m\u00fcssen. Ich wciss nicht ob man Versuche dieser Art angestellt hat, und cs ist diese letzte Aeusserung eine blosse Vermuthung. Diese Vermutbung ist aber um so mehr gerechtfertigt, als \u00e4hnliche gelungene Versuche von Polypen schon vorliegen. Tremble y durchschnitt ci-'ie Hydra tjuer, legte die St\u00fccke dicht aneinander und erhielt sie vorsichtig in Ber\u00fchrung, und innerhalb desselben Tages waren sic miteinander verwachsen, so zwar, dass am andern Tage ein von dem Forderende gefressenes W\u00fcrmchen in das untere angewachsene Stuck \u00fcberging. Beide Tlieile waren Anfangs durch eine Strictur getrennt, welche sich nach 15 Lagen ganz verloren hatte. Dieser Polyp fing schon am zehnten l\u00e4ge nach der Operation an Knospen zu treiben. Dieselbe Vereinigung gl\u00fcckte Trembley zwischen ilsm Forderst\u00fcck und Ilinterst\u00fcck zweier verschiedener Individuen. Dieser Polyp trieb sp\u00e4ter Knospen \u00fcber und unter der Verw'uebsungsstelle, a. a. O. p. 292. 293. Es ist bei diesem Versuch von der h\u00f6chsten Wichtigkeit, dass das untere St\u00fcck nach dem .Abschneiden und Anheilen einlach anwuchs, also selbst hei der lange fortgesetzten Beobachtung blosser Theil des centrirten St\u00fccks des Polypen blieb, und sich nicht in ein eignes, jenem angewachsenes cenlrirt.es Individuum umwandelte, wie es unfehlbar in k\u00fcrzester Zeit geschehen seyn w\u00fcrde, wenn dieses Polypenst\u00fcck statt anzuwachseu, ohne Contact mit dem centrirten Anfangsst\u00fcck sich selbst \u00fcberlassen worden w\u00e4re.\nEs muss ferner bemerkt Werden, dass in Hinsicht der Ge-staitungsf\u00e4higkeit der St\u00fccke Aes Polypen nach Irembley's F ersuchen insofern cm Unterschieil stattfiudet, dass zwar sehr kleine Segmente in den verschiedensten Richtungen geschnitten, aus dem Stammtheil und Kopf der Hydra, sich zu neuen Polypen formiren, in sehr kurzer Zeit sich centrbren und willk\u00fcrlich sich bewegen,, dass aber die Arme der Jlvdi\u00df* hiervon eine Ausnahme machen, indem die Versuche mit abgeischnittenen Armen keinen Erfolg hatten. Bei den h\u00f6heren Thiciren, Inseeten, Spinnen, Krebsen, Salamandern werden zwar ganze* Organe, z. B. Extremit\u00e4ten, Auge, Unterkiefer nach dem Verluste* von dem Stamme wiedererzeugt und es wird dadurch bewiesen, dass diese Organismen keine","page":596},{"file":"p0597.txt","language":"de","ocr_de":"4. Multiplication durch das TVdchsihum.\n597\nAggregate ihrer Organe sind, sondern die Kraft zur Bildung des Ganzen hei Verlusten ganzer Organe noch in sich enthalten. Indessen bildet sich hier niemals aus dem abgeschnittenen Theile ein ganzes Thier aus, und hei ihnen verhalten sich die meisten Theile, so wie die Arme der Hydra, aus denen keine Hydren entstehen. Insofern auch bei den h\u00f6heren Thieren alle Gewebe aus Zellen entstehen, und sich bei dem Wachsthum die Zahl der Gewebe-theiiehen durch den Anwuchs neuer Zellen vermehrt, ist auch ein erwachsenes Thier vollkommnerer Art ein Multiplum der urspr\u00fcnglichen Summe von constituirenden Theilchen. Bei einer erwachsenen Naide liegen diese Multipla der Summe hintereinander, und k\u00f6nnen durch abc-\\-abc-\\-abc-\\-abc ausgedr\u00fcckt werden, bei den \u00fcbrigen Thieren, welche der Theilung der Summen nicht f\u00e4hig sind und auch keine Aggregate \u00e4hnlicher nebeneinander verbundener Summen werden, kann man das Junge durch ahe, das Erwachsene durch aaa hob ccc oder durch a!l b\u201c c\" aus-dr\u00fccken. an mag das Multiplum der Leberzellen, bn das Multiplum der Nervenzellen, cn das Multiplum der Muskelzellen aus-dr\u00fccken, um welche die gleichartigen urspr\u00fcnglichen constituirenden Theilchen sich vermehrt haben. Diese Haufen k\u00f6nnen bei den h\u00f6heren Thieren keine Individuen werden. Indessen m\u00fcssen auch selbst die h\u00f6heren Organismen im erwachsenen Zustande als virtuelle Multipla des Keims angesehen werden, da sie durch das Wachsthum f\u00e4hig werden, Keime zu bilden. Zur Entwickelungsf\u00e4higkeit derselben geh\u00f6rt zwar der Einfluss zweier Geschlechter. Indessen kann diese auch dasselbe Individuum in sich enthalten, wie bei allen hermaphroditischen Thieren, die sich gegenseitig befruchten oder, wie die Taenien, die sich seihst befruchten k\u00f6nnen. Ein solit\u00e4r gebliebenes Individuum, welches im erwachsenen Zustande fructifient, entwickelungsf\u00e4hige Keime ausstreut, enth\u00e4lt also auch in sich selbst die Kraft zur Bildung des Multiplums, und folglich ist jedes erwachsene, auch h\u00f6here Thier der Kraft individueller Lebensf\u00e4higkeit nach, als ein virtuelles Multiplum der primitiven Kraft und insbesondere des Keimes anzusehen.\nAn dieser Stelle entsteht die Frage, wie klein m\u00f6glicher Weise der Theil eines organischen K\u00f6rpers seyn k\u00f6nne, in dem noch die Kraft zur Erzeugung der Species enthalten ist. Bei den h\u00f6heren Thieren, die sich nur durch sexuale Zeugung fortpflanzen, befinden sich nur die Keime der Eier in diesem Zustande, welche grosse Zellen mit dem Keimbl\u00e4schen und Kern des letztem, oder dem WAGNEidscben Bleck sind; alle \u00fcbrigen kleinen und grossen Theile des K\u00f6rpers enthalten die Kraft zur Erzeugung der Species und des Individuums nicht. Bei den knospentreibenden Pflanzen und Thieren besteht der Keim aus einem Plaufen von Zellen, die sich an den meisten Stellen des K\u00f6rpers erzeugen k\u00f6nnen. Bei einigen niederen Thieren wohnt diese Kraft schon jedem Haufen von organischen Urtheilchen, d. b. solcher Gewebetheile, ein, die urspr\u00fcnglich gleichartig aus Zellen entstanden sind, aber sich hernach in bestimmte Gebilde, wie Muskelfasern, Nervenfasern, Zellgewebe u. s. w. umgewandelt ha-","page":597},{"file":"p0598.txt","language":"de","ocr_de":"598 VII. Buch. V. d. Zeugung. I. Abschn. Gleichart. Furtp\u00dfanzung.\nben. Bei den niederen organischen Wesen sind nicht bloss St\u00fccke der meisten Theile des K\u00f6rpers f\u00e4hig Individua zu werden, sondern in einigen F\u00e4llen hebt selbst eine, bis auf die Urtheile der Organisation fortgesetzte Theilung die Erzeugung der Species aus einem getrennten Urtheilchen nicht auf. Alle Gewebe entstehen bei den Pflanzen aus Zellen. Es giebt aber auch Pflanzen, bei denen eine einzige, vom Ganzen abgel\u00f6sste Zelle, gleichviel w elche, zur Erzeugung der Pflanze hinreicht, wenn der NahrungsstofT dazu gegeben ist. So verhalten sich die Fadenpilze, z. B. der Schimmel und das Vegetabile der g\u00e4hrenden Fl\u00fcssigkeiten, woraus nach den Beobachtungen von Cagniard Latour und Schwann die Hefe besteht, und das sich in g\u00e4hrenden Fl\u00fcssigkeiten in ungeheurer Menge wieder erzeugt. Dieser Bierpilz besteht aus aneinander gereihten Zellen, welche einfache Reihen und \u00e4stige Pieihen bilden. Die Zellen treiben -aus ihrer freien Seite eine kleine Hervorragung aus und das ist die junge Zelle, die sich bald zur ganzen Zelle vergr\u00f6ssert. Kaum hat sich diese j\u00fcngste Zelle ausgebildet, so f\u00e4ngt sie auch schon an, die Knospe der n\u00e4chsten Zelle aus sich hervorzutreiben. Dergleichen Zellen l\u00f6sen sich auch fb und treiben auch im isolirten Zustande Knospen von Zeilen, oder entwickeln die Form der Pflanzenspecies. Alles dieses gebt so schnell vor sich, dass sich das Wachsen und Zeugen unter dem Mikroskop beobachten l\u00e4sst. Poggend Ann. 41. 184. So ist es \u00fcberhaupt bei den einfachen Pilzen. Der aus Zellen bestehende ausgestreute Staub des Pilzes, welcher die Seidenw\u00fcrmer zerst\u00f6rt, die Muscardine, enth\u00e4lt auch diese Kraft zur Erzeugung der individuellen Pflanze und man begreift, wie eine einzige Zelle dieses Pilzes, in eine Seidenw\u00fcrmerzucht kommend die Ursache zur Zerst\u00f6rung dieser ganzen Zucht werden kann. Siehe \u00fcber die Muscardine Audouin in Ann. d. sc. nat. 1837.\nII. Capitel. Vermehrung durch Theilung eines entwickelten Organismus.\nIn sofern die organischen Wesen im erwachsenen Zustande ein virtuelles Multiplum ihres Keims sind, sind sie auch durch Theilung der Vermehrung f\u00e4hig, Dividua, ohne dass die Multiplication durch Bildung einfacher Keime n\u00f6thig w'\u00e4re. Diese ITeilung beobachtet man selbst bei Thieren, die zur Knospenbildung ganz unf\u00e4hig sind. Die Vermehrung der Individuen durch Theilung findet theils durch k\u00fcnstliche Aufhebung des Contactes und der organischen Wechselwirkung, theils durch spontane Theilung statt. In beiden F\u00e4llen kann die Theilung vollst\u00e4ndig oder unvollst\u00e4ndig seyn. Ist sie unvollst\u00e4ndig, so kann ein organisches Wesen ein Multiplum darstellen, dessen selbstig belebte Glieder noch mit einem ungeteilten Stamm Zusammenh\u00e4ngen.\n1. K\u00fcnstliche Th e i 1 u li g.\nDie Vermehrung der organischen Wesen durch spontane Theilung, welche man vorzugsweise im Thierreiche autrifft, eifolgt","page":598},{"file":"p0599.txt","language":"de","ocr_de":"Vermehrung durch Thei/nng.\n599\nnicht so leicht, als die Vermehrung durch k\u00fcnstliche Theiluna. Durch die k\u00fcnstliche Theilung hebt man absolut den Zusammenhang von St\u00fccken auf, welche bei aller ausgebildeten Structur eine gleiche Kraft enthalten, und man n\u00f6thigt dadurch diese Kraft zur individuellen Organisation. Man kann daher Polypen in jeder Richtung promiscue theilen, und erh\u00e4lt aus den St\u00fccken neue Individuen. Die spontane Theilung kommt hingegen nie promiscue, sondern nur in gewissen Richtungen vor, bei welchen die Theilung mit den geringsten St\u00f6rungen der innern Organisation m\u00f6glich ist.\nDurch k\u00fcnstliche Theilung lassen sich alle Pflanzen und mehrere niedere Thiere vermehren. Ein abgeschnittener Ast, Zweig, Sprosse, sind fortlebende, die Species erhaltende Systeme, w'enri sie entweder in die Erde gepflanzt werden, oder als Schnittlinge einer andern Pflanze aufgepfropft werden. Gleichwohl kann diese Art der Vermehrung nicht f\u00fcglich als ein Beispiel einer wirklichen Vermehrung durch Theilung ohne vorausgegangene Knospenbildung angesehen werden. Denn die Schnittlinge werden gew\u00f6hnlich mit ausgebildeten Knospen verpflanzt. Ein St\u00fcck von einem Stamm, dem die Aeste abgeschnitten sind, und der \u00e4usser-lich an der Rinde keine Spur von Knospen zeigt, treibt zwar zuweilen eingesetzt auch wieder. Nach De Candolle kann man selbst mit Rindenst\u00fccken oculiren, welche keine sichtbaren Knospen tragen. Meyen macht hingegen den Einwurf, dass in diesem Fall die Adventivknospen des Markes die aufgelegte Rinde durchbrechen, und f\u00fchrt an, dass selbst ein abgesch\u00e4lter Weidenzweig, der zum Rosenstock benutzt wurde, nach einigen Wochen wahrscheinlich durch Adventivknospen des Markes neue Knospen trieb. Pflanzenphysiologie. 3. B. p. 84. Auch das Treiben von abgeschnittenen Bl\u00e4ttern, die in die Erde gepflanzt werden, beweist nicht in allen F\u00e4llen die Vermehrung durch Theilung ohne Knospenbildung. Bei den Bl\u00e4ttern von Bryophyllum calyeinum entwickeln sich in diesem Falle nur die schon vorhandenen Knospen in den Winkeln der Blattz\u00e4hne. Selbst die F\u00e4lle, wo knospenlose und zur Knospenbildung auf dem Mutterstamm ganz ungeeignete Bl\u00e4tter von perennirenden Pflanzen, nach dem Einsetzen in die Erde Wurzel treiben, und die aufsteigenden Pflanzengebilde aus sich entwickeln, sind nicht rein. Denn hier wandelt sich nicht das ganze Blatt in die Pflanze um, wie bei dem Polypenst\u00fcck in den Polypen, sondern es wird aus dem Pflanzenindividuum des Blattes eine Knospe erzeugt. Indess ist dieses knospende Blatt schon, insofern es die Knospe bilden kann, einfache Pflanze, und nach Meyen a. a. O. treiben dergleichen in die Erde gesetzte Bl\u00e4tter erst W\u00fcrzelchen und dann die Knospe hervor. Hierher geh\u00f6rt auch die k\u00fcnstliche Theilung der Flechten.\nDie k\u00fcnstliche Theilung bei Thieren gelingt vorz\u00fcglich dann leicht, wenn sie aus einer Reihe von \u00e4hnlich gebildeten Theilen bestehen, und die Zahl dieser Theile durch das Wachsthum vermehren, wie die W\u00fcrmer, wo z. B. Querschnitte den Wurm in Segmente bringen,, von dem jedes noch \u00e4hnliche und wie abgek\u00fcrzte Theile des Nervensystems, der Blutgef\u00e4sse und des Darms\nMiiU er,s Physiologie, 2r. Bel, III.\t39","page":599},{"file":"p0600.txt","language":"de","ocr_de":"600 VII. Buch. V. \u00e2. Zeugung. I. Ahschn. Gleichart. Fortpflanzung.\nenth\u00e4lt. Allein dieser Umstand erleichtert hloss diese Vermehrung, er ist, wie schon erw\u00e4hnt, durchaus nicht absolut zur Vermehrung durch Theilung nothwendig. Denn hei der Theilung der Hydren und Planarien in allen Richtungen kreuzen die Schnitte die Organisation beliebig, und man erh\u00e4lt lebensf\u00e4hige Theile, welche nichts weniger als die wesentlichen Theile des Thiers abgek\u00fcrzt enthalten. Die Kralt zur individuellen Entwickelung wohnt daher in beliebigen Haufen von Organtheilen ein. Man kann hei den mit Erfolg gekr\u00f6nten Theilungsversuchen dreierlei Theilung unterscheiden.\n1.\tK\u00fcnstliche Quertheilung. Die Quertheilung ist vorzugsweise bei linearer und paralleler Entwickelung der organischen Gebilde m\u00f6glich. Daher hei Pflanzen und W\u00fcrmern. Die der Quertheilung f\u00e4higen W\u00fcrmer entwickeln sich nach einer L\u00e4ngstheilung nicht zu neuen Ganzen. Leicht erh\u00e4lt man dagegen solche durch k\u00fcnstliche Quertheilung der Naiden, wie bereits O. Fr. Mueller zeigte. Ehrenberg trennt die pulslosen Waiden unter dem Warnen der Somatotomen von den Annulaten. Bei anderen Annulaten scheint diese Reproduction nicht vorzukommen, obgleich die getheilten St\u00fccke lange lebendig bleiben. O. Fr. Mueller erhielt das hintere Drittel einer Wereide, das sich selbstst\u00e4ndig bewegte, drei Monate am Lehen. Es bildete sich nicht weiter aus. Bonnet will hingegen aus dem durchschnittenen Regenw\u00fcrme zwei vollst\u00e4ndige Individuen erhalten haben. Wurde Wais proboscidea quer getheilt, so erhielt in Mueller\u2019s Versuchen das kopflose St\u00fcck der Waide in 3\u2014 4 Tagen einen neuen Kopf und R\u00fcssel, auch hat das Theilen und Enlk\u00f6pfen der Mutter keinen merklichen Einfluss auf die Entwickelung der T\u00f6chter aus dem Hintertheil des kopflosen St\u00fcckes, bisweilen entwickelt sich der Kopf f\u00fcr die Tochter der nat\u00fcrlichen Theilung ebenso schnell, als der Kopf der gek\u00f6pften Mutter. Der hintere Theil einer zerschnittenen Hydra bekommt Kopf und Arme, die als kleine Kn\u00f6tchen hervorwachsen, nach 24 Stunden in der warmen Jahreszeit und frisst wieder nach 2 Tagen. ln der kalten Jahreszeit dauert es 15 \u2014 20 Tage. Die Vermehrung wiederholt sich an kleinen Segmenten.\n2.\tK\u00fcnstliche L\u00e4ngstheilung. Der L\u00e4nge nach gethcilte Hydren legen sich schnell mit den Schnittr\u00e4ndern zu einer R\u00f6hre zusammen, und schon in einer Stunde sah Trembley die Form des Polypen hergestellt bis auf die Arme, die in einigen Tagen nachwachsen. Ein solcher Polyp frass schon 3 Stunden nachher. L\u00e4ngsriemen aus Hydren geschnitten bilden sich wieder bald zu ganzen Polypen um. Auch die k\u00fcnstliche L\u00e4ngstheilung der Pflanzenst\u00e4mme ist hierher zu rechnen.\n3.\tK\u00fcnstliche Theilung in allen Richtungen. Sie gelingt vorzugsweise bei einigen niederen Pflanzen, z. B. den Flechten, und unter den Thieren bei den Hydren. Trembley durcbschnitt aufgeschnittene Hydren in kleine St\u00fccke in den verschiedensten Richtungen, und sah sie wieder zu Polypen sich entwickeln. Ist die Theilung von der Art, dass eine Umrollung nicht mehr statt finden kann, z. B. an sehr d\u00fcnnen Riemen, so entsteht in diesen","page":600},{"file":"p0601.txt","language":"de","ocr_de":"Vermehrung durch Theilung.\n601\nW\u00e4nden eine H\u00f6hlung, die Anlage des Darms des Polypen. Die unvollkommene k\u00fcnstliche Theilung bringt vielk\u00f6pfige oder mehrfach centrirte, aber noch verbundene Polypen in Stande. Durch unvollkommene Theilung der L\u00e4nge nach , von vorn nach hinten brachte Trembley doppeltk\u00f6pfige bis siebenk\u00f6pfige Hydren hervor. Selbst wenn eine der L\u00e4nge nach aufgeschnittene Hydra in verschiedenen Richtungen so zerfetzt wurde, dass die St\u00fccke noch an einer Stelle zusammenhingen, bilden sich die St\u00fccke entweder zu einem Kopftheil oder Schwanztheil eines neuen, mit dem Ganzen zusammenh\u00e4ngenden Wesens um.\n2. Nat\u00fcrliche oder Selbst -Theilung.\nDie Selhsttheilung ist mehrentheils entweder L\u00e4ngstheilung oder Quertheilung oder beides zugleich. Sie wird nur vorzugsweise hei 1 liieren beobachtet, und wurde deswegen von Ehrenberg mit anderen Kennzeichen in zweifelhaften F\u00e4llen auch zur Entscheidung angewandt, oh niedere organische Wesen Pflanzen oder Tliiere sind. Sie ist eine sehr gew\u00f6hnliche Art der Vermehrung hei Infusorien, die sich auch durch Eier fortpllanzen. Zuweilen kommt hei denselben Gattungen auch Vermehrung durch Knospen vor. Bei allen h\u00f6heren Thieren fehlt die spontane Theilung und seihst die R\u00e4dertlrierchen haben nichts mehr davon, w\u00e4hrend sie noch einmal hei mehreren Annulaten auftritt; sie muss um so schwieriger seyn, je verwickelter die Organisation, je weniger \u00e4hnlich organisirte Theile in den verschiedenen Regionen di*s K\u00f6rpers Vorkommen, doch ist ungleiche Anordnung der Theile auf verschiedenen Seiten kein absolutes Hinderniss. Denn die spontane Theilung kann auch dann erfolgen, wenn der Darm Biegungen macht, wie hei den Vorticellinen. In diesen F\u00e4llen kann \u00fcbrigens an verborgene Knospenbildung gedacht werden, denn das vollkommen organisirte Thier theilt sich bei dieser Art der Generation durch eine allm\u00e4lig fortschreitende Einschn\u00fcrung in die Quere oder L\u00e4nge. Die Ursache der Selhsttheilung ist das Streben des, durch das Wachsthum entstandenen virtuellen Multiplums, die Herrschaft des organischen Princips auf kleinere Massen zu concentriren. Je gr\u00f6sser das selbstig lebende, einfach centrirte organische Wesen wird, um so mehr verlieren gleichsam die organischen Theilchen ihre Anziehung gegen ein einziges gemeinsames Centrum, und um so mehr tritt eine Anziehung derselben zu kleinen Gruppen ein, die ihre eigene Centra bilden. Pflanzen, hei welchen die Selhsttheilung beobachtet ist, sind die Palmellen nach Morren\u2019s Beobachtungen.\nAm weitesten verbreitet ist die Selhsttheilung unter den Infusorien, wie Ehrenberg\u2019s Beobachtungen zeigen. Ehrenberg die Infusionsthierchen als vollkommene Organismen. Leipz. 1838. Die Monaden pflanzen sich durch Quertheilung und L\u00e4ngstheilung fort, und selbst die Panzermonaden sind der Theilung unterworfen. Die Volvocinen theilen sich im Innern ihrer Schale, und die getheilten Individuen werden heim Durchbrechen der Schale ausgesch\u00fcttet, worauf sich an ihnen dieser Cyclus wiederholt. Die\n39*","page":601},{"file":"p0602.txt","language":"de","ocr_de":"602 VII. Buch. V. d. Zeugung. I. Absclin. CAeicharl. Fortpflanzung.\nRacillarien theilen sicli der L\u00e4nge nach und L\u00fcden dann polypenartige St\u00f6cke, einzelne k\u00f6nnen sich auch von dem Stiel losmachen und frei herumkriechen, wie die Gomplionema. Die Vorticellen theilen sich in die L\u00e4nge, dann l\u00f6sen sie sich von ihrem Stiele ah. Durch L\u00e4ngs- und Ouertheilung vermehren sich auch die Familien der Enehelia, Trachelina, Colpoda und Oxvtrichina. Die Beobachtungen von O. Fb. Mue eher und Gruithuisen \u00fcber die spontane Ouertheilung der Naiden sind schon oben angef\u00fchrt. Nachem die Einschn\u00fcrung zwischen dar Mutter und der aus dem Uintertheil entstehenden Tochter sich gebildet hat, entsteht an letzterer schon vor der Trennung Kopf und R\u00fcssel, und der vor der Tochter liegende Theil beginnt schon seine Absonderung vor der Abl\u00f6sung des hintersten St\u00fcckes, und zuweilen sieht man das Mutterthier mit drei jungen, durch Absonderung entstandenen Individuen noch verbunden. Auch bei den Planarien ist die Selbstlheilung beobachtet.\nDie Selbsttheilung ist meist vollkommen, zuweilen auch unvollkommen. Monaden, welche sich in die L\u00e4nge und Quere abwechselnd theilen, wo es aber nicht zu g\u00e4nzlicher L\u00f6sung der getheilten kommt, bilden Beeren. Bei einer best\u00e4ndig fortgesetzten L\u00e4ngstheilung entstehen Reihen von Individuen, die mit den L\u00e4ngsseiten Zusammenh\u00e4ngen. Bei einer fortgesetzten Selbsttheilung in die Quere ohne Trennung entstehen ladenartige Reihen. Als solche Systeme betrachtet Ehrenberg die Vibrionen, die man bald aus 2 \u2014 3, bald aus sehr vielen Gliedern bestehen sieht, und welche sich durch eine eigene zitternde Bewegung auszeichnen. Die verzweigten Vorticellinen Carchesium und Epistylis Ehrenr. entstehen durch unvollkommene Theilung der Thiere in 2, w\u00e4hrend diese durch den aus dem Hintertheil ausgeschiedenen Stiel verbunden bleiben. Diese Art der Theilung k\u00f6mmt selten bei den Corallenthieren, wohl aber nach Ehrenberg hei den Caryophyl-laeen vor, und bedingt dann dichotoinische, b\u00fcschelartige, gestielte Formen, indem 2 aus einem, 4 aus 2, S aus 4, 16 aus 8 werden u. s. w.\nD ass den Pflanzen irgendwie Selbsttheilung zukomme, ist theils entschieden verneint, theils wieder bestimmt bejaht worden. Ehrenberg spricht aus, dass es keine ihm bekannte Pflanze, auch keinen Theil einer PUanze, ja keine Zelle des Zellgewebes gebe, welche sich zur Vermehrung theile. Alle Pflanzenentwickelung geschehe durch Verl\u00e4ngerung und KnospenLildung, und die Theilung sei nur Abl\u00f6sung von Knospen. Bericht \u00fcber die zur Bekannt-machung geeigneten Verhandlungen der K. Pr. Academie der Wissenschaften 1836. 34. Meyen hingegen schreibt den Pflanzen und selbst Pflanzenzellen vielseitig die Vermehrung durch Theilung zu. Neues System der Pflanzenphysiologie 3. 1). p. 440. Meyen begeht sich theils auf die Closterien, welche hinwieder Ehrenberg mit mehreren, der Untersuchung wenig zug\u00e4nglichen, aber sich durch Theilung mehrenden Formen zu den Thieren rechnet. Aus den \u00fcbrigen von Meyen angef\u00fchrten F\u00e4llen scheint mir mehr die Bildung der Sporen durch Theilung, und die Theilung einzelner Zellen zu folgen. Es giebt aber so einfache vegetabilische","page":602},{"file":"p0603.txt","language":"de","ocr_de":"Vermehrung durch The Hung.\n603\nGebilde, wo Sporen durch blosse Einschn\u00fcrungen, also Heilungen eines fadenartigen Schlauches entstehen, Simpla eines virtuellen Multiplums und es giebt wieder Gebilde, wo die durch Knospung auseinander entstandenen Zellen eine Reihe bildend, das IYlulti-plum der Pflanze ausrnachen, welches sich durch wahre Theilung in seine Simpla trennt. Mi;yen beruft sich auf die Beobachtungen an Palmellen, Oscillatorien, Nostochinen und Fadenpilsen. Die gef\u00e4rbte sph\u00e4rische Masse, welche ein einzelnes Palrnellenindivi-duutn darstellt, ist jedesmal in einer Schleirnhiille eingeschlossen, und im Innern dieser H\u00fclle, welche als Mutterzelle anzusehen ist, erfolgt die Selbsttheilung jener Masse. Nach der Theilung wird jeder einzelne Theil von einer eigenen Schleimh\u00fclle umschlossen, wobei die erstere allm\u00e4hlig resorbirt wird, doch mitunter wird sie bedeutend ausgedehnt, und man sieht darin noch die neuen Palmellen in ihren besonderen, vollst\u00e4ndig ausgebildeten H\u00fcllen eingeschlossen. Bei den wahren Oscillatorien mit ungegliedertem Schlauch sah Meyer, dass die gr\u00fcngef\u00e4rbte Masse in diesem Schlauch anfangs ungegliedert, sp\u00e4ter gegliedert aultritt. Zuweilen bricht der Inhalt in mehr oder weniger langen St\u00fccken aus, woran sich dann die Glieder abl\u00f6sen. In diesem Falle scheint mir die Selbsttheilung mehr eine Theilung der Sporenmasse zu seyn. Die rosenkranzf\u00f6rmigen F\u00e4den, welche bei der Gattung Nostoc gewunden in der Gallertmasse liegen, verl\u00e4ngern sich nach Meyer durch Selbsttheilung ihrer einzelnen Bl\u00e4schen. Sobald die alte Nostoc zerf\u00e4llt, treten jene Bl\u00e4schen aus der gallertartigen Masse hervor, und jedes derselben vermag sich zu vergrossem und zu einer nijuen Nostoc umzuwandeln. Die Sporen bestehen aus einer etwas erh\u00e4rteten und gr\u00fcnlich gef\u00e4rbten Gallertmasse, und sind mit einer schleimigen, wasserhellen Fl\u00fcssigkeit gef\u00fcllt; bei der Entwickelung schwillt jene H\u00fclle zu der gallertartigen Masse der Nostoc, in dieser entstehen Tr\u00fcbungen, aus welchen die ei\u2019sten Bl\u00e4schen hervorgehen, welche sich durch best\u00e4ndig fortgesetzte Theilung vervielf\u00e4ltigen und die rosenkranzf\u00f6rmigen Sporenf\u00e4den darstellen.\nNach Meyen entstehen auch die Samen der Moose und Lebermoose nicht im Innern von Mutterzellen, sondern durch Theilung, und die einzelnen Samen werden von dem grossem Muttersamen abgeschn\u00fcrt. Hierher rechnet derselbe auch die Vermehrung der Zellen bei einigen gegliederten Conferven, z. B. Conferva glomerate, durch Abschn\u00fcrung eines Auswuchses. Bei den niederen Pilzen, z. B. P\u00e9nicillium glaucum geschieht nach Meyer die Bildung der Sporen durch Abschn\u00fcrungen des fadenartigen Schlauches. Bei dem G\u00e4hrungspilz Saccharomyces entsteht jede neue Zelle des aus einer Reihe von Zellen bestehenden Pfl\u00e4nzchens durch eine Knospung einer der \u00e4lteren Zellen in gerader Linie oder nach den Seiten. Die Zellen l\u00f6sen sich leicht ab, und im abgelosten Zustand treiben sie wieder Knospen und bedingen neue kleine Systeme. Jede Zelle der Pflanze ist hier eine Spore, oder jede Zelle ist Individuum, welches durch Knospung neue Individuen bildet, wo aber die Individuen des Systems sich von einander abi\u00f6sen. Die Selbsttheilung des G\u00e4hrungspilzes ist daher","page":603},{"file":"p0604.txt","language":"de","ocr_de":"604 VII. Buch. V. d. Zeugung. I\u25a0 Abschn. Gleichart. Fortpflanzung.\ngegenseitige Abl\u00f6sung von Individuen, die durch Knospung nach einander entstanden sind. Dieser Process gleicht sehr der Abl\u00f6sung der aus dem Mutterpolypen aus wachsenden Knospen irn aus-gebildeten Zustande, dem Zerfallen eines durch Knospung entstandenen Systems von verwachsenen Hydren in seine schon f\u00fcr sich bestehenden Individuen.\nIII. Capitel. Von der Fortpflanzung durch Knospen.\nDie Bildung der Knospen beruht ihrem Wesen nach darin, dass von dem zum Eigenleben speciell organisirten Wesen ein zu jenem Eigenleben \u00fcberfl\u00fcssiger Theil der Substanz im unentwickelten Zustande der Organisation zu einem besondern Eigenleben sich absondert, ohne den organischen Verband mit dem Mutterstamm zu verlieren. Aus diesem Keim entwickelt sich sofort die specifisehe Organisation der Species in der Form eines neuen Individuums, welches entweder dem Mutterstamm organisch verbunden bleibt, oder sich davon trennt. Diese Absonderung aus dein Eigenleben zum Keim eines besondern Eigenlebens und Individuums setzt voraus, dass der knospenbildende Mutterstamm schon vorher in sich die Kraft f\u00fcr mehrere Eigenleben enthielt, also ein virtuelles Multiplum war. Obgleich die Knospenbildung auch eine Art unvollkornmner Selbsttheilung ist, so unterscheidet sie sich doch von der Vermehrung durch Selbsttheilung'im engem Sinn, dass der sich selbsttheilende Organismus mit seiner vollst\u00e4ndigen Organisation in zwei vollst\u00e4ndig organisirte H\u00e4lften oder mehrere Theile zerf\u00e4llt, in welchen die specifisehe Organisation nicht erst zu entstehen hat, sich vielmehr nur insoweit um\u00e4ndert, als die Integration der von der Spaltung getroffenen Theile erfordert. Bei der Knospenbildung hingegen ist das neue Individuum nicht vollst\u00e4ndig organisirt, sondern bat nur die Kraft zur Erzielung der vollst\u00e4ndigen Organisation. Die Pflanzenknospe ist daher, um mit C. Fe. Wolff zu reden, einfache Pflanze, und so die Thierknospe das einfache Thier. Die urspr\u00fcngliche Organisation der Knospe besteht bloss darin, dass sie die Uriheile aller Organisation, Zellen und zwar in verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig geringer Anzahl enth\u00e4lt. Die Knospen der Pflanzen sind Haufen von gew\u00f6hnlichen Pflanzenzelien. Die Gelasse der Mutterpflanze haben an der Bildung der urspr\u00fcnglichen Knospe nicht den geringsten An-theil, und zeigen sich erst sp\u00e4ter mit der Knospe im Zusammenh\u00e4nge. Vielmehr erscheint die Knospe anfangs als eine blosse Fortsetzung des Zellgewebes des Markes, wie Duhamel, Trevi.banus, M\u00e8yen u. A. lehren. Die Sonderung der Knospe von dem Mark, des Muttertriebs oder Stammes geschieht nicht durch eine Scheidewand, zwischen beiden liegen auch nur wieder kleine Zellen. Siehe TrEviravus Physiologie der Gew\u00e4chse. 2. p. 630. Gew\u00f6hnlich geschieht die Entwickelung der Knospen auf dem Mutterstamme, aber sie k\u00f6nnen auch abfallen und selbstst\u00e4ndig sich entwickeln, wie bei der Vermehrung der Monocotyledonen, Dicotyledonen und der Laubmoose durch abfallende Knospen.","page":604},{"file":"p0605.txt","language":"de","ocr_de":"Fur!pflanzwig durch knuspert.\n605\nYon dem Ei unterscheidet sich die Knospe, abgesehen von der zur Entwickelung des Eies n\u00f6thigen sexualen Einwirkung, darin, dass dieses sich nicht auf dem Mutterstamm weiter entwickeln kann, und von der - Mutterpflanze durch H\u00e4ute isolirt wird. Die sich durch ungeschlechtliche Fortpflanzung erzeugenden Sporen vieler einfacheren Pflanzen k\u00f6nnen nicht als Eikeime betrachtet werden.\nDie Ursachen der Entwickelung von Knospen an dem Mutterstamme sind theils innere, llieils \u00e4ussere. Die einfacheren Organismen bilden Substanz, welche die Kraft zu individueller Organisation der Species bat. Wenn diese nicht eine, f\u00fcr die Functionen des Eigenlebens des vorhandenen Individuums n\u00f6thige specielle Structur erh\u00e4lt, und dadurch der Wirkung des Eigenlebens des Mutterstammes unterworfen bleibt, so strebt diese Substanz zur individuellen Organisation, und das neue Individuum h\u00e4ngt voll dem gr\u00f6sseren oder kleineren Haufen von Theilchen (Zellen) ab, welche in n\u00e4herer Wechselwirkung sind, und von der engern Wechselwirkung mit dem Mutterstamm ausgeschlossen werden, gleichwie von anderen Massen keimf\u00e4higer Substanz auf irgend eine Weise mechanisch durch Heterogenes getrennt sind. W'o also in einem organischen K\u00f6rper sieh Substanz, bildet, welche von dem Eigenleben nicht f\u00fcr specielle Structuren verwandt und beherrscht wird, da werden sich auch Knospen aus dem virtuellen Multiplum bilden. Die Bildung dieser Substanz scheint dadurch erkl\u00e4rt werden zu k\u00f6nnen, dass man, wie auch bei dem Thei-lungsstreben, annimmt, das durch das Wachsen zunehmende virtuelle Muitiplmn strebe die organisirende Kraft auf kleinere Massen von Materie zu coneenlriren.\nBei den Pflanzen geh\u00f6rt zu den Ursachen der Knospenbildung auch eine Intermission der Th\u00e4ligkeit des Eigenlebens f\u00fcr specielle Umwandlung der Materie zu den besonderen Structuren der Organe, oder eine Intermission der allgemeinen Ern\u00e4hrung. Die Knospen bilden sich bei vielen Pflanzen nur dann, wenn das \u00e4ussere Wachsthum eine Intermission macht, und die Pflanze ihre Organe, die Bl\u00e4tter verloren hat. Daher denn auch im blattlosen Zustande die Pflanzen am besten versetzt werden k\u00f6nnen. Je mehr aber die Pflanze die S\u00e4fte zur Bildung von Multipla der einzelnen specifischen Gewebetheilchen und Organtheilchen verwendet, um so weniger ist sie f\u00e4hig, solche Multipla zu bilden, welche weder a noch h noch c sind, aber die Kraft von a, b, c u. s. w. zugleich enthalten.\nAeussere Bedingung der Knospenbildung kann bei den Pflanzen alles seyn, was dem allgemeinen Wachsthum an irgend einer Stelle eine Grenze setzt, oder nur eine Unterbrechung des Zusammenhanges des Zellgewebes hervorbringt. Daher v entstehen Knospen am Rande der fleischigen Bl\u00e4tter, durch massigen Druck derselben, in Rindenwunden. Txevisakus Physiologie der Gew\u00e4chse 2. p. 625. 626.","page":605},{"file":"p0606.txt","language":"de","ocr_de":"606 VII. Buch. V. d. Zeugung. I. Abschn. Gleichart. Fortpflanzung.\n1. Kd o sp enbil dun g bei den Pflanzen.\na.\tKnospen der niederen oder gef\u00e4sslosen Pflanzen.\nDie Knospen der niederen GSw\u00e4chse sind tlieils H\u00e4nfen von Zellen, tlieils selbst einfache Zellen. Bei den Laub- und Lebermoosen bestehen sie aus einer Gruppe von Zellen. Die Knospen der gegliederten Conferven und der Fadenpilze sind dagegen einfache Zellen, welche sich aus dem Mutt\u00e8rtlieil entweder durch Abschn\u00fcrung von 1 heilen des Schlauches bilden (Knospenbildung durch Selbsttheilung), oder durch Hervortreiben von kleinen Ausbuchtungen der Zellen bilden, die sich hernach wieder zu selbstst\u00e4ndigen Zellen abschn\u00fcren. Das Erste beobachtet man bei den Fadenpilzen, wie z. B. bei P\u00e9nicillium glaucum (Meyen a. a. O. 3. Tab. X. hg. 20. 21.), das Letzte bei gegliederten Conferven, wie Conferva glomerata (Meyen a. a. O. 3. Tab. X. Fig. 27. 28.), und dem G\u00e4hrungspilze (Meyen Tab. X. Fig. 22.). Beides ist nicht wesentlich verschieden. Die Schl\u00e4uche der F\u00e4den des Schimmels bilden die Knospenzellen durch Abschn\u00fcrung, bei den Conferven und dem G\u00e4hrungspilz hingegen erscheint die junge Zelle voider Abschn\u00fcrung als Auswuchs einer andern Zeile.\nb.\tKnospen bei den vollkommenen, aus Gef\u00fcssen und Zellen bestehenden Pflanzen.\nAxillar- und Terminalknospen. Die Knospen der h\u00f6heren Pflanzen sind Achsengebilde und unmittelbare Fortsetzungen der Achse. Die blattartigen Gebilde erscheinen hier zuweilen noch als Knospenschuppen, die Spitze der Knospenachse oder den embryonischen Kern der Achse einschliessend, k\u00f6nnen aber auch fehlen, so dass der Knospenkern dann nackt ist. Dieser Kern besteht aus Zellen, welche sich zum neuen Triebe entwik-keln. Meist treten die Knospen in den Achseln der Bl\u00e4tter auf, oft auch am Ende des Stengels, terminale Knospen. Das zellige Mark der Pflanzen bildet die Achse derselben, und geht unmittelbar in die Kerne der axillaren und terminalen Knospen \u00fcber. Die Entwickelung einer Knospe in die Structur der bestimmten Pflanze bedingt immer zugleich die ersten Anlagen zur n\u00e4chsten Vegetationsperiode, d. h. die Knospenkerne zu denjenigen Trieben, welche sich bei der n\u00e4chsten Vegetationsperiode entwickeln werden. Siehe Meyen a. a. O. p. 5 \u2014 7. Es wird also mit der Erzielung der bestimmten Organisation immer zugleich noch etwas mehr gebildet, ein f\u00fcr diese Organisation \u00fcberfl\u00fcssiges, ein Ding, worin die Kraft f\u00fcr eine k\u00fcnftige Vegetation ruht.\nBei den phanerogamischen Gew\u00e4chsen sind die Knospen entweder nackt oder eingeh\u00fcllt. Die einfachsten Knospen sind hier blosse zellige Massen. Bei Lemna bildet die Knospe ein, aus einer Spalte des Parenchyms kommendes Bl\u00e4ttchen, welches zur neuen Pflanze wird, indem es schon vor dem Austritte aus der Spalte ein eingeschlagenes W\u00fcrzelchen besitzt. Teeviranus a. a. O. p. 631.\nBei den B\u00e4umen hingegen besteht die Knospe aus eingeschlos-senen und einschliessenden Tlieilen, Knospenscbuppen. Der Bau solcher Knospen ist nach Teeviranus folgender. Zwischen den","page":606},{"file":"p0607.txt","language":"de","ocr_de":"Fortpflanzung durch Knospen.\n607\nKnospenh\u00fcllen erscheint die Knospe seihst als ein Klumpen l\u00e4nglicher oder rundlicher zelliger K\u00f6rper, die erste Anlage der Bl\u00e4tter. An der Stelle, wo sich die Knospe an einem Triebe bildet, ist das Mark des Triebes vergr\u00f6ssert, und der dasselbe umschlies-sende Holzk\u00f6rper erweitert. Das bis dahin farblose. Mark bildet nun einen dunkelgr\u00fcnen Kegel eines sehr kleinzelligen Gewebes, von einer Scheide eingeschlossen, die auf dem Durchschnitt als hellerer Streifen erscheint. Diese Scheide des Kegels wird gebildet von der innersten Holzlage und dem Baste, die sich, vom Bande des Holzk\u00f6rpers auf diese Weise zusammenkommend, fortsetzen. Die aus ihnen gebildete Scheide ist am Ende nicht geschlossen, vielmehr befindet sich am Ende des Kegels eine L\u00fccke, auf welcher die Knospe ruht, die also eine unmittelbare Fortsetzung des Markes ist. An der Aussenseite jener Scheide zieht sich die farblose innere Rindensubstanz des alten Triebes fort, und geht in die Schuppen der Knospe \u00fcber, w\u00e4hrend die \u00e4ussere gr\u00fcne Rinde des Triebes am Grunde der aussersten Knos-peuschuppe aufh\u00f6rt. Sobald die Knospe anl\u00e4ngt sich zum Zweige zu entwickeln, bilden sich Spiralgef\u00e4sse aus wurmf\u00f6rmigen K\u00f6rpern. Sie legen sich abw\u00e4rts dem alten Holzk\u00f6rper an, aufw\u00e4rts aber gewinnen sie in dem Verh\u00e4ltnisse, als die Knospe sich ausdehnt, ihre eigenth\u00fcmliche Gestalt. Sie geben endlich die Basis l\u00fcr eine neue Holzlage, welche nun dem Zweige und Stamme gemeinschaftlich wird, und in jenem die erste Stelle zun\u00e4chst dem Marke, in diesem die zweite Stelle einnimmt, a. a. O. If. 632. I. 258. Die Bl\u00fcthenknospen unterscheiden sich von anderen Knospen dadurch^ dass aus ihnen ohne Befruchtung keine weitere Entwickelung von Knospen geschehen kann. Befruchtet gleichen sie den abfallenden Knospen. In seltenen F\u00e4llen entwickelt sich aber auch eine unbefruchtete Bl\u00fcthenknospe weiter zum Zweige. So [w\u00e4chst nach Mr yen der Kern des unbefruchteten Eies bei Poa unter den Gr\u00e4sern in ein neues, freilich unvollkommenes Individuum aus. (Sogenannte lebendig-geb\u00e4rende Pflanzen.)\nAdventivknospen. So nennt man die, weder axillaren, noch terminalen Knospen, welche an den alten St\u00e4mmen der B\u00e4ume zur Rinde herausbrechen. Sie h\u00e4ngen mit den Markstrahlen zusammen und sind also auch Fortsetzungen des Markes, welches \u00fcberall auf der Oberfl\u00e4che der St\u00e4mme und Aeste ausl\u00e4uft, und daher auch \u00fcberall die Bildung von Adventivknospen m\u00f6glich macht. Die Adventivknospen kommen zuweilen in ungeheurer Menge an Baumst\u00e4mmen hervor, die sich durch Axillarund Terminalknospen nicht mehr fortpflanzen k\u00f6nnen, weil sie sowohl die Achseln, als die Enden der Achsen durch Stutzen verloren haben.\nKnospen an Bl\u00e4ttern. Bei vielen Pflanzen treten auch entweder regelm\u00e4ssig oder unter gewissen Umst\u00e4nden an den Bl\u00e4ttern Knospen auf. Am bekanntesten ist diese Erscheinung von Bryophyllum calycinum, wo die Knospen in den Einkerbungen des Randes sitzen, kegelf\u00f6rmige H\u00f6cker bildend. Sie kommen entweder schon auf der Pflanze zur Entwickelung, oder noch leichter nach dem Abfallen der Bl\u00e4tter. Bei mehreren Farrea","page":607},{"file":"p0608.txt","language":"de","ocr_de":"608 VII. Buch. V. d. Zeugung. I. Ahschn. Gleichart. Fortpflanzung.\nkommen solche Blattknospen vor, unter den h\u00f6heren Pflanzen hat man sie hei Malaxis paludosa, Cardamine pratensis und der Gattung Lemna beobachtet.\nKnollen. Die Knollen sind unterirdische Stengel mit sehr aufgeschwollenem Mark- und Rindentheil; zwischen welchen die Gef\u00e4ssb\u00fcndel liegen. Die Knospen selbst entwickeln sich in diesem knolligen Theil des Stengels, wie am \u00fcberirdischen Stengel. Indem der Stengel in einj\u00e4hrigen Knollengew\u00e4chsen absterben soll, ist der Theil des Stengels, an welchem sich die Knollen entwickeln, zum perenniren bestimmt. Die unterirdischen Stengel, an welchen sich die Knollen formiren, bilden sich schon an den jungen Pfl\u00e4nzchen als Ausl\u00e4ufer, die einen dem oberirdischen Stengel gleichen Bau haben. Bei der Bildung der Knollen schwillt dieser Stengel an einer oder mehreren Stellen an, indem sich theils die Markmasse des Stengels vermehrt, theils die Rindenmasse verdickt, so dass die Spiralgefasse zwischen dem angeschwollenen innern und angeschwollenen \u00e4ussern Zellk\u00f6rper liegen, in dessen Zellen sich Amylonk\u00fcgelchen entwickeln. Anfangs sind diese Anschwellungen gering, und also die Spiralgefasse des Stengels wenig auseinander getrieben. Mit dem Wachsthum des Knollens vermehrt sich die Ausdehnung der Gef\u00e4sse. Knollen k\u00f6nnen sich an jedem Theile des unterirdischen Stengels bilden. Der Knospenkern ist auch hier die Fortsetzung des. Marks, n\u00e4mlich ein kegelf\u00f6rmiger Auswuchs von der Oberfl\u00e4che der Markmasse, von Spiralgei assb\u00fcndeln begleitet, welcher von der Achse abgebogen die Rinde durchbricht, und in einer Vertiefung zum Vorschein kommt. Junge Knollen von der Gr\u00f6sse einer Erbse zeigen die Knospen f\u00fcr die k\u00fcnftige Vegetationsperiode sehr deutlich. Siehe Meyen a. a. O. p. 26 \u2014 31.\nZwiebeln. Die Zwiebeln sind nach Ttevibanus Knospen, deren Schuppen fleischig gew'orden sind; sie bilden sich seitw\u00e4rts vom Stocke, bleiben einige Zeit mit dem Stocke verbunden durch einen Fortsatz von Zellgewebe und Gelassen, und werden durch Vertrocknen desselben frei. Sie k\u00f6nnen sich sowohl an einem oberirdischen, als unterirdischen Stengel bilden. Zw\u2019iebelknospen, Buibilli, am \u00fcberirdischen Stengel finden sich in den Gattungen Lilium, Allium, Saxifraga, Dentaria und vielen anderen in den Axillen der Bl\u00e4tter oder Bl\u00fcthenh\u00fcllbl\u00e4tter. Bei der Entwickelung der Knospe zieht diese den Kahrungsstoff aus den fleischigen Blattern.\n2. Kn osp eu b ildung bei den Thier cd.\nUnter den Thieren kommt die Knospenbildung vorz\u00fcglich bei den Polvpen, seltener bei den Infusorien, z. B. den Vorticel\u00fc-nen vor. Sars beobachtete sie bei Cytais und anderen Acalephen. Unter den Eingeweidew\u00fcrmern ist die Zeugung durch Knospenbildung den Blasenw\u00fcrmern eigen. Bei den Coenurus sind die Blasen, auf welcher die individuellen K\u00f6pfe aufsitzen, zugleich der Keimstock f\u00fcr neue Individuen, und diese entstehen aus^ kleinen Kn\u00f6tchen, die sich auf der Mutterblase bilden. Bei den Echinococcus verwandeln sieh die frei gewordenen Echinococcen","page":608},{"file":"p0609.txt","language":"de","ocr_de":"609\nFortpflanzung durch Knospen.\nin Blasen, auf deren innerer oder \u00e4usserer Oberfl\u00e4che neue Echino-coccen sich entwickeln, die anfangs durch einen d\u00fcnnen Strang mit der Mutterblase Zusammenh\u00e4ngen, dann aber frei werden. Siebe J. Mueller irn Archiv 1836. Jahresb. CV1I., v. Sieboi.d in Burdacu\u2019s Physiologie II. Bd. 2. Auflage. Daher k\u00f6mmt es, dass die abgelebten Generationen der Ecbinococcen Blasen darstellen, in welchen wieder andere Blasen enthalten sind (f\u00e4lschlich Ace-phalocysten genannt).\nDie Knospenbildung ist bei den Thieren noch nicht in ihrem innern Vorg\u00e4nge beobachtet, und man hat selbst nicht einmal eine gen\u00fcgende mikroskopische Untersuchung von der Zusammensetzung einer Thierknospe; es leidet jedoch nach dem, was wir \u00fcber die Entstehung der organisirten Theile bei den Thieren wissen, keinen Zweifel, dass auch die thierischen Knospen zuerst Haufen von Zellen seyn werden, welche sich nicht bloss durch Bildung \u00e4hnlicher Zellen mehren, sondern sich auch in die bestimmten Gewebe ordnen und umwandeln.\nBei den Hydren erscheinen die Knospen zuerst als kleine rundliche Hervorragungen auf der Oberfl\u00e4che des walzigen K\u00f6rpers, wo sie sich an jeder Stelle bilden k\u00f6nnen, mit Ausnahme der Arme. Bald entwickeln sich diese zur Form des Thiers, welches dann, wie Trembley zeigte, durch seine H\u00f6hle mit der H\u00f6hle des Mutterthiers zusammenh\u00e4ngt.\nBei den Sertularien erscheint die Knospe als eine stumpfe, geschlossene Hervorragung des St\u00e4mmchens, zu welcher der gemeinschaftliche Canal des Stengels f\u00fchrt, und welche sich sodann in die Organisation! des Polypen formt, und indem sie sich am vordem Theile aufl\u00f6st, die Arme des Polypen hervortreten l\u00e4sst. Siehe Lister in Phil. Transact. 1834. 2. Die Knospenbildung ist bei den Polypen sehr h\u00e4ufig, seltener bei den Infusorien, Ehrenberg beobachtete sie bei den Vorticellen. Vielleicht k\u00f6mmt sie auch bei den INaiden vor. Da n\u00e4mlich die jungen Generationen sich aus dem Hintertheil bilden, und da hier immer neue Glieder entstehen, so ist es nicht ganz gewiss, oh das Thier nicht bloss entwickelte Knospen abst\u00f6sst, so dass die Selbsttheilung des Ganzen mehr ein Abstossen der am Stamme entwickelten terminalen Knospen w\u00e4re.\nBei den Corallentbieren f\u00e4llen die Knospen nicht ab, sondern h\u00e4ufen fort und fort die Zahl der zu zusammenh\u00e4ngenden Generationen verbundenen Individuen.\nBei manchen Thieren gieht es auch besondere Ausl\u00e4ufer, Stolonen, an denen sich die Knospen bilden. Man findet sie bei Ascidien, Xeriinen, Sertularinen, Alcyonellen. Siehe Ehrenberg die Corallenthiere des rothen Meers. Berlin 1834.\nSo wie der Pflanzenstamm nach Entfernung der Krone und Aeste oft noch Knospen treibt, so kommt die Knospenbildung zuweilen am Polypenstamme noch vor, wenn die Polypenindividuen abgestorben sind. Siehe Ehrenberg im Bericht \u00fcber die Verband!, der Acad. der TVisscnsch, zu Berlin 1836.","page":609},{"file":"p0610.txt","language":"de","ocr_de":"CIO VII. Buch, V. d. Zeugung. I. Absehn. Gleichart. Fortpflanzung.\nIV. Capitel. Von der Abl\u00f6sung der Knospen oder der Theilung zwischen Stamm und Knospe.\nDie Knospen k\u00f6nnen entweder im entwickelten oder im unentwickelten Zustande sich spontan abl\u00f6sen oder k\u00fcnstlich abgel\u00f6st werden, und dadurch ganz selbstst\u00e4ndig werden. Alles diess findet sich bei Thieren sowohl als Pflanzen.\na.\tK\u00fcnstliche Abl\u00f6sung der ausgewachsenen Knospen.\nDie ausgewachsenen Knospen der H vdren k\u00f6nnen vom Mutterstamm abgeschnitten werden und leben fort. Diese Art der Trennung zweier Individuen ist wohl von k\u00fcnstlicher Theilung eines Thiers zu unterscheiden; denn sie waren vor der Theilung schon vollkommen ausgebildet vorhanden und nur verwachsen.\nBei den Pflanzen wird diese Abl\u00f6sung der ausgewachsenen Knospen oder der Triebe sehr oft ausgef\u00fchrt, sei es, dass sie als Setzlinge in die Erde eingesetzt, oder als Pfropfreiser auf andere St\u00e4mme zum Anwachsen versetzt werden. Diese Falle sind indess nicht so rein, wie die von den Thieren. Denn die Setzlinge und Pfropfreiser sind gew\u00f6hnlich keine durch Ausdehnung der vorhandenen Theile fort vegetirende Reiser, sondern Triebe, an welchen schon Knospen vorhanden sind, und bei welchen daher die Knospen sogleich sich weiter entwickeln.\nb.\tK\u00fcnstliche Abl\u00f6sung der unentwickelten Knospen.\nHierher geh\u00f6rt die Fortpflanzung der Kartoffeln durch Abschneiden der Knospenaugen aus einer Kartoffel. Die ganze Kartoffel ist als eine Metamorphose des unterirdischen Stengels zu betrachten. Abl\u00f6sen der einzelnen Augen mit einem Theil des sie umgebenden Zellgewebes reicht zur Fortpflanzung hin.\nFerner sind auch die abgel\u00f6sten Knospen der Versetzung auf andere Pflanzen f\u00e4hig. Dicss geschieht bei dem sogenannten Oculiren, indem man die Knospe mit einem St\u00fcckchen der Rinde und des Holzes abschneidet, und sie mit einer entsprechenden Stelle einer andern Pflanze verbindet. Bei den Thieren sind diese Versuche noch nicht ausgef\u00fchrt.\nc.\tSpontane Abl\u00f6sung der ausgewachsenen Knospe.\nDie ausgewachsenen Knospen, die sich zu einem vollkomm-nen organisirten Individuum entwickelt haben, trennen sich hei den Hydren von selbst von dem Mutterstamme, und zwar immer erst nach der vollkommnen Ausbildung, nachdem sie lange als selbststrebende Individuen mit dem selbststrebenden Mutterstamm verbunden waren. Diese Theilung wird durch allm\u00e4hlig fortschreitende Einschn\u00fcrung ausgef\u00fchrt.\nBei den Corallenthieren hingegen bleiben alle entwickelten Knospen, wie auch bei den Pflanzen dem Stamm fort und fort verbunden, und helfen den perennirenden Stammbaum von Generationen vergr\u00f6ssern.\nd.\tSpontane Abl\u00f6sung der unentwickelten Knospen.\nDie spontane Abl\u00f6sung der unentwickelten Knospen oder die spontane Theilung zwischen diesen und dem Mutterstamm ist hei den Pflanzen sehr h\u00e4ufig. Hierher geh\u00f6rt die Trennung der","page":610},{"file":"p0611.txt","language":"de","ocr_de":"Abl\u00f6sung der Knospen.\n611\nKnospensporen bei den Fadenpilzen und Laubmoosen, und bei mehreren Lebermoosen, wie den Marchantien, Lunularien u. a. und einigen Farrenkr\u00e4utern.\nAuch die Bildung der Knollen und Zwiebeln an einem ausdauernden Mittelk\u00f6rper bei entweder ausdauerndem oder vergebendem Mutterstock endet mit der Trennung dieser Knospen, mitsammt dem aus dem unterirdischen Stengel entzogenen Nahrungsstoff, und ebenso fallen auch die \u00fcberirdischen Zwiebelknospen bei den Dentarien, Saxifragen und anderen ab.\nBei den Tbieren scheinen abfallende Knospen selten zu seyn. Man hat zwar fr\u00fcher h\u00e4ufig eine ungeschlechtliche Fortpflanzung bei Thieren durch Keimk\u00f6rner, Sporen, angenommen, indessen ist durch genauere Beobachtung der Zeugungstheile wahrscheinlich geworden, dass in vielen solchen F\u00e4llen solche Keimk\u00f6rner durch paarige Zeugung entwickelungsf\u00e4hig sind. Eine scharfe Trennung zwischen der einen und andern Art der Keimk\u00f6rner ist bisher nicht einmal bei Pflanzen, n\u00e4mlich den Cryptogamen, m\u00f6glich gewiesen. Keimk\u00f6rner, welche ohne paarige Zeugung entstehen, geh\u00f6ren, m\u00f6gen sie einfache oder zusammengesetzte Zellen seyn, jedenfalls mit in den Begriff der Knospen.\nAbfallende Knospen stehen der Natur der Keime in den Eiern oder den durch paarige Zeugung entwickelungsf\u00e4hig werdenden Keimen am n\u00e4chsten. In beiden fehlt noch die vollkommene Organisation der Pflanze und des Thiers, und die Organisation beschr\u00e4nkt sich auf die Gegenwart von einer oder mehreren Zellen, welche die Kraft zur Erzielung der ganzen specifischen Organisation enthalte#. Bei den abfallenden Knospen schreitet diese Organisation sogleich hei den gew\u00f6hnlichen Lebensbedingungen vor; in den Eikeimen hingegen ist eine gewisse Hemmung, verm\u00f6ge welcher sie nicht von selbst zur Organisation streben, vielmehr werden sie erst durch die Einwirkung eines Complementums entwickelungsf\u00e4hig. Im Eikeime sowohl, als im Samen, ist die Kraft zur Erzielung der bestimmten specifischen Organisation enthalten, denn das geht aus der Verpflanzung der individuellen v\u00e4terlichen und m\u00fctterlichen Eigentb\u00fcmlichkeiten durefh die Zeugung hervor, aber beide sind gehemmt und sind nur durch ihr Supplementum vollst\u00e4ndig. Ein Verh\u00e4ltniss, welches bei den Knospen und knospenartigen Keimk\u00f6rnern ganz wegf\u00e4llt.\nDie Zeugung durch Theilung und Knospen und die paarige Zeugung sind auch darin verschieden, dass die Theilung und die Knospenbildung am sichersten die Eigenschaften des Individuums fortpflanzen. Daher man auch die Fortpflanzung durch Setzlinge und Pfropfreiser in allen F\u00e4llen vorzieht, wo man alle Eigenschaften des Mutterstammes in dem neuen Individuum wieder erhalten will. Bei der paarigen Zeugung hingegen ist der Variation ein grosser Spielraum gegeben, und es wird nicht sicher das eine Individuum, sondern sicher nur die Gattung und Species fortgepflanzt.\nUebrigens geben Eikeime nicht selten in knospenarlige Keimk\u00f6rner \u00fcber. Es ist ein durch viele Beobachtungen festgestelltes Factum, dass Schmetterlinge, die von den M\u00e4nnchen vollkommen","page":611},{"file":"p0612.txt","language":"de","ocr_de":"612 VII. Buch. V. d. Zeugung. I. Ahschn. Gleichart. Fortpflanzung.\nisolirt waren, Eier gelegt, aus denen sicli Junge entwickelt haben. Bekannter ist das durch Bonnet ber\u00fchmt gewordene Factum, dass die Blattl\u00e4use, die von der Geburt aus von M\u00e4nnchen isolirt worden, doch lebendige Jungen geb\u00e4ren. Auch aus den unbefruchteten Bl\u00fcthen der Pflanzen entwickelt sich in seltenen F\u00e4llen ein neues Individuum, wie bei Poa, welches dann ohne weiteres auf der Knospe fortw\u00e4chst. In diesen F\u00e4llen geht also die Natur des weiblichen Eikeimes im Sinne der paarigen Zeugung unmerklich in die Natur der Knospe \u00fcber, indem die Hemmung, welche den weiblichen Eikeimen eigen ist, nicht zu Stande kommt.\nV. Capitel. Theorie der ungeschlechtlichen Zeugung.\nVermehrung der organischen Wesen aus den bereits vorhandenen, kann entweder als eine neue Bildung der Keime durch die bereits vorhandene Organisation, oder als ein blosses Freiwerden und Entwickeln der von Anfang der Existenz eines Individuums in ihm schon enthaltenen Keime angesehen werden. Die letztere Vorstellung, hei welcher sich die Zeugung in eine blosse Entwickelung des von Anfang der Sch\u00f6pfung vorhandenen aufl\u00f6st, heisst die Theorie der Evolution, welche die ber\u00fchmtesten M\u00e4nner, wie Bonnet, Haller und selbst Cuvier zu Vertheidigern gehabt hat. Die erst geschaffenen Keime einer Species mussten dieser Theorie zu Folge aile jemals zum Vorschein kommende Individuen schon en miniature und zwar in einer solchen Ordnung enthalten, dass eine Generation die folgende immer zun\u00e4chst, zugleich aber auch alle folgenden gleichsam eingeschachtelt in sich enth\u00e4lt. Daher heisst diese Theorie auch die Einschachtelungstheorie. Bald wurden die Keime in den Eiern, bald in den Sa-menthierchen gesucht.\nDieser Ansicht ist die Theorie der Epigenese entgegengesetzt, bei welcher die Einschachtelung der Keime gel\u00e4ugnet, und vielmehr die neue Bildung der Keime durch die schon vorhandene Organisation behauptet wird. C. Fr. Woiff war ihr ber\u00fchmter und gl\u00fccklicher Vertheidiger, in der neuern Zeit ist sie von den angesehensten Naturforschern angenommen. In der rohen Form, welche die Evolutionstheorie bei den \u00e4lteren hatte, ist sie am leichtesten zu widerlegen, und in dieser Form ist sie, von Wot.ff und Blumenbach siegreich widerlegt. C. Fr. Wolff Theorie der Generation. Halle. Blumenbach \u00fcber den Bildungstrieb. G\u00f6ttingen 17.91. Denn die Miniatur der vollendeten Gestalt eines organischen Wesens findet sich im Keime nicht vor, und es kann ferner nicht mehr die Zeit seyn, wo man sich darum streitet. Der Keim des Embryo der Wirbeltbiere hat in der fr\u00fchesten Zeit der Entwik-kelung nicht die geringste Aehnlichkeit mit der sp\u00e4tem Gestalt. Man sicht die Organe vor seinen Augen entstehen, statt dass sie en miniatur vorhanden gewesen seyn und nur gr\u00f6sser werden sollten. Alle Gewebe entstehen aus Zellen, und alle Organe daraus. Die Evolutionstheorie k\u00f6nnte daher heut zu Tage nur in einer geistigem Form vertheidigt werden. Es giebt n\u00e4mlich zwei-","page":612},{"file":"p0613.txt","language":"de","ocr_de":"613\nTheorie der ungeschlechtlichen Zeugung.\ncrlci Formen eines und desselben Organismus, die Form des Reims, wo er nur die Kraft zur Gestaltung der specielien Form, aber noch nicht die specielle Form besitzt, und die vollendete Form, wo er zum Theil wieder zur ersten Form zur\u00fcckgeht und Reime bildet. Die heutige Evolutionstheorie k\u00f6nnte nur von dem Satze ausgeben, dass die Einschachtelung in der Form des Reimes stattfinde, dass der vollendete Organismus die n\u00e4chste Generation in der Form des Keims, die Keime aber die folgenden Generationen in Form der Reime enthalten. In dieser Weise gieht es St\u00f6cke mehrerer Generationen, wie bei den Polypen, Naiden und selbst das schwangere Weib enth\u00e4lt eine entwickelte Generation, das Kind, in dessen Eierstock schon die Keime (Ovula mit ihren Keimbl\u00e4schen) f\u00fcr die dritte Generation enthalten sind. Findet die Sehkraft, durch das Mikroskop erweitert, keine weitere Subsumtion als eben Ei, Keimbl\u00e4schen und Keimfteck; so k\u00f6nnte behauptet werden, dass dennoch eine solche vorhanden, aber durch die Grenzen der Sehkraft und der Instrumente nicht nachweisbar sey,\nund gegen diese Supposition l\u00e4sst sich auf diesem Wege der Argumentation nichts einwenden. Es ist jedoch nicht noting die Aufgabe bei einem so verwickelten Zustande aufzufassen, als sie sich in der geschlechtlichen Zeugung darstellt. Die ungeschlechtliche Zeugung leistet durchaus dasselbe, was die geschlechtliche. Man kann hier von allen Mysterien der geschlechtlichen Zeugung absehen und von dem Factum ausgeben, dass ein organischer K\u00f6rper durch Theilung und Knospenbildung, ja durch das Wachsthum ein Multiplem bildet, dass ferner die Zellen selbst, die Ur-theilehen der organischen K\u00f6rper, theils durch Bildung neuer Zellen in sich, theils ausser sich, theils durch Theilung der Zellen und sich abschn\u00fcrende Ausw\u00fcchse der Zellen ihres Gleichen innerhalb eines Organismus bilden, und dass es endlich Organismen giebt, wo jede Zelle ein Keim ist, der durch Ausw\u00fcchse der einen Zelle die ganzen Reime der Species wiedererzeugt.\nDiese Thatsachen liefern die sicherste Widerlegung der Evolutionstheorie. Eine vollendete Organisation, die kurz vorher einem einzigen Willen unterworfen war, wird getheilt und hat sogleich nach der Theilung zwei Willen, wie es wenigstens von einigen W\u00fcrmern nicht gel\u00e4ugnet werden kann, die sich nach der Theilung jeder f\u00fcr sich bewegen. Auch die spontane Thei-lung einer vollendeten Organisation beweist jenes, denn hier zerf\u00e4llt diese vollendete Organisation in zwei Selbstbestimmungen, ohne dass das Multiplum durch Entwickelung von eingescbach-tellen Keimen entstanden w\u00e4re. Auch die Knospenzeugung der niedersten Pflanzen schliesst die Evolutionstheorie aus. Denn wir sehen hier entweder ein Multiplum durch eine Theilung einer einfachen Zelle entstehen, oder die Zelle treibt einen Blindsack aus, der ein Theil der alten Zelle ist, aber doch neuer Keim wird, indem er sich abschn\u00fcrt, wie nach Meyen\u2019s Beobachtungen hei den gegliederten Conferven und nach den Beobachtungen von Cagniard Latour, Schwann, Turpin, Mf.yen beim G\u00e4hrungspilz.\nWenn demnach die Keime der organischen K\u00f6rper den Samen zur Bildung der Multipla ihrer und aller folgenden Genera-","page":613},{"file":"p0614.txt","language":"de","ocr_de":"614 VII. Buch. V. d. Zeugung. I. Ahsrhn. Gleichart. Fortpflanzung.\ntionen nicht in sich seihst enthalten, wenn sie die F\u00e4higkeit zur Bildung der Multipla durch das Wachsen und durch das Aneignen der Materie um sicli erhalten, so bleibt keine andere Annahme \u00fcbrig, als dass alle Multipla durch Theilung entstehen. Entweder hat die wesentliche Kraft eines organischen Wesens die Eigenschaft durch unendliche Theilung nicht ihre speeifische Gestaltungskraft zu verlieren, oder diese wesentliche Kraft der organischen Wesen wird durch das Aneignen der fremden Materie und der in ihr latenten Kr\u00e4fte zur Theilung f\u00fcr mehrere organische Wesen geschickt. Im letztem Fall sind entweder die Samen zu allen Wesen latent in der materiellen Welt vorhanden, und werden angeeignet, oder in der materiellen Welt ist eine zu vielerlei Gestalten f\u00e4hige proteusartige Kraft vorhanden, die mit der Materie in bestimmte Organismen eingehend, zu bestimmten Wirkungen durch die schon Vorgefundene Form gezwungen wild. Panspermatismus.\nEin wuchtiger Fortschritt ist f\u00fcr die Theorie der Zeugung in neuerer Zeit durch die Beobachtung der Lebenseigenschaften der kleinsten Theilchen geschehen, aus welchen, nach Schwann\u2019s bekannten und vielfach best\u00e4tigten Beobachtungen, die Tiiiere sowohl als die Pflanzen anf\u00e4nglich bestehen. Alle Theile von Pflanzen und Thieren entstehen aus Zellen. Der Keim der Thiere und vieler Pflanzen ist selbst eine einfache Zelle, und der Knospenkeim immer entweder ein Haufen von Zellen oder eine einzige Zelle. Der wachsende Embryo bei Pflanzen und Thieren besteht selbst wieder aus vielen solchen Zellen, wie die erste oder Keimzelle. Bei den niederen Pflanzen, den Fadenpilzen reicht eine jede vom Ganzen sich abl\u00f6sende oder k\u00fcnstlich abgel\u00f6ste Zelle bin viele ihres Gleichen zu erzeugen. Aus diesen Thatsachen lassen sich zwei, bereits von Schw ann in seiner Theorie der Zellen a. a. O. p. 220. untersuchte Consequenz.cn ziehen, wovon entweder die eine oder die andere wahr seyn muss, w\u00e4hrend keine dritte Annahme m\u00f6glich ist.\nI. Schlussfolge. Da alle Gewebe und wachsenden Theile aus solchen Zellen entstehen, wie sie im Keim einmal oder mehnnal vorhanden sind; da alle Zellen innerhalb des wachsenden Organismus entweder in sich (wie die Knorpelzellen und Zellen der Chorda dorsalis), oder ausser sich (wie die Epitheliumzellen) neue Zellen gleicher Art durch Wirkung auf den umgebenden Nahrungsstoff bilden, und da bei den niedersten Pflanzen jede vom Ganzen abgel\u00f6ste Zelle ein neuer Oreanismiis werden kann ; bei manchen niederen Thieren, wie den Hydren, aber jedes St\u00fcck-eben des K\u00f6rpers abgel\u00f6st, wieder ganzes Thier werden kann; da endlich die Gewebetheilchen eines solchen Polypenst\u00fccks von was immer f\u00fcr einer erworbenen Beschaffenheit, Muskelfasern, Nervenfasern etc. alle aus Zellen entstanden sind, so wild geschlossen, dass ein organisches Wesen nicht bloss eine Zelle seyn kann, sondern dass jeder ganze erwachsene Organismus eine Masse von Zellen oder aus Zellen entstandenen Theilen ist, wovon jedes Theilchen die Kraft zur Bildung des Ganzen enth\u00e4lt. Schwann a. a. O. 227. Diese Vorstellung ist offenbar f\u00fcr gewisse organische","page":614},{"file":"p0615.txt","language":"de","ocr_de":"Gleichartige Fortpflanzung.\n615\nWesen, wie die Fadenpilze tind selbst gewissermassen f\u00fcr die Hydren richtig, ihre Allgemeing\u00fcltigkeit ist hingegen nicht erwiesen. Nehmen wir f\u00fcr einen Augenblick ihre Allgemeing\u00fcltigkeit an und untersuchen wir die weiteren Consequenzen dieser Theorie.\nWenn jede Zelle eines ganzen Organismus und auch das aus den Zellen Gewordene die Kraft zur Bildung des Ganzen, durch Bildung neuer Zellen, Aggregation der Zellen in bestimmten Formen und Umwandlung derselben zu bestimmten Zwecken enth\u00e4lt, wovon h\u00e4ngt es ab, dass diese Massen von Zellen und aus Zellen entstandenen Theilchen nicht bloss zusammen bleiben, sondern auch meist nur zusammen zu der Form der Species vereinigen? H\u00e4ngt diese Erzielung eines allen gemeinsamen, aber von jeder einzelnen Zelle erzielten Zwecks von einer Wechselwirkung auf einander ab, wie die Menschen im Staate das allen gemeinsame und die Bienen im Bienenstaate das allen n\u00fctzliche erzielen, oder werden hierbei einzelne Zellen oder Monaden herrschende, deren Bestimmung die \u00fcbrigen so lange untergeordnet bleiben, als sie mit dem Ganzen im Verb\u00e4nde sind, wie die Polypenst\u00fcckchen, w\u2019elche der Form des Ganzen und dem Willen f\u00fcr das Ganze unterworfen sind, so lange sie im Verb\u00e4nde mit dem Ganzen stehen?\nWie kommt es denn, dass gewisse Zellen der organischen K\u00f6rper, den andern und der ersten Keimzelle gleich, doch nichts erzeugen k\u00f6nnen als ihres Gleichen, d. h. Zellen, aber keineswegs der Keim zu einem ganzen Organismus werden k\u00f6nnen? wie die Hornzellen zwar neben sich durch Aneignung der Materie neue Hornzellen, die jsnorpelzellen neue Knorpelzellen in sich bilden, aber keine Embryonen oder Knospen werden k\u00f6nnen, und wie kommt es, dass es auch hei den Hydren Theile des K\u00f6rpers, wie die Arme gieht, aus denen abgeschnitten keine neuen Polypen werden k\u00f6nnen? Dieses kann davon abh\u00e4ngen, dass diese Zellen, wenngleich die Kraft zur Bildung des Ganzen enthaltend, doch durch eine specielle Metamorphose ihrer Substanz in Horn und dergl. eine solche Hemmung erfahren haben, dass sie sowohl bald ihre Keimkraft am Stammorganismus verlieren und todt geworden sich abschuppen, als auch vom Stamm des Ganzen getrennt nicht wieder Ganzes werden k\u00f6nnen. Diese Schlussfolgen kann jeder denkende Forscher aus den vorliegenden Thatsacben ziehen, aber sie m\u00fcssen nicht notbwendig gezogen werden.\nEs scheint aber, dass bei dieser Ansicht den Zellen eine zu grosse Wichtigkeit beigelegt wird. Die Schwierigkeiten der Durchf\u00fchrung dieser Theorie hei den h\u00f6heren Thieren sind so gross, dass sie als allgemeine Theorie unwahrscheinlich wird, w\u00e4hrend ihre Wahrheit f\u00fcr die niederen organischen Wesen unbestreitbar ist.\nII. Schlussfolge. Die Kraft zur Erzeugung des ganzen Organismus ist nicht allen, w\u00e4hrend des Wachsthums entstehenden Zellen und den daraus gebildeten Gewebetheilchen eigen, vielmehr wird diese Kraft, die anfangs entweder einer oder wenigen Zellen, n\u00e4mlich dem Keime einwohnt, hernach durch Wachsthum zwar vermehrt, aber es entstehen viele Zellen, welche in sich nur die Kraft zur Bildung ihres Gleichen und nicht des Ganzen enthalten, wie Hornzellen, Knorpelzellen, Muskelfasern u. s. w. Alle diese Muller\u2019s Physiologie. 2r. Kd. III.\t40","page":615},{"file":"p0616.txt","language":"de","ocr_de":"616 VIT. Buch. V. (1. Zeugung- F Ahschn. Gleichart. Fortpflanzung.\neinseitig ausgebildeten 11 nd selbst chemisch verschiedenen Zellen sind zusammengedacht, die ganze Organisation explicite, welches in der Keimzelle oder in den Keimzellen der Knospe implicite oder potentia war. Das Wachsen besteht daher zum Thtil in einer Umwandlung des potentiellen Ganzen der einen Zelle, in ein explicirt.es Ganzes mit vielen durch ihreStructur und chemische Beschaffenheit speciell delegirten Zellen. Insofern alle diese speciell delegirten Zellen wieder am Stamme ihres Gleichen in sich oder ausser sich durch Verwandlung der Materie erzeugen, und also ihres Gleichen immer h\u00e4ufen, ist auch der erwachsene Organismus ein explicirtes Ganzes mit einem Multiplum seiner einfachsten Theilchen. Denn der Erwachsene hat ein Multiplum der Knorpelzellen des Embryo, ein Multiplum seiner Muskelfasern u. s. w.\nGleichwohl darf der Erwachsene nicht bloss als ein explicirtes Ganzes betrachtet werden, sondern er ist ausserdem, dass er dieses durch die meisten Theile des K\u00f6rpers ist, noch viel mehr. Die Kraft, das Ganze implicite zu seyn, ist auch noch in ihm und die in ihm vorhandene Kraft zur Knospenzeugung und Zeugung ist keine blosse Folge der Wechselwirkung der spccieilen organi-sirten Theilchen, sondern die Kraft zur Erzeugung des Ganzen durchdringt immer noch den ganzen Organismus, wie sich leicht erweisen l\u00e4sst.\nDenn abgesehen davon, dass ein Kopf der Hydra, dem der Leih abgeschnitten ist, seinen Leih formirt, so ist auch ein Mensch, der die Beine verloren hat, noch f\u00e4hig eine vollst\u00e4ndige Frucht zu erzeugen, sei es Vater oder Mutter, wer den Verlust erlitten hat. Und man w\u00fcrde gewiss noch viele Theile abschneiden und gleichwohl w\u00fcrde noch der Stamm das Ganze erzeugen k\u00f6nnen. Ferner sieht man aus der Zeugung durch Theilung vollendeter Organisation, geschehe die Theilung von seihst oder k\u00fcnstlich, dass es eine Stufe der Organisation gieht, wo die Kraf^ zur Erhaltung eines Ganzen nicht bloss in der Wechselwirkung aller vielfach vorhandenen, constftuirenden Theilchen (Zellen) bestellt, sondern dass noch Theilung dieser Summe stattfindet.\nFerner werden hei allen organischen Wesen vom ersten Entwickeln an, nicht bloss Zellen erzeugt, die zusammen das Ganze explicite sind, sondern gleichzeitig mit diesem Wachsthum, wobei sich die Summe der constitua enden Theilchen fort und fort vermehrt, werden von allen organischen Wesen auch Zellen oder Haufen von Zellen gebildet, die das Ganze potentia sind, d. h. die Kraft zur Erzeugung aller zu besondern Zwecken verwandter und organisirter Zellen enthalten. Das Multipliciren aller wachsenden organischen Wesen ist daher ein doppeltes Wachsen der vorhandenen vollendeten Form durch Multipliciren der sie constituirenden Theilchen, und Multipliciren der Form der Species in unentwickelter Gestalt, alles Verschiedene ungetrennt enthaltend, und diess ist entweder die keimf\u00e4hige Knospe oder auch Keime, die erst die Befruchtung erfahren m\u00fcssen. Die keimf\u00e4hige, der Befruchtung zur Entwicklung nicht n\u00f6tliig habende Substanz, welche im einfachsten Zustande eine einzige Zelle ist, wird entweder in allen","page":616},{"file":"p0617.txt","language":"de","ocr_de":"617\nII. Ahschn. Geschlechtliche Fortpflanzung.\noder den meisten Theilen eines organischen K\u00f6rpers gebildet und so bilden sich an den meisten Theilen der Hydren und der Pflanzen Knospen, bei letzteren iiachwe\u00e4sslich ans dem die ganze Pflanze durchziehenden Markk\u00f6rper. Oder diese keimf\u00e4hige Substanz bildet sich nur in einem besonderri Organ des Ganzen, namenllich in Form der Eikeime, im Eierstock wie, der Samen im Hoden. Wir haben schon gesehen, dass alles Wachsen auf der Bildung eines virtuellen Multiplions beruht. Jetzt erkennen wir, dass diese Multiplication von Anfang in doppelter Weise vor sich geht, in der E'orm der Multiplication der das Ganze als Mechanismus zusammensetzenden Zellen, und in der Bildung der Multipin mit unentwickelter Form als Urzellen. Beides geht von Anfang an gleichen Schritt, und schon beim Wachsthum eines Triebes der Pflanze werden die Keime zu den n\u00e4chsten Knospen erzeugt. Schon beim Kinde finden sieh die Keime zu den neuen Generationen im Eierstocke vor.\nII. Abschnitt. Von der geschlechtlichen Fort-p fl a n z u i) g.\nI. Capitel. Von den Geschlechtern.\nDie geschlechtliche Fortpflanzung hat diess zu ihrem Wesen, dass die bei derselben verwandten Keime zwar die Eigenschaften der Gattung, Art und selbst des Individuums fortpflanzen, dass die Organisation des Reimes aber nicht ohne die Einwirkung einer, dem Keim verwandten, aber doch vom Keim verschiedenen Materie, des Samens, vollbracht werden kann. Der Samen pflanzt zwar auch die Eigenschaften der Gattung, Species und selbst des Individuums fort, aber nur durch Einwirkung auf das Ei, welches selbst also zun\u00e4chst der Schauplatz aller auf die Entstehung eines neuen Individuums bez\u00fcglichen Ver\u00e4nderungen wird.\nSamen und Eier werden entweder in verschiedenen Individuen erzeugt, und die Befruchtung geschieht, indem sich beide Geschlechter vermischen, oder auch indem ausser dem Organismus der Samen des einen k\u00fcnstlich mit den isolirten Eikeimen des andern in Verbindung gebracht wird. Oder beiderlei, Samen und Eikeim werden in einem und demselben Individuum in verschiedenen Organen gebildet. Alle sogenannten hermaphroditischen Pflanzen und Thiere bilden Samen und Eier zugleich. Der Dualismus der Geschlechter ist also nicht nothwendig Dualismus der Individuen. Vielmehr kann die geschlechtliche Zeugung so gut, wie die Knospenhildung und Theilung, von einem einzigen Individuum geschehen.\ten\n40","page":617},{"file":"p0618.txt","language":"de","ocr_de":"618 VII. Buch. V. d. Zeugung. II. Abschn. Geschlechtl. Forip\u00dfanz.\nBloss weibliche Thicre sind fr\u00fcher oft angenommen worden, und man hat dahin fr\u00fcher alle niederen Thiere, z. B. die Polypen, Acalephen, Echinodermen gezahlt, weil man hei allen Individuen Eier sah, aher die m\u00e4nnlichen Organe, die sich nur schwieriger an den Samenthierchcn erkennen lassen, nicht kannte. Da man aher schon hei den Echinodennen deutliche doppelte Geschlechtsapparate kennt, da die m\u00e4nnlichen Organe hei den Polypen und Medusen, R\u00e4derthieren, Infusorien erwiesen sind, so ist die Annahme hloss weiblicher Thiere v\u00f6llig unzul\u00e4ssig. Ohnehin w\u00fcrde ein Ei, das zu seiner Entwickelung keiner Befruchtung durch m\u00e4nnlichen Samen bedarf, kein Ei, sondern eine abfallende Knospe seyn; ein Individuum, welches solche Keime producirte, w\u00fcrde kein weibliches Thier genannt werden k\u00f6nnen. Thiere, welche Knospen bilden, giebt es genug, aher die thierischen Knospen fallen nicht als Knospen ab, sondern entwickeln sich am Stamme selbst. Die Thiere, welche bloss durch Knospen zeugen, sind die Cbenurus und Echinococcus, hingegen erzeugen die Polypen sowohl Knospen als Eier. Bei den Hydren kommen die Eier auch an der Oberfl\u00e4che ihres walzenf\u00f6rmigen K\u00f6rpers zum Vorschein, weil der Eierstock diese Lage hat. Die Eier werden von hier aus ausgeschieden, auch sie unterscheiden sich von den Knospen durch ihre harte, hornige Schale.\nBei den Pflanzen sind die m\u00e4nnlichen und weiblichen Geschlechtsorgane bald in denselben Bl\u00fcthen vereinigt, bald in verschiedenen Bl\u00fcthen auf demselben Stamme (Monoecisten) ausgebildet, bald endlich sind die Geschlechter v\u00f6llig getrennt, und verschiedene Individuen einer Species tragen entweder m\u00e4nnliche oder weibliche Bl\u00fcthen (Dioecisten). Der letztere Fall, der bei den Thieren sehr h\u00e4ufig, und bei den Inseclen, Spinnen, Crusta-cecn und Wirbelthieren allgemein ist, ist bei den Pflanzen der seltnere. Bei Pflanzen von getrennten Geschlechtern k\u00f6mmt es oft vor, dass sich bei vorwaltcndem einen Geschlecht auch einzelne Bl\u00fcthen des andern Geschlechts erzeugen, wie bei Mercu-rialis annua, Spinacia oleracea u. a.\nDie hermaphroditischen Thiere befruchten sich entweder gegenseitig, oder sie befruchten sich selbst.\na. Im erstem Fall befruchten sie sich entweder zu gleicher Zeit, wie viele hermaphroditische Mollusken und W\u00fcrmer, indem die m\u00e4nnlichen Organe des einen die weiblichen des andern, und die m\u00e4nnlichen des letztem die weiblichen des erstem befruchten. Oder die Befruchtung geschieht bei einer Begattung nur einmal; indem die Organe nicht so gelegen sind, dass eine beiderseitige Befruchtung zugleich geschehen kann, wie nach IIenle\u2019s Beobachtungen bei flelluo, wo das eine Individuum die Ruthe in das andere einf\u00fchrt, w\u00e4hrend das letztere seine Ruthe ohne Einf\u00fchrung ausgestreckt hat. Im letztem Fall kann jedoch zuweilen die gleichzeitige Befruchtung mehrerer Individuen durch eine Begattung mehrerer in Reihen a, b, c, d, e ausgef\u00fchrt werden, so dass a von b befruchtet wird, 6 von c, c von d, d von c, und also die \u00e4ussersten Glieder nicht befruchtet werden, wie bei den Lymnaeen, die in Reihen schwimmend in der Begattung angetroffen werden.","page":618},{"file":"p0619.txt","language":"de","ocr_de":"Von den Geschlechtern.\n619\nb. Bei den liermaphroditischen Thieren, die sieb selbst be-fruchten k\u00f6nnen, geschieht diess entweder, indem dem Samen iin Innern des Thieres ein Weg zu den Eiern gestattet ist, wie bei den R\u00e4derthieren (Ehrenberg) und Distomen (Siebold), oder wenn die beiderlei Geschlechtsorgane mehrfach und vielfach an einem gegliederten Thiere Vorkommen, so kann ein Theil des K\u00f6rpers sich willk\u00fcrlich gegen den andern umwenden, und sich als m\u00e4nnlicher gegen einen andern als weiblichen verhalten. Die Bandw\u00fcrmer findet man nicht selten in Begattung zwischen zwei verschiedenen Individuen. Einmal ist jedoch von einem jungen, zu fr\u00fche verstorbenen Naturforscher Ferd. Sciiultze die Selbstbegattung 1824 beobachtet, und ich sah den Fall selbst einst bei Ru-dolphi, als Sciiultze ihn vorzeigte. Siehe Rudolpiii in Abhandl. der Arad. d. Wissensch. zu Berlin aus d. Jahre 1825. p. 45.\nD ie Vertheilung der Geschlechter unter den Thieren ist zwar von der Natur so angeordnet, dass die Articuluta und Vertcbrata keine Spur von nat\u00fcrlichem Hermaphroditismus zeigen, bei den \u00fcbrigen Thieren hingegen hat die Natur so wenig durchgreifende Unterschiede befolgt, dass in einer und derselben Classe nicht selten hermaphroditische Ordnungen und Ordnungen mit getrennten Geschlechtern, ja in einer und derselben Ordnung Familien der einen und andern Art nebeneinander Vorkommen.\nDie Infusorien, R\u00e4derthiere, Echinodermen, ltingclw\u00fcrmer scheinen durchg\u00e4ngig hermaphroditisch zu seyn, wie die anatomischen Untersuchungen gelehrt haben. Bei vielen der erstem sind von Ehrenberg die m\u00e4nnlichen und weiblichen Geschlechtsorgane nachgewiesen. Die Polypen sind ebenfalls gr\u00f6sstentheils hermaphroditisch. Jedoch linden sich bei den Campanularicu nach Eiirenberg\u2019s und Lowen\u2019s Beobachtungen m\u00e4nnliche und weibliche 'Polypen. Viele Polypen des Stoekcs n\u00e4mlich zeigen die vollkommne Organisation zum individuellen Leben. Bei anderen hingegen sind die Arme und die wesentlichen innern Organe zum individuellen Leben verk\u00fcmmert, und die Polypen werden gleichsam in Eierst\u00f6cke verwandelt, wof\u00fcr sie Cavolini u. a. auch beschrieben. Siehe L\u00f6wen in Wiegmann\u2019s Archiv. 3. 219. Nordmann hat \u00e4hnliche Beobachtungen von seiner Tendra zoste-ricola mitgetheit, bei welcher m\u00e4nnliche und weibliche Zellen nebeneinander liegen. Die Hoden der M\u00e4nnchen bestehen in acht wurmf\u00f6rmigen Organen in der N\u00e4he der Tentakeln. Die Eier der weiblichen Zellen werden durch die Samenthierchen der m\u00e4nnlichen Polypen befruchtet. Ann. d. sc. rial. 41. 185. Von anderen Polypen hingegen sind sowohl die Eierst\u00f6cke, als die Hoden bekannt, wie von den Actinien, bei welchen R. Wagner die Samenthiereben in gewundenen Schl\u00e4uchen erkannte. VViegm. Archiv /. 5. 213. Aehnliche Schl\u00e4uche hat Edwards auch bei den Corallenthieren wahrgenommen, wenn es gleich nicht bekannt ist, ob sie Samenthierchen enthalten. Aim. d. sc. Hat. 1835. Dec.\nVon den Acalephen scheinen wenigstens die Medusen nach den neueren Untersuchungen von Siebold in Geschlechter getrennt zu seyn. Die M\u00e4nnchen der Medusa aurila sind kleiner, entheb-","page":619},{"file":"p0620.txt","language":"de","ocr_de":"6\"20\tVII. Ruth. V. d. Zeugung. II. Abschn. Geschlechtl. Fortpflanz.\nren der kleinen Beutel an den Fangarmen und enthalten niemals Eier. Die Hoden der m\u00e4nnlichen Medusen enthalten Samenthier-chen. Siebold in Froriep\u2019s J\\'u/. 1081. vergl. Siebold in Muell. Archiv. 1837. 438.\nUnter den Eingeweidew\u00fcrmern gieht es Geschlechtslose, Hermaphroditen und getrennte Geschlechter. Unter den Tacnioidea cystica pflanzen sich die Coenurus und Echinococcus, wie es scheint, nur durch Knospenbildung fort. Die Taenioidea cestoidea sind hermaphrodilisch und befruchten sich tlieils durch Selbstbegattung thcils durch gegenseitige Begattung. Bei diesen.Tbieren wiederholen sich die Geschlechtsorgane und Geschlechts\u00f6ffnungen in allen reifen Gliedern, die befruchteten Eierst\u00f6cke fallen theils aus den Gliedern aus, tlieils werden sie mit den Gliedern abgestossen. Die Eier treten also nicht durch die Geschlechts\u00f6llnung aus, durch welche sic befruchtet werden. Die Geschlechts\u00f6ffnungen sind nach Mehlis (Isis 1831. 69) in den verschiedenen Gattungen sehr ver-schiedrrT vertheiit. Bei den Bothrioeephalen liegen beide hintereinander in der Mitte auf der einen flachen Seite oder der Bauchseite der Glieder. Bei der Gattung Taenia liegen beide Oeffnungen im Grunde einer napff\u00f6rmigen Grube am Rande der Glieder. Bei der Gattung Triaenophorus befindet sich die m\u00e4nnliche Oeffnung am Rande, die weibliche in der Mitte der Glieder. Die Saug-'wiirmer Trematoda sind fast durchg\u00e4ngig hermaphrodilisch. Einige darunter hat man geschlechtslose genannt,, vielleicht mit Unrecht, indem die Erscheinungen ihrer Generation auf getrennte Geschlechter deuten. Dahin geh\u00f6ren die sich in individuell beweglichen sogenannten Keirnst\u00f6cken erzeugenden Cercarien. Reimst\u00f6cke hat inan gewisse Schl\u00e4uche genannt, welche frei im Innern von Schnecken verkommen und welche meistens, aber nicht immer thierisclie Bewegung \u00e4ussern. Diese K\u00f6rper, Bojanus sogenannte gelbe W\u00fcrmer, sind durch die Untersuchungen von JYitzsch, Bojakus, v. Baer, v. SiFiioLD ber\u00fchmt geworden. Siehe v. Baer IS'uv. art. mit. cur. T.XIII. 2. v. Siebold in Burdach\u2019s Physiologie 2. Rand. 2. /tufl. Sie sind offenbar organisirt, bei einigen ist ein Darm in Form eines Blindsacks erkannt. Die Schl\u00e4uche sind verschieden nach den Arten der Cercarien, die sie beherbergen. Die Cercarien selbst liegen in verschiedenen Graden der Entwicklung in den Schl\u00e4uchen zwischen Haut und Darm und bewegen sich. Nach dem Austreten aus den Schl\u00e4uchen werfen sie ihre Schw\u00e4nze ab, und verpuppen sich, ohne dass man weiss, was ferner aus ihnen wird. Die Beobachtung von Siebold, dass zuweilen in den Keimschl\u00e4uchen Cercarien neben jungen Reimschl\u00e4uchen derselben Art Vorkommen, l\u00e4sst auch vermuthen, dass die Formen der Keimschl\u00e4uche und der Cercarien zu derselben Thierspecies geh\u00f6ren, dass die Keimsehl\u00e4uehe fructificirende Individuen, die Cercarien entweder m\u00e4nnliche oder geschlechtslose Individuen sind. Man weiss, wie sehr die Form der Weibchen zuweilen auch bei anderen Tbieren von der Form der Species abirrt, z. B. bei den Lernaeen; und bei den Polypen wandeln sich, wie wir schon gesehen, zuweilen ganze Individuen in Reimst\u00f6cke um. V\u00f6llig r\u00e4lhseihaft dagegen sind die von Carus (Aop. ad. nai. cur. 17. 1.)","page":620},{"file":"p0621.txt","language":"de","ocr_de":"Von den Geschlechtern.\n621\nbeschriebenen verzweigten und angewachsenen Reimschlauche, worin Distomen enthalten sind, und die von Si\u00e9bold beobachtete Thatsache, dass in den Embryonen des Monostomum mutabile ein dasselbe ganz ausf\u00fcliender Parasit von der Form der gelben ISojANus\u2019schen W\u00fcrmer hegt (oh Metamorphose innerhalb des Embryolebens?). Wiegm. Arch. 1. 45.\nEingeweidew\u00fcrmer von getrenntem Geschlecht sind alle Ne-matoidea Rudolphi, wie die Ascaris, Strongylus, Oxyuris, Spirop-tera, Trichocephalus, Filaria u. a. und die Acanthocephala oder Echinorh vnclien.\nDie W\u00fcrmer, ausser den Entozoen, sind theils in Geschlechter getrennt, wie die Gordius und diese schliessen sich in jener Hinsicht den Entozoa nematoidea an. Die Planarien und verwandten sind hingegen hermaphrodilisch und ebenso alle Ringel-wiirmer.\nUnter den Mollusken' giebt es eine ganze Ordnung mit getrennten Geschlechtern, die Cephalopoden. Unter den Gastero-poden und Aceplialen hingegen giebt es sowohl hermaphroditische Gattungen, als Gattungen mit getrennten Geschlechtern. Herma-phroditisch sind die meisten Gattungen der Schnecken, in Geschlechter getrennt dagegen die Pectinibranchien, wie die Tri-toniurn, Murex, Paludina u. a.\nBei den zweischaligen Muscheln erkannte bereits Leeuwenhoek. den Geschlechtsunterschied an der Existenz der Eier- und Samen-thierchen in verschiedenen Individuen und diese lange verkannte Entdeckung ist k\u00fcrzlich von Siebold auf das vollkommenste best\u00e4tigt worden. Eierstock und Hoden sehen sich \u00e4usserlich sehr \u00e4hnlich und liegen an den Seiten des Fusses, wo dieser vorhanden ist. Bei mikroskopischer Untersuchung erkennt man aber in den weiblichen Individuen hier als Inhalt nur Eier mit den wesentlichen Theilen des Eies, n\u00e4mlich Keimbl\u00e4schen und Keimfleck, bei den m\u00e4nnlichen Individuen nur Samentbierchen. Siehe v. Sieeold in Muell. Archiv. 1837. 381. Hierher geh\u00f6ren nach v. Siebold\u2019s Untersuchungen Anodonta, Unio, Mytilus, Tichogonia, Tellinu, Cardium, Mya, nach meiner Beobachtung auch die Pholaden. Dass es aber auch Muscheln mit vereinten Geschlechtern giebt, geht aus R. Wagner\u2019s Beobachtungen hervor, welcher bei Cyclas in allen Individuen Eier und Samentbierchen vorfand.\nDie Inseeten, Spinnen, Crustaceen und alle Wirbelthiere sind immer in Geschlechter getrennt, und die Annahme herinaphrodi-tiseher oder bloss weiblicher Gattungen unter denselben beruht auf groben T\u00e4uschungen bei \u00e4usserer allgemeiner Aehnlichkeit der Geschlechtsorgane, wie bei mehreren Fischen, oder bei ver-h\u00e4ltnissm\u00e4ssiger Seltenheit des einen Geschlechtes, z. B. der M\u00e4nnchen (Apus).\nDie Individuen bei getrennten Geschlechtern sind entweder M\u00e4nnchen oder Weibchen oder Geschlechtslose, richtiger unfruchtbare oder wenigstens in der Entwickelung gehemmte Weibchen. Letztere Form k\u00f6mmt bei einigen Gattungen der Inseeten, wie bei den Bombus, Apis, Formica vor. Dergleichen Individuen , die man bei den Bienen unter dem Kamen der Arbeits-","page":621},{"file":"p0622.txt","language":"de","ocr_de":"622 VII. Buch. V. d. Zeugung'. II. Abschn. Geschlechtl. Fortpflanz.\nbienen unterscheidet, enthalten unvollkommene Eierst\u00f6cke. Bei den Ameisen sind die geschlechtslosen fl\u00fcgellos und durch ihren Instinct auf Huth und Nahrung der Larven angewiesen. Die unvollkommenen Weibchen oder Arbeitsbienen der Bombus sind selbst der Befruchtung f\u00e4hig, wenigstens begatten sich nach Huber einige derselben, die im Fr\u00fchjahr ausgekrochen, im Juni mit den M\u00e4nnchen derselben Generation, diese produciren nur M\u00e4nnchen. Diese letzteren M\u00e4nnchen sind bestimmt die eigentlichen oder vollkommenen Weibchen zu befruchten, und diese Brut ist die Grundlage einer neuen Colonie. Bei den Bienen, Apis mellifica, sind die Arbeitsbienen kleiner, gleichen aber in vielen Puncten den wahren Weibchen. Diese Arbeitsbienen sind unfruchtbar, aber sie k\u00f6nnen fruchtbar seyn, wenn die Individuen, aus welchen Arbeitsbienen werden w\u00fcrden, noch als Larven und in den ersten Tagen nach der Geburt eine besondere Nahrung, n\u00e4mlich die Nahrung der Bienenk\u00f6nigin erhalten. Werden sie dann zugleich in eine gr\u00f6ssere Zelle gelegt, so erhalten sie alle Eigenschaften der Bienenk\u00f6nigin. Wenn sie aber nach einer Nahrung, wie sic f\u00fcr die Bienenk\u00f6nigin bestimmt ist, in einer engern Zelle logirt werden, so bringen sie nur M\u00e4nnchen hervor, und unterscheiden sich von den vollkommenen Weibchen auch durch ihre Kleinheit. Die Arbeitsbienen sind also Weibchen, deren Ovarien wegen der im Larvenzustande eingenommenen Nahrung unentwickelt geblieben sind, womit eine eigene Richtung des Instinctes verbunden ist. Ein Bienenstaat enth\u00e4lt gegen 15 \u2014 20,000 Arbeitsbienen, 6\u2014 800 M\u00e4nnchen und ein einziges vollkommenes Weibchen, La treille in Guvier regne animal. I. V. p. 301. lieber die Ovarien der Arbeitsbienen siehe Ratzeburg in Act. nat. cur. UVI. p. 11.\nGehemmte Entwickelungen des m\u00e4nnlichen und weiblichen Geschlechtes, ohne Uebergang in eine Doppeltbeit des Geschlechts oder in eine wahre Confusion der Geschlechter, kommen auch bei den h\u00f6heren Thieren und beim Menschen pathologisch vor, und m\u00fcssen von der pathologischen Vermischung der Geschiechtscha-ractere oder dem pathologischen Hermaphroditismus wohl unterschieden werden. Ein Hypospadiacus mit Hoden und noch mehr der Castrat sind gehemmte M\u00e4nner.\nDie getrennten Geschlechter sind von der Natur in jeder Art meist mit eigenen Formen, oft auch mit eigenen Farben und selbst in der Gr\u00f6sse ausgezeichnet, bald ist das Weibchen gr\u00f6sser und selbst zuweilen gegen das M\u00e4nnchen enorm gross, wie bei den Lernaeen, wo das winzige M\u00e4nnchen fur\u2019s ganze Leben an der Geschlechts\u00f6ffnung der Weibchen sitzen bleibt (Nordmann microgr. Beitr.), bald wieder ist das M\u00e4nnchen an Gr\u00f6sse, St\u00e4rke und Zeichnung ausgezeichnet, wie bei vielen V\u00f6geln. Siehe \u00fcber die hierher geh\u00f6rigen Unterschiede Rudolphi in Beitr\u00e4ge zur Anthropologie. Am wichtigsten sind die Unterschiede beider Geschlechter in Beziehung auf die inneren Instincle, welche sich mehr aleich bleiben, als die Formverschiedenbeiten. Dem Weibchen ist die Iluth der Brut anvertraut, und zu diesem Zweck entstehen in seinem Sensorium instinctm\u00e4ssige Tr\u00e4ume. Sobald das Ei gelegt und gesehen ist, so ist die Emplindung f\u00fcr dasselbe","page":622},{"file":"p0623.txt","language":"de","ocr_de":"Von den Geschlechtern.\n623\nvon Seiten des weiblichen Vogels da und er verl\u00e4sst es nur auf kurze Zeit. Ebenso ist es mit den m\u00fctterlichen Empfindungen der S\u00e4ugethiere nach der Geburt. Das Geborene geh\u00f6rt zu ihrem eigenen Selbst, und sie sch\u00fctzen und vertheidigen es. Die Sorge f\u00fcr das Junge geh\u00f6rt meist dem Weibchen allein oder vorzugsweise an, und es ist eine seltene Ausnahme, wenn das M\u00e4nnchen des Aljtes obstetricans die Eier an seinen F\u00fcssen tr\u00e4gt. In Hinsicht einer ausf\u00fchrlichen Schilderung der Geschlechter muss ich auf Burdach\u2019s Physiologie Bd. I. verweisen.\nDer Mann von gr\u00f6sseren Verh\u00e4ltnissen und festerem Bau, sch\u00e4rferen Umrissen, umfangsreicheren Athem- und Stimmwerkzeugen ist weniger empfindlich gegen \u00e4ussere Eindr\u00fccke und in jeder Hinsicht k\u00f6rperlich, wie moralisch kr\u00e4ftiger, weniger der Lust und Unlust nachgiebig, in th\u00e4tigen Strebungen und Begierden heftiger und ausdauernder, muthiger, auch eigens\u00fcchtiger, ehr- und ruhms\u00fcchtiger, zu allen geistigen Th\u00e4tigkeiten f\u00e4higer und geistig productiver als das Weib, im Handeln \u00fcberlegter, planm\u00e4ssiger, verschwiegener, widerstrebender, trotziger, gerader, grossm\u00fctliiger. Das Feltl seiner Th\u00e4tigkeit ist der Verkehr der menschlichen Kr\u00e4fte, der Staat.\nDas zarter gebaute Weib ist k\u00f6rperlich und geistig schw\u00e4cher, reizbarer und empfindlicher, furchtsamer, nachgiebiger, abergl\u00e4ubischer, gefalls\u00fcchtiger, von Gef\u00fchlen der Lust und Unlust mehr und weniger von Strebungen bewegt, von feinerem Gef\u00fchl f\u00fcr das Schickliche, phantasiereich, aber ohne die sch\u00f6pferische Kraft und die Verstandessch\u00e4rfe des Mannes; hingegen k\u00f6rperlich reproductiver ; die Freundschaft gegen das eigene Geschlecht ist selten, desto inniger die Liebe zu dem Manne und den Kindern, in welche alles geistige Leben aufgehen kann. Es ist reicher an Sittsamkeit, Demuth, Geduld, Gutm\u00fcthigkeit, F\u00e4higkeit zur Aufopferung f\u00fcr Andere, milder, theilnehmeuder Lebensstimmung und Fr\u00f6mmigkeit. Das Feld seiner Th\u00e4tigkeit ist das Haus und die Familie. Vergl. Rudolimu Physiol. I. 259.\nWir haben schon gesehen, wie sich die m\u00e4nnliche und weibliche Keimsubstanz, Samen und Ei von dem Knospenkeime unterscheiden. Die ersteren enthalten, wie die Knospe, die Potenz zur Wiedererzeugung der \u00e4hnlichen Form, der Samen sogar der individuellen Eigenth\u00fcmlichkciten dessen, von dem er kommt, das Ei der individuellen Eigenth\u00fcinlichkeiten der Mutter, aber in beiden ist eine Hemmung, welche im Knospenkeime fehlt, und beide werden nur durch das Entgegengesetzte vollst\u00e4ndig und durch ihre Vereinigung entsteht das, was zur Erzeugung der speciellen Organisation geschickt ist. In den hermaphroditischen Thieren entsteht die doppelte, einseitig gehemmte Substanz zu gleicher Zeit, in den Thieren mit getrennten Geschlechtern jede nur in einem, und diese Geschlechter sind selbst, indem sie alle Eigenschaften der Species besitzen, doch in Beziehung der Entwickelung der in der Species liegenden Kr\u00e4fte so (gehemmt und einseitig formirt, dass sie einander suchen, gleichsam um sich durch das Andere zu vervollst\u00e4ndigen. Eine Tbatsache, welche in der Rede des Arztes im Gastmahl des Platon durch die Mythe von den zwei,","page":623},{"file":"p0624.txt","language":"de","ocr_de":"624 VII. Buch. V. d. Zeugung. II. Abschn. Geschlechtl. Fortpflanz.\nin der Milte getrennten H\u00e4lften des Menschen bildlich und mythisch hingestellt wird.\nII. Capitel. Von den Geschlechtsorganen.\nDie Geschlechtsorgane bestehen in beiden Geschlechtern aus einem Bildungsorgane, Hoden oder Eierstock, und einem ausf\u00fchrenden Organ, Eileiter, Samenleiter. Das leitende weibliche Geschlechtsorgan umgiebt meist das aus dem Eierstock kommende Ei noch mit eigenen Secreta, die entweder bloss aus JN'ahrungs-stoff bestehen oder seihst auch noch die Schale formiren. Es dient hei vielen Thieren auch zum Aufenthalt des sich entwik-kelnden Eies, und der dazu dienende Tlieil d\u00e9s Eileiters wird dann Uterus genannt. Einen Uterus in diesem Sinn haben die lebendig geb\u00e4renden unter den Fischen, Amphibien, die S\u00e4uge-thiere und der Mensch. Mit dem m\u00e4nnlichen leitenden Geschlechtsorgan sind in vielen F\u00e4llen auch noch Secretionsorgane verbunden, welche ihr Secretum dem aus dem Bildungsorgan kommenden Samen heimischen. Bei den Thieren, bei welchen eine eigentliche Begattung mit Befruchtung im Innern stattfindet, sind dem Ende des leitenden Geschlechtstheils noch die Begattungsorgane beigegeben. Die wesentlichsten und durchaus allgemeinen Geschlechtsorgane sind aber nur das Bildungsorgan und der Leitungsapparat. F\u00fcr das Verh\u00e4ltniss beider zu einander giebt es l\u00fcr jedes der beiden Geschlechter zwei verschiedene, auf einander nicht zu re-ducirende Formen. Entweder n\u00e4mlich ist der ausf\u00fchrende Gc-scldechtstheil ein wahrer Ausf\u00fchrungsgang aus den inneren H\u00f6hlungen des Bildungsorganes, und seine W\u00e4nde h\u00e4ngen continuo mit den W\u00e4nden der H\u00f6hlungen des Bildungsorganes zusammen, oder das Bildungsorgan ist ganz vom Leiter getrennt, und Ei oder Sarnen brechen durch die Oberllache des Bildungsorganes nach der Bauchh\u00f6hle hervor, die dann einen Canal zum Ausf\u00fchren der Eier oder des Samens hat. Im letztem Fall ist der Leiter nicht zun\u00e4chst Ausl\u00fchrungsgang des Bildungsorganes, sondern der Bauchh\u00f6hle, mag das Product des Bildungsorganes erst in die Bauchh\u00f6hle fallen und dann in den abf\u00fchrenden Canal gerathen, oder von dem freien, offenen Ende des Leiters in der JN\u00e4he des Bildungsorganes sogleich aufgenommen werden.\nDer erste Typus, wo der ausf\u00fchrende Geschlechtstheil die unmittelbare Fortsetzung des Bildungsorganes ist, ist f\u00fcr die m\u00e4nnlichen Geschlechtstheile bei den Wirbellosen der allgemein herrschende, und auch bei den Wirbelthieren der bei weitem vorherrschende. Er findet sich unter den Wirbelthieren beim Menschen, den S\u00e4ugethiereri, V\u00f6geln, Amphibien und den meisten Fischen. F\u00fcr die weiblichen Geschlechtstheile ist dieser Typus dagegen weniger h\u00e4ufig, er findet sich zwar bei den rnehrsten Wirbellosen wieder, aber unter den Wirbelthieren ist er sehr selten und kommt nur hei der Mehrzahl der Knochenfische vor, wo die Eier sich in den W\u00e4nden eines hohlen Schlauches bilden, welcher sich unmittelbar und ohne Unterbrechung in den Eier-","page":624},{"file":"p0625.txt","language":"de","ocr_de":"Von den Geschlechtsorganen.\n625\nlelter fortsetzt, so dass die Eier nach innen vorspringend sogleich ins Innere des Eileiters hineinfallen, aber von der Bauchh\u00f6hle ganz abgeschlossen sind.\nDer zweite Typus, wo der Leiter aus der Bauchh\u00f6hle offen entspringt, ohne Communication mit dem Bildungsorgan, ist f\u00fcr die m\u00e4nnlichen Geschlechtstheile der seltene. Er findet sich nie hei den Wirbellosen, und unter den Wirbelthieren nur bei einigen Fischen, n\u00e4mlich den Cyclostomen, sowohl deu Petromyzon, Am-mocoetes, als den Myxinoiden, und ferner bei den Aalen. Rathke hat diese merkw\u00fcrdige Eigent\u00fcmlichkeit bei den meisten der genannten entdeckt. Bei dem m\u00e4nnlichen Petromyzon h\u00e4ngen die Hoden als feinzellige Organe an der Wirbels\u00e4ule. Itn Mai findet man die Bauchh\u00f6hle der M\u00e4nnchen voll fl\u00fcssigen Sarnens und dr\u00fcckt man auf die Bauchh\u00f6hle, so lliesst er in einem Strome aus einer am After gelegenen Papille heraus. Der Canal zur Ausf\u00fchrung des Secretes aus der Bauchh\u00f6hle ist \u00e4usserst kurz, und ist nicht in einen freien Leiter im Innern der Bauchh\u00f6hle ausgezogen. Ganz \u00e4hnlich wird der Samen hei den Myxinoiden, und Aalen ausgef\u00fchrt. *Rathe Beitr. zur Geschichte der Thierwelt, T. 2. Mue le. Arch. 1836. 176. *).\nDie Trennung des Eierstocks vom Eierleiter ist hei den Wirbellosen sehr selten, und ist meines Wissens nur von Siebold an Echinorhynchus beobachtet, wo ein besonderer Eierleiter sich trichterf\u00f6rmig in die Bauchh\u00f6hle \u00f6ffnet, und die in die Leibesh\u00f6hle gerathenden Eier gleichsam verschluckt, um sie nach aussen zu f\u00fchren. Bei den Wirbelthieren ist dagegen dieser Typus herrschend, mit Ausnahme der meisten Knochenfische, wo er fehlt. Er beginnt hier als eine einfache Oeffnung de:1 Bauchh\u00f6hle bei den Cyclostomen, Aalen, Cobitis taenia, Salmonen. Bei dem weiblichen Petromyzon ist die Bauchh\u00f6hle im Mai voll Eier, und sie fliessen stromweise beim Druck auf die Bauchh\u00f6hle aus jener Oeffnung aus. Beim St\u00f6r, Acipenser sturio k\u00f6nnen die Eier durch die Oeffnungen der Bauchh\u00f6hle abgehen, oder auch durch einen Trichter, der sich aus der Bauchh\u00f6hle in deu Harnleiter bei beiden Geschlechtern \u00f6ffnet. Beim Hausen und mehreren anderen St\u00f6rarten fehlen die Oeffnungen der Bauchh\u00f6hle, und sind nur die Trichter vorhanden. Bei den Haifischen und Rochen, den Am-phibien, V\u00f6geln, S\u00e4ugetbieren ist der kurze Ausf\u00fchrungsgang der Bauchh\u00f6hle der Cyclostomen in eine lange R\u00f6hre, den Eileiter ausgezogen. Das in die Bauchh\u00f6hle offene Ende dieser R\u00f6hre liegt entweder dem Eierstock nahe, wie beim Menschen, den S\u00e4ugetbieren und V\u00f6geln; bei den Seehunden, Fischottern und Mustelen ist der Eierstock sogar mit einer capseif\u00f6rmigen Er-\n\u00a5) Die m\u00e4nnlichen und weiblichen Haifische und Rochen haben zwar auch eine doppelte Oeffnung der Bauchh\u00f6hle neben dem After, und icb ver-muthete daher fr\u00fcher, dass diese bei den M\u00e4nnchen auch zur Ausf\u00fchrung des Samens aus der Bauchh\u00f6hle dienen, weil TuevICAM\u2019S und ich keine Verbindung zwischen dem Hoden und dem Nebenhoden, der sieh nach aussen m\u00fcndet, finden konnten, teil tiahe jedoch sp\u00e4ter diese Verbindung durch unmittelbare Communicationen zwischen Hoden und Nebenhoden gefunden. Muell. Archiv lbAi. Jahresbericht SO.","page":625},{"file":"p0626.txt","language":"de","ocr_de":"626 VII. Buch. V. d. Zeugung. II. Ahschn. Geschlechtl. Fortp\u00dfanz.\nWeiterung des Endes des Eileiters umgeben, wie Albers, E. H. \"Weber und Treviranus zeigten, Tiedem. Zeitsehr. I. 180.; oder der Trichter ist ansehnlich davon entfernt, wie bei den Haien, Rochen und nackten Amphibien. Bei den Haien haben beide Eierleiter \u00fcber der Leber zusainmenkommend nur einen gemeinschaftlichen Trichter, w\u00e4hrend die Eierst\u00f6cke nach aussen von der Leber oder unter ihr liegen. Bei den \u00fcbrigen sind die Eileiter f\u00fcr sich selbstst\u00e4ndig, aber auch bei den nackten Amphibien reicht der Eileiter bis in den voi\u2019dersten Theil der Bauchh\u00f6hle weit \u00fcber den Eierstock hinaus.\nManche Thiere haben nur einen Eierstock, manche selbst nur einen Eileiter. Kur einen Eierstock haben die Myxinoiden, er h\u00e4ngt an seinem Mesoarium an der rechten Seite des Darmgekr\u00f6ses. Die Scyllium carcharias und Mustelus unter den Haien haben einen in der Mitte gelegenen Eierstock. Nur einen Eierstock und nur einen Hoden fand Rathke bei mehreren Knochenfischen. Bei den meisten V\u00f6geln, mit Ausnahme der Rauhv\u00f6gel, ist nur der linke Eierstock und Eierleiter ausgebildet, der andre aber nur beim F\u00f6tus vorhanden und verk\u00fcmmert. Siehe \u00fcber die Raubv\u00f6gel mit doppeltem Eierstock und Eierleiter. R. Wagner in Ahhandl. d. K. Baiers. Academie.\nDas Gegentheil dieser Ver\u00e4nderung bieten uns einige Thiere in der Vermehrung der Zahl ihrer Eierst\u00f6cke dar. Die Taenioidea cestoidea pflanzen sich nicht durch Knospen, wie mehrere der Taenioidea cystica, fort, sie zeichnen sich vielmehr bei ihrem gegliederten Bau dadurch aus, dass in jedem ihrer reifen Glieder sich die m\u00e4nnlichen und weiblichen Geschlechtsorgane wiederholen, und sie bieten uns daher ein merkw\u00fcrdiges Beispiel von Multiplication der Geschlechtstheile dar, ohne eigentliche Zusammensetzung des Thieres aus vielen Individuen. Nur die knospenden Taenioidea cystica sind Vereinigungen mehrerer Individuen auf einem Stamm. Mehrere Bandw\u00fcrmer stossen die ganzen reifen Glieder mit den darin enthaltenen Tausenden von Eiern ab. Ein \u00e4hnliches Beispiel von blosser, aber ebenso grosser Multiplication der Eierst\u00f6cke liefern die Comatulen oder Crinoiden unter den Seesternen, bei welchen jede Pinnula der Arme mit einem Eierstock versehen ist, so dass eine Comatula gegen 1000 und mehr Eierst\u00f6cke an sich hat. Siehe J. Mueller im Archiv 1837. Jahresbericht. 97. Auch diess ist blosse Multiplication der Genitalien ohne Zusammensetzung der Individuen, und erinnert an die pflanzlichen Verh\u00e4ltnisse.\nDie Eierleiter m\u00fcnden entweder getrennt in die Cloake, wie hei den Fischen und Amphibien, oder sind vorher in einem mittlern Theil verbunden. Der Uterus ist entweder einfach, wie hei den Affen, oder doppelth\u00f6rnig oder doppelt. Ein ganz doppelter Uterus findet sich bei den Haifischen und Rochen und hui mehreren S\u00e4ugethieren, wie den meisten Nagern, Ornithorhynchus u. a. Bei den Wiederk\u00e4uern, Pacbydermcn, Einhufern, reissenden Thieren, Cetacean hat der Uterus zwar ein unpaariges Mittelst\u00fcck mit Orificium uteri simplex, ist aber zweih\u00f6rnig. Der Uterus der Beuteltlriere ist ganz eigenlh\u00fcmlich. Ein gemeinschaftliches Mittelst\u00fcck, welches blindsackig nach unten endigt ohne Commu-","page":626},{"file":"p0627.txt","language":"de","ocr_de":"Von den Geschlechtsorganen.\n627\nnication mit der Scheide, schickt nach oben die H\u00f6rner des Uterus aus, schickt aber seitw\u00e4rts nach unten auch wieder zwei H\u00f6rner, die sich in die Scheide \u00f6ffnen.\nBesondere Begattungsorgane sind in vielen F\u00e4llen n\u00f6thig, wenn die Befruchtung im Innern der weiblichen Geschlechtsorgane ausgef\u00fchrt wird, sie sind indess zu diesem Zweck nicht hei allen Thieren absolut n\u00f6thig; und.es ist in vielen Thieren, hei welchen eine Befruchtung im Innern stattfindet, hinreichend, dass die Cloake des M\u00e4nnchens oder die Papillen der Sameng\u00e4nge auf die Cloake der Weibchen gebracht werden, wie bei den lebendig geb\u00e4renden nackten Amphibien und bei vielen V\u00f6geln.\nD ic M\u00e4nnchen der Fische und aller nackten Amphibien, unter den V\u00f6geln aber die Singv\u00f6gel und Raubv\u00f6gel sind ohne Ruthe. Diess Organ ist dagegen vorhanden bei den beschuppten Amphibien, bei mehreren V\u00f6geln und bei den S\u00e4ugethieren. Die Ruthe, das Organ zur Erregung der Wollust von Seite des M\u00e4nnchens und zur Leitung des Samens ins Innere der weiblichen Geschlechtsorgane, ist in den verschiedenen Thierclassen nicht nach einem gleichen Typus gebaut; vielmehr giebt es zwei ganz verschiedene Typen der Ruthe, welche auf einander nicht reducirt werden k\u00f6nnen, und welche sich bei einigen Thieren selbst mit einander combiniren.\n1. Der eine Typus ist der bei den Crocodilen, Schildkr\u00f6ten, dem zweizeiligen Strauss und den S\u00e4ugethieren vorkommende. Hier besteht die Ruthe entweder aus 2 festen fibr\u00f6sen K\u00f6rpern, wie hei den Schildkr\u00f6ten und Crocodilen, oder zwei der Erection f\u00e4higen, eavern\u00f6sen, nur auf der Oberfl\u00e4che fibr\u00f6sen K\u00f6rpern, wie bei den S\u00e4ugethieren. Diese K\u00f6rper sind in der Mitte verwachsen und an der Bauchseite der Scham befestigt. An ihrer hintern Seite befindet sich bei den Crocodilen, Schildkr\u00f6ten, beim Strauss und beim jungen F\u00f6tus der S\u00e4ugethiere eine mit Schleimhaut und cavern\u00f6sem Gewebe ausgekleidete Rinne, das noch offene Corpus cavernosum urethrae, welches bei den Crocodilen, Schildkr\u00f6ten und dem Strauss offen bleibt, bei den S\u00e4ugethieren und dem Menschen aber sich zu einer R\u00f6hre schliesst, deren Fortsetzung die Eichel ist. Viele Affen, Flederm\u00e4use, Kager und reissende Thiere haben in dem vordem Tbeile des Penis, namentlich in der oft sehr verl\u00e4ngerten Eichel, eine den Canal st\u00fctzende Ossification, den Ruthenknochen.\nBei den Grallen unter den V\u00f6geln findet sich h\u00e4ufig ein Rudiment der Ruthe, in Form einer Lefze oder Zunge mit einer Rinne an ihrer hintern, der Cloake zugewandten Fl\u00e4che. Beim zweizeiligen Strauss k\u00f6mmt ausser den beiden fibr\u00f6sen K\u00f6rpern der Ruthe noch ein dritter elastischer K\u00f6rper vor, der die Ruthe im Zustande der Ruhe zusammenknickt, und im geknickten Zustande einzieht. Er ist im Innern cavern\u00f6s und kann daher die Ruthe auch strecken.\nDie Crocodile, Schildkr\u00f6ten und der africanische Strauss haben von den eavern\u00f6sen K\u00f6rpern das gespaltene Corpus cavernosum urethrae, die S\u00e4ugethiere drei cavern\u00f6se K\u00f6rper.\n2. Der zweite Typus der Ruthe kommt rein nur den Schlangen und Eidechsen zu. Diese Ruthe liegt nicht an der Bauchseite","page":627},{"file":"p0628.txt","language":"de","ocr_de":"628 VII. Buch. V. d. Zeugung. II. Abschn.- Geschlechtl. Fortpflanz.\nder Scham, sondern an der R\u00fcckenseite derselben oder am Schwanz. Sie ist ein hohler blinddarm\u00e4hnlicher Schlauch, dessen W\u00e4nde cavern\u00f6ses Gewebe enthalten. Das offene Ende ist der Scham zugekehrt. Auf der innern Seite des Schlauches befindet sich eine Rinne. Die Schlangen und Eidechsen haben zwei solche Ruthen. Sie kehren sich bei der Begattung wie die Finger eines Handschuhes um, so dass die Rinne aussen liegt, und zur Fortleifung des Samens aus der Cloake dient. Bei den Yipera, Crotalus und Prython ist sogar jede dieser Ruthen an ihrem von der Scham abgewandten hintern Theile in zwei Schl\u00e4uche get'neilt. Nach der Umkehrung ist daher jede dieser Ruthen am freien Ende gabelig. Bei den Eidechsen und Schlangen wird die Ruthe nach der Ausst\u00fclpung durch Muskeln zur\u00fcckgezogen und eingest\u00fclpt, welche sich am blinden Ende des Schlauches befestigen.\n3. Die Enten, G\u00e4nse und die dreizehigen Strausse (Rhea, Casuarius, Dromaius) haben eine Combination des ersten und zweiten Typus; sie haben einen festen, an der Bauchseite der Scham befestigten Theil der Ruthe aus fibr\u00f6sen K\u00f6rpern mit einer Rinne und einen ausst\u00fclpbaren blinddarmartigen Theil der Ruthe, von demselben Bau, wie bei den Schlangen und Eidechsen. Aber der letztere Theil ist nicht doppelt, und liegt in der Ruhe, wie ein Darmst\u00fcck gewunden, neben der Cloake. Das offene Ende dieses Schlauches m\u00fcndet am Ende des festen Tlieils der Ruthe und st\u00fclpt sich bei der Begattung um und hervor, so dass die Ruthe dann um das doppelte der L\u00e4nge des festen Tbeils vergr\u00f6ssert wird. Da die im Innern des Schlauches an dessen Wand angebrachte Rinde bei der Ausst\u00fclpung aussen liegt, so bildet sie eine Fortsetzung der Rinne des festen Tbeils der Ruthe. Der schlauchf\u00f6rmige Theil der Ruthe wird nach der Begattung durch ein elastisches Band zur\u00fcckgezogen und eingest\u00fclpt. Siehe J. Mueller Abhandlungen der Academie der Wissenschaften zu Berlin. 1836. Die weiblichen Enten, G\u00e4nse und dreizehigen Strausse haben einen \u00e4hnlichen, aber sehr viel kleinern K\u00f6rper, die Clitoris, der nach demselben Princip gebaut ist. Die Clitoris der S\u00e4ugethiere ist nach dem Princip der Ruthe des m\u00e4nnlichen S\u00e4ugethierembrvo oder vielmehr beide nach demselben Princip gebildet. Die grosse Clitoris und der Penis mit noch gespaltenem Corpus cavernosum urethrae sehen sich anfangs ganz gleich. Beide haben Musculi ischio-cavernosi und constrictores pudendi, nach dem Schliessen der f\u00f6talen Damm\u00f6ffnung der M\u00e4nnchen wird der Constrictor curini zum Musculus bulbocavernosus. Bei den Weibchen verk\u00fcrzt sich die Clitoris, die Lippen der Clitorisfurche werden kleine Schamlippen. So lange die Damm\u00f6ffnung der M\u00e4nnchen sich noch nicht geschossen hat, gleichen auch die Hodensackfalten den grossen Schamlippen, sie sind leere Falten, w\u00e4hrend die Hoden sich noch in der Bauchh\u00f6hle befinden. Die Hoden bleiben bei mehreren S\u00e4ugethieren, Cetaceen, Schnabeilhier, Elephant, Hyrax f\u00fcr immer in der Bauchh\u00f6hle, bei den meisten S\u00e4ugethieren gelangen sie, wie beim Menschen, vor dem Ende des Embryolebens in eine Aussackung der Bauchh\u00f6hle bis in den Hodensack, und hernach schn\u00fcrt sich dieser Fortsatz der Bauchh\u00f6hle von der eigentlichen","page":628},{"file":"p0629.txt","language":"de","ocr_de":"Vom unbefruchteten Ei.\n62.9\nBauchh\u00f6hle ah. Bei mehreren S\u00e4ugethieren, wie den Ratten, Hamster u. a. bleibt die Communication, und die Hoden k\u00f6nnen zu verschiedener Zeit, je nach der Wirkung der Muskeln in der eigentlichen Bauchh\u00f6hle oder ausser derselben liegen.\nBei den Stenops unter den Affen ist die Clitoris von der Harnr\u00f6hre durchbohrt, w\u00e4hrend der Scheideneingang wie gew\u00f6hnlich hinter der Clitoris liegt.\nIII. Capitel. . Vom unbefruchteten Ei.\nDie Lehre vom unbefruchteten Ei ist durch die erfolgreichen Untersuchungen von Purkinje, v. Baer, B. Wagner, Costs, Valentin u. A. ein erst vollst\u00e4ndig gegr\u00fcndeter Theil der Wissenschaft geworden, der bereits so reich an allgemeinen Resultaten ist, dass die grosse Zahl des beobachteten sich einfachen allgemeinen' Gesetzen unterordnet, und wie in allen vollkommneren Theilen der Wissenschaft zum Einfachsten zur\u00fcckf\u00fchrt. Die wichtigsten Schriften sind:\nPurkinje Symbolae ad ori avium hisioriam ante inculationem. Lips. 1830. und im encyclop. Wort erb. der medic. Wissensch. Artikel Ei. v. Baer de ovi mamma/ium et hominis genesi. Lips. 1827. Coste recherches sur la g\u00e9n\u00e9ration des mammif\u00e8res. Paris 1834. Bernhardt (et Valentin) symbolae ad ovi mammalium hisioriam ante impraegnationem. Vrafisl. 1834. Valentin Entcoickelungsge-schichte. Berlin 1835. R. Wagner, Muell .Arch. 1835. 373. Derselbe prodromus hisioriae generationis hominis atque mammalium. Lips. 1836. Derselbe in den Abhandl. der K. Baicrs. Academie. 2. 1837. Derselbe Lehrbuch der Physiologie. Ic\u00f4nes physiologicae. Leipz. 1839. Krause in Muell. Archiv. 1837. 26. Carus ebend. 1837. 442. W. Jones London med. Gaz. 1838. 680. Schwann a. a. O. Barry phil. Transact. 1838. Edinh. ph.il. journ. 1839.*).\nDie Eier erzeugen sich bei vielen wirbellosen Thieren in blinddarmartigen R\u00f6hren, ohne allseitig von organisirten Theilen isolirt zu seyn. Bei vielen Wirbellosen und allen Wirbelthieren bilden sie sich innerhalb der von Blutgef\u00e4ssen umgebenen Zellen des Eierstocks, welche durch eine bald zartere, bald derbe faserige Grundlage, Stroma verbunden sind. Wenn die Eier in iso-lirten Aush\u00f6hlungen des Eierstocks liegen, so nennt man die aus der Verdichtung des Stroma bestehende Zelle des Eierstocks Capsel, Theca. Man unterscheidet in Bezug auf Ei des Eierstocks der Wirbellosen, der Fische, Amphibien und V\u00f6gel folgende, schon an den kleinsten Eiern erkennbare, wesentliche Bestandteile:\n1. Die Eicapsel, welche bald von dem Stroma isolirt ist, wie bei vielen Wirbellosen, und selbst mit dem Ei abgehen kann,\n\u00a5) Unter den filteren Abbildungen von Eiern der Wirbellosen sind diejenigen von Poli, Goeze, Delia Ciiiaje, \u00f6. Fr. Mueller zu loben, in Beziehung auf Fische Caa'Olim Erzeugung (1. Fische u. Krebse, Taf. 1. Fig. 4., und Sonnini hist. nat. d. poissons. T. 2. Tab. 3. Fig. 4. Sie enthalten Andeutungen vom Bau des Eies, sind aber den Verfassern seihst ohne Verst\u00e4ndnis* geblichen.","page":629},{"file":"p0630.txt","language":"de","ocr_de":"630 VII. Buch. V. d. Zeugung. II. Absclin. Geschlechil. For/p\u00dfanz.\noder auch inniger mit der yom Stroma gebildeten Capsel, Theca verwachsen ist, wie bei den eierlegenden Wirbelthieren, diese bildet dann mit der Theca des Eierstocks das, was man Kelch, Calyx nennt. An der vom Eierstock abgewandten Seite ist der Kelch oft d\u00fcnner, an der dem Eierstock zugewandten Seite, wo sich der Kelch des reifem Eies durch einen Stiel vom Eierstock erhebt, dicker. Am Eierstock des Vogels zeigt der Kelch an der d\u00fcnnen Seite einen bogenf\u00f6rmigen weissen Streifen, Stigma, der sich vom \u00fcbrigen Kelch durch den Mangel der Blutgef\u00e4sse auszeichnet. Er zeigt die Stelle an, wo sich der Kelch spater \u00f6ffnet, um das Ei auszulassen. F\u00fcr die Recognition derEicapsel in verschiedenen Classen ist es zu beachten, dass sie bei den Fischen nach Schwann\u2019s Beobachtungen, an ihrer innern Fl\u00e4che eine Schichte von mikroskopischen Epitheliumzellen bat, eine Eigenschaft, die auch an den Capsein f\u00fcr die Eier der S\u00e4usethiere oder den GRAAF\u2019schen Bl\u00e4schen wiederkehrt. Jones und Barry halten die Eicapsel der Eierleger und den GRAAF\u2019schen Follikel der S\u00e4ugethiere mit Piccbt f\u00fcr identisch.\n2.\tInnerhalb der Eicapsel liegt die in der Dotterhaut, Membrana vitellina eingeschlossene Dotterkugel. Die Dotterhaut liegt anfangs der Capsel an, ist aber sp\u00e4ter \u00f6fter bei manchen Thieren von der Capseihaut durch einen ziemlich grossen Zwischenraum getrennt. Die K\u00f6rnchen der Dottersubstanz sind nach Schwann\u2019s Untersuchungen Zellen mit feink\u00f6rnigem Inhalt und Oeltropfen.\n3.\tDas in der Dottersubstanz liegende Keimbl\u00e4schen, Vesicula Purkinjii, Vesicula germinativa. In den kleinsten Eiern ist das Keimbl\u00e4schen im Verh\u00e4ltniss zum Dotier relativ gr\u00f6sser, so dass es vom Dotter enger eingeschlossen wird. In den \u00e4lteren Eiern bleibt es bei dem Wachsthum des Dotters an Wachsthum zur\u00fcck, und n\u00e4hert sich der Oberfl\u00e4che des Dotters. Ovula und Keimbl\u00e4schen finden sich oft schon bei den reifen Embryonen.\n4.\tInnerhalb des Keimbl\u00e4schens liegt ausser einer durchsichtigen Fl\u00fcssigkeit der von R. Wagner entdeckte Keimlleck, Macula germinativa, Nucleus germinativus. Der Keimfleck besteht aus einem oder mehreren tr\u00fcben K\u00f6rperchen, Analogon der Zellenkerne? Ueber die Verschiedenheiten der Thierclassen, Ordnungen, Familien, Gattungen in Hinsicht des Keimfleckes sehe man das angef\u00fchrte classische Werk von R. Wagner. Einfach ist der Keimfleck beim Menschen, bei den S\u00e4ugethieren, den V\u00f6geln, den beschuppten Amphibien und vielen Wirbellosen, und schon in den j\u00fcngsten Eiern erkennbar. Bei den nackten Amphibien, Knochenfischen und mehreren Wirbellosen kommen mehrere runde Flecke vor. An reiferen Eiern treten mehrere Granulationen an der innern Wand des Keimbl\u00e4schens auf, wobei der gr\u00f6ssere Fleck oder die gr\u00f6sseren Flecke undeutlicher werden, und selbst zuweilen verschwinden. Bei einigen Wirbellosen scheint der Keimfleck nach derselben Untersuchung noch von einer H\u00fclle umgeben.\nAn reiferen Eiern der eierlegenden Wirbelthiere liegt das Keimbl\u00e4schen oberfl\u00e4chlich unter der Dotterhaut in einer scheibenf\u00f6rmigen K\u00f6rnerschicht, Discus proligerus Baer eingebettet, so","page":630},{"file":"p0631.txt","language":"de","ocr_de":"Vom unbefruchteten Ei.\n631\ndass diese Schicht auch unter ihm weggeht, dasselbe aber \u00fcber die Oberfl\u00e4che des Discus herrvorragt. Auch befindet sich in der Mitte der Dottermasse eine mit mehr durchsichtiger Masse gef\u00fcllte H\u00f6hle, welche sich canaif\u00f6rmig nach der Oberfl\u00e4che gegen die Stelle, wo das Keimbl\u00e4schen liegt, fortsetzt. Die Masse in dieser H\u00f6hle und in dem Canal besteht nach Schwann aus Zellen, die sich von den Dotterzellen durch ihren geringem Durchmesser und dadurch unterscheiden, dass sie einen Kern enthalten. Der Theil des Dotters, wo dieser Canal und das Keimbl\u00e4schen oder die Keimscheibe liegt, ist leichter als der \u00fcbrige Theil, und bei den gelegten Eiern, wo das Ei von Eiweis und Schale umgehen worden, dreht sich der Dotter bei verschiedener Lage des Eies von selbst so, dass der Keim immer oben liegt. Man sehe \u00fcber alle hier abgehandelten Gegenst\u00e4nde die sch\u00f6nen Abbildungen in Pi. Wagner\u2019s leones physiologicae und dessen gr\u00f6sseres Werk.\nSchon vor der Befruchtung zu der Zeit, wo das unbefruchtete Ei den Eierstock verl\u00e4sst, verschwindet das Keimbl\u00e4schen, wie die Untersuchungen von Purkinje und Baer lehren. In unbefruchteten Eiern des Frosches aus dem Eileiter fand Baer das Keimbl\u00e4schen nicht mehr. Es scheint sich aufzul\u00f6sen und seine Substanz mit der k\u00f6rnigen Masse des Discus proligerus zu verschmelzen. Diese Keimscheibe, beim Vogelei von ungef\u00e4hr 1 Linie Durchmesser, findet sich an der Stelle des Keimbl\u00e4schens unter der Oberfl\u00e4che der Dotterhaut der abgehenden Eier, m\u00f6gen sie befruchtet oder unbefruchtet seyn, und von ihr geht die Bildung des Embryo aus. Unter der Keimscheibe findet sich im Vogelei ein H\u00e4ufchen K\u00f6rnermasse, die man den Kern der Keimscheibe oder des Hahnentrittes nennt. Er besteht nach Schwann aus den Zellen der Dotterh\u00f6hle; die Keimscheibe besteht aus Zellen mit grobk\u00f6rnigen Inhalt.\nDie Eier der eierlegenden Wirbelthiere sind, wie sie vom Eierstock abgehen, nur Dotter mit der Dotterhaut und den darin enthaltenen Theilen.\nWenn die Eier noch Eiweis und Schale haben, so kommen diese erst nach dem Abg\u00e4nge vom Eierstock im Eierleiter dazu. Das Abl\u00f6sen der reifen Eier vom Eierstock erfolgt auch ohne Befruchtung, wie bei den Fr\u00f6schen und V\u00f6geln. Die Eier der Fr\u00f6sche gehen sogar immer lange vor der Befruchtung vom Eierstock ab, werden vom Eileiter aufgenommen, und erst beim Abgang aus dem Mutterthier von dem M\u00e4nnchen befruchtet. Nach dem Abgang der Eier vom Eierstock bleibt der offene Kelch zur\u00fcck, verkleinert sich aber allm\u00e4hlig und wird in die Masse des Eierstocks aufgenommen. Das in den Eierleiter aufgenommene Ei erh\u00e4lt hier bei vielen Eierlegern eine eiweisartige Schicht durch Secretion des Eierleiters. Bei den V\u00f6geln l\u00e4uft die dichtere, innere, dein Dotter anklebende Lage des Eiweisses in zwei gedrehte Fascikel aus, die nach den Enden des Eies zu sehen, Chalazae, Hagelsclm\u00fcre, sie entstehen durch die Drehungen des Eies im Eierleiter. Im Eierleiter erh\u00e4lt das Ei auch die Schale durch Absonderung. Zu ihrer Bildung befinden sich am Eierleiter der Rochen\nM\u00fcller\u2019\u00bb Physiologie. ZrBd. Ill,\t41","page":631},{"file":"p0632.txt","language":"de","ocr_de":"632 VII. Buch. V. d. Zeugung. II. Abschn. Gescldeclill. For/p\u00dfanz.\nund Haifische zwei grosse Dr\u00fcsen, die Schalendr\u00fcsen, Br\u00fcste des Aristoteles.\nDie Schale der Vogeleier besteht aus einer Schalenhaut und dem darauf ahgesetzten kohlensauren Kalk. Die Schalenhaut Besteht aus zwei Schichten, welche sich am stumpfen Theil des Eies heim allm\u00e4ligen Verdunsten des Wassers von einander ab-l\u00f6sen, und hier an nicht ganz frischen Eiern den lufthaltigen Baum des Eies zwischen sieh haben.\nDie Eier der S\u00e4ugethiere und des Menschen, welche vom Uterus den zur Entwickelung der Frucht uothigen Nahrungsslolf erhalten, zeichnen sich vor den Eiern der Eierleger dadurch aus, dass das Eichen mit einer \u00e4usserst geringen Dottermasse abgeht, also ganz ausserordentlich klein ist, so dass cs im reifsten Zustande kaum ~ einer Linie erreicht. Auch hat ihr Verh\u00e4ltniss zum Eierstock viel E\u00fcgenth\u00fcmliches.\nWegen der ausserordentlichen Kleinheit sind die Ovula des Menschen und der S\u00e4ugethiere fr\u00fcher \u00fcbersehen worden. Pr\u00e9vost und Dumas war es aufgefallen, dass die kurz nach der Befruchtung hei Thieren in vden Eileitern gefundenen Eichen viel kleiner, als die GflAApschen Follikeln waren, und sie haben auch in zwei F\u00e4llen das wirkliche Ovulum innerhalb des GRAAr\u2019schen Follikels gesehen, aber diesen Gegenstand nicht weiter verfolgt, v. Baer ist der eigentliche Entdecker des Ovulums hei den S\u00e4u-gethieren und dem Menschen.\nDie Ovula liegen hei den Saugethieren und Menschen in den GnAAF\u2019schen Bl\u00e4schen oder Eicapseln des Eierslocks, die durch ein derbes Stroma verbunden sind, und wenig daraus hervorragen, w\u00e4hrend sie beim Schnabelthier, wie beim Vogel gestielt sind. Man unterscheidet an diesen Capsein zwei H\u00e4ute; die innere Haut ist mit Epithelium bedeckt, wie die Capsulareihaut der Eierleger. Das Eichen nimmt nur den kleinsten Theil des Raums der Capsel ein, die mit einer eiweissartigen, mikroskopische K\u00f6rnchen enthaltenden Fl\u00fcssigkeit gef\u00fcllt ist. ln unreifen Capsein ist das Eichen im Verh\u00e4ltniss zur Capsel gr\u00f6sser, auch liegt es mehr in der Mitte des Follikels, in reifen Capsein liegt es hingegen dicht an der innern Haut des Follikels, innerhalb einer k\u00f6rnigen Zone wie eingebettet. Nach Barry ist es in beiden F\u00e4llen durch eigene granul\u00f6se Streifen, Retinacula, an die Wand des Follikels festgehalten. Zur Untersuchung gewinnt man das Ovulum, indem man einen Follikel, gleichviel ob jung oder alt, ansticht und die Fl\u00fcssigkeit auf einer Glasplatte ausfliessen l\u00e4sst. Man sucht dann das Ovulum in dem ausgebreiteten Tropfen mit der Loupe auf, und bringt cs, wenn man es gefunden, unter das Compositum. Zur mikroskopischen Untersuchung der Structur des Ovulums, als abgerundeten K\u00f6rpers, ist es unumg\u00e4nglich nolh-wendig, es gelinde durch ein Glaspl\u00e4ttchen oder ein Compresso-rium zu dr\u00fccken.\nDas Ovulum besteht aus einer dicken Dotterhaut, welche unter dem Mikroskop als heller Ring erscheint, welcher Ring aussen und innen von einem dunkeln Rande begrenzt wird. Diese H\u00fclle wird von Valentin und Bernhardt Zona pellucida, von R. Wagner Cho-","page":632},{"file":"p0633.txt","language":"de","ocr_de":"633\nVom unbefruchtet en Ei.\nrion genannt. Diejenigen, welche sich speciell mit diesem Gegenst\u00e4nde besch\u00e4ftigt, sind \u00fcber die Zona nicht ganz einig. Nach Krause besteht diese Zona aus einer, in einem H\u00e4utchen eingeschlossenen, eiweissartigen Masse, w\u00e4hrend Wagner und Bisch\u00f6fe die Zona als einfache Membran betrachten, da sie aut dem Risse gleichf\u00f6rmig erscheint. Schwann giebt dies Letztere zu, neigt aber, wie Barry, zu Krause\u2019s Ansicht.\nInnerhalb der durchsichtigen H\u00fclle liegt die Dottersubslanz des Eichens. Sie besteht aus K\u00f6rnchen oder Zellchen, auch Fett-tr\u00f6pfchcn. Dieser Inhalt bildet eine Kugel, welche von der in-nern Wand der durchsichtigen H\u00fclle gew\u00f6hnlich nicht absteht. Indess sieht man Zuweilen an den reifsten Eiern einen solchen Abstand, der sich durch Einsaugen von Wasser vergr\u00f6ssert. Demnach scheint die Dotterkugel noch von einer eigenen membranartigen Schichte von K\u00f6rnchen eingeschlossen.\nNachdem das Keimbl\u00e4schen in den Eiern der Eierleger allgemein bekannt war, war es in den Eichen des Menschen und der S\u00e4ugethiere bis zum Jahre 1834 noch unbekannt, und man wusste nicht, ob man das abgehende Ovulum der S\u00e4ugethiere nicht dem Keimbl\u00e4schen der Eierleger zu vergleichen habe.\nDas Keimbl\u00e4schen des Eies der S\u00e4ugethiere ist von Coste zuerst entdeckt, den Forschungen von Valentin und Bernhardt verdanken wir die genauesten Aufschl\u00fcsse \u00fcber dasselbe bei den S\u00e4uge-thieren und dem Menschen. Das Keimbl\u00e4schen ist in j\u00fcngeren Eiern im Verh\u00e4ltniss zum Ovulum gr\u00f6sser, als sp\u00e4ter. Sein Durchmesser betr\u00e4gt gegen Linie. Schon innerhalb des Ovulums kann man das Keimbl\u00e4schen sehen, wenn man das Ovulum vorsichtig durch Druck abplattet, hierbei gelingt es auch zuweilen das Ovulum so zu zerdr\u00fccken, dass die Vesicula germinaliva unversehrt heraustritt. Innerhalb des Keimbl\u00e4schens und zwar an der innern Wand ansitzend liegt wieder der Wagner\u2019scIic Keimfleck von 2^77 \u2014 Linie Durchmesser. Er ist tr\u00fcb, der \u00fcbrige Inhalt des Bl\u00e4schens aber hell. Der Discus proligerus fehlt, wenigstens in der Form einer Scheibe, dagegen vermuthet R. Wagner, dass die Scheibe hier durch die den ganzen Dotter umgebende zusammenh\u00e4ngende K\u00f6rnerschicht ersetzt sei. Auch bei den S\u00e4ugethieren und dem Menschen finden sich die wesentlichen Theile des Eies nach Carus Untersuchungen schon im Eierstock der reifen Embryonen. In Hinsicht aller dieser Theile muss ich auf die sehr genauen Abbildungen in der Abhandlung von Valentin und Bernhardt, so wie auf R. Wagner\u2019s, Jones, Barry\u2019s schon angef\u00fchrte Schriften verweisen.\nIV{ Capitel. Vorn Samen.\nLeeuwenhoek Anatomia seu interiora rerum. Lugd. Bat. 16S7. Arcana naturae. Delphis 1695. Epistolae physiologicae. Delphis 1719. Gleichen \u00fcber die Samen_ und Infusionsthierchen. N\u00fcrnberg 1778. Pr\u00e9vost und Dumas Ann. d. sc. nat. T. I. II. Czermak Beitr\u00fcge zur Lehre von den Sperniatozoen. JVien 1833. Treviranus in\n41*","page":633},{"file":"p0634.txt","language":"de","ocr_de":"(534 PII. Buch. V. d. Zeugung. II. Ahsclui. Gesrhlechtl. Fortpflani,\nTiedemann\u2019s Zeitschrift f\u00fcr Physiol. V. 2. v. Siebold in Muell. Archie 1836. 232. 1837. 381. R. Wagner in Abhandl. der K. Baiers. Academie. 2. 1837. Derselbe in Mueller Archiv 1836. 225. Va lentin Repert. 1836. 277. Dujardin Ann. d. sc. naf. VIII. 2.91. 297. Donn\u00e9 l\u2019institut 1837. 206. Ehrenberg die Infusionstierchen p. 464.\nWie gross die Fortschritte unserer Kenntnisse \u00fcber das Ei und die weiblichen Keime in der neuern Zeit geworden, nicht, mindere hat auch die feinere Zergliederung der befruchtenden Fl\u00fcssigkeit durch die erfolgreiche Th\u00e4tigkeit mehrerer Forscher und besonders R. Wagner und v. Siebold gemacht.\nDie weiblichen Eikeime bilden sich schon in den Embryonen, die befruchtende Fl\u00fcssigkeit hingegen und ihr wesentlicher Inhalt meist erst zur Zeit der Geschlechtsreife.\nDer Samen der Thiere ist eine dickliche, fliessende, weisse oder weissgelbe Materie von penetrantem specifischem Geruch, welche an der Luft klarer wird und in Weingeist gerinnt, und deren chemische Eigenschaften f\u00fcr die Kenntniss der Zeugung, weniger wichtig sind alle ihre Lebenseigenschaften. Siehe Berzelius Thierchemie. Er besteht aus drei verschiedenen Elementen, einer Samenfl\u00fcssigkeit, den Samenk\u00f6rnchen, und bei den meisten Thieren wenigstens, den Samenthierchen, Spermatozoa. Die letzteren findet man sowohl in dem Ductus deferens, als in den Sa-menblasen. Die Beschaffenheit der Samenfl\u00fcssigkeit, welche sich nicht ahscheiden l\u00e4sst, ist unbekannt. Die Samenk\u00f6rnchen sind nach R. Wagner runde, feine, granulirtc K\u00f6rper von \u2014 -jLj Linie im Durchmesser, sie sind von abgel\u00f6sten Epitheliumzellen der Samenwege zu unterscheiden. Die Samenthierchen von Ham entdeckt, von Leeuwenhoek zuerst beschrieben sind weder in den verschiedenen Classen, noch in den Familien, Gattungen und Arten gleich. Die merkw\u00fcrdigsten Verschiedenheiten derselben haben wir in der neuern Zeit f\u00fcr die Wirbelthiere durch R. Wagner, f\u00fcr die Wirbellosen durch v. Siebold kennen gelernt. Sie sind nach diesen Untersuchungen folgende.\nIm Allgemeinen kann man einige Ilauptformen unterscheiden: Mit elliptischem K\u00f6rper und einem langen Sch wanzfaden. wie heim Menschen und den meisten S\u00e4ugethieren. Mit bimf\u00f6rmigem K\u00f6rper und Scbwanzfaden bei vielen S\u00e4ugethieren. Mit walzenf\u00f6rmigem K\u00f6rper und einem Schwanzfaden, wie bei mehreren V\u00f6geln, Amphibien und Fischen. Mit schraubenf\u00f6rmig gedrehtem K\u00f6rper und Schwanzladen, wie bei den Singv\u00f6geln, den Haifischen, den Paludinen. Mit haarf\u00f6rmigem K\u00f6rper, wie bei vielen Mollusken, Insecten und W\u00fcrmern. Abbildungen siehe hei Wagner und Siebold a. a. O. und Wagner leones physiologicae.\nDie Samenthierchen des Menschen haben nach Wagner eine Gr\u00f6sse von A-\u2014 L Linie, ihr ovaler abgeplatteter K\u00f6rper misst vi\u00f6-\u20146<h> Linie. Der Schwanz ist anfangs dicker, zuletzt ganz ausserordentlich fein. Bei den S\u00e4ugethieren ist die Form \u00e4hnlich, aber meist gr\u00f6sser und gerade bei den kleinsten S\u00e4ugethieren, z. B. den m\u00e4useartigen, die der Ratte sind nach Wagner Linie lang. Diejenigen der Affen haben grosse Uebereinstimmung mit","page":634},{"file":"p0635.txt","language":"de","ocr_de":"Vom Samen.\n635\ndenen des Menschen. Bimf\u00f6rmig ist der K\u00f6rper beim Hund, Kaninchen, Reh. Eigent\u00fcmlich ist ihre Form bei den M\u00e4usen, ihr K\u00f6rper ist wie das Ende eines bauchigen Bistouri\u2019s, mit nach oben und hinten ausgezogener Spitze. Bei mehreren Nagern, wie beim Eichh\u00f6rnchen haben die Spermatozoen aufgekrempte R\u00e4nder des K\u00f6rpers. Bei den V\u00f6geln wurden von Wahner zwei Typen beobachtet. Die Sarnenthierehen der Singv\u00f6gel haben ein spiralf\u00f6rmig gedrehtes, spitzes Vorderende. Der zweite Typus ist ein schmaler, gerader, walzenf\u00f6rmiger K\u00f6rper mit kurzem Schw\u00e4nze. Dahin geh\u00f6ren H\u00fchner, Raub- Kletter- Sumpf- und Wasserv\u00f6gel. Die Sarnenthierehen der Eidechsen und Schlangen und des Frosches haben einen drehrunden K\u00f6rper und feinen Schwanz; aber diejenigen der Salamandrinen sind verschieden. Bei Salamandra maculata l\u00e4uft der K\u00f6rper vorn spitz zu, endigt aber mit einem Kn\u00f6pfchen. Bei den Tritouen ist der K\u00f6rper noch weniger vom Schwanz abgesetzt. Der Schein von Wimperbewegung, den man an ihrem Schw\u00e4nze wahrnimmt, r\u00fchrt, wie v. Siebold zeigt, von dem zur\u00fcckgebogenen, das Vordertheil umwickelnden Schwanzende und seinen Bewegungen her. Die Spermatozoen der Knochenfische haben einen kugelrunden, diejenigen der Cyclostomen einen walzenf\u00f6rmigen K\u00f6rper.\nDie schraubenf\u00f6rmig gedrehte Form des K\u00f6rpers kommt selten bei Wirbellosen vor. Siebold beobachtete sie bei den Palu-dinen. Angeschwollene vordere Enden sind unter den Wirbellosen selten, sie'zeigen sich bei den Muscheln sehr deutlich, weniger deutlich bei einigen Schnecken, bei den meisten Wirbellosen sind die Sarnenthierehen haarf\u00f6rmig.\nDie haarf\u00f6rmigen Sarnenthierehen der Insecten, Schnecken, Distomen verhalten sich nach Siebold\u2019s Beobachtungen eigen-th\u00fcmlich zum Wasser, sobald Wasser mit ihnen in Ber\u00fchrung kommt, drillen sie'sich und rollen sich zu einfachen oder Doppel\u00f6sen zusammen.\nDie Organisation der Sarnenthierehen ist noch unbekannt, und es ist bis jetzt sehr zweifelhaft geblieben, ob sie als Thiere organisirt sind. Henle und Schwann beobachteten an den Sa-menthierchcn des Menschen im Innern des K\u00f6rpers eine unterschiedene Stelle, welche an den Saugnapf der Cercarien erinnert, aber sich auch zum K\u00f6rper des Samenthierchens, wie der Kern zu einer Zelle verhalten kann. Bei manchen Sarnenthierehen findet sich zuweilen ein Kn\u00f6tchen in der Mitte des Schwanzfadens oder gegen das Ende, wie ich bei Petromyzon marinus sah, w\u00e4hrend die meisten Sarnenthierehen nichts davon zeigten. Dergleichen Kn\u00f6tchen in der L\u00e4nge des Schwanzes sind auch von Meyen bei den Sarnenthierehen von Pflanzen, z. B. Charen beobachtet.\nDie Bewegungen der Sarnenthierehen gleichen den willk\u00fcrlichen Bewegungen der Thiere, und bestehen in schlagenden, wellenf\u00f6rmigen und schwingenden Bewegungen des Schwanzes. Diejenigen mit schraubenf\u00f6rmig gedrehtem K\u00f6rper drehen sich schraubenf\u00f6rmig. Siche Wagner Physiologie 16. Um die Bewegungen gut zu sehen, ist es nothwendig den Samen mit Blutserum zu verd\u00fcnnen. Diese Bewegungen erhalten sich bei manchen Thieren","page":635},{"file":"p0636.txt","language":"de","ocr_de":"636 VII. Buch. V. d. Zeugung. II. Absclin. Geschlechtl. Fortpflanz.\nviele Stunden lang nacli dem Tode des Thiers, von welchem sie genommen sind, und die Todesart der Thiere hat keinen Einfluss darauf. Wagner sah die Bewegungen hei V\u00f6geln am schnellsten aufh\u00f6ren, z. B. 15 \u2014 \u201820 Minuten nach dem Tode, zuweilen sp\u00e4ter. Bei S\u00e4ugethieren sah er die Bewegung in manchen F\u00e4llen seihst 24 Stunden lang, noch l\u00e4nger hei Amphibien und Fischen. Hohe und niedere Temperatur lassen die Bewegung aufh\u00f6ren, dagegen sah Wagner sie noch hei Fr\u00f6schen und Fischen, wenn die Temperatur unter 0 sank. In Blut, Milch, Schleim lehen die Samenthierchen nach Donn\u00e9 fort. Dass sie in Speichel und Harn nicht fortlebten, muss von zuf\u00e4lligen Ursachen ahh\u00e4ngen. Denn Lam-pferhof sah sie im Speichel und Wagner im Harn lange fortleben. In zu sauerem Vaginalschleim und zu alcalischem Uterinschleim sterben sie nach Donn\u00e9 sehr schnell. Strychnin t\u00f6dtet sie nach B. Wagner\u2019s Beobachtungen auf der Stelle, w\u00e4hrend hingegen die Wimperbewegungen der flimmernden H\u00e4ute von Narcotica nicht ver\u00e4ndert werden, wie die Beobachtungen von Purkinje und Valentin zeigen.\nDie Genesis der Samenthierchen ist von R. Wagner entdeckt. Im Winter fand derselbe in dem Contcntum des Hodens der Singv\u00f6gel bloss kleine K\u00f6rnchen, im Fr\u00fchjahr zeigen die K\u00f6rnchen mannigfaltige Formen. Zwischen und unter ihnen erscheinen B\u00fcndel von Samenthierchen. Diese entstehen in eigent\u00fcmlichen sehr d\u00fcnnh\u00e4utigen Blasen oder Schl\u00e4uchen, Zellen. Die spiraligen vorderen Enden liegen zusammen, die Schw\u00e4nze ebenso. Im Hoden sah W. noch keine Lebenshewegungen an den Samenthierchen, im Vas deferens sind die Samenthierchen frei. Im Samen des Hodens befinden sich ausser kleinen punctirten k\u00f6rnigen K\u00fcgelchen, gr\u00f6ssere Blasen, welche mehrere k\u00f6rnige Kugeln cinschliessen und \u00e4hnliche grosse runde K\u00f6rper, welche im Innern mehrere k\u00f6rnige Kerne enthalten. Die letzteren Blasen stehen in n\u00e4herer Beziehung zur Genesis der Samenthierchen; denn zwischen den k\u00f6rnigen K\u00f6rperchen der Blasen erscheinen fein granulirte Niederschl\u00e4ge, wobei die Kernkugeln schwinden und lineare Gruppirungen entstehen, die sich bald als B\u00fcndel von Samenthierchen kenntlich machen. Ebenso entstehen nach Wagner\u2019s Beobachtungen die Spermatozoon der Fr\u00f6sche und der S\u00e4ugetiere. Bei den V\u00f6geln beginnt die Entwickelung der Samenthierchen in jedem Jahre von Neuem und tritt wieder nach der Brunstzeit zur\u00fcck. Bei den S\u00e4ugethieren beginnt die Entwickelung der Samenthierchen im Zustand der Jugend, hei Kaninchen sah sie Pr. Wagner schon bis zum 3. Monat nach der Gehurt, bei Katzen, Hunden viel sp\u00e4ter, bei Knaben erfolgt sie im eintretenden Pubert\u00e4tsalter. Im Alter geht diese Entwickelung wieder zur\u00fcck, wie Wagner gezeigt hat. Diese wichtigen Beobachtungen sind von Siebold und Valentin best\u00e4tigt. Siebold Muell, Archiv 1839. 436. Valentin Repert. 1837. 143. Man sehe die Abbildungen Wagner\u2019s \u00fcber die Genesis der Spermatozoen in Muell. Archiv 1836. Tab. IX. und Wagner\u2019s leones physiologicae.\nEs ist sehr merkw\u00fcrdig, dass bei sehr wenigen Thieren bis jetzt noch keine Samenthierchen walirgenoinmen werden konnten,","page":636},{"file":"p0637.txt","language":"de","ocr_de":"Vom Sarnen.\n\u00d637\nobgleich die Thicre schon in der Brunstzeit beobachtet wurden. Dahin geh\u00f6rt die Gattung Astacus unter den Crustaceen. Bei den Flusskrebsen kommen statt dessen eigenth\u00fcinliche bewegungslose, von Hehle und Siebold beobachtete K\u00f6rper vor, eine Art Capsein, mit einem kleinen st\u00f6pselartigen Aufsatz, die Capsein mit langen haarf\u00f6rmigen Faden besetzt. Aehnliche K\u00f6rper sind von Valentin bei den Ilommern beobachtet.\nOb die Samenthierchen parasitische Thiere oder belebte Urtheilchen des Thiers, in welchem sie Vorkommen, sind, lasst sich f\u00fcr jetzt noch nicht mit Sicherheit beantworten. Ehrenberg ist geneigt die Spermatozoon f\u00fcr Thiere zu halten und stellt sie mit den Cerealien, wirklichen Entozoen zusammen. Treviranus spricht sich f\u00fcr die entgegengesetzte Ansicht aus, und vergleicht sie den Pollenk\u00f6rperchen. F\u00fcr das Ersterc scheint der Mangel der Spermatozoen im Samen einiger Thiere und das Vorkommen vollkommen organisirter Thiere in den Samenbehaltern der Sepien einigermassen zu sprechen. Siehe \u00fcber diese Wesen Garus riov. act. rial. cur. XIX. p. 1. und Philippi in Mueller\u2019s Archiv 1839. Dagegen der Mangel einer thierisch individuellen Organisation hei den Samenthierchen, ihr fast allgemeines Vorkommen, ihr Wiedererscheinen in fast gleicher Form bei einigen Pflanzen in den m\u00e4nnlichen Geschlechtsorganen, ihre gleiche Genesis in Zellen und nicht aus anderen Samenthierchen, die Parallele, welche sich zwischen den Zellen, namentlich den Wimperzellen und dim Samenthierchen, ziehen l\u00e4sst. Den Wimperzellen gleichen sie darin, dass sie f\u00fcr sich allein ihre Bewegungen fortsetzen, und ihr Schwanzfaden kann einigermassen den Wimpern an den Wimperzellen, ihr Kern dem Kern der Wimperzellen verglichen werden. Am wenigsten gleicht der Character der Bewegungen der Samenthierchen demjenigen der Wimpern, tritt vielmehr ganz in die Analogie der willk\u00fcrlichen Bewegungen.\nDer wichtigste Grund f\u00fcr die nicht specifisch und individuell thierische Natur der Samenthierchen ist wohl ihr genauer Zusammenhang mit der Befruchlungsf\u00e4higkeit des Samens. Sie kommen nicht allein hei manchen Thieren und namentlich hei den V\u00f6geln nur zur Zeit der Brunst vor, sondern ihre Entwickelung wird gehemmt in den Bastarden, welche zur Zeugung meist unf\u00e4hig sind, und nun selten mit den constanten Arten Formen zeugen, die dann wieder in die Stammformen zur\u00fcckgehen. Unter den \u00e4lteren Beobachtern fanden Hebbnstreit, Bonnet, Gleichen hei Maulthierhengslen keine Samenthierchen. Ebenso Pr\u00e9vost und Dumas Arm. d. sc. nat. I. p. 183. und R. Wagner fand hei Vogelbastarden entweder gar keine Samenthierchen oder gehemmte Formen, und gerade diese Hemmung ist eine Beobachtung von dfer gr\u00f6ssten Wichtigkeit. Bei Bastarden des Stieglitzes und Kanarienvogels bleiben die Hoden zuweilen durchaus klein, zuweilen erreichen sic kaum mehr als die H\u00e4lfte des Volumens der Stammarten, Im letztem Falle gleicht der Inhalt dem Samen bis auf die Samenthierchen und Entwickeliingszcllen derselben. Allerdings fanden sich einzelne Blasen mit dunkeln Molek\u00fclen gef\u00fcllt, auch F\u00e4den mit angeschwollenen Enden enthaltend, diese aber sind nie","page":637},{"file":"p0638.txt","language":"de","ocr_de":"638 VII. Buch. V. d. Zeugung. II. Ahschn. Geschlecht}. Fortpflanz.\nzu regelm\u00e4ssigen B\u00fcndeln verbunden, weniger zahlreich und liegen ohne Ordnung zwischen den Moleculen. Diese unvollkommenen Formen der Samenthierchen bleiben kleiner als die der Stammarten, und ihr dickeres Ende ist unregelm\u00e4ssig, bald keilf\u00f6rmig, meist l\u00e4nglich, oder an der Spitze gekr\u00fcmmt und nie zeigen sie die characteristische Schraube, Spirale. Bei weiblichen Bastarden fand Wagner zahlreiche Dotter mit Keimbl\u00e4schen, aber niemals reifende Dotter. R. Wagner Physiologie 25. 26.\nDie Samenthierchen in den m\u00e4nnlichen Fortpflanzungsorganen der Pflanzen sind eine viel seltenere Erscheinung, als bei den Thieren. Da die an dem Inhalt der Pollenk\u00f6rner der h\u00f6heren Pflanzen beschriebenen Bewegungen von der BROwN\u2019schen Mole-cularbewegung schwer zu unterscheiden sind, so kann hier nur von den Samenthierchen der Cryptogamen die Rede seyn. Einige hierher geh\u00f6rige Erscheinungen wurden schon von Schmiedel, Fe. Nees v. Esenbeck beobachtet. Genauer wurden die Samen-thierchen der Sphagnen zuerst von Unger untersucht, ihm und Meyen verdankt man die ausf\u00fchrlichsten Aufschl\u00fcsse dar\u00fcber. Der Inhalt der Antheren der Sphagnen besteht aus Zellen, in deren jeder ein Faden mit einem l\u00e4nglichen, ellipsoidischen Kn\u00f6pf* chen spiralig gerollt liegt. Die Thierchen bewegen sich in den Zellen, machen sich frei und setzen ausser den Zellen ihre Bewegungen fort. Meyen beschreibt sie in den Gattungen Hypnum, Mnium, Phascum, Polytrichum, Sphagnum. Yergl. Unger Nov. act. nat. cur. XVIII. p. 2. 785. Ebenso' verhalten sich die Samenthierchen in den Zellen der Antheren der Lebermoose, z. B. der Marchantien und der Jungermannien, nach den Untersuchungen von Meyen.\nDie Samenthierchen der Charen bilden sich in gegliederten F\u00e4den, welche man in ihren Antheren findet, und welche mit den Antheren Zusammenh\u00e4ngen, diese F\u00e4den bestehen aus aneinander gereihten Zellen. Varley gab die erste vollst\u00e4ndigere Beschreibung ihrer selbst und ihrer Bewegungen, die ausf\u00fchrlichste Untersuchung \u00fcber diesen Gegenstand befindet sich in Meyens neuem System der Pflanzenphysiologie p. 218. Tab. XU. Fig. 17 \u2014 28. In jedem Gliede des Pollenfadens entwickelt sich eine kugelige Schleimzelle und in jeder Zelle ein einzelnes Samenthierchen. Anfangs sind die Samenthierchen unf\u00f6rmlich, in den reiferen Zellen sieht man sie schon in eine Spirale zusammengewunden, aber noch ruhig, in noch reiferen sieht man schon ihre Bewegungen!, indem sie sich lebhaft drehen. Unter dem Mikroscop kann man sehen, wie die Wand der Glieder des Pollenfadens durchbrochen wird, und das Samenthierchen mit dem dickem Theil vorne hervorkommt. Herr Prof. Meyen hat die G\u00fcte gehabt mir diesen ganzen Vorgang unter dem Mikroskop zu zeigen-Diese Samenthierchen sind ausserordentlich lang, so dass jedes in seiner Zelle nur im zusammengerollten Zustande Platz hat. Wenn sie sich ausser der Zelle im Wasser bewegen, so geht das feinere, fadenf\u00f6rmige Ende voraus. Diese lebenden Theilchen sind F\u00e4den von der Gestalt der Trichocephalen, an dem einen Ende sind sie dicker, dieser dickere Theil geht ganz alhn\u00e4hlig in den d\u00fcnnen,","page":638},{"file":"p0639.txt","language":"de","ocr_de":"Von der Pubert\u00e4t.\n639\n\u00fcberaus langen Faden \u00fcber\u201c, der dickere Theil ist spiralig, der fadenartige Theil nimmt durcli seine heftigen Bewegungen vielerlei Lagen an. Die Lebensdauer ausser den Zellen reicht \u00fcber mehrere Stunden.\nV. Capitel. Von der Pubert\u00e4t, Begattung und Befruchtung.\nI. Pubert\u00e4t.\nDie Pubert\u00e4tsentwickelung, der Beginn des zeugungsf\u00e4higen Alters tritt in beiden Geschlechtern nicht genau zur selben Zeit ein, und es finden noch gr\u00f6ssere Unterscliiede in Hinsicht der Zeit dieser Ausbildung bei verschiedenen V\u00f6lkern und in verschiedenen Climaten statt. Bei dem weiblichen Geschlechte beginnt das Alter der Mannbarkeit in unserm Clima im 13 \u201415 Jahre, und giebt sich zun\u00e4chst durch die Erscheinung der Menstruation zu erkennen. Beim m\u00e4nnlichen Geschlechte beginnt diese Entwickelung im 14 \u201416 Jahre, dann tritt die Absonderung des Samens ein, worauf Ausleerungen desselben durch Pollutionen erfolgen k\u00f6nnen. Die Pubert\u00e4tsentwickelung beginnt in heissen Climaten fr\u00fcher. Von den heissen Gegenden Africas wird berichtet, dass sie beim weiblichen Geschlechte schon im S. Jahre eintrete und in Persien soll sie im 9. Jahre Vorkommen. Auch in unseren Gegenden sollen die Judenm\u00e4dchen fr\u00fcher als andere menstruiren. Das zeugungsf\u00e4hige Alter schliesst bei dem weiblichen Geschlecht mit dem Aufh\u00f6ren der Menstruation gegen das 45 \u2014 50 Jahr, beim m\u00e4nnlichen l\u00e4sst sich das Anfh\u00f6ren des zeugungsf\u00e4higen Alters weniger sicher bestimmen, es dauert im Allgemeinen l\u00e4nger und nicht selten zeichnen sich Greise durch die Erscheinungen der Potenz aus. Die Entwickelung der Pubert\u00e4t bringt theils \u00f6rtliche Ver\u00e4nderungen in den Genitalien, theils allgemeine hervor. Die \u00f6rtlichen bestehen in der Entwickelung der Schamhaare bei beiden Geschlechtern, in der Menstruation der M\u00e4dchen, in der reichlichen Samenbildung und der Erection bei den J\u00fcnglingen, in der V\u00f6lle ties Busens bei dem weiblichen Geschlechte. Die allgemeinen Ver\u00e4nderungen beziehen sich haupts\u00e4chlich auf die Athemwerkzeuge, Stimmwerkzeuge, die ganze Gestalt und Physio-nomie, die geistigen Zust\u00e4nde und die auf das Geschlecht bez\u00fcglichen Stimmungen. Der Umfang der Athemwerkzeuge wird im' Alter der Pubert\u00e4t gr\u00f6sser, besonders beim m\u00e4nnlichen Geschlecht, die Stimmwerkzeuge erleiden die schon bei anderer Gelegenheit bezeichnet Ver\u00e4nderung ihrer Gr\u00f6sse und Stimmung. Die Gestalt erh\u00e4lt ihre vollendetste Form und die Z\u00fcge das voll-kommne Gepr\u00e4ge der Individualit\u00e4t, sie zeigen, dass sie dem Ausdruck der Leidenschaften dienen, ohne von ihnen diejenige Sch\u00e4rfe zu erlangen, die man im Mannesalter bei vielen Individuen ein-treten sieht. Instinctartig und dunkel treten die auf das Geschlecht bez\u00fcglichen Vorstellungen ein, welche die Plastik der Phantasie in Xh\u00e4tigkeit setzen, aber indem sie in das ganze geistige Leben der","page":639},{"file":"p0640.txt","language":"de","ocr_de":"640 VII. Buch. V. d. Zeugung. II. Abschn. Geschlcchtl. Fortpflanz.\nMenschen eingreifen, in Vielen die edelsten Kridte des Geistes zur Verherrlichung der Liehe in Th\u00e4tigkeit setzen-\nDie Menstruation ist eine periodische Blulaussclieidung aus den weiblichen Genitalien, zun\u00e4chst aus der innern Wand des Uterus, sie tritt zum erstenmal gew\u00f6hnlich nach und unter einigen krankhaften Zuf\u00e4llen ein. Abdominelle Congestion, Lendenschmerzen, M\u00fcdigkeit der Unterglieder pflegen ihr vorausgehen; auch mit ihrem jedesmaligen Wiedererscheinen sind w\u00e4hrend ihrer Dauer hei den meisten Frauen einige krankhafte Erscheinungen, verschieden in verschiedenen vorhanden. Die Menstruation wiederholt sich in der Regel in Zeitr\u00e4umen von Sonnenmonaten, und dauert \u20224 \u2014 6 Tage. Bei Einigen sind ihre Perioden k\u00fcrzer bis zu 3 Wochen und seihst noch k\u00fcrzer, hei Anderen l\u00e4nger als ein Monat. Aristoteles hat die auffallende und unverst\u00e4ndliche Angabe, dass sie hei wenigen alle Monate, hei den meisten Frauen jeden dritten Monat wiederkehre. 1list. anim. 7. 2. Das abgehende Blut unterscheidet sich von anderm Blute nur durch die sehr geringe Quantit\u00e4t oder den v\u00f6lligen Mangel des Faserstoffes. Lavagna in Meckel\u2019s Archiv 1818. 4\u00df. p. 151. Die Blutk\u00f6rperchen sind darin unver\u00e4ndert. Beim schw\u00e4ngern und meist auch beim saugenden Weih fehlt die Menstruation; in seltenen Fallen dauert sie auch w\u00e4hrend der Schwangerschaft fort.\nBei den Thieren fehlt die Menstruation in der Piegel. Beim Weibchen des Cebus Azarrae beobachtete Rengger hin und wieder eine Art von Monatsfluss, welcher aber keiner bestimmten Periodicit\u00e4t unterworfen war. Er zeigte sich sehr schwach, dauerte 2\u20143 Tage und kehrte bald'nach 3, bald nach 6, bald nach 10 Wochen wieder. Er bemerkte dieses Zeichen der Mannbarkeit bei den Weibchen erst gegen das Ende des zweiten Jahres. Rengger Naturgeschichte der S\u00e4ugethiere von Paraguay. Basel 1S30. /'. 49. Geoffroy St. Hilaire und Fr. Cuvier haben zahlreiche \u00e4hnliche Beobachtungen an Affen angestellt und in ihrem Werke Ilist. nal. des mammif\u00e8res niedergelegt. Sie sahen den Blulabgang zugleich mit Anschwellung der Genitalien bei den Cereopitheeus, Macacus, Cynocephalus, behaupten aber, dass diese Erscheinung mit der monatlichen Brunst Zusammenfalle. In der Brunst zeigen auch andere S\u00e4ugethiere, Pferde, Hunde u. a. zuweilen Blutabgang. Aber die Menstruation des Menschen ist ganz verschieden und hat nichts mit der Brunst gemein.\nDie Ursache der Menstruation und ihres periodischen Wie-derkehrs ist unbekannt. Die Vorstellung der Alten von einer Reinigung des K\u00f6rpers durch die Menstruation von einer sch\u00e4dlichen Materie ist offenbar fehlerhaft; auch die Ansicht, dass sie ausser der Schwangerschaft deswegen vorhanden sei, um das|cnige Blut vom Uterus abzuleiten, welches w\u00e4hrend der Schwangerschalt zur Ern\u00e4hrung des Embryo verwandt werde, ist unbefriedigend, da es in quantitativer Hinsicht nicht auf eine so geringe Blutrnenge ankommen kann. Wahrscheinlicher klingt die Vorstellung, dass sie bestimmt sei, das menschliche Weib vor den Erscheinungen der periodischen Brunst zu bewahren. Am wahrscheinlichsten betrachtet man die Meustruulion als eine periodische Regeneration,","page":640},{"file":"p0641.txt","language":"de","ocr_de":"Von der Pubert\u00e4t.\n641\neine Art von Mauserung der weiblichen Genitalien, welche wahrscheinlich auch mit neuer Epitheliumhildung verbunden seyn wird. Die Ursache des bestimmten Periodus liegt nicht in dem Mou-deswechsel, sondern liegt im Organismus selbst, und ist wie die Ursache anderer Perioden eine innere. Denn mit dem Lichtwech-sei des Mondes steht die Menstruation durchaus nicht im Zusammenhang, sondern die Menstruationen der verschiedenen Frauen sind auf alle Tage der Monate vertheilt. Auch sind die Perioden der Menstruation in den Fallen, wo sie am regelm\u00e4ssigsten ist, keine Mondesmonate, sondern Sonnenmonate, und \u00fcberhaupt sind diese Perioden bei verschiedenen Frauen nach inneren Ursachen \u00e4usserst verschieden.\nBeim m\u00e4nnlichen Geschlecht \u00e4ussert sich das Periodische nur in der Turgescenz der Genitalien und der Sammlung der Erregbarkeit und Potenz des R\u00fcckenmarks und der Nerven f\u00fcr die geschlechtlichen Zust\u00e4nde, welche gr\u00f6ssere Erregbarkeit und Turgescenz mit derBegattung oder Pollution kritisch endet. Die Frauen sind einer solchen periodischen Aufregung viel weniger oder gar nicht unterworfen. Am entschiedensten ist die Brunst bei den Thieren. Sie f\u00e4llt bei vielen in die Zeit des Fr\u00fchjahrs, wie hei den meisten V\u00f6geln und Amphibien, vielen Fischen und S\u00e4uge-thieren, wie den Nagern, Maulw\u00fcrfen, Pferden u. a. Die Brunst mancher Thiere f\u00e4llt erst in den Sommer, wie bei mehreren Fischen, V\u00f6geln, Amphibien und S\u00e4ugethieren, bei anderen in den Herbst, wie bei vielen Wiederk\u00e4uern, bei anderen in den Winter, wie bei den Hunden, Katzen und vielen anderen reissenden Thieren. Siehe das N\u00e4here hier\u00fcber in Burdach\u2019s Physiologie. B. I. p. 381. Bei den gez\u00e4hmten Thieren ist das regelm\u00e4ssig Periodische der Brunst viel weniger deutlich, als bei den freien, und manche Thiere begatten sich in der Gefangenschaft gar nicht, wie der Elephant.\nDie Ursache des ganzen Geschlechtslebens liegt grossentheils in dem Bildungsorgan Eierstock und Hoden, und dessen Wechselwirkung mit dem ganzen Organismus. Nicht bloss bleiben bei den in der Jugend castrirten Thieren die geschlechtlichen Empfindungen und Emotionen meist aus, auch im mannbaren Alter beraubt die Castration den Organismus grossentheils von der geschlechtlichen Empfindlichkeit. A. Cooper kannte einen Mann, dem beide Hoden exstirpirt worden, w\u00e4hrend 29 Jahren. Die ersten 12 Monate hatte dieser Mann nach seiner Angabe bei Befriedigung des Geschlechtstriebes Ejaculationen oder wenigstens das Gef\u00fchl, als ob dergleichen statt f\u00e4nden. Sp\u00e4ter hatte er, doch nur selten, Erectionen und befriedigte den Geschlechtstrieb ohne das Gef\u00fchl der Ejaculation, und nach zwei Jahren waren die Erectionen sehr selten und unvollkommen und sie h\u00f6rten, sobald er den Coitus zu vollziehen suchte, sogleich auf. Zehn Jahre nach der Operation theilte er A. Cooper mit, dass er w\u00e4hrend des verflossenen Jahres den Geschlechtstrieb einmal befriedigte. 28 Jahre nach der Exstirpation des zweiten Hodens gab er an, dass er schon seit Jahren seiten Erectionen habe und dass sie dann nur unvollst\u00e4ndig seyen. Seit vielen Jahren habe er","page":641},{"file":"p0642.txt","language":"de","ocr_de":"642 VII. Buch. V. d. Zeugung. II. Absehn. Geschlecht/. Fortpflanz.\nnur selten und ohne Erfolg versucht den Geschlechtstrieb zu befriedigen; nur ein paarmal habe er woll\u00fcstige Tr\u00e4ume ohne Ejaculation gehabt. A. Cooper die Bildung und Krankheiten des Hodens. Weimar 1832. p. 21.\nII. Begattung.\nDie Th\u00e4tigkeiten bei der Begattung bestehen bei dem Manne aus zwei Elementen, der Erection und Ejaculation. Erstere erfolgt durch Zur\u00fcckhaltung des Blutes in den cavern\u00f6sen K\u00f6rpern, welches, wie Krause (Mueli,. Archiv 1837.) sehr wahrscheinlich macht, durch die Wirkung der Musculi ischiocavernosi geschieht, welche die tiefen Venen, die aus der Corpora cavernosa hervorkommen, zusammendr\u00fccken, auf die Vena dorsalis aber wohl kaum einen Einfluss haben k\u00f6nnen. Beim Pferd, wo die Venen der Corpora cavernosa so viele und verschiedene Abz\u00fcge haben, ist dieZur\u00fcckhal-turig des Blutes durch Wirkung der Muskeln schwerer zu begreifen. Man sehe jedoch hier\u00fcber Guenther Untersuchungen und Erfahrungen im Gebiete der Anatomie, Physiologie und Thierarzneikunde. Hannover 1837. Welcher Antbeil den quastartigen Anh\u00e4ngen der Arterien, Arteriae helicinae hei der Erection zukomme, ist vollends unbekannt. Auf jeden Fall kann die Erection nicht von ihnen abh\u00e4n-gen, da sie bei mehreren Thieren, wie heim Elephanten ganz fehlen, und schon bei den Pferden nur Spuren davon vorhanden sind. Bei diesen Thieren sind muskelartig aussehende Balken zwischen den Venen der Corpora cavernosa, die von Hunter zuerst beobachtet worden, am meisten ausgebildet. Die F\u00e4higkeit zur Erection h\u00e4ngt \u00fcbrigens in letzter Instanz vom R\u00fcckenmark ab, daher verliert sich diese bei Neuralgia dorsalis oder Tabes dorsalis. Das zweite Element der geschlechtlichen Action des Mannes ist die Ejaculation, w.elche eine Reflexionsbewegung ist, entstehend von den Empfindungsnerven der Ruthe. Diese Bewegung der Ejaculation besteht wieder aus zwei Elementen, aus der anhaltenden Zusammenziehung der organischen Muskelschicht der Sarnenhl\u00e4schen und der wiederholten periodischen Zusammenziehung des animalischen Muskelfleisches des Bulho-cavernosus und der Damminuskein \u00fcberhaupt. Pl\u00f6tzliche Irritation und Verletzung des R\u00fcckenmarks bewirkt auch Ejaculation, ohne dass Erection nothwendig dabei stattf\u00e4nde. Bei Gek\u00f6pften ist die Ejaculation cine gew\u00f6hnliche Erscheinung.\nDie Samenbl\u00e4schen enthalten wirklichen Samen, denn man sieht darin in den Leichen der Menschen die Samenthierchen. Sie sind also keine blossen Secretionsorgane, wof\u00fcr sie Hunter erkl\u00e4rte, Bemerkungen \u00fcber die Ihierische Oeconomie. Braunschweig 1802. p. 34. Indessen hat Hunter aus einer Reihe untersuchter F\u00e4lle bewiesen, dass bei der Exstirpation eines Hodens das Samenbl\u00e4schen dieser Seite nicht kleiner wird, und Hunter\u2019s Ansicht ist insofern wahrscheinlich richtig, als er behauptet, dass in diesen Organen eine schleimartige Fl\u00fcssigkeit abgesondert werde. Der Samen wird bei der Begattung aber zun\u00e4chst aus den Samen-blaschen ausgespritzt, und in der Harnr\u00f6hre mit dem seiner Natui","page":642},{"file":"p0643.txt","language":"de","ocr_de":"Von der Begattung.\n643\nnach unbekannten Snccns prostaticus und dem Saft der Cowper-schen Dr\u00fcsen vermischt.\nDie Begattung ist in beiden Geschlechtern mit Empfindungen der Wollust verbunden, aber der Antheil der Geschlechter an diesem Act ist sehr verschieden. Bei dem weiblichen Geschlechte wird keine Nerventh\u00e4tigkeit auf den Act einer Erection verwendet, keine rhvthmischen heftigen Zusammenziehungen erfolgen auf dem Culminationspunct der geschlechtlichen Erregung, und es wird kein Samen ergossen, die Ausscheidung beschr\u00e4nkt sich bei dem Weibe darauf, dass in Folge der erregten Empfindungen in den weiblichen Geschlechtstheilen eine Ergiessung von Schleim aus den Schleimfollikeln der Scheide erfolgt und diese schl\u00fcpfriger macht. Der Mann empfindet sich nach der Begattung ersch\u00f6pft, das Weib nicht. Aus allem diesem geht hervor, dass die Actionen des Mannes bei der Begattung in kurzer Zeit eine grosse Heftigkeit erreichen und ebenso schnell abnehmen, w\u00e4hrend diess von dem Weibe nicht behauptet werden kann. Das Organ der Wollust die Clitoris, welche bekanntermassen beim Weibe am meisten der Wollustempfindungen f\u00e4llig ist, wird nicht so wie die Ruthe des Mannes durch Friction zur Acme der Empfindungen gebracht, da sie bei der Begattung der Friction nicht ausgesetzt ist. Daher bleibt das Organ auch nach vollzogener Begattung noch zum Theil in seiner Erregbarkeit. Es wird daher nicht fehlerhaft seyn zu schliessen, dass die Empfindungen des Weibes bei der Begattung weder so schnell steigen, noch so schnell abnehmen als bei dem Manne. Und damit stimmt die Erfahrung, dass die Frauen die h\u00e4ufige Begattung leichter als die M\u00e4nner ertragen, und dass die Tabes dorsalis selbst unter den weiblichen W\u00fcstlingen selten ist, w\u00e4hrend sic beim m\u00e4nnlichen Geschlechte bekanntlich sehr h\u00e4ufig ist.\nDie Clitoris, obgleich sie ihrer Genesis nach mit der Ruthe \u00fcbereinstimmt, weicht doch wesentlich ihren Eigenschaften nach von dieser ab, dass sie in der Regel keiner eigentlichen Erection f\u00e4hig ist. Bei den Ateles ist die Clitoris regelm\u00e4ssig von ungeheurer L\u00e4nge, und hat deswegen zu den M\u00e4hrchen von der grossen Clitoris woll\u00fcstiger Aeflinnen Veranlassung gegeben. Diese Clitoris besteht aus starken cavetn\u00f6sen K\u00f6rpern, aber ich habe in diesen nichts als Fett gefunden, w\u00e4hrend die Empfindungsnerven der Ruthe, Nervi dorsales sehr dick waren. Siehe Fugger de singulari clitoridis in Simi.ii generis Ateles magnitudine et conforma-tione.Berol.lS35. Jene Bildung ist den Ateles eigen; bei den Aef-finnen anderer Gattungen zeigt die Clitoris nichts ungew\u00f6hnliches.\n1 IT. L\u00f6sung der Eier vom Eierstock und Aufnahme in die Tuben.\nDie L\u00f6sung der Eier vom Eierstock erfolgt bei den eierlegenden Thieren entweder unabh\u00e4ngig von der Befruchtung oder in deren Folge. Bei den nackten Amphibien, deren Eier ausser dem K\u00f6rper der Mutter befruchtet werden, wie bei den frosch-artigen Thieren, l\u00f6sen sich die Eier lange vor der Zeit der Be-","page":643},{"file":"p0644.txt","language":"de","ocr_de":"644 VIJ. Buch. V. (J. Zeugung. II. Ahschn. Geschlech\u00dc. Fortpflanz.\nfruclitung bereits vom Eierstock ab, uncl werden in die Tuba aufgenommen. Die allm\u00e4hlig abgegangenen Eier sammeln sieb auf diese Weise beim weiblichen Frosch im Eierleiter an, und dehnen ihn zu einem grossen Umfange aus. Erst bei der Begattung und in Folge einer durch dieselbe entstehenden Erregung der Th\u00e4tigkeit des Eierleiters werden sie ausgetrieben, und sofort von dem das Weibchen umfasst haltenden M\u00e4nnchen befruchtet.\nAuch bei den Fischen scheinen sich die Eier unabh\u00e4ngig von der Befruchtung vom Eierstock zu l\u00f6sen. Denn auch die grosse Mehrzahl der Fische begattet sich nicht. Die br\u00fcnstigen M\u00e4nnchen und Weibchen begleiten sich, die Weibchen legen ihre Eier, und diese werden von den M\u00e4nnchen, welche ihren Samen ins Wasser lassen, befruchtet. Indessen werden die Eier mancher Fische, wie des Blennius viviparus und anderer lebendig geb\u00e4render Fische schon innerhalb der Mutter befruchtet, mag nun der von den M\u00e4nnchen ins Wasser gelassene Samen in die Ge-schlecbtstheile des Weibchens eindringen, oder eine wirkliche Begattung erfolgen, wie bei den Haien und Rochen.\nAuch die V\u00f6gel, welche nach der Begattung und Befruchtung Eier zu legen anfangen, fahren gleichwohl im Eierlegen fort, aucii wenn sie von den M\u00e4nnchen isolirt werden, und auch hier zeigt sich die Abl\u00f6sung des Eies von der Befruchtung unabh\u00e4ngig. Ebenso legen auch die Insecten und namentlich die Schmetterlinge, auch wenn man sie ganz von den M\u00e4nnchen nach der Verpuppung und Verwandlung isolirt hat, ihre reifen Eier.\nBei den S\u00e4ugethieren hingegen scheint die L\u00f6sung der Eier von der Befruchtung abh\u00e4ngig zu seyn. Man will zwar auch schon bei noch jungfr\u00e4ulichen Subjecten Narben des Eierstocks von abgegangenen Eierchen bemerkt haben. Home Phil. Trans. 1819. Indess ist diess gewiss nicht der gew\u00f6hnliche Hergang; dagegen beobachtet man regelm\u00e4ssig erst nach einer fruchtbaren Begattung eine Turgescenz eines oder mehrerer GRAAF\u2019schen Bl\u00e4schen, und kurze Zeit nach der Begattung erfolgt die Dehiscenz des ger\u00f6theten Bl\u00e4schens an der hervorragendsten Stelle und die Aufnahme des Eies in die Tuba. Die in dem Eierstock in Folge einer fruchtbaren Begattung eintretende Ver\u00e4nderung, die Dehiscenz der' Eicapsel und das Austreten des Eichens sind ferner die Wirkung des Samens auf den Eierstock selbst, und nicht bloss seine Wirkungen auf die \u00e4usseren Theile der weiblichen Ge-schlechtstheile. Denn Biscuoff und Barry haben die wichtige Beobachtung gemacht, dass der Samen bei S\u00e4ugethieren, deren Befruchtung eingeleitet worden war, durch die ganze L\u00e4nge der Tuba bis zum Eierstock geleitet wird.\nDie Kr\u00e4fte, welche bei der Aufnahme der unbefruchteten oder befruchteten Eier in die Tuba mitwirken, sind bei weitem noch nicht genau gekannt.\nBei den S\u00e4ugethieren und V\u00f6geln ist diese Aufnahme durch die N\u00e4he des Eierstocks und des Trichters der Tuba erleichtert, aber man hat bisher noch nicht erkl\u00e4ren k\u00f6nnen, wie es kommt, dass die Tuba mit ihren Fimbrien oder mit ihrem Trichter sich zu dieser Zeit an den Eierstock, und gerade an dem Theil des-","page":644},{"file":"p0645.txt","language":"de","ocr_de":"L\u00f6sung <1er Eier vom Eierstock.\n645\nselben anlegt, dessen Eicapsel in der Dehiscenz begriffen ist. Bei S\u00e4ugethieren ist diese aufrichtende Turgescenz der Tuba und dieses enge Anschl\u00fcssen an den Eierstock vielfach beobachtet von DeGraaf, Kuhlemann, Haighton, Cruikshank, v. Baer, Wagner. Man findet das Umfassen des Eierstocks durcli die Tuba in den ersten Tagen nach der Begattung, v. Baer sah es bei Schweinen und Schafen bis zur vierten Woche, Wagner nach S\u201410 Tagen nicht mehr.\nWeniger noch ist der \u00fcebergang der Eier in die Tuba bei denjenigen Thieren begreiflich, deren Tubenm\u00fcndung weit vom Eierstock entfernt liegt, wie bei den nackten Amphibien, wo das Ende der Tuba bis in den obersten Tlieil der Bauchh\u00f6hle und weit \u00fcber den Eierstock hinaufreicht, und bei den Haien und Rochen, wo die Verh\u00e4ltnisse dieser Aufnahme noch ung\u00fcnstiger sind. Denn hier befindet sich die gemeinschaftliche M\u00fcndung beider Tuben in der Mitte \u00fcber der Leber, unter dem Zwerchfell, welches die Fovea cardiaca von der Bauchh\u00f6hle absondert. Die Eierst\u00f6cke dagegen befinden sich nach aussen von der Leber, oder auch bei einigen, den Scy Ilium, Mustelus und Carcharias, in der Mitte unter der Leber vor der Wirbels\u00e4ule. Es ist sehr wahrscheinlich, dass hier die Wimperbewegung der Oberfl\u00e4chen zwischen Eierstock und Tuba vermittelnd eintritl. Daf\u00fcr spricht die von Mayer am Peritoneum der Fr\u00f6sche entdeckte Wimperbewegung. Diese Bewegung, w-elehe sich in den Tuben der S\u00e4ugethiere und bis auf die innere Fl\u00e4che der Fimbrien erstreckt, muss auch bei den S\u00e4ugethieren vielen Antheil an der Aufnahme des Eies in die Tuba haben. Henle hat beim Menschen auch an der \u00e4ussern Oberfl\u00e4che der Fimbrien noch Fhmmerepithe-lium beobachtet. Muell. Arch. 1S38. 114.\nDie Ver\u00e4nderungen, welche der Ausstossung des Eies aus seiner Capsel vorhergehen und welche in dieser Capsel folgen, sind folgende. Bei den Eierlegern und S\u00e4ugethieren schwillt der hintere Theil der Capsel vor dem Austritt des Eies an ; aber bei den S\u00e4ugethieren ist die Anschwellung viel st\u00e4rker und \u00fcberaus gef\u00e4ss-reich, und sie geht hier so weit, dass schon vor dem Austritt des Eies das Innere der Capsel durch eine br\u00e4unlich gelbliche Substanz grossentheils ausgef\u00fcllt wird. Auf diese Weise wird das Contentum der Capsel gegen die d\u00fcnner gewordene Oberfl\u00e4che vorgetrieben, welche halbkugelf\u00f6rmig \u00fcber den Follikel, mitsammt dem Eichen, das unter der verd\u00fcnnten Oberfl\u00e4che liegt, vorspringt. Dann entsteht die Durchbohrung Stigma, die H\u00f6hle des Follikels erscheint sogleich nach dem Austritt des Eichens sehr enge. Die verengte H\u00f6hle des Follikels wird bald von einer k\u00f6rnigen Masse ausgef\u00fcllt, und es entsteht eine Art Wrarze an der fr\u00fchem Oeff-nung, die nachher verschwindet, worauf das Corpus luteum eine runde Form bekommt. Siehe Valentin und Bernhardt a. a. O. Bei den Eierlegern wird der ge\u00f6ffnete Kelch nach der Entfernung des Eies allm\u00e4hlig kleiner und in die Masse des Eierstocks zur\u00fcck-gebildet.","page":645},{"file":"p0646.txt","language":"de","ocr_de":"646 VII. Buch. V. d. Zeugung. II. Ahschn. Geschlechtl. Fortpflanz.\nIV. Befruchtung.\nMan kann sich die Einwirkung des Samens zur Befruchtung auf verschiedene Weise denken. Entweder wirkt der Samen zun\u00e4chst auf das weibliche Individuum ein, und von diesem aus erfolgt das Weitere, oder der Samen wirkt auf das Ei ein. Im erstem Fall kann man sich eine unmittelbare Erregung der weiblichen Genitalien durch den Samen und als deren Folge die Befruchtung denken, oder man kann eine Aufnahme des Samens in das Blut des weiblichen K\u00f6rpers voraussetzen und von dort aus sowohl die Wirkung auf den Eierstock, als die weiteren Wirkungen der Befruchtung erfolgen lassen. Es hat selbst nicht an Schriftstellern gefehlt, welche sich von diesen Theorien aus eine Befruchtung auf anderen Wegen durch den dem Blut eingeimpften Samen m\u00f6glich dachten. Beobachtungen zeigen, dass die Befruchtung nicht anders erfolgt, als durch Wirkung des Samens auf das Ei seihst. Diess wird bewiesen theils durch die Versuche von HArGHTON, welcher durch Unterbindung einer Tuba auf einer Seite die Befruchtung durch Begattung f\u00fcr diese Seite unm\u00f6glich machte, w\u00e4hrend die Befruchtung regelm\u00e4ssig auf der freien Seite erfolgte (Philos. Trans. 1797. p. 1. 159. Reil\u2019s Archiv III. 31). Theils wird es bewiesen durch die ohne allen Antheil der Mutter und der weiblichen Genitalien ausgef\u00fchrten Befruchtungen, theils nat\u00fcrlicher, theils k\u00fcnstlicher Art. Ohne Mitwirkung der weiblichen Genitalien werden die Eier schon bei den Fr\u00f6schen befruchtet, indem der Samen der M\u00e4nnchen erst nach dem Austritt der Eier \u00fcber diese ergossen wird. Die k\u00fcnstlichen Befruchtungen der aus dem Leibe eines weiblichen Frosches ausgenommenen Froscheier durch den aus dem Hoden oder Samenbl\u00e4schen des M\u00e4nnchens genommenen Samen sind seit Spallanzani ber\u00fchmt geworden. Die Befruchtungen gelingen durch unmittelbaren Contact beiderlei Theile, aber die Befruchtung wird verhindert wenn ein d\u00fcnnes, undurchdringliches Medium Taffet den Samen des in der Begattung begriffenen Frosches von den Eiern absondert. Uebrigens gelingen die k\u00fcnstlichen Befruchtungen hei kaltbl\u00fctigen Thieren seihst mehrere Stunden nach den\u00bb Tode der Individuen, woraus Samen und Eier genommen weiden. In der neuern Zeit hat Rusconi gleich gl\u00fcckliche k\u00fcnstliche Befruchtungen von Fischeiern bewirkt. Muell. Archiv 1836. ^78. Wie es bei der Befruchtung nicht wesentlich auf die Mitwirkung des ganzen m\u00e4nnlichen Organismus, sondern nur auf dessen Samen ank\u00f6mmt, und dass derselbe bei den S\u00e4ugethiereri tiefer in die weiblichen Geschlechtsorgane eingef\u00fchrt werde, wird auch durch die bereits durch Spallanzani und Rossi ausgef\u00fchrten k\u00fcnstlichen Befruchtungen durch den mit einer Spritze in die Genitalien einer H\u00fcndin eingef\u00fchrten Samen eines Hundes bewiesen. Es kann daher in keiner Weise bezweifelt werden, dass es bei der Befruchtung nicht auf die Einwirkung des m\u00e4nnlichen auf das weibliche Individuum, sondern des Samens auf den weiblichen Keim ankommt, die Befruchtung mag ausgef\u00fchrt werden, wo sie immer will\u00ab","page":646},{"file":"p0647.txt","language":"de","ocr_de":"Von der Befruchtung. Ort.\n647\nMan li\u00e2t die Einwirkung des Samens auf das Ei tlieils f\u00fcr unmittelbar, tlieils durch Mittheilung in Distans durch eine sogenannte Aura seminalis m\u00f6glich gehalten. Dass die letztere Annahme falsch ist, ergiebt sich bereits aus Spallanzani\u2019s Beobachtungen, welcher die k\u00fcnstliche Befruchtung der Froscheier nur dann erzielen konnte, wenn er sie unmittelbar mit Froschsamen in Contact brachte. Die Befruchtung blieb hingegen aus, wenn er die Eier dicht \u00fcber den Froschsamen aufhing. Wurden 3 Gran Samen mit 18 Unzen Wasser sehr verd\u00fcnnt, so reichte diese Fl\u00fcssigkeit gleichwohl zur Befruchtung durch Contact hin. Mit einem Tr\u00f6pfchen davon konnte Spallanzani noch Froscheier befruchten. Siehe Spallanzani experiences pour servir \u00e0 l\u2019histoire de la g\u00e9n\u00e9ration. Geneve 17S6. Aber auch die Forlleitung des Samens bei den S\u00e4ugethieren aus dem Uterus in die Tuben bis zum Eier-stock beweist die JNothwendigkeit des Contactes des Eies und des Samens zur Befruchtung bei allen Thieren. Der Samen gelangt nach der Begattung oder bei derselben in den Uterus. Schon Leeuwenhoek, fand die Samenthiereben vielfach im Uterus der S\u00e4ugethiere nach der Begattung. Pr\u00e9vost und Dumas fanden die Samenthierchen 24 Stunden nach der Begattung im Uterus der Thiere, und nach 3-\u20144 Tagen in den Tuben. Ann. d. sc. nat. III. 11.9. Bischoff\u2019s Beobachtungen reichen noch weiter. Er fand die Samenthierchen einer H\u00fcndin, welche 19 Stunden und dann eine halbe Stunde vor der Section zum zweiten Mal belegt war, auf und zwischen den Fimbrien. Ebenso in einem zweiten Fall 48 Stunden nach der Begattung nicht bloss im Uterus und in den Tuben, sondern am Eierstock selbst. Der Contact des Samens und Eies ist also auch hier eine Thatsache. Wagner Physiol. 49.\nDer Ort, wo die Befruchtung geschieht, ist sehr verschieden. Wir haben schon gesehen, dass das Ei sich vor der Befruchtung abl\u00f6sen kann, und in anderen F\u00e4llen nach der Befruchtung sich vom Eierstocke abl\u00f6st. Es l\u00e4sst sich daher ein dreifacher Fall denken.\na. Die Befruchtung erfolgt ausserhalb des weiblichen Organismus.\nWir haben schon die hierher geh\u00f6rigen F\u00e4lle von den mehr-sten nackten Amphibien und Fischen kennen gelernt.\nI. Die Befruchtung erfolgt am Eierstock selbst.\nHierher geh\u00f6ren jedenfalls die Saugethiere und der Mensch. Schon die Existenz der Graviditas extrauterina, wo das Ei sich im Eierstock selbst entwickelt, oder vom Eierstock abfallend in die Bauchh\u00f6hle ger\u00fctb, und sich hier entwickelt, beweisen die Befruchtung am Eierstock f\u00fcr jene F\u00e4lle. Die Beobachtungen von Bisch\u00f6fe und Barry \u00fcber die Fortleitung der Samenthierchen bis zum Eierstock beweisen aber diese Befruchtung als allgemeine Thatsache. Die Fortleitung bis zu dieser Stelle ist nach der Entdeckung der Wimperbewegung in den weiblichen Genitalien kein Gegenstand der Erkl\u00e4rung mehr. Wie schnell diese Art von Leitung an den W\u00e4nden der Organe geschehe, kann man leicht beim Frosch sehen, indem man nach Shakpey nach abgeschnit-M it 11 er\u2019s Physiologic. 2r Bd, J11.\t42","page":647},{"file":"p0648.txt","language":"de","ocr_de":"648 VII. Buch. V. (1. Zeugung. II. Abschn. Gcschlechtl. Forlpflmiz.\ntenem Unterkiefer den Gaumen mit Kohlenpulver bestreut. Dasselbe r\u00fcckt sichtlich und ziemlich schnell gegen die Fauces fort, und ist oft nach einigen Minuten schon nicht mehr zu sehen. Es kann jetzt nur gefragt werden, wie die Samenthierchen in den Uterus gelangen. Hierzu reicht die Wimperbewegung nicht aus, denn sie findet heim Menschen in der Scheide nicht statt, und das Wimperepithclium findet sich nach den Beobachtungen von Henle erst gegen die Mitte vom Halse des Uterus. So eng indess das Orilicium uteri hei jungen Suhjecten ist, so l\u00e4sst sich doch sehr gut begreifen wie der Samen hei der Begattung in den Uterus gelange. In dem Moment, wo sich das Ende der Ruthe und das Orilicium uteri ber\u00fchren, bilden sie fast einen zusammenh\u00e4ngenden Leitungsapparat, dessen Continuit\u00e4t wird zwar durch die Begattungsbewegungen unterbrochen, allein das die Scheide im steifen Zustande ausf\u00fcllende membrum wirkt, auch bei dem wiederholten Vordringen in den Grund derselben, wie der Stempel eines Spritzwerkes, und treibt den im Grunde der Scheide bereits ergossenen Samen in das Orilicium uteri ein, welches, so lange die Ruthe ihre Steifigkeit erh\u00e4lt, der einzige Ausweg ist.\nDie M\u00f6glichkeit einer Befruchtung bei noch vorhandenem Hymen oder bei kurzem Gliede und Hypospadie l\u00e4sst sich aus dem Vorhergehenden nicht erkl\u00e4ren. Welche Umst\u00e4nde bei diesen seltneren Erscheinungen mitwirken, ist unbekannt. Siehe \u00fcber die hierher geh\u00f6rigen F\u00e4lle Burdach\u2019s Physiologie I. 528. Uebrigens scheinen mir bloss die F\u00e4lle von Befruchtung bei noch vorhandenem Hymen beweisend zu sevn. Denn an den Menschen lassen sich in der andern Hinsicht keine reinen Beobachtungen anstellen und es ist immer Sache des Glaubens, dass eine Person durch einen Hypospaden und nicht durch einen Andern befruchtet worden sev.\nc. Ei und Samen begegnen sieh innerhalb des Lcitungsapparales.\nDa die Eier bei den V\u00f6geln auch ohne Befruchtung abgehen, so l\u00e4sst sich einsehen, wie sie nicht bloss durch Fortleitung des Samens an den W\u00e4nden des Eileiters von der Cloakc bis zum Eierstock, verm\u00f6ge der Wimperbewegung, befruchtet werden, sondern wie auch die schon vom Eierstock abgel\u00f6sten und in der Tuba befindlichen Dotter, so lange sie noch nicht mit Eiweiss und Schale umgeben sind, von dem an den W\u00e4nden aufsteigenden Samen befruchtet werden.\nDie Tritonen begatten sich nicht f\u00f6rmlich, das M\u00e4nnchen schl\u00e4gt das Weibchen mit dem Schw\u00e4nze, und l\u00e4sst seinen Samen ins Wasser, wie Spallanzani und Rusconi beobachteten. Von da kann er in die Genitalien des Weibchens eindringen, welches seine Eier von sich giebt und an Bl\u00e4ttern befestigt.\nBei den ovoviviparen Species der eierlegenden Thiere, wo sich das Ei innerhalb des Uterus oder Eierleiters ohne Anheftung und ohne Placenta in einer, in diesen F\u00e4llen weichen Schalenhaut entwickelt, ist es ungewiss, ob die Befruchtung am Eierstock schon oder im Eierleiter erfolge, wie bei den ovoviviparen Al ten","page":648},{"file":"p0649.txt","language":"de","ocr_de":"l'on dter Befruchtung. Pflanzen.\n(!!!)\n<ler Rochen und Haifische, dem RIcnnius (Zoarces) viviparus, der Salamandra maculata, den Vipern u. a.\nEine der interessantesten Variationen in Hinsicht der Befruchtung Rieten die Insecten dar. Die Weibchen dieser Thiere haben einen mit der Vagina verbundenen Sack oder Cnpsel, worin der Samen bei der Begattung gelangt, und worin mgn die Samen-thierchen lange nach der Begattung noch antrifl\u2019t. Hier k\u00f6nnen die Eier successive abgehend dem befruchtenden Einfluss des Samens ausgesetzt werden. Indessen fehlt es noch immer an einem sichern Beweise, dass der Samen nicht successive zum Eierstocke gelange, und bei den Insecten, deren Eier eine sehr feste Schale bereits in den Eierr\u00f6hren erhalten, wie hei den Phasmen, w\u00fcrde die Befruchtung w\u00e4hrend dem Legen der Eier sehr erschwert seyn. Bei manchen Insecten hingegen ist die Befruchtung der Eier auf ihrem Wege wohl nicht zu bezweifeln, wie nach v. SrE-boi.d\u2019s Untersuchungen bei dem lebendig geb\u00e4renden Melophagus ovinus. Hier m\u00fcnden die Eierst\u00f6cke in einen Beh\u00e4lter, der sich in den Uterus \u00f6ffnet. Der Beh\u00e4lter ist erst nach der Begattung mit Samenthierchen gef\u00fcllt. Die Eier gehen hier durch die Sa-mencapsel durch und man sieht ein, wie ein Insect nach einer einmaligen Begattung nach einander lebendige Jungen zur Welt bringen kann. Ueber diesen Gegenstand haben wir ausf\u00fchrliche Untersuchungen von Siebold erhalten. Muell. Arch. 1837. p. 381.\nDer innere Vorgang bei der Befruchtung ist noch g\u00e4nzlich unbekannt, und hab bis jetzt um so weniger schon erkannt werden k\u00f6nnen, da man fr\u00fcher noch in Hinsicht der Vorfragen \u00fcber den Ort der Befruchtung ungewiss war. Haupts\u00e4chlich w\u00e4re es von Wichtigkeit zu wissen, welche Rolle dabei die Samenthierchen spielen, ob sie dazu dienen, die befruchtende Materie nur zu verbreiten, gleichwie die Insecten durch Verbreitung des Pollens zur Befruchtung der Pflanzen mitwirken, oder ob in ihnen selbst wesentlich das befruchtende Princip enthalten ist. F\u00fcr das Letzte sprechen die Ver\u00e4nderungen, welche sie hei den Bastarden nach R. Wagner\u2019s Beobachtungen erleiden. Siehe oben <>.\u201837. In einem n\u00e4hern Verh\u00e4ltniss zum Keimbl\u00e4schen stehen sie jedenfalls nicht, denn dieses verschwindet schon in den unbefruchteten Eiern der Eierleger zur Zeit, als sie sich vom Eierstock abl\u00f6sen. Siehe oben 631. Ebenso wenig darf man daran denken, dass die Samenthierchen selbst zu Embryonen werden. Die Keimscheibe der befruchteten und unbefruchteten Eier ist sich gleich, und der Embryo entsteht zun\u00e4chst durch Vergr\u00f6sserung der Keimscheibe zur Keimhaut und weitere, gut zu verfolgende Organisation der letztem. Die Physiologie der Pflanzen ist in Hinsicht des Actes der Befruchtung einen Schritt weiter gediehen. Deswegen ist es auch f\u00fcr die Physiologie der Thiere von Wichtigkeit, zu vergleichen, was hier geschehen ist.\nDie bisher f\u00fcr m\u00e4nnlich gehaltenen Organe der h\u00f6heren Pflanzen sind die Antheren. Die Pollenk\u00f6rner derselben enthalten die befruchtende halbfl\u00fcssige Materie, Fovilla; in dieser beobachtet man K\u00fcgelchen, deren Bewegungen noch jetzt ein Gegenstand des Streites sind. Siehe Mf.yen a. a. O.\n42","page":649},{"file":"p0650.txt","language":"de","ocr_de":"G50 VII. Buch. V. \u00e0. Zeugung. II. Ahschn. Geschlechtl. Fortp\u00dfanz.\nDer weibliche Thcil der Bl\u00fctben ist das Pistill, [sein oberer Theil ist die Narbe Stigma, sein unterer, der Fruchtknoten Ger-men, in welchem sich die Eichen lange vor der Befruchtung bilden. Beide sind bei den meisten Pflanzen durch eine R\u00f6hre den Griffel verbunden. Die Substanz des Griffels besteht im In nern aus einem zeitigen Gewebe, welches entweder den ganzen Griffel bis zum Fruchtknoten ausf\u00fcllt, oder gew\u00f6hnlicher eine centrale H\u00f6hle des Griffels einschliesst, welche von dem obern Ende des Griffels Stigma bis zum Fruchtknoten hinabreicht, und sich in so viel Forts\u00e4tze theilt, als Eier vorhanden sind. Das Ei hat meist zwei H\u00e4ute, welche das zellige Perisperm einscbliessen, durch den Nabelstrang h\u00e4ngen diese H\u00e4ute mit dem Fruchtknoten zusammen, er leitet die Gef\u00e4sse zum Ei, wo sie in den H\u00fcllen des Eies endigen. An einer andern Stelle befindet sich in diesen H\u00e4uten eine Oeffnung, die Micropvle, welche zu dem Innern des Eiebens oder zum Perisperm f\u00fchrt. Aus dieser Oeffnung tritt das Perisperm oder der Nucleus des Eichens bei vielen Pflanzen als ein freies Z\u00e4pfchen, Kernz\u00e4pfchen hervor. Der Nucleus enth\u00e4lt in sich eine H\u00f6hle, den Embryosack oder Keimsack, welcher von einer einfachen Zelle gebildet wird, und welcher f\u00fcr die Befruchtung von grosser Wichtigkeit ist.\nZur Zeit der Befruchtung der Pflanzen n\u00e4hern sich in den hermaphroditischen Bl\u00fctben die Antheren der Narbe und best\u00e4uben sie mit dem Pollen; bloss weiblichen Bl\u00fctben wird der Pollen theils durch den Wind, theils durch Insecten, oft \u00fcber betr\u00e4chtliche Strecken zugef\u00fchrt. Der n\u00e4here Vorgang der Befruchtung ist in der neuern Zeit erst erkannt worden. Amici beobachtete, dass die Pollenk\u00f6rner auf der Narbe R\u00f6hren aus sich austreiben, und Brongniart verfolgte diese sich verl\u00e4ngernden R\u00f6hren bis in das Gewebe des Stigma. Diese Pollenschl\u00e4uche entstehen aus der innern Membran der Pollenk\u00f6rner, und wachsen durch wahre Vegetation und Aneignung von Stoffen, die sie aus der Narbe anziehen. Seither sind diese Schl\u00e4uche durch den Griffelkanal oder durch das Zellgewebe des Griffels bis zu den Eichen, zur Micropyle verfolgt worden, und der Process der Befruchtung ist durch die Beobachtungen von R. Brown, Horkel, Schleiden, Meyen f\u00fcr viele Pflanzen factisch festgestellt. Diese Beobachtungen haben aber auf Meinungsverschiedenheiten in Hinsicht des Geschlechtes der Pflanzen gef\u00fchrt. Mirbel betrachtete die Befruchtung der Pflanzen als die Impfung einer m\u00e4nnlichen Zelle auf eine weibliche. Nach Schleiden\u2019s Untersuchungen (Wiegmann\u2019s Archw 1837. I. p. 291. Noe. act. naf. cur. XIX. p. 1.) wird hingegen der Pollenschlauch selbst zum Embryo, indem er in die Micropyle eingetreten den Embryosack vor sich hertreibt und einst\u00fclpt, und eine aus diesem Theile des Pollenschlauches sich abschn\u00fcrende Zelle ist der Anfang des Embryo, welcher die Bildung neuer Zellen veranlasst. Nach dieser, auf zahlreiche Beobachtungen gest\u00fctzten Ansicht ist die Lehre vom Geschlecht der Pflanzen g\u00e4nzlich zu reformiren, und die f\u00fcr weiblich gehaltenen Organe sind vielmehr f\u00fcr die Bruth\u00e4lter der ihnen eingeimpften Embryonen zu halten. Von anderen Seiten und namentlich durch Tre-","page":650},{"file":"p0651.txt","language":"de","ocr_de":"Von der Befruchtung. Pflanzen.\n651\nviRANUS und Meyen wird hingegen die alte Ansicht vom Geschlecht der Pflanzen vertheidigt.\nNach Meyen besteht die Befrachtung der Pflanzen darin, dass der Pollen eine kleine Menge der befruchtenden Substanz in die H\u00f6hle des Nucleus f\u00fchrt, welche sich mit der bildungsf\u00e4higen Schleimmasse der H\u00f6hle des Embryosackes vereinigt, W\u00e4hrend der \u00fcbrige Theil des Pollenscblauches sich abschn\u00fcrt, durch die Schleimmasse der Nucleush\u00f6hle oder des Embryosackes ern\u00e4hrt, w\u00e4chst der mit der Nucleush\u00f6hle vereinigte Theil zu einem Schlauche, in dessen Innern sich Zellen bilden. Meyen nennt das Bl\u00e4schen, welches sich nach dem Eindringen des Pollenschlauches in der H\u00f6hle des Nucleus zeigt, oder welches nach der Vereinigung des Pollenscblauches mit dem Embryosacke entsteht, das Keimbl\u00e4schen, durch die Vegetation desselben oder die Zellenbildung in seinem Innern entsteht der Embryo.\nEs scheint, dass man zun\u00e4chst in Hinsicht des Vorganges der Befruchtung bei den Pflanzen Beobachtung und Theorie ganz trennen muss. Es wird sich zun\u00e4chst darum handeln, ob die Beobachtung von dem Eindringen des Pollenscblauches in den Nucleus durch Einst\u00fclpung des Embryosackes richtig ist, und ob sich der so eingedrungene Theil zum Embryo abschn\u00fcrt, oder ob, wie Meyen annimmt, das von ihm sogenannte Keimbl\u00e4schen etwas ganz Neues und ein Product aus der Vereinigung aus dem befruchtenden Inhalt des Pollenschlauches und dem Schleim des Embryosackes ist.\nDie Bildung der Mittelform bei der Bastarderzeugung, woraus man sieht, dass die weibliche und m\u00e4nnliche Pflanze gleichviel zur Erzielung der Pflanzenform beitragen, beweist wohl f\u00fcr keine der beiden Ansichten. Denn wenn auch der Embryo nach der ScHLEiDEN\u2019schen Ansicht zun\u00e4chst nur ein, in den Nucleus einge-impfter Theil des Pollenscblauches ist, und wenn dieser zun\u00e4chst der fortwachsende Embryo ist, so wird dabei eine dynamische Wirkung der S\u00e4fte des Nucleus auf diesen Theil nicht ausgeschlossen, und auch w'enn jenes factiseh ist, wird die Befruchtung doch zun\u00e4chst nur darin bestehen, dass ein Theil des Pollenscblauches durch die Wechselwirkung mit dem Nucleus f\u00e4hig zur Vegetation in der Form der Pflanzenspecies wird. Ohne diese Einwirkung wird der Pollenschlauch zwar einer Vegetation f\u00e4hig seyn, die er ja zu \u00e4ussern beginnt, noch ehe er den Nucleus erreicht, aber nicht der Vegetation in der ganzen Form der Pflanzenspecies. Auch bei den Thieren k\u00f6mmt das, was durch die Befruchtung zur Vegetation f\u00e4hig wird, von einem der Geschlechter, der Keim, ja der befruchtete Keim unterscheidet sich sogar nicht von dem unbefruchteten.\nOb nun der dem thierischen weiblichen Keim vergleichbare Theil der Pflanzen wirklich das Pollenkorn oder das bisher sogenannte Pflanzenei ist, wird sich aus dein weitern Fortschritt der Beobachtungen ergeben m\u00fcssen.","page":651},{"file":"p0652.txt","language":"de","ocr_de":"652 VJI. Buch. V. d. Zeugung. II. Absolut. Geschlechtl. Fortpflanz,\nVI. Capitol. Theorie der geschlechtlichen Zeugung.\na. C. Fr. Wolff\u2019s Ansicht von der Befruchtung der Pflanzen und Tliiere. Theorie der Generalion. Halle 1764. p. 222.\nC. Fr. Wolff geht hei seiner Lehre von der Conception von dem Grundgedanken aus, dass die Vegetation der Pflanzen durch die Fructification ihr Ende erreicht und dass das Ende der Achse, sobald die Bildung der Bl\u00fcthe an dieser Stelle eintritt, auch zur Fortsetzung der Achse in der Form der Knospen unf\u00e4hig wird. Er beweist sodann, dass die Fructifieationsorgnue selbst nur ino-dificirte Blatter sind. Der Kelch ist, sagt er, bei der Sonnenblume, nichts als eine Anzahl dicht zusammengeh\u00e4ufler kleinerer Bl\u00e4tter, als die gew\u00f6hnlichen sind. Die Blumenbl\u00e4tter sind wiederum nichts anders, wie die Gr\u00e4ser beweisen. Die Blumenkrone der Gr\u00e4ser ist vom Kelch nicht unterschieden; und sie ist von den vorhergehenden gew\u00f6hnlichen grossen Bl\u00e4ttern ebenso und nicht anders verschieden, als der Kelch von ihnen verschieden ist. Die Farbe ist nicht wesentlich und tritt oft ailm\u00e4iig auf. Die Statice hat viele Kelche, der unterste ist blass und ohne Farbe, die folgenden fallen immer mehr ins r\u00f6tldiche; der oberste, die Blume selbst, ist am st\u00e4rksten gef\u00e4rbt, aber die Figur nicht im geringe sten von den vorhergehenden Kelchen verschieden. Die Samenkapseln verrathen ihre Natur als Bl\u00e4tter, wenn sie reif sind und von einander springen, eine jede Valve! ist dann ein wahres Blatt. Mit dein Samen ist es ebenso. Sobald er in die Erde gesteckt wird, gehen seine Seitentheile in Bl\u00e4tter \u00fcber.\nWolff beweist sodann, dass die Modification der Bl\u00e4tter hei der Bildung der Bl\u00fcthe in einer Hemmung der Vegetation bestellt. Die Bl\u00e4tter, welche den Kelch der Sonnenblume ausmachen, sind kaum den achten Theil so breit als die gew\u00f6hnlichen Bl\u00e4tter und viel k\u00fcrzer. Die Bl\u00e4tter des Kelchs und der Blume der Gr\u00e4ser sind kaum den 50. Theil so lang als die gew\u00f6hnlichen Bl\u00e4tter. Er f\u00fcgt hinzu, dass auch die gew\u00f6hnlichen Bl\u00e4tter einer Pflanze vor der Bl\u00fcthenbildung nach und nach unvollkommen werden. In der Sonnenblume und vielen anderen geschieht diess so deutlich, dass man nicht sagen kann, wo die gew\u00f6hnlichen Bl\u00e4tter der PH anzen aulh\u00f6ren, und wo die zum Kelch geh\u00f6renden anfangen. Alan kann hinzuf\u00fcgen, dass die Internodien bis zur Bl\u00fcthe immer k\u00fcrzer werden, und dass man in der Stellung der Bl\u00e4tter des Kelches hei manchen Pflanzen noch deutlich die Spur einer Spirale wahrnimmt, welche die Blattstellung am Stengel beherrscht. Die Vegetation wird also, schliesst Wolff, gegen die Bliilhe immer unvoilkommner und schw\u00e4cher, sie muss endlich ganz aufh\u00f6ren. Dieses v\u00f6llige Aufh\u00f6ren nun geschieht hei dem Samen. Die Hemmung der Vegetation beruht in dem Mangel der S\u00e4fte, und dieses gellt aus dem Vertrocknen und Abf\u00e4llen der Frucht hervor. Setzt man aber eine Pflanze, von der man ungef\u00e4hr weiss, wie viel Schlisse von Bl\u00e4ttern sic bekommen muss, che die Fructification erfolgt, in ein sehr mageres Erdreich, so","page":652},{"file":"p0653.txt","language":"de","ocr_de":"653\nTheorie dev Conception.\nwird sie ausserdem, dass ihre Blatter selir klein und unvollkommen werden, auch wenn sie sonst 6 Aussch\u00fcsse von Blattern his zur Fructification macht, jetzt kaum 3 gemacht haben, so wird die Fructification schon eintreten. Wird dieselbe Pflanze in ein sehr feuchtes und fruchtbares Erdreich gesetzt, so werden ihre Bl\u00e4tter nicht nur gr\u00f6sser und vollkommner, sondern statt sie gew\u00f6hnlich 6 Aussch\u00fcsse von Bl\u00e4ttern bekommt, wird sic jetzt 9 hervorbringen. Wenn ferner eine Pflanze in guter Erde mit der Fructification zaudert, und immer noch Bl\u00e4tter treibt, so darf man sie nur in magere Erde versetzen und die Fructification wird sogleich eintreten. Endlich kann man hei einer Pflanze, die in einer magern Erde schon den Kelch und die Anf\u00e4nge der Blumenkrone und '\\ntheren formirt hat, und in fruchtbare Erde schnell versetzt wird, sehen, w'ie die Antheren wegen des Ueber-flusses an A ah rungssto\u00df in Blumenbl\u00e4tter sich verwandeln.\nFerner sagt Wolff sind die ersten Theile der jungen Pflanze, die durch die Kraft des hinzukommenden m\u00e4nnlichen Samens erzeugt werden sollen, von den gew\u00f6hnlichen Bl\u00e4ttern der alten Pflanze nicht verschieden. Die junge Plumula ist aus jungen Bl\u00e4ttern ebenso zusammengesetzt, wie die Knospen hei den allen Pflanzen. Sie werden also auch zu ihrer Hervorbringung dieselbe Ursache erfordern, welche bei der alten Pflanze stattfand, zur Zeit als sie ihre gew\u00f6hnlichen Bl\u00e4tter hervorbrachte. Der m\u00e4nnliche Samen oder Blumenstaub kann also nichts anders seyn, als eben diese Ursache, die bisher gefehlt hat. Der m\u00e4nnliche Samen ist daher nichts Anderes, als ein im h\u00f6chsten Grade vollkommenes Nutriment. Das gew\u00f6hnliche Nutriment h\u00f6rt auf, dem Endtheil der Pflanze auf den gew\u00f6hnlichen Wegen zu zu fliessen. Der m\u00e4nnliche Samen ist aber ein Nutriment, welches nicht auf den gew\u00f6hnlichen Wegen zum vegetationsf\u00e4higen Theil, sondern von aussen ihm zugef\u00fchrt wird.\nBei den Thieren geschehe die Conception auf dieselbe Weise. Der Ort, wo hier die Vegetation aufh\u00f6re, sey der Eierstock, welcher daher einer, in ihrer Entwickelung gehemmten Endknospe gleich ist.\nb. Kritik dieser Theorie.\nDie Theorie der Conception von C. Fa. Wolff enth\u00e4lt meh-reres vollkommen Richtige, ist aber in ihrem Endresultat unrichtig und schliesit namentlich eine Verkennung der Natur des Samens in sich. Es ist richtig, dass die Vegetation hei der Fructification gehemmt wird, aber diese Hemmung wird nicht durch das vollkommenste Nutriment aufgehoben, sondern die Hemmung ist, wie wir sogleich sehen werden, ganz eigent\u00fcmlicher Art. Eine abfallende Knospe ist auch in ihrer Vegetation gehemmt und war es bereits vor dem Abf\u00e4llen, und wir haben gesehen, dass es h\u00f6chst einfache aus einer einzigen Zelle bestehende Knospen giebt, welche in Hinsicht der Einfachheit dem durch Fructification sich bildenden Keim nichts nachgeben, und welche sich doch wesentlich von diesem in Hinsicht ihrer inneren Zust\u00e4nde und Kr\u00e4fte unterscheid","page":653},{"file":"p0654.txt","language":"de","ocr_de":"G51 VII. Buch. V. d. Zeugung. II. Abschn. Geschlechtl. Fortpflanz.\ntien. Die abgefallene Knospe bedarf zu ihrer Entwickelung nichts als neues Nutriment von aussen, welches sie entweder in der Erde oder in einem andern vegetirenden Ganzen bei der Inoculation bildet. Das Nutriment hingegen, welches der m\u00e4nnliche Samen dem unbefruchteten Keime giebt, ist so wenig blosser vollkommenster Nahrungsstoll, dass er vielmehr so gut wie der weibliche Keim die ganze Form der Pflanzenspecies oder Thierspecies in sich enth\u00e4lt. Dieses siebt man sowohl bei der gew\u00f6hnlichen Zeugung, als aus der Bastarderzeugung. Bei der gew\u00f6hnlichen Zeugung hat das Product nicht bloss die Eigenschaften der Mutter, sondern ebenso bestimmt auch die des Vaters an sich, wie diess von Menschen und Thieren bekannt ist. Die Race, die k\u00f6rperliche Form, die Neigungen, Leidenschaften, Talente, ja selbst Krankheiten pflanzen sich vom Vater ebenso sicher als von der Mutter auf das Product fort, und da sie durch den Samen in den Keim kommen, so muss die Form des Vaters in dem Samen bereits enthalten seyn, gleich wie die Form der Mutter in dem Keim der Mutter. Dasselbe erkennt man an den Mittelformen, welche durch die Vermischung verschiedener Species entstehen. Das Maulthier theilt die Eigenschaften des Pferdes und Esels, und die Bastarderzeugung der Pflanzen bedingt eben so h\u00e4ufig reine Mittelformen, welche man nicht als Hemmungen der einen oder andern Form betrachten kann. Will man daher den Samen Nutriment nennen, so ist er jedenfalls ein solches Nutriment, welches so gut wie der Keim die Form der bestimmten Pflanzen- und Thierspecies und aller ihrer individuellen Eigenschaften in sich enth\u00e4lt.\nIn gleicher Weise l\u00e4sst sich auch die Theorie derjenigen widerlegen, welche den Samen statt als Nutriment, vielmehr als das die Vegetation des Keimes hemmende betrachten, welches der Fortsetzung der Achse die Grenze setze. Diese Hemmung tritt schon bei den Pflanzen an den weiblichen Edithen ohne das befruchtende Princip ein, das befruchtende Princip aber enth\u00e4lt selbst wieder die Form, und ist also weder allein ein Reiz, noch ein Hemmendes.\nc. Natur des Eies und Samens und der Conception.\nDer unbefruchtete Keim stimmt mit der Knospe \u00fcberein, dass beide die Form der speciellen Pflanze der Kraft nach enthalten, und unterscheidet sich von der Knospe, dass eine Bl\u00fcthenknospe durch sich selbst keine neue Knospen treiben kann, e;ne Knospe aber nicht bloss sich entwickelt, sondern auch der Stamm f\u00fcr eine unendliche Multiplication werden kann. In dem unbefruchteten Keim ist daher ausser der Anlage zur Form der Pflanze auch eine eigene Art von Hemmung enthalten, welche die Ursache ist, dass die Form nicht erzielt werden kann, und diese Hemmung fehlt der Knospe. Eine Knospe kann gehemmt seyn, wenn der Nahrungsstoff zur Vegetation fehlt, wie bei der abfallenden Knospe. Die Hemmung des unbefruchteten Keimes ist viel tiefer, denn dieser Keim entwickelt sich nicht, wenn er auch den n\u00f6thigen Nahrungsstoff erh\u00e4lt. Von welcher Art ist","page":654},{"file":"p0655.txt","language":"de","ocr_de":"Theorie der Conception.\n655\ndiese Hemmung? Da sie nicht in dem Mangel an Nahrungsstoff allein beruht, so muss sie wahrscheinlich darin bestehen, dass der Keim qualitative Behaftungen erlangt, welche der Knospe fehlen und welche die Entwickelung des Keims in der pr\u00e4dispo-nirten Form unm\u00f6glich machen, ohne ein Supplement, weiches den Keim erg\u00e4nzt. Diess Supplement ist der Samen, welcher auch die Anlage zur Form enth\u00e4lt, aber auch mit einer ihm eignen qualitativen Behaftung, welche den Samen hindert, die pr\u00e4-disponirte Form allein zu erzielen, und nicht minder eine Erg\u00e4nzung durch den weiblichen Keim n\u00f6thig hat. Die Behaftung des Lies und des Samens sind nicht von gleicher Art, sondern in beiden verschieden, indem ]edes das Supplement des andern ist. Beide sind nicht gleiche H\u00e4lften eines Ganzen, sondern die Be-haftung des Eies, wenigstens der Thiere, ist von der Art, dass cs, und nicht der Samen, der zum Keimen bestimmte Tbeil und schon die pr\u00e4forrnirte Urzelle ist, oder die pr\u00e4formirten Urzellen enth\u00e4lt, welche den abgebrochenen Faden der Vegetation fortsetzen. Der Samen hingegen ist so behaftet, dass er zun\u00e4chst nicht keimt, sondern ein von der Form beseeltes fl\u00fcssiges Inci-tarnent ist.\nHierbei l\u00e4sst sich an die Vegetationsart der Zellen in den Organismen erinnern. Die Pflanzenzellen haben das Verm\u00f6gen den ihnen dargebotenen Nahrungsstoff in eine noch fl\u00fcssige Muttersubstanz f\u00fcr die Grundlage neuer Zellen zu verwandeln, Cytobla-stema Schleiden, in welchem die Bildung neuer Zellen durch die Wirkung einer vorhandenen Zelle beginnt, indem sich in diesem Cytoblastem Kerne, und um die Kerne wieder Zellen bilden. Aut dieselbe Weise vegetiren nach Schwann\u2019s Efntersuchungen die thierischen Zellen. Der Keim, selbst eine Zeile, kann daher betrachtet werden als eine, zur bestimmten Form der Pflanze pr\u00e4disponirte Zelle, deren Behaftung durch qualitative Ver\u00e4nderung darin besteht, dass sie kein Cytoblastem zu bilden vermag. Der Samen hingegen enth\u00e4lt, trotz der ihm inwohnenden Anlage zur bestimmten Form eines organischen Wesens, keine Urzellen und ist nicht eine schon zum Individuum organisirte Urzelle, sondern gleicht mehr einem Cytoblastem mit der Anlage zur bestimmten Form, aber mit der qualitativen Behaftung, dass es selbst unf\u00e4hig ist, ohne die Gegenwart einer Urzelle, zu vegetiren. Indem aber die individualisirte Urzelle mit der Anlage zur Form mit dem nicht individualisirten Keimstoff oder Cytoblastem des Samens zusammen kommt, so beginnt die Vegetation der individualisirten Urzelle, so zwar, dass sowohl die Urzelle des Keims, als der Keimstoff des Samens auf die Producte der Urzelle Einfluss haben, und das neue Individuum eine Verschmelzung beider Formen, der m\u00fctterlichen und v\u00e4terlichen Form ist.\nDie Wechselwirkung des Samens und des Eies ist nicht das einzige Beispiel von der Wirkung zweier, von der bestimmten Form beseelten Wesen aufeinander, und selbst nicht das einzige Beispiel von der v\u00f6lligen Verschmelzung zweier von bestimmter Form beseelten Substanzen in ein Individuum. Um das Eigen-th\u00fcmliche dieser Verschmelzung klarer einzusehen wird es n\u00fctz-","page":655},{"file":"p0656.txt","language":"de","ocr_de":"656 VII. Buch. V. d. Zeugung. II. Abschn. Geschlecht/. Fort pflanz.\nlicli seyn auch diejenige Art der Vereinigung zweier von bestimmter Form beseelten Wesen ins Auge zu lassen, wobei es nicht zur Verschmelzung zu einer einzigen individuellen Mittelform kommt. Die Extreme sind hier die Verbindung einer Knospe mit einem andern Mutterstamm, und die Verschmelzung der Formen beim Keim und Samen. Der letztem \u00e4hnlich ist die Verschmelzung zweier Knospen oder die Zeugung durch Conjugation.\n1. Inoculation der Knospen.\nDie meisten Erfahrungen sprechen dafi|r, dass die auf einen Stamm verpflanzten Schnittlinge oder inoeuhrten Knospen weder durch das Subject, auf dem sie wachsen, ver\u00e4ndert werden, noch das Subject seihst ver\u00e4ndern. Werden immergr\u00fcne Eichen auf gew\u00f6hnliche Eichen gepfropft, deren Bl\u00e4tter im Winter abfallen, so beh\u00e4lt der Impfling die Bl\u00e4tter im Winter- Der Kirschlorbeer-baum auf einen wilden Kirschbaum gepfropft, beh\u00e4lt im Winter seine Bl\u00e4tter, w\u00e4hrend das Subject sie im Herbst abwirft. Meyen Pflanzenphysiologic 3. f)2. Schlechte Sorten von Birnen auf gute verpflanzt bleiben schlecht und gute auf schlechten gut. Ebend. Wenn der weisse Jasmin, auf welchem gelber Jasmin gepfropft wurde, auf denjenigen Zweigen gelbe Blumen brachte, welche unter der Pfropfstelle hervorkamen, so erkl\u00e4rt das Meyen so, dass die letzteren gar nicht dem Subject, sondern tien Impfling angeh\u00f6ren, indem der Impfling seine Holzschichten \u00fcber den Stamm des Subjectes hinabgeschickt hat, und aus diesen Adventivknospen hervorbrechen. Die Ver\u00e4nderungen, welche die Impflinge erleiden, beschr\u00e4nken sich daher haupts\u00e4chlich auf Veredlung der Fr\u00fcchte und solche Ver\u00e4nderungen, welche man auch durch die Nahrung des Bodens erzielen kann. Dagegen ist gerade die Pfropfung und Inoculation ein Mittel die individuelle Form der Pflanze, und seihst Variationen rein und unver\u00e4ndert fortzupflanzen, welches hei der geschlechtlichen Zeugung viel weniger gelingt, indem hier die Form in der That von zweierlei Einfl\u00fcssen gleich stark bestimmt wird. Die geringe Einwirkung zweier mit einander durch Verwachsung verbundener Wesen aut einander zeigt sich auch bei den Thieren und es ist bekannt, dass fortlebende Doppelmisgeburten, wie z. B. Rita und Christina verschiedene Gem\u00fcthsanlagen haben k\u00f6nnen.\n2. Conjugation. Knospenpaarung.\nWenn die gegenseitige Ver\u00e4nderung von verwachsenen, individuell organisirten Wesen nicht m\u00f6glich ist, so l\u00e4sst sich gleichwohl denken, dass zwei noch unentwickelte Knospen nicht bloss auf einander einwirken, sondern seihst verschmelzen k\u00f6nnen. Auf diese Idee wird man durch die an den Hydren gemachten Versuche gef\u00fchrt. Jeder Theil derselben kann als eine Knospe betrachtet werden, wenn er isolirt ist. Der Ilintertheil eines Polypen abgeschnitten entwickelt sich zum neuen Individuum, wird dies St\u00fcck aber in Ber\u00fchrung mit der Schnittfl\u00e4che des Vorder-st\u00fccks gehalten, so w\u00e4chst es wieder an und ist dem Centrum des Vorderst\u00fccks als Theil unterworfen, wie Tbembley gezeigt","page":656},{"file":"p0657.txt","language":"de","ocr_de":"657\nTheorie der Conception.\nli\u00e2t. Dicss bringt aut' die Idee, dass selbst zwei St\u00fccke einer Hydra, die noch kein Centrum enthalten, aber sich zu Individuen entwickeln k\u00f6nnen, und als individuelle Knospen zu betrachten sind, wenn sie nahe genug gebracht w\u00fcrden, um verwachsen zu k\u00f6nnen, aucli wieder eine einzige Knospe seyn w\u00fcrden, die sieh zu einem einzigen Individuum entwickelte. Unter den mannigfaltigen Variationen der Versuche, welche Trembley anstellte, k\u00f6mmt auch dieser Versuch vor. Es ist aber niemals gelungen, die St\u00fccke vereinigten sich nicht, und es kam also keine der geschlechtlichen Zeugung vergleichbare Fusion zu Stande. Diese St\u00fccke hatten die F\u00e4higkeit Knospen zu seyn, aber hatten sich noch nicht zu Knospen umgewandelt. Dagegen ist die wirkliche Verschmelzung zweier Knospen zu einer bei einigen niederen Organismen beobachtet.\nDie Conjugation wurde von O. Fr. Mueller bei Conferven beobachtet, und es geh\u00f6ren hierher die Confervae conjugatae, insbesondere die Gattungen Conjugata und Spirogyra. Ehrenberg beobachtete die Conjugation bei einem Pilse Syzygites, Verh. d. Gesells. na!urf. Freunde zu Berlin. I. B. 1829. Derselbe und Morren sahen sie bei den Closterien. Zur Zeit der Conjugation zeigen sich an den Gliedern der Conjugaten knospenartige Ausw\u00fcchse, die Ausw\u00fcchse der nebeneinander liegenden Confervenfaden verbinden sich und verwachsen mit Resorption der Zellenw\u00e4nde, so dass die con-jugirten Glieder mit einander offen communiciren. Siehe Meyen a. a.O. laf.X. hg. 11. 12. Die in den Gliedern enthaltene schleimige Masse formirt sich zu einem Klumpen, und tritt aus dem einen der Glieder in das andere hin\u00fcber, hier vereinigen sich die Massen beider Glieder und bilden eine Kugel, die Frucht. Meyen ebeud. 416. Von den conjugirten F\u00e4den sind einzelne Glieder die empfangenden, andere hingegen geben ihren Inhalt ab. Vau-cher beobachtete, dass die Conjugation auch so erfolgen kann, dass der Inhalt nach der Conjugation zweier Conferven aus beiden Zusammentritt und sich in der durch Communication gebildeten R\u00f6hre vereinigt. Siebe Meyen a. a. O. Tab. X. Fig. 14. 15. Ueber die Conjugation der Closterien siehe Morren Ann. d. sc. nat. T. V. 1836. p. 257. Ehrenberg die Infusions\u00fcderchen. Tab. V. VI. Dass die sich bei der Conjugation verbindenden Massen Knospen und nicht geschlechtlich verschieden sind, zeigt theils ihre Ueber-einstimmung, theils aber auch, dass sich auch ohne Conjugation an den Gliedern der Conferven eben solche Samen oder vielmehr Knospen bilden, wie die Samen, welche durch Conjugation entstehen, wie nach Meyen bei den Spirogyren.\n3. Bis Verschmelzung der Keime und des Samens bei der ge-schlechtlichen Zeugung.\nDie Conjugation ist, wie es scheint, eine einfache Verschmelzung zweier an sich gleicher Knospen. Diese Art der Zeugung steht offenbar h\u00f6her als die einfache Knospenbildung. Denn eine durch Conjugation entstandene Knospe muss an den individuellen Eigent\u00fcmlichkeiten zweier Individuen participireu, w\u00e4hrend die einlaclie Knospeubildung nur das Individuum fortpllanzt. Dies","page":657},{"file":"p0658.txt","language":"de","ocr_de":"658 VII. Buch. V. d. Zeugung. II. Absehn. Geschlecht! Fortpflanz.\nErheben der Producte, \u00fcber die Grenzen des einzelnen Individuums zur Gattung und Species, scheint auch der Hauptzweck der geschlechtlichen Zeugung zu seyn, welche von der Conjugation noch verschieden ist dadurch, dass die eine Keimsubstanz das unbedingt nothwendige Supplement der andern ist, die eine das empfangende, die andere das gebende ist, die eine das schon or-ganisirte, die andere das noch fl\u00fcssige und zum Organisiren strebende ist.","page":658},{"file":"p0659.txt","language":"de","ocr_de":"D e r\nsp ccieJ len Phjsiologie\nAchtes B u c h.\nVon der Entwickelung.","page":659},{"file":"p0660.txt","language":"de","ocr_de":"I.\tAbschnitt. Von der Entwickelung des Eies und der\nFrucht.\nf. Entwickelung der Fische und nackten Amphibien.\nII.\tEntwickelung der V\u00f6gel und beschuppten Amphibien.\nIII.\tEntwickelung der S\u00e4ugetbiere und des Menschen.\nIV.\tEntwickelungsverschiedenheiten der Eierlegenden und Lebendiggeb\u00e4renden.\nII.\tAbschnitt. Von der Entwickelung der Organe und\nGewebe des F\u00f6tus.\nI. Entwickelung der organischen Systeme und Organe.\nII. Entwickelung der Gewebe.\nIII.\tAbschnitt. Von der Geburt und den Entwickelungen\nnach der Gehurt.\nI. Die Geburt, der Neugeborne, die Mutter.\nII. Entwickelungen der Lebensalter.","page":660},{"file":"p0661.txt","language":"de","ocr_de":"I) e i speziell o n J * il y s i o I o <>- i (' A ch les Bu cli.\nVon il t r Entwickelung.\nI. Abschnitt. Von <ler Entwickelung- des Eies und der Frucht.\nDie Entwickelung des Embryo der Fiscbe und nackten Amphibien zeichnet sich unter den Wirbeltbieren durch ihre Einfachheit aus, ihre Geschichte verdient deswegen der Entwickelungsgeschichte der \u00fcbrigen Wirbelthiere vorausgeschickt zu werden, tiei ihnen fehlt das Amnion und die Allantois, welche die V\u00f6gel, beschuppten Amphibien und S\u00e4ugethiere gemein haben. Dass die Fische nicht die Allantois der V\u00f6gel, wohl aber ihren Doltersack haben, hat Aristoteles zuerst entdeckt. Be generatione ammalium 3. 3. lehrt er, dass die Eiei' der Fische nicht den zweiten Nabelgang der V\u00f6gel haben, der zum Chorion unter der Eischale (Allantois) geht, wohl aber den Nabelgang zum Dotter besitzen, npiocov itiv y an ovx tyovai tov eteqov oftepaknv zov ent zo yj/Qiov zeivovcci b saztv into zo nsQisyov natQaxov. Alle Entwickelungen sind daher hier auf die Phasen beschr\u00e4nkt, welche die Keimhaut und der daraus entstehende Embryo und Dottersack durchlaufen. Bei allen Wirbeltbieren liegt der Bildung des Embryo und des Dottersacks ein gemeinsamer Typus zu Grunde, von dem es spe-cielle Abweichungen in den einzelnen Classen giebt. Auch in dieser Hinsicht nehmen die Fische und noch mehr die nackten Amphibien die erste Stelle durch die Einfachheit der Vorg\u00e4nge ein. Denn bei den letztem wird die ganze Keimhaut, auch das dem Dottersack der \u00fcbrigen Thiere analoge zur Bildung |des Embryo verwandt, w\u00e4hrend sich bei vielen Fischen schon der Embryo gegen den Dottersack abgrenzt.\nHauptwerke \u00fcber die Entwickelungsgeschichte mehrerer Classen, abgesehen von den Werken \u00fcber die einzelnen Classen, sind Duteochet recherches sur les enveloppes du foetus in mem. de la soc. med. d\u2019emulation T. VIII. und in Duteochet mein. p. s. \u00e0 l hist. anal, el physiol, des v\u00e9g\u00e9taux et des animaux. Baris 1837. T. II. p. 200. Bubdach\u2019s Physiologie. Bd. II. 2. slufl. mit Beitr\u00e4gen von E. v. Baer, Rathke, Meyer, v. Siebold und Valentin. Lcipz. 4837. v. Baer \u00fcber Entwickelungsgeschichte der Thiere. I. K\u00f6nigs//.","page":661},{"file":"p0662.txt","language":"de","ocr_de":"662 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. I. Jhsclm. Entwickl. d. Eies.\n4828. II. 1837. Valentin Entwickelungsgeschichte. Berlin 1835. R. Wagner Physiologie I. Leipz. 1839. Die Werke \u00fcber die einzelnen Classen werden weiter unten geh\u00f6rigen Ortes namhaft, gemacht.\nI. Capitel. Entwickelung der Fische und nackten Am p b ihi en.\n1. Ver\u00e4nderungen des Dotters vor der Bildung des Embryo.\nBei alien Thieren scheinen der ersten Configuration des Embryo Ver\u00e4nderungen in der ganzen Dottermasse vorher zu gehen, aber der Umfang dieser Ver\u00e4nderungen ist in den verschiedenen Classen sehr ungleich, sie sind z. B. am geringsten hei den V\u00f6geln, am st\u00e4rksten hei den nackten Amphibien, Fischen und vielen Wirbellosen, wo sie die Erscheinung der regelm\u00e4ssigen Furchung des Dotters zur Folge haben.\nDie Furchung des Dotters der Froscheier ist zuerst von Pr\u00e9vost und Dumas entdeckt. Ann. d. sc. mit. T. II. 110. Weitere sch\u00e4tzbare Beobachtungen haben dar\u00fcber Rusconi (d\u00e9veloppement de la grenouille commune. Milan 1826.), Baumgaertner {iiher JSereen und Blut. Freih. 1830.) und v. Baer (Muell. Archiv 1834. 481.) mitgetheilt.\nDie Oberfl\u00e4che des Dotters zeigt bekanntlich zwei verschieden gef\u00e4rbte Felder. Die eine H\u00e4lfte ist schwarz gef\u00e4rbt, die andere hell, die dunkle F\u00e4rbung r\u00fchrt von einer d\u00fcnnen Schicht schwarzer Dottermasse her. In der Mitte des dunkeln l?e!des ist in dem schwarzen Ueberzug eine L\u00fccke, Baer\u2019s Keimpunct, sie f\u00fchrt durch einen Canal in eine etwas tiefer liegende H\u00f6hlung. Eine von jener Mitte des dunkeln Feldes zur Mitte des hellen Feldes gehende Linie nennt v. Baer die Achse des Eies, Furchen von der Mitte des einen zur Mitte des andern Feldes sind Meridianfurchen, Furchen deren Ebene senkrecht auf die Achse steht, Aequatorialfurchen und Parallelfurchen, je nach der Entfernung von jenen Mittelpuncten.\nD ie folgende Beschreibung ist nach v. Baer. Am Schl\u00fcsse der 5. Stunde nach dem Legen bildet sich die erste Meridianfurche von der Mitte des dunkeln Feldes aus. Die Furchung ist nicht bloss oberfl\u00e4chlich und gebt durch den ganzen Dotter durch, so dass bei den Salamandern in Folge der ersten Meridianfurchung zwei wenig zusammenh\u00e4ngende Ellipsoiden nebeneinander zu liegen kommen. Ehe die v\u00f6llige Theilung in zwei Hemisph\u00e4ren erreicht wird, erscheint bereits die zweite Meridianlurche 6 \u2014 7 Stunden nach der Befruchtung. Sie kreuzt die erste unter rechten Winkeln. Ein erh\u00e4rtetes Ei zerspringt nachher in vier Kugelviertheile. Bald entsteht jedoch die Aequatorialfurehe. Darauf treten wieder neue Meridianfurchen und sofort Parallelfurchen ein, so dass der Dotter die Bromheerform und Himbeerform annimmt. Zuletzt wird die Oberfl\u00e4che der Dotterkugel wieder v\u00f6llig glatt. Dieser Cvclus von Ver\u00e4nderungen kann in 24 Stunden abgelaufen seyn. Einige Zeit sp\u00e4ter erfolgt die Abgrenzung des Embryo. Das helle","page":662},{"file":"p0663.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der Fische und nackten Amphibien.\n663\nFeld wird dann, je mehr es gegen das dunkle sich verkleinert, um so mehr l\u00e4nglich und entspricht dieser Abgrenzung.\nDie Furchungen des Dotters an Fischeiern sind von Rusconi entdeckt. Bibi. ital. LXXIX. Muell. /Irch. 1836. p. 278. Kurz nach der Befruchtung, welche Rusconi k\u00fcnstlich ausf\u00fchrte, verliert das Ei der Schleie seine sph\u00e4rische Gestalt und nimmt eine bimf\u00f6rmige an; auf einem Theil seiner Oberfl\u00e4che entsteht n\u00e4mlich eine Art Anschwellung, \u00e4hnlich der von Sauggl\u00e4sern hervorgebrachten; die kleinen, vorher zerstreuten Dotterk\u00f6rnchen sammeln sich an der Basis dieser Anschwellung. Eine halbe Stunde nach dieser ersten Ver\u00e4nderung erscheinen auf der vorragenden Stelle des Dotters zwei Furchen, die sich im rechten Winkel schneiden; eine Viertelstunde sp\u00e4ter zeigen sich zwei neue Furchen zur Seite der ersten, so dass der vorragende Theil des Dotters, der fr\u00fcher aus 4 Lappen bestand, nun in 8 Lappen getheilt ist. Nach Verlauf einer Viertelstunde ist jeder dieser 3 Lappen wieder in 4 getheilt durch 6 neue Furchen, die sich im rechten Winkel kreuzen. Nach einer halben Stunde treten mehrere neue Furchen auf, die sich mit den ersten kreuzen, dadurch werden die Lappen abermals kleiner und so zahlreich, dass sie sich kaum mehr z\u00e4hlen lassen Diess schreitet so lange fort, bis die hervorragende Stelle des Dotters wieder so glatt ist, wie sie vor dem Erscheinen der ersten Furchen gewesen war. Piusconi a. a. O. Archiv p. 281.\nDie Furchungen des Dotters sind ausser den Fr\u00f6schen, Salamandern und Gyprinen auch bei mehreren Wirbellosen beobachtet, wie bei Crustaceen von Rathke, bei Nematoiden von Sieuold, hei Mollusken von Sars.\n2. Vegetationsprocess der Dotter zellen wahrend der Entwickelung.\nDie Dottermasse der Thiere besteht zufolge Schwann s Untersuchungen aus Zellen. Diese sind nicht in allen Theilen des Dotters gleich. Im Ei der V\u00f6gel sind die Zellen der Dotterh\u00f6hle, des Dottercanals bis zum Keim Zellen mit Kern. Siche oben pag. 631.\nDie Zellen des Dotters sind auch nicht bei allen Thieren gleich gebildet. Was zun\u00e4chst die Fische und Amphibien betrifft, so ist die gew\u00f6hnlichste Form die runde. Bei den Haifischen (Scyllium, Acanthias, Squatina) und Myxinoiden sehe ich sie elliptisch, bei den Rochen (Raja) sogar meist platt viereckig, mit abgerundeten Kanten und Ecken, so dass man die Haien und Rochen selbst an den Dotterzellen unterscheiden kann.\nDer Dotter nimmt an der Entwickelung des Embryo den wesentlichsten Antheil, bald mehr in der vorzugsweise keimenden Schicht, bald wie beim Frosch in seiner ganzen Masse, und mit Recht erinnerte Rusconi, dass der Embryo des Frosches ans dem Dotter selbst entstehe. Die Entdeckungen von Schleiden und Schwann \u00fcber das Zellenleben werfen auch auf diesen Gegenstand ein unerwartetes Licht.\n^I\u00fcller\u2019s Physiologie\u00ab 2r. B4. 111.\n43","page":663},{"file":"p0664.txt","language":"de","ocr_de":"\u00df\u00df4 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. I. Abschn. Entwich/, d. Eies.\nSchwank hat gezeigt, dass das Ei der Thiere eine Zelle ist, dass die Dotterhaut die Zellenmembran, das Keimbl\u00e4schen den Zellenkern und der Dotter den Zelleninhalt repr\u00e4sentirt. Er zeigt ferner, dass die Dotterzellen nach dem Entwickelungsgesetz der Zellen als junge Zellen in der Mutterzelle (Ei) entstehen, und dass die Uranlagen des Embryo aus Zellen bestehen. Derselbe bemerkt bereits, dass der Dotter nicht als blosses Nahrungsmittel, sondern als lebender K\u00f6rper zu betrachten ist, dass die Dotterzellen an der Bildung wesentlichen Antheil nehmen. Sie bewirken eine Umwandlung ihres Inhaltes und in dessen Folge verliert die Dottermasse des H\u00fchnchens ihre Gerinnbarkeit. Daher Schwann \u2022den Dotter in Beziehung auf seine ern\u00e4hrende Eigenschaft dem Eiweis des Pflanzenembryo vergleicht. Das eigentliche Eiweis des Vogeleies verschwindet w\u00e4hrend der Bebr\u00fctung ganz und wird als Nahrung aufgesogen.\nDie weitere Vegetation der Dotterzellen liegt, nun bereits in den Beobachtungen von Bischoff, Barry, Reichert vor. Die ersteren erkannten das Entstehen von Zellen in der Dottermasse des sich entwickelnden Eiehens der S\u00e4ugethiere, Reichert aber beobachtete die Bildung der jungen Zellen in den schon vorhandenen Mutterzellen der ganzen Dottermasse, als eine die ganze Entwickelung begleitende Vegetation bei den Fr\u00f6schen, wo der ganze Dotter zur Bildung des Embryo verwandt wird. Bei den V\u00f6geln tritt diese Bildung junger Zellen in den freien Dotterzellen w\u00e4hrend der Entwickelung nach demselben Beobachter nicht ein, und die Bildung junger Zellen beschr\u00e4nkt sich auf den keimenden Theil des Dotters.\nBei den Plagiostomen sieht man quere und schiefe Linien auf den Dotterzellen, wie Theilungslinien, oft auch Einschn\u00fcrungen diesen entsprechend. Bei Squatina zeigen die meisten der Dotterzellen eine in der L\u00e4ngsrichtung um die Zelle herumlaufende und mehrere quere Linien. Andere Zellen zeigen schiefe Theilungslinien und in noch anderen, deren Form unregelm\u00e4ssig ist, sind auch diese Linien unregelm\u00e4ssig, indem sie das Ganze in mehrere unregelm\u00e4ssige Segmente eintheilen. Bei den Schlangen und Crocodilen hingegen enth\u00e4lt der Dotterrest des F\u00f6tus viele grosse Dolterzellen mit jungen Generationen, der Dotterrest des Crocodils auch einzelne Zellen mit geschichteten Einschachtelungen.\nliier folgen nun die Beobachtungen von Reichert \u00fcber den Dotter des sich entwickelnden Froscheies nach dessen handschriftlichen Mittheilungen.\nDer Dotter des reifen befruchteten Froscheies besteht aus zweierlei durch ihre Gr\u00f6sse sich unterscheidenden K\u00f6rperchen. Die kleineren nehmen jene Stelle des Dotters ein, wo die erste Anlage des Embryo sichtbar wird, sic stellen die Keimschichte oder den Keimh\u00fcgel vor, welcher dem Keim sammt Kern des Hahnentritts im Vogelei entspricht. Siehe oben pag. 031. Die ganze \u00fcbrige Dottermasse wird durch die um das Zweifache bis Vierfache gr\u00f6sseren K\u00f6rperchen zusammengesetzt. Sie","page":664},{"file":"p0665.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der Einehe und nackten Amphibien. (i\u00df5\nliegen alle iliclit gedr\u00e4ngt nebeneinander. Diese K\u00f6rperchen sind schon mit blossen Augen sichtbar, deutlich werden sie mit H\u00fclfe einer Loupe unterschieden. Bei 450facher Vergr\u00f6sserung zeigen sie sich von runden, mehr oder weniger ins ovale \u00fcbergehenden Umrissen. Sie erscheinen dann beinahe ganz gleich-f\u00f6rmig undurchsichtig und dunkel, und durchgehends aus lauter kleineren K\u00fcgelchen zusammengesetzt, so dass sie an eine Traubenform erinnern. An der Peripherie liegen diese K\u00fcgelchen jedoch so nebeneinander, dass die Contour der ganzen Kugel kaum \u00fcberschritten wird. Zerpresst man diese Dotterk\u00f6rnchen, so werden die genannten K\u00fcgelchen frei, sind beinahe ganz durchsichtig ohne Schattirungen mit sehr kr\u00e4ftigen Umrissen, und gleichen ihrem allgemeinen Ansehen nach ziemlich einem kleinen Fetttr\u00f6pfchen. Sie lassen sich aber schwer zerdr\u00fccken und fliessen auch nicht ineinander. In der Gr\u00f6sse waren die meisten sich ziemlich gleich; nur einzelne zeichneten sich aus und bei ihnen konnte man zuweilen ein beginnendes granulirtes Ansehen gewahr werden. Ausser diesen K\u00fcgelchen wurden durch das Zerquetschen noch viele kleinere belle K\u00f6rperchen frei, die eine lebhafte moleculare Bewegung hatten. Das beschriebene Verhalten der Dotterk\u00f6rperchen betrifft vorzugsweise die, welche man in der Mitte des Dotters vorfindet. Legt man einige von den nach der Peripherie gelegenen unter das Mikroskop, so bemerkt man zwar im Allgemeinen dieselbe Structur, doch marki-ren sich im Innern zwei bis vier dunklere Flecke, und beim Zerquetschen zeigen sich ausser dem beschriebenen Inhalte gr\u00f6ssere gelbliche K\u00fcgelchen von granulirtem Ansehen und zuweilen von einer hellen Masse umgeben. Durch sie wurde offenbar das lleckige Ansehen in der fast gleichm\u00e4ssigen Undurchsichtigkeit der Dotterk\u00f6rperchen bewirkt. Untersucht man nun Dottermasse in der N\u00e4he des Keimh\u00fcgels, so erscheinen die genannten Flecke immer ausgepr\u00e4gter. Die Dotterk\u00f6rperchen zeigen sich wie nur aus ihnen zusammengesetzt und so gelangen wir zum Keimh\u00fcgel, wo die dunkleren Portionen der gr\u00f6sseren Dotterk\u00f6rpereben in den kleineren isolirt vorzufinden sind. Diese kleineren Dotterk\u00f6rperchen des Keimh\u00fcgels sehen ganz so aus, wie die gr\u00f6sseren. Ihre Hauptmasse bilden die beschriebenen K\u00fcgelchen. Ausserdem aber kann man aus jedem einzigen derselben ein gr\u00f6sseres, gelbliches, granulirtes K\u00fcgelchen herausdr\u00fccken und die Molecular-K\u00fcgelchen sind viel kleiner und ganz dunkel. Dass man es hier mit Zellen zu thun hat, beweisen schon mehrere Merkmale. Man siebt zwar, wie so oft, wenn die Zelle mit einem k\u00f6rnigen Inhalte stark angef\u00fcllt ist, die Zellenmembran und den Zelienkern selbst nicht; doch musste es auffallen, dass die Dotterk\u00f6rperchen, obgleich dicht zusammenliegend, ihre Form nicht einb\u00fcssen, dass bei der maulbeerf\u00f6rmigen Anh\u00e4ufung der K\u00fcgelchen die Contou-ren doch ziemlich verbleiben, dass bei vielen gelbliche granulirte K\u00fcgelchen, den Zellenkernen vollkommen entsprechend, herausgedr\u00fcckt werden konnten, ferner dass die Molecular-K\u00f6rperchcn beim Druck auf die Dotterk\u00f6rperchen allm\u00e4hlig wie durch einen Spalt hervortreten, endlich (.lass die gr\u00f6sseren in die kleineren\n43 *","page":665},{"file":"p0666.txt","language":"de","ocr_de":"6fi6 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. I. Absehn. Eni wir kl. d. Eies.\nDotterk\u00f6rperchen zerfielen. Was aber jeden Zweilei \u00fcber das wirkliche Vorhandenseyn der Zellen-Natur dieser Theile beseitigt, das ist die sp\u00e4tere Metamorphose der kleineren Dotterk\u00f6rperchen im Keimh\u00fcgel bei der Entwickelung des Embryo. Hier zeigt sich dann deutlich, wenn erst der kugelige Inhalt etwas verbraucht ist, sowohl der fr\u00fcher schon herausdr\u00fcckbare Kern, als auch die Zel-lenmembram. Der Dotter der Froscheier besteht also aus lauter Zellen, deren Zellenmembran und Kern vor dem kugeligen Inhalte nicht sichtbar sind. In der Mitte befinden sieh gr\u00f6ssere Zellen ohne Kern. Sie sind in Bezug auf die junge Generation die am wenigsten entwickelten; darauf erscheinen in ihnen Kerne, es entwickeln sich junge Zellen, und in denen nach der Peripherie hin und namentlich in der N\u00e4he des Keimh\u00fcgels erkennen wir die jungen Zellen in den dunklen Flecken der grossem Mutterzelle deutlich markirt. Nun schwindet die Zellenmembran der Mutterzelle g\u00e4nzlich und die junge Generation h\u00e4uft sich, als die kleineren Dottcrzellen in dem Keimh\u00fcgel an, um l'\u00fcr die beginnende Entwickelung des Embryo in Bereitschaft zu scyn. Diese Entwickelungsweise w\u00e4hrt nun durch die ganze Zeit fort, so lange der Dotter noch besteht. Wo Bildungen des Embryo entstehen sollen, da werden die pr\u00e4disponirten kleineren Dottcrzellen dazu gebraucht und aus der Mitte kommt neuer Ersatz.\n3. Entwiokclun jsfoimen der Fische und nackten Amphibien.\nDer sich entwickelnde Keim erscheint zuerst in der Form einer d\u00fcnnen Schichte des Dotters von beschr\u00e4nktem Umfang, die Keimhaut, diese vergr\u00f6ssert sich und wird den Dotter umwachsend, zuletzt zu einer Blase, welche den Dotter ganz ein-schliesst. In den Eiern des Blennius viviparus umw\u00e4chst die Keimhaut den Dotier erst lange nach der Bildung des Embryo (Piathke), bei den Cypi\u2019inen hingegen schliesst sich die Keimhaut fr\u00fcher, als sich eine Andeutung des Embryo beobachten l\u00e4sst (v. Baeb). Der Embryo zeigt sich zuerst in seinen Achsengebilden. An dem zuerst entstandenen Theil des Keimes bildet sich eine rinnenarlige Einsenkung. Zu den Seiten der Rinne erheben sich nach aussen zwei S\u00e4ume oder W\u00fclste, die R\u00fcckenw\u00fclste. Diese W\u00fclste vereinigen oder schliessen sich in der Mitte, und bilden dadurch zufolge der fr\u00fcheren Beobachtungen die Uranlage des R\u00fcckgrats (nach Reichert sind die sogenannten R\u00fcckenw\u00fclste nichts anders, als die Centralorgane des Nervensystems selbst). In der mittlern Grundlage entsteht die Chorda dorsalis, ein zarter zusammenh\u00e4ngender Faden, um welchen herum hernach die pa-rigen Grundlagen der einzelnen Wirbel auftreten.\nDie Keimhaut sondert sich ferner, zufolge Rathke\u2019s und v. Baer\u2019s Beobachtungen, in zwei Schichten, Bl\u00e4tter, in ein inneres und \u00e4usseres. Das erstere, Schleimblatt, oder richtiger organisches Blatt, wird zur Bildung des organischen Syst\u00e8mes, das \u00e4ussere ser\u00f6se Blatt, richtiger animalisches Blatt, wird zur Bildung des animalischen Syst\u00e8mes (Knochen, Muskeln, Haut) des Thierleibes verwandt. Das Herz entsteht zwischen dem innern","page":666},{"file":"p0667.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der Fische und nackten Amphibien.\n667\nund \u00e4ussern Blatt der Keimhant in Form eines einfachen Canales.\nDie beistehende Figur giebt einen senkrechten Querdurchschnitt durch die Keimhaut und ihre beiden Schichten.\na Aeusseres oder animalisches Blatt der Keimhaut. da R\u00fcckenwiiiste.\nb Canal des R\u00fcckgrats. c Inneres oder organisches Blatt der Keimhaut. d Dotter.\nMan sieht, wie der animalische Theil des Embryo ein Doppelrohr, der organische ein einfaches Rohr darstellt, und das letztere in dem untern Rohr des animalischen Blattes umfasst wird. Bei den Wirbellosen entsteht der K\u00f6rper auch aus einem animalischen und organischen Blatt der Reimhaut, aber beide sind im unausgebildeten Zustande zwei concentrische Blasen, deren Baucblheil hei den Articulaten zuerst entsteht, und die sich am R\u00fccken schliessen. Das animalische Blatt bildet hier kein Doppelrohr. Die Theilc des animalischen Blattes der Keimhaut, die das obere Wirbelrohr, das R\u00fcckgrat und seine Muskeln formiren, wurden R\u00fcckenplatten genannt, diejenigen, welche das untere gr\u00f6ssere Piohr bilden und das organische System enthalten, wurden Bauchplatten oder Visceralplatten*) genannt. Die Visceralplatten sind am Rumpf zusammenh\u00e4ngend, am Kopf hingegen nehmen sie sehr fr\u00fchzeitig die Form von Leisten oder Bogen an, die von der flirncapsel nach unten gehen und sich hier vereinigen. Dieser Bogen sind mehrere, sie lassen Spalten an der Seite des Halses zwischen sich. Zwischen dem vordersten Bogen und der Hirncapsel k\u00f6mmt die Mundh\u00f6hle zu liegen. Diess sind die den Embryonen aller Wirbelthiere zukommenden, von Piathke entdeckten sogenannten Kiemenbogen und Kiemenspalten, Pieichert\u2019s Visceralbogen und Visceralspalten.\nDie Hauptformen der Entwickelung bei den Fischen und nackten Amphibien sind nun folgende:\nDie niedrigste Stufe nehmen die nackten Amphibien ein, indem bei ihnen die ganze Keimhaut zur Bildung des Embryo verwandt wird. Wenn sich die Achsengebilde allm\u00e4lig ausgebildet haben, so \u00fcberragt der Kopftheil und Schwanztheil die \u00fcbrige blasige Keimhaut, und die Blase der letztem h\u00e4ngt an der Bauchseite der Carina. Das \u00e4ussere Blatt dieser Blase h\u00e4ngt mit den Seiten der Achsengebilde und mit der Bauchseite des Kopfes und Schwanzes zusammen, aus ihm entstehen die animalischen, mit den Achsengebilden zusammenh\u00e4ngenden Rumpfw\u00e4nde. Das iti-\n*) Rathke unterschied jedoch in neuerer Zeit (Muelt,. Arch. 1839. p. *361. und Entwickelungsgeschichte der Natter. 61.) bei den Embryonen verschiedener Classen den urspr\u00fcnglichen sehr d\u00fcnnh\u00e4utigen Theil der Rauchw\u00e4nde, als Membrana reuniens interior, und den gleichartig beschaffenen I heil der R\u00fcckenw\u00e4nde, als Membrana reuniens superior, als Bauchplatten und R\u00fcckenplatten aber die sp\u00e4ter zum Vorschein","page":667},{"file":"p0668.txt","language":"de","ocr_de":"66S VIII. Buch. V. d. Eni Wickelung. I. Abschn. Entwich!, d. Eies.\nnere Blatt des Sackes stellt eine Blase dar, welche mit den Achsengcbilden der Wirbels\u00e4ule nicht unmittelbar zusammenb\u00e4ngt. Diese innere Blase, welche die Dottersubstanz enth\u00e4lt, ist die erste Erscheinung des Darms, und gliedert sich sowohl in die Schichten des Darms, als sie die Form des Darms und seine Adnexa aus sich aushildet. Umgehen von dem \u00e4ussern animalischen Blatte der Keimhaut oder den Rumpfw\u00e4nden, zieht sich der innere Sack bald mehr in die L\u00e4nge aus. Vorn und hinten, wo beide Systeme Zusammenh\u00e4ngen, entstehen Mund und Alter als neue Bildung.\nA a animalischer Theil des F\u00f6tus und der Keimhaut. _A\tA Achsengebilde, welche\nmit den Rumpfw\u00e4nden oder Bauchplatten a Zusammenh\u00e4ngen. b organischer Theil des Thiers, Darm, % Herz. Fig. 1. geht bei fortschreitender Entwickelung in Fig. 2. \u00fcber.\nDiess Schema scheint f\u00fcr die allgemeinste Entwickelungs-form einiger nackten Amphibien gelten zu k\u00f6nnen, keineswegs aber f\u00fcr alle. Bei Bufo obstetricans besteht in der That zu Folge meiner Beobachtungen der Bauchsack aus einem animalischen und organischen Theil, und der Darmcanal bildet sich deutlich aus dein innern Blatte aus, und entwickelt schon Windungen, ehe der Embryo das Ei verl\u00e4sst. Dieses Thier hat vor dem Auskriechen auch eine vollst\u00e4ndige Kiemencirculation. Man sehe die Abbildungen in meinem Dr\u00fcsenwerk. Taf. X. Fig. \u00f6 \u2014 9. Beim Frosch hingegen ist der bisherige Schematismus gar nicht anwendbar. Hier giebt es keine doppeltbl\u00e4tterige Keimhaut, und Alles bildet sich successive aus dem Dotter. Nach Reichert ist selbst beim Froschembryo, wenn er das Ei verl\u00e4sst, der Darm lioeb nicht von der Dottermasse abgeschieden. Der organische Theil des Leibes bildet sich hier lange nach der vollst\u00e4ndigen Entwickelung des animalischen.\nII. An die nackten Amphibien scbliessen sich diejenigen Fische an, bei denen zwar das \u00e4ussere Blatt der Keimhaut ganz zu den Rumpfw\u00e4nden wird, das in der Rumpfh\u00f6hle enthaltene innere Blatt des Sackes aber nicht ganz zur Bildung des Darms verwandt wird, sondern sich durch Einschn\u00fcrung in den eigentlichen Darm und einen, dem Darm anh\u00e4ngenden Dottersack sondert. Diese Einschn\u00fcrung bildet dann einen hohlen communiciren-den Stiel zwischen der Darmh\u00f6hle und dem mit Dotter gef\u00fcllten Dottcrsack. Aber dieser Dottersack h\u00e4ngt nicht aus dem Rumpfe\nkoninicudcn dickeren Jsoitonllioili'. jener Wandungen, die /.nlclzl oben und unten paarweise zusaumionwachsoii liie Vcremigungsli\u00e4utc verlieren dann ihre Bedeutung.","page":668},{"file":"p0669.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der Fische und nackten Amphibien.\n609\nhervor, sondern ist mit von dem \u00e4ussern Blatt der Reimhaut oder den Rumpf w\u00e4nden, zugleich wie der Darm, eingeschlossen. Man kann dies einen innern Dottersack nennen. So verhalten sich nach v. Baer\u2019s Untersuchungen die Cyprinen, nach Piathke auch die Perca und Salmonen. Bei den Cyprinen ist der innere Dottersack noch zur Zeit des Ausschl\u00fcpfens vorhanden, aber schon sehr klein geworden, um allm\u00e4hlig ganz zu verschwinden. Der Verbindungsgang zwischen dem innern Dottersack und dem D\u00fcnndarm kann innerer Dottergang, Ductus vitello-intestinalis internus genannt werden.\nIII. Hierauf folgen nun diejenigen Fische, welche einen \u00e4us-sern Dottersack haben, indem der sich abschniirendc Theit des innern Blattes der Reimhaut vor den Bauchw\u00e4nden liegen bleibt, in einem Bauchsack eingeschlossen, der von dem entsprechend ab geschn\u00fcrten Theil des \u00e4ussern Blattes der Reimhaut gebildet wird.\nA a animalischer Theil des F\u00f6tus\nHerzen. Das \u00e4ussere Blatt des Anhanges heisst del Nah eisack oder Bauchsack d, die Stelle, wo ei mit den Puunplw\u00e4nden","page":669},{"file":"p0670.txt","language":"de","ocr_de":"670 Fill. Buch. V. d. Entwickelung. I. Ahschn. Entwicht, d. Eies.\nzusammenh\u00e4ngt, Bauchnabel aa, das innere Blatt des Anhanges ist der eigentliche Dottersack // mit dem Dotter, von ihm geht der Ductus vitello-intestinalis (hier externus) hh nach innen ah, durch den Bauchnabel zum D\u00fcnndarm. Die Stelle, wo er durch den Bauchnabel durchgeht, kann Darmnabel heissen, ln diesem Fall befinden sich nach Rathke\u2019s Untersuchungen Blennius vivi-parus und Cottus gobio. Auf dem Dottersack verbreiten sich die Vasa omphalo-meseraica, welche mit dem Ductus vitello-intestinalis durch den Bauchnabel durchgehen. Der Nabelsack mit dem darin enthaltenen Dottersack wird in dem Masse kleiner, als der Embryo sich ausbildet und zuletzt ganz resorbirt.\nIV. Eine noch andere Modification bieten die Plagiostomen, die Haifische und Rochen. Sie besitzen zu einer gewissen Zeit innerhalb des bauchsackartigen Anhanges den \u00e4ussern Dottersack mit den Vasa omphalo-meseraica. Dieser Anhang h\u00e4ngt gemeiniglich durch einen langen Stiel, den Nabelgang mit dem Rumpfe zusammen. Der darin enthaltene Ductus vitello-intestinalis oder Dottergang geht durch den Bauchnabel durch, und verbindet sich mit dem obern Ende des Intestinum valvulare, worin sich auch die Galle ergiesst, wie zuerst Stenonis beobachtete. Bei den meisten Haien und Bochen, m\u00f6gen sie sich ausser oder innerhalb des Uterus entwickeln, k\u00f6mmt aber auch zu einer gewissen Zeit der Entwickelung ausser dem \u00e4ussern Dottersack ein innerer Dottersack innerhalb der Bauchh\u00f6hle vor. Den innern Dotter hat schon Aristoteles gesehen. Er sagt von den Haien Hist. anim. 6. 10. \u00bbBei der Zergliederung des F\u00f6tus findet sich der eiartige Nahrungsstoff, wenn auch das Ei nicht mehr da ist.\u00ab H \u00f4\u00e8 TQOipij uvaapvofiirnv, xqv injy.ti e%rj to ioov, wosidrjQ. Der Ductus vitello-intestinalis sackt sich n\u00e4mlich nach einer Seite hin zu einem grossen, den gr\u00f6ssten Theil der Bauchh\u00f6hle ausf\u00fcllenden Blindsack aus, wie bereits Collijns im System of anatomy 1685. Tab. 33. d arstelit. Der Nabelsack mit dem \u00e4ussern Dottersack verkleinert sich allm\u00e4hlig an den reifen Embryonen mehr und mehr, und verschwindet durch Resorption zuletzt ganz. Man findet \u00fcbrigens an ganz reifen Embryonen den innern Dottersack im verkleinerten Massstabe noch vor. Bei einigen wenigen Haien ist der Nabelgang in seiner ganzen L\u00e4nge mit Zotten besetzt, wie Cuvier bei den Carcharias *), Leuckart bei Zygaena beobachtete. Nach meinen Beobachtungen k\u00f6mmt ausser dem \u00e4ussern, der innere Dottersack allen eierlegendcn und lebendig geb\u00e4renden Haien und Rochen zu, mit Ausnahme derjenigen Haie (Carcharias), bei welchen der \u00e4ussere Dottersack in eine Placenta foetalis verwandelt, mit einer Placenta uterina der Mutter fest verbunden ist.\nUeber die Entwickelung der nackten Amphibien siehe Rus-coni d\u00e9veloppement de la grenouille commune. Milan 1826. Amours des Salamandres aquatiques. Milan 1821. v. Baer in Burdachs Physiologie II.\n*) Es ist vielmehr nur Scoliodon M. et 11. eine Untergattung der Carcharias. Bei den Carcharias mit S\u00e4gez\u00e4hnen (l\u2019rionodon M. et H.) ist der Nabclgang ohne Zotten und ganz glatt.","page":670},{"file":"p0671.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der Fische und nackten Amphibien.\n671\nUeber die Entwickelung der Fische: Rathke Blennius vivi-parns in Abhandlungen zur Bildungs- und Enlwickclungsgeschichte. 77. Leipz. 1833. v. Baer Untersuchungen \u00fcber die Eni Wickelungsgeschichte <ler Fische. Leipz. 1835. Rathke Beitr\u00e4ge zur Geschichte der Thierwelt. IV. (Haifische). J. Davy Phil. Transact. 1834. 2.\n( Torpedo) und J. Muet.ler in Bericht \u00fcber die zur Bekanntmachung geeigneten Verhandlungen d. K. Academie d. Wissensch. zu Berlin 1839. F ehr.\n4. Beispiel des Entwickelnngsgangs zur Formation der Haupt-geh il de ira Frosclici.\nAuszug aus Reichert's handschriftlichen Mittheilungen.\nDie vorherige Zusammenstellung gieht einen gedr\u00e4ngten Ueber-hlick der haupts\u00e4chlichsten typischen Verschiedenheiten in der Entwickelung der Fische und nackten Amphibien. Eine Beschreibung des Entwickelungs-Vorganges im Einzelnen in den verschiedenen Abtheilungen w\u00fcrde dem Zwecke dieses Werkes nicht angemessen seyn. Vielmehr musste man sich hier darauf beschr\u00e4nken, diesen Vorgang an einem einzigen durch gef\u00fchrten Beispiele zu erl\u00e4utern. Dazu konnte keine Arbeit geeigneter seyn als diejenige von Reichert, tbeils weil die fr\u00fcheren verdienstvollen Untersuchungen \u00fcber die Entwickelung der Fische und nackten Amphibien vor den \u00fcber die Zcllenstructur und das Zellenleben beim Embryo gemachten Entdeckungen angestellt wurden, theils weil die Entwickelung des Frosches unter allen Thieren dieser Abtheilung vielleicht am eigenth\u00fcmlichsten ist, die meisten Abweichungen zeigt und daher f\u00fcr die Erkenntniss des Wesentlichen in dem Entwickelungsgange am interessantesten ist. Es muss \u00fcbrigens bemerkt werden, dass auch bei den V\u00f6geln die Entwik-kelung nach Reichert\u2019s Untersuchungen nicht ganz so einfach aus Lamellen der Iveimhaut erfolgt, als es bisher angenommen wurde. Der Verfasser bemerkt zuv\u00f6rderst, dass man im Verfolge der Entwickelungs-Metamorphose des Froschembryo ganz von den aus der Entwickelungsgeschichte anderer Thiere entnommenen Begriffen abstrahiren m\u00fcsse, dass man nicht eine Reimhaut, ein ser\u00f6ses, ein Gef\u00e4ss-, ein Schleimblatt in dem bisher gew\u00f6hnlichen Sinne suchen d\u00fcrfe. Die erste Anlage des Embryo bildet sich \u00fcber dein p. 664 beschriebenen Reimh\u00fcgel, welcher dem Rcim-li\u00fcgel oder Rern des Hahnentritts im Vogelei entspricht. Siehe oben p. 631. Eine auf dem Reimh\u00fcgel aufliegende Reimschuibe, aus welcher bei den V\u00f6geln die Reimhaut entsteht, findet sich im Froschei nicht. Im Allgemeinen ist zu bemerken, dass \u00fcberall, wo von der Entstehung eines Systems oder eines Organs des Embryo aus dem Dotter die R.ede ist, daselbst die kleineren pr\u00e4disponirten Dotterzellen, welche anfangs nur in dem Reimh\u00fcgel, sp\u00e4ter aber als eine Rindenschicht im ganzen Dotter sich gebildet haben, jedesmal unmittelbar zu den sichtbar werdenden Anlagen des Thiers zusammentreten. Es sind daher urspr\u00fcnglich die Zellen der neu entstandenen Gebilde des Embryo durchaus dieselben, welche wir in dem Reimh\u00fcgel vorfinden, und die spater","page":671},{"file":"p0672.txt","language":"de","ocr_de":"(\u00ce72 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. I. Ahschn. Entwich/, d. Eies.\nsicli ringsum den Dotter als Itindenschiclit entwickeln. Es erhellt aus der Organisation des Dotters, der immer nur an seiner Oberfl\u00e4che die zur Entwickelung des Embryo pr\u00e4disponirten kleineren Zellen in Bereitschaft hat, dass eine Art schichtweisen und all-m\u00e4hligen Verbrauchs desselben erfolgen muss. Der Anfang aller embryonischen Gebilde aus dem Dotter wird mit dem Centraltheil des animalen Nervensystems und der Schluss mit dem Repr\u00e4sentanten des vegetativen Lebens (Schleimhaut des Darms) gemacht.\nDie Umh\u00fcllungshaut f\u00fcr den zum Embryo sich entwickelnden Dotter. Der erste Entwickelungsact des Dotters ist die Bildung der Umh\u00fcllungshaut. Zu dem Ende isolirt sich auf dem Reini-li\u00fcgel eine einfache Zelle-nschicht, welche hei den Fr\u00f6schen gr\u00f6s-stentheils durch Ablagerung von schw\u00e4rzlichem Pigment innerhalb einzelner Zellen sehr bald gef\u00e4rbt erscheint. Sie dehnt sich schnell \u00fcber den Reimh\u00fcgel hinweg auf die \u00fcbrige Fl\u00e4che des Dotters aus und hat den letztem, noch ehe eine Spur des Embryo selbst vorhanden ist, umh\u00fcllt. Ihre Fortschritte sind von einer steten Bildung kleinerer, f\u00fcr ihre Erweiterung bestimmter Dotterzellen begleitet. Ist daher die Umh\u00fcllungshaut fertig, so hat der Dotter eine vollkommene Rindenschicht kleinerer, f\u00fcr die Entwickelung des Embryo pr\u00e4disponirter Zellen erhalten, die nur in dem Reim-hiigel in gr\u00f6sserer Masse angeh\u00e4uft sind. Sobald die Umh\u00fcllungshaut aufgetreten, so ist auch das letzte Rudiment der Dolterhaut des Eies verschwunden.\nAnlage des animalen Systems. Die Entwickelung des Dotters zum Embryo beginnt gleich nach der Vollendung' der Umh\u00fcllungshaut, und zwar mit der Anlage zum animalen System. Zuerst entsteht die Chorda dorsalis und zu ihren beiden Seiten die Anlagen f\u00fcr die Centraltheile des Nervensystems. Sie markiren sich schon \u00e4usserlich an der Stelle, wo das erste Rudiment der Umh\u00fcllungshaut erschien, \u00fcber dem Reimh\u00fcgel durch hellere F\u00e4rbung der Umh\u00fcllungshaut in einer Fl\u00e4che von fast ovaler Form. Mitten durch diese ovale Fl\u00e4che, die ungef\u00e4hr den dritten Theil der Dotter-Oberfl\u00e4che einnimmt, und am Rupfende etwas weiter wird, entsteht der L\u00e4nge nach eine schmale seichte Rinne. Sie entspricht dem Verlauf der Chorda dorsalis, die zu beiden Seiten liegenden Fl\u00e4chen aber den Anlagen der Central-1,1 ci le des Nervensystems. Auf dem Querschnitt zeigen sich beide Gebilde als eine von Neuem gebildete Zellenschicht des Reimh\u00fcgels, die sich an die Umh\u00fcllungshaut innig angelagert hat. Eine Spalte trennt sie von den \u00fcbrigen Zellen desselben, und diese selbst haben sich durch eine f\u00f6rmliche L\u00fccke von der centralen Dottermasse geschieden, w\u00e4hrend sie an der peripherischen Grenze nach wie vor einen unmittelbaren Zusammenhang mit den \u00fcbrigen Dotterzellen unterhalten. a Umh\u00fcllungshaut, b Reimh\u00fcgei,\nd Rindenschicht des Dotters mit dem Reimh\u00fcgel zusammenh\u00e4ngend. e Centraltheile des Nervensystems auf dem Querdurchsclinitt.","page":672},{"file":"p0673.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der Fische und nackten Amphibien.\nG73\nf Chorda dorsalis.\n% L\u00fccke im Dotter unter dem Reimh\u00fcgel.\nDie Zellen der bestehenden Gebilde sind nun \u00fcberall ein und dieselben, und zwar die kleineren f\u00fcr die Entwickelung des Embryo pr\u00e4disponirten Dotterzellen. In der Umh\u00fcllungshaut, so wie in jeder Anlage, bei welcher nur die Tendenz zu einer einfachen Membranbildung vorliegt, grenzen sie sich polyedrisch ab. Im Verlauf der Entwickelung ziehen sich die Urh\u00e4lften des Central-Nervensystems, an Dicke zunehmend, in der Mittellinie des Embryo mehr und mehr zusammen. Es bildet sich so aus der membranartigen Anlage jederseits der Wirbels\u00e4ule ein sich allm\u00e4hlig st\u00e4rker erhebender Wulst, welcher die tiefer gelegene Mitte wallartig begrenzt. Diese W\u00fclste hat man irrth\u00fcmlich f\u00fcr die Anlage des Wirbelsystems angesehen und sie daher die R\u00fcckenplatten genannt, die dazwischen liegende Tiefe die R\u00fcckenfurche. Letztere ist am Kopfende breiter als nach hinten, indem die H\u00e4lften derCentral-theile des Nervensystems von der Stelle ab, wo das Gehirn sich ausbildet, mehr auseinander weichen, um dann vorn in einem Bogen, sich gegen die Mittellinie wendend, sich zu verbinden. In der R\u00fcckenfurche wird eine feine Verbindungsmembran sichtbar, bald werden in dem Hirntheil dieser Anlage die 3 Hauptpartien des Gehirns erkennbar. Zu den Seiten des Gehirns liegen hintereinander zwei ovale Zcllenmassen, mit dem Gehirn innig zusammenh\u00e4ngend, die Anlagen des Auges und Ohrs.\nAusser den genannten Gebilden hat sich um diese Zeit eine neue Anlage des Embryo von den Zellen des Keimh\u00fcgels isolirt, n\u00e4mlich das eigentliche R\u00fcckgratsystem. Dasselbe besteht urspr\u00fcnglich, wie die Centraltheile des Nervensystems aus 2 membranartigen Schichten des Keimh\u00fcgels, welche zu beiden Seiten der Wirbelsaite unter den Centraltheilen des Nervensystems liegen, von diesen so verdeckt, dass sie \u00e4usserlich nirgends und nur auf dem Querschnitt wahrzunehmen sind. Von Wirbeln ist jetzt noch nichts zu unterscheiden.\ndass es f\u00fcr die Bildung der ist. Es zeigt sich unter dci Umh\u00fcllun wo die Centraltheile des Nervensystems a\nb Keimh\u00fcgel.\nd Rindenschicht des Dotters. e Centraltheile desNervensystems. f Chorda dorsalis.\nE R\u00fcckgratsplatten.\n<; L\u00fccke im Dotter unter dem Keimb\u00fcgel.\nU Dotter.\nUm die jetzige Zeit wird auch die Entwickelung eines Systems angedeutet, das nach mancherlei Metamorphosen zuletzt als Cutis des Thiers \u00fcbrig bleibt. Es mag daher Hautsystem, Vorlauter der Lcibesw\u00e4ndc heissen, in Betracht, animalischen W\u00e4nde von Wichtigkeit haut am erkennbarsten, i \u00e4ussern Rande mit der","page":673},{"file":"p0674.txt","language":"de","ocr_de":"674 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. 1. Ahschn. Entwickl. d. Eies.\nDottermasse zusammenstossen. Siehe die vorhergehende und folgende Figur o. Man kann hier unter der Umh\u00fcllungshaut eine als Membran auftretende Zellenschicht darstellen, welche sowohl nach oben auf der \u00e4ussern Oberfl\u00e4che der Centrallheile des Nervensystems, als auch nach unten auf dem Dotter eine kleine Strecke zu verfolgen ist, sie besteht aus po-lyedrischen Zellen. Die Entwickelung dieser Anlage geht da vom Keimh\u00fcgel aus, wo er an dem \u00e4ussern Rande in die \u00fcbrigen Dotterzellen \u00fcbergeht, und die Erweiterung schreitet nach unten durch Isolirung der oberfl\u00e4chlichen Zellenschicht des Dotters fort. Diese paarigen Anlagen haben noch einen grossen Raum zu \u00fcberwachsen, ehe sie sich gegenseitig vereinigen k\u00f6nnen.\nW\u00e4hrend nun das Eichen sich mehr und mehr die L\u00e4ngenform aneignet, wachsen die Urh\u00e4lften des Central-Nervensystems immer n\u00e4her aneinander und formiren nun ganz nahe beisammen liegend, eine keinmal tige Erh\u00f6hung auf dem Dotter, welche fr\u00fcher f\u00fcr die Anlage des R\u00fcckgrats gehalten wurde. Das System jedoch, von welchem das R\u00fcckgrat gebildet wird, befindet sich unterhalb dieses Kammes. Tn dem Grade aber als die Urh\u00e4lften des Nervensystems n\u00e4her zusamrnenr\u00fccken, treten die Urplatten des R\u00fcckgrats an Masse zunehmend nach aussen hervor. Sie gelangen so an das Hautsystem und beginnen unter dessen Schutze und Beih\u00fclfe zur Formirung der beiden R\u00f6hren des Wirbelsv-stems, die Entwickelung der R\u00fccken- und Visceralplatten. Letztere gehen, sobald sie sich zu formiren begonnen haben, als zwei Schenkel, der eine nach oben, der andere nach unten von den mittleren R\u00fcckgratsplatten ab. Bald darauf findet man die fr\u00fchesten Andeutungen von paarigen Wirbelabtheilungen in den Urplatten seihst. a Schwarze Umh\u00fcllungshaut. e Centraltheile des Nervensystems. f Chorda dorsalis.\nE Urplatten des R\u00fcckgrats mit ihren Verl\u00e4ngerungen, o Hautsystem.\nrr L\u00fccke im Dotter unter dem Keimh\u00fcgel. I) Dotter.\n.letzt verwachsen die Urh\u00e4lften der Centraltheile des Nervensystems mit ihren oberen R\u00e4ndern, die unteren hatten sich schon fr\u00fcher vereinigt. Die R\u00fcckenfurche mit der sie auskleidenden schwarzen Umh\u00fcllungshaut wird dadurch zu einem Canale abgeschlossen. Es bilden demnach die Centraltheile des Nervensystems gleich nach der Vereinigung ihrer Urh\u00e4lften eine R\u00f6hre, welche nach dem Gehirnende weiter wird (als Ueberbleibsel dieser Unbildung erhalten sich Gehirnventrikel), deren Seitenw\u00e4nde st\u00e4rker als die oberen und unteren Yerbiii-dungstheile sind, die endlich in ihrem Innern die abgeschlossenen Rudcra der schwarzen Umh\u00fcllungshaut enth\u00e4lt.","page":674},{"file":"p0675.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung tier Fische und nackten Amvhifden.\n675\ne Centraltheile des Nervensystems mit dem Canal im Innern.\nE R\u00fcckgratsystem. f Chorda dorsalis. o o\" Hautsystem.\nDas Hautsystem hat unter der Umh\u00fcllungshaut nach und nach den Dotter vollkommen umwachsen. So lange die Wirbelr\u00f6hren noch offen dastehen, erscheint dasselbe als Vermittler und Vervollst\u00e4ndiger dieser offenen R\u00f6hren und ist von Rathke, wo es die R\u00fcckenplatten zusammenh\u00e4lt, Membrana reuniens superior, da wo durch sie die Visceralplatten vereinigt werden M. r. inferior genannt worden, o Membrana reuniens inferior, o\" M. r. superior.\nDer Froscheinbryo verl\u00e4sst am fr\u00fchesten von allen Wirbel-thieren die Eih\u00fclle, nachdem das animale System im Wesentlichen angelegt ist. Die Urh\u00e4lften der Centraltheile haben sich vereinigt, die Wirbelr\u00f6hren werden nach oben durch die R\u00fcckenplatten am Rumpfe, nach unten durch zwei Visceralbogen am Kopfe schon beinahe vollkommen gebildet, in den \u00fcbrigen Gegenden werden sie durch die vereinigenden H\u00e4ute vervollst\u00e4ndigt. Es ist bereits der Schwanz deutlich sichtbar. Umgeben ist das Ganze zun\u00e4chst von dem, bei der ersten Bildung eine so wich-tige Rolle spielenden Hautsysteine, und dann zu \u00e4usserst von der Umh\u00fcllungshaut. Zur St\u00fctze des Thierchens sind von dem Haut-svstem an den ersten Visceralbogen zwei Saugn\u00e4pfchen entwickelt.\nErn\u00e4hrungssystem f\u00fcr das gemeinschaftliche Zellenlehen im Em-hryo. Blut syst ein. Die Systeme und Organe f\u00fcr die gemeinschaftliche Ern\u00e4hrung der zum Embryo aggregirten Zellen beginnen erst sich zu entwickeln, nachdem das animale System und so die \u00e4ussere Gestalt des Embryo im wesentlichen gebildet ist. Diese Entwickelungen gingen durch das pflanzliche Zellenlehen vor sich, ohne der H\u00fclle durch ein Blutgef\u00e4sssystem zu bed\u00fcrfen, welches h\u00f6chst eigenth\u00fcmlich beim Frosch erst sehr sp\u00e4t sich entwickelt. Die unter dem Keimh\u00fcgel bestandene L\u00fccke im Dotter erh\u00e4lt sich w\u00e4hrend der Bildungszeit des animalen Systems. Die sie von oben bedeckenden Zellen des Keimh\u00fcgels sind dann bis auf eine sehr d\u00fcnne Schicht verbraucht. Nun nimmt die L\u00fccke schnell ab und die d\u00fcnne Zellenschichte des Keimh\u00fcgels kommt unmittelbar auf die centrale Dottermasse zu liegen. Der Dotter am Rumpfe ist dann von einer einfachen gleichm\u00e4ssigen Cortical-Zellenschicht umgehen. Am Kopfe hingegen erweitert sich die L\u00fccke, indem der Dotter nach der Bauchh\u00f6hle sich zusarnmenzieht und wird zur Mundh\u00f6hle. Die sie von oben bedeckende zur\u00fcckgebliebene einfache Zellenschicht des Keimh\u00fcgels liegt an der untern Fl\u00e4che der Sch\u00e4delbasis, und hat sich auch \u00fcber die innere Fl\u00e4che der zwei Visceralbogen des Kopfes ausgebreitet. Es entsteht eine vollst\u00e4ndige Auskleidungsmembran der Mundh\u00f6hle. Eine nach vorne vorspringende Partie der Hauptdottermasse in der Bauchh\u00f6hle wird zur Bildung des Herzens verwandt. Aus der untern Mitte entwickelt es sich, zu den Seiten die Aortenbogen. Die Anlagen sind anfangs solide Massen, sp\u00e4ter zeigen sich die R\u00f6hre","page":675},{"file":"p0676.txt","language":"de","ocr_de":"07\u00df VIII. Buch. V. d. Entwickelung. I. Ahschn. En!wirk/, d. Eies\nund drinnen die noch ganz runden Blutzellen mit Kerl1 und Kernk\u00fcgelchen und feink\u00f6rnigem Inhalt. Auch entsteht e*ne eigene von der Bauchh\u00f6hle abgesonderte Herzh\u00f6hle mit eji'theliumartiger Auskleidnng (Herzbeutel). Mit den Aortenbogen bilden sich drei Kiemenbogen aus, sie liegen in der zweiten fr\u00fcher\u00bb Visecralspalte oder sogenannten Kiemenspalte. Auch entstehen von dem Bildungsstoff der Kiemenbogen die \u00e4usseren Kiemen. Kiemenbogen und \u00e4ussere Kiemen entstellen mit der sp\u00e4teren Cutis aus dem Urgebilde, welches Hautsystem genannt wurde.\nW\u00e4hrend vorn das Herz durch die Aortenbugen mit den Kiemen in Verbindung stellt, verzweigt sich das hintere Lude desselben unmittelbar in der vordersten Dolterpariie der Bauchh\u00f6hle. Diese sieht man nun sehr bald von der \u00fcbrigen Masse sich isoliren und selbstst\u00e4ndig werden. Es ist die noch gar nicht geschiedene Anlage f\u00fcr die k\u00fcnftige Leber und das Pancreas. Sie entstehen beim Frosch aus dem Dotter selbst zu einer Zeit, wo bei ihm noch keine Spur vom Darmsystem in der Bauchh\u00f6hle vorhanden ist. Nirgends findet man die Erzeugung neuer Generationen von Zellen in den Mutterzellen so auffallend, als in dieser Bildungsmasse der Leber und des Pancreas. Dieses tb\u00e4tige Zellenleben steht wahrscheinlich mit der Blutbildung im Zusammenh\u00e4nge, da hier ein solcher Vorgang wie bei anderen Thieren in der Area vasculosa der Keimhaut nicht stattfindet. Ausser der Leber und Pancreasanlage entwickeln sich durch unmittelbares Zusammentreten tier Dotterzellen in der Bauchh\u00f6hle die Wor.Fr\u2019schen K\u00f6rper, an der von Mueller angegebenen Stelle, dicht am Kiemenapparat, und die Ausl\u00fchrungsg\u00e4nge verlaufen l\u00e4ngs der Rumpf-visceralh\u00f6hie zu der vom Hautsystem gebildeten ephemeren Alter-\u00d6ffnung. In der letzten Figur ist die Lage der Ausf\u00fchrungsg\u00e4nge der W'oLLr\u2019schen K\u00f6rper durch IV auf dem Querdurchschnitt angedeutet.\nFroschlarve\nI urischritt der Entwickelung des animalen Systems. Der Froschembryo bildet sich zun\u00e4chst zu der fisch\u00e4hnlichen Form aus, das Hautsystem entwickelt die Flossen und auch die Hornplatten der im Munde. Im \u00fcbrigen ist es jetzt zum gr\u00f6ssten Theil schon blosse Schutzh\u00fclle des Wirbelsystems oder der animalen .Rumpfw\u00e4nde geworden. Nur am Rumpf f\u00fcngirt es noch als Membrana reuniens inferior und formirt die ephemere After\u00f6ffnuug. Das Centralnervensystem verliert durch Verdickung der W\u00e4nde mehr und mehr dir: R\u00f6hrenform und die im Innern des Canals befindlichen Rudera der schwarzen Umh\u00fcllungshaut. Das peripherische Nervensystem wird sichtbar. e Centraltheil des Nervensystems. f Chorda dorsalis.\nE Wirbelsystem mit den oberen und unteren Fortsetzungen, R\u00fcckenplalten und Bauchplatten.\nuo Hautsystem, \u00bbMembrana reuniens inferior.","page":676},{"file":"p0677.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der Fische und nackten dm/diihicn.\n\u00ab77\nI) Dotter in der blossen Bauchh\u00f6hle enthalten, indem der Darm noch nicht gebildet ist.\nAnlage des Darmsystems. Die Entwickelung des Darms beginnt beim Frosch nach der Ausbildung des animalischen Systems und nachdem das Blutsystem zur Vermittelung des gemeinschaftlichen Zellenlebens angelegt ist. Das Wahrungsmaterial befand sieb anfangs in dem kugeligen Inhalte der Zellen selbst, sp\u00e4ter wurde es durch die Leber- und Pancreasanlage dem Blutsysteme zugeliihrt. Einer Verdauung bedurfte es hier nicht. Die Larve siebt nun um diese Zeit oberfl\u00e4chlich betrachtet, ganz vollst\u00e4ndig aus. Sie lebt mit \u00e4usseren Kiemen und bewegt sich sehr bebende, doch nimmt sie keine Nahrungsmittel zu sich. Das zur Aufnahme fremder Walirungsstoffe bestimmte Darmsystem bildet sich folgen-dermassen. Der liest des Dolters nimmt gegenw\u00e4rtig die grosse hintere Abtheilung der Rumpf-Visceralh\u00f6hle ein, so zwar, dass er oben an der Schlund\u00f6ffnung beginnt und bis auf die Leber und Pancreas-Anlage und die WoLFF\u2019schen K\u00f6rper den \u00fcbrigen Raum vollst\u00e4ndig ausf\u00fcllt. Er grenzt demgem\u00e4ss vorn an die Schlund\u00f6ffnung, an die hier anstossende Auskleidungsmembran der Mundh\u00f6hle und an die Leber und Pancreas-Anlage, hinten, unten und seitlich an das Hautsystem, Membrana reuniens inferior und oben an die Wirbels\u00e4ule, an die Visceralplatten und an die daran liegenden WoLFF\u2019schen K\u00f6rper. Siehe die letzte Abbildung. Im \u00fcbrigen aber liegt der Dotter ganz frei, durch keine eigenth\u00fcm-liche Membran zusammengehalten, ln den einzelnen Dotterzellen findet man jetzt schon \u00fcberall junge Generation, und rund um die Oberfl\u00e4che haben sieb dieselben befreit und zur Disposition der weiteren Entwickelung gestellt. Beim Frosch und Triton und wahrscheinlich bei allen denjenigen niederen Wirbeltbieren, wo der Dotter schichtenweise f\u00fcr die Entwickelung des Embryo verbraucht wird, entsteht zuerst ein Rohr des Darms, dem noch die Schleimhaut fehlt und dann als letzter Bildungsact des Dotters die Schleimhaut.\nDie Darmhaut. Die Urmembran des Darms entwickelt sich von dem Dotter auf die Weise, dass die oberfl\u00e4chlichste Zellenschicht des Dotters jederseits zu einer h\u00e4utigen Anlage Zusammentritt. Dieselbe stellt sich dann als eine dachf\u00f6rmige Bedeckung der Dottermasse dar, und haftet mit ili^er oberen Kante l\u00e4ngs der Wirbels\u00e4ule fest, so dass an der Wirbels\u00e4ule zwei membra-n\u00f6se Platten herabh\u00e4ngen (v. Baer\u2019s Darmplatten beim H\u00fchnchen). Sehr bald verwachsen diese beiden \u00fcrplatten der Darmbaut tief nach unten und h\u00fcllen dann den ganzen Dotter ein. Die Darmbaut bildet dann einen flach ovalen Sack in der Rumpfvisceralh\u00f6hle. Hinten \u00f6ffnet sie sich durch den ephemeren Hautafter, gleichzeitig mit den Ausf\u00fchrungsg\u00e4ngen der WoLFF\u2019schen K\u00f6rper. Vorn reicht sie an die Schlund\u00f6ffnung und ist hier in unmittelbarer Verbindung mit der Auskleidungsmembran der Kopf-Visceralh\u00f6hle, so dass man letztere als den am fr\u00fchesten entstehenden Kopftheil der Darmbaut ansehen muss. Urspr\u00fcnglich sind cs die einfachen Dotterzellen, welche die Darmhaut bilden, ln diesen entwickeln sich dann junge Generationen. Ist nun die Larven-","page":677},{"file":"p0678.txt","language":"de","ocr_de":"678 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. I. Ahschn. Entwickl. d. Eies.\ndarmform schon ziemlich erkennbar, so werden die Zellen der Darmhaut auf zwiefache Art verwendet: 1. sie formiren im Bauch-theil des Darms eine Muskelhaut und die Zeilen verwandeln sich in primitive, meist quere Muskelb\u00fcndel ; 2. sie entwickeln die Dr\u00fcsen, deren Secrete die Verdauung der Nahrungsmittel bewirken. Ferner entwickelt sich in der Darmhaut ein dichtes Blutgef\u00e4ssnetz, auch hier haben die Blutk\u00f6rperchen einen feink\u00f6rnigen Inhalt in der Nahe des Kerns oder in der ganzen Zelle des Blutk\u00f6rperchens.\nDie Schleimhaut. Um die Zeit, wenn der Darm bereits einen kleinen schneckenf\u00f6rmig aufgewundenen Schlauch darstellt, liegt der Rest des Dotters innerhalb des Kanals desselben, und bildet an den Wandungen eine lockere, doch ziemlich dicke Kruste, so dass in der Mitte eine kleine H\u00f6hle \u00fcbrig gelassen wird. Diese Zellenkruste wird meist nur aus den kleineren Dotterzellen zusammengesetzt, die gr\u00f6sseren sind jetzt h\u00f6chst selten. So weit nun die Bauchabtheilung der Darmhaut sich ausdehnt, ebenso weit l\u00e4sst sich auch nur die Kruste verfolgen. Aus der Kopl\u00e4b-thedung hatte der Dotter sich schon fr\u00fcher zur\u00fcckgezogen, hier fehlt auch die Zellenkruste. Je mehr sich nun der Darm verl\u00e4ngert, desto d\u00fcnner wird die an den Wandungen anliegende Zellenschicht und die innere H\u00f6hlung nimmt zu. So wird der Dotter allm\u00e4ldig an der Innern Wand der Darmh\u00f6hle so ausgebreitet, dass nur eine einfache Schicht von Dotterzellen vorhanden ist, und diese verwandelt sich nun in das Gebilde, welches f\u00fcr die Schleimhaut zu halten ist. Die Zellen dieser Schichte ver\u00e4ndern bald ihre Form, so dass sie in der Richtung des Radius der Darmh\u00f6hle sich verl\u00e4ngern, und theils die Kegelgestalt, theils die Cv-linderform annehmen, mit nach aussen gewandten Spitzen der Kegel und deutlichem Kern. Die Zellen werden allm\u00e4hlig mit fetttr\u00f6pfchenartigen K\u00fcgelchen gelullt. Diese Schicht ist gef\u00e4sslos. Der Darm besteht nun aus 2 R\u00f6hren, der Muskelhautr\u00f6hre und Schleimhautr\u00f6hre und der dazwischen befindlichen Dr\u00fcsenschicht. Diese assimilirende Schichte des Darms findet sich merkw\u00fcrdiger Weise nur in der Bauchabtheilung des Darmsystems. Sie hat die gr\u00f6sste Aehnlichkeit der Struetur mit dem sogenannten Epithelium der Darmschleimhaut. Wir vermeiden hier diesen bedenklichen Ausdruck Epithelium, da wir es jedenfalls hier mit dem assimihrenden Organ des Darms zu thun haben, und eine andere Schleimhaut bei der Froschlarve nicht exislirt, da ferner auch die Zellen des sogenannten Epitheliums bei den erwachsenen Thieren leicht eine h\u00f6here Bedeutung, als die man dem Epithelium gew\u00f6hnlich beilegt, n\u00e4mlich diejenige haben m\u00f6gen, die wirksamen tlemente der aufsaugendeu und assimilirenden Th\u00e4-tigkeit zu sevn.\nMesenterium. Urspr\u00fcnglich ist kein Mesenterium vorhanden. Nach der Form des Dotters in der Rumpfvisceralh\u00f6hle hatte der Darmhautsack eine etwas sich erhebende Kante, welche an der Wirbels\u00e4ule festhaftet. In dem Grade aber, als der Darmhautsack sich verl\u00e4ngert, muss der Dotter und seine Umh\u00fcllung sich von der Wirbels\u00e4ule entfernen. Diess geschieht am meisten da, wo der mittlere Theil sich zur Schneckenlorm auszieht. Dadurch gelan-","page":678},{"file":"p0679.txt","language":"de","ocr_de":"jEntwickelung der Fische und nackten Amphibien.\n679\ngen die Leiden an der Wirbels\u00e4ule festhaltenden W\u00e4nde (Mesenterial-Platten) des Darmhautsackes allm\u00e4hlig und der Entfernung der Darmr\u00f6hre von der Wirbels\u00e4ule entsprechend aneinander, und verwachsen, um als Verbindungstheil zwischen Darmschlauch und Wirbels\u00e4ule, Mesenterium, aufzutreten. Wenn nun die Indi-vidualisirung der Gewebe in der Darmhaut eintritt, so sondert sieh von der letzte\u2122, wo sie mit der Oberfl\u00e4che frei liegt, eine gef\u00e4sslose Epitheliumsclncht ab. Dasselbe thun alle \u00fcbrigen Gewebe in der Bauchh\u00f6hle an ihrer freien Oberfl\u00e4che (Peritoneum). Die Bildungsmasse der Mesenleriaiplatten dient zur Entwickelung von Gelassen, Nerven, Milz. W\u00e4hrend also sp\u00e4ter die abgesonderte gef\u00e4sslose Zellenschicht nur als Anheftungsband dasteht, ist es Sache der Hauptmasse auch die wesentliche Verbindung zwischen animalem und vegetativem Leben zu repr\u00e4sentiren. Wie das Peritoneum so bildet sich auch das Pericardium in der Herzh\u00f6hle, die Pia mater und wohl auch alle ser\u00f6se S\u00e4cke bei anderen Thieren.\nMit der Entwickelung des Darms ist auch der Dotter vollst\u00e4ndig verbraucht und der Larvenorganismus des Frosches constitu\u00e2t. Gleichzeitig sind auch die \u00e4usseren Kiemen geschwunden und die inneren Kiemen haben sich entwickelt. Alle weitere Entwickelungen im Verlauf der Larven-Metamorphose geschehen durch Entstehung neuer Mutterzellen an bestimmten Orten, so die Extremit\u00e4ten, wovon die vorderen in der Kiemenh\u00f6hle verdeckt liegen. Diese H\u00f6hle entsteht dadurch, dass der h\u00e4utige Kiemendeckel, welcher zum Schutz der Kiemen sich entwickelt, mit dem Anfang des Rumpfes bis auf eine kleine runde Kiernen-\u00f6lfnung verw\u00e4chst. Die vorderen Extremit\u00e4ten werden erst bei der Verk\u00fcmmerung des Kiemenapparates frei, wenn die Lungen-athmung eintritt. Sobald das Wirbelsystem ganz ausgebildet ist, beh\u00e4lt das Hautsystem nur die Function, die \u00e4usserste Umh\u00fcllung des ganzen Thiers zu seyn. Es giebt keine Flossen, keine Mem-branae reunientes, keinen Hautafter, keine hornartigen Lamellen mehr. Die Lungen entspringen nicht aus dem System, woraus die Kiemen hervorgingen. Mit der Reduction des Hautsystems auf die Cutis ist gleichzeitig das Verk\u00fcmmern der Umh\u00fcllungshaut und das Auftreten der Epidermis verbunden, welche noch unter der Umh\u00fcllungshaut anzutreffen gl\u00fcckt. Die Entwickelung der Lungen beginnt schon fr\u00fcher, wenn der Darm eine Sf\u00f6rmige Biegung gemacht hat. Sie entstehen neben der Darmhaul, wo der Darm in den Kopf tritt, nicht aus dem Darm. Die Nieren entwickeln sich bei der Froschlarve um die Mitte der Larvenzeit. Auch im Bau des Darms gehen grosse Ver\u00e4nderungen vor sich, welche sich auf die Ver\u00e4nderung der Nahrung beziehen. Die Geschlechtslheile fehlen der Larve anfangs ganz, die Entwickelung beginnt mit derjenigen der Extremit\u00e4ten.\nMiiller\u2019s Physiologie. 2rB<l. III.\n44","page":679},{"file":"p0680.txt","language":"de","ocr_de":"680 VIII. Buch. V. \u00e0, Entwickelung. I, Ab sehn. Entcvickl. d. Eies.\nII. Capitel. Entwickelung der Vogel und beschuppten\nA mp hihi en.\nGleichwie die Fische und nackten Amphibien im Typus ihrer Entwickelung wesentlich \u00fcbereinstimmen, und sich vor allen \u00fcbrigen Wirbelthieren durch den Mangel des Amnions und der Allantoide auszeichnen, so harmoniren wieder die V\u00f6gel und beschuppten Amphibien (Schlangen, Eidechsen, Crocodile, Schildkr\u00f6ten) in den Grundz\u00fcgen ihrer Entwickelung. Bei allen diesen findet sich sowohl das Amnion als die Allantoide vor. Einiges von diesen H\u00e4uten kannte schon Aristoteles hei den V\u00f6geln. Hist, atiim. IV. 3. unterscheidet er eine Haut, die den Dotter enth\u00e4lt, eine Haut, die den F\u00f6tus umgiebt (Amnion) und eine Haut, welche sowohl jene als diese und die zwischen beiden befindliche Fl\u00fcssigkeit umgiebt, und die er de general, anim. 3. 2. Chorion nennt. Er unterscheidet auch Blutgef\u00e4sse zur Haut, die den Dotter enth\u00e4lt und zum Chorion. Was den Dottersack betrifft, so bildet sich bei diesen kein innerer Dottersack im Bauch aus und der \u00e4ussere Dottersack wird durch den Nabel zuletzt in die Bauchh\u00f6hle aufgenommen, wie bereits Aristoteles von den V\u00f6geln wusste. De g euer. anim. 3.2. Ferner ist ihnen eigent\u00fcmlich, dass der mit den Bumpfw\u00e4nden zusammenh\u00e4ngende Nabelsack, der bei den Fischen den Dottersack enth\u00e4lt, bei den V\u00f6geln und beschuppten Amphibien fehlt, indem das entsprechende Blatt auf dem Dotter fr\u00fchzeitig resorbirt wird. Diese physiologischen Unterschiede der Entwickelung von der vorhergehenden Abtheilung sind so gross, dass man berechtigt seyn w\u00fcrde, die nackten Amphibien ganz von der Classe der \u00fcbrigen Amphibien auszusclilies-sen, um so mehr als auch noch andere wesentliche anatomische Verschiedenheiten hinzukommen, wie bei den nackten Amphibien die abortive Beschaffenheit der Rippen, oder ihr g\u00e4nzlicher Mangel, bei dem Mangel der Schnecke das Vorhandenseyn nur eines Fensters am Geh\u00f6rorgan, der Condylus occipitalis duplex, der Mangel des Penis, das Athinen mit Riemen und Lungen. Siche oben Bd. 1. 3. Aufl. pag. 170.\nBei den Thieren der Ablheilung, deren Entwickelungsgeschichte wir jetzt abhandeln, scheinen auch die Furchungen des Dotters vor der Entwickelung des Embryo zu fehlen.\nWir werden zun\u00e4chst wegen Vollst\u00e4ndigkeit der Materialien uns an die Entwickelungsgeschichte der V\u00f6gel halten, welche durch die classischeri Untersuchungen von C. Fr. Wolff, Parder und v. Baer am genauesten von allen bekannt geworden. Bei der allgemeinen l ebersiebt folgen wir zun\u00e4chst den bisherigen Untersuchungen, hingegen sind f\u00fcr den Entwickelungsgang im Einzelnen und den Antheil der Zellen an der Entwickelung die neueren Untersuchungen von Reichert benutzt. Die vorz\u00fcglichsten Schriften, welche hierher geh\u00f6ren, sind: C. Fr. Wolfe Theona genera-tiunis. Halae 1759. C. Fr. Wolfe \u00fcber die Bildung des Darmcanals, \u00fcbers, von Meckel, Halle 1812. Pander Entivickelungsgeschiclde\ndes H\u00fchnchens im Ei, IViirzb, 1817, v. Baer in Bur\u00fcach's lhf-","page":680},{"file":"p0681.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der V\u00f6gel und beschuppten Amphibien. 681\nsiolugie II. und \u00fcber Entwickelungsgeschicfde der Thiere. 1, und II. Valentin a. a. O. R. \"Wagner a. a. O.\n1. Allgemeine Uebersicht \u00fcber die Entwickelung der V\u00f6gel,\nDie Entwickelung desVogeleies findet bei einer, dem Leben eines zarten warmbl\u00fctigen Thieres angemessenen Temperatur von 28\u00b0 \u2014 32\u00b0 R. statt. W\u00e4hrend der Entwickelung geschieht eine dieser Temperatur entsprechende Verdunstung von Wasser von Seiten des Eies, die aber gleich gross seyn w\u00fcrde, wenn ein unbefruchtetes Ei gleich lange jener Temperatur ausgesetzt w\u00e4re. Eine Folge dieser Verdunstung ist das Abweichen des Eiweisses vom stumpfen Ende des Eies, und die Bildung eines bohlen Raumes, der durch die Poren der Schale hindurch von der atmosph\u00e4rischen Luft eingenommen wird. Die Zusammensetzung dieser Luft stimmt ungef\u00e4hr mit derjenigen der atmosph\u00e4rischen Luft \u00fcberein.\nDie erste Ver\u00e4nderung, welche man in Folge der Bebr\u00fctung am Reime wahrnimmt, ist die Vergr\u00f6sserung desselben, indem er am Rande gleichm\u00e4ssig in die Fl\u00e4che sich ausdehnt. Die sich vergr\u00f6ssernde Keimhaut beh\u00e4lt hierbei anfangs ihre Dicke, ihr Rand bleibt circular. Von der Einwirkung des Keims auf die Dottermasse entstehen in dieser, im Umfang der Keimhaut, mehrere kreisf\u00f6rmige Streifen wie W\u00e4lle, die Halonen, welche nicht der Keimhaut, sondern der Dottermasse angeh\u00f6ren. Der Nucleus unter der Mitte der Keimhaut bleibt unver\u00e4ndert, und tritt in keine n\u00e4here Verbindung mit derselben. Nach Verlauf von mehreren Stunden wird der mittlere Theil der Keimhaut durchsichtiger. Diese Stelle, w'elche anfangs die Gestalt einer langgezogenen Ellipse, sp\u00e4ter eine biseuitf\u00f6rmige Figur annimmt, bezeichnet das Feld, innerhalb welchen sich zun\u00e4chst der Embryo bildet.\nEs ist das durchsichtige Feld, Area pellucida, der durchsichtige Frnchl-hof a. Der \u00fcbrige Theil der Keim-haut ist tr\u00fcbe. Die ganze Keimhaut besieht \u00fcbrigens ganz aus Zellen und sie w\u00e4chst durch Zellenbildung. So wie sich die Keimhaut in der Breite in einen durchsichtigen centralen und tr\u00fcben peripherischen Theil sondert, so geht auch in ihrer Dicke eine Sonderung vor; sie besteht n\u00e4mlich bald aus zwei Schichten, die zwar nicht getrennt sind, aber eine verschiedene Structur besitzen. Die obere oder \u00e4ussere der Dotterhaut zugewandte Schichte, sogenanntes ser\u00f6ses Blatt, die untere oder innere dem Dotter zugewandte, sogenanntes Schleimblatt. Die Structur dieser beiden Bl\u00e4tter ist folgende. Faltete Schw'ann die Keimhaut eines 8 Stunden der Brutw\u00e4rme ausgesetzten Eies, so dass ihre \u00e4ussere Fl\u00e4che den Rand bildet, so zeigte sich dieser Rand von \u00e4usserst Blassen durchsichtigen Zellen gebildet. Diese kommen von allen\n44*","page":681},{"file":"p0682.txt","language":"de","ocr_de":"682\nVIII. Buch. V. d. Entwickelung. I. Ahschn. Entwickl. d. Eies.\nGr\u00f6ssen vor, bis zur Gr\u00f6sse der urspr\u00fcnglichen Kugeln, aus welchen die Keimhaut vor der Bebr\u00fctung und kurze Zeit nach Anfang der Bebr\u00fctung zusammengesetzt war. Sie enthalten eine durchsichtige Fl\u00fcssigkeit und keinen Kern, sondern einzelne sehr kleine dunkele K\u00f6rnchen. Bei einem 16 Stunden bebr\u00fcteten Ei hat sich die innere Lamelle ausgebildet. Die \u00e4ussere Fl\u00e4che ist nach Schwann von Zellen gebildet, die an ihrer innern Wand einen Kern mit 1\u20142 Kernk\u00f6rperchen innerhalb des Kerns und ausserdem eine helle Fl\u00fcssigkeit und einzelne kleinere K\u00f6rnchen enthalten. Die Zellen bilden durch ihr dichtes Zusam-inenstehen polyedrische Formen. Vergl. Valentin Entwickelungs_ geschickte p. 287. Das innere Blatt der Keimhaut enth\u00e4lt zufolge Schwann s Untersuchungen grosse Zellen von sehr verschiedener Gr\u00f6sse, welche eine durchsichtige Fl\u00fcssigkeit und K\u00f6rnchen verschiedener Art enthalten. Fast in jeder zeichnet sich eine Kugel mit sehr dunkeln Konturen aus, zuweilen mehrere in einer Zeile. Diese Zellen liegen locker in einer structurlosen Intercellularsub-stanz als ihrem Keimstoif, Cytoblastema. Diese letztere Substanz enth\u00e4lt ausser den Zellen auch noch dunkele Kugeln und kleinere K\u00f6rnchen, von denen Schwann vermuthet, dass sie zum Theil Kerne neuer Zellen seyen. Innerhalb der Area pellucida haben die Zellen dieses Blattes ein ganz anderes Aussehen. Sie sind viel kleiner, von ziemlich gleicher Gr\u00f6sse, sehr durchsichtig und enthalten keinen grobk\u00f6rnigen Inhalt, sondern nur sehr kleine K\u00fcgelchen. Ein Kern fehlt, w\u00e4hrend die Zellen des \u00e4ussern Blattes auch in der Area pellucida einen Kern haben.\nDer Unterschied der Area pellucida und der \u00fcbrigen Keimhaut ist nicht der einzige, der sich in der fl\u00e4chenhaften Ausbreitung der Keimhaut zeigt. Um die Area pellucida her zeigen sich bald, statt eines, zwei Felder der Keimhaut. Beide sind ringf\u00f6rmig und man kann ihre Grenzen sich als einen Kreis denken, der mit dem Rande der Keimhaut concentrisch ist. Das Feld, was innerhalb dieses Kreises liegt h und zun\u00e4chst die Area pellucida a umgiebt, heisst Gef\u00e4sshof, Area vasculosa, weil sich innerhalb desselben die Blutgef\u00e4sse bilden, das \u00e4ussere Feld c heisst Dotterhof, Area vitellina. Dieses letztere Feld breitet sich am Rande immer fort aus, und umw\u00e4chst sp\u00e4ter allm\u00e4hlig sogar den ganzen Dotter, so dass dann sp\u00e4ter die Keimhaut als ein geschlossener Sack den Dotter enth\u00e4lt, w\u00e4hrend die Dotterhaut vergeht.\nDie Trennung der Area vasculosa und vitellina beruht auf einem Vorg\u00e4nge in der Dicke der Keimhaut. Zwischen dem \u00e4ussern und innern Blatte derselben entsteht n\u00e4mlich noch eine mittlere Lage, welche jedoch als besonderes Blatt nicht gut isolirt werden kann, das Gef\u00e4ssblatt genannt, weil sich innerhalb dieser Lage hernach zuerst die Blutgef\u00e4sse bilden. Die Trennung der Keimhaut in dese drei Lagen geht bloss bis zut Area vitellina, und","page":682},{"file":"p0683.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der V\u00f6gel und beschuppten Amphibien.\t683\ndaher kommt eben die Sonderang der Area vasculosa and vitellina, \u25a0weiche um die Mitte des ersten Tages der Bebr\u00fctung erfolgt.\nUm diese Zeit bemerkt man auch in der Achse der Area pel-lucida (welche in die Quer-Richtung des Eies gestellt ist) die erste Spur der Achse des Embryo in der Form eines weissen Streifens, Primitivstreifen, der nach vorne etwas dicker ist, nach hinten d\u00fcnn ausgeht. v. Baer hielt ihn f\u00fcr einen Vorl\u00e4ufer der Wirbels\u00e4ule, der bald wieder verschwinde. R.eichert sah ihn nicht als besonderes Gebilde, sondern nur als Rinne. Zu den Seiten des Primitivstreifens erbeben sich bald ein paar mit diesem parallel laufende W\u00fclste oder K\u00e4mme, die R\u00fcckenw\u00fclste. Sie divergiren nach vorn und hinten ein wenig. Nach den fr\u00fcheren Beobachtern sind sie bestimmt die Urgebilde des Gehirns und R\u00fcckenmarks von den Seiten zu umfassen und sich \u00fcber ihnen zu schliessen, die Uranlage des R\u00fcckgrats und der Gehirncapsel; nach Reichert sind sie die Centraltheile des Nervensystems selbst. Unter dem R\u00fcckenmark liegt die Chorda dorsalis, die v. Baer entdeckte, ein zarter gallertartiger Streifen. Er kann als die Achse der Wirbelk\u00f6rper des R\u00fcckgrats und des Sch\u00e4dels angesehen werden, ist aber nicht selbst die Grundlage der Wirbelk\u00f6rper. Denn diese bilden sich zuerst aus paarigen Grundlagen zur Seite der Chorda. Es erscheinen n\u00e4mlich weisse quadratische Verdichtungen, welche zuk\u00fcnftig sowohl in den Bogentheil, als in den K\u00f6rperthei! des Wirbels sieb verl\u00e4ngern, so dass hernach die Achse der Wirbelk\u00f6rper beim Vogel von unten von jenen weichen K\u00f6rperchen umfasst wird. Anfangs sind nur einige dieser Wirbelanlagen vorhanden; hernach vermehren sie sich, die paarige Bildung der Wirbel ist schon von Malpighi beobachtet.\nDie Achsengebilde des Embryo h\u00e4ngen nach allen Seiten mit dem \u00e4ussern Blatt der Keimhaut zusammen, ohne eine Rumpfh\u00f6hle unter sich zu haben. Diese entsteht, indem der Embryo mit dem ihm zun\u00e4chst gelegenen Theil der Keimhaut sich \u00fcber die Oberfl\u00e4che der Keimhaut kahnf\u00f6rmig erhebt, so dass dann die Keimhaut wie von den R\u00e4ndern eines Schiffchens ausl\u00e4uft. Diese anfangs offene Aush\u00f6hlung ist die erste Form der Rumpf-hohle. Durch Einbiegung der Keimhaut oben, unten und an den Seiten sondert sich diese H\u00f6hle mehr ab, und bekommt untere und seitliche W\u00e4nde. Zuerst biegt sich der Kopftheil des Embryo mit dem vordem Theil nach vorn um, und die Keimhaut folgt dieser Biegung. Diese Biegung der Keimhaut schreitet von vorn nach hinten fort, und dadurch wird die Rumpfh\u00f6hle vom\na\nKopftheile des Embryo her geschlossen. Die Umbiegung der Keimhaut, welche schon innerhalb des ersten Tages beobachtet wird, heisst die Kopfkappe. Sie erscheint anfangs in Form einer Querfalte, welche sich immer tiefer herunterzieht. Am Runde","page":683},{"file":"p0684.txt","language":"de","ocr_de":"684 VIII, Buch, V, d, Entwickelung, I, Ahschn. Entwich!, d. Eies.\ndieser Falte geht die Keimhaut in ihren peripherischen Theil \u00fcber. Siehe die vorhergehende Durchschnittsfigur. \u00abEmbryo, h \u00e4usseres, c inneres Blatt der Keimhaut. Eine \u00e4hnliche Falte bildet sich innerhalb des zweiten Tages am Schwanztheile des Embryo und r\u00fcckt von hinten nach vorne vor. Siehe die folgende Figur. Beide werden durch denjenigen Theil des schifff\u00f6rmigen Embryo verbunden, der sich von den Seiten der Achsengebilde\na\nin die Keimhaut fortsetzt. Auf diese Weise schn\u00fcrt sich der Embryo von oben, unten und den Seiten von der Keimhaut einigermassen ab, \u00fcber welcher er nun sich erhebt, seine zum grossen Theil noch offene Rumpfh\u00f6hle dem Dotter zuwendend. Das innere Blatt der Keimhaut, so weit es die Aush\u00f6hlung des Embryo auskleidet, ist die Uranlage des Darms und seine H\u00f6hlung die Urform der Darmh\u00f6hle. Das \u00e4ussere Blatt hingegen, soweit es von den Achsengebilden des Embryo ausgehend, das Schiffchen des Embryo bildet, h\u00e4ngt mit der Uranlage der Rumpfw\u00e4nde zusammen, die bestimmt ist, die Wandungen des Halses, der Brust und des Bauches zu bilden. Dass diese animalischen W\u00e4nde aber nicht bloss durch eine Wucherung dieses Blatts entstehen, geht bereits aus Rathke\u2019s Beobachtungen hervor. Auf einem Querdurchschnitte des Schiffchens des Embryo sieht man daher dieses Blatt im Zusammenh\u00e4nge mit jenen W\u00e4nden, welche nach oben die R\u00fcckenplatten, zur Umfassung des R\u00fcckenmarkes, so nach unten die Bauch- oder Visceralplatten bilden, bestimmt das Eingeweidesystem zu umfassen.\na R\u00fcckentheil.\na Bauchtheil der animalischen H\u00f6hlenw\u00e4nde. h Zusammenhang des Bauchtheils dieser W\u00e4nde mit dem peripherischen Theil der Keimhaut. c Inneres Blatt der Keimhaut.\nd Organischer Theil des K\u00f6rpers. Erste Anlage des Darms.\nDurch die Ver\u00e4nderungen in der mittlern Schicht der Keimhaut in der Area vasculosa ist indessen die erste Anlage des Ge-f\u00e4sssystemes und Blutes entstanden. Im \u00e4ussern Umfang der Area","page":684},{"file":"p0685.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der V\u00f6gel und beschuppten Amphibien, 685\nvasculosa erscheinen inselartige Stellen und Rinnen, die sich zu Netzen verbinden, mit blassgelber, durchsichtiger Fl\u00fcssigkeit gef\u00fcllt. Um diese Zeit bildet sich in derselben Schichte das Herz, und zwar in demjenigen Theil der Keimhaut, der sich vom Kopfe her zur Deckung des vordem Theils der Rumpfh\u00f6hle herabgezogen. Siehe die Figur p. 683 x. Zufolge Schwann\u2019s Beobachtungen entstehen die Blutgef\u00e4sse zuerst aus Zellen mit Kernen, welche Forts\u00e4tze hervortreiben und sich mit ihren Forts\u00e4tzen untereinander zu \u00e4stigen und netzf\u00f6rmigen Figuren verbinden. Das Netzwerk der Area vasculosa setzt sich in der Area pellucida fort und h\u00e4ngt mit dem Herzen zusammen, welches die Form eines langen Schlauches hat, der nach unten in zwei ven\u00f6se St\u00e4mme, nach oben in mehrere (mindestens 3 jederseits) rechte und linke Aortenbogen, die sich unter der Wirbels\u00e4ule zur Aorta vereinigen, ausl\u00e4uft. Die Gef\u00e4ssschicht verzweigt sich \u00fcbrigens bald, sowohl in das animalische, als organische System und hat an der ferneren Ausbildung wesentlichen Antheil. Daher sie in den Abbildungen nicht weiter ber\u00fccksichtigt ist. Man sehe die ausgef\u00fchrteren Abbildungen v. Baer\u2019s in Burdach's Physiologie und R. Wagners [cones physiologicae. Einzelne R\u00f6hren des Netzwerkes bilden sich zu St\u00e4mmen aus. Wenn das Herz sich zu bewegen beginnt, so circulirt anfangs eine farblose Fl\u00fcssigkeit. Innerhalb der Area vasculosa bilden sich aber bald auch rothe Blutk\u00f6rperchen, welche beim Embryo zuerst rund sind, und erst sp\u00e4ter die elliptische Form der erwachsenen V\u00f6gel annehmen. Zuerst zeigen sich die Kerne, um welche nach Schultz Beobachtungen die H\u00fclle entsteht. Schultz System der Circulation. Die Form des Kreislaufs ist anfangs diese. Nach der Tbeilung der Aorta in eine rechte und\nlinke, oder ihre jetzigen End\u00e4ste gehen von diesen die Arteriae omphalo-meseraicae a, a, rechts und links in die Keimhaut, diese verzweigen sich bis zu einem ven\u00f6sen Blutleiter, welcher cirkelf\u00f6rmig die Area vasculosa umgiebt, Sinus terminalis c. Aus diesem und aus dem Netzwerk der Keiin-haut wird das Blut durch die Venae omphalo - meseraicae e, <> zur\u00fcckgebracht, welche vom obern und untern Theil der Keimhaut kommen. Sp\u00e4ter bilden sich in dem Netzwerke der Keimhaut Venen aus, welche dem Verlauf der Arterien entsprechen. Auch verschwindet endlich, wenn die Keimhaut den Dotier umwachsen hat, der Sinus terminalis ganz, und der ganze Dottersack wird in sp\u00e4terer Zeit gef\u00e4ssreich.\n- Im Verlauf des dritten Tages entsteht das Amnion. Es entsteht aus dem \u00e4ussern Blatte der Keimhaut, welches sich um den Embryo in einer Falte erhebt. Diese Falte wird zuerst an dem Theil der Keimhaut sichtbar, der zur Rumpfbildung des Embryo herabgezogen wird, und den Kopf bedeckend (Koplkappe) Avieder in die Keimhaut zur\u00fcckl\u00e4uft. Siehe die erste Figur auf pag. 684","page":685},{"file":"p0686.txt","language":"de","ocr_de":"686 VIII. Buch. V. d. Entwickelung, I. Ahschn. Entwicht, d. Eies.\ne\nand vergleiche die folgende, b, c \u00e4usseres und inneres Blatt der Keimhaut, d H\u00f6hle des organischen Systems, c Zusammenhang desselben mit dem innern Blatt der Keimhaut. Aus dem \u00e4ussern Blatt der Keimhaut b erhebt sich also eine Falte e, sich von dem darunter liegenden Blatt entfernend, und diese Falte w\u00e4chst um den Kopftheil des Embryo, wie eine M\u00fctze, herum, die Kopfscheide. Eine \u00e4hnliche Falte e' erhebt sich am Schwanzende aus dem analogen Theil der Keimhaut, um den Schwanztheil des Embryo zu umwachsen, die Schwanzscheide und eben solche Falten an den Seiten. Die Falten h\u00e4ngen untereinander zusammen und umwachsen den Embryo von der Bauchseite nach der R\u00fcckenseite, bis sie auf dem R\u00fccken zusammen kommen und verwachsen. Dann\nliegt der Embryo in einer mit Fl\u00fcssigkeit gef\u00fcllten gef\u00e4sslosen Blase, Amnion. Das obere Blatt der Falten, aus welchem das Amnion entstanden ist, ist, so weit der Embryo auf dem Dotter liegt, durch den Embryo vom Dotter und dem innern Blatt der Keimhaut getrennt (falsches Amnion), im \u00fcbrigen Theil liegt es dem innern Blatt der Keimhaut an und ist dessen \u00e4ussere Schichte. Das eigentliche Amnion oder die innere Lamelle jener H\u00fclle b' ist nun eine Blase, welche mit der Haut des Embryo an der Stelle zusammenh\u00e4ngt, wo die Rumpfw\u00e4nde in das \u00e4ussere Blatt der Keimhaut \u00fcbergingen, und es setzen sich also nun die Rumpfw\u00e4nde in das Amnion fort, oder schlagen sich in dasselbe um. Dieser Umschlag ist der Hautnabel, der anfangs gross und lang ist, allm\u00e4hlig aber kleiner wird. Das innere Blatt der Keimhaut f\u00e4hrt fort mit dem Darm zusammen zu h\u00e4ngen. Der eingeschn\u00fcrte Zusammenhang zwischen Darmschlauch /und dem innern Blatt' der Keimhaut c, welche den ganzen Dotter umwachsen bat und Dottersack geworden ist, ist nun Dottergang, Ductus vitello-inte-stinalis c', dessen Zusammenhang mit dem Darm Stesonis zeigte,","page":686},{"file":"p0687.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der V\u00f6gel und beschuppten Amphibien,\t687\nnachdem er schon Fabricius am ansgekrochenen Vogel bekannt war. Dieser Gang geht durch den Hautnabel durch, ist anfangs sehr weit und wird allm\u00e4hlig enger. Die Leber bildet sich, wie\nRolando entdeckte, als eine Ausst\u00fclpung der Uranlage des Darms; v. Baer hatte dieselbe Thatsache aufgefunden. Meine Beobachtungen best\u00e4tigen es. Wiewohl ich bei Bufo obste-tricans die Ausst\u00fclpung nicht beobachten konnte, entweder, weil ich den Zeitpunkt nicht getroffen, oder, weil sie dort nicht stattfindet, so sah ich sie doch deutlich beimH\u00fcnhnchcn am vierten Tag. An der Uranlage des Darms verdickt sich das Blastema. Diese Stelle wird \u00fcber das Niveau des Darms vorgetrieben und b\u00e4ngt bohl mit der H\u00f6hle des Darms zusammen. De gland, struct. Tab. X. Auch Valentin konnte die Genesis durch Ausst\u00fclpung best\u00e4tigen. Um so auffallender ist es, dass Reichert diese Ausst\u00fclpung, sowie die Ausst\u00fclpung der Lungen, welche Rature beobachtete, nicht wahrnahm.\nInnerhalb des dritten Taues bildet sich die Allantois, der Harnsack, o in der beistehenden und vorhergehenden Figur. Er entsteht nach den bisherigen Beobachtungen aus dem Endst\u00fcck des Darms als eine Ausst\u00fclpung. Reichert sah ihn nur im Zusammenhang mit den Ausf\u00fchrungsg\u00e4ngen der Woi.FF\u2019schen K\u00f6rper oder Primordial-Nieren. Von diesen wird sp\u00e4ter an seinem Orte gehandelt. Dieser mit einem Gef\u00e4ssnetz bedeckte Beutel w\u00e4chst durch den Hautnabel hervor, und entwickelt sich zu einer grossen gef\u00e4ssreichen Blase. Der Stiel dieser Blase ist der Urachus, er geht wie der Ductus vitello-intestinalis durch den Hautnabel, und ist, wie der Ductus vitello-intestinalis von den Vasa omphalo-nieseraica, so von den Vasa umbilicalia begleitet. Durch das grosse Wachsthiim der Allantois wird der Embryo mit Amnion und Dottersack ganz davon verh\u00fcllt. Ihr Blutgef\u00e4ssnetz dient zum Athmen. Von den Blutgef\u00e4ssen wird sp\u00e4ter im zweiten Abschnitte ausf\u00fchrlich gehandelt.\nW\u00e4hrend die Entwickelung des Embryo fortschreitet und sich die einzelnen organischen Systeme histologisch ausbildeu, wird","page":687},{"file":"p0688.txt","language":"de","ocr_de":"688 VIII. Buch. V. <3. Entwickelung. I. Abschn. Ent wie kl. d. Eies.\nder Dottersack allm\u00e4hlig kleiner. Sp\u00e4ter wird er ganz in den Bauch aufgenommen, und bleibt hier durch den Dottergang mit dem Darm verbunden, w\u00e4hrend sich der Nabel schliesst. An ausgekrochenen V\u00f6geln und beschuppten Amphibien findet man ihn noch in der Bauchh\u00f6hle,\nl\nn R\u00fcckentheil des Embryo.\nb Amnion. c Dottersack. c Dottergang, o Allantois. o' Urachus.\nDie Entwickelung der Crocodile, Schlangen, Eidechsen und Schildkr\u00f6ten scheint nach denselben Principien zu erfolgen. Alle haben einen Dottersack, der anfangs mit dem Darm in Verbindung steht, aber bei den Schlangen nach Volkmann\u2019s und Rathke\u2019s Beobachtungen fr\u00fche diese Verbindung verliert, alle haben ein Amnion und eine Allantois. Siehe Emm\u00e8rt und Hociistetter \u00fcber die Entwickelung der Eidechsen. Reil\u2019s Arch. X. p. 84. Tiedemann \u00fcber das Ei der Schildkr\u00f6ten. Heidelb. 1828. Volkmann de colubri natricis generatione. Lips. 1834. Rathke Entwickelungsgeschichte der Xatter. K\u00f6nigsb. 1839. Alle beschuppten Amphibien zeichnen sich dadurch aus, dass der Dottersack nach innen zahlreiche Vorspr\u00fcnge mit in das Innere des Dottersacks herabh\u00e4ngenden Gef\u00e4ss-Schlingen bildet. Diess ist eine weitere Entwickelung der geschl\u00e4ngelten Gelasse, Vasa lutea, welche beim Vogelembryo an der innern Seite des Dottersacks hervortreten.\n2. Die erste Anlage der verschiedenen organischen Systeme\nim Vogelei.\n(Auszug aus Reichert\u2019s handschriftlichen Mittheilungen.)\nAn der Entwickelung des Embryo haben einen unmittelbaren Antheil nur die Zellen der Keimanlage und die der Dotteih\u00f6hle; von den Zellen der Dottersubstanz l\u00e4sst sich ein directer Ueber-gang in die Gebilde des H\u00fchnchens zu keiner Zeit nachweisen. Der Kern des Hahnentritts, welcher nur als die oberste Schicht von angeh\u00e4uften Zellen der Dotterh\u00f6hle im Canale anzusehen ist, l\u00e4sst sich in dem reifen unbefruchteten H\u00fchnerei und auch zw","page":688},{"file":"p0689.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der V\u00f6gel und beschuppten Amphibien, 689\nAnfang der Entwickelung nicht ganz von der Keimanlage isoliren. Ist die erste Anlage des Embryo gebildet, so wird der Kern des Hahnentritts frei und verschwindet bald ganz.\nCharacteristisch ist f\u00fcr die erste Epoche der Entw'ickelung, dass s\u00e4mmtliche Gebilde entstehen und sich erweitern, indem die Zellen der Keimanlage, dann die in der Nahe befindlichen Zellen der Dotterh\u00f6hle schichtenweise sich ablagern, und die so zuei\u2019st formirten Anlagen durch Aufnahme neuer geeigneter Zellen ver-gr\u00f6ssern. Nahrungsmaterial wird noch auf keine Weise diesen Zellen zugefiihrt. Sie entwickeln sich behufs der individuellen Ausbildung der Anlagen auf Kosten des ihnen reichlich zugetheil-ten kugligen Inhaltes. Dieser schwindet unterdess allm\u00e4hlig, w\u00e4hrend zahlreiche junge Zellen in einzelnen Gebilden sichtbar werden.\nUmh\u00fc/iungshaut. Das Erste, was der Dotter behufs der Bildung eines thierischen Organismus unternimmt, ist ganz wie beim Frosch die Formirung einer H\u00fclle, unter deren Schutz und Beistand das Entwickelungsleben des Embryo vor sich gehen und gedeihen soll. Diese erste Conformation zeigt sich auf der Narbe oder dem Keim jedes befruchteten Eies, sobald dasselbe gelegt ist. Sie stellt sich als eine kreisrunde Scheibe dar in der Gr\u00f6sse der Narbe selbst. Als erste zu einer Membran sich ablagernde Zellenschicht ist sie von der Keimanlage in den ersten Stunden des Bebriitens auf keine Weise im Zusammenh\u00e4nge loszupr\u00e4pari-ren. Ihre Anwesenheit l\u00e4sst sich erkennen an der deutlich cir-cumscripten Umgrenzung des Keimes, und unter dem Mikroskop an den polyedrischen Zellen der neuen Schichte. Diese Anlage der Umh\u00fcllungshaut ist fr\u00fcher das ser\u00f6se Biatt der Keimhaut genannt worden; sie ist durchaus von derselben Bedeutung wie die gleichbenanntc Membran von schw\u00e4rzlicher F\u00e4rbung beim Frosch. Sie besteht gegenw\u00e4rtig, wie Schwann dieses bei der Keimhaut beschreibt, aus dicht nebeneinander liegenden mehr dunkeln Zellen von etwas verschiedener Gr\u00f6sse, mit kugeligem Nahrungsinhalte dicht angef\u00fcllt. Zellcnmembran und Kern sind anfangs nicht zu unterscheiden. Die Anlage der Umh\u00fcllungshaut schreitet ohne Aufenthalt vor, sie erweitert sich daher, mit ihrem Centrum an der Bildungsst\u00e4tte des Embryo festhaftend, an der Peripherie gleichm\u00e4ssig sich ausdehnend, unter der Dotterhaut \u00fcber den Dotter hin. Das erste Wachsthum der Umh\u00fcllungshaut geschieht durch Ausdehnung der ihre Anlage zusammensetzenden Zellen, welche dabei heller werden und die Zellenmembran zum Vorschein treten lassen, sp\u00e4ter lagern sich immer von Neuem solche Zellen der Dotterh\u00f6hle an der Peripherie an, welche durch ihren kleinkugeligen Niederschlag auf den Kern den Zellen der Keimanlage \u00e4hnlich werden. Die Umh\u00fcllungshaut geh\u00f6rt zu den Gebilden, deren Entwickelung nur durch derartige Zellen der Dotterh\u00f6hle ohne Vermittelung des Blutsysternes vollendet wird.\nAnlage des Central- Nervensystems. Die Entwickelung des Dotters zu den Gebilden, welche dem Embryo allein und eigen-th\u00fcmlich angeh\u00f6ren, beginnt mit der Anlage des Centralnervensystems. Es wartet jedoch dieser Bildungsact nicht, wie beim Frosch, das vollst\u00e4ndige Umwachsen des Dotters von der Umh\u00fcl-","page":689},{"file":"p0690.txt","language":"de","ocr_de":"690 VIII, Buch. V, d. Entwickelung, I. Al sehn. Enlmckl, d, Eies,\nlungshaut ab. Die Umh\u00fcllungshaut hat nur einige Linien \u00fcber das Residuum der Keimanlage oder Narbe sich erweitert, so mar-kirt sich schon die erste dem Embryo eigene Anlage durch einen hellen weissliehen Streifen, welcher die kreisf\u00f6rmige Scheibe der Umh\u00fcllungshaut, gleichsam in zwei gleiche Theile zu trennen scheint, ohne mit seinen Enden den Rand der Umh\u00fcllungshaut zu erreichen. Dieser Primitivstreifen ist der Reflex einer entsprechend verlaufenden seichten Rinne, welche nur in Folge der zu ihrer Seite sich entwickelnden Urh\u00e4lften des Centra 1-Nervensystems entstanden ist. Etwas sp\u00e4ter zeigt sich unter dem Boden dieser Rinne in ihrem ganzen Verlaufe die durch ihre weisse Farbe ausgezeichnete Wirbelsaite. Die hellere Farbe der Rinne wird nicht durch sie bewirkt, denn sie schwindet beim Auseinanderziehen der Rinne und umgekehrt wenn man k\u00fcnstlich in der Umh\u00fcllungshaut Furchen faltet, so entstehen als Reflex derselben weissliche Streifen. Die nat\u00fcrliche Form der primitiven Rinne erkennt man sehr deutlich an queren Durchschnitten der Umh\u00fcllungshaut. Das Centralnervensystem befindet sich im n\u00e4chsten Umkreise der primitiven Rinne unterhalb der Umh\u00fcllungshaut und mit derselben zusammenh\u00e4ngend. Es hat sich n\u00e4mlich dasselbe wie beim Frosch als eine mernbranartige Zellenschicht vom Keimh\u00fcgel losgel\u00f6st und an die Umh\u00fcllungshaut angelagert. Unter dem Mikroskop sieht man oberhalb die schon lichter gewordenen Zellen der Umh\u00fcllungshaut mit schon frei markirter Zellenmembran und zuweilen hervortretenden Kernen, unterhalb dagegen die hinzugekommenen mit kugeligem Inhalt noch ganz angef\u00fcllten Zellen des centralen Nervensystems. Die Urh\u00e4lften des centralen Nervensystems stellen in ihrer ersten Anlage zwei membranartige Zellenschichten vor, welche zu beiden Seiten der primitiven Rinne an die Umh\u00fcllungshaut sich angelagert haben, vorn und hinten in einander \u00fcbergehen und zusammen eine ovale Fl\u00e4che bilden, durch deren L\u00e4nge die primitive Rinne geht.\nMembrana intermedia. Sobald die Zellenschicht f\u00fcr die Urh\u00e4lften des centralen Nervensystems sich abgesondert, trennt sich von dem Keimh\u00fcgel die zweite Hauptanlage des Embryo als eine ziemlich derbe consistente Membran, von kreisrunder Begrenzung und an Dicke die bisherigen Anlagen \u00fcberwiegend. In ihrer Ausdehnung giebt sie anfangs der Umh\u00fcllungshaut nur wenig nach, daher ber\u00fchrt sie mit ihrer obern Fl\u00e4che in der Mitte das Centralnervensystem, in der Peripherie die Umh\u00fcllungshaut, der Fruchthof wird von ihr \u00fcberschritten. Ihre Abl\u00f6sung gelingt oft, mit Ausnahme der Stelle, wo sie die Chorda ber\u00fchrt. Diese zweite Membran ist f\u00fcr die Bildungsgeschichte der h\u00f6heren Wir-belthiere von der wichtigsten Bedeutung. Sie mag von den Ael-teren anfangs f\u00fcr das Schleimblatt, sp\u00e4ter f\u00fcr das Gef\u00e4ssblatt gehalten worden seyn, sie befindet sich zwischen dem Centralnervensystem und der sich jetzt bald ablagernden Schleimhaut, und ist die gemeinschaftliche Uranlage des Wirbelsystems, Ilautsystems, Blutsystems und des Darmhautsystems mit Ausnahme der Schleimhaut, sie spielt auch den th\u00e4tigen Vermittler zwischen dem Dotter und den schon vorhandenen Anlagen des Embryo, welche sieh","page":690},{"file":"p0691.txt","language":"de","ocr_de":"JEntwickelung der V\u00f6gel und beschuppten Amphibien. 691\nzun\u00e4chst auf das Centralnervensystem und die erste Anlage der Schleimhaut beschr\u00e4nken.\nDie Forrnirung der untern R\u00f6hre oder Visceralh\u00f6hle des Embryo geschieht folgendermassen. Bisher waren die Central-iheile und die Membrana intermedia fast eben bis auf die sanften W\u00f6lbungen der Centraltheile und die zwischen ihnen befindliche Rinne. Nun erheben sich die W\u00f6lbungen, als die fr\u00fcher sogenannten Rdiekenplatten, immer mehr, und geben dadurch Veranlassung zu der \u00fcber die Oberfl\u00e4che sich aufbauenden obern Wirbelr\u00f6hre. Die bisher ebene untere Fl\u00e4che wird von der Membrana intermedia gebildet. Diese Membran richtet sich nun kurz vor dem Centralnervensystem mit einer der fast halbkreisf\u00f6rmigen vordem Abgrenzung desselben entsprechenden Umbeugung nach unten und hinten, w\u00e4hrend vom hintern Ende der Umbeugung die Membrana intermedia wieder nach vorn in ihre Peripherie zur\u00fcckgeht. Der letztere Theil dieser Falte ist v. Baer\u2019s Kopikappe. In Beziehung auf den Embryo entsteht durch diese Falte eine vorn unter ihm befindliche Haube, welche in die Dotterh\u00f6hle ausm\u00fcndet. Diese Haube verwandelt sieb zu der Visceralh\u00f6hle des Kopfes und Halses, sammt den Gebilden, die sich an diese Gegend halten. Die hintere Oeffnung der Haube ist nicht die Stelle des vordem Eingangs in den Speisecanal, denn der Mund bildet sich an der vordem geschlossenen Wand der Haube, sondern bezeichnet ungef\u00e4hr die Gegend, wo der Magen sp\u00e4ter gelagert ist. Man kann die Benennung Fovea cardiaca von Wolff rechtfertigen.\nAnlage der Schleimhaut. Wenn nun aber der Kopftheil der Visceralr\u00f6hre angelegt ist, sondert sich im Keimh\u00fcgel die letzte membranartige Zellenschicht f\u00fcr die Anlage der Schleimhaut des Darmsystems ab, und tritt an die untere Fl\u00e4che der Membrana intermedia hervor. Sie ist, wie der Keimh\u00fcgel, von kreisrunder Umgrenzung und erstreckt sich nicht ganz so weit als die mittlere Membran. Diese letztere, so wie auch die \u00fcber sie hinausreichende Umh\u00fcllungshaut wird von unten von einer aus dem Umkreis des Keimh\u00fcgels hervortretenden Zellenschicht der Dotterh\u00f6hle bedeckt. Diese Dotterzellenschicht von weisser Farbe stellt sich zwar als eine unmittelbare Fortsetzung der Schleimhautanlage dar, ist aber sowohl in der Bedeutung als in der elementaren Zusammensetzung von ihr verschieden. Die Anlage der Schleimhaut besteht gegenw\u00e4rtig aus denselben mit kleinkugeligem Inhalte gef\u00fcllten Zellen der Dolterb\u00f6hle, wie die \u00fcbrigen Gebilde des Embryo bei ihrem ersten Auftreten. Die Zellenschicht der Schleimhaut kann sich aber nicht in allen Puncten innerhalb der bezeiebneten Grenze an die untere Fl\u00e4che der Membrana intermedia anlegen. Der Theil vielmehr, welcher die grubenf\u00f6rmige Anlage des Kopftheils der Visceralh\u00f6hle umgiebt, wird, indem die Schleimhaut als eine gleiehm\u00e4ssig ebene Membran herantritt, der unmittelbaren Ber\u00fchrung entzogen. Sie verdeckt anfangs die hintere Oeffnung der Haube und wenn die letztere sich vorn erweitert, so folgt die gleichsam vorgespannte Wand nicht nach, sondern verk\u00fcmmert und macht eine L\u00fccke in der Schleimhaut,","page":691},{"file":"p0692.txt","language":"de","ocr_de":"692 VIII. Euch. V. <1. Entwickelung. I. Ahschn. Entwickl. d. Eies.\ndie der Oeffnung der Grube entspricht. Der Kopftheil der Visceralh\u00f6hle entwickelt sich also frei und unabh\u00e4ngig von der Schleimhaut, und die Lucke in derselben ist die k\u00fcnftige Eintrittsstelle der Speiser\u00f6hre in den Magen, wo die Ausbreitung des assimilirenden Centralorgans ihren Anfang nimmt.\nNach der Anlage der Schleimhaut hat der Keimh\u00fcgel seine Bedeutung f\u00fcr die Entwickelung des Embryo verloren. Vorher als eine rundliche Scheibe von angeh\u00e4uften disponibeln Zellen der Dolterh\u00f6hle ganz geeignet die membranartigen Anlagen des Embryo schichtenweise abzusondern, wird er bei der weitern Entwickelung ganz \u00fcberfl\u00fcssig. Man sicht zwar noch einige Zeit unter dem Embryo eine weissliehe Zellenmasse, den von der Keim-anlaije, wie man sagt, freigewordenen Kern des Hahnentritts oder den Keimh\u00fcgel der Aeltercn. Diese Zellenmasse besteht aber nur aus den gew\u00f6hnlichen Zellen der Dotterh\u00f6hle, meist ohne bedeutende innere Ver\u00e4nderungen; auch hat sie gar keinen besondern Zusammenhang mit dem Embryo selbst, sondern sie repr\u00e4sentirt nur die Zellen der Dotterh\u00f6hle im Canale, welche in ihrem Nebeneinander weisslich erscheinen, in Bezug auf den Embryo jedoch nichts von den \u00fcbrigen Zellen der Dotterh\u00f6hle voraushaben.\nBei der Entwickelung der embryonalen Anlagen beobachtet man \u00fcbrigens, ausser der Entwickelung der Zellenmembran auf Kosten des kugeligen Inhaltes, junge Generationen von Zellen in den Mutterzellen.\nDie membranartigen Erhallten des centralen Nervensystems zeigen das Bestreben gegen die Mitte sich zusammenzuziehen und zu vereinigen, indem die entstehenden H\u00fcllen von der Membrana intermedia gleichzeitig nachgeschickt werden. Beim Beginn der Vereinigung wild die ovale Form in der Art ver\u00e4ndert, dass in der ungef\u00e4hren Mitte der L\u00e4nge eine seitliche Einbiegung entsteht. Diess ist die erste Andeutung von Scheidung des Gehirns und R\u00fcckenmarks. Der Vercinigungsprocess der beiden Urh\u00e4lften nimmt beim H\u00fchnchen am Gehirn seinen Anfang und schreitet allm\u00fchlig zum R\u00fcckenmark \u00fcber. W\u00e4hrend der Zusammenziehung der Centraltheile werden sie etwas dicker, unterst\u00fctzt von den unter ihnen sich hervordr\u00e4ngenden H\u00fcllen, namentlich erheben sie sich mit ihrem \u00e4ussern Rande, die primitive Rinne verwandelt sich in eine mit zwei W\u00e4llen umgebene Furche, dar\u00fcber liegt die Umh\u00fcllungshaut, unter ihr markirt sich die Anlage des Wirbelsystems. Die Vereinigung der Urh\u00e4lften des Nervensystems besteht in einem Verwachsen der R\u00fcckenfurche mit den \u00e4usseren R\u00e4ndern. Diess geschieht am Gehirn zuerst. Darauf bildet das centrale Nervensystem eine vollkommene R\u00f6hre.\nCentraler und peripherischer Theil der H\u00e4ute. An der Membrana intermedia ist der centrale und peripherische Theil zu unterscheiden, der centrale hat vorn den vordem Theil der Visceralh\u00f6hle formirt, der peripherische ist die unter der Um-lmllungsbaut liegende Fortsetzung. Dieser peripherische Theil bildet einen dem Umfang der sp\u00e4tem Area vasculosa entsprechenden Ring. Unter dem centralen Theil der Membrana intermedia liegt die Schleimhaut, die Fortsetzung der letztem ist die Corti-","page":692},{"file":"p0693.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der V\u00f6gel und beschuppten Amphibien. 693\ncalschicht des Dotters, die zun\u00e4chst dem Embryo an der untern Fl\u00e4che des peripherischen Theils der Membrana intermedia, weiterhin an der innern Fl\u00e4che der Umh\u00fcllungshaut liegt. An der Stelle des Embryo selbst folgen sich daher von aussen nach innen, die Umh\u00fcllungshaut a, die Centraltheile des Nervensystems (aul dem Querschnitt a\u2019), der centrale Theil der Membrana intermedia b mit der Chorda e, die Schleimhaut c.\nWeiter nach aussen um den Embryo herum liegen 3 Schichten, von aussen nach innen die Umh\u00fcllungshaut \u00ab, der peripherische Theil der Membrana intermedia V, die Corticalsehicht des Dotters c, Fortsetzung der Schleimhaut c.\nNoch weiter nach aussen und sofort \u00fcber dem ganzen Dolter n\u00e4mlich von der \u00e4ussern Grenze des peripherischen Theils der Membrana intermedia ah liegen 2 Schichten, die Umh\u00fcllungshaut a und die Corticalsehicht des Dotters c, Fortsatz der Schleimhaut c.\nDie Corticalsehicht des Dotters mit ihrem centralen Theil, der Schleimhaut sind das Schleimblatt der Reimhaut der Vorg\u00e4nger. Die Corticalsehicht besteht aus Zellen der Dotterh\u00f6hle in einfacher Form und in verschiedenen Metamorphosen. Je mehr sich die Corticalsehicht der Area vasculosa n\u00e4hert, um so mehr sind die Entwickelungsmetamorphosen vorgeschritten. Mehrere Linien von der Area vasculosa markirt sich eine ringf\u00f6rmige Partie der Corticalzellenschicht durch gr\u00f6ssere Undurchsichtigkeit und mehr weisse F\u00e4rbung, wo sich ein Theil der Zellen zu Mutterzellen ausgebildet hat. Noch mehr ist diess unter der Area vas-culosa der Fall. Auf dem Uebergang zur Area pellucida wird die Dotterschicht lichter und man lindet nur Zellen mit K\u00fcgelchen, welche an die Anlage der Schleimhautzellen herantreten.\nEntwickelungen der Membrana intermedia bis zur Bildung des Blutsystems. Die Membrana intermedia ist f\u00fcr alle weiteren Entwickelungen der wichtigste Theil. Diess von der Entwickelung des Frosches abweichende Verhalten kann man sich so vorstellen, als ob an die Stelle der Dottervegetation die Membrana intermedia getreten ist. So entwickelt das Centrum der Membrana intermedia von seiner Oberfl\u00e4che anfangs ohne, dann mit H\u00fclfe des Blutsystems allm\u00e4lilig die assistirenden Systeme des animalen Centralorganes, dann das vermittelnde Blutsystem und wird endlich, mehr und mehr nach unten und innen gedr\u00e4ngt, zu dem das vegetative Centralorgan, die Schleimhaut unterst\u00fctzenden Darmhaut-system. Die ersten Entwickelungen des Centrums der Membrana intermedia ohne Blutvermittelung bestehen nun in der Anlegung des Hautsystems, der Urplatten des Wirbelsystems und in der Bildung des Blutsystems, wie dasselbe f\u00fcr das weitere Entwickelungsleben des Embryo nothwendig ist.","page":693},{"file":"p0694.txt","language":"de","ocr_de":"694 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. 1. Alschn. Entwidd. d. Eies.\nDie Anlagen des Hautsystems und der Urplatten des Wirbelsystems markiren sich ziemlich gleichzeitig, wenn die Urh\u00e4lften des Centralnervensystems zu gegenseitiger Vereinigung sich zusammenziehen und zu erheben beginnen. Es haben sich dann die Urplatten des Wirbelsystems zu beiden Seiten der Wirbelsaite als membranartige Schichten von der Membrana intermedia abgesondert und sind in ihrer ganzen Ausdehnung von den Urh\u00e4lften des Central-Nervensystems bedeckt, dem sie auch in der L\u00e4nge und Breite entsprechen. Ihre Anwesenheit wird am sichersten an dem ersten Erscheinen einiger Wirbelabtheilungen erkannt. Zu den Seiten der Urplatten des Wirbelsystems erscheinen nun auch die beiden Anlagen des Haulsystems an der angrenzenden Oberfl\u00e4che des Centrums der Membrana intermedia. Das Vor-handenseyn wird durch die nun erfolgende Entwickelung der Membrana reuniens superior und inferior constatirt. In dem Grade als das Hautsystem sich ausbildet, markirt sich eine neue Formation an der Membrana intermedia, dem Hervorwachsen der Visceralplatten entsprechend.\nDie Urplatten des Wirbel- und Hautsystems entwickeln nun zun\u00e4chst die H\u00fclle f\u00fcr das Centralnervensystem, es zeigen sich die R\u00fcckenplatten und die Membrana reuniens superior. Die Rumpfw\u00e4nde f\u00fcr die Visceralh\u00f6hle bilden sich sp\u00e4ter hervor, wenn es zur Entwickelung der Viscera kommen soll.\nDas Blutgef\u00e4sssystem zeigt sich zuerst im Fruchthofe durch die Bildung des Herzschlauches und dann durch Blutbahnen. Der Herzschlauch hat seine Bildungsst\u00e4tte in der Mitte des hintern Randes der Abschn\u00fcrungsfalte f\u00fcr die Kopfabtheilung der Visceralr\u00f6hre. Die Absonderung der Zellenrnasse geschieht aus der untern und innern Fl\u00e4che der Membrana intermedia. Das Herz stellt einen Cylinder vor, von dessen beiden Enden zwei Schenkel ahgehen. Die vorderen befinden sich in den Seiten w\u00e4nden der Kopfvisceralr\u00f6hre und biegen sich daselbst nach vorn und oben gegen die obere Wirbelr\u00f6hre, es sind die Anlagen f\u00fcr die ersten Aortenbogen; die hinteren Schenkel wenden sich gegen den freien Rand der Abschn\u00fcrungsslelle und verlaufen an demselben nach aussen in die Area vasculosa zum peripherischen Theil der Membrana intermedia, es sind die Hauptvenenst\u00e4mme. Die Gef\u00e4sse sowohl als das Herz bestehen anfangs aus locker zusammenliegenden freien Zellen, ohne H\u00f6hle. Alltn\u00e4hlig wird die \u00e4ussere Oberfl\u00e4che fester, und das S f\u00f6rmig gewordene Herz beginnt in sehr langsamem Rhythmus seine Zusammenziehungen, um die in seinem Canale befindlichen locker zusammenliegenden Zellen heraus und in den ersten Aortenbogen zu treiben, aus dem Innern der Hauptvenenst\u00e4mme str\u00f6men neue Zellen zu. Die ersten Blutzellen unterscheiden sich gar nicht von den feinen Zellen aller \u00fcbrigen Gewebe; sie sind rund, mit deutlichem Kern von fein granutirtem Ansehen und mit Kernk\u00f6rperchen; in ihrer Zellenh\u00f6hle sieht man feine K\u00f6rnchen.\nW\u00e4hrend die Basis des Blutgef\u00e4sssystems mit Blutzellen Fruchthofe angelegt wird, entwickelt sich im peripherischen Then der Membrana intermedia, welcher in tier Area vasculosa sich","page":694},{"file":"p0695.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der V\u00f6gel und beschuppten Amphibien. 695\nausbreitet, in den Zellen junge Generation. Vor dem Erscheinen der Blutinseln zeigt der peripherische Theil der Membrana intermedia bei 450facher Vergr\u00f6sserung nur die feinen Zellen gleich-massig nebeneinander liegend, ohne irgend eine Intercellularsubstanz. Wenn nun die Contractionen des Herzens beginnen, so zeigen sich bald darauf die Blutinseln und der peripherische Tbeil der Membrana intermedia l\u00e4sst unter dem Mikroskop eine un-gleichm\u00e4ssige Anh\u00e4ufung und Vertheilung der Zellen wahrnehmen. Zwischen den dunkleren unregelm\u00e4ssigen Stellen der Membran erscheinen lichtere Stellen, in denen die Zellen einfach nebeneinander gelagert sind und die, wie zur Ausbildung einer Haut, ibre Zellenmembran etwas vergr\u00f6ssert haben. Sind schon Gef\u00e4ssbah-nen in der Area vasculosa von aussen zu unterscheiden, so haben die lichteren Stellen ein ganz helles durchsichtiges Ansehen erballen, man sieht einzelne Zellenkerne, doch die Conturen der Zellcnmembranen sind so verwachsen, dass sie nicht mehr erkannt werden, die dunkleren unregelm\u00e4ssigen Zellenmassen aber erweisen sich als die mit Blutzellen angef\u00fcllten Blutbahnen, die Venen in der Area vasculosa. Um diese Zeit zeigen sich in den feinsten Blutbahnen stets mehrere Blut-Zellen nebeneinander. Ausser den Venenst\u00e4mmen befinden sich in der Area vasculosa noch andere Blutbahnen, diese verlaufen zwischen dem peripherischen Theil der Membrana intermedia und der darunter liegenden Cortical-dottersehicht. Die Wandungen sind zum grossen Tbeil von der Dotterschiebt selbst gebildet, es sind die Dotterarterien. Wahrscheinlich wird die junge Brut der Dotterzellen Ersatz der Blutzellen. Die Dotterzcllen der H\u00f6hle sind \u00fcbrigens um das 4 \u2014 6 Cache gr\u00f6sser als die ganzen Blutzellen, aus ihnen, den sogenannten Dotterk\u00f6rnchen selbst, entstehen jedenfalls nicht die Blutzeilen.\nDie Aorta nimmt ihren Verlauf zwischen den Urplatten des Wirbelsystems und der \u00fcbrigen Membrana intermedia, nach einem kurzen Verlauf theilt sie sich in ihre beiden End\u00e4ste. Bald nach der Theilung geben v on den End\u00e4sten die Hauptst\u00e4mme der Dot-terarterien ab.\nDie Schleimhautanlage erh\u00e4lt keine Blutgef\u00e4sse. Ihre Zellen vermehren sich durch junge Generation, die Entwickelung geht aber langsam vor sich. Der kugelige Inhalt dieser Zellen verwandelt sich allm\u00e4hlig in eine durchsichtige Fl\u00fcssigkeit, es entstehen junge Kerne, die sich zu kleinen Zellen entwickeln bis sie sich in die kegelf\u00f6rmigen Schleimhaut-Zellen des entwickelten Thiers verwandeln. Nach der Umschliessung der obern Wirbelr\u00f6hre durch die Membrana reuniens superior wird auch das Bestreben sichtbar die Membrana reuniens inferior zu bilden.\nAmnion. Das Amnion ist eine Dependenz der Membrana reuniens inferior. Es bildet sieh zuerst saumartig an der sogenannten Kopfkappe, wo die H\u00e4ute in ihren peripherischen Theil uuslaufen. Es entsteht jedoch nicht durch eine sich erhebende Falte der ser\u00f6sen Haut der Schriftsteller (unsere Umh\u00fcllungshaut), sondern aus einer eigenen sich hier von der mittlern Haut abl\u00f6senden Platte B, welche von der Umh\u00fcllungsbaut als Falte \u00fcberzogen wird. Diese Production umw\u00e4chst den Kopf. Unterdess M Ult ei\u2019s Physiologie. 2r. Bd, 111.\t45","page":695},{"file":"p0696.txt","language":"de","ocr_de":"696 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. I. Abschn, Entwickl. d. Eies.\nhaben sieh auch die Amnionsplatten im Umkreise der Bauchabtheilung der obern Wirbelr\u00f6hre von der Membrana intermedia gel\u00f6st. Am hintern Ende, wo sie in einander \u00fcbergehen, bilden sie auch die Schwanzscheide. Ueberall findet diese Umbiegung einer vom Hautsystem des Embryo abgehenden Platte statt, welche, wo sie die Rumpfh\u00f6hle des Embryo begrenzen zu wollen scheint, sich \u00fcber den R\u00fccken umschlagt. So dass durch die Verwachsung dieser Platten \u00fcber dem R\u00fccken das Amnion sackf\u00f6rmig wird.\nDie Abbildungen erl\u00e4utern bloss Querdurchschnitte. In Hinsicht der L\u00e4ngsdiirchschnitte wird auf die besondere Schrift verwiesen.\nErste Figur.\nfl Umh\u00fcllungshaut. b Membrana intermedia. b' peripherischer Theil derselben. c Schleimhaut.\nc peripherischer Theil derselben. d Centraltheile des Nervensystems. e Chorda.\nf End\u00e4ste der Aorta.\nb\"beginnende Abl\u00f6sung der Amnionsplatten von der Membrana intermedia.\nDie zweite und dritte Figur zeigt diese Abl\u00f6sung vollendet. B Membrana reuniens inferior, sich als Amnionsplatte umschlagend. Indem die Enden der Amnionsplatten sich vereinigen, wird gleichzeitig die als Falte sie \u00fcberziehende Umh\u00fcllungshaut ganz so wie hei der Vereinigung derUrh\u00e4lften des centralen Nervensystems gleichsam durchgeschn\u00fcrt. Siehe die folgenden Abbildungen. Der ausserhalb bleibende, gr\u00f6ssere, seine L\u00fccke verschliessende Theil ist nun die sogenannte ser\u00f6se H\u00fclle, welche in der wesentlichen Function der Umh\u00fcllungshaut verharrt. Das innerhalb der Amnionsh\u00f6hle eingeschlossene St\u00fcck l\u00e4sst sich noch einige","page":696},{"file":"p0697.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der V\u00f6gel und beschuppten Amphibien. 697\nZeit vorfinden; sp\u00e4ter aber scheint es ganz zu verschwinden. Die Abl\u00f6sung der Amnionsplatten erfolgt ungef\u00e4hr nach der Mitte hin bis an die Stelle, wo zwischen dem Wirbelsystem und der mitt-lern Membran die grossen Gef\u00e4sssl\u00e4mme verlaufen. Hier erh\u00e4lt sich der Zusammenhang rnit dem animalen System und den \u00fcbrigen noch durch Blutvermittelung zu entwickelnden Gebilden, welche durch die Membrana intermedia jetzt repr\u00e4sentirt werden, fortw\u00e4hrend. Siehe die vorhergehenden und folgenden Abbildungen.\nWenn das Gehirn beinahe in seiner halben Ausdehnung sich \u00fcber\ndie Kopfabtheilung der Visceralr\u00f6hre her\u00fcber gezogen, so entwachsen von den Urplatten des Wirbelsystems da, wo\noben abgehen, die Visceralplatten nach unten. Am Kopfe werden sie zuerst sichtbar an den herunter wachsenden Visceralforts\u00e4tzen (den sogenannten Kiemenbogen), die sich alhn\u00e4hlig zu den drei Visceralbogen vereinigen.\nNach dem Auftreten dieser Bogen und der an ihnen liegenden drei Aortenbogen erweitert sich das Gehirn mit seiner H\u00fclle immer mehr nach vorn, die drei den Sch\u00e4delwirbeln entsprechenden Visceralbogen folgen nach und das Herz mit den Aortenbogen scheint sich wegen der Ausbildung der Halspartie unter dem Nackenh\u00f6cker zur\u00fcckzuziehen. a Umh\u00fcllungshaut. b Membrana intermedia. b' peripherischer Theil derselben. c Schleimhaut.\nc peripherischer Theil derselben.\n/ End\u00e4ste der Aorta.\nb\" L\u00fccke zwischen den Amnionsplatten und der Membrana intermedia.\n\u00df Amnionsplatten, \u00df' hervorkeimende Visceralplatten.\nDie Visceralplatten halten sich \u00fcbrigens dicht an das Hautsystem, welches als Membrana reuniens inferior in das Amnion ausl\u00e4uft. Durch das Erscheinen der Visceralplatten wird die Schliessung des Bauches eingeleitet und das Hautsystem schreitet ihnen voran. Von allen Seiten erweitert sich die Basis des Amnions um die vorhandenen und sic!\u00bb bildenden Eingeweide der Bauchh\u00f6hle her\u00fcber und bildet auf diese Weise eine sich mehr und mehr verengende Nabel\u00f6ffnun\", durch welche die von dem peripherischen Theil der Membrana intermedia umfasste Dotter-kugel mit dem Embryo in Verbindung steht. So gelangt das\n45*","page":697},{"file":"p0698.txt","language":"de","ocr_de":"698 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. I. Abschn. Eniwickl. d. Eies.\nHautsystem am Bauche in seine urspr\u00fcngliche Function als Membrana reuniens infer.; die Visceralplatten folgen dem Hautsystem. So wird auch das Herz von vorn her eingeschlossen, indem sich die Basis der Kopfscheide nach r\u00fcckw\u00e4rts hindehnt. Die Extremit\u00e4ten treten am vordem und hintern Ende der Bauchh\u00f6hle als erhabene Leisten an der Aussenseite der Visceralplatten hervor.\nWolf f\u2019sehe K\u00f6rper und Allantois. Die WoLFF\u2019schen K\u00f6rper oder Larvennieren des F\u00f6tus zeigen sich in der bekannten l\u00e4nglichen Form neben der Aorta, und den beiden End\u00e4sten von der Gegend des Herzens bis zum Schwanzende. Siehe die beiden vorhergehenden Figuren g. Durch ihre Entstehung ist die mittlere Verbindung der Membrana intermedia mit dem Wirbelsystem wiederum mehr geschm\u00e4lert und auf den Raum zwischen den Wo i,it\u2019s eben K\u00f6rpern beschr\u00e4nkt. Die Seitenw\u00e4nde der mittlern Membran sind gleichzeitig nach unten gedr\u00e4ngt und h\u00e4ngen dachf\u00f6rmig an der Mittellinie des K\u00f6rpers herab (Darmhautplatten). Letzte Figur b.\nWenn die WoLFF\u2019schen K\u00f6rper schon ziemlich deutlich in der Anlage erkennbar sind, das Amnion sich beinahe geschlossen hat, die Andeutungen der Extremit\u00e4ten wahrgenommen werden, die Abschliessung der Darmhaut aber noch nicht begonnen hat, markiren sich am hintersten Ende der WoLFF\u2019schen K\u00f6rper zwischen den ineinander\u00fcbergehenden Visceralplatten und der mehr nach unten ger\u00fcckten Membrana intermedia zwei Erh\u00f6hungen, welche anfangs durch den nach unten gekr\u00fcmmten Schwanzstummel getrennt werden. Sie schliessen sich als noch ganz solide Zellenanh\u00e4ufungen dicht an die WoLFF\u2019schen K\u00f6rper an und ein feiner Streifen l\u00e4sst sich an dein innern Rande der letzten nach den beiden erhabenen rundlichen Anlagen der Allantois verfolgen, Ausf\u00fchrungsg\u00e4nge der WoLFF\u2019schen K\u00f6rper. Die beiden Anlagen der Allantoide n\u00e4hern sich ailm\u00e4lig und verwachsen, eine anfangs breitsedriickle Erh\u00f6hung formirend. Diese tritt nun schneller hervor, entwickelt sich zum Bl\u00e4schen, dessen weitere Entwickelung und Gef\u00e4sssystem bekannt ist. Die Folge ihrer Entwickelung ist die Entfernung der Umh\u00fcllungshaut von dem Amnion und von dem peripherischen Theil der Membrana intermedia, welche ailm\u00e4lig den Dotter umfasst. Die Allantoide entsteht demnach weder aus der Schleimhaut noch aus dem Darmsystem \u00fcberhaupt, welches um diese Zeit noch gar nicht abgeschn\u00fcrt und gebildet ist, sondern durch Zellenwucherung am hintern Theil der WoLFF\u2019schen K\u00f6rper.\nLeber und Pancreas - Anlage. Die Leber und Pancreas-Anlage wird erst dann sichtbar, wenn die Abschn\u00fcrung des Centrums der Membrana intermedia von dem peripherischen Theilc den Anfang genommen. Diese Abschn\u00fcrung wird zuerst vorn, wo die Membrana intermedia mit der schon fr\u00fch abgeschn\u00fcrten Kopfabtheilung der Visceralr\u00f6hre zusammenh\u00e4ngt, bemerkt, m deren Folge entsteht eine H\u00f6hle, welche sp\u00e4terhin zum Magen verwandelt wird. Diese H\u00f6hle m\u00fcndet hinten in den Dottersack aus, sie wird vom Cen-tuum der Membrana intermedia gebildet. Oben verl\u00e4uft die Aorta, unten wird sie vom hintern Ende des Herzens begrenzt. Hie unten, aber dennoch an der Oberfl\u00e4che des Centrums der M\u00ae\u00ae1\u201c","page":698},{"file":"p0699.txt","language":"de","ocr_de":"'Entwickelung der V\u00f6gel und beschuppten Amphibien. 699\nbrana intermedia zeigen sich da, wo die Dottervenenst\u00e4mme znm Herzen gelangen, zwei anfangs gleiche breite Erhabenheiten die Leberlappen, ausserdem zeigt sich der Bildungsstofl f\u00fcr das Pancreas. Diese Anlagen haben durchaus keine Communication mit der H\u00f6hle des Centrums der Membrana intermedia, sondern sind nur Zellenwucherungen der Oberfl\u00e4che der letztem, man kann sie abtragen und die H\u00f6hle bleibt unversehrt. W\u00e4hrend die Anlage sich verdickt, auch eine Verbindung mit dem Hauptstamm der Dottervenen bemerkbar wird, bat sich die Membrana intermedia allm\u00e4hlig an der Ursprungsstelle wieder freigemacht und ist zum Schluss ihrer Wirkungen, zur Entwickelung des Darm-hautsystemes \u00fcbergegangen. Der urspr\u00fcngliche Zusammenhang der Membrana intermedia mit der Leber und Pancreas-Anlage h\u00f6rt schon fr\u00fchzeitig auf und letztere vollendet ihre Entwickelung selbstst\u00e4ndig. Die Slructur der Leber zeigt eine lebhafte Zellen-production, in deren Folge sie w\u00e4chst. Auch sp\u00e4ter noch, wenn ihr Wachsthum im Verh\u00e4ltniss der \u00fcbrigen Theile ist, dauert diese Zellenproduction fort und \u00fcberall finden sich Mutterzellen, Kerne und die verschiedensten Ueberg\u00e4nge zur jungen Generation ganz wie beim Frosch. Sollte die junge Generation dieser Zellen zur Vermehrung der Blutmasse verwandt werden ?\nZu gleicher Zeit mit der Leber werden die Anlagen der Lungen wahrgenommen. Sie zeigen sich als kolbenarlige Zellenmassen beider Seiten der beschriebenen H\u00f6hle des Centrums der Membrana intermedia \u00fcber der Leber in der N\u00e4he der Wirbels\u00e4ule. Vorn lassen sie sich bis dahin verfolgen, wo der abgeschn\u00fcrte Kopftheil der Visceralh\u00f6hle aufh\u00f6rt, in dessen Bildungssubstanz sie sich verlieren. Die Lage neben der freien Fl\u00e4che der Membrana intermedia in der Bauchh\u00f6hle hat fast das Ansehen, als ob sich die Anlagen der Lungen von ihr entwickelt h\u00e4tten, indessen befindet sich die Kcimstelle in der hintern Partie des Kopftheils der Visceralr\u00f6hre.\nDarmhautsystem. Wir unterscheiden die Schleimhaut als Cen-fralorgan des vegetativen Lebens und das assistirende System der damit verbundenen H\u00e4ute, welches im folgenden Darmhautsystem genannt wird. Die Kopfabtheilung des Darmhautsystems ist in ilcr ersten Periode durch die Abschn\u00fcrung der Membrana intermedia der directen Einwirkung der Schleimhaut entzogen und mit dem ganzen Kopftheile der Visceralr\u00f6hre dem Einfl\u00fcsse des animalen Systems anheimgefallen. Die H\u00f6hle des Kopftheils der Visceralr\u00f6hre erh\u00e4lt sich als H\u00f6hle des Mundes, Schlundes und der Speiser\u00f6hre, so dass der Athmungsapparat sich nachtr\u00e4glich in sie einm\u00fcndet.\nIn der flachen Rinne, welche die ersten Erscheinungen der Visceralplatten am Bauche zwischen sich haben, liegt das Centrum der Membrana intermedia, vorn in den abgeschn\u00fcrten Kopftheil \u00fcbergehend. Zwischen ihr und den Visceralplatten verlaufen die WoLFF\u2019schen K\u00f6rper. Die seitlichen H\u00e4lften des Centrums der Membrana intermedia verdicken sich und streben sich zu vereinigen. Diese Vereinigung beginnt zuerst vorn, dann hinten und an den dazwischen liegenden Partien. Bildete fr\u00fcher das Centrum","page":699},{"file":"p0700.txt","language":"de","ocr_de":"700 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. /, Abschn. Entwich! d. Eies,\nder mittlern Membran durch den peripherischen Theil ein eben\u00ab massiges Ganze mit der Dotterkugel, so wird es zu Anfang dieser Bildungsvorg\u00e4nge \u00fcber dieselbe in Form eines Daches erhaben, dessen Kante oder Giebel unter der Wirbels\u00e4ule durch die Aorta und die End\u00e4ste mit dem Embryo verbunden ist, Diess Dach wird allm\u00e4hlig zu einem Canal abgeschn\u00fcrt, der in der Mitte durch eine weite Oeffnung mit der Dotterh\u00f6hle in Verbindung steht. Die Abschn\u00fcrung schreitet weiter vor, die H\u00f6hle des Darmcanals wird vergr\u00f6ssert, die Communications\u00f6ffnung mit der Dotterh\u00f6hle nimmt ab und wird allm\u00e4hlig auf einen sehr engen Gang beschr\u00e4nkt.\nDer Abschn\u00fcrung des Darms folgt die Schliessung der Rumpfh\u00f6hle am Bauche auf dem Fusse nach. Voran geht die Basis des Amnion als Membrana reuniens inferior und die Visceralplatten wachsen nach. Es entsteht, so die anfangs weite Nabel\u00f6ffnung, von welcher jetzt das Amnion abgeht.\na Centraltbeil des Nervensystems. b Chorda. c Aorta.\nd Leibesw\u00e4nde, oben in die R\u00fcckenplatten sich fortsetzend. e Visceralplatten.\n/ Amnion. g Darmbaut.\nh Magenh\u00f6hle mit Schleimhaut. i Leber.\nk WoLFF\u2019sche K\u00f6rper.\nDie zw'eite Figur stellt einen Querschnitt in der Gegend der oberen Extremit\u00e4ten dar.\na R\u00fcckenmark. b Chorda. c Aorta.\nd R\u00fcckenplatten. e Visceralplatten. f Amnion. g Darmhaut.\nh Magenh\u00f6hle mit Schleimhaut.\n/ Mesenterium. m Dottersack. n WoLFF\u2019sche K\u00f6rper.\nDas Mesenterium bildet sich ganz so wie beim Frosch. Die Schleimhaut ist ausser der verg\u00e4nglichen Chorda das einzige und zugleich so wichtige Gebilde des F\u00f6tus, welches selbst angelegt und ohne Vermittelung des Blutsvstems erweitert und ausgebildet wdrd. Ihre H\u00fclle erh\u00e4lt sie durch das Centrum der Membrana intermedia. Der peripherische Theil der Membrana intermedia hat sich allm\u00e4hlig \u00fcber den ganzen Dotter ausgedehnt und umh\u00fcllt denselben bis auf eine kleine runde Stelle. Die Corticalschicbt des Dotters tritt in innige Verbindung mit dein peripherischen Theil der Membrana intermedia. Die Dotterarterien bilden von dieser Schicht aus die als Vasa lutea bekannten Gef\u00e4ssschlingen ins Innere des","page":700},{"file":"p0701.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der S\u00e4ugethiere und des Menschen,\n701\nDotters. Der Dotter ist jetzt auf die Bedeutung des Nahrungsstoffes herabgesunken und der Inhalt der Dotterzelleu zeigt sieh wesentlich ver\u00e4ndert, und hat beim Zerdr\u00fccken ein zusammenh\u00e4ngendes fettartiges Ansehen.\nIII. Capitel. Entwickelung der S\u00e4ugethiere und des\nMenschen.\nUeber die der Dehiscenz des Folliculus Graafianns vorausgehende Bildung des Corpus luteum ist bereits oben pag. 645 gehandelt. Nach Barry entwickelt sich dasselbe auf Rosten der vascul\u00f6sen Bedeckung des Ovisacks. Nach den Untersuchungen von Rob. Lee beim Menschen (med. chirurg. Transact. XXII.) bildet sich das Corpus luteum um den Follikel und dessen beide Haute. Ein wahres Corpus luteum scheint sieh nur in Folge einer Conception zu bilden. Dagegen sind falsche Corpora lutea nicht so selten. Montgomery beobachtete sie meist mit dem Anschein wie von Extravasat in den Follikel formirt. Zuweilen giebt eine im vorger\u00fcckten Alter sich ausbildende Verdickung der Schichten des Follikels den Anschein eines Corpus luteum. Falsche Narben des Follikels haben ein unregelm\u00e4ssiges Ansehen, verschieden von der kleinen runden Oeffnung nach einer Conception. Ron. Lee sah ausser diesen Formen bei Frauen, die w\u00e4hrend der Menstruation gestorben, bei denen auch die Trompeten und Fimbrien stark ger\u00f6thet sind, einen falschen Anschein von Corpus luteum am Eierstock in Form einer Perforation des Peritoncal-Ueberzuges des Ovariums mit Wucherung der Oberfl\u00e4che des Ovariums um diese Stelle, und mit oder ohne Bildung einer Cavit\u00e4t an dieser Perforationsstelle.\n1, Ei der S\u00e4ugethiere.\nDer TJebergang des Eies aus dem Eierstock in die Tuben erfolgt zuweilen schon einige Stunden nach der Begattung (wie z. B. Barry fand, dass die Eichen der Kaninchen schon 9\u201410 Stunden nach der Begattung abgehen) oder, in sp\u00e4terer Zeit, innerhalb 24 Stunden oder mehreren Tagen.\nDe Graaf fand die Eichen der Kaninchen 3 Tage nach der Begattung ausgetreten. Op. omn. 215.\nAuch Cruikshank fand dieselben am dritten Tage nach der Begattung in den Tuben, am vierten im Uterus. Phil, Transact. 1797. Reil\u2019s Arch. III. 74.\nCoste fand bei Kaninchen 24 Stunden nach der Begattung Eier im Uterus.\nWharton Jones fand die Eier eines Kaninchens in den Tuben 2 Tage nach der Befruchtung. Bei einem Kaninchen, das 41 Stunden nach der Befruchtung untersucht wurde, fanden sich noch keine Eier in den Trompeten und im Uterus.\nPr\u00e9vost und Dumas fanden die Eichen zweier H\u00fcndinnen 8 Tage nach der Begattung im Uterus, Lei der einen fand sich ein Eichen noch in der Tuba.","page":701},{"file":"p0702.txt","language":"de","ocr_de":"702 VIII. Buch. V. d, Entwickelung. I. Ahschn. Entwickl. d. Eies.\nNach Bischoff\u2019s Untersuchungen an Hunden ist die Zeit des Austritts der Eier aus dem Eierstock sehr verschieden, am fr\u00fchesten fand er die Eichen des Hundes 36 Stunden nach der Begattung. Bei einer andern H\u00fcndin waren sic 19 Stunden nach der Begattung noch nicht ausgetreten. Bei einer andern H\u00fcndin, die vor 14 Tagen den Hund nicht mehr zuliess, fand derselbe die Eier erst in der Mitte der Tuben. Eine andere hatte schon 11 Tage den Hund nicht mehr zugelassen, und doch waren die Eier ei'st in den Uterus eingetreten und noch sehr zur\u00fcck.\nEine merkw\u00fcrdige ganz isolirt dastehende Thatsache ist, dass hei dem Reh eine sehr geraume Zeit zwischen der Befruchtung und dem Austritt des Eies vom Eierstock verl\u00e4uft. Die Befruchtungszeit des Rehes f\u00e4llt in den August, nach den zahlreichen Untersuchungen von Pockei.s verl\u00e4sst dagegen das Eichen das GRAAr\u2019sche Bl\u00e4schen erst im December und geht in die Tuba \u00fcber. Die Brunst dauert vorn Ende Juli bis Ende August. Das Ei ruht also gegen 4 Monate nach der Befruchtung, ehe cs sich entwickelt. \\Viegm. Arch. 1835. 195. Muiu.i.. Arch. 1836. 183.\nDie primitiven Ver\u00e4nderungen des Eichens in den Tuben und im Uterus sind von Cruikshakk, Pr\u00e9vost und Dumas, v. Baer, Coste, Wagner, Wharton Jones, Bisch\u00f6fe und Barry beschrieben.\nDie Eier wurden schon 1672 von De Graaf in den Tuben der Kaninchen gefunden, und er unterschied schon daran 2 H\u00e4ute. Minutissima ut>a </uae licet perexigua, gemina tarnen tunica amiciuntur. a. a. O. 216. Cruiksuank wollte in den Eichen der Kaninchen aus den Tuben vom dritten Tag sogar 3 H\u00e4ute gesehen haben. Die erste Zeichnung des Embryos, zur Zeit, wo sich der Primitivstreifen und der Fruchthof zeigen, sahen zuerst Pr\u00e9vost und Dumas beim Hunde. Pr\u00e9vost und Dumas haben die j\u00fcngsten Eier, die sie in den Uterush\u00f6rnern des Hundes fanden, nicht genau beschrieben, aber in ihren Abbildungen, .Inn. d. sc. mil. III. Tab. 5. Fig. 2. 3, sieht man K\u00f6rnchen, die regelm\u00e4ssig mit einem Kernpunct versehen sind. Sie wollen diese gek\u00f6rnte Stelle an der obern Seite des Eies gesehen haben, man weiss indess nicht, oh diese Bildung im Innern des Eies ist, da Pr\u00e9vost und Dumas an die Decidua erinnern. Unter diesen K\u00f6rnchen sicht man einen weissen runden Fleck abgebildet, den sie der Cicatricula vergleichen.\nv. Baer untersuchte Eichen des Hundes aus deni l lerus vor der Bildung des Embryo. Sic bestanden aus einer \u00e4ussern durchsichtigen Haut, hier und da mit kurzen Kn\u00f6tchen besetzt, Membrana corticalis, und einer innen) Haut, die mit kleinen ringf\u00f6rmigen Figuren besetzt war, die sich bei starker Vergr\u00f6s-serung als Kreise von K\u00f6rnchen zeigten. Diese Erscheinung hat erst durch Bisch\u00f6fe ihre Aufkl\u00e4rung erhallen. Ausserdem zeigte sich ein runder tr\u00fcber Fleck. Die innere Haut, woran die K\u00f6rnchen, nahm v. Baer f\u00fcr die Dotterhaut, es ist dieselbe, welche Coste als Keimhaut betrachtete, den Fleck sah v. Baer als Keimhaut oder Keim an.\nAm dritten Tage nacli der Befruchtung hatten die im Uterus gefundenen Eier des Kaninchens hei Coste einen Durchmesser von 1\"'. Unter dem Mikroskop zeigte sich an der innern Fl\u00e4che","page":702},{"file":"p0703.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der Siiugethiere und des Menschen,\n703\nder \u00e4ussern durchsichtigen Eihaut oder Dotterhaut eine zweite k\u00f6rnige Haut. Diese umschliesst den ganzen durchsichtig gewordenen Dotter. Am 7. Tage erblickte Coste die ersten Rudimente des Embryo als einen Fleck, der aus W\u00f6lkchen von K\u00f6rnern besteht. Er liegt in der Oberfl\u00e4che der Keimhaut und in ihrem Gewebe. Cost\u00e9 unterschied an ihm den L\u00e4ngsstreiten. Recherches sur la generation des mammif\u00e8res. Paris 1834. In seinem neuen Werke Embryogenie compar\u00e9e. Paris 1837. hat derselbe \u00e4hnliche Beobachtungen vom Ei des Hundes und Kaninchens mit Abbildung der Keimhaut und des noch runden Embryonalfleckes, desgleichen von der Keimhaut des Schafs gegeben.\nR. Wagner untersuchte die Eichen der Kaninchen aus der ersten Zeit nach der Befruchtung, wie sie im Uterus vor ihrer Anheftung gefunden wurden. Das Eichen war oval, 2 Linien lang, Linien breit. Es bestand aus 2 H\u00e4uten. Die \u00e4ussere Haut war ganz durchsichtig, struelurlos, \u00fcbrigens d\u00fcnner als die Zona pellucida des Eichens im Eierstock. Die innere Haut stand, nach dem das Eichen in Wasser gelegen, von der \u00e4ussern ab, sie war an ihrer innern Fl\u00e4che mit kleinen'K\u00fcgelchen besetzt. In der Mitte zeigte sich ein Fleck aus K\u00f6rnchen, die wie zu einer k\u00f6rnigen Membran conlluirt waren. Hiermit stimmt auch ein von Gurlt beobachtetes Eichen, wovon Wagner ebenfalls eine Abbildung giebt, ganz \u00fcberein. In Hinsicht der \u00e4ussern Haut des Eichens neigt sich Wagner zur Ansicht von Baer, nach -welcher sie sich zum Chorion oder der sp\u00e4tem \u00e4ussern Eihaut ausbildet. Die zweite oder innere Haut hielt er f\u00fcr die Dotterhaut oder die Keimhaut selbst, den circularen Fleck f\u00fcr die Keimschicht. Abh. d. K. Baierschen Akademie. II. 1837.\nWharton Jones beobachtete die Eier eines Kaninchens in den Tuben zwei Tage nach der Befruchtung. Sie waren von einer dicken gallertigen Lage umgeben, die er nach der Befruchtung auch schon am Eierstock fand, die ihm aber vor der Befruchtung nicht als eigentliche H\u00fclle vorhanden scheint. Nicht aus der Dottermembran, sondern aus jener Lage entsteht nach Wharton Jones das Chorion. Philos. Transact. 1837.\nAuch Valentin (Report. 3. .190.) und Barry (a. a. O.) beschreiben eine d\u00fcnne Haut, welche sich am Ei der Tuben zeigt, und welche das eigentliche Chorion wird. Sie entsteht w\u00e4hrend des Durchgangs des Eies durch die Tuba, aus ihr entwickeln sich die Zotten des Chorions. Die Dotterhaut verschwindet nach Barry durch Liquefaction.\nDie sch\u00f6nen Untersuchungen von Bischoff (Wagner Pftys. 95.) liefern eine Uebersiclit der stufenweisen Ver\u00e4nderungen in der Structur des Eies w\u00e4hrend des Durchgangs durch die Tuben und w\u00e4hrend der ersten Zeit des Aufenthalts im Uterus.\nAlle Eier, welche Bisciioff im Eileiter fand, glichen noch auffallend den Eierstockseiern, namentlich hatten sie immer noch einen K\u00f6rnerdiscus; die fr\u00fchesten zeigt\u00e7n noch keine Ver\u00e4nderung in ihrer Gr\u00f6sse. Das Keimbl\u00e4schen wurde vergeblich gesucht. Dagegen fand es sich 19 Stunden nach der ersten Begattung bei einer H\u00fcndin in den Eiern der angeschwollenen G\u00dfAAF\u2019schen","page":703},{"file":"p0704.txt","language":"de","ocr_de":"704 VIII. Buch. Von d. Entwickelung. I. Abschn. Entwickl. d. Eies.\nBl\u00e4schen vor. Auf dem Wege im Eileiter nimmt das Ei allm\u00e4-lig an Gr\u00f6sse zu, und der Dotter wird fester. Das Eierstocksei l\u00e4sst die Dotterk\u00f6rner ausfliessen. Bei befruchteten Eiern konnte Bischoff den Dotter in 2, 4, ti St\u00fccke theilen. Ferner beobachtete Bischoef, dass der Dotter an verschiedenen Stellen von der innern Fl\u00e4che der Dotterhaut abweicht und eine eckige Gestalt annimmt. An mehreren Eiern gegen das Ende des Eileiters wurde noch eine ganz feine Membran bemerkt, die im Innern den Dotter umschloss. Dagegen l\u00e4ugnet Bischoff den Zuwachs einer \u00e4ussern H\u00fclle des Chorions. Zur Zeit wo die Eichen der Hunde und Kaninchen in den Uterus gelangen, sind sie 5 \u2014 fi Mal so gross, als sie im Eierstock waren. Die Dotterhaut oder \u00e4ussere Haut des Eies wird d\u00fcnner, in dem Masse, als der Dotter an Umfang zunimmt, letzterer wird jetzt auch d\u00fcnner und durchsichtiger. Auf der Oberfl\u00e4che des Dotters bildet sieh eine zusammenh\u00e4ngende K\u00f6rner- oder richtiger Zellenschicht, die Keimhaut, welche den ganzen Dotter umgiebt, und an einer Seite derselben zeigt sich ein tr\u00fcber rundlicher Fleck. Uehrigens liegen die Eier zu dieser Zeit noch ganz lose im Uterus, ohne von einer Uteruseihaut umgeben zu seyn, den Discus fand Bischoff zu dieser Zeit nicht mehr. Die Keimhaut selbst besteht nach Bisghoff\u2019s Untersuchungen an den Eiern der Hunde aus lauter zarten Zellen, welche K\u00f6rnchen umschliessen. Auch der Einbryonalfieck besteht aus Zellen. Bald stehen die Zellen in der Keimhaut so dicht, dass sie meist sechseckige Figuren bilden. In der Mitte der Zellen finden sich kleinere Kerne und ausserdem ein unregelm\u00e4ssiges k\u00f6rniges Wesen.\nBarry hat dieselben Zellen mit Kernen und Kernk\u00f6rperchen beobachtet, so zwar, dass anfangs gr\u00f6ssere Zellen vorhanden sind, und kleinere und zahlreichere an ihre Stelle treten. An der innern Fl\u00e4che der Haut, die den Dotter umgiebt, bildet sich eine ganze Lage solcher Zellen, w\u00e4hrend im Centrum des Eies eine maulbeerl\u00f6rmige Structur entsteht, ln Hinsicht der ersten Bildung des Embryo hat Barry auch bereits Beobachtungen angestellt, die auf Eigenth\u00fcmlichkeiten schliessen lassen. Die ausf\u00fchrlichen Mittheilungen sind noch zu erwarten. Edinb. phil. Journ. 1839.\nDass die erste Bildung des Embryo \u00fcbrigens auf \u00e4hnliche Weise wie bei den V\u00f6geln erfolge, geht bereits aus den Beobachtungen und Abbildungen von Pr\u00e9vost und Dumas hervor. Denn hier sieht man den primitiven Streifen, die ihn begrenzenden Pi\u00fcckenplatten, die biseuitl\u00f6rmige Area pellucida ganz wie bei den V\u00f6geln, und nur das n\u00e4chste Feld, was ohne Zweifel zur Area vasculosa bestimmt ist und die Area pellucida umgiebt, weicht ab und ist auffallend l\u00e4nglich, der Form der Area pellucida entsprechend. v. Baer sah die Keimhaut im gef\u00e4ssreichen Zustande beim Hunde. Vergl. v. Baer de ovi mamma/ium genesi. Fig. VI. und R. Wagner\u2019s Icon, physiol. Tab. VI. Fig. 9. wo der Gef\u00e4sshof rund erscheint. Der Embryo der S\u00e4ugethiere verh\u00e4lt sich zur ganzen sackf\u00f6rmigen Keimhaut wie bei den V\u00f6geln, wie bereits v. Baer zeigt und durch die sch\u00f6nen Abbildungen vom Kaninchen von C\u00fcste Embryog\u00e9nie. Tab, VIII. und vom Hunde von Bischoff,","page":704},{"file":"p0705.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der S\u00e4ugethiere und des Menschen.\n705\nWagner Icon, physiol. VI. Fig. 11 \u2014 14 erl\u00e4utert wird. Der Dottersack der S\u00e4ugethiere h\u00e4ngt anfangs ganz offen und weit mit dem Darm, sp\u00e4ter durch einen Stiel zusammen, Ductus om-phalo-entericus und dieser wird auch von denselben Gelassen, Vasa omphalo-mesenterica begleitet. Dieser Dottersack der S\u00e4ugethiere wird gew\u00f6hnlich Nahelblase, Vesicula umbilicalis genannt. Nach v. Baer\u2019s Untersuchungen hat der Dottersack der S\u00e4ugethiere eine \u00e4ussere Gef\u00e4ssschicht, eine innere Schleimhautschicht, und letztere schickt nach innen zottige Verl\u00e4ngerungen ah, wie bei den V\u00f6geln, sie sind auch im Nabelbl\u00e4schen des Menschen vorhanden. Das Amnion verhielt sich in v. Baer\u2019s Beobachtungen zu den Baucbplatten, wie beim Vogel und kein Zweifel, dass es auf dieselbe Weise entsteht. Auch die Allantoide entsteht auf dieselbe Weise, wie bei den V\u00f6geln, wie besonders durch v. Baer\u2019s und Coste\u2019s Untersuchungen aufgekl\u00e4rt ist. Ihre Blutgef\u00e4sse sind die Vasa umbiiicalia.\nVor der Bildung der Urinblase h\u00e4ngt die Allantois mit dem gemeinschaftlichen Becken f\u00fcr die Ausf\u00fchrungsg\u00e4nge der primitiven Nieren oder WoLFF\u2019sclien K\u00f6rper, die Harnleiter und Ge-schlechtstheile, Sinus urogenitalis zusammen. Aus diesem Becken bildet sich die Harnblase als Zipfel aus. Zur Zeit wo die Urinblase gebildet ist, h\u00e4ngt der Stiel der Allantoide, der Urachus mit dieser zusammen. Das vom Hautnabel abgehende Amnion bildet, indem es sich zu einer den F\u00f6tus umgebenden Blase umschl\u00e4gt, eine Scheide f\u00fcr die aus dem Nabel austretenden Theile. Durch diese Scheide treten hervor der Stiel des Nabelbl\u00e4schens oder Dottersacks, die Vasa omphalo-meseraica, der Stiel der Allantoide und ihre Blutgef\u00e4sse, die Vasa umbiiicalia. Durch jene Scheide werden alle diese 'I heile zu einem gemeinsamen Strange vereinigt, Funiculus umbilicalis, und das Amnion bildet also die Scheide des Nabelstianges, Vagina funiculi umbilicalis. Durch die Gef\u00e4sse der Allantoide gelangt die Gef\u00e4ssbildung bis zum Chorion\nl\na Biickenthed des Embryo.\nb Amnion.\nc Dottersack, Nabelbiase\nc Dottergang.\no Allantois. o' Urachus.","page":705},{"file":"p0706.txt","language":"de","ocr_de":"706 VIII, Buch, Von d, Entwickelung, I. Abschn. Entwich!, d. Eies.\nand die Gef\u00e4sse der Allantois verl\u00e4ngern sich in dieses selbst und seine Zotten.\nW\u00e4hrend der ersten Entwickelung des Eies im LTterus ist dasselbe noch ganz frei, sp\u00e4ter aber bildet sieb auf der innern Oberfl\u00e4che des Uterus eine Exsudation, welche sieb in Zellen formirt und die d\u00fcnne Decidua des S\u00e4ugethiereies bildet, welche besonders bei den Raubthieren deutlich ist. Bojanus a. a. O. Die auf der Oberfl\u00e4che des Chorions sich entwickelnden Zotten wachsen in dieses h\u00e4utige Uteringebilde hinein. Sp\u00e4ter verbindet sich das Ei mit dem Uterus auf eine noch zu beschreibende Weise vermittelst der Placentarbildung.\nWas bisher von der Bildung des S\u00e4ugethiereies gesagt wurde, gilt allgemein, und in der That ist allen S\u00e4ugethieren die Nabelblase oder Dottersack, das Amnion und die Allantoide eigen; in Hinsicht der relativen Ausbildung dieser Theile giebt es aber in den verschiedenen Abtheilungen der S\u00e4ugethiere manche Verschiedenheiten, die hier in K\u00fcrze mit Angabe der wichtigsten historischen Fortschritte namhaft gemacht werden sollen.\nRufus Ephesius unterschied bei den Thieren das Amnion und seine Fl\u00fcssigkeit von der Harnhaut oder Allantoide. Galen beschreibt an den Eiern (von Wiederk\u00e4uern) eine \u00e4ussere H\u00fclle, die er Chorion nennt, eine zweite dem F\u00f6tus ungeh\u00f6rige, von ihm Amnios genannte und eine dritte zwischen den beiden vorhergehenden, welche mit der Urinblase durch den Urachus zusammenb\u00e4ngt, von ihm Allantois genannt. G. Needham entdeckte die Nabelblase der Hunde, Katzen, Kaninchen, die er vierte Membran nannte und deren vom Mesenterium kommende Gef\u00e4sse. Die Allgemeinheit der Eih\u00e4ute der S\u00e4ugethiere und ihre Ueberein-stimmung mit denen der V\u00f6gel wurde am richtigsten und vollst\u00e4ndigsten zuerst von Oken und Kieser erkannt. Sie behaupteten auch den Zusammenhang der Nabelblase oder des Dottersacks der S\u00e4ugethiere mit dem Darm, worin sie ebenfalls liecht batten, was von Mehreren lange bestritten und f\u00fcr blosse Gef\u00e4ssverbindung erkl\u00e4rt wurde. Wenn auch Meckel die Ansicht Oken's widerlegte, dass die Verbindung am Coecum stattf\u00e4nde, so ist doch die Verbindung des Darms mit der Nabelblase an sehr jungen Embryonen leicht zu constatiren. Bojanus bewies diesen Zusammenhang mit dem D\u00fcnndarm beim Hunde. Nou. act., not. cur. X p. 1. p. 141. Am Ei der Wiederk\u00e4uer ist er in der ersten Zeit vor der dritten Woche ungemein deutlich und von Coste sowohl, als von Pockels und mir gesehen. Der hoble SLiel ist sogar liier zu dieser Zeit nicht einmal enger als das gabelige lang ausgezogene Nabelbl\u00e4schen selbst.\nDie Verschiedenheiten in der Entwickelung der Eitheile bei den einzelnen S\u00e4ugethierfamilien sind von Oken und Kieser, Du-tkochet, v. Baer, Coste wesentlich aufgekl\u00e4rt worden. Am vollst\u00e4ndigsten bat dar\u00fcber v, Baer gebandelt, welchem wir hier vorzugsweise folgen.\nDas Ei einiger S\u00e4ugethiere nimmt im Beginn der Entwickelung schnell eine verl\u00e4ngerte Form. Am geringsten bildet sich diese bei den reissenden Thieren, z. B. den Hunden aus, am","page":706},{"file":"p0707.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der S\u00e4ugethiere und des Menschen.\n707\ngr\u00f6ssten ist diese Ausdehnung hei den Hufthieren, hei denen sich das Ei nach beiden Seiten in lange Zipfel verl\u00e4ngert. Der Dottersack der Hufthiere, wie der Wiederk\u00e4uer und Schweine, besteht aus einem anfangs dicken mit der Darmanlage zusammenh\u00e4ngenden Stiel, von welchem zwei ungemein lange Zipfel in entgegengesetzten .Richtungen abgehen. Sp\u00e4ter sterben die Zipfel ab und nur die Mitte bleibt th\u00e4tig und mit Gef\u00e4ssen versehen, bis auch von dieser nur noch eine Spur \u00fcbrig ist. Der Dottersack der Raubthiere ver\u00e4ndert seine Kugelform in eine ellipsoidische, dann in eine spindelf\u00f6rmige, bei diesen perennirt der Dottersack, wird sogar sehr gross und beh\u00e4lt sein Gef\u00e4ssnetz bis zur Geburt. Der Dottersack der Nager verl\u00e4ngert sich nicht in Zipfel und w\u00e4chst sehr stark fort, so dass er sich nicht auf die Bauchseite des Embryo beschr\u00e4nkt, sondern, zwischen Amnion und Chorion durch, \u00fcber den R\u00fccken des Embryo bis wieder zur Bauchseite reicht urtd bis zur Geburt bleibt, v. Baer a. a. O. pag. 191.\nDie Allanlois besteht nach v. Baer aus zwei Schichten, einer innern, der Verl\u00e4ngerung der Schleimhautschicht und einer \u00e4us-sern Gef\u00e4ssschicht, welche die Verzweigung der Nabelgef\u00e4sse aulnimmt. Bei den Baubthieren gleicht dieser Sack demjenigen der V\u00f6gel, er w\u00e4chst um den Embryo herum und erreicht \u00fcberall das Chorion, so dass nur der Raum unausgef\u00fcllt bleibt, in welchem die Nabelblase liegt. Die mit dem Amnion in Ber\u00fchrung kommende gef\u00e4ssarme Lamelle des Sacks ist die Membrana media der Aelteren, Dutrocuet\u2019s Endochorion. Die \u00e4ussere Lamelle des Sackes wird dagegen gef\u00e4ssreich. Die Allantois der Wiederk\u00e4uer ist gleich anfangs doppelh\u00f6rnig und ihre H\u00f6rner entwickeln sich in gleicher Richtung wie die des Nabelbl\u00e4schens, bleiben aber dick, w\u00e4hrend die des Nabelbl\u00e4schens verk\u00fcmmern. Bei den Huf\u2014 Ihieren trennt sich die Gef\u00e4ssschicht derselben von der Schleimhautschicht durch eine Eiweissniederlage und die Gef\u00e4sse wuchern in das Chorion, vtie bei den Raubthieren, wo eine solche Scheidung nicht stattfindet. Bei den Nagern ist die Allanlois am kleinsten, sie bleibt auf der Bauchseite des Embryo und ist cylindrisch, ihre Gef\u00e4sse gehen bald von ihr ab ins Chorion. Auch hier zeigt sich die eigentliche Bedeutung der Allanlois, die Gef\u00e4sse des Embryo bis zur \u00e4ussern Eihaut zu bringen und sie darin zu verpflanzen, v. Baer hat im Ei der S\u00e4ugethiere eine unter der \u00e4ussern Eihaut (Chorion) liegende h\u00e4utige Lamelle nachgewiesen, welche dieselbe Entstehung zu nehmen scheint, wie die ser\u00f6se /f\u00fclle im Vogelei (siehe oben pag. (i&\u00df), indem sie sich von der Oberfl\u00e4che der Keimhaut abl\u00f6st, wahrscheinlich wie dort den Embryo faltenf\u00f6rmig zur Bildung des Amnions umw\u00e4chst und nach dem Schluss des Amnions als eine Lamelle sich isolirt, welche nun Amnion und Embryo, Dottersack und Allantois umschliesst und der \u00e4ussern Eihaut zun\u00e4chst liegt. Zwischen ihr und der \u00e4ussern Eihaut liegt dann eine d\u00fcnne Schichte Eiweis, das \u00e4ussere Eiweis, welches diese ser\u00f6se H\u00fclle durchdringend, bald unter ihr sich ansammelt, so dass dann die ser\u00f6se H\u00fclle und die \u00e4ussere Eihaut sich ber\u00fchren, und die ser\u00f6se H\u00fclle nun ein zweites Blatt des Chorions bildet. In den Wiederk\u00e4uern und Schweinen ist die","page":707},{"file":"p0708.txt","language":"de","ocr_de":"\u201c08 VIII. Buch. Von d. Entwickelung. I. Ahschn. Entwicht. d. Eies.\nAllantois wie immer anfangs frei, bei ihrer schnellen Entwickelung erreicht sie bald die ser\u00f6se H\u00fclle und \u00e4ussere Eihaut, bis in die langen Zipfel des Eies, am Ende dieser Zipfel wird sogar die Eihaut zersprengt und es treten die sogenannten Zipfel der Allantois frei hervor. Auch die Enden des Eies der Rauhfhiere ei leiden dieselbe Ver\u00e4nderung und lassen die Enden des Dottersacks und der Allantoide von der ser\u00f6sen H\u00fclle noch \u00fcberzogen und zusammen geh alten hervor.\nSobald das Chorion die Gef\u00e4sse der Allantois aulgenommen, entwickeln sich diese in die Zotten des Chorions und daraus bilden sich die Wurzeln, womit das Ei hinfort in die W\u00e4nde des Uterus eindringt und aus welchen sich der Mutterkuchen bildet, von dessen Formen sp\u00e4ter gehandelt wird.\nChorion und Amnion bestehen \u00fcbrigens nach den Untersuchungen von Brescuet und Gluge aus primitiven Zellen mit Kernen.\nDie Fl\u00fcssigkeit der Allantois enth\u00e4lt das Secret der Primordialnieren oder WoLFr\u2019schen K\u00f6rper und der Nieren. Es findet sich darin Allantoin. Siehe oben Bd. I. 3. Aull. pag. 5S8. Bei den V\u00f6geln bat Jacobson darin Harns\u00e4ure naebgewiesen.\nIn Hinsicht der Abbildungen der Eier der verschiedenen S\u00e4u-gethiere muss ich auf v. Baer, Coste und Gurlt\u2019s anatom. Abbild, der Hauss\u00e4uget liiere verweisen.\nLiteratur: Oken und Kieser, Beitr\u00e4ge zur vergleichenden Anatomie und Physiologie. 1 806. Dutrochet, in Mem. du mus. d\u2019hist. nat. T.3. p. 82. G. Cuvier, ebend. p. 98. Bojanus, Art. nat. cur. X. p. 1. C. Mayer ebend. XVII. 2. Coste, recherches sur la generation des mammif\u00e8res. Paris 1834. Embryogenie. Paris 1837. v. Baer, \u00fcber Entwickelungsgeschichte der Thiere. II. Theil. Burdacii, Physiologie. II. Theil. Valentin, Entwickelungsgeschichte. R. Wagner, Physiologie, hones physiologicae.\n2. Li \u00ables Menschen.\nDas Ei des Menschen gelangt wahrscheinlich nicht vor Ablauf einer Woche nach der Befruchtung in den Uterus, v. Baer sah am S. Tage nach der Schw\u00e4ngerung durchaus kein Ei, weder im Uterus noch in der Tuba. Ein von Home und Bauer am 7. Tage gefundenes Ei ist zweifelhaft. Ein von E. H. und Ed. Weber beobachtetes Ei ist von einer Woche. Die j\u00fcngsten von Velpeau untersuchten Eier sind von 10 \u201412 Tagen, diese waren schon zottig, aber ohne Embryo. ln einem Ei von 14 Tagen sah v. Baer schon den Embryo.\nEhe das Ei in den Uterus gelangt, beginnt auf dessen innerer Wand eine neue Bildung, die Uterin-Eihaut, deren Form derjenigen des Uterus entspricht. Edw. Weber sah sie am 7. Tage nach dem Beischlaf als eine Lage einer der ausgeschwitzten Lymphe \u00e4hnlichen Substanz auf der innern Wand des Uterus auf und zwischen den vergr\u00f6sserten gef\u00e4ssreichen Zotten derselben. Disq. anal, uteri et. ovariorum puellae 7. a concepiione die defunctae. Hai. 1830. Sie k\u00f6mmt auch bei den Thieren, obgleich weniger ausgebildct, vor. Beiin Menschen wird sie zuweilen, aber nicht","page":708},{"file":"p0709.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der S\u00fcugcthiere und des Menschen.\n709\nimmer, selbst bei einer Graviditas extrauterinn, im Uterus gebildet, und bei einer Graviditas tubaria bat man sie in der Tuba und im Uterus zugleich gesehen. Die Decidua besteht aus einer saftreichen, dem geronnenen Faserstoff '\u00e4hnlichen, lockern, weissgrauen Masse, welche ganz aus geh\u00e4uften Zellen mit Kernen besteht. Siehe eine Notiz hier\u00fcber von mir bei Schwann in Fro-R'eFs Not. 1838. N. 112. />. 22. Vergl. R. Wagner Physiologie 114. Icon, physiol. Tab. XI. Fig. 5. 6. Die Gefasse des Uterus verl\u00e4ngern sich in dieses Product. Die Dicke dieser Lage betr\u00e4gt bald 1\u20143 Linien; w\u00e4hrend ihre \u00e4ussere Oberfl\u00e4che innig mit dem Uterus verbunden ist und im abgerissenen oder freiwillig abgestossenen Zustande rauh ist, ist ihre innere Fl\u00e4che glatt. Das Verhalten der Decidua an den M\u00fcndungen des Uterus ist sich nicht gleich, bald ist sie an den M\u00fcndungen der Trompeten und am innern Muttermunde geschlossen, oder ist an allen diesen Stellen oder an einer derselben offen. Alle diese F\u00e4lle kommen vor und R. Wagner li\u00e2t Riecht, wenn er alle statuirt. Siehe R. Wagner in Meckel\u2019s Archiv 1830. und Physiologie 114 \u2014117. Der Hals des Uterus ist von einer nur schleimigen Gallerte ausgef\u00fcllt.\nWenn das Ei in den Uterus aufgenommen wird, so wird es dem noch ganz w\u2019eichen Gebilde der Decidua eingepflanzt. Die j\u00fcngsten Eier, die man mit Decidua beobachtete, lagen nicht in der H\u00f6hle derselben, sondern waren ihr gleichsam \u00e4usserlich eingeimpft und eingesenkt, so dass die Decidua an der Eintrittsstelle wie nach einw\u00e4rts getrieben und in eine von der \u00e4ussern Fl\u00e4che der Decidua ausgegangene Grube der Decidua eingepflanzt war. Siebe Bock de membrana decidua. Bonnae 1831. Bei dem weitern Wachsthum des Eies wird die Decidua an dieser Stelle immer weiter in ihre eigene H\u00f6hle eingest\u00fclpt. Der eingest\u00fclpte Theil der Decidua heisst Decidua reflexa, die urspr\u00fcngliche und \u00e4ussere Decidua aber Decidua vera. Decidua vera und reflexa sind ein und dasselbe Gebilde und durch ihre Structur durchaus von der Schleimhaut des Uterus verschieden, vielmehr neue Pro-ducte. Die Entstehung der Reflexa darf man sich \u00fcbrigens nicht als ein mechanisches Vordringen, verursacht durch das Ei, denken, diese Einst\u00fclpung erfolgt vielmehr, wie alle organische Processe der Einst\u00fclpung, durch lebendige Kr\u00e4fte der Vegetation in bestimmter Richtung. Zwischen der Decidua vera und reflexa in der H\u00f6hle der Decidua befindet sich eine eiweissartige Fl\u00fcssigkeit Breschet\u2019s Uydroperione. Die L\u00fccke, wo der Umschlag der einen Lamelle in die andere stattfindet und wo das Ei herangetreten ist, wird wieder von einer der Decidua \u00e4hnlichen und mit ihr zusammenh\u00e4ngenden Masse geschlossen, Decidua serotina. An jungen Eiern, die im Uterus selbst untersucht werden, findet sich Decidua vera und reflexa meistens, an abgegangenen Eiern selten beide zugleich, diess h\u00e4ngt davon ab, ob die ganze Decidua abgestossen worden oder ein Theil im Uterus zur\u00fcckgeblieben ist. Bei fortschreitendem Wachsthum des Eies kommt die Decidua vera und reflexa in Ber\u00fchrung, und die H\u00f6hle der Decidua ist im dritten Monat der Schwangerschaft verschwunden, und von da der","page":709},{"file":"p0710.txt","language":"de","ocr_de":"710 VIII. Buch, Von d. Entwickelung. I. Abschn. Entwickl. d. Eies.\nUnterschied beider Haute schwierig oder gar nicht nachzuweisen. Bei dem weitern Wachsthum des Eies wird die Decidua verd\u00fcnnt, aber sie vergeht nicht ganz. Bei der Gehurt bleibt sie theils noch im Uterus zur\u00fcck, theils findet sie sich als d\u00fcnne Lage am Ei selbst noch. Ueber die Decidua des reifen Eies siehe Bischoff,' Beitr\u00fcge zur Lehre uon den Eihiillen des menschlichen F\u00f6tus. Bonn 1834.\nDie Verbindung des Eies mit der Decidua ist anfangs so, dass die \u00e4stigen Zotten des Chorions wie Wurzeln in hohle, die Decidua durchziehende Canale eingesenkt sind oder hineinwachsen, und aus diesem m\u00fctterlichen Gebilde, ohne damit organisch verbunden zu seyn, Nahrung ziehen.\nNach neueren Beobachtungen von E. H. Wehf.r, von denen ich handschriftlich Kenntnisse erhalten habe, bilden den Haupt-bestandtheil der Decidua die sehr gedr\u00e4ngt liegenden schlauch-artigen Uterindr\u00fcsen, zwischen und an welchen zahlreiche Blutgef\u00e4sse verlaufen. Bei den Thieren liegen die langen r\u00fchrigen hin und wieder gelheilten Uterindr\u00fcsen in der Substanz des Uterus seihst und \u00f6ffnen sich auf dessen innerer Oberfl\u00e4che durch zahlreiche Oeffnungen. Siehe E. 11. Weber in Hildebrajvdt\u2019s Anatomie. IV. p, 505. Burckhardt ohs. anal. de uteri vaccini fahrica. Basil. 1834. E. H. Weber annot. anai. 186. Beim Menschen bilden sie die Decidua seihst. Schon durch die innere Oberfl\u00e4che der Decidua sieht man im Innern derselben zahlreiche, ziemlich parallel gelegene, gegen die Oberfl\u00e4che gerichtete F\u00e4dchen durchschimmern, wie ein Sammt von Zotten, mit dem Unterschiede, dass die Zotten nicht frei liegen, sondern dass die Zwischenr\u00e4ume zwischen ihnen von der Substanz der Decidua ausgef\u00fcllt werden. Wenn man die Schnittfl\u00e4che des halhirten Uterus im Sonnenschein mit Lupen betrachtet, so bemerkt man, dass diese angeblichen Zotten cylinderische, d\u00fcnne, lange Schl\u00e4uche sind, die sich da, wo sic an die Oberfl\u00e4che treten, etwas verengen; in der Gegend, wo die Tunica decidua mit dem Uterus zusammenh\u00e4ngt, dicker und wie es scheint mit geschlossenen Enden anfangen, daselbst schl\u00e4ngeln sie sich sehr. Presst man einen schw\u00e4ngern Uterus, so kann man auf der Oberfl\u00e4che der Decidua einen weissliclien dicken Saft, wie aus den Uterindr\u00fcsen der Thiere hervorpressen. Die Decidua hat an ihrer innern Oberfl\u00e4che zahlreiche, l\u00e4ngst bekannte L\u00f6cherchen; diese scheinen der Ort zu sein, wo sich zwei oder mehrere Schl\u00e4uche zugleich \u00f6ffnen. Ausserdem muss es noch viele einzelne unsichtbare Oeffnungen geben. Die G\u00e4nge sind fast 4 Zoll lang und theilen sich nur selten in zwei, von denen jeder so dick ist als der Stamm. Hierdurch unterscheiden sie sich sehr von den Blutgelassen, die neben ihnen verlaufen; denn diese bilden ein Netz oder Schleifen, sind wenigstens \u00e4stig und ihr Durchmesser nimmt w\u00e4hl end der Verzweigung ab. Der Durchmesser der Dr\u00fcsenean\u00e4lchen betr\u00e4gt gegen ~ P. Lin.; der Durchmesser der Haargefasse P. Lin.\nAbbildungen der Decidua: Hunter, Anaiomia uteri grandi. Tab. 33. 34. Velpeau, Embryologie. Paris 1833. Seiler> die Geb\u00e4rmutter und das Ei des Menschen in den ersten Schwangersckafts-","page":710},{"file":"p0711.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der S\u00e4ugethiere und des Menschen. 711\n/\nmonaten. Dresden 1832. Kilian, Geburtsh\u00fclfl. Atlas Tab. XXIV. C. Mayer, Ic\u00f4nes selectae. Bonn 1831. Tab. V. Fig. 6. 7. 8.\n\u25a0 Die Entwickelung des Embryo, die Bildung des Amnions und des Dottersacks erfolgen beim Menschen wahrscheinlich ebenso wie bei den V\u00f6geln. Das Nabelbl\u00e4schen und sein Gang haben n\u00e4mlich dieselbe Beziehung zum Darin, wie der Dottersack und Dottergang zum Darm beim Vogel. Daher ist das Nabelbl\u00e4schen dem Dottersack in Allem gleich zu achten. Dass der Stiel dieses Bl\u00e4schens auch hier mit dem Darm zusammenh\u00e4ngt, ist zur Zeit, wo dieser Stiel d\u00fcnn und lang ist, nicht mehr sicher zu beweisen. Kieser (die Bildung des Darmcanals aus der Vesicula umbilicalis. Gott. 1810.) sah diesen Stiel bis zum Darm verlaufen und bildete es ab. Es wurde vielfach bestritten, der Stiel f\u00fcr ein Blutgef\u00e4ss erkl\u00e4rt. Hingegen ist der Beweis mit Sicherheit an den j\u00fcngsten Embryonen zu f\u00fchren. An Eiern, deren Embryo 2 \u2014 3 Linien lang ist, ist der Stiel des Nabelbl\u00e4schens ausserordentlich kurz und weit, lind die W\u00e4nde dieser Basis des Nabelbl\u00e4schens gehen deutlich in die W\u00e4nde der Uranlage des Darms \u00fcber. So sah ich den Zusammenhang an einem vor l\u00e4ngerer Zeit beschriebenen Ei (Archiv 1834. p. 8.). Aehnliche Beobachtungen stellten Wagner und Allen Thomson an, und der letztere sah das Nabelbl\u00e4schen sogar in einem so fr\u00fchzeitigen Zustande, dass es ohne alle Einschn\u00fcrung mit den R\u00e4ndern der Carina des Embryo zusammenhing. In einer mir von E. H. Weber mitgetheilten Abbildung eines sehr jungen Embryo sind ausser dem Stiel des Nabelbl\u00e4schens auch dessen Blutgef\u00e4sse gesehen.\nAn den j\u00fcngern Eiern ist das Chorion von dem, den F\u00f6tus noch eng umziehenden Amnion durch einen sehr grossen Zwischenraum getrennt, welcher mit einer bald mehr d\u00fcnnen, bald mehr gallertigen Fl\u00fcssigkeit, Velpeau\u2019s Corps r\u00e9ticul\u00e9, gef\u00fcllt ist. An der innern Wand des Chorions l\u00e4sst sich leicht eine d\u00fcnne Hautschiebt (Endochorion ) abl\u00f6scn, als wenn diese Fl\u00fcssigkeit oder Gallerte in einem eignen Sack eingeschlossen w\u00e4re. Zuweilen finden sich in der Gallerte auch spinngewebeartige F\u00e4den, die mit jener innern Schichte des Chorions und dem Amnion Zusammenh\u00e4ngen. Mehrere, wie in neuerer Zeit Velpeau, hielten diese Substanz mit dem sie begrenzenden H\u00e4utchen f\u00fcr die Allantois des Menschen, indem sie ungef\u00e4hr zwischen Amnion, Nabelblase und Chorion gelegen ist, wie die Allantois der S\u00e4ugethiere. Es ist aber nie gelungen, diese Ansicht durch die Genesis der Allantois zu erh\u00e4rten und sie ist \u00fcberhaupt unwahrscheinlich. Vielmehr ist diese Masse als Eiweiss zu betrachten. Sehr wahrscheinlich verh\u00e4lt sich die Allantois des Menschen ungef\u00e4hr so wie bei den Nagern, d. h. sie erscheint nur als schmales, gegen das Chorion sich verl\u00e4ngerndes Bl\u00e4schen, und ist nur bestimmt die Nabelgef\u00e4sse zum Chorion zu bringen und diesem einzupflanzen. Hieher sind dann die Beobachtungen zu rechnen, wo an sehr jungen Embryonen zwei Bl\u00e4schen mit Stielen aus dem Bauche des Embryo hervorgingen. Pockels Isis 1825. Tab. 12. 13. Coste Embryog. fab. III. Fig. 4. 5. Seiler Taf. X. v. Baer\u2019s Entwickelungsgeschichte Tab. VI. Fig. 15. und 17. und in Siebold\u2019s Journal XIV.\nZUiiller\u2019s Physiologie, 2r, Bd, III,\t40","page":711},{"file":"p0712.txt","language":"de","ocr_de":"712 VIII. Buch. Von d. Entwickelung. \u00cf. Abschn. Entmckl. d. Eies.\nFig. 7. 8., und A. Thomson Edinb. med. a. surg. Journ. No. 140. Fig. III. 3. So ist auch der dicke kurze Strang zu deuten, der in dem von mir im Archiv 1834. p. 8, und 1836. CLXVII. beschriebenen und commentirten Ei aus dem Ende des Embryo zum Chorion ging. Aus Gef\u00e4ssst\u00e4mmen war dieser Strang nicht zusammengesetzt, sondern er schien ganz einfach; deutlicher giebt sich dieser K\u00f6rper in dem von Wagner abgebildeten Ei, Icon, physiol. Tab. VIII. Fig. 2. 3., zu erkennen. Tn manchen F\u00e4llen mag sich das Ende der Allantoide an der Stelle, wo die Insertion ins Chorion stattfindet, ein wenig erweitern. v. Baer sagt, dass er in allen Eiern des ersten und zweiten Monats an der Einsenkung des Naheistranges ein ganz kleines flachgedr\u00fccktes Bl\u00e4schen fand, das mit einem Gange innerhalb des Nabelstranges mehr oder weniger communicirte. Die Gelasse liefen an seinem, Stiele fort und der Stiel senkte sich in die Cloake ein.\nv. Baer stellt zwei Alternativen als m\u00f6glich auf. Entweder hebt sich das Gef\u00e4ssblatt der Allantois ab und legt sich in Form einer Membran an die \u00e4ussere Eihaut oder das Chorion und auch an das Amnion an, w\u00e4hrend das Schleimhlatt canalartig bleibt, dann w\u00e4re die Eiweissmasse zwischen Chorion und Amnion Ei-weiss, das sich zwischen Gef\u00e4sshaut und Schleimhaut der Allantois ansammelte, wie in sp\u00e4terer Zeit bei den Hufthieren. Oder diese Trennung der Bl\u00e4tter der Allantois findet nicht statt, sondern die Gef\u00e4sse wuchern von der wenig sich entwickelnden Allantois in das Chorion und die Allantois w\u00e4chst nicht weiter, und vergebt zuletzt ganz bis auf ihren Stiel, den Urachus. Dann w\u00fcrde die Eiweissmasse sich unter der \u00e4ussern Eihaut sammeln, indem diese sich zum Chorion umbildet. Beide Vorg\u00e4nge kommen bei anderen S\u00e4ugethieren vor. Die erste Annahme h\u00e4lt v. Baer f\u00fcr wahrscheinlicher; mir ist sie es auch und vorz\u00fcglich deswegen, weil Jones und Thomson die eiweissartige oder .spinngewebeartige Masse innerhalb des Chorions schon in Eiern wahrnahmen, in denen der Embryo noch gar nicht an das Chorion befestigt und also die Allantois noch nicht gebildet war. Dann w\u00fcrde jene die innere Fl\u00e4che des Chorions auskleidende Lamelle vielleicht f\u00fcr die ser\u00f6se H\u00fclle (siehe oben pag. 707) anzusehen seyn.\nNach der Verbindung des Embryo mit dem Chorion durch Blutgef\u00e4sse des erstem findet sich keine Spur der Allantois mehr, und nur der Urachus der Urinblase, ein bis in den Nabelstrang zu verfolgender Faden ist ihr Rudiment.\nDie successive!! Ver\u00e4nderungen des Eies lassen sich also jin-terscheiden. Die erste Periode umfasst das Wachsthum des Ei-chens und seine inneren Ver\u00e4nderungen, ehe sich ein \u00fcber den Dottersack erhebender Embryo wahrnehmen l\u00e4sst. Die Vorg\u00e4nge in dieser Periode sind am wenigsten bekannt. In dieser Zeit entwickeln sich bereits die Zotten des Chorions. Hieher geh\u00f6rt eine Beobachtung von Wharton Jones {Phil. Transact. 1837. p. 339)* Das erbsengrosse Eichen war angeblich von 3 \u2014 4 Wochen, niag aber wohl viel fr\u00fcher abgestorben seyn. Es sass in der einen Seite der Decidua. Die eine Seite der \u00e4ussern Oberfl\u00e4che war glatt, die andere mit Zotten des Chorions bedeckt. Die Sani0","page":712},{"file":"p0713.txt","language":"de","ocr_de":"713\nEntwickelung der S\u00e4ugelhiere und des Menschen.\nH\u00f6hle des Chorions war mit einem gallertigen Gewebe gef\u00fcllt, in welchem gegen das eine Ende des Eies ein kleiner runder K\u00f6rper eingebettet war, cKe bl\u00e4schenartige Keimhaut. Der Embryo war noch nicht sichtbar.\nAus derZeit, w\u2019o der Embryo sich vom Dottersack abschn\u00fcrt, Amnion und Allantois sich bilden, aber der Embryo noch nicht an dem Chorion durch eine Ailantoide aufgeh\u00e4ngt ist, sind an erster Stelle zwei Beobachtungen von Allen Thomson Edinb. med. a. surg. Journ. N. 140. Fig. 1. II. zu nennen. Sie betreffen zwei mit Chorionszotten versehene Eier, wovon das eine ^ Zoll, das andere gegen -( Zoll im Durchmesser hatte. In dem kleinen Ei f\u00fcllte der Dottcrsack oder die Nabelblase den grossem Theil des Chorions, aber' nicht ganz aus, der Raum zwischen beiden war durch ein z\u00e4hes Gewebe von albumin\u00f6sen F\u00e4den eingenommen. Der Embryo 1'\" lang, lag mit der Bauchseite flach auf der Oberfl\u00e4che des Dottersacks auf, mit welchem die Carina eine gemeinschaftliche H\u00f6hle bildete. Im zweiten Eichen war der Raum des Chorions im Verh\u00e4ltniss zum Embryo sehr gross und von dem schon genannten fadigen Gewebe eingenommen. Der Embryo und Dottersack hingen am Chorion durch eine dichtere Stelle dieses Gewebes an. Derselbe hing mit dem Dottersack nicht durch einen Stiel zusammen, sondern lag ganz flach auf und seine Seiten gingen in die W\u00e4nde des Dottersacks \u00fcber. Am Embryo unterscheidet man ungemein deutlich die Pi\u00fcckenw\u00fclste, welche noch nicht vereinigt sind. Keine Allantois, kein Amnion.\nZu dieser Periode geh\u00f6ren auch mehrere Beobachtungen von begonnener Entwickelung der Ailantoide, n\u00e4mlich diejenigen, wo zwei gestielte Bl\u00e4schen aus dem Bauche hervorh\u00e4ngen, ohne dem Chorion verwachsen zu seyn, namentlich die Beobachtungen von Pocrels und Coste.\nEine andere Reihe von Beobachtungen f\u00e4llt in die Zeit von der Anheftung des Eies an das Chorion durch die Ailantoide, bis zur Ausbildung des N\u00e4belstranges. In dieser Zeit ist noch keine Nabelstrangscheide des Amnions, die die aus dem Bauch austretenden Theile vereinigt. Dahin geh\u00f6rt wieder eine Beobachtung von A. Thomson a. a. O. Fig. III. Der F\u00f6tus war \u2018 Zoll lang, das Herz hing als eine Gefassscblinge vor dem K\u00f6rper heraus. Der Darm war ein gerader Canal, der Mund, aber nicht der After formirt. In der Mitte des K\u00f6rpers \u00f6ffnete sich der Darm durch eine weite Oeffnung in den Dottersack oder das Nabelbl\u00e4schen, welches sich in seinem untern Theil zu verengen beginnt. Aus dem Hintertheil des F\u00f6tus ging ein bimf\u00f6rmiger K\u00f6rper hervor, welcher den F\u00f6tus an das Chorion befestigte. Zwei Kiemenspalten waren sichtbar. Amnion fehlte (wahrscheinlich wegen krankhafter Entwickelung). Hierauf folgen zwei ganz \u00fcbereinstimmende Beobachtungen von R. Wagner und mir, letztere ist die oben erw\u00e4hnte.\nVon jenem Eichen von 7 \u2014 8 Linien Durchmesser, das ich Herrn Dr. Wolf in Bonn verdanke, hatte Prof. D\u2019Alton einst die G\u00fcte eine Zeichnung zu machen, ich theile sie auf der diesem Bande beigegebenen Kupfertafel mit. Der Embryo ist 2| Linien*\n46 *","page":713},{"file":"p0714.txt","language":"de","ocr_de":"714 VIII. Buck. Von d. Entwickelung. I. Abschn. Entwich!, d. Eies.\nder dicke Nabelstrang f Linien, das Nabelbl\u00e4scben hat 1|-Linien im Durchmesser. Das Amnion liegt so dicht auf dem Embryo auf, dass es mit blossen Augen kaum Unterschieden werden kann. Es geht von den Bauchplatten an der weiten Bauch\u00f6ffnung ans, und ist an der untern vordem Seite mit der ganzen L\u00e4nge des Nabelstranges verwachsen. Der Darm ist ein die Carina einnehmender Canal, welcher da, ivo die Bauchplatten sich in das Amnion Umschl\u00e4gen, ganz breit in das Nabelbl\u00e4schen \u00fcbergeht, so dass an der Stelle des sp\u00e4tem Stieles bloss eine geringe Einschn\u00fcrung sich findet. Am Halse des Embryo bemerkt man drei Paar Spalten und Bogen; hinten ragt in der Mitte der Schlauch des Herzens hervor. Interessant ist, dass man mit Bestimmtheit die Zeit des stattgefundenen Coitus weiss. Dieser war am 2. December erfolgt, am 25. war die erwartete Periode ausgeblieben; am 27. December hatte abermals Coitus stattgefunden und am 5. Januar war das Ei abgegangen. H\u00e4lt man sieh an die blossen Data, so war diess Ei entweder 34 oder 9 Tage alt. Das letztere hielt ich f\u00fcr unwahrscheinlich (nicht umgekehrt wie mir v. Baer und Wagner zuschreiben). Dass das Ei einige Zeit fr\u00fcher als am 34. Tage sich gelost hat, kann man immerhin annehmen. v. Baf.r vermuthet, dass es sich bei dem zweiten Beischlaf gel\u00f6st und dass das Ei demnach 25 Tage alt sey; diese Ansicht theilt auch R. Wagner.\nGanz \u00e4hnlich ist der Entwickelungszustand des von R. Wagner auf Tab. VIII. Fig. 2. 3. der Icon, physiol, abgebildeten Eies von drei Schwangerschaftswochen. Es sind schon die ersten Rudimente der Extremit\u00e4ten als kleine blattf\u00f6rmige H\u00f6ckerchen zu bemerken. Diese Figuren gleichen sich in Beziehung auf die Eigebilde vollkommen, so dass ihre Uebereinstimmung das Vertrauen einfl\u00f6sst, dass man es hier mit ganz normalen Eiern zu thun hat.\nNur in dem ersten und zweiten Monat der Schwangerschaft findet sich ein mit Eiweiss gef\u00fcllter Zwischenraum zwischen Chorion und Amnion. Durch das Wachstbum des Amnions legen sich beide H\u00e4ute bald dicht aneinander. Zwischen ihnen findet sich noch die Tunica media, welche von Bisciioff genau beschrieben ist.\nDas Nabelbl\u00e4schen, anfangs durch eine weite kurze Communication mit dem Darm zusammenh\u00e4ngend, erh\u00e4lt, wie bei den V\u00f6geln der Dottersack, einen mehr und mehr sich verl\u00e4ngernden und verd\u00fcnnenden Stiel, Ductus omphalo-entericus, begleitet von den Vasa omphalo-meseraica. Diese liegen dann mit den z\u00fcrn Chorion gehenden Nabelgef\u00e4ssen im Nabelstrang, dessen Theile von dem Umschlag des Amnions, Vagina funiculi umbilicalis, zu-sammengehalten werden. Das Nabelbl\u00e4schen, mit weissgelblicher Dottermasse gef\u00fcllt, liegt dann immer noch zwischen Chorion und Amnion, mehr oder weniger nahe der Insertion des Nabelstranges in das Chorion. Nachdem es nun den Durchmesser von 4 \u2014 5 Linien erreicht hat, verk\u00fcmmert es im dritten Mona mehr und mehr mit sammt seinem Stiele. Zuweilen ist es nu einem Faden noch an reifen Eiern aufzufinden, wie M\u00e0\u00efeb g\u00ae\" zeigt hat.","page":714},{"file":"p0715.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung dev S\u00e4ugethiere und des Menschen.\n745\nSobald das Amnion und Cborion sich ber\u00fchren, ver\u00e4ndert sich das Ei wenig mehr, als dass sich die Zotten des Chorions an einer Stelle zur Bildung der Placenta anh\u00e4ufen, und dass die Gef\u00e4sse des Chorions sicli an dieser Stelle allein in jene \u00e4stigen, am Ende kolbigen, wie das ganze Chorion aus Zellen mit Kernen bestehenden Forts\u00e4tze entwickeln. Indessen vergehen die Zotten auch an den \u00fcbrigen Stellen des Chorions nicht, sondern ihre Zwischenr\u00e4ume werden bei dem Wachsthum des Eies nur gr\u00f6sser. Selbst an reifen Eiern finden sich diese Zotten noch auf dem Chorion vor. Bischoff a. a. O. W\u00e4hrend der Entwickelung des Embryo zieht sich der Nabelstrang immer l\u00e4nger aus.\nAm ausgebildeten Ei folgen sich von aussen nach innen Decidua, Chorion, Amnion dicht aneinander liegend, so zwar, dass das Amnion an der Insertionsstelle des Nabelstranges in das Chorion, sich auf diesem als Vagina funiculi umbilicalis umschl\u00e4gt und am Nabel mit der Haut des Embryo zusammenh\u00e4ngt. In dieser R\u00f6hre des Amnions, die am Ende den Inhalt des Nabelstranges hervortreten l\u00e4sst, sind enthalten:\n1)\tDer in fr\u00fcherer Zeit vorhandene Ductus omphalo-entericus zum Nabelbl\u00e4schen oder der Stiel desselben, begleitet von\n2)\tden Vasa omphalo-meseraica, Zweigen der Mesenterialgef\u00e4sse.\n3)\tDer Urachus.\n4)\tDie Vasa umbilicalia, welche hernach den Hanptthei! des Nabelstrangs ausmachen. Es sind bei den Thieren meist 2 Nabelvenen, wie 2 Nabelarterien, beim Menschen giebt es nur eine Nabelvene und 2 Nabelarterien. Die Naheiarterien sind die Haupt\u00e4ste der Art. hypogastricae, sie bringen das Blut in die Placenta oder in die Gef\u00e4sse der dort angeh\u00e4uften Chorions-Zotten. An diesen Zotten, welche in die Decidua des Uterus oder Uterin - Placenta wie Wurzeln eingesenkt sind, geht das Blut durch schlingenf\u00f6rmige Capillaren in Venen \u00fcber, die sich zur Vena umbilicalis sammeln. Die Vena umbilicalis, das Analagon der perennirenden Vena umbilicalis, V. abdominalis der Amphibien ergiesst ihr Blut gi\u2019ossentheils in die Pfortader, tlieils durch den Ductus ve-nosus Arantii unmittelbar in die Vena cava inferior.\nDer Liquor amnii des Menschen enth\u00e4lt nach den Untersuchungen von C. Vogt (Muell. Arch. 1837. 69.) Alcoholextract mit milchsaurem Natron, Kochsalz, Eiweiss, schwefelsauren und phosphorsauren Kalk. Das specifische Gewicht war bei Liquor amnii von 3^ Monat 1,0182, bei solchem von 6 Monat 1,0092. Im ersten Fall enthielten 1000 Theile 10,77, im zweiten nur 6,67 Theile Eiweiss.\nIn Hinsicht der Abbildungen der Eier aus den verschiedenen Zeitperioden verweise ich auf S\u00f6mmerring, Seiler, Velpeau, R. Wagner.\nSchriften: die angef\u00fchrten von Kieser, Pockels, Burdach, Seiler, Velpeau, Bischoff, Valentin, Mayer, Coste, v. Baer, Wagner, Thomson und ausserdem Wrisberg, descriptio anatom, embryonis. Glitt. 1764.; Autenrietii, supp/, ad hist, embryon, hum. Tub, 1797., Mueller in Meckel\u2019s Archiv 1830. 414.","page":715},{"file":"p0716.txt","language":"de","ocr_de":"716 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. I, Abschn. Entwickl. d. Eies,\nAm Schl\u00fcsse dieser Uebersicht \u00fcber die allgemeinsten Entwickelungen im Ei des Menschen ist die schon gelegentlich ber\u00fchrte Frage ausf\u00fchrlicher zu er\u00f6rtern, wie die Aehnlichkeiten, welche die Embryonen in den verschiedenen Classen mit einander darbieten, anzusehen sind. Es ist noch nicht sehr lange her, dass mehrere Naturforscher die Idee aufstelUen und ganz ernstlich nahmen, dass der Menschenf\u00f6tus die niederen Thierstufen bis zum Menschen durchlaufe, und dass er in den verschiedenen Perioden des F\u00f6tuslebens verschiedenen Thierstufen gleiche. In dieser Weise ausgedr\u00fcckt klingt jene Aelinliclikeit sehr abentheuerlich und findet auch in keiner Weise statt, wie v. Baer sehr sch\u00f6n gezeigt hat. Denn der Embryo gleicht in der That nie weder einem Strahlenthier, noch einem Insect, noch einem Molluscum, noch einem Wurme. Die Formationsplane dieser Thiere sind eben himmelweit von dem der Wirbelthiere verschieden. Der Mensch k\u00f6nnte daher h\u00f6chstens seinen Verwandten \u00e4hnlich seyn, n\u00e4mlich den Wirbelthieren, da er selbst Wirbelthier ist und mit ihnen den allgemeinen Plan der Wirbelthiere theilt. Er gleicht aber auch nicht zu gewisser Zeit einem Fisch, zu anderer einem Amphibium, Vogel u.s.w.; sondern er gleicht einem Fisch gerade so weit er einem Vogel und Amphibium gleicht, oder wie fern alle diese Wirbelthiere sind. Anfangs tragen aber die Embryonen aller Wirbelthiere das Gemeinsame und Einfachste vom Typus eines Wirbelthiers am reinsten an sich, und daher gleichen sich die Embryonen aller Wirbelthiere in der ersten Zeit so sehr, dass es oft schwer ist, sie von einander zu unterscheiden. Fisch, Amphibium, Vogel, S\u00e4ugethier und Mensch stehen also anfangs dem einfachsten gemeinsamen Typus am n\u00e4chsten, und entfernen sich allm\u00e4hlig davon, so dass die Extremit\u00e4t anfangs gleich, die Bestimmung zu Flosse, Fl\u00fcgel, Fuss, Hand u. s. w. erh\u00e4lt. Deswegen haben alle Embryonen anfangs Bogen am Halse und Spalten dazwischen, die uneigentlich sogenannten Eiemenbogen, ein Ausdruck des allgemeinen Plans, an welchem in der That noch nichts von einer Kieme ist. ln diesen Bogen verlaufen bei allen Thieren Aortenbogen, die sich hinten zur Aorta wieder vereinigen. Nur bei den Fischen entsteht hier eine progressive Metamorphose, indem sich an einigen dieser Bogen Kiemenbl\u00e4ttchen bilden und die Gef\u00e4ssbogen sich in ein System von Gel\u00e4ssfedcrn mit arteri\u00f6sen und ven\u00f6sen St\u00e4mmen verwandeln, welche letztere dann erst wieder die Aorta zusammensetzen. Bei den nackten Amphibien geschieht das auch, aber ihre Kiemen vergehen bei der Verwandlung, ihre Kiemengel\u00e4sse werden wieder auf die urspr\u00fcnglichen un verzweigten Bogen redueirt, und ihre Kiemenbogen gehen gr\u00f6sstenthejls ein, wie sie bei den beschuppten Amphibien, V\u00f6geln, S\u00e4ugethieren und dem Menschen \u00fcberhaupt sogleich in andere perennirende Bildungen verwandelt werden. Hier gehen auch die mehrfachen Aortenbogen, Ausdruck des allgemeinsten und einfachsten Plans der Wirbelthiere, ein, und es bleiben bei den beschuppten Am* phibien nur entweder 1 oder 2, bei den V\u00f6geln, S\u00e4ugethiepen und dem Menschen nur einer \u00fcbrig.\nWas die Entwickelung des Embryo selbst betrifft, so verwaise","page":716},{"file":"p0717.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der S\u00e4ugethiere und des Menschen.\n717\ncli haupts\u00e4chlich auf die sp\u00e4ter folgende Entwickelungsgeschichte der einzelnen Organe; hier sollen nur einige der auffallendsten Formen- und Gr\u00f6ssenver\u00e4nderungen erw\u00e4hnt werden. Im Anfang des zweiten Monates hat der Embryo eine L\u00e4nge von einigen Linien bis \\ Zoll. Die Extremit\u00e4ten sind als blattf\u00f6rmige Ans\u00e4tze angedeutet, Mundh\u00f6hle vorhanden und weit offen; der After bildet sich sp\u00e4ter, das Steissbein ragt frei hervor. Die Riemenspalten sind noch vorhanden, schliessen sich aber bald, der Kopf wird ansehnlich und die schon gebildeten Augen r\u00fccken aus ihrer anfangs seitlichen Lage mehr nach vorn und bald entwickeln sich die Nasengruben. Die Abgangsstelle des Nabelstranges steht noch sehr tief, diese Stelle r\u00fcckt im Verfolg der Entwickelung immer h\u00f6her, bis sie zuletzt die Mitte ties Bauches einnimmt. Innerhalb des zweiten Monats bildet sich die Nabelstrangscheide, der anfangs gerade Darm biegt sich knief\u00f6rmig gegen den Nabel und der Anfang der Nabelstrangscheide enth\u00e4lt zu dieser Zeit das Knie des D\u00fcnndarms, mit welchem das Nabelbl\u00e4schen in Verbindung ist. Gegen das Ende des zweiten Monats beginnt auch bereits die Ossification an einigen Stellen und die Anlage des Muskelsystems geschieht. Das Herz ist bedeckt, und seine Scheidewand beginnt sich zu bilden, die Aortenbogen sind bis auf zwei verschwunden, welche sich zur Aorta descendens verbinden und wovon der eine sich sp\u00e4ter zur Lungenarterie ausbildet. Die dr\u00fcsigen Eingeweide, Lungen, Leber, WoLFF\u2019sche K\u00f6rper sind vorhanden, bald folgten den letzteren die Nieren und die Hoden und Eierst\u00f6cke in der Anlage. Die \u00e4usseren Gesehlechts-theile werden zuerst als Warze vor der Geschlechtsspalte sichtbar, die zu dem Sinus urogenitalis f\u00fchrt, aus welchem sich hernach die Harnblase in der Richtung des Urachus abschn\u00fcrt. Zu dieser Zeit sind Mund- und Nasenh\u00f6hle noch nicht getrennt, dagegen treten schon die Anf\u00e4nge der Augenlieder und des \u00e4ussern Ohrs auf, und an den Extremit\u00e4ten macht sich die Eintheilung in ihre Glieder und an Hand und Fuss Einschnitte als erste Andeutung der Digitation bemerklich. Um diese Zeit ist der Embryo gegen f Zoll gross. Im Verlauf des dritten Monats, in dem die Pupillarhaut auftritt, schreitet die Entwickelung aller Theile fort, auch \u00e4usserlich spricht sie sich in der grossem Ausbildung des Halses und in der Gliederung der Extremit\u00e4ten aus. lin dritten Monat erreicht der F\u00f6tus eine L\u00e4nge von 2'( \u20143 Zoll; im vierten, wo das Geschlecht unterscheidbar wird, bis auf 4 Zoll; im f\u00fcnften bis 12 Zoll. In diese Zeit lallt die Bildung des Fettes und weitere Ausbildung der ersten Anlagen der Hornbedeckungen, der N\u00e4gel und des Wollhaars, Lanugo, an der ganzen Haut; die Augenlieder verkleben fest. Im 5. Monat werden von den M\u00fcllern schon Bewegungen des Embryo bemerkt. Ein im (i. Monat geborner Embryo vermag zu athmen, aber nicht fortzuleben. Im 7. Mondesmonat, wo der Embryo eine L\u00e4nge von 16 Zull und mehr erreicht, ist er als Fr\u00fchgeburt zuweilen lebensf\u00e4hig, seine Haut ist roth. Irin 8. Mondesmonat ist der Embryo gegen 16'- Zoll lang, zu dieser Zeit steigen die Hoden aus der Bauchh\u00f6hle durch den Leistenring in die fr\u00fcher leeren Hodensackfalten hinab, und die Augenlieder l\u00f6sen sich.","page":717},{"file":"p0718.txt","language":"de","ocr_de":"718 VIII. Buch. Von d. Entwickelung. I. Ahschn. Entwickl. d. Eies,\n[m 9. Monat, in welchem die Kopfhaare hervortreten, ist der Embryo 17 Zoll lang; im 10. Mondesmonat erreicht er 18\u201420 Zoll. Zu dieser Zeit oder schon fr\u00fcher im 8. oder 9. Monat schwindet die Pupiliarhaut, die nicht mehr so rothe Haut ist von einer schmierigen Materie, Vernix caseosa, bedeckt, die nach R. Wagner aus abgestossenen Epidernrispl\u00e4ttchen besteht. Bei den Thie-ren scheint die Haut die Epidermis im Zusammenh\u00e4nge abzuwerfen, sich zu h\u00e4uten, und man hat mehrmals den K\u00f6rper von einer abgel\u00f6sten Epidermis umgeben gesehen, welche die-sp\u00e4ter gebildeten Haare mit einschliesst.\nIV. Capitel. Ent wie kelungs verschieden hei ten der Eierlegenden und Lebendiggeb\u00e4renden.\nDie Eier der Thiere werden entweder unabh\u00e4ngig ausser dem m\u00fctterlichen Individuum in der freien Natur gebr\u00fctet, und haben dann ihren Nahrungsstoff in sich, das ist bei den Ovipara, oder die Eier werden in der Mutter ausgebr\u00fctet, indem sie frei im Uterus liegen, ohne mit demselben verbunden zu seyn. ln diesem Fall nehmen sie meist keinen Nahrungsstoff von aussen ein; aber auch so kann das Ei aus der vom Uterus abgesonderten Fl\u00fcssigkeit wachsen. Vivipara acolyledona nennen wir alle diejenigen lebendiggeb\u00e4renden Thiere, deren Eier nicht durch Ge-f\u00e4sscotyledonen oder Mutterkuchen mit dem Uterus verbunden sind. Die dritte Abtheilung umfasst diejenigen Thiere, bei denen eine solche Verbindung mit dem Uterus besteht, welche zur Nahrungsaufnahme bestimmt ist. Man kann sie Vivipara cotylophora nennen. Bei allen diesen ist das Ei, wenn es in den Uterus gelangt, sehr klein, indem es seinen Nahrungsstoff nicht in sich zu haben braucht.\nI Eierlegende Thiere, ovipara\nEierlegend sind die meisten Wirbellosen und Wirbelthiere, unter diesen die mehrsten Fische, Amphibien, alle V\u00f6gel. Unter den Plagiostomen (den Haifischen und Rochen) sind jedoch die wenigsten eierlegend, n\u00e4mlich unter den Familien der Haien nur die Familie der Scvllien mit 7 Gattungen, und unter den Familien der Rochen nur die Familie der Rapse im engern Sinne. Die Eier der eierlegenden Haien und Rochen und der Chim\u00e4ren sind mit einer sehr festen hornigen, platten Schale versehen, und die zur Bildung der Eischale bestimmte Dr\u00fcse ist bei diesen Thieren ganz ausserordentlich gross. Das Eierlegen eines S\u00e4ugethiers, Ornitho-rhynchus ist nach Owen sehr zu. bezweifeln. Die Entwickelung der Eier findet theils im Wasser, theils auf dem Lande statt. Bei den Fischen geschieht sie immer im Wasser, bei den Amphibien bald auf dem Lande, bald im Wasser. Die Eier der nackten Amphibien finden meist ihre Entwickelung im Wasser und ihre \u00e4ussere Schicht, das Analogon der Eischale, schwillt durch Einsaugen im Wasser sehr auf. Doch werden die Eier des Alytes obstetricans in der Erde gebr\u00fctet, und das in der lockern Erde an Abh\u00e4ngen in Gesellschaft","page":718},{"file":"p0719.txt","language":"de","ocr_de":"Eierlegende und Lebendiggeb\u00e4rende,\n719\ndes Weibchens sitzende M\u00e4nnchen tr\u00e4gt die Eierschn\u00fcre am die Fusse gewickelt. Die Eier haben eine harte, hornartige Schale, welche fadenartig von einem Ei auf das andere \u00fcbergeht. Bei den Pipen entwickeln sich die Eier, nachdem sie vom M\u00e4nnchen auf den R\u00fccken des Weibchens aufgestrichen und befruchtet worden, in einem sich hier bildenden, von der Haut ausgehenden Brutorgan, welches der Decidua vergleichbar die Eier umgiebt. Die Eier mehrerer Arten der Syngnathen werden in einer am Bauche oder Schw\u00e4nze sich befindenden \u00e4ussern Rinne, worin sie gerathen, ausgebr\u00fctet. Die Ausbr\u00fctung der Eier geschieht theils von selbst in der freien Natur, theils unter Assistenz der Mutter, wie bei den V\u00f6geln, wo auf diese Weise die n\u00f6thige Temperatur erzielt wird.\n11. Vivipara a c o t y 1 e don a.\nSehr oft werden die Eier in den Eierleitern der Thiere ganz oder theilweise ausgebr\u00fctet. Die Entwickelung der Eier der La-certa agilis hat schon einige Fortschritte gemacht zur Zeit, wo die Eier gelegt werden; die Eier werden im Eierleiter ganz ausgebr\u00fctet bei Lacerta crocea. Unter den Schlangen sind die giftigen lebendiggeb\u00e4rend, die unschuldigen eierlegend. Im ersten Fall ist die Eischale weicher, im zweiten h\u00e4rter und kalkreicher, \u00fcbrigens in beiden F\u00e4llen gleich dick. Unter den Salamandern sind die eigentlichen Salamander lebendiggeb\u00e4rend, die Tritonen eierlegend. Unter den Knochenfischen ist das Lebendiggeb\u00e4ren seltener als das Eierlegen (Anableps, Zoarces), bei den Knorpelfischen ist es umgekehrt; denn der gr\u00f6sste Theil der Haifische und Rochen ist lebendiggeb\u00e4rend, n\u00e4mlich unter den ersteren die Familien der Galei, Musteli, Zygaenae, Alopeciae, Spinaces, Scymni und Squatinae u. a., unter den letzteren die Familien der Pristides, Rhinobatides, Torpedines, Trygones, Mylioha-tides, Cephalopterae. Die Eischalen der lebendiggeb\u00e4renden Haien und Rochen sind ausserordentlich d\u00fcnnh\u00e4utig. Die Eier nehmen zu aufKosten einer eigenen vom Uterus abgesonderten Fl\u00fcssigkeit. Denn nach J. Davy ist ein entwickelter F\u00f6tus des Zitterrochen absolut viel schwerer als das Ei vor der Entwickelung gewesen ist. Vor dem Erscheinen des Embryo wog das Ei einer Torpedo 182 Gran, nach dem Erscheinen des Embryo 177 Gran, das Gewicht eines reifen F\u00f6tus war dagegen 479 Gran. Dicss Factum ist wichtig, indem es zeigt, wie das lebendiggeb\u00e4ren ohne Verbindung mit dem Uterus sich sehr nahe an das lebendiggeb\u00e4ren mit dieser Verbindung ansehliesst.\nAuch unter den S\u00e4ugethieren giebt es Vivipara acotylophora, d. h. ohne Verbindung des Eies mit dem Uterus durch einen Mutterkuchen. Owen hat den F\u00f6tus und die Eih\u00e4ute eines Kanguroo beschrieben, dessen Gestation die H\u00e4lfte der gew\u00f6hnlichen Dauer (38 Tage) erreicht hatte. Die F.ih\u00e4ute bestanden in einem Amnion, einem Dottersack und einem sehr d\u00fcnnen und nicht vascu-l\u00f6sen Chorion. Die Allantois und Placenta fehlten. Bei einem altern Uterinf\u00f6tus des Kanguroo', den Owen und auch Costk","page":719},{"file":"p0720.txt","language":"de","ocr_de":"720 VIII. Buch. Von d. Entwickelung. I. Abschn. Entwicht, d. Eies.\nuntersuchten, erstreckte sich der Naheistrang 3 Linien \u00fcber die Oberfl\u00e4che des Abdomens und das Amnion bildete die Scheide desselben. Von da theilte sich der Strang in zwei S\u00e4cke, der eine sehr gef\u00e4ssreich, war dem Dottersack, wie in der ersten Beobachtung, analog und von den Vasa omphalo-meseraica begleitet. Der zweite hatte nur ^ der Gr\u00f6sse des vorhergehenden, war bimf\u00f6rmig, zeigte zahlreiche Verzweigungen der Nabelgef\u00e4sse, und bildete eine wahre Allantois. Dieser Sack war aber nicht mit dem Uterus verbunden. Owen in Loudon Magazine of. nat. hist. new. ser. Vol. I. p. 471. Ann. d. sc. nat. VII. 372. Coste in Comptes rendus hebdom. Feer. 1838.\nDer F\u00f6tus des Ranguroo wird in einem ungemein jungen Zustande geboren, zur Zeit, wo er kaum mehr als einen Zoll lang ist. Er wird nach der Geburt von der Mutter in den Beutel und an eine der Zitzen gebracht, an welcher h\u00e4ngend und saugend er seine weitere Entwickelung fortsetzt. Diese nat\u00fcrliche Fr\u00fchgeburt ist das eine Extrem; das andere, eine Sp\u00e4tgeburt bieten die Pupipara unter den Insecten dar, welche ihr Larvenleben noch in der Mutter vollenden und als Puppen geboren werden, wie Hippobosca, Melophagus und andere. Diesem vergleichbar ist das Factum, dass die Embryonen der Pipen, auf der \u00e4ussern Haut des Weibchens ausgebr\u00fctet, hier vor dem Auskriechen alle Stadien des Larvenlebens durchlaufen.\nIII. Yivipara cotylopliora.\nEin Mutterkuchen kommt nur beim Menschen, den S\u00e4uge-thieren und einigen Gattungen der Haifische vor. Die Verbindung mit der Mutter besteht gew\u00f6hnlich in einer sehr innigen Ber\u00fchrung der gegenseitigen Oberfl\u00e4chen einer Placenta uterina und Placenta foetalis, so dass die gef\u00e4ssreichen Falten oder Zotten der letztem, wie Wurzeln in den Vertiefungen der ersteren stecken. Entweder ist es der Dottersack, welcher zur Bildung der Placenta foetalis dient, das kommt nur bei den Haifischen vor; in diesem Fall sind es die Vasa omphalo-meseraica, welche die Placenta foetalis versehen und die Stoffe aus der Placenta uterina aulnehmen und dem F\u00f6tus zuf\u00fchren. Oder die Placenta foetalis wird von dem Chorion gebildet und die Gelasse derselben, von einer Allantoide zum Chorion gebracht, sind die Vasa umbilicalia. Diess ereignet sich bei den Vivipara cotylopliora, die eine Allantoide oder Vasa umbilicalia und gef\u00e4ssreiches Chorion haben, wie bei den S\u00e4ugethieren und dem Menschen.\na. Verbindung des t\u2019uUis mit dein Uterus durch einen Mutterkuchen bei einigen Gattungen der Haifische.\n(J, Mueller im Bericht \u00fcber die Verhandlungen der K. Academie der IVissensehaften zu Berlin, ytpril 183!).)\nAristoteles kannte die merkw\u00fcrdigen Unterschiede, die bet den Haifischen in Hinsicht der Entwickelung des Eies stattfinden. Im 1^0. Cap. des 6. Buchs seiner Naturgeschichte erz\u00e4hlt derselbe unter mehreren anderen denkw\u00fcrdigen Beobachtungen \u00fcber die","page":720},{"file":"p0721.txt","language":"de","ocr_de":"721\njEierlegende und Lebendiggeb\u00e4rende.\nAnatomie und Generation der Knorpelfische, dass un*er den Haifischen eierlegende und lebendiggeb\u00e4rende und unter den letztem auch solche gebe, bei denen der F\u00f6tus mit dem Uterus wie bei den S\u00e4ugethieren verbunden ist. Die eierlegenden sind die Scyllien, hingegen der Dornhai und Fuchsbai sine e endig-geb\u00e4rerid.\n\u00abDie aber unter den Haien glatte betoi genannt werden, tragen die Eier mitten zwischen den Mutterg\u00e4ngen wie die Scyllien. Gehen diese weg, so gelangen sie in jeden der beiden Mutterg\u00e4nge und die Thiere bilden sich, indem sie den Nabelstrang an dei Geb\u00e4rmutter haben, so dass nach Aufzehrung des Eies (Dotter) der Embryo sich wie bei den Vierf\u00fcssern zu verhalten scheint. Ein langer Nabelstrang h\u00e4ngt an dem untern Th eil der Geb\u00e4rmutter an, wie an einem Mutterkuchen jeder befestigt, w\u00e4hrend er am Embryo gegen die Mitte, wo die Leber, befestigt ist.\u00ab Hist. anim. 6. 10. Vergl. de general, anim. 3. 3.\nBei den Ichthyologen des 16. Jahrhunderts, Below, Salvianb Rondelet, hat sich die Bezeichnung Galeus laevis auf eine bestimmte Haienart festgesetzt. Salviani und Rondelet, gleichzeitige und von einander unabh\u00e4ngige Schriftsteller, nahmen den Haifisch mit Z\u00e4hnen nach Art der Rochen, Squalus mustelus Linn\u00e9 f\u00fcr den yabeog belog des Aristoteles, und Rondelet bildet bei dem Haifisch mit Rochenz\u00e4hnen ab, wie ein Gang aus der Geschlechtm\u00fcndung der Mutter mit dem Nabel des Jungen zusammenh\u00e4ngt. Farricius, Collins, Tyson, Camper beobachteten die Frucht eines sogenannten Galeus laevis, wovon es aber zweifelhaft ist, ob es der Haifisch mit Rochenz\u00e4hnen ist. Von einer Verbindung des Jungen mit dem Uterus durch einen Mutterkuchen wurde nichts bemerkt, vielmehr hatten diese Fr\u00fcchte, wie die \u00fcbrigen leben*, diggeb\u00e4renden und auch die eierlegenden Haifische nur den einfachen Dottersack am Nabel h\u00e4ngen. Galeus laevis bedeutete bei manchen Schriftstellern dazumal nur so viel, als ein nicht rauher und insbesondere ein nicht mit Domen an den R\u00fcckenflossen versehener Haifisch. Cavolini stellt den Squalus mustelus Linn\u00e9 oder den Hai mit Rochenz\u00e4hnen, dessen Frucht er gesehen habe, mit dem ya/.e\u00f4\u00e7 belog des Aristoteles zusammen, ln dem, was er von der Generation der Knorpelfische sagt, k\u00f6mmt nichts von Aristoteles Beobachtung vor.\nDurch Zufall wurden hinwieder einige Thatsaohen beobachtet, W'elche, ohne dass sie von ihren Urhebern in Beziehung zu den Angaben des Aristoteles gebracht wurden, gleichwohl damit \u00fcbereinstimmen. Stenonis beschrieb in den Act. med. Ilajn. Bartholini a. 1673. Vol.H. Ha\u00dft. 1675. p. 21.9. die Frucht eines Galeus laevis oder Pesce paloinbo, welcher durch einen Mutterkuchen mit dem Uterus zusammenhing, der Mutterkuchen war hohl und seine H\u00f6hle hing durch einen innerhalb des Nabelstranges verlaufenden Gang mit dem Klappendarm zusammen. Dieser Fisch war wegen Mangels der Beschreibung unbestimmbar und man weiss nur von ihm, dass er eine Spiralklappe im Darm hatte.","page":721},{"file":"p0722.txt","language":"de","ocr_de":"722 VIII. Buch. Von d. Entwickelung. I. Absclin. Entwicht, d. Eies.\nDutertke beschrieb in der Histoire des Antilles einen Requiem, der nach der Beschreibung und Abbildung ein Carcharias war. Er sagt von ihm, dass er Junge bei sieb hatte, die durch einen Strang an eine grosse Haut befestigt waren, und Cuvier giebt in seinem Fischwerke T.I.p.341. ganz kurz an, dass bei den Carcharias der Dottersack so fest wie eine Placenta am Uterus anh\u00e4ngt. Toutefois le vilellus fort r\u00e9duit des f\u00e9tus des requins pr\u00eats ii na\u00eetre, m\u2019a paru adh\u00e9rer \u00e0 la matrice presque aussi fixement- qu\u2019un placenta. Der Dottergang dieser F\u00f6tus war zugleich mit Zotten besetzt. Weder Stenonis, noch Dutertre, noch Cuvier haben der alten physiologischen Urkunde gedacht.\nDer von Cuvier beobachtete Fisch war ein Thier aus der Gattung der Carcharias, aber kein Carcharias mit S\u00e4gez\u00e4hnen (Prionodon M. et H.); denn bei diesen ist der Dottergang des F\u00f6tus ohne Zotten und ganz glatt. Diese Zottenbildung ist dagegen der Untergattung Scoliodon M. et H. eigen. Aber auch die Carcharias mit S\u00e4gez\u00e4hnen und ohne Zotten des Dotterganges haben nach meinen Beobachtungen die von Aristoteles entdeckte Verbindung mit dem Uterus durch eine Placenta, gleich wie die ebenfalls von mir beobachteten Scoliodon.\nDer Galeus laevis des Stenonis geh\u00f6rt gar nicht zu den Carcharias. Er hatte eine spiralf\u00f6rmige Darmklappe, wie Stenonis erw\u00e4hnt und abbildet. Alle Carcharias aber haben eine gerade gerollte Darmklappe. Neue Nachforschungen haben das Resultat gehabt, dass zwei Arten der Gattung Mustelus mit Rochenz\u00e4hnen physiologisch dadurch sehr abweichen, dass der F\u00f6tus der einen, wie bei den Carcharias, durch den Dottersack fest am Uterus h\u00e4ngt, w\u00e4hrend die andere einen ganz freien Dottersack hat.\nDie erstere, Mustelus laevis (im Sinn des Aristoteles), unterscheidet sich von der andern durch die Schmalheit der Brustflossen, die Form der Z\u00e4hne, die Stellung der ersten R\u00fck-kenflosse hinter den Brustflossen und einen durch den hintern Rand der Schwanzspitze gehenden schwarzen Fleck.\nVon der zweiten Art, Mustelus vulgaris, giebt es eine weissgefleckte Variet\u00e4t und eine ungefleckte, welche sich von Mustelus laevis in der Farbe nicht unterscheidet. Siehe den Monatsbericht d. Akad. d. Wissensch. zu Berlin. 6. Aug. 1840.\nEs ist der Dottersack, welcher durch seine Faltung die Placenta foetalis bildet. Die Falten der Placenta sind bei den Carcharias viel verwickelter als bei Mustelus laevis, und bei den Carcharias bildet auch die freie Portion des Dottersacks einige Blinds\u00e4cke. Siehe die Abbildung. Die Carcharias zeichnen sich auch vor dem Mustelus laevis dadurch aus, dass die Blutgef\u00e4ssst\u00e4mme ins Innere des Dottersacks treten, und von dort aus erst in den Falten sich vertheilen. Wir wollen nun die Dottersack-placenta bei den Carcharias ausf\u00fchrlicher beschreiben und sie durch einige Abbildungen erl\u00e4utern.\nDer Dottersack besitzt wie gew\u00f6hnlich, zwei H\u00e4ute, eine innere gef\u00e4ssreiche, welche durch den Dottergang mit dem Darm Zusammenh\u00e4nge eine \u00e4ussere gcf\u00e4sslose, welche sich als Nabelstrangscheide \u00fcber dem Dottergang und \u00fcber den Vasa omphalo-me-","page":722},{"file":"p0723.txt","language":"de","ocr_de":"Eierlegende und Lebendiggeb\u00e4rende.\n723\nseraica fortsetzt, und an der gew\u00f6hnlichen Insertionsstelle des Nabelganges hei den Fischen am obersten Theil des Abdomens mit der \u00e4ussern Haut zusammenh\u00e4ngt. Beide H\u00e4ute des Dottersacks sind zur Bildung der Placenta foetalis in einen Knauf von Falten und Nebenfalten gelegt. Siehe die beistehende Figur. Dadurch entsteht eine sehr unregelm\u00e4ssige H\u00f6hle im Innern des Dottersacks, mit einer Menge von Buchten. Diese runzeligen Falten sind an der dem Uterus zugewandten Seite mit dem\nUterus auf das innigste verbunden, und lassen sich nicht ohne einige Gewalt vom Uterus abl\u00f6sen. Den vom Uterus abgewandten Theil des Dottersacks bilden freischwebende Divertikel. So weit die Placenta foetalis reicht, liegen beide H\u00e4ute des Dottersacks innigst aneinander, an dem Theil, welcher freie hohle Zipfel bildet, sind sie von einander getrennt, und es befindet sich ein Zwischenraum zwischen der \u00e4ussern und innern, \u00fcbrigens geschlossenen Haut des Dottersacks.\nDie Placenta uterina (Fig. 2.) wird durch sehr stark hervorspringende runzelige Falten der innern Haut des Uterus gebildet, welche genau den Falten der Placenta foetalis entsprechen. Beiderlei Falten sind ineinander geschoben und liegen so innig und fest aneinander, als die Placenta uterina und foetalis bei irgend einem S\u00e4ugethiere. Die \u00e4usserst zarte structurlose Eischalenhaut geht zwischen beiderlei Falten mit am Rande der\nVerbindung ein, scheint aber, so weit die Verbindung reicht, aufgel\u00f6st zu werden, da man sie bei der gewaltsamen Trennung der beiden Plaeenten an dieser Stelle nicht mehr zusammenh\u00e4ngend antrifft, w\u00e4hrend es bei lange fortgesetzter vorsichtiger Entwickelung der zahlreichen und sehr verwickelten Falten aus einander ganz wohl gelingt, die Placenta uterina und foetalis unversehrt zu erhalten. Einen idealen, aber sehr vereinfachten Durchschnitt stellt die folgende Figur dar.\na Dottergang.\nb Nabelgang oder Naheistrangscheide.\n\u00ab\u2019 Innere Haut des Dottersacks.","page":723},{"file":"p0724.txt","language":"de","ocr_de":"724 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. I. Ahschn. Entwickl. d. Eies. l> Aeussere Haut desselben.\nc Innere Haut des Uterus die Placenta uterina bildend.\nDie Placentae uterinae erhalten ihre Blutgef\u00e4sse von den Gelassen des Uterus, die mit grossen Aesten zu dem Sitze der Placenten am untern Th ei I des Uterus hingehen. Die Gef\u00e4sse der Placenta foetalis sind die hier ausserordentlich starken Vasa omphalo-meseraica, welche verh\u00e4ltnissm'\u00e4ssig ebenso dick sind, als bei den S\u00e4ugethieren die Vasa umbilicalia. Diese Gef\u00e4ss-st\u00e4mme liegen mit dem Dottergang in der Nabelstrangscheide, am Dottersack aber treten sie, diesen durchbohrend, ins Innere des eigentlichen Dotiersacks oder des innen) Blattes der hohlen Placenta foetalis bis gegen die Mitte der H\u00f6hle und spreitzen sich von dort in eine Menge von Aesten auseinander, welche zu der Haut des Dottersacks, ihren Falten und Zipfeln gehen*)*\nDie feinere Structur der Placenta foetalis und uterina ist ganz analog. Die \u00e4usserste Schichte der Placenta uterina, welche die Placenta foetalis auf das innigste ber\u00fchrt, besteht, wie die Decidua des Menschen, aus mikroskopischen Zellen mit Kernen. Diese Bildung liegt auch den H\u00e4uten des Dottersacks zu Grunde, von welchen die \u00e4ussere gef\u00e4sslos ist.\nPlacenta foetalis und uterina verhalten sich \u00fcbrigens organisch\nAnmerkung. Die Insertion des Dotterganges in den Darm befindet sich an derselben Stelle wie bei den \u00fcbrigen Haien und Rochen mit einfachem Dottersack, n\u00e4mlich am obern Ende des Klappendarms, wo auch der Gallengang und pancreatischc Gang einm\u00fcnden Dieses obere Ende des Klappendarms ist noch von der Klappe frei und ist das, was Ente die Bursa und Colli NS Bursa Entiana nannte, w\u00e4hrend sp\u00e4tere Schriftsteller, nicht bedenkend, dass Ente keine F\u00f6tus untersucht hat, den innern oder gar den \u00e4ussern Dottersack der Haien Bursa Entiana nannten,","page":724},{"file":"p0725.txt","language":"de","ocr_de":"Eierlegende und Lebendiggeb\u00e4rende.\n725\nzu einander, wie bei den S\u00e4ugethieren, sie sind aaf das innigste jnxtaponirt und ihr Contact findet in einer ungeheuren Oberfl\u00e4che von Falten statt, aber das Gef\u00e4sssystem der Mutter ist auf die Placenta uterina, das Gef\u00e4sssystem des F\u00f6tus auf die Placenta foetalis beschr\u00e4nkt. Die organische Anziehung geschieht wahrscheinlich durch die Wirkung der kleinen Zellen.\nDia Verbindung des Foetus mit dem Uterus findet hei den Carcharias und Scoliodon bis zur vollkommnen Reife des F\u00f6tus statt. Diese Vivipara cotylophora unter den Plagiostomen zeichnen sich dadurch aus, dass sie den innern Dottersack der Bauchh\u00f6hle nicht besitzen. Unter den rochenartigen Plagiostomen giebt es keine Vivipara cotylophora, die Raja sind eierlegend, alle \u00fcbrigen Rochen sind Vivipara acotyledona.\nb Verbindung des F\u00f6tus mit dem Uterus bei den Saugetbieren und dem\nMenschen,\n(v. Baer, Untersuchungen \u00fcber die Gef\u00e4ssoerbindung zwischen Mutter und Frucht in den Siiugethieren. Leipz. 1828. E. H. Weber in H rr,-debrandt\u2019s Anatomie. Bd. IV. 496., in Froriep\u2019s Not. 1835. B. 46. p. 90. und in Wagner\u2019s Physiologie 124. Eschricht de organis, c/uae respirationi et nutritioni foetus mammalium inseroiunt. Hafniae 1837.)\nEine Wurzelung des Eies in dem Uterus scheint bei allen S\u00e4u-gethieren mit Ausnahme der Beutelthiere und Monotremen stattzufinden. Diese Wurzeln sind hei den Saugetbieren immer entweder gef\u00e4ssreiche Zotten oder F\u00e4ltchen des Chorions, und das Chorion erh\u00e4lt immer seine Blutgef\u00e4sse von den anfangs auf der Allantoide sich ausbreitenden Vasa umbilicalia. Die Zotten sind bald \u00fcber die ganze Oberfl\u00e4che des Chorions zerstreut, wie hei den Schweinen, Einhufern, Kameelen und Cetaceen, oder bilden eine zottige Zone um das Ei, wie hei den Raubthieren; bald auf viele einzelne Gef\u00e4sskuchen beschr\u00e4nkt, die dann zerstreut dem Chorion auf-sitzen, Cotyledonen, wie bei den mehrsten Wiederk\u00e4uern; oder die Zotten bilden einen einzigen einer Seite des Chorions aufsitzenden Gef\u00e4sskuchen, wie bei dem Menschen, dem sich der zuweilen doppelte Gef\u00e4sskuchen der Nager nahe anschliesst. Den Gef\u00e4sszotten des Chorions und der Placenta foetalis entsprechen Vertiefungen des Uterus, in welche die Zotten wie Wurzeln eingesenkt sind. Wenn die Zotten an besonderen Stellen zu Cotyledonen geh\u00e4uft sind, so entsprechen diesen auch m\u00fctterliche Cotyledonen, vorspringende und vielfach durchl\u00f6cherte N\u00e4pfe des Uterus, Cotyledo uterinus, in welchen die Zotten des Cotyledo foetalis stecken. Beim Menschen ist die Placenta uterina eine weitere Entwickelung der Decidua oder Uterin-Eihaut, welche sich der Placenta foetalis gegen\u00fcber weiter ausbildet und zwischen den Zottenqu\u00e4sten der Placenta foetalis die ganze Placenta foetalis bis zur Oberfl\u00e4che des Chorions durchdringt. In allen F\u00e4llen, sei nun die Placenta eine diffuse Zottenhildnng, oder eine locale Anh\u00e4ufung, ist es auf grosse Oberfl\u00e4chenvermehrung von beiden Seiten, des Chorions und des Uterus zugleich und auf Ber\u00fchrung beider in sehr grosser Oherfl\u00e4che abgesehen. Hierbei lassen sich zwei Hauptmodificationen wahrnehmen, n\u00e4mlich ent-","page":725},{"file":"p0726.txt","language":"de","ocr_de":"726 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. I. Abschn. Entwickl. d. Eies.\nweder verzweigte Zottenbildung und Einsenknng in den Uterus, oder in einander greifende gef\u00e4ssreiche F\u00e4ltchen. Wir wollen die einzelnen Bildungen mit R\u00fccksicht auf die Thierordnungen genauer durchgehen.\nBei den Dickh\u00e4utern dehnt sich der Fruchtkuchen \u00fcber die ganze Oberfl\u00e4che des Chorions, mit Ausnahme der Anh\u00e4nge des Eies aus, und das Chor\u00e4on ist gleichf\u00f6rmig mit gef\u00e4ssreichen Zotten besetzt. Die Placenta uterina ist ebenso ausgebreitet auf der innern Fl\u00e4che des Uterus, die ein zelliges, von unz\u00e4hligen Gr\u00fcbchen versehenes Gef\u00fcge annimmt, in welches die Zotten ein-greifen. Eine geringe Ann\u00e4herung zur Bildung einzelner Anh\u00e4ufungen zeigt sich in den von Baer beobachteten, einzelnen grossem Gr\u00fcbchen des Uterus, durch welche sich Dr\u00fcsenschl\u00e4uche ausm\u00fcnden, denen entsprechend auf dem Ei sich Zottenkreise ausbilden, die in jene eingreifen.\nDie Oberfl\u00e4che des Chorions des Delphins ist nach Eschricht\u2019s Untersuchungen voller Runzeln und Zotten. Letztere sind durch Zwischenr\u00e4ume von ungef\u00e4hr einer halben Linie von einander getrennt; sie haben nicht die Form von Falten, wie bei den Schweinen, auch nicht von federigen Regeln, wie bei den R\u00fchen, sondern sie bilden vielfach blumenkohlartig verzweigte, runde Massen, die auf d\u00fcnnen Stielen aufsitzen. Daher sind die Rronen sich n\u00e4her als die Basen. Die Zotten variiren an Gr\u00f6sse; die gr\u00f6ssten sind gegen eine Linie lang und haben an der Frone gegen-j Linie Durchmesser. Die Rronen der Zotten enthalten ein \u00fcberaus sch\u00f6nes C\u00e4pillargef\u00e4ssnetz. Auch die innere Oberfl\u00e4che des Uterus ist runzelig, \u00fcbrigens zellig, indem sie die Scheiden f\u00fcr die Zotten enth\u00e4lt. Die Oberfl\u00e4chen dieser Zellen sind von Capillarge-f\u00e4ssen bedeckt. Die Cetaceen haben ebenfalls wie die Pachyder-men und Wiederk\u00e4uer die Uterindr\u00fcsen, die den zur Ern\u00e4hrung des F\u00f6tus bestimmten Saft absondern.\nBei den Raubthieren bildet der Mutterkuchen einen G\u00fcrtel um das Ei. Die Placenta der Ratze bildet sich nach Eschricht\u2019s sch\u00f6nen Beobachtungen aus sehr d\u00fcnnen senkrechten, vielfach hin und her gewickelten und gefalteten Bl\u00e4ttchen, die vom Chorion ausgehen. 1st die Placenta der Ratze von der Mutter und vom F\u00f6tus aus mit verschiedenen Farben injicirt, so sieht das Innere der Placenta ganz bunt aus. Bei genauerer Untersuchung zeigt sich, dass das bunte Aussehen davon herr\u00fchrt, dass die dem Uterus und die dem F\u00f6tus angeh\u00f6renden Bl\u00e4ttchen in einander geschoben sind, w\u00e4hrend die Capillargef\u00e4ssnetze der einen und andern Art ohne Verbindung durchaus diesen Bl\u00e4ttern folgen. Die Bl\u00e4tter reichen durch die ganze Dicke der Placenta und haben eine L\u00e4nge von 2 ', sie sind \u00e4usserst d\u00fcnn, so dass ihr Durchmesser kaum den Durchmesser eines Blutk\u00f6rperchens viel \u00fcber-trilft. An beiden R\u00e4ndern der Bl\u00e4ttchen befindet sich ein st\u00e4rJ kerer Gef\u00e4ssast. Eschricht beweist, dass der Uterintheil der Placenta der Ratze eine von der Schleimhaut des Uterus ganz verschiedene Gef\u00e4sshaut ist. Nach Abl\u00f6sung dieses Theils mit der ganzen Placenta zeigt sich die Schleimhaut des Uterus noch ganz, und die Gef\u00e4sse erscheinen nur abgerissen.","page":726},{"file":"p0727.txt","language":"de","ocr_de":"Eierlegende und Lebendiggeb\u00e4rende.\n727\nDie Wiederk\u00e4uer bilden zwei Reihen, in der einen, umfassend die Kameele und Larna\u2019s, ist das Chorion \u00fcberall mit vielen zerstreuten Zotten besetzt; in der andern, wie bei den K\u00fchen, Schafen, Ziegen, Hirschen u. a., isoliren und h\u00e4ufen sieb die Zotten in den sogenannten Cotyledonen an, die \u00fcber das ganze Chorion zerstreut sind, w\u00e4hrend die Zwischenstellen zwischen den Cotyledonen zottenlos sind. Ein solcher Cotyledo besteht aus lauter B\u00fcscheln von zer\u00e4stelten, gel\u00e4ssreichen Zotten. Der Cotyledo uterinus, der hier auch ausser der Zeit der Schwangerschaft bleibt, bildet eine hervorragende Stelle des Uterus, die bald die Gestalt eines Napfes mit dicken wulstigen R\u00e4ndern hat, wie bei dem Schaf, bald wie bei der Kuh einen Hach erhabenen rundlichen H\u00f6cker mit zusammengedr\u00fcckter Basis bildet. Auf der Oberfl\u00e4che des Cotyledo uterinus m\u00fcnden die Can\u00e4le, die diesen Zoltenb\u00fcscbeln entsprechen, deren W\u00e4nde von den Capillarge-f\u00e4ssen der Mutter sehr dicht ausgekleidet sind.\nDas Ei der Faulthiere besitzt auch einzelne l\u00e4ppchenartige Cotyledonen, aber sie liegen gen\u00e4hert. Rudolpiii, Abhandl. der Akademie zu Berlin. J. 1828. Der Urachus dieser Thiere m\u00fcndet nicht in den Fundus, sondern gegen den Hals der Urinblase ein.\nZu den Thieren mit beschr\u00e4nktem Mutterkuchen geh\u00f6ren die Nager und Insectenfresser. Oft kommen bei den Nagern zwei besondere, einander gen\u00e4herte Placentae, oft bei denselben Thieren nur eine Placenta vor. Ausser der Placenta foetalis des Kaninchens ist dessen Ei \u00fcbrigens glatt und zottenlos. Es ist zwar auch hier mit Blutgef\u00e4ssen versehen. Diese sind aber nach v. Baer nicht Zweige der Nabelgef\u00e4sse zur Placenta, sondern der Vasa omphalo-meseraica, indem sich der Dottersack und nicht die Allantois um den gr\u00f6ssten Theil des Eies herumschl\u00e4gt. Die Allantois der Ratte, sah Escuriciit an der Stelle, wo die Placenta ansitzt, in ein Faltenlabyrinth gelegt. Die Placenta selbst besteht aus ineinander geschobenen Uterin- und F\u00f6talbl\u00e4ttchen. Beim Maulvrurf konnte Escuriciit am Rande der runden Placenta den F\u00f6taltheil vom Uterintheil l\u00f6sen, ersterer war zottig, letzterer durchl\u00f6chert. Auch bei den Affen ist die Placenta einfach, und diese gleichen hierin, wde in der geringen Entwickelung des Nabelbl\u00e4schens dem Menschen, aber sie besitzen zwei Nabelvenen (Cebus, Mycetes, Hapale). Rudolpiii a. a. O.\nDer Mutterkuchen des Menschen besteht durch und durch aus zwei Elementen, den sich durchdringenden Theilen der Placenta foetalis und uterina. Die Placenta foetalis besteht aus lauter dichten B\u00e4umchen verzweigter, gef\u00e4ssreicher Zotten, die Placenta uterina besteht aus der Substanz der Decidua, welche zwischen den Zotten bis zur Oberfl\u00e4che des Chorions dringt und sie \u00fcberall einbettet. Das Verh\u00e4ltniss beider ist jedoch, nach E. H. Weber, ein ganz anderes als bei den S\u00e4ugethieren. Bei den S\u00e4ugethieren stecken die Gef\u00e4sszotten des F\u00f6tus in den gef\u00e4ssreichen Scheiden der Placenta uterina nur wie Wurzeln, und beide Capillargef\u00e4ss-systeme ber\u00fchren sich und tauschen Stoffe aus. Bei dem Menschen hingegen sind die Gef\u00e4sszotten der Placenta foetalis in die Weiten, vom Uterus stammenden Blutgef\u00e4sse, w'elche den ganzen Muller\u2019s Physiologie. 2r \u00dfd. Ill,\t47","page":727},{"file":"p0728.txt","language":"de","ocr_de":"728 VIII. Buch. Von d. Entwickelung. I. Ahschn. Entcvickl. d. Eies.\nUterintheil der Placenta durchdringen, eingesenkt, und die Capil-largef\u00e4ssschlingen des F\u00f6tus werden von dem m\u00fctterlichen Blute umsp\u00fclt. Die Enden der Zotten bestehen aber zuletzt aus lauter Umbiegungsschlingen der feinsten Arterien und Venen des F\u00f6tus, welche noch das Ausgezeichnete haben, dass ein und dasselbe Gef\u00e4ss mehrere solche Biegungen aus einer Schlinge in die andere macht, ehe es sich mit den n\u00e4chsten ven\u00f6sen Gelassen des F\u00f6tus vereinigt. Siehe die Abbildung dieser Gef\u00e4sse in R. Wagner, leones physiolog. Tab. XI. Fig. 3. 4. Die der Mutter angeh\u00f6renden Gelasse, welche die Placenta uterina durchdringen und \u00fcberall Zotten beherbergen, f\u00fcllen sich leicht von den Arterien des Uterus aus. Escrricut neigt sich zu der Ansicht, dass auch bei dem Menschen, wie bei den Thieren nur die Capillargef\u00e4ssnetze der Decidua die Gefassschlingen der Zotten ber\u00fchren. Dagegen sich nach Weber die Uterinarterien und Uterinveneu, sobald sie in die schwammige Substanz der Placenta eingetreten sind, nicht mehr baumf\u00f6rmig in Zweige theilen, sondern in ein Gef\u00e4ssnetz \u00fcbergehen, dessen Can\u00e4le viel gr\u00f6sser als die der gew\u00f6hnlichen Capillargef\u00e4ssc sind; die \u00e4usserst d\u00fcnnen W\u00e4nde der R\u00f6hren dieses Netzes schmiegen sich an alle Acste und Haargef\u00e4sskn\u00e4uel der Chorionszotten an; so dass auch hier zweierlei Gelasse nur innigst aneinanderliegen. Weber\u2019s neuere Untersuchungen \u00fcber diesen Gegenstand siehe in R. Wagner\u2019s Physiologie p. 124.\nUebrigens giebt es beim Menschen so wenig, als bei den Thieren, einen Uebergang des Blutes aus den Gelassen der Mutter in die des F\u00f6tus, und umgekehrt. Die leichte Injection der Gef\u00e4sse der Placenta von der Mutter aus ist eben nur die Anf\u00fcllung des m\u00fctterlichen Theils der Placenta; anderseits w\u00fcrde selbst ein Uebergang von Injection aus den Nabelarterien oder aus der Nabelvene des F\u00f6tus in die Gef\u00e4sse des Uterus nichts f\u00fcr eine solche Communication beweisen. Denn eine aus den Gefassschlingen der f\u00f6talen Placenta extravasirende Masse befindet sich eben schon in den Gef\u00e4ssen der Mutter, und braucht nur weiter zu dringen, um auch die Venen des Uterus anzufiillen.\nDie Verbindung der Placenta foetalis und uterina l\u00e4sst sich bei manchen Thieren ohne Verletzung und mit grosser Leichtigkeit, bei anderen und beim Menschen nur mit Zerrcissung trennen. v. Baer bemerkt, dass die Colyledonen der Wiederk\u00e4uer, nachdem sie nur ein wenig gewachsen sind, so fest in den m\u00fctterlichen Zapfen stecken, dass es unm\u00f6glich ist, im frischen Zustande sie unverletzt herauszubringen. Wartete er einige Zeit, so gelang es, dann fand sich aber immer zwischen dem m\u00fctterlichen und dem embryonischen Theile des Cotyledo eine dickliche\u2019 Masse, von der es zweifelhaft blieb, ob sie sich von den Gr\u00fcbet\u00bb des m\u00fctterlichen oder Zotten des kindlichen Cotyledo oder von beiden gel\u00f6st hat. Vielleicht ist sie eine Schicht th\u00e4tiger Zellen, welche vermittelnd eintritt. Bei der Abl\u00f6sung der Cotyledonen der Wiederk\u00e4uer von einander zur Geburt bleiben \u00fcbrigens die Gef\u00e4ssb\u00fcschel der Zollen unverletzt.\nIn Hinsicht der Trennung der Placenten bei der Geburt unterscheiden sieh die Saugethicre sehr untereinander. E. H. WRB\u00a3R","page":728},{"file":"p0729.txt","language":"de","ocr_de":"Eierlegende und Lebendiggeb\u00e4rende.\n729\ntlieilt sie in zwei Classen. Zur ersten geh\u00f6ren diejenigen, bei welchen beiderlei Placenten so locker ineinander greifen, dass sie bei der Geburt ohne Verletzung aus einander weichen. Bei diesen wird der Uterus durch die Geburt nicht verwundet, die Uterinplacenten bleiben nach der Geburt und werden nur kleiner. Dabin geh\u00f6ren die Wiederk\u00e4uer, Pferde und Schweine. Zur zweiten Classe geh\u00f6ren diejenigen, wo beiderlei Theile so innig verbunden sind, dass die Uterinplacenta mit der f\u00f6talen bei der Geburt abgerissen wird. Hier findet die Geburt mit Verwundung des Uterus statt und die Placenten sind Organa caduca, welche sich bei jeder Schwangerschaft von neuem bilden m\u00fcssen. Zu dieser Classe geboren der Mensch, die Raublhiere, Nager. Fror. Not. 46. B. p. 90. Vergl. Eschright a. a. O.\nErn\u00e4hrung des F\u00f6tus. Es giebt einen Zeitraum des Wachsthums des Eies vor der Bildung der Blutgef\u00e4sse. Da das Chorion und dessen Zotten aus solchen Zellen mit Kernen bestehen, wie sie in den primitiven vegetirenden Theilen des F\u00f6tus vor der Blutgef\u00e4ssbildung und Circulation th\u00e4tig sind, so l\u00e4sst sich die Vegetation der Zotten des Chorions auch lange vor der Blutgef\u00e4ssbildung begreifen. Diese Zottengebilde sind es dann, welche Stoffe anziehen und ganz so wie die Zellen der Pflanzen fortpflanzen, indem eine der andern \u00fcberliefert und das Aufgenommene sich im Innern des Eies ebenso anh\u00e4uft, wie es von aussen angezogen wird. Ein Process der aller organischen Resorption, auch der, wo Blut- und Lymphgef\u00e4sse sind, zu Grunde liegt. Denn auch im Darm sind die gefassreichen Zotten von einer aus Zellen mit Kernen gebildeten Scheide umgeben, deren Zellen gleichwie die Zellenrinde der Spongiolen an den Wurzeln der Pflanzen th\u00e4tig sind. Wenn erst die Blutgef\u00e4sse des Embryo in das Chorion und dessen Zotten eingedrungen sind, so nehmen diese, die selbst aus Zellen entstanden sind und dieselbe Th\u00e4tig-keit mit den Zellen theilen, den Nahrungsstolf auf, welcher theils in dem die Zotten umsp\u00fclenden Blute der Mutter, wie beim Menschen, theils in dem weissen Safte der Uterindr\u00fcsen bei den Thieren geliefert wird. Die von den Blutgef\u00e4ssen angezogenen S\u00e4fte dringen sodann direct ins Blut des F\u00f6tus. Durch diese Art von Wechselwirkung mit m\u00fctterlichen S\u00e4ften ist bei dem F\u00f6tus auch das Athmen ersetzt oder ein Aequivalent daf\u00fcr gegeben.\nAuf eine andere Art der Ern\u00e4hrung ist wenig zu rechnen. Allerdings kann auch das Amnion durch die vegetative Th\u00e4tigkeit seiner Zellen Fl\u00fcssigkeiten vom Chorion zun\u00e4chst her aufnehmen, und im Liquor amnii Nahrungsstoff in Form einer gelingen Quantit\u00e4t von Enveiss niederlegen. Der Liquor amnii dringt durch den Mund des F\u00f6tus und gelangt ervveisslich sowohl in den Darmcanal als in die Luftr\u00f6hre. Im Magen des F\u00f6tus der Thiere und des Menschen hat man oft Haare von jenem ersten Haarwuchs des F\u00f6tus (lanugo) gefunden, welcher ausf\u00e4llt und in den Liquor amnii ger\u00e4th. Diese Art von Ern\u00e4hrung aus dem Liquor amnii kann jedenfalls nur gering und h\u00f6chst unzureichend seyn.\n47*","page":729},{"file":"p0730.txt","language":"de","ocr_de":"730 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. II. Ahschn. Entwickl. d. Organe.\nII. Abschnitt. Von der Entwickelung der Organe und Gewebe des F\u00f6tus.\nI. Capitet. Entwickelung der organischen Systeme und Organe.\nIm vorhergehenden Abschnitte hatten wir uns zur Aufgabe ein gedr\u00e4ngtes Bild der wichtigsten allgemeinen Bildungsvorg\u00e4nge und Entwickelungen im Ei und ihrer wesentlichsten Verschiedenheiten in den verschiedenen Classen gemacht. Dort haben wir absichtlich vermieden, die Ucbersicht des Ganzen durch die Menge des Einzelnen zu erschweren. Jetzt wird nun die Entwickelung der organischen Systeme im Einzelnen, so weit es sich f\u00fcr den Zw'eck dieses Werkes eignet und allgemeine Resultate vorliegen, zu verfolgen seyn. Die allgemeineren, sich \u00fcber die Entwickelung der verschiedenen Organischen Systeme verbreitenden Werke sind: Bukdacii\u2019s Physiologie. B. II. Rathke, Abh. zur Bildungs- u. Entwickelungsgeschichte. Leipz. 1832. 1833. v. Baer \u00fcber Entwickelungsgeschichte der Thiere. B. I. und II. Valentin, Entwickelungsgeschichte. v. Ammon, die chirurgische Pathologie in Abbildungen. H. 1. Leipzig 1838. Die haupts\u00e4chlichsten besonderen Schriften \u00fcber die Entwickelung einzelner organischer Systeme und Organe sollen sp\u00e4ter namhaft gemacht werden.\nAlle Entwickelung des Besondern aus einer ungesonderten Grundlage setzt eine keimkr\u00e4ftige Bildungsmasse, Blastema, voraus, welche\u2018in sich dasjenige noch potentia enth\u00e4lt, was durch die Entwickelung aetn daraus hervorgeht. So war der Reim potentia selbst das ganze Thier und so verh\u00e4lt sich die erste Grundlage eines Organes zu allen sp\u00e4ter daraus hervorgehenden Gewebe-theilen, mit dem Unterschiede, dass der potentielle Keim sich seihst hei dem Aneignen des Nahrungsstoffes genug ist und von anderm nicht beherrscht wird, die Potenz eines Organes zur Entwickelung seiner sp\u00e4tem Bildungstheile aber durch die Kraft des Ganzen, zu dem es geh\u00f6rt, beherrscht wird und gleichsam dadurch delegirt ist. Dieses Blastema eines werdenden Theiles verh\u00e4lt sich also in seiner Abh\u00e4ngigkeit vom Ganzen ungef\u00e4hr so, wie der gewordene ausgebildete Theii zum Ganzen. Bei den niederen Thieren wirkt dieser besondere Theii als delegirter Theii des Ganzen so lange er mit dem Ganzen verbunden ist, kann aber vom Ganzen und seinem herrschenden Einfluss getrennt, selbst die Grundlage eines neuen Ganzen werden, wie wir hei den Hydren und Planarien gesehen haben, siehe oben p. 593, und so w\u00fcrde hei jenen einfachem Wesen wahrscheinlich auch das Blastema eines Theils, welches von der Kraft eines sich entwickelnden Wesens beherrscht wird, ein specielles zu bilden, diesem Einfluss entzogen und von dem Ganzen getrennt, statt ein specieller Then zu werden, vielmehr der SLock zu einem neuen Ganzen werden m\u00fcssen.","page":730},{"file":"p0731.txt","language":"de","ocr_de":"IVirhels\u00e4ule und Hirnsch\u00e4del.\n731\nUnter Blastema d\u00fcrfen wir uns ater nicht etwa hloss eine weiche bildsame, gallertige, ganz structurlose oder nur aus K\u00fcgelchen zusammengesetzte Masse denken, wie es dem blossen Auge und bei geringen Vergr\u00f6ssernngen erscheint, vielmehr besteht dasselbe nach den Untersuchungen von Schwann, theils aus Fl\u00fcssigkeit, theils aus K\u00f6rnchen, die sich in Kerne von Zellen und Zellen selbst verwandeln, theils auch schon gebildeten Zellen. Nur in diesem Sinne ist es im Folgenden zu verstehen, wenn, ohne jetzt in das Zellenleben bei der Bildung der einzelnen Theile einzugehen, vom Blastema der verschiedenen organischen Systeme die Rede ist.\n1. Wirbels\u00e4ule und Hirnsch\u00e4del.\nDie von G. Cuvier, C. A. S. Schultze, v. Baer und mir beschriebenen perennirenden Zust\u00e4nde der Wirbels\u00e4ule bei mehreren Fischen bieten sehr merkw\u00fcrdige Vergleichuugspuncte mit dem f\u00f6talen Zustand der Wirbels\u00e4ule der h\u00f6heren Thiere dar.\nDer Urtheil der Wirbels\u00e4ule ist bei allen Wirbelthieren die gallertige, aus Zellen bestehende Chorda dorsalis, welche am Sch\u00e4del und Schwanztheil des Thieres spitz ausl\u00e4uft, und an welcher man in der weitern Entwickelung eine h\u00e4utige Scheide bemerkt, die nach vollkommner Ausbildung der Chorda eine deutliche fibr\u00f6se, aus Ringfasern gebildete Structur zeigt. Diese Chorda ist als die unpaare Achse des ganzen R\u00fcckgrats und insbesondere der sp\u00e4teren Wirbelk\u00f6rper zu betrachten, geht aber selbst nie, weder in knorpeligen, noch kn\u00f6chernen Zustand \u00fcber, und bleibt vielmehr in den um sie herum sich entwickelnden perennirenden Theilen des R\u00fcckgrats wie in einem Etui stecken, nur bei wenigen Thieren perennirend, bei den meisten vielmehr zeitig selbst vergehend.\nDie entweder knorpeligen oder kn\u00f6chernen Wirbelabtheilungen entstehen immer zuerst paarig zu den Seiten der Chorda, aus ihnen entstehen die Wirbelk\u00f6rper und Bogen der Wirbel. Bei einigen Thieren kommt es aber nicht einmal zur weitern Entwickelung dieser paarigen Wirbeltheile und das sind gerade diejenigen, bei welchen die Chorda durchs ganze Lehen perennirt.\nBei den Myxinoiden giebt es gar keine Wirbelabtheilungen am R\u00fcckgrat, und das einzige Analogon ist hier eine die Chorda und ihre Scheide umgebende fibr\u00f6se Schicht, weiche man die skeletbildende Schicht nennen kann, diese ist es, welche auch nach oben das h\u00e4utige Dach f\u00fcr das R\u00fcckgrat bildet. Bei den Petromyzon finden sich in dieser skeletbildenden Schicht schon knorpelige Bogenschenkel, den Wirbelbogen entsprechend, w\u00e4hrend noch nichts von Wirbelk\u00f6rpern vorhanden ist. Bei den Chim\u00e4ren und St\u00f6ren sitzen an der Chorda oder an deren Scheide sowohl oben als unten Knorpelst\u00fccke, oder die skeletbildende Schicht hat sich in obere und untere paarige Wirbelst\u00fccke entwickelt, Die oberen bilden die oberen Bogen, die unteren bilden Querforts\u00e4tze und vereinigen sich am Schwanz der St\u00f6re zu unteren Bogen, worin das Ende der Aorta liegt. Eine Vereinigung","page":731},{"file":"p0732.txt","language":"de","ocr_de":"732 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. II. Abschn. Entwicht, d. Organe.\nder oberen und der unteren St\u00fccke untereinander findet bei diesen Thieren noch nicht statt, mit Ausnahme des vordersten Theils der Wirbels\u00e4ule, wo allerdings eine solche Verschmelzung geschieht und die Chorda ganz von Knorpelmasse ein geschlossen ist.\nHiernach scheint der Wirbel der Fische aus der Verschmelzung von vier paarigen St\u00fccken zu entstehen, wovon die oberen zugleich das R\u00fcckenmark, die unteren am Schwanz das Ende der Aorta umgeben, am Rumpfe aber die Rippen tragen, und aus dieser Verschmelzung scheint auch der die Chorda mit ihrer Scheide einschliessende Wirbelk\u00f6rper zu entstehen. Dem ist aber nicht so, denn bei den Fischen hat auch die Verknorpelung oder Verkn\u00f6cherung der Scheide der Chorda an der Bildung des Wirbelk\u00f6rpers Antheil. Zwar bleibt diese Scheide bei den St\u00f6ren das ganze Leben hindurch fibr\u00f6s, aber schon bei den Chim\u00e4ren verkn\u00f6chert sie und diese Thiers, welche das ganze Leben hindurch eine Chorda als Stamm der Wirbels\u00e4ule behalten, besitzen in der dicken Scheide derselben, auf welcher die paarigen knorpeligen Wirbelst\u00fccke aufsitzen, schon ganz d\u00fcnne ossificirte Reifen, welche viel zahlreicher sind als die Wirbel-Ahlheilungen auf der Chorda. Kur nach innen gegen die Gallerte der Chorda und nach aussen beh\u00e4lt die Scheide der Chorda ihre h\u00e4utige Beschaffenheit. Hier sieht man schon, dass der K\u00f6rper des Fischwirbels aus einem centralen und corticalen Theil besteht, welche eine ganz verschiedene Entstehung nehmen. Bei den Haifischen und Rochen und bei den Knochenfischen ist dieses ebenso deutlich, hier kommt es bereits zur mehr oder weniger vollst\u00e4ndigen Ossification der Wirbel. Bei den Embryonen den Haien und Rochen sieht man in einer gewissen Zeit die Chorda noch ganz gleichf\u00f6rmig und auf der dicken Scheide die oberen und unteren paarigen Wirbelst\u00fccke im knorpeligen Zustande aufsitzen. Sp\u00e4ter f\u00e4ngt die Scheide der Chorda an den Wirbeln entsprechend cingeschn\u00fcrt zu werden, sich quer abzutheilen, zu verknorpeln und zu verkn\u00f6chern. Durch die regelm\u00e4ssigen Einschn\u00fcrungen der Chorda entstehen die sp\u00e4teren hohlen Facetten an beiden Enden dieser Wirbel, die noch in der Mitte oft Zusammenh\u00e4ngen. Die Schicht des Wirbelk\u00f6rpers, welche diese Facetten begrenzt, ist aus der Scheide der Chorda entstanden, und das nennen wir den centralen Theil des Wirbelk\u00f6rpers der Fische. Die \u00e4ussere Schicht oder der corticale Theil des K\u00f6rpers des Fischwirbels entsteht aus der Verschmelzung der vier primitiven paarigen Wirbelst\u00fccke. Bei den Knochenfischen verh\u00e4lt es sich gerade so. Bei manchen Fischen, den Cyprinen, Salmonen bleibt an den Seiten der Wirbelk\u00f6rper eine Nalh, und am 3. und 4. Wirbel der Cyprinen kann man auch im erwachsenen Zustande die vier paarigen W irbelst\u00fccke oder den corticalen Theil des W'irbelk\u00f6rpers von dem centralen abl\u00f6sen. Beim Schwertfisch giebt es zwar keine seitlichen K\u00e4the, aber eine L\u00fccke zwischen dem corticalen und centralen Theil des WTrbelk\u00f6rpers. Die Gallerte der Chorda hleibt eingeschn\u00fcrt in den Facetten der Fischwirbel liegen. Siehe J. Mueller, vergleichende Anatomie der Myxinoiden, jlbhandl. der ylkad. d. IViss tusch, zu Berlin. J. 1834. und die neuere Abhand-","page":732},{"file":"p0733.txt","language":"de","ocr_de":"Wirbels\u00e4ule und Hirnsch\u00e4del.\n733\nlang in der vergleichenden Neurologie der Myxinoiden. Ebend. J. 1838. p. 232. Die Wirbels\u00e4ule entsteht jedoch nicht in allen Classen auf dieselbe Weise.\nBei den Amphibien entstehen gar keine untere Wirbelst\u00fccke als am Schw\u00e4nze, wo sich die Bedeutung der unteren Bogen erh\u00e4lt. Die Wiihclk\u00f6i per selbst aber k\u00f6nnen sich bei den Amphibien auf sehr verschiedene Weise im Verh\u00e4ltniss zur Chorda ausbilden. Bei den froschartigen Thieren sind zwei Hauptverschiedenheiten von Duges bemerkt worden. Bei der Gattung Pelobates (P. cultripes sen Rana cuit ripes Cuv., Cultripes provinciales M\u00fcll, und P. fuscus Wag!., Bufo fuscus CuV., Cultripes minor Midi,) wird die Chorda gar nicht vom Wirbelk\u00f6rper umgeben, vielmehr entstehen Wirbelk\u00f6rper und Bogen bloss aus den zwei oberen Wirbelst\u00fccken, welche unter sich verschmelzen, so dass die Chorda unter den entstandenen Wirbelk\u00f6rpern in einer Rinne liegen bleibt, bis sie allm\u00e4hlig ganz vergeht. So ist es auch nach meinen Beobachtungen bei der Gattung Pseudis (Rana paradoxa).\nBei den \u00fcbrigen Fr\u00f6schen und hei den Salamandern hingegen nimmt der Wirbelk\u00f6rper eine ganz andere Entstehung, die Scheide der Chorda erh\u00e4lt selbst ringf\u00f6rmige Ossificationen, und bleibt nur h\u00e4utig zwischen zwei Wirbeln. Auf diese Art steckt die Chorda zu einer gewissen Zeit des Larvenlebens in lauter d\u00fcnnen ossificirten Ringen, deren Verdickung allm\u00e4hlig die Chorda verdr\u00e4ngt. In diesem Fall sind die Elemente nicht paarig und die paarigen oberen Elemente, die Bogen bildend, verwachsen bloss mit den ossificirten Piingen.\nBei den beschuppten Amphibien, V\u00f6geln und S\u00e4ugethieren scheint wieder ein anderer Bildungstypus obzuwallen, den man wenigstens sicher von den V\u00f6geln kennt. Hier bilden sich am Rumpftheil des Skelets nur Ein Paar Wirbelst\u00fccke aus. Zur Zeit, wo das Blastema diese Anlage bildet, erscheinen zu jeder Seite der Chorda viereckige Figuren, die Anlage der Wirbelabtheilungen. Diese vermehren sich allm\u00e4hlig und umwachsen die Chorda von oben und unten, indem sie zugleich oben die Bogenschenkel f\u00fcr die Umschliessung des R\u00fcckenmarkes aus sien aus-schicken. Wirbelk\u00f6rper und Bogen sind in diesem primitiven Zustande ein St\u00fcck und zwar eines f\u00fcr jede Seite. Zu einer gewissen Zeit sieht man die paarigen, knorpelig gewordenen Wirbelelemente unten durch eine Math verbunden. Die Chorda steckt nun in einem Etui der Wirbelk\u00f6rper, allm\u00e4hlig wird sic ganz verdr\u00e4ngt. Noch ehe diess geschieht entsteht die Ossification der Wirbelk\u00f6rper und Bogenschenkel, welche unabh\u00e4ngig von einander ist. Die Ossification der Wirbelk\u00f6rper tritt zuerst da aul, wo die primitiven Wirbelst\u00fccke sich zuletzt unten confundirt haben, und zwar in Form einer zweilappigen Figur, nur an den Kreuzwirbeln des Vogels sah ich diese Figur in zwei Ossifica-lionen getrennt.\nDiejenigen Wirbel, welche keine Rippen tragen, besitzen meist einen Ossificationspunct mehr, wie die Halswirbel. Er befindet sich am Querfortsatz und ist als abortives Rudiment einer","page":733},{"file":"p0734.txt","language":"de","ocr_de":"734 VIII. Buch. V. d. Ent Wickelung. II. Ahschn. Entwich!, d. Organe.\nRippe zu betrachten. Beim Vogelf\u00f6tus Laben alle Halswirbel solche St\u00fccke, und unten verl\u00e4ngern sie sieb allm\u00e4hlig in die oberen falschen Rippen dieser Thiere. Diese Knochenst\u00fccke kommen auch bei den S\u00e4ugethieren und dem Menschen vor. Das unterste ist das gr\u00f6sste und ist bei Kindern noch ziemlich lange isolirt zu sehen, es gleicht dem Anfangsst\u00fcck einer Rippe, daraus ergiebt sich, dass die unteren der neun Halswirbel der Faul-thiere, an welchen Rudimente von Rippen sich zeigen, nicht deswegen als R\u00fcckenwirbel angesehen werden d\u00fcrfen, dass vielmehr die Faulthiere wirklich neun wahre Halswirbel haben. An den Lendenwirbeln hat man nur selten Gelegenheit besondere Ossifi-cationen an den Querforts\u00e4tzen als abortive Rippenrudimente zu sehen; aber beim Schwein kommt es zu einer gewissen Zeit des F\u00f6tuslebens ganz gew\u00f6hnlich vor. Hierher geh\u00f6ren auch die zwei Knochenst\u00fccke, welche die Kreuzbeinwirbel jederseits mit dem Darmbein verbinden, beim Menschen und den Thieren. Bei, den Crocodilen und Schildkr\u00f6ten werden diese St\u00fccke sogar lang ausgezogen und man sieht, dass das Becken durch Wirbelrippen mit der Wirbels\u00e4ule in Verbindung gesetzt wird. Siehe vergleichende Anatomie der Myxinoiden, a. a. O. p. 303.\nD er Hirnsch\u00e4del ist die Fortsetzung der Wirbels\u00e4ule und entsteht viel fr\u00fcher als der Gesichtssch\u00e4de!, er ist anfangs ohne alle Abtheilungen, gleichwie er bei den Cyclostomen, Haien und Rochen als Gehirncapsel verharrt, in seiner Basis setzt sich die Chorda fort und endigt spitz. Bei den Cyclostomen und St\u00f6ren unter den Fischen perennirt diese Spitze der Chorda in der Basis des Hirnsch\u00e4dels durchs ganze Lehen, ihre Spitze reicht ungef\u00e4hr bis zur Mitte der Basis der Gehirncapsel. Die Scheide der Chorda geht bis zum Ende der Spitze fort. Bei den Ammocoetes habe ich als erste Erscheinung einer festen St\u00fctze an der Basis cranii eine doppelte (rechte und linke) knorpelige Leiste beobachtet, welche mit der knorpeligen Capsel f\u00fcr das Geh\u00f6rorgan zusammenh\u00e4ngt, und vorn unter dem vordem Ende der Hirncapsel bogenf\u00f6rmig mit derjenigen der andern Seite sich vereinigt. Bei den Myxinoiden treten dieselben Knorpel auf und perenniren ebenfalls, indem sie zugleich die Gesichtsknorpel abschicken. Diese Basilarknorpel des Sch\u00e4dels haben bei Ammocoetes und Myxine den Kopltlieil der Chorda zwischen sich, Bdellostomn geht einen Schritt weiter, hier sind beide Knorpel hinten ganz verwachsen, und stellen hier ein einfaches, knorpeliges basilare dar, in welchem die Chorda steckt. Man sieht, dass am Sch\u00e4del die Chorda auch anfangs von paarigen Theilcn besetzt ist, welche verschmelzen und sie ganz einschliessen k\u00f6nnen. Rathke bat k\u00fcrzlich an den Embryonen der Schlangen und anderen vor der Bildung der eigentlichen Sch\u00e4delwirbel \u00e4hnliche paarige Leisten wahrgenommen, wie ich sie perennirend bei Ammocoetes im einfachsten Zustande sah. Rathke \u00fcber die Entwickelung des Sch\u00e4dels. K\u00f6nigsb. 1839.\nDie Basis Cranii der Wirbelthiere enth\u00e4lt sp\u00e4ter drei Wirbelk\u00f6rper, wovon der vorderste bei den meisten Thieren meist klein und oft abortiv ist, w\u00e4hrend sie bei den S\u00e4ugethieren und dem Menschen sehr deutlich sind. Es entstehen n\u00e4mlich drei","page":734},{"file":"p0735.txt","language":"de","ocr_de":"Gesichtssch\u00e4del und Visceralbogen.\n735\nabgesonderte Ossificationen hintereinander, welche sich durch N\u00e4the begrenzen und bei den S\u00e4ugethieren einen nach vorn sich zuspitzenden Stiel darstellen, an welchem sich die Seitentheile dieser Wirbel anlegen. Diese Wirbelk\u00f6rper sind das Basilare occipitale, Basilare sphenoideum posterius und Basilare sphenoideum anterius, welche hei allen S\u00e4ugethieren sehr deutlich getrennt sind. Als Seitentheile der Wirbel entstehen in der Hirncapsel: 1. die Occipitalia lateralia; 2. die Sphenoidea lateralia posteriora seu alae magnae; 3. die Sphenoidea lateralia anteriora seu alae parvae. Als Schlussst\u00fccke an der Hirncapsel entstehen das Occipitale su-perius s. squama, die Parietalia und das Frontale. Zwischen den Scheitelbeinen und der Hinterhauptsschuppe hegen hei einigen Thie-ren Schaltknochen (wie zwischen den Wirbelbogen der Haifische und Bocben). Solche kommen auch an der Basis der Wirbels\u00e4ule (St\u00f6re) und am Sch\u00e4del vor. Dahin scheinen die Felsenbeine zu geh\u00f6ren, welche keine ausschliessliche Beziehung zum Geh\u00f6rorgan haben, und von den V\u00f6geln an mit anderen Knochen die Function theilen, das Labyrinth einzuschliessen.\nAm Hirnsch\u00e4del des Menschen und der h\u00f6heren Thiere nimmt auch die Schuppe des Schl\u00e4fenbeins Antheil, welche bei den Amphibien und Fischen davon mehr oder weniger verdr\u00e4ngt wird. Dieser Theil hat die Bedeutung, das Glied des Kopfs, den Un*, terkiefer zu tragen; bei den V\u00f6geln, Amphibien und Fischen geben in die Zusammensetzung dieses Suspensoriums noch mehrere andere St\u00fccke ein, wie das Quadratbein, das Quadratjochbein. In Hi nsicht der vergleichenden Anatomie dieser Theile verweise ich auf IIallmann\u2019s sch\u00e4tzbare Schrift: vergl. Osteologie des Schl\u00e4fenbeins. Hannover 1837. Bei den jungen S\u00e4ugethieren sind an dem Schl\u00e4fenbeinapparat auch noch der Annulus lympanicus und die Bulla tympani erkennbar, welche Ha\u00fcenbach bei einigen S\u00e4ugethieren von einander unterscheiden konnte. Platner sah bei mehreren V\u00f6geln einen Annulus tympanicus und die Fr\u00f6sche haben auch etwas davon,\n2- Gesichtssch\u00e4del und Visceralbogen\nDas Gesicht der Wirbelthiere besteht aus den, an den Hirnsch\u00e4del und die Hirnblasen sich anschliessenden drei Sinnesorganen, Nase, Auge, Ohr und dem obern und untern Kieferapparat und ihren Muskeln. Der obere Kieferapparat besteht im allgemeinen Plan der Wirbelthiere in seiner ganzen Vollst\u00e4ndigkeit aus f\u00fcnf aneinanderstossenden St\u00fccken, Os intermaxillare, Vomer, Os maxillare, palatinum und pterygoideum s. palatinuni posterius, welche s\u00e4mmtlich bei einzelnen Thieren doppelt sevn k\u00f6nnen und alle Z\u00e4hne tragen k\u00f6nnen, wovon einzelne aber bei verschiedenen Thieren zahnlos und abortiv werden, wie beim Menschen und den S\u00e4ugethieren der Vomer, das Gaumenbein und Os pterygoideum, die als besonderer Knochen entstehende Ala interna processus pterygoidei, die bei mehreren Thieren den Gaumen nach hinten fortsetzt. Im vollkommensten Zustande reicht der obere Kieferapparat durch das Os pterygoideum bis zum Unterkiefer,","page":735},{"file":"p0736.txt","language":"de","ocr_de":"736 VIII. Buch. V. d, Entwickelung. II. Abschn. Entwicht. d. Organe.\nund der obere und untere Kieferapparat stellen dann eine am Schl\u00e4fenbein aufgeh\u00e4ngte Gabel dar. Die Cyclostomen haben hievon nur einen unvollkomrnnen Gaumen, keine Oberkiefer und Unterkiefer. Den Sinnesorganen der Wirbelthiere sind oft eigene Skelettheile beigegeben, wie Siebbein, Nasenbeine, Supraorbitalbeine (Eidechsen und Python), Infraorbilalbeine der Fische, Paukenring. Auch kommt hei vielen Thieren zwischen Oberkiefer und Schlafe eine durch das Jochbein vervollst\u00e4ndigte Arkade vor.\nUeber die Entwickelung des Gesichtstheils des Kopfes b\u00e4hen in neuerer Zeit v. Baer, Rathke und Reichert gearbeitet. Voider Entwickelung des Gesichtstheils des Kopfes wird die Visceralh\u00f6hle desselben von oben von der Uranlage der Gehirncapsel, welche die Gehirnblasen enth\u00e4lt, die untere und Seitenwand der Visceralh\u00f6hle des Kopfes wird aber von dem vordem sogenannten Visceralbogen gebildet. Eine Nasenh\u00f6hle giebt es dann noch nicht und die Visceralh\u00f6hle des Kopfes reicht von dem ersten Visceralbogen Lis zur Gehirncapsel. Visceralbogen sind beim Vogel und S\u00e4ugethier drei, und auch drei Spalten. Die erste Spalte wird zum aussern Geh\u00f6rgang, nach innen zum Cavum tympani und zur Trompete urngcwandclt ; die 2. und 3. Spalte schwinden. D as Gesicht bildet sich nun aus einem mittlern, von der Stirn ausgehenden Theil, v. Baer\u2019s Stirnfortsatz, und aus einem Theil, der vom obern Ende des eisten Visceralbogens ausgeht. Es giebt also urspr\u00fcnglich einen mittlern und einen seitlichen Gesichtstheil, beide sind von einander getrennt. Der seitliche und untere Gesichtstheil (der obere und untere Kieferapparat) sind es, welche nach Pieichert zusammen aus dem sich einknickenden ersten Visceralbogen entstehen, n\u00e4mlich aus der Partie \u00fcber diesem Knie entsteht die Oberkiefermasse, aus der Partie unter diesem Knie der untere Kieferapparat. Die Oberkiefermasse w\u00e4chst dem Stirnfortsatz entgegen und verbindet sich damit so, dass die unter dem Slirnfortsatz und zwischen beiden Oberkiefermassen bleibende H\u00f6hle Nasenh\u00f6hle wird. Indem die Oberkiefermasscn (Oberkiefer und Gaumenbein) rechter und linker Seite sich auch unter dieser Hohle untereinander verbinden, entsteht erst die Sonderung der Nasen- und Mundh\u00f6hle durch einen Gaumen. Am verl\u00e4ngerten Slirnfortsatz oder Nasenfortsatz der Stirnwand zeigt sich ferner die Substanz des obern Zwischenkiefers, welcher am untern Theil des Visceralbogens, aus dem sich der Unterkiefer bildet, ein Analogon hat, eine abgegliederte Portion, die Reichert den untern Zwischenkiefer nennt. Es ist nach diesen Beobachtungen noch nicht ganz gewiss, aus welchem Theil der obere Zwischenkiefer zuerst hervorgeht. Denn obgleich man das Blastema des Zwischenkiefers zuerst zwischen den Nasenforts\u00e4tzen auf der Stirnwand bemerkt, so kann es doch auch sehr leicht urspr\u00fcnglich aus den Nasenforts\u00e4tzen selbst und dem gleich daran stossenden obern Anf\u00e4nge des ersten Visceralbogens herkommen, und dort gleichsam seine Wurzel haben. Die letztere Ansiebt w\u00fcrde mir aus dem Gesichtspuncte der vergleichenden Anatomie einleuchtender scyn, weil zum ob\u00e9ra Kieferapparat im vollst\u00e4ndigsten Zustande Os intermaxillare, Vo\u00ab","page":736},{"file":"p0737.txt","language":"de","ocr_de":"Gesichtssch\u00e4del und Visceralbogen,\n737\nmer, Os maxillare, palatinum und pterygoideum geh\u00f6ren. Dann w\u00fcrde als ein Sinnentheil des Kopfes nur der mittlere vordere \u00fcbrig bleiben, der sieb an das Seh\u00e4delende anscbliesst und bei den Plagiostomen auch mit dem Sch\u00e4del ein St\u00fcck ausmacht, w\u00e4hrend der obere Kieferapparat davon getrennt ist. Indessen lassen sich auch vergleichend anatomische Gr\u00fcnde f\u00fcr die zweite Ansicht anf\u00fchren; denn der Vorner, der doch jedenfalls aus der Mitte hervorkommt, geh\u00f6rt auch in die allgemeine Kategorie der kieferartigen und zahntragenden Knochen, hei dem Menschen und den S\u00e4ngetbieren ist er abortiv, hei den Fischen und Batrachiern kann er Z\u00e4hne tragen. Der Zwischenkiefer kann also leicht ein analoges Schicksal haben und seine Genesis von den \u00fcbrigen Kiefergliedern verschieden seyn. Bei der Gaumenspalte, wo die Oberkiefer und Gaumenbeine beider Seiten sich nicht erreichen, werden der rechte und linke Zwischenkieferknochen nicht von einander getrennt, und statt mit ihren Oherkieterknochen verbunden auseinander zu weichen, bleiben sie in der Mitte, und die Spalte setzt sieb vorn jederseits zwischen Oberkiefer und Zwischenkiefer fort, so dass der Zwischenkiefer mit den Schneidez\u00e4hnen am Vomer h\u00e4ngen bleibt. Ein die Nasenh\u00f6hle von der Mundh\u00f6hle trennender Gaumen ist, wie sich aus dein Vorhergehenden ergiebt, lange nicht vorhanden. Diese Trennung entsteht erst, indem die Oberkiefermassen horizontal gegen die Mitte sich verl\u00e4ngern und hier sich aneinanderlegen.\nAus der Genesis des Gesichts lassen sich nicht allein die krankhafte Gaumenspalte und die angeborene Spalte zwischen Oberkiefer und Zwischenkiefer erkl\u00e4ren, sondern sie scheint auch auf diejenigen angeborenen Spalten ein Licht zu werfen, die zwischen Os intermaxillare und Oberkiefer durchgehend hinauf bis in die Augenh\u00f6hle reichen. Dergleichen angeborene Spalten, welche primitiven Zust\u00e4nden entsprechen, werden flemmungsbildungen genannt. Bei der Anwendung dieses h\u00f6chst fruchtbaren und durch Meck.ec wichtig gewordenen Erkl\u00e4rungsprincips auf Spalten der Bedeckungen ist \u00fcbrigens einige Restriction 'noting. Die Hasenscharte, Spaltung der Oberlippe in der Gegend der Verbindung des Zwischenkiefers und Oberkiefers, beruht allerdings, aber nicht ganz auf Hemmungsbildung. Denn die Oberlippe ist zu keiner Zeit auf diese Weise primitiv gespalten, sondern bildet sieh sogleich vollst\u00e4ndig saumartig aus. Aber die Hemmungsbildung der lieferen Theile scheint eine unvollkoinmne Entwickelung dieses Saums nach sieh zu ziehen.\nDie Umwandlungen der Visceralbogen sind ferner nach Reichert\u2019s Beobachlungen bei den S\u00e4ngetbieren folgende: das Blastem des ersten Visceralbogens entwickelt aus sich als specielle Bildungen den obern Kieferapparat, den Unterkiefer und einen Theil der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen, n\u00e4mlich Hammer und Ambos. Der Hammer verl\u00e4ngert sich beim F\u00f6tus der S\u00e4ugetbiere und des Menschen nach Meckels Entdeckung an der innere Seite des Unterkiefers bis zur innern Seile des Kinns, und steht bogenf\u00f6rmig mit dem der andern Seite in Verbindung. Es wird sich daher ein Unterkieferbogen und auch ein Hammerbogen im ersten Yisceralbogen","page":737},{"file":"p0738.txt","language":"de","ocr_de":"738 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. II. Alschn. Entwickl. d. Organe,\nbilden. Reichert zeigt, dass der letztere dem erstem vorausgeht. Nach der Entwickelung des Unterkiefers kommt jener Fortsatz des Hammers an die innere Seite des ersten festem Rudimentes vom Unterkiefer zu liegen. Jener Fortsatz des Hammers f\u00e4ngt an zu verk\u00fcmmern, wenn der Unterkiefer zum gr\u00f6ssten Theile ausgebildet und verkn\u00f6chert ist.\nDer zweite Visceralbogen wird theils zur Bildung des Suspensoriums des Zungenbeins, theils zur Bildung des Steigb\u00fcgels verwandt. Das Suspensorium des Zungenbeins des Menschen ist in seinem obern Theile kn\u00f6chern, der anfangs isolirte, dann mit dem Schl\u00e4fenbein verwachsende Processus stiloideus, ist in seinem untern Theile bandartig, Ligamentum stiio-hyoideum, dann folgt wieder ein kn\u00f6chernes, kleines Horn des Zungenbeins. Bei den meisten S\u00e4ugethieren geht beinahe das ganze Suspensorium des Zungenbeins in Verkn\u00f6cherung \u00fcber, und bildet das aus mehreren Gliedern bestehende vordere Horn des Zungenbeins. Die hinteren H\u00f6rner des Zungenbeins und dessen K\u00f6rper bilden sich aus einem knorpeligen Streifen im dritten Visceralbogen. Ueber die Verwandlungen der Visceralbogen bei den V\u00f6geln und Amphibien siehe Reichert a. a. O. und vergleichende Entwickelungsgeschichte des Kopfes der nackten Amphibien. K\u00f6nigsberg 1838.\n3. Extremit\u00e4ten\nDie Extremit\u00e4ten entstehen bei allen Wirbelthieren in gleicher Weise als blattartige Erhebungen an den Rumpfw\u00e4nden an der Stelle, wo sich in den Rumpfw\u00e4nden mehr oder weniger von einem G\u00fcrtel f\u00fcr sie bilden wird. Die Urform ist sich ziemlich gleich, mag die Extremit\u00e4t hernach zum Schwimmen, Kriechen, Gehen oder Fliegen bestimmt seyn, die Uranlage ist n\u00e4mlich der allgemeine Wirbelthiertypus, der sich sp\u00e4ter in die bestimmten Formen gliedert. Beim Menschen sind die Finger anfangs durch Blastem noch wie durch eine Schwimmhaut vereinigt, was jedoch weniger f\u00fcr eine wirkliche Ann\u00e4herung an die schwimmenden Thiere anzusehen ist, wie vielmals als Urform der Hand, welche hernach ihre einzelnen Theile mehr individualis\u00e2t.\nIn Hinsicht der speciellen Entwickelung des Knochensystems muss ich auf die ausf\u00fchrlichen Werke \u00fcber Entwickelungsgeschichte verweisen. Ueber die Ausbildung aller einzelnen Theile des Knochensystems geben Valentin s Untersuchungen in seiner Entwickelungsgeschichte ausf\u00fchrliche Aufschl\u00fcsse.\ni. Gfcf\u00e4sssystem.\nDie erste Entwickelung des Gef\u00e4sssystems und Herzens in der Keimhaut ist bereits oben beschrieben. Die erste Form des Kreislaufs bietet die durch den Sinus torminalis eingeschlossene Area vasculosa dar, in welche das Blut vom Herzen und der Aorta durch zwei quer verlaufende Arterien gelangt, und aus welcher das Blut durch entgegengesetzte, von oben und unten herkom-","page":738},{"file":"p0739.txt","language":"de","ocr_de":"Qef\u00e4sssystem.\n739\nmende Venen wieder zum schlauchf\u00f6rmigen Herzen gelangt. Diese Gef\u00e4ssanordnung ver\u00e4ndert sich demn\u00e4chst dahin, dass, statt der den Arterien entgegengesetzten Venen, andere sie begleitende Venenst\u00e4mme aus dem Gef\u00e4ssnetz der Area vasculosa sich ausbdden, dass der Sinus terminalis eingeht, und dass die Gef\u00e4sse sich \u00fcber den ganzen Dottersack ausbreiten.\nHerz. Das Herz ist hei allen Thieren anfangs ein Canal ohne Abtheilungen, welcher an seinem untern Ende die Venenst\u00e4mme aufnimmt, aus seinem obern sich in die Arterienst\u00e4mme, Aortenbogen theilt. W\u00e4hrend sich dieser Canal hufeisenf\u00f6rmig kr\u00fcmmt, entstehen an ihm bei allen Wirbelthieren drei Abtheilungen, die hintere, der einfache Vorhof, welcher die Venenst\u00e4mme auf-nimmt, die mittlere, der einfache Ventrikel, die vorderste Bulbus aortae, alle drei ziehen sich nach einander zusammen. Diese Abtheilungen bemerkt man beim Vogel schon vom 2. zum 3. Tag. Der Vorhof und der Bulbus aortae liegen jetzt an den Enden der Schenkel des Hufeisens. Durch die Aussackung des mittlern Theils nach unten entsteht die erste Andeutung der ventrikelartigen Form. Indem sich auf diese Weise die grosse Curvatur des Hufeisens zwischen Vorhof und Bulbus viel mehr als die kleine entwickelt, r\u00fccken sich Anfang und Ende des Herzens, oder Vorhof und Bulbus nahe nach oben, der sp\u00e4tem Form entsprechend, und der Ventrikel sackt sich nach unten aus. Das Herz der Fische beh\u00e4lt die drei Abtheilungen, ohne dass Abtheilungen im Innern in ein rechtes und linkes Herz entstehen. Auch das Herz der nackten Amphibien beh\u00e4lt die drei muscul\u00f6sen Abtheilungen f\u00fcr\u2019s ganze Leben, aber der Vorhof wird durch eine Scheidewand in einen Lungen- und K\u00f6rpervorhof getheilt. Bei den beschuppten Amphibien bildet sich, ausser der Scheidewand der Vorh\u00f6fe, die Thei-lung des Ventrikels nur mehr oder weniger aus. Bei den V\u00f6geln, S\u00e4ugethieren und dem Menschen sind Vorh\u00f6fe und Kammern zur vollkommnen Theilung bestimmt, diese Thiere und auch die beschuppten Amphibien behalten einen muscul\u00f6sen Bulbus aortae auf die Dauer nicht und derselbe verschmilzt mit den Ventrikeln. Die Theilung des Vorhofs und der Kammern in ein rechtes und linkes Herz beginnt bei den V\u00f6geln gegen die 60. \u2014 70. Stunde. Die Theilung der Kammer beginnt nach v. Baeh an der Spitze des Herzens und schreitet nach oben vor. A. Thomson sah nach 7^ Tagen der Bebr\u00fctung noch eine Communication, sie verschwindet sp\u00e4ter, indem zugleich im Bulbus aortae eine Scheidewand f\u00fcr die Wurzeln der eigentlichen Aorta und A. pulmonalis entsteht. Die Scheidewand der Vorh\u00f6fe bildet sich von einer halbmondf\u00f6rmigen Falte aus, welche von oben herabw\u00e4chst, der linke Vorhof ist anfangs sehr klein, nach dem 6. Tag findet man ihn in Verbindung mit den Lungenvenen. Beim Menschen beginnt die Theilung der Kammern nach Meckel um die Zeit der vierten Woche und ist nach acht Wochen vollst\u00e4ndig. Die Scheidewand der Vorh\u00f6fe bleibt bei dem Menschen und den Thieren, die eine solche erhalten, im F\u00f6tusleben unvollkommen. Anfangs, wenn die Abtheilung beider Vorh\u00f6fe begonnen, haben beide Hohlvenen ein verschiedenes Verh\u00e4ltniss zu ihnen; die obere tritt wie beim","page":739},{"file":"p0740.txt","language":"de","ocr_de":"740 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. II. Ahschn. Entwickl. d. Organe.\nErwachsenen in den rechten Vorhof, die untere ist aber so gestellt, dass sie in den linken Vorhof einzutreten scheint, und der hintere Theil des Septum atriorum wird von der aus der Eintrittsstelle der Cava inf. ausgezogenen grossen Eustachischen Klappe gebildet. Sp\u00e4ter wendet sich die von oben herabwachsende Scheidewand mehr und mehr zur linken der Cava inf. W\u00e4hrend des ganzen F\u00f6tuslehens bleibt eine Oelfnung in der Scheidewand der Vorh\u00f6fe, welche durch die sich im dritten Monat bildende Val-vula foraminis ovalis unvollkommen gedeckt wird.\nSchriften: Meckel in dessen Archiv. II. 402. Kilian \u00fcber den Kreislauf des Blutes im Kinde, welches noch nicht geathmet hat. Karlsruhe 1826. Allen Thomson, Edinb. new phil. J. Oct. 1830. v. Baer und Valentin a. a. O.\nAortenbogen und Lung eng ef\u00e4sse. Bei den jungen Embryonen aller Wirbelthiere vertheilt sich das Blut aus dem Bulbus aortae nach zwei Seiten, die Rumpfh\u00f6hle umgehend, um sich vor der Wirbels\u00e4ule wieder in einem Gelasse, der Aorta descendens zu sammeln. Vach Serres ist die Aorta descendens um die 40. \u2014 50. Stunde beim Vogelembryo in ganzer L\u00e4nge doppelt. A. Thomson sab dies gegen die 36. \u2014 40. Stunde, fand aber in der 48. \u2014 50. Stunde die beiden Gef\u00e4sse schon in betr\u00e4chtlicher L\u00e4nge vereinigt. Reichert sah auch in fr\u00fchester Zeit eine kleine Querbr\u00fccke. Die Aortenbogen sind immer mehrfach und liegen anfangs an den Visceralbogen an. Bei den Thieren, welche mit Kiemen athmen und deren Visceralbogen zur Bildung des Kiemenger\u00fcstes zum Theil verwandt werden, verwandelt sich jeder der Aortenbogen in zwei parallel laufende Gef\u00e4sse, wovon das eine arterielle vorn Herzen ab sich ganz in die Kiemen verzweigt, ohne ferner mit der Wirbelaorta zusammenzuh\u00e4ngen, das zweite ven\u00f6se aus den Kiemenbl\u00e4ttchen entsteht und mit seines Gleichen Wurzel der Wirbelaorta wird. Bei den nackten Amphibien geschieht dasselbe, aber die Kiemengef\u00e4sse verwandeln sich hernach wieder in drei Aortenbogen, und diese r\u00fccken nach dem Eingehen des Kiemenapparates in die Brusth\u00f6hle lierai) und verbleiben.\nDie Haifische, Rochen und die nackten Amphibien haben theils F\u00f6tus-, theils Larvenkiemen. Sie unterscheiden sich von den bleibenden Kiemen, dass sie aus den Kiemenh\u00f6hlen hervorh\u00e4ngende F\u00e4den oder B\u00fcschel bilden, in welchen Gelassschlingen enthalten sind. Die \u00e4usseren Kiemen der ersteren dauern \u00fcbrigens nicht das ganze F\u00f6tuslehen aus, sondern verschwinden sp\u00e4ter, bei reiferen findet man keine Spur mehr. Leuckart \u00fcber die \u00e4usseren Kiemen der Embryonen von Rochen und Haien. Stuft g. 1836. Die \u00e4usseren Kiemen einiger nackten Amphibien sind schon w\u00e4hrend des F\u00f6tuslebens vollkommen entwickelt und nehmen an dem Blutkreislauf Antheil, wie bei Bufo ohstetricans und Salamandra terrestris u. a. Bei den Fr\u00f6schen sind die \u00e4usseren Kiemen f\u00fcr die ersten Tage des Larvenlebens berechnet und vergehen dann, indem die inneren Kiemen an ihre Stelle treten. Wenn sich die Lungen der Fr\u00f6sche entwickelt haben, so ist ihre Arterie jederseits ein Ast des untersten Aortenbogens, die hinteren St\u00fccke dieser Bogen sind gleichsam perennirende Ductus arteriosi. Bei den beschuppten Am-","page":740},{"file":"p0741.txt","language":"de","ocr_de":"Gef\u00e4sssystem.\n741\nphibien bilden sich an dem System der Visceralbogen keine Kiemen und Kiemengef\u00e4sse aus, und ihre mehrfachen Aorten r\u00fccken in die Brusth\u00f6hle herab, bleiben aber zum Theil noch durchs ganze Leben. Die Eidechsen haben vier perennirende Aortenorten, zwei auf jeder Seite, die Schildkr\u00f6ten, Crocodile und die Schlangen haben nur zwei, wovon der eine die Gef\u00e4sse der oberen Theile des K\u00f6rpers, der andere die Eingeweidearterie abgiebt. Die Lungenarterie dieser Thiere entspringt f\u00fcr sich aus der Herzkammer, indess kann man bei den erwachsenen Schildkr\u00f6ten noch die Spuren zweier anderer Aortenbogen sehen, welche jetzt obli-terirt, fr\u00fcher Ductus arteriosi f\u00fcr die von ihnen abgehenden Zweige zu den Lungen waren.\nBei den V\u00f6geln giebt es zu einer gewissen Zeit des F\u00f6tuslebens sechs Aortenbogen, die beiden oberen geben die Arterien der oberen Theile des K\u00f6rpers, anonymae ab, und die hinteren St\u00fccke dieser Bogen gehen ein. Die beiden unteren Bogen geben die Zweige zur Lunge und stellen zwei zur Aorta descendens gehende Ductus arteriosi dar, welche erst nach der Keile eingehen, w\u00e4hrend die Aeste zur Lunge selbstst\u00e4ndig werden bis zum einfachen vom Herzen kommenden Stamm der Lungenarterie, welcher, zum rechten Ventrikel geh\u00f6rig, sich durch innere Scheidung im Bulbus aortae fr\u00fchzeitig von der Aorta isolirt hatte. Von den beiden mittlern Gef\u00e4ssbogen bleibt nur der rechte, und der linke geht fr\u00fchzeitig verloren. Siehe die sch\u00f6ne Abhandlung von Huscuke Isis 1827. 401. 1828. 161. Vergl. Allen Thomson in Edinb. new phii. ./. Jan. 1831.\nBei den S\u00e4ugethieren reduciren sich die Aortenbogen nach v. Baer\u2019s Beobachtungen bald auf drei, wovon einer der bleibende Arcus aortae, die beiden anderen Ductus arteriosi der Arteria pulmonalis sind; von diesen letzteren verliert sich auch dann noch der rechte, so dass f\u00fcr die sp\u00e4tere Zeit des F\u00f6tuslebcns des Menschen und der S\u00e4ugethiere nur noch zwei Aortenbogen \u00fcbrig sind, ein aus dem rechten, und ein aus dem linken Ventrikel kommender. Von diesen giebt der erstere die arteri\u00f6sen Lungenzweige, der letztere die Gef\u00e4sse der oberen Theile des K\u00f6rpers ab. Beide Bogen sind und bleiben gleich stark bis zur Reife. Nach der Gehurt verengert sich schnell das hintere St\u00fcck des zum rechten Ventrikel geh\u00f6rigen (Ductus arteriosus Botalli) und obliterirl in den ersten Wochen nach der Geburt ganz, w\u00e4hrend das vordere St\u00fcck nun der Stamm der selbstst\u00e4ndigen Arteria pulmonalis ist. Zu gleicher Zeit schliesst sich das Foramen ovale.\nBei den V\u00f6geln ist der bleibende Arcus aortae ein rechter, <1. h. rechts um die Luft- und Speiser\u00f6hre zur Wirbels\u00e4ule gelangender, bei den S\u00e4ugethieren und dem Menschen ist es umgekehrt ein linker.\nVenen. Auch das Venensystem ist nach Ratiike\u2019s sch\u00f6nen Untersuchungen bei den Embryonen aller Wirbelthiere anfangs auf eine conforme Weise angeordnet, und entfernt sich sp\u00e4ter auf eigenth\u00fcmliclie Weise von diesem primitiven Typus der Wir-bellhiere. Es giebt dann zwei vordere (lugularvenen) und zwei hintere Stammvenen, Rathke nennt die hinteren die Cardinal-","page":741},{"file":"p0742.txt","language":"de","ocr_de":"742 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. II. Abschn. Entwicht. d. Organe.\nvenen; eine vordere und eine hintere verbinden sich jederseits zu einem Querstamm, Ductus Cuvieri.* Beide letztere Stamme vereinigen sich unter der Speiser\u00f6hre zu einem kurzem Canal, der sich in die urspr\u00fcnglich einfache Vorkammer einsenkt. Die Cardinalvenen nehmen urspr\u00fcnglich die Schwanzvenen, Zweige von den Nieren und WoLFF\u2019schen K\u00f6rpern und von der R\u00fccken-wand des Rumpfes, sp\u00e4tere Intercostal- und Lumbalvenen auf, auch entstehen bei den Thieren mit Extremit\u00e4ten an beiden St\u00e4mmen noch die beiden Venae crurales. Man kann dieses System bei allen Thieren als System des einfachen Vorhofs bezeichnen. Bei den mehrsten Wirhelthieren ist es so lange vorhanden, als ihr Herz dem Fischherz gleicht. Bei den Fischen bleibt es durch's ganze Leben. Bei den Amphibien verwandeln sich die Cardinalvenen in die Venae renales advehentes, welche die Venen der hinteren Extremit\u00e4ten aufnehmen. Der gemeinschaftliche Canal der beiden Ductus Cuvieri wird bei den Thieren \u00fcber den Fichen schon fr\u00fcher in die urspr\u00fcnglich einfache Vorkammer hineingezogen; nachdem sich die Scheidewand gebildet hat, gehen die beiden Ductus getrennt in die rechte Vorkammer \u00fcber. Die Venae subclaviae schliessen sich an die Venae jugulares an. Die Ductus bleiben bei den V\u00f6geln und einigen S\u00e4ugethieren als zwei getrennt einm\u00fcndende vordere Hohlvenen. Bei anderen S\u00e4ugethieren bleibt der rechte Ductus als alleinige vordere Hohlvene. Bei den Schlangen, Eidechsen, V\u00f6geln und S\u00e4ugethieren bildet sich ein System der Vertebralvenen, die hinteren sind die Vena azygos und hemiazygos (oder richtiger, weil sie ganz paarig und nur ihr Stamm unpaarig, Venae conjugatae, deren Stamm azygos ist). \u2019Das Blut der vordem und hintern Vertebralvenen wird in die obere Hohlvene gef\u00fchrt.\nDie Nabelgekr\u00f6svene, Vena omphalo-meseraica, welche auch die Gekr\u00f6svene aufnimmt, ist eine primitive und allgemeine der Wirbelthiere. Sie geht mit den Ductus Cuvieri, anfangs zwischen tfiesen Ductus, einfach zur Vorkammer. Wenn sich die Leber gebildet hat, giebt dieser Stamm in sie Zweige ab, und nimmt wieder andere, Venae hepaticae aus ihr auf (V\u00f6gel, S\u00e4ngethiere), zwischen beiderlei Lebergef\u00e4ssen vergeht der Stamm und es ist so eine Pfortader gebildet, deren Blut die Leber durchkreist und durch die Venae hepaticae entleert wird.\nEine hintere Hohlvene bildet sich nicht bei den Fischen; bei den V\u00f6geln und S\u00e4ugethieren entsteht sie zwischen den WoLFF\u2019schen K\u00f6rpern, und senkt sich urspr\u00fcnglich vor der Leber in das Ende der Dottersackvene ein, so dass sie nach der Ausbildung des Leberkreislaufes das Blut der Venae hepaticae aufnimmt. Dieser Hohlvene ist bei den Fischen nichts vergleichbar, als die Venae hepaticae ; hei den Amphibien zieht sie ausser diesen noch das Blut der Nieren und Geschlechtstheile, bei den V\u00f6geln und S\u00e4ugethieren das Blut der meisten hinteren animalischen Theile des K\u00f6rpers an, und nur selten bleibt sie krankhafter Weise beim Menschen unausgebildet, so dass das Blut aus den unteren Theilen des K\u00f6rpers durch das System der azygos in die obere Hohlvene abgeleitet wird. Stark de venae azygos natura. Lips, 1835.","page":742},{"file":"p0743.txt","language":"de","ocr_de":"Nervensystem.\n743\nDie Nabelvene ist als eine Combination einer vordem Bauch-vene, Yena abdominalis anterior, die den Amphibien zukajnmend zur Pfortader geht nnd bleibt und den Venen der Allantois, zu betrachten. Der erstere Theil dieses Systems kommt auch cjen nackten Amphibien zu, die keine Allantois besitzen. Bei cd en beschuppten Amphibien, V\u00f6geln und S\u00e4ugethieren ist der eene und andere Theil dieses Systems beim F\u00f6tus vorhanden. Wahrscheinlich sind die Venen der vorderen Bauchwandungen und die Venen der Allantois anfangs von einander unabh\u00e4ngig, und coiafluiren bei weiterer Entwickelung der Allantois. So l\u00e4sst sich die sonst r\u00e4thselhafte Thatsache erkl\u00e4ren, dass die Vene der Allantois an einen ganz andern Ort, die Pfortader, hinger\u00e4th, als von wo die Allantois sich entwickelt. Rathke macht diese Fusion wahrscheinlich. Beim Mensehen nimmt die Vena umbilicalis auch Zweige der Venae epigastricae auf. Burow in Muell. Arch. 183S. 44.\nDie Nabelvene geht bei den V\u00f6geln und S\u00e4ugethieren nach Rathke urspr\u00fcnglich in das zum Herzen gelangende Ende der Nabelgekr\u00f6svene \u00fcber, welches sp\u00e4ter hier den vordersten Theil der hinteren Hohlvene ausmacht. Sp\u00e4ter sendet diese Vene auch Zweige in die Leber, wie die Nabelgekr\u00f6svene, und es entsteht eine Anastomose zwischen der Nabelvene und hintern Hohlvene, der Ductus venosus Arantii.\nRathke, \u00fcber den Bau und die Entwickelung des Venerisystems der IVirheltkiere. K\u00f6nigsb. 1838.\nDer Kreislauf des F\u00f6tus unterscheidet sich von dem des Erwachsenen wesentlich durch die in den Vorh\u00f6fen, dann auch durch den Ductus Botalli stattfindende Vermischung des Blutes und durch die Ableitung eines Theils des Blutes von den Lungen. Der rechte Vorhof erh\u00e4lt alles K\u00f6rpervenenblut oder alles Blut, was beide Kammern (die linke in die oberen und unteren Theile des K\u00f6rpers, die rechte in die unteren durch den Ductus Botalli) aussenden, mit Ausnahme der von der rechten Kammer die Lungen gehenden Fraction des Bluts. Der linke Vorhof erh\u00e4lt nur diese Fraction des Blutes aus den Lungen zur\u00fcck. Set*t man voraus, dass beide Kammern gleich viel Blut aussenden, so geht von der einen H\u00e4lfte alles, von der andern H\u00e4lfte aber ein Theil zum rechten Vorhof zur\u00fcck, also zum rechten Vorhof mehr zur\u00fcck als von seiner Kammer ausgeht, zum linken Vorhof weniger zur\u00fcck, als von seiner Kammer ausgeht. Woraus folgt, dass von dem rechten Vorhof ein Theil des Blutes durch das Foramen ovale in den linken \u00fcberfliessen m\u00fcsse.\n5. Nervensystem.\nDie Uranlage der Centraltheile des Nervensystems besteht nach Reichert aus zwei in einer Rinne zusammenstossenden Platten, welche sich mit ihrem Aussentheil erheben und mit ihren Aussenr\u00e4ndern zur Bildung eines hohlen Schlauchs vereinigen. An der Stelle des verl\u00e4ngerten Marks scheint dieser Canal seine Spalte zu behalten, wenn sie sich nicht von neuem bildet. Von dieser Stelle bis zum vordem Ende entwickeln sich au dem Canal Miiller\u2019s Physiologie, Jr, Bd. III,\t48","page":743},{"file":"p0744.txt","language":"de","ocr_de":"744 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. II. Abschn. Entwickl. d. Organe.\nmehrere blasige Auftreibungen, die Hirnzellen. Zun\u00e4chst vor dem verl\u00e4ngerten Mark bemerkte v. Baer schon am vierten Tage das kleine Gehirn. Die R\u00fcckenmarksbl\u00e4tter stossen n\u00e4mlich, nachdem sie den [vierten Ventrikel gebildet haben, nach oben und vorn zusammen und nmschliessen einen kurzen Canal, der in die Blase der Vierh\u00fcgel f\u00fchrt, welche die gr\u00f6sste Hirnzelle ist. Die darauf folgende Blase ist die Blase des dritten Ventrikels, die fr\u00fcheste und anfangs die vorderste. Vor ihr entwickeln sich die anfangs sehr kleinen Blasen des grossen Gehirns, Die Sinnesnerven bilden bohle Forts\u00e4tze der Ventrikel, der H\u00f6rnerve aus dem vierten, der Sehnerve aus dem dritten, der Rieehnerve aus dem Seitenventrikel. Die wesentlichsten Theile der Sinnesorgane sind daher urspr\u00fcnglich Ausst\u00fclpungen des Hirns, v. Baku bemerkte die H\u00f6hlung dieser Nerven vom <>. Tage an nicht mehr. Sp\u00e4ter hleibt die Vierh\u00fcgelblase im Wachsthum zur\u00fcck, dagegen sich die Hemisph\u00e4ren jetzt am st\u00e4rksten entwickeln und die hinter ihnen liegenden Theile bedecken. Die grossen Hirnganglien entstehen durch Anschwellung der W\u00e4nde der Hirnzellen, die gestreiften K\u00f6rper in den vordersten Hirnzellen, die Sehh\u00fcgel in der Blase des dritten Ventrikels. Am 0. Tage sah v. Baer die Blase des dritten Ventrikels an ihrem vordem Theil weit ge\u00f6ffnet, nachdem sich schon in den vorhergehenden Tagen die Markmasse von dieser Stelle zur\u00fcckgezogen. Durch diese Spalte hat das grosse, durch eine Einsenkung seiner Decke in zwei H\u00e4lften geschiedene Gehirn, welches von der Blase des drillen Ventrikels ausgeht und diese Blase \u00fcberragt, einen mittelbaren Ausgang. Wahrscheinlich entsteht die grosse Hirnspalte, welche hernach zwischen den Sehh\u00fcgeln und dem Gew\u00f6lbe ins Innere des grossen Gehirns f\u00fchrt, aus jener Sjialte des dritten Ventrikels durch ein Auseinanderweichen nach den Seiten, so dass als R\u00e4nder der entstandenen grossen Hirnspalte das Gew\u00f6lbe bliche, wie auch heim Erwachsenen. v. Baer bezeichnet als die Uranlage des Fornix die Grenze zwischen der H\u00f6hlung des Blase des dritten Ventrikels und den beiden H\u00f6hlungen der Seitenventrikel. Stellt man sich an dieser Grenze Erweiterung der schon entstandenen Spalte des dritten Ventrikels nach beiden Seiten vor, so erh\u00e4lt man die grosse Hirnspalte, deren R\u00e4nder dann einerseits die angeschwollenen W\u00e4nde der Blase des dritten Ventrikels, Sehh\u00fcgel und die R\u00e4nder der Blasen des Seiten Ventrikels, hintere Schenkel des Fornix sind. Die Glandula pinealis ist nach v. Baer die aufgehobene und sp\u00e4ter verk\u00fcmmerte Decke der dritten Hirnh\u00f6hle. Der Ursprung des Balkens der S\u00e4ugethiere, von dem die \u00fcbrigen Thiere nur eine Spur haben, ist noch nicht sicher gekannt, v. Baer h\u00e4lt die vordem Schenkel des Fornix f\u00fcr identisch mit der urspr\u00fcnglichen rnittlern Einsenkung des grossen Gehirns und vermuthet, dass sich die W\u00e4nde der Hemisph\u00e4ren nochmals Zusammenlegen und verwachsen, weil sonst der Ventriculus septi pellucidi nicht gebildet werden k\u00f6nnte. Das R\u00fcckenmark des F\u00f6tus unterscheidet sich von dem des Erwachsenen, dass es eine Spur des urspr\u00fcnglichen Canals enth\u00e4lt, und dass es viel tiefer im Canal des R\u00fcckgrats hinahreicl.t, v. Baer, Enlwicktdungs, geschuhte I. und IE V ergb","page":744},{"file":"p0745.txt","language":"de","ocr_de":"Sinnesorgane.\t745\nMeckel, Archiv 1815. Tiedemann, Anatomie und Bildungsgeschichte des Gehirns. N\u00fcrnb. 1816.\nUnter den perennirenden Hirnformen gleicht das Gehirn der Petromvzon und Ammocoetes auffallend der f\u00f6talen Hirnform der h\u00f6heren Thiere, Amphibien, V\u00f6gel, S\u00e4ugethiere. Es besitzt eine besondere Blase des dritten Ventrikels mit oberer OefFnung und eine Vierb\u00fcgelblase, diese beiden sind bei den Knochenfischen in eine grosse Blase vereinigt, und diese kann daher nicht auf eine einzelne Hirnabtheilung der h\u00f6heren Thiere reducirt werden. Ver gl. Neurol, d. Myxinoiden a. a. O.\nDie Nerven entstehen wahrscheinlich sogleich in ganzer L\u00e4nge, vom Centrum bis zu den Organen, denen sie bestimmt sind; eine centripetale Entwickelung derselben ist ebenso wenig zu erweisen, als eine vom Centrum ausgehende.\n6. Sinnesorgane.\nDas Auge entsteht zum Theil als Ausst\u00fclpung der Gehirnzelle des dritten Ventrikels, an ihm wiederhohlen sich die H\u00e4ute des Gehirns zum Theil, n\u00e4mlich die fibr\u00f6se Haut und die Gef\u00e4sshaut. Zu einer gewissen Zeit der Entwickelung bemerkt man am Auge aller Thiere an der Innern Seite eine Art Spalte, welche von v. Baer f\u00fcr eine verd\u00fcnnte Stelle der Netzhaut angesehen wurde, welche aber von Huschke als wirkliche Spalte best\u00e4tigt wird. Das Auge der Fische beh\u00e4lt zeitlebens eine Spulte der Netzhaut von der Mitte bis gegen den vordem Rand. Anfangs ist die Netzhaut eine blasenartige Austreibung des Hirns, welche durch den hohlen Sehnerven mit dem Hirne zusammenh\u00e4ngt. Nach Huschke\u2019s neueren Untersuchungen reducirt sich der Raum der Augenblase des Vogelf\u00f6tus vom zweiten Tage der Bebr\u00fctung, sp\u00e4ter auf die Distanz zwischen Membrana Jacobi und retina; der sp\u00e4tere Sack der durchsichtigen Medien communient niemals mit der Hirnh\u00f6hle. Die Linsencapsel entsteht zufolge Huschke\u2019s Beobachtungen als eine Einst\u00fclpung der Integumenta communia, so dass sie zu einer gewissen Zeit nach aussen offen ist. Die Einst\u00fclpung von aussen dr\u00fcckt die \u00e4ussere gew\u00f6lbte Fl\u00e4che der Blase des zweiten Tages gegen den Sehnervencanal hin und der vordere Theil der Blase schl\u00e4gt sieh nach innen zur\u00fcck, wie eine ser\u00f6se Haut. Das eingest\u00fclpte Blatt wird zur sp\u00e4tem Retina, das innere Blatt wird Membrana Jacobi. Der wahre Spalt des Vogelauges entsteht nach Huschke\u2019s jetziger Ansicht vor dem 3. Tage nicht, nicht eher als die Linse und ist Folge der Einst\u00fclpung der Netzhaut. Der Eindruck der Linsencapsel auf die primitive Augenblase ist rundlich, zieht sich aber nach dem Sehnervencanal, nach der untern Mittellinie des K\u00f6rpers hin. Diese Ausbucht des Eindrucks verwandelt sich in eine Furche. Die Spalte ist nur das Klaffen einer Falte, die jederseits aus zwei Bl\u00e4ttern besteht, sie f\u00fchrt also nicht in den hohlen Sehnerven. v. Baer a. a. O. Huschke in v. Ammon\u2019s Zeitschrift f. Ophth. 1835. 272. Die Tris scheint anfangs am vordem Rande der Choroidea noch zu fehlen, wenn nicht der vordere Rand derselben als die Uranlage der Iris\n48*","page":745},{"file":"p0746.txt","language":"de","ocr_de":"746 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. II. Abschn. Entwich!, d. Organe.\nangesehen werden muss. Dieser vordere Rand der Choroidea ist anfangs auch heim menschlichen Embryo an der innern untern ' Seite, die sp\u00e4ter zur untern wird, eingeschnitten, dagegen die Iris bei ihrem ersten Erscheinen vollst\u00e4ndig ist. Das Coloboma iridis, die Irisspalte an der untern Seite ist in sofern Hemmungsbildung, als ihre Entstehung mit dieser primitiven Spalte zusammenh\u00e4ngt. Es scheint sich aber hier so zu verhalten wie bei der Hasenscharte. Die Irisanlage wird durch unvollkommene Entwickelung an der Stelle des Choroidalspaltes gespalten. Vergl. Seiler \u00fcber die urspr\u00fcnglichen Bildungsfehler des Auges. Dresd. 1833.\nDas Auge der S\u00e4ugethiere und des Menschen zeichnet sich dadurch aus, dass es im f\u00f6talen Zustande eine zarte, das Sehloch verschliessende Membrana pupillaris besitzt, deren Blutgef\u00e4sse von den Gelassen der Iris an deren vorderer Fl\u00e4che ausgehen. Aus letzterm Umstande und auch daraus, dass sie sich nicht genau am Rande der Pupille, sondern kurz davor gegen die vordere Iris\u2014 fl\u00e4che inscrirt, wird wahrscheinlich, dass sie sich \u00fcber die vordere Fl\u00e4che der Iris fortsetzt, und sie mag wohl die ganze vordere Augenkammer auskleiden. Vom Pupillarrande der Iris geht ferner die ebenfalls gef\u00e4ssreiche Membrana capsulo-pupillaris des F\u00f6tus nach r\u00fcckw\u00e4rts gegen den Rand der Linsencapsel und verbindet diese mit dem Pupillarrande. Ihre Blutgel\u00e4sse stammen aus dem Rumus capsularis der Arteria centralis retinae, welcher den Glask\u00f6rper durchbohrend, an der hintern Wand der Linsencapsel eine Radiation von Gef\u00e4ssen gegen den Rand der Linsencapsel bildet. Diese Gef\u00e4sse geh\u00f6ren der Linsencapsel selbst nicht an und setzen sich in die Vasa capsulo-pnpillaria fort, die am Pupillarrand mit den Gef\u00e4ssen der Pupillarliaut und der Iris selbst Zusammenh\u00e4ngen. Durch Macei\u2019ation gelingt zuweilen die Abl\u00f6sung der Membrana capsulo-pupillaris von der eigentlichen Pupillarliaut, so dass die Pupillarhaut eine hintere, der Membrana capsulo-pupillaris angeh\u00f6rende Lamelle hat. Diese bildet mit der Membrana capsulo-pupillaris und der Gef\u00e4sshaut der tellerf\u00f6rmigen Grube einen geschlossenen Sack, auf dessen Grund die Linsencapsel angewachsen ist, w\u00e4hrend zwischen dem vordem, der Pupillarhaut verbundenen Theil des Sacks und der Linsencapsel sich die hintere Augenkammer befindet. Diese Gef\u00e4sse der Pupillarhaut und Capsulo-Pupillarhaut h\u00e4ngen beide mit denen der Iris zusammen. Henle de rnemhrana pupillari. Bonnae 1832. B.eicu de membrana pupillari. Berol. 1833. Valentis Entwickelungsgeschichte. B. Langenbeck. de retina. G\u00fclt. 1836. Krause in Muell. Archiv 1837. XXXV.\nDie Augenlider der S\u00e4ugethiere und des Menschen entstehen wie bei den V\u00f6geln zuerst als Ring, ziehen sich dann \u00fcber den Augapfel, so dass sie sich erreichen und fest mit einander verkleben, bis sie sich entweder vor der Geburt oder bei denRaub-thieren nach derselben wieder trennen.\nDas Ohr besteht ebenfalls aus einem vom innen und einem von aussen gebildeten Theil. Das Labyrinth bildet sich an der Hirnausst\u00fclpung des hohlen H\u00f6rnerven. Man sieht das Labyrinth zuerst in Form eines l\u00e4nglichen Bl\u00e4schens am Hinterkopf der zarten Embryonen, welches \u00fcber der zweiten sogenannten Kiemenspalte","page":746},{"file":"p0747.txt","language":"de","ocr_de":"Darmcanal.\n747\nerscheint. Diese Urgestalt beh\u00e4lt wenigstens der feste Theil desselben bei den Cyclostomen. Nach Valentins Untersuchungen stellt das Labyrinth des F\u00f6tus ein selbstst\u00e4ndiges, l\u00e4nglich rundes Gebilde dar, bald verl\u00e4ngert sich das innere Ende der l\u00e4nglich runden H\u00f6hlung und wird, indem es eine Wendung im Kreise zu machen beginnt, zu einer rundlichen H\u00f6hle. Die Windungen bilden sich dann folgendermassen. Es wird n\u00e4mlich die Wand der Schnek-kenblase, wenn man sich in die H\u00f6hle derselben versetzt denkt, wie eingegraben, und zwar zuerst nach der Richtung von dem Vestibulum aus gegen die Mitte der Sch\u00e4delbasis hin, und dann weiter fort spiralig bis zum obersten Ende der Perpendicnlaraxe. Hierdurch entsteht von aussen die der Schneckenschale \u00e4hnliche \u00e4ussere Gestalt, im Innern ein tief eingefurchter Halbcanal, dessen W\u00e4nde mit ihren inneren R\u00e4ndern immer n\u00e4her aneinanderr\u00fccken und indem sie endlich zusammenstossen, einen cylinder- oder kegelf\u00f6rmigen K\u00f6rper als Achse der Windung darstellen. Die Schliessung der fr\u00fcheren Schneckenfurche erfolgt bei verschiede, nen S\u00e4ugethieren zu verschiedener Zeit der Entwickelung. Die Bogeng\u00e4nge der S\u00e4ugethiere entstehen nach demselben Beobachter als Aussackungen des Vestibulums, welche in den Vorhof wieder eindringen. Valentin, Eni Wickelungsgeschichte p. 206.\nDie Eustachische Trompete, die Paukenh\u00f6hle und der \u00e4ussere Geh\u00f6rgang sind nach Huschke\u2019s Beobachtungen (Isis 1831. 951.) Ueberbleibsel der ersten sogenannten Kiemenspalte. Das hier entstehende Trommelfell theilt den Raum der ersten Kiemenspalte in einen innern Raum, Pauke, und einen \u00e4ussern Geh\u00f6rgang. Hier ber\u00fchren sich hernach zwei Hautsysteme, die Schleimhaut des Mundes, welche als Divertikel durch die Trompete in die Trommel eindringt, und die \u00e4ussere Haut, beide H\u00e4ute sind nur durch die eigene Membran des Trommelfelles getrennt. Ueber die Genesis der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen ist schon oben p. 737 das N\u00f6thige mitgetheilt. Die Verkn\u00f6cherung derselben erfolgt beim Menschen schon im vierten Monat.\nUeber die Entwickelung der Nase siehe oben p. 736,\n7 Darm canal.\nDer Darmcanal ist anfangs ein gleichf\u00f6rmiger gerade verlaufender Schlauch, welcher sich erst allm\u00e4hlig in seine Abtheilungen Magen, D\u00fcnndarm und Dickdarm gliedert. Der Magen ist anfangs auch noch gerade, sein Cardialende oben, sein Pylorus unten. Die ersten Lagever\u00e4nderungen sind, dass der Magen sich schief lagert, dass der D\u00fcnndarm vom Magen ab die Richtung gegen den Nabel und Ductus omphalo-entericus nimmt, am Nabel ein Knie bildet und von dort wieder zur\u00fcckgeht der Mittellinie sich n\u00e4hernd, um nach dem After hin umzubiegen. An der vom Nabel r\u00fcckkehrenden Strecke liegt die Grenze zwischen D\u00fcnndarm und Dickdarm, und der untere Theil des D\u00fcnndarms ist es, der mit dem Ductus omphalo-entericus verbunden ist. An dieser Stelle des D\u00fcnndarms kommt bei Erwachsenen leicht ein Divertikel des D\u00fcnndarms vor, dessen krankhafte Entstehung mit dem","page":747},{"file":"p0748.txt","language":"de","ocr_de":"748 VIII. Buch, V. d. Entwickelung. II. Abschn. Entwickl. d. Organe,\nVerh\u00e4ltniss zum Gang des Nabelbl\u00e4schens im Zusammenh\u00e4nge steht. Indem sich der zum Nabel gebende obere Theil des Darms verl\u00e4ngert und windet, der vom Nabel zur\u00fcckgehende untere Theil des Darms aber sich erbebt, so entsteht der grosse Bogen oder Kranz des Dickdarms um den grossem Theil des d\u00fcnnen Ged\u00e4rmes. Meckel, Archiv 1817. Mueller, ebend. 1830. Ueber die Bildung des Peritoneums und Gekr\u00f6ses siebe oben p. 678.\nDas Gekr\u00f6se ist anfangs gerade, wie der Darm selbst, und auch der anfangs gerade gestellte Magen hat sein Mesogastrium, welches von seiner grossen Curvatur ausgehend ihn an die hintere Mittellinie der Bauchh\u00f6hle haftet. Wie dieses Mesogastrium .sich mit dem Magen querstellt, Omentum majus wird und mit dem Colon transversum sich sp\u00e4ter verbindet, ist schon oben Band I. 3. Aufl. p. 402 auseinandergesetzt worden, wie auch, dass die Milz innerhalb des Mesogastriums entsteht, und also so gut wie die Mesenterialdrusen ein symmetrisches Organ ist. Ueber die Entwickelung der Leber, des Pancreas und der Speicheldr\u00fcsen siehe oben Bd. J. 3. Aufl. p. 377. Bd. II. p. 687.\n8. Ifherawei'l\u00fceugr.\nlieber die erste Entwickelung der Lungen siebe oben p. 699. Die Langen entstehen zuerst als ll\u00f6ckerchen an der Bauehw\u2019an-dung der Speiser\u00f6hre, an ihrem vordem Umfange h\u00e4ngen sie zusammen, und hier zieht sich ein Stiei in die Luftr\u00f6hre aus. Bald erscheint die Lunge als ein Haufen von Blindd\u00e4rmchen, welche von den Luftr\u00f6hren\u00e4sten ausgehen. In Hinsicht des einzelnen und der Entwickelung der Luftr\u00f6hre und des Kehlkopfes verweise ich auf die besondere Werke: v. Baer a. a. O. Rathke JS'ova Act. ]\\at. Cur. XIV. 1. ft. 162. Valentin a. a. O. p. 49.\nIn Hinsicht des Zwerchfells hat v. Baer beobachtet, dass je weiter man in der Entwickelung zur\u00fcckgeht, um so weiter nach vorn stehend das Ziverchfell angetroffen wird. So sah er an Schweinchen von \u2018 Zoll L\u00e4nge, wo die Herzkammern so eben im Rumpfe Platz genommen, den obere Rand des Zwerchfelles an den Anfang des Rumpfes, scheinbar an den ersten Brustwirbel gehen. Mit Sicherheit konnte er das Zwerchfell noch erkennen, wenn die ungetheilte Herzkammer kaum noch in den Rumpf einzutreten anfing, a. a. O. II. p. 226.\n9. Wolff\u2019s che K\u00f6rper, Harnwerkzcu ge, Ges clil e c fits th eile.\nDie WoLFF\u2019schen K\u00f6rper sind zuerst von C. Fr. Wolff gesehen, aber f\u00fcr die Uranlage der Nieren gehalten worden. Oken kannte sie bei S\u00e4ugethicren, Meckel kannte sie ebenfalls beim Menschen und den S\u00e4ugethieren, erkannte jedoch ihre Eigent\u00fcmlichkeit nicht und stellte sie mit den Nebenhoden zusammen. Rathke hat sie bei V\u00f6geln, S\u00e4ugethieren und beschuppten Amphibien untersucht, die Unabh\u00e4ngigkeit der Nieren von ihnen gesehen, er stellte sie noch mit dem Nebenhoden zusammen, w\u00e4hrend sie bei den Weibchen verschwinden. Da sie bei den Fischen","page":748},{"file":"p0749.txt","language":"de","ocr_de":"Harnwerkzeuge, Geschlechtstheile.\n749\nund nackten Amphibien zu fehlen schienen, so waren sie bei allen Thieren beobachtet die eine Allantois und Amnion haben und ihre Existenz schien damit zusammenzuh\u00e4ngen. Bei den Fischen fehlen sie wirklich. Ich fand sie jedoch bei den Batrachiern im h\u00f6tus und Larvenzustande, und sie haben bei einem Ausf\u00fchrungsgang hier eine von den Gesclilechtstheilen und Nieren so entfernte Lage, im obersten Theile der Bauchh\u00f6hle dicht unter den Kiemen, dass ihre g\u00e4nzliche Unabh\u00e4ngigkeit von den Gesclilechtstheilen sowohl, als Nieren offenbar war, gleichwie ich auch den Nebenhoden der S\u00e4ugethiere sich v\u00f6llig unabh\u00e4ngig vom WoLFr\u2019scben K\u00f6rper zwischen jenem und dem Hoden an diesem sich entwickeln sah. Sie sind offenbar Absonderungsorgane, denn sie haben Aus-i\u00fchrungsg\u00e4nge, welche in die Kloake einm\u00fcnden, und ich sah beim Vogelf\u00f6tus ein weissgelbes Secret in ihren Can\u00e4len und ihrem Ausl\u00fchrungsgang, welches in den Can\u00e4len verschoben werden konnte. Die Beobachtung von Jacobson, dass sich schon in den ersten Tagen der Bebr\u00fctung des Vogelembryo Harns\u00e4ure uri Liquor Allantoidis der V\u00f6gel vorlindet, w\u00e4hrend sich die Nieren erst am sechsten Tage zeigen, macht es auch wahrscheinlich, dass sie dieselbe Bedeutung wie die Nieren haben, un d als Pri.. mordialnieren, Vornieren dasselbe Verh\u00e4ltnis zu den Nieren haben, wie die Kiemen der nackten Amphibien zu ihren sp\u00e4teren Lungen. Daf\u00fcr spricht auch, dass in diesen Organen zufolge Rathke\u2019s Beobachtungen auch die Malpighischen K\u00f6rperchen der Nieren vorhanden sind. Die Dauer der Woi.FF\u2019schen K-\u00f6rper in den verschiedenen Classen ist sehr verschieden lang. Am l\u00e4ngsten dauern sie bei den nackten Amphibien. Bei den Frosch- und Salamanderlarven bilden sie einen Haufen von Blindd\u00e4rmchen im obersten Theil der Bauchh\u00f6hle, von welchen ein Ausf\u00fchrungsgang jederseits der Wirbels\u00e4ule herabgellt. Sie dauern hier das ganze Larvenleben aus. Bei den V\u00f6geln entstehen sie am dritten Tage der Bebr\u00fctung und reichen vom Herzen bis ans hintere Ende. Sie bestehen auch aus Blindd\u00e4rmchen, die zu einem Ausf\u00fchrungsgang verbunden sind, welcher jederseits in die Cloake ausm\u00fcndet. Hinter ihnen bilden sich die Nieren, \u00fcber diesen die Nebennieren. Indem sicli die Nieren vergr\u00f6ssern, werden die WoLFF\u2019schen K\u00f6rper allm\u00e4hlig kleiner. Die Hoden oder Eierst\u00f6cke entstehen vor ihnen und hei den Weibchen unterscheidet man immer auch einen vom Ausf\u00fchrungsgang des Woi.FF\u2019schen K\u00f6rpers verschiedenen Eierleiter (der rechte Eierstock und Eierleiter verk\u00fcmmern hei den meisten V\u00f6geln mit Ausnahme einiger Raubv\u00f6gel). Bei den M\u00e4nnchen sah ich keinen besondern Samenleiter ausser dem Ausf\u00fchrungsgang des WoLFFsehen K\u00f6rpers, vielmehr schien eine Verbindung zwischen Hoden und Ausf\u00fchrungsgang des WoLFF\u2019schen K\u00f6rpers durch Vasa efferentia selbst einzutreten. Mit fortschreitender Entwickelung werden die WotFF\u2019schen K\u00f6rper kleiner, nach dem Auskriechen findet man noch einen Best von ihnen auf den Nieren vor.\nBei den S\u00e4ugethieren sind die K\u00f6rper bohnenf\u00f6rmig ; sie bestehen aus'quergelagerten Blindd\u00e4rmchen, hinter ihnen entsteht die Niere und die Nebenniere. Diese K\u00f6rper sind anfangs so","page":749},{"file":"p0750.txt","language":"de","ocr_de":"750 VIII, Buch. V, d. Entwickelung, IL Abschn. Entwickl. d. Organe,\ngross, dass sie die Nieren ganz bedecken, mit dem Wacbsthnm der Nieren werden sie relativ kleiner und r\u00fccken mehr herab. Ihr Ausf\u00fchrungsgang f\u00fchrt aus dem untern Theil des Organs in den anf\u00e4nglichen Sinus urogenitalis. Entlang dem \u00e4ussern Rande des Organes bildet sich der ausf\u00fchrende Geschlechtstheil Tuba oder Vas deferens noch gleich aussehend und frei endend, am in-nern hohlen Rande bildet sich Hoden oder Eierstock unabh\u00e4ngig. Sp\u00e4ter setzen sich das ausf\u00fchrende Rohr und der Hoden bei den M\u00e4nnchen durch entstehende Quergelasse in Verbindung ; bei den Weibchen aber \u00f6ffnet sich das Ende des ausf\u00fchrenden Geschlechtsrohrs. Bei beiden Geschlechtern vergeht der WoLFr\u2019sche K\u00f6rper seihst ganz, ohne zu etwas anderm verwandt zu werden, der Nebenhoden der M\u00e4nnchen entwickelt sich unabh\u00e4ngig, so weit er aus der Coni vasculosi besteht, aus den entstandenen Verbindungen zwischen dem Rohr und Hoden; so weit er aus dem Canal des Nebenhodens besteht, bildet er sich durch blosse Windungen des ausf\u00fchrenden Geschlechtstheils. So weit sich dieser Canal in starke Windungen legt, entlang dem \u00e4ussern Rande vom WoLFF\u2019schen K\u00f6rper wird er Nebenhoden; wo diese Windungen aufh\u00f6ren, geht ein Band, das Gubernaculum Hunteri, zum Leistencanal, es ist schon vorhanden, ehe die Windungen ausgebildet sind. Beim Weibchen bleibt der Canal gerade, von ihm geht, an derselben Stelle wie bei den M\u00e4nnchen, ein Band zu dem Leistenring, es ist das sp\u00e4tere Ligamentum uteri teres; die Strecke des Rohrs von diesem Bande ab bis ans untere Ende wird Uterushorn, bei den Thieren mit einem Mittelst\u00fcck des Uterus bildet sich dieses aus der Verbindung beider. Der menschliche Uterus ist anfangs auch geh\u00f6rnt, seine H\u00f6rner verk\u00fcrzen sich allm\u00e4hlig und ziehen sich in das sich entwickelnde Mittelst\u00fcck, den Fundus hinein. Beim Menschen sind \u00fcbrigens die WoLFF\u2019schen K\u00f6rper nur in der fr\u00fchesten Zeit zu beobachten, sie verschwinden viel fr\u00fcher als bei den S\u00e4uge-thieren. In der Peritonealfalte zwischen Eierstock und Tuba sieht man mittelst des Mikroskops bei Embryonen aus der H\u00e4lfte der Schwangerschaft oder noch sp\u00e4ter Spuren dieser Organe. Man konnte vermuthen, dass bei den Wiederk\u00e4uern und Schweinen die WoFFF\u2019schen K\u00f6rper und ihre Can\u00e4le sich in die bei diesen Thieren von Malpighi und Gartner beobachteten MALPiGHi\u2019schen Can\u00e4le umbilden, welche an den Seiten des Uterus liegen und sich in die Scheide \u00f6ffnen, aber diess ist keineswegs bewiesen.\nDie Embryonen der S\u00e4ugethiere und des Menschen haben dann einen gemeinschaftlichen nach aussen f\u00fchrenden Sinus urogenitalis, in welchen die Ausf\u00fchrungsg\u00e4nge der WoLFF\u2019schen K\u00f6rper, die Ureteren und die ausf\u00fchrenden Gescldechtstheile aus-m\u00fcnden. Aus diesem Canal, der sich in den Urachus fortsetzt, bildet sich sp\u00e4ter durch Abtheilung von oben oder vorn eine Pars urinaria und genitalis, aus der erstem wird die Urinblase gegen den Urachus hin, aus dem letztem entwickeln sich Samenbl\u00e4schen oder Mittelst\u00fcck des Uterus. Die \u00e4usseren Geschlechts-theile sind anfangs in beiden Geschlechtern gleich. Tiedemann beobachtete anfangs keine, dann gegen die 5. \u2014 6. Woche eine Cloak\u00f6ffnung, wo sp\u00e4ter (10. oder 11. Woche) sich der After und","page":750},{"file":"p0751.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der thierischen Gewebe.\n751\nder Ansgang des Sinus urogenitalis durch eine Querbr\u00fccke scheidet. Die Urogenital\u00f6ffnung ist in beiden Geschlechtern gleich, sie wird bald von zwei Hautfalten begrenzt, vor ihr bildet sich ein penisartiger K\u00f6rper mit Eichel, welcher unten gefurcht ist. Die S\u00e4ume seiner Furche laufen r\u00fcckw\u00e4rts auseinander zu den Seiten der Urogenital\u00f6ffnung, weiter aussen von den genannten Hautfalten umgeben. Bei den Weibchen wird dieser K\u00f6rper Clitoris, indem er sich mehr zur\u00fcckzieht, und seine S\u00e4ume werden kleine Schamlippen, von den grossen Hautfalten oder grossen Schamlippen umgeben. Bei den M\u00e4nnchen werden die S\u00e4ume der Furche an der untern Fl\u00e4che des Penis (gegen die 14. Woche) vereinigt und dadurch entsteht die Harnr\u00f6hre, so weit sie am Penis liegt.\" Die grossen noch leeren Hautfalten nehmen sp\u00e4ter im 8. Monat die Hoden aus der Bauchh\u00f6hle auf. Zuweilen schliesst sich die Harnr\u00f6hre nicht (Hypospadia) und durch das Zur\u00fcckbleiben der Hoden im Bauche kann der Schein des Hermaphroditen noch vergr\u00f6ssert werden. Dieser Zustand ist aber f\u00fcr sich bloss Hemmungsbildung der m\u00e4nnlichen Geschlechtstheile, welche mit m\u00e4nnlichen Neigungen und anderen Zeichen des Mannes verbunden seyn kann. Es giebt allerdings Hypospaden, bei denen die Hemmung so gross ist, dass es auch in allen anderen Beziehungen nicht zu den Erscheinungen der Mannheit kommt. Gehemmte m\u00e4nnliche Individuen sind deswegen noch keine wahren Hermaphroditen. Bei den Hermaphroditen trifft man Coincidenz m\u00e4nnlicher und weiblicher Organe, z. B. alle m\u00e4nnliche Geschlechtsorgane und ausserdem noch einen Uterus mit Tuben ohne Eierstock. Vollkommener Hermaphroditismus mit doppelten keimbereitenden Geschlechtsorganen, Hoden und Eierstock ist noch nicht sicher beim Menschen beobachtet. Bei den Insecten sind Hermaphroditen, mit m\u00e4nnlichen Organen auf der einen, weiblichen auf der andern nicht selten.\nSo lange die Hoden in der Bauchh\u00f6hle liegen, sind sie durch einen Ueberzug vom Peritoneum, welcher in ein Gekr\u00f6s, Mesorchium, ausl\u00e4uft, festgehalten und besitzen noch keine Tunica vaginalis testiculi. Sie folgen beim Hinabsteigen durch den Leistenring dem Gubernaculum Hunteri, vor ihnen her geht aber und zwar unabh\u00e4ngig von ihrem Herabsteigen ein beutelf\u00f6rmiger Fortsatz des Bauchfells, Processus vaginalis peritonei, durch den Leistenring in den Hodensack. Sie senken sich, mit ihrem Gekr\u00f6se immer an das Peritoneum angeheftet, in diesen Beutel, und indem sich dieser meist noch vor der Geburt \u00fcber ihnen schliesst, liegen sie in einer von der Bauchh\u00f6hle getrennten ser\u00f6sen H\u00f6hle der Tunica vaginalis testiculi. Zuweilen ist dieser Canal nach der Geburt noch offen und giebt Veranlassung zur Hernia ingui-nalis congenita.\nDie Nieren des F\u00f6tus bestehen aus getrennten Pyramiden mit corticalem Ueberzug, Renculi; diese verschmelzen hernach. Die Nebennieren des S\u00e4ugethierf\u00f6tus sind nicht verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig gr\u00f6sser, wohl aber die des Menschen, welche anfangs sogar die Nieren ganz bedecken.\nJ. Ch. Mueller de genitalium eeolutione. Iialae 1815. Rathke, Beitr\u00fcge zur Geschichte der Thierwelt 3. und Abhandl. zur Bildungs-","page":751},{"file":"p0752.txt","language":"de","ocr_de":"752 VIII. Buch. V. d. Entwickelung, II. Abschn. Entwickl. d. Organe.\nund Entwickelungsgeschichte. J. Mueller in Meckel s Archie 1829. Bildungsgeschichte der Genitalien. D\u00fcsseldorf 1830. Jacobson, \u00fcber die Primordialnieren. Copenhagen 1830. Valentin, Entwickelungsgeschichte. Tiedemann, Anat. der kopflosen Missgeburten. Landshut 1813. p. 84. Seiler de testiculorum descensu. Lips. 1817.\nII. Capital. Entwickelung der tliierischen Gewebe.\nEs ist schon an mehreren Stellen dieses Werkes der neueren Beobachtungen \u00fcber das Zellenleben und die Entwickelung der Zellen gedacht worden. Hier ist der Ort sie im Zusammenh\u00e4nge anzuf\u00fchren. Die neuere Physiologie der Pflanzen hatte bereits zum Resultat, dass die gesonderten Bildungen der Zellgewebe, Fasern, Gef\u00e4sse, Spiralgef\u00e4sse sich in der Entwickelung auf Zellen reduciren lassen. Die Entstehung der Zellen ist nun durch eine wichtige Entdeckung von Schleiden (Muell. Arch. 1838. p. 137.) aufgekl\u00e4rt. Sie geht von R. Bbowk's Zellenkern aus, Avelchen Schleiden daher Cytoblast nennt. Seine Farbe ist meist gelblich, seine innere Structur granul\u00f6s, Schleiden hat im Innern des Cytoblasten noch einen Kern, das Kernk\u00f6rpereben entdeckt, welches bald als Fleck, bald als hohles K\u00fcgelchen erscheint. Cytoblasten bilden sich frei innerhalb der Zellen in einer Masse von Schleimk\u00f6rnchen; sobald sie ihre v\u00f6llige Gr\u00f6sse erreicht haben, erhebt sich auf ihnen ein feines durchsichtiges Bl\u00e4schen, die junge Zelle, das auf dein Hachen Cytoblasten wie ein' Uhrglas auf einer Uhr aufsitzt; indem es gr\u00f6sser wird, erscheint der Cytoblast als ein, in einer der Seitenw\u00e4ndc der jungen Zelle eingeschlossener K\u00f6rper; seine Bedeckung an der innern Seite ist nur \u00e4usserst fein und gallertig und nur selten zu beobachten, wird auch bald re-sorbirt, zugleich mit dem Cytoblasten. Die jungen Zellen liegen frei in der Mutterzelle und nehmen, indem sie sich gegen einander abplatten, die polyedrische Form an. Schwann\u2019s Entdeckungen (Fror. Not. 183S. Ar. 91. 102. 112. Schwann, mikroskopische Untersuchungen \u00fcber die Uebereinstimmung in der Structur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen. Berlin 1838.) \u00fcber die Zellen der Thiere und die primitive Uebereinstimmung der Structur der Thiere und Pflanzen bestehen nun in der Hauptsache im Folgenden.\nIn der Chorda dorsalis, deren zelligen Bau ich bereits vor l\u00e4ngerer Zeit nachgewiesen, fand derselbe die Keine der Zellen. Jede Zelle der Chorda dorsalis des Pelobates fuscus hat ihren scheibenf\u00f6rmigen Cytoblasten, \u2018welcher an der innern Wand der Zelle anliegt; in diesem Scheibchen sieht man einen, selten zwei oder drei scharf umschriebene Flecke. Innerhalb der Zellen der Chorda dorsalis bilden sich frei schwimmende junge Zellen, wie bei den Pflanzen.\nDie primitive Bildung der Knorpel ist nach Schwann\u2019s Beobachtungen ganz zellig. An der Spitze des Knorpels der Kiemen-strablen der Fische sieht man kleine polyedrische, dicht an einander liegende Zellenh\u00f6hlen mit \u00e4usserst d\u00fcnnen Scheidew\u00e4nden.","page":752},{"file":"p0753.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der thierischen Gewebe.\n753\nDiese Zellen haben einen runden k\u00f6rnigen Kern. Gegen die Mitte des Kiemenstrahls sieht man die Zwischenw\u00e4nde der Zellenh\u00f6hlen allm\u00e4hlig dicker. R\u00fcckt man weiter gegen die Wurzel des Strahles fort, so h\u00f6rt die Unterscheidbarkeit der besonderen Zellenw\u00e4nde auf, und es bleibt nur das Ansehen einer homogenen Substanz \u00fcbrig, in der nur einzelne kleine Ii\u00f6hlen Vorkommen; um einzelne Zellenh\u00f6hlen sieht man einen Ring als Spur der ei-genth\u00fcmlichen Zellenwand, so dass die ganze Zwischensubstanz der Zellenh\u00f6hlen nicht von den Zellenw\u00e4nden gebildet seyn kann, sondern die Intercellularsubstanz hier wesentlich zur Bildung der Knorpelsubstanz beitr\u00e4gt. Diese Intercellularsubstanz war schon zur Zeit, wo die Zellenw\u00e4nde sich noch ber\u00fchrten, hier und da als ein dreieckiger Zwischenraum dreier sich ber\u00fchrender Zellen wahrnehmbar. Die Knorpelbildung beruht hier theils auf der Verdickung der Zellenw\u00e4nde, theils auf der Intercellularsubstanz; bei den Knorpeln der h\u00f6heren Tliiere wurde die Verdickung der Zellenw\u00e4nde nicht beobachtet, und die Hauptmasse des sp\u00e4tem Knorpels scheint der entstandenen Intercellularsubstanz anzugeh\u00f6ren, worin die Knorpelzellchen mit einigen Generationen liegen bleiben. Die Entwickelung der Zellen auf die Weise wie bei den Pflanzen wurde an den Kiemenknorpeln der Larve von Pe-lobates fuscus beobachtet, deren Zellen theils blosse Kerne, theils kleinere Zellen mit einem gleichen Kern an der innern Wand, und wenig gr\u00f6sser als der Kern selbst, theils noch gr\u00f6ssere Zellen enthalten, so dass alle Uebergangsstufen ein vollst\u00e4ndiges Bild der Entwickelung der Zellen lieferten. Der Process der Knorpelbildung geht, wie es scheint, ohne Antlieil von Blutgef\u00e4ssen auf eine dem Pflanzenwachsthum analoge Weisse vor sich. Was die nach der Ossification sichtbaren Corpuscula radiata der Knochen betrifft, so ist die Bildung ihrer Kan\u00e4lchen noch nicht klar. Je nachdem die Knorpelk\u00f6rperchen die H\u00f6hlen der Zellen sind, deren verdickte und unter einander wie mit der Intercellularsubstanz verschmolzene W\u00e4nde die Knorpelsubstanz bilden; oder je nachdem die Knorpelk\u00f6rperchen die ganzen Zellen sind, und die Zwischensubstanz der Zellenh\u00f6hlen nur die Intercellularsubstanz ist, w\u00e4ren jene Strahlen nach Schwann entweder Kan\u00e4lchen, die von der Zellenh\u00f6hle in die verdickten Zellenw\u00e4nde eindringen, oder Verl\u00e4ngerungen der Zellen in die Intercellularsubstanz. Im erstem Falle w\u00fcrden diese Kan\u00e4lchen mit den Porenkan\u00e4lchen der Pflanzenzellen zu vergleichen sein, im zweiten w\u00fcrden sie Verl\u00e4ngerungen der Pflanzenzellen entsprechen. Schwann ist das Letztere wahrscheinlicher.\nAusser der Bildung junger Zellen in schon vorhandenen Zellen unterscheidet Schwann bei den Thieren auch noch die Bildung neuer Zellen ausser schon vorhandenen Zellen in einer zur Zellenbildung geneigten structurlosen Substanz, Cytoblastema. Gew\u00f6hnlich scheint sich dabei auch zuerst der Kern und dann um diesen die Zelle zu bilden. Bei vielen thierischen Geweben entstehen die neuen Zellen ausser den schon vorhandenen. In dem einen Fall befindet sich das Cytoblastem in, in dem andern ausser den schon vorhandenen Zellen,","page":753},{"file":"p0754.txt","language":"de","ocr_de":"754 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. II.Abschn. Entwicht. d. Organe.\nDie Gewebe des thierischen Organismus theilt Schwann in Beziehung auf ihre Entstehung in f\u00fcnf Klassen:\nI.\tIsolirte selbstst\u00e4ndige Zellen, die entweder in Fl\u00fcssigkeiten sich befinden oder bloss lose und beweglich nebeneinander liegen.\nII.\tSelbstst\u00e4ndige Zellen, zu einem zusammenh\u00e4ngenden Gewebe fest an einander gelagert.\nIII.\tGewebe, in denen die Zellen w\u00e4nde, nicht aber die Zellenh\u00f6hlen mit einander verschmolzen sind.\nIV.\tFaserzellen, wo selbstst\u00e4ndige Zellen sich nach einer oder mehreren Seiten in Faserb\u00fcndel verl\u00e4ngern.\nV.\tZellen, bei denen die Zellenw\u00e4nde und Zellenh\u00f6hlen mit einander verschmolzen sind.\nZur ersten Klasse geh\u00f6ren die Blutk\u00f6rperchen, deren bl\u00e4schenartige Natur C. H, Schultz bewies, deren Kern nach dem Aufschwellen von Wasser, wie Schwann bemerkt, an der innern Wand sitzen bleibt; und deren Zelleninhalt der rothe F\u00e4rbestofF ist; ferner die Lymphk\u00f6rperchen, die Schleimk\u00f6rperchen und Eiterk\u00f6rperchen. Alle diese sind Zellen mit Kern.\nZur zweiten Klasse geh\u00f6rt das Ilorngewebe, Pigmentgewebe und Gewebe der Crystalllinse. Die Zellen sind selbstst\u00e4ndig, wenn auch ihre W\u00e4nde zuweilen verschmelzen.\n1.\tEpithelium. Meist runde Zellen mit einem Kern, der an ihrer innern Fl\u00e4che anliegt, mit ein oder zwei Kernk\u00f6rperchen. Im Zusammenh\u00e4nge werden sie polyedrisch ; an der \u00e4ussern Haut der Froschlarve sah Schwann auch zwei Kerne in der Zelle, und eine Epitheliumzelle mit Kern in einer grossem Zelle, was bei S\u00e4ugethieren nach Henle nicht vorkommt. Von der kugeligen Grundform aus erleiden die Epitheliumzellen Formver\u00e4nderungen nach zwei Richtungen, entweder die Zellen platten sich zu Tafeln ab, wo der Kern in der Mitte der einen Fl\u00e4che bleibt, zuweilen sind diese platten Zellen in die L\u00e4nge gezogene Streifen, wie nach Henle am Epithelium der Gef\u00e4sse. Die jungen Zellen entstehen unter den alten und nehmen an H\u00f6he ab, je mehr sie an die Oberfl\u00e4che kommen, wie Henle zeigt; oder die Zellen verl\u00e4ngern sich in Cylinder, wie sie Henle in der Darmschleimhaut entdeckte.\n2.\tPigmentzellen. Sie haben an ihrer Wand einen Zellenkern, er veranlasst den in der Mitte der Pigmentzellen bekannten weissen Fleck. Der Kern hat gew\u00f6hnlich noch ein oder zwei Kernk\u00f6rperchen. Manche Pigmentzellen erleiden eine Verl\u00e4ngerung der Zelle in hohle Fasern nach mehreren Seiten, sternf\u00f6rmige Zellen.\n3.\tN\u00e4gel. Der Nagel eines reifen menschlichen F\u00f6tus besteht ans Schichten, die der Fl\u00e4che nach aufeinander liegen. Die Schichten sind an der untern Fl\u00e4che um so undeutlicher, je mehr man sich dem in der Hautfalte steckenden Theil des Nagels n\u00e4hert, und die hintere H\u00e4lfte dieses St\u00fccks zeigt gar keine Schichtung, sondern besteht aus polyedrischen Zellen mit deutlichen Zellenkernen. Lamellen des Nagels mit Essigs\u00e4ure behandelt, trennen sich in Pl\u00e4ttchen, in denen man selten einen undeutlichen Kern bemerkt. Die polyedrischen Zellen der Wurzel m\u00fcssen","page":754},{"file":"p0755.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der thierischen Gewebe.\n755\nsich durch Abplattung in Pl\u00e4ttchen verwandeln. Durch Abplattung der Zellen m\u00fcsste der Nagel nach vorn d\u00fcnner werden; diess wird aber wahrscheinlich dadurch ausgeglichen, dass auch eine Bildung von Epitheliurnpl\u00e4ttchen an der untern Fl\u00e4che des Nagels erfolgt. Auch das Horngew'ebe der Klauen besteht beim F\u00f6tus ganz aus Pflanzenzellen.\n4.\tFedern. Die Marksubstanz der Feder besteht aus po-lyedrischen Zellen. An der jungen Feder haben sie einen Kern an der Wand. Anfangs ist eine feink\u00f6rnige Masse da, in welcher zahlreiche kleine Zellenkerne liegen, von denen einige ein Kernk\u00f6rperchen zeigen, um diese bilden sich die Zellen. Die Zellen bilden sich nicht in Mutterzellen, sondern in der N\u00e4he der orga-nisirten Matrix der Feder, welche das Cytoblastem liefert. Die Fasern der Rinde des Schaftes entstehen aus grossen platten Epi-theliumzellen mit Kern und Kernk\u00f6rperchen. Es sind lange platte Streifen; aus jeder Zelle entstehen nun mehrere Fasern, endlich verschwindet alle Spur der Zelle. Die Strahlen der Federn sind eine Feder im Kleinen, der secund\u00e4re Schaft hat die Structur des Hauptschaftes, die secund\u00e4re Fahne besteht anfangs wieder aus mit ihren Kanten ancinandergelagerten Epitheliumzellen mit Kern.\n5.\tKr y stallinse. Die Fasern der Krystallinse entstehen aus den von Werneck. zuerst beobachteten Zellen. In der Linse eines acht Tage bebr\u00fcteten H\u00fchnchens findet man noch keine Fasern, sondern nur runde blasse Zellen, wovon einige einen Kern enthalten. Bei \u00e4lteren enthalten einige gr\u00f6ssere Zellen noch ein oder zw'ei kleinere in ihrem Innern. Bei Schweineembryonen von 3\\\" L\u00e4nge ist der gr\u00f6sste Theil der Fasern der Krystallinse schon fertig gebildet; ein Theil ist noch unvollendet; ausserdem sind noch viele runde Zellen da, die ihrer Umwandlung entgegensehen. Die vollendeten Fasern bilden einen Kern im Centrum der Linse. Die n\u00e4chsten Fasern sind hohle Verl\u00e4ngerungen von Kugeln. Hernach entstehen an diesen Fasern gez\u00e4hnelte R\u00e4nder, wie bei den gez\u00e4linelten Pflanzenzellen.\nIII. Klasse.\n4. Knorpel siehe oben p, 752.\n2. Z\u00e4hne. Der Schmelz eines unreifen Zahnes hat nach der Behandlung mit verd\u00fcnnter S\u00e4ure noch die vorherige Structur. Die innere Fl\u00e4che der die Zahnkrone umgebenden Schmelzmembran wird von kurzen sechseckigen Fasern gebildet, die senkrecht stehen, so dass jeder Faser der Schmelzmembran eine Schmelzfaser entspricht; sie scheinen verl\u00e4ngerte Zellen zu seyn; im frischen Zustande enthalten sie einen Kern mit Kernk\u00f6rperchen; \u00fcber ihnen an der Membran liegen runde Zellen, wahrscheinlich der junge Zustand jener. Die eigentlichen Schmelzfasern sind wahrscheinlich von der Schmelzmembran abgetrennt, mit dem schon gebildeten Schmelz verwachsen und verkn\u00f6chert. Die Substantia propria der Z\u00e4hne entsteht aus Fasern, zwischen welchen die Zahnkan\u00e4lchen verlaufen. Die Pulpa des Zahns besteht an der Oberfl\u00e4che aus cylindrischen Zellen mit Zellenkern und Kernk\u00f6rperchen, das Innere der Pulpa besteht aus runden Kernzellen.","page":755},{"file":"p0756.txt","language":"de","ocr_de":"756 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. II. Ahsclm. Entwickl. d. Organe.\nSchwann vermuthet einen Ueberzug der oberfl\u00e4chlichen Fasern in die Substanz des Zahns.\nIV. Klasse.\n1.\tZellgewebe. Das prim\u00e4re des Zellgewebes ist das struc-turlose Cytoblastem, darin entstehen runde Zellen mit Kern, diese verwandeln sich in Faserzellen von spindelf\u00f6rmiger Gestalt, mit einem runden oder ovalen K\u00f6rperchen im Innern (Zellenkern), worin wieder ein oder zwei dunkle Punkte. Der Kern liegt an der Wand an. Diese Zellen gehen durch Zuspitzung in Fasern \u00fcber. Die Spitzen geben n\u00e4mlich Fasern ab, die zuweilen Aeste abgeben und zuletzl in B\u00fcndel \u00e4usserst feiner Fasern zerfallen. Die weitere Entwickelung besteht darin, dass das Zerfallen der beiden vom Zellenk\u00f6rper ausgehenden Hauptfasern in ein B\u00fcndel leinerer Fasern immer mehr gegen den Zellenk\u00f6rper fortr\u00fcckt, so dass sp\u00e4ter vom Zellenk\u00f6rper unmittelbar ein Faserb\u00fcndel ausgeht, dass die Zerfaserung noch sp\u00e4ter unmittelbar am Zellenkern beginnt, endlich der Zellenk\u00f6rper ganz in Fasern zerf\u00e4llt und der Kern nun bloss auf einem Faserb\u00fcndel liegt. Wahrscheinlich sind die Fasern hold. Die im f\u00f6talen Zellgewebe auch vorkommenden Fettzellen besitzen anfangs auch einen sehr deutlichen Zellenkern an der Wand. 1st die Zellenmembran d\u00fcnn, so erhebt er sie in ein H\u00fcgelchen \u00fcber den von der Zellenmembran umschlossenen Fetttropfen nach aussen; ist sie dick, so liegt er ganz in ihrer Dicke. Er enth\u00e4lt ein oder zwei Kernk\u00f6rper-chen. Die Fettzellen im Sch\u00e4del der ptngcn Pl\u00f6tze besitzen zuweilen zwei Zellenkerne, die sich ganz gleich zur Zellenmembran verhalten. Im Zellgewebe des F\u00f6tus kommt noch eine dritte Art von Zellen vor. Sie sind rund und blass, enthalten einen Kern an der Wand mit ein oder zwei Kernk\u00f6rperchen, verl\u00e4ngern sich nicht in Fasern, enthalten auch kein Fett, sondern f\u00fcllen sich mit K\u00f6rnchen ; dieser k\u00f6rnige Niederschlag tritt zuerst in der N\u00e4he des Kerns auf. Das Zellgewebe des F\u00f6tus giebt beim Kochen keinen Leim, das Decoct enth\u00e4lt eine dem Pyin \u00e4hnliche Substanz, nur dass hei diesem die Tr\u00fcbung durch Salzs\u00e4ure durch \u00fcbersch\u00fcssige Salzs\u00e4ure wieder aufgehoben wurde.\n2.\tSehn en ge webe. Die Sehnenfasern bilden sich auf dieselbe Weise, wie die Zellgewebefasern aus Zellen.\n3.\tElastisches Gewebe. Die mittlere Haut der Arterien enth\u00e4lt bei 6\" grosse Schweineembryonen viele isolirte Zellen, theils rund, theils l\u00e4nglich, theils in zwei oder mehrere Spitzen oder Forts\u00e4tze verl\u00e4ngert, die sich wieder theilen. Im Innern liegt an der Wand der gew\u00f6hnliche Zellenkern mit ein oder zwei Kernk\u00f6rperchen. Ausserdem sieht man schon gebildetes elastisches Gewebe. Die \u00e4stigen Fasern des elastischen Gewebes, welche nach Purkinje hohl sind, scheinen sich aus jenen Zellen zu bilden.\nV. Klasse. Der Bildungstypus bei dieser Klasse ist: es sind anfangs selbstst\u00e4ndige Zellen da, sie sind entweder: a) rund oder cylindrisch, oder es sind : b) sternf\u00f6rmige Zellen. Im ersten Fall legen sich die prim\u00e4ren Zellen reihenweise aneinander, dann verwachsen die zusammenstossenden Stellen der Zellenw\u00e4nde; dann werden die Scheidew\u00e4nde resorbirt, so dass statt prim\u00e4rer Zellen","page":756},{"file":"p0757.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der thierischen Gewebe.\n757\neine secund\u00e4re entstanden ist. Diese w\u00e4chst nun fort wie eine einfache Zelle. So scheint es Lei den Muskeln und Nerven zu seyn. Im zweiten Fall stossen die sternf\u00f6rmigen Zellen mit ihren Fortsetzungen auf einander, verwachsen und die Scheidew\u00e4nde werden resorbirt, wodurch ein Netz von Kan\u00e4len entsteht. Diess scheint der Bildungsvorgang hei den Capillargef\u00e4ssen zu seyn.\n1. Muskeln. Nach Valentin\u2019s Beobachtungen entstehen die primitiven Muskelb\u00fcndel durch Aneinanderreihen und Verschmelzen von K\u00f6rnchen, die Primitivfasern aber entstehen erst durch Zerfallen des B\u00fcndels in kleinere Fasern. Schwann bemerkte an den Cylindern der primitiven B\u00fcndel eines langen Schweinef\u00f6tus einen dunkeln Rand und einen innern hellen Theil, die wahrscheinliche H\u00f6hlung. In dem hellen Theil waren ausser einigen kleinen K\u00f6rnchen gr\u00f6ssere ovale, platte K\u00f6rperchen zu erkennen, diese Zellenkcrne enthalten oft ein oder zwei Kernk\u00f6rperchen. Sie liegen in mehr oder weniger regelm\u00e4ssiger Entfernung von einander in der Dicke des Cylinders ahseit der Achse an der Wand. In \u00e4lteren Muskeln sieht man keine Andeutung einer H\u00f6hle mehr, aber die Kerne bleiben noch lange sichtbar und liegen in der Dicke der Faser, obgleich sie oft als kleine Il\u00fcgelchen nach aussen vorspringen. (Nach neueren Beobachtungen von Rosenthal sind die Kerne auch in den Muskeln des Erwachsenen nicht verschwunden.) Die eigentliche Muskelsubstanz des Cylinders entsteht durch secund\u00e4re Ablagerung im Innern des Kanals. (Die structurlose Scheide der primitiven Muskelb\u00fcndel, welche ich vor l\u00e4ngerer Zeit bei den lnsecten sah, scheint der Rest der secund\u00e4ren Zellenmembran zu sein.)\n(Nach Valentin\u2019s neueren Untersuchungen (Mueli.eb\u2019s Archiv 1840. 197.) nimmt man im Blastem der Muskeln zuerst Kerne mit Kernk\u00f6rperchen wahr, welche sich bald mit h\u00f6chst zarten Zellen umgeben. Die Zellen werden l\u00e4nglich und reihen sich aneinander, Confervenf\u00e4den \u00e4hnlich. An den sich verdickenden Wandungen der secund\u00e4ren Zellenmembran entstehen longitudinale Faserungen und die Zwischenw\u00e4nde der Zellen werden resorbirt. Das Muskelb\u00fcndel bildet dann ein Rohr, dessen verh\u00e4lt-nissm\u00e4ssig dicke Wandungen aus longitudinalen glashellen F\u00e4den bestehen, und in dessen H\u00f6hlung die Kerne der fr\u00fcheren Zellen enthalten sind.)\nJede Nervenfaser ist in ihrem ganzen Verlauf eine secund\u00e4re Zelle, entstanden durch Verschmelzung prim\u00e4rer mit einem Kern versehener Zellen. Schwann hat die Ansicht, dass die weisse Substanz der sp\u00e4teren weissen Nervenfasern, welche eine R\u00f6hre um Re.mak\u2019s Band oder Purkinje\u2019s Cylinder axis bildet, eine secund\u00e4re Ablagerung auf der innern Fl\u00e4che der Zellenmembran ist. Die weisse Substanz jeder Nervenfaser ist n\u00e4mlich aussen mit einer structurlosen eigenth\u00fcmlichen Haut umgeben, wie die primitiven Muskelb\u00fcndel. Diese Haut, welche hier zuerst beschrieben ist, erscheint als ein schmaler heller Saum, welcher sich deutlich von den dunklen Conturen der weissen Substanz unterscheidet. Die scharfe \u00e4ussere Begrenzung, sagt Schwann, spricht gegen eine Zusammensetzung dieser Membran aus Zellgewebe.","page":757},{"file":"p0758.txt","language":"de","ocr_de":"758 VIII. Buch. V. d. Entwickelung. II. Absihn. Entwicht, d. Organe.\nAn Nerven, deren weisse Substanz vollst\u00e4ndig entwickelt ist, sah er zuweilen seitw\u00e4rts hier und da einen Zellenkern, der in dem blassen, von jener Membran gebildeten Saum liegt. Be; den grauen Nervenfasern kommt es nicht zur Bildung der weissen Substanz.\n(Valentin bemerkte in der Hirnsubstanz der jungen Embryonen in den Zellen an ihren Wandungen aussen einzelne, bald sich mehrende K\u00f6rnchen, eine Umlagerungsmasse. Die anf\u00e4ngliche Zelle wird zum Nucleus, deren Kern zum Kernk\u00f6rperchen und die Umlagerungsmasse zur Grundmasse der Ganglienkugel. An den aus Zellen entstehenden Nervenfasern lagern sich hernach Zellenkerne, Zellenfasern und Zellgewebefasern auf ihrer Oberfl\u00e4che ab.)\nSchwann\u2019s Entdeckungen geh\u00f6ren zu den wichtigsten Fortschritten, welche |e in der Physiologie gemacht worden. Sie begr\u00fcnden erst eine bisher unm\u00f6glich gewesene Theorie der Vegetation und Organisation. Es hat an trefllichen Beobachtungen und Entdeckungen in allen Theilen der Physiologie nicht gefehlt. Einige Zweige dieser Wissenschaft sind bereits in hohem Grade ausgebildet. Was aber die ersten Fundamente betrifft, worauf das Ganze ruhen sollte, so waren sie, muss man sich gestehen, theils \u00e4ussei-st schwach, theils gar nicht vorhanden, und daher der geringe Zusammenhang zwischen verschiedenen einzelnen praegnanten Beobachtungen aus ausgebildeten Theilen der Wissenschaft. Diese Fundamente sind nun geliefert, und bereits hat Schwann selbst in seinem Werke die allgemeinen Schl\u00fcsse aus den Beobachtungen von Schleiden und ihm selbst zu einer Theorie der Organisation und Vegetation der organischen Wesen mit ebenso viel Klarheit als Sch\u00e4rfe gezogen. Wir k\u00f6nnen hier nur die Hauptz\u00fcge seiner Gedanken andeuten.\nEs giebt ein gemeinsames Entwickelungsprincip f\u00fcr die verschiedensten Elementartheile der Organismen, der Thiere und Pflanzen, und dieses Princip ist die Zellenbildung. Es ist zuerst eine structurlose Substanz da, welche entweder innerhalb oder zwischen schon vorhandenen Zellen liegt. In dieser Substanz bilden sich nach bestimmten Gesetzen Zellen, und diese Zellen entwickeln sich auf manniehfache Weise zu den Elementartheilen der Organismen.\nIn jedem Gewebe bilden sich die neuen Zellen nur da, wo zun\u00e4cht der frische Nahrungsstoff in das Gewebe eindringt. Hierauf beruht der Unterschied zwischen gef\u00e4sshaltigen und gef\u00e4sslosen Geweben. Bei den ersteren ist die Nahrungsfl\u00fcssigkeit, der Liquor sanguinis durch das ganze Gewebe verbreitet, daher entstehen hier die neuen Zellen in der ganzen Dicke des Gewebes. Bei den gef\u00e4sslosen wird die Nahrnngsfl\u00fcssigkeit nur von unten znge-f\u00fchrt, wie bei der Epidermis. So entstehen heim Knorpel zur Zeit, wo er noch gef\u00e4sslos ist, die neuen Knorpelzellen nur ringsum an seiner Oberfl\u00e4che oder in deren N\u00e4he, weil hier Cytoblastem eindringt. Der Ausdruck Wachsthum durch Appositio ist richtig, wenn man ihn auf die Entstehung neuer Zellen, nicht auf das Wachsthum der vorhandenen bezieht, die neuen Zeller, der Epidermis entstehen nur unten, bei den gef\u00e4sshaltigen Geweben aber","page":758},{"file":"p0759.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der ihierischen Gewele.\n759\nentstehen die neuen Zellen in der ganzen Dicke des Gewebes. In beiden Fallen aber wachsen die Zellen durch Intussusception. Die Knochen befinden sich gewissermassen in einem Mittelzustande. Der Knorpel ist anfangs gef\u00e4sslos und die neuen Zellen bilden sieb daher nur in der Nahe der \u00e4ussern Oberfl\u00e4che. Nachdem die Gef\u00e4sse in den Markkan\u00e4len entstanden sind, kann die Bildung von neuem Cyloblastem und neuen Zellen theils auf der Oberfl\u00e4che des Knochens, theils rings um diese Markkan\u00e4lcben stattfinden. Daraus erkl\u00e4rt sich die Structur, die Schichtung des Knochenknorpels in Lamellen, welche theils mit der Oberfl\u00e4che, theils mit den Markkan\u00e4lchen concentrisch sind.\nDer Process der Zellenbildung ist aber folgender. In dem anfangs structurlosen oder feink\u00f6rnigen Cyloblastem zeigen sich nach einiger Zeit runde K\u00f6rperchen, diese sind in ihrem fr\u00fchesten Zustande, wo sie sich erkennen lassen, Zellenkerne, um die sich Zellen bilden. Der Zellenkern ist granul\u00f6s und entweder solid oder bohl. Vom Kern entsteht zuerst das Kernk\u00f6rperchen, um dieses schl\u00e4gt sich eine Schichte feink\u00f6rniger Substanz nieder, der Kern w\u00e4chst, um den Kern bildet sich dann die Zelle, indem auf der \u00e4ussern Oberfl\u00e4che des Zellenkerns eine Schichte einer Substanz niedergeschlagen wird, die von dem umgebenden Cyto-blastem verschieden ist. Diese Schichte ist anfangs noch nicht scharf begrenzt. Hat sich die Zellenmembran consolidirt, so dehnt sie sich durch fortdauernde Aufnahme neuer Molecule zwischen die vorhandenen aus, und entfernt sich dadurch von dem Zellenkern, wobei der Kern an einer Stelle der innern Fl\u00e4che der Zellenmembran liegen bleibt. Die Zellenbildung ist nur eine Wiederholung desselben Processes um den Kern, durch den sich der Kern um das Kernk\u00f6rperchen bildete, nur dass dieser Process intensiver bei der Zellenbildung, als bei der Kernbildung vor sich geht. Die Zellenmembran ist bei verschiedenen Zellenarten chemisch verschieden, selbst an denselben Zellen ist die chemische Zusammensetzung nach dem Alter der Zelle verschieden, die Zellenmembran der j\u00fcngsten Pflanzenzellen l\u00f6st sich nach Schleiden in Wasser, sp\u00e4ter nicht. Noch mehr ist der Inhalt der Zellen verschieden, Fett, Pigment u. a. In der anfangs wasserhellen Zelle kann allm\u00e4hlig ein k\u00f6rniger Niederschlag zuerst um den Zellenkern entstehen, es kann auch umgekehrt ein k\u00f6rniger Inhalt der Zellen allm\u00e4lig aufgel\u00f6st werden.\nM\u00fcller\u2019\u00bb Piiysiolvgie, 2rl\u00e4d, III,\n49","page":759},{"file":"p0760.txt","language":"de","ocr_de":"760 VIII. Buch, Von d. Entwickelung, III. Abschn. Von d. Geburt,\nIII. Abschnitt. Von der Geburt und den Entwik-kelungen nach der Geburt.\nI. Capitd. V o ii der Geburt.\na. Geburt,\nNeun Sonnenmonate oder zehn Mondesmonate vollenden die Entwickelung der menschlichen Frucht. Wahrend dieser Zeit dient der Uterus der Wechselwirkung mit dem Rind und seiner eigenen plastischen Ausbildung, und in seiner Substanz entstehen immerfort neue Muskelfasern in der Weise, wie beim Embryo zuerst Muskeln entstehen; daher man zu dieser Zeit alle Entwickelungsperioden des Muskelfleisches zusammen im Uterus beobachten kann. Seine Muskelkraft ruht. Nach vollendeter Entwickelung wird diese Wechselwirkung aufgehoben, das Rind ist selbstst\u00e4ndig geworden, ist dem Uterus ein fremder R\u00f6rper und dessen Muskelkraft reagirt dagegen durch Zusammenziehungen, welche die Geburt bewirken. Diese Reactionen im Uterus treten aber auch dann auf, wenn das Rind ausser ihm liegt, bei der Graviditas extrauterina, wenn die Wechselwirkung der Mutter und des Rindes sieb l\u00f6st. Die Zusammenziehungen, mit einem heftigen Druck auf lebende Theile verbunden, sind meist schmerzhaft, Weben, sie wiederholen sich rhythmisch von Zeit zu Zeit, doch h\u00f6rt auch in den Pausen der Wehen die Zusammenziehung nicht ganz auf und bleibt der Uterus vielmehr um den Inhalt angelegt. Nach der Geburt dauern sie in gleicher Wiederholung noch eine Zeit lang fort, Nachwehen. Bei Personen, die vor der Geburt verstorben sind, erfolgen die Contractionen nicht selten noch nach dem Tode und haben die Geburt nach dem Tode zur Folge. Diese Contractionen scheinen vom Muttermunde her zu beginnen, gegen den Grund fortzuschreiten und wieder zum Muttermunde zur\u00fcckzukehren, wodurch der Inhalt anfangs gehoben, dann immer tiefer gegen den Muttermund hingetrieben und die Lippen desselben oder der Sphincter uteri membranartig verd\u00fcnnt und erweitert werden. Bei diesen Bewegungen wirken, wenn sie heftiger werden, wie bei der Harnausleerung und bei der Entleerung der Excremente the Muskeln der Rumpfw\u00e4nde mit, indem sie die Bauchh\u00f6hle-von oben (Zwerchfell), von den Seiten und von vorn (Bauchmuskeln) zusammenpressen. Die Bewegungen der willk\u00fcrlichen Muskeln treten bei heftigen Zusammenziehungen unwillk\u00fcrlich ein nach dem Gesetz der Mitbewegungen und reflectirten Bewegungen, denn zu beiden sind ie Ursachen vorhanden, heftige Bewegungen und heftige Empfindungen im Uterus. Zugleich tritt noch in vielen anderen Muskeln des Rumpfes ein Nisus zur Mitanstrengung ein, die Extremit\u00e4ten stemmen sich, der Atliem wird angehalten und die rmf ergreifen Alles, was ira Stande ist einen Anhaltspunkt zum rnc zu liefern.","page":760},{"file":"p0761.txt","language":"de","ocr_de":"Mechanismus der Gehurt.\n761\nDie Lage der Frucht ist gegen das Ende der Schwangerschaft, w\u00e4hrend die Geb\u00e4rmutter im letzten Monat der Schwangerschaft sich herabsenkt, so, dass ein Kindestheil, meist der Kopf des mit seiner L\u00e4ngsachse der L\u00e4ngsachse des Uterus entsprechenden Rindes, dem Muttermund sich anlagert oder sich zur Geburt stellt. Das Rind hat die Rniee angezogen, die Arme an die Brust angelegt und den Ropf gegen die Brust geneigt. Bei der Geburt folgen die in das Becken eindringenden Kindestheile mit ihrem grossem Durchmesser den grossem Durchmessern der verschiedenen Beckenregionen, sie erhalten daher eine schraubenf\u00f6rmige Bewegung. Bei den h\u00e4ufigsten Geburten, den Kopfge-burten ist diese gew\u00f6hnlich folgende. Der gerade Durchmesser des Beckeneinganges l\u00e4sst das Eintreten des grossen Durchmessers des Ropfs ebenso wenig als die Breite der H\u00fcften des Kindes in dieser Richtung zu, wohl aber ist das Eintreten des Kopfes mit seinem grossem Durchmesser in dem queren und schiefen Durchmesser des Beckens gestattet. Die Geburt beginnt mit dem Eindringen des grossen Ropfdurchmessers in den schiefen Durchmesser des Beckeneinganges. Indem sich der Kopf unter fortdauernden Wehen durch das Becken bewegt, geht der grosse Durchmesser des Kopfes in den geraden Durchmesser der Beckenh\u00f6hle ein, so dass bei der gew\u00f6hnlichsten Art der Kopfgeburt, Scheitel und Hinterhaupt nunmehr unter den Schossbogen gera-then, w\u00e4hrend das Gesicht der Aush\u00f6hlung des Kreuzbeins zugewandt ist. Bei der Kr\u00fcmmung des Beckenkanals beschreibt der an der vordem Beckenwand herabsteigende Theil des Kindes einen kleinen, der an der hintern Wand des Beckens herabgleitende Theil einen grossem Raum.\nDie Geburt wird gew\u00f6hnlich in mehrere Perioden getlieilt. Die erste umfasst den Zeitraum von dem Beginn der Wehen bis zur Er\u00f6ffnung des Muttermundes, die zweite von da bis zur Zer-reissung der Eih\u00e4ute. Nach Er\u00f6ffnung des Muttermundes ragt n\u00e4mlich ein Theil der Eih\u00e4ute mit Liquor amnii blasenartig vor; diese Blase zerreisst und die Fl\u00fcssigkeit fliesst ab. Die dritte Periode umfasst den Zeitraum von dem Zerspringen der Blase dem Wassersprung, bis zu dem Einschneiden des Kopfes in die \u00e4usseren Geburtslheile. W\u00e4hrend dieser Zeit wird der Kindestheil durch den ge\u00f6ffneten Muttermund in die Scheide herabbewegt. In der vierten Periode durchschneidet der Hinterkopf die \u00e4usseren Geburtstheile, worauf die \u00fcbrigen Theile des Kindes folgen so dass wieder die Schultern im schiefen Durchmesser des Beckeneinganges eintreten und im geraden der Beckenh\u00f6hle austreten. In der letzten Geburtsperiode wird die Nachgeburt, Placenta und Eih\u00e4ute geboren, indem nach erfolgter Geburt des Kindes die Zusammenziehungen des Uterus fortdauern, und durch Zusammendr\u00e4ngen der Verbindungsstelle der Placenta die Lostrennung mit Erguss von Blut aus den zerrissenen Gef\u00e4ssen bewirken. Diese L\u00f6sung und der Abgang der Placenta erfolgt innerhalb einer halben bis ganzen Stunde nach der Geburt des Kindes, so dass innerhalb 6\u201412 Stunden meistens alle Geburtsperioden abgelaufen sind. Nach dem Abgang der Nachgeburt zieht sich der Uterus\n49*","page":761},{"file":"p0762.txt","language":"de","ocr_de":"762 VIII. Buch. Von d. Entwickelung. III. Abschn. Von d. Gehurt.\ndocli weiter allm\u00e4hlig zusammen. F. C. Naegei.e \u00fcber den Mechanismus der Geburt in Meck. Arch. V. 1819. p. 483. Hueter im encycl. IV\u00f6rterb. d. med. Wiss. XIV. 14. Diejenigen, welche sich ausf\u00fchrlicher \u00fcber den Verlauf der Gehurt und ihre Variationen unterrichten wollen, muss ich auf die genannten Schriften und besondere geburtsh\u00fclfliche Werke, wie diejenigen von Carus, Stein, Busch, Kilian, Ritgen, II. F. Naegf.le u. A. verweisen. Die Geburt' der Thiere erfolgt im Allgemeinen leichter wegen des keilf\u00f6rmigen Vordringens des Gesichtskopfes, welchem die Vorderf\u00fcsse vorangehen, und der grossem Beweglichkeit der Schwanzwurzel. Siehe Stein, Unterschied zwischen Mensch und Thier im Geb\u00e4ren. Bonn 1820. Bei den Vampyren ist die Geburt durch das Offen-seyn der Schambeine erleichtert, oder durch die F\u00e4higkeit der Symphyse sich zu erweitern, wie hei Cavia aper\u00e7a und anderen.\n1>. Mutter und Kind nach d ci Geburt.\nDas Kind athmet sogleich und schreit, sobald seine Athem-werkzeuge von dem, die Geburt begleitenden Drucke frei geworden sind. Fieber die Ursachen des ersten Athmens ist schon oben p. 75 gehandelt. Der Nabelstrang wird von denjenigen, die bei der Geburt H\u00fclfe leisten, unterbunden und durchschnitten. Bei den Thieren zerreisst er bei der Geburt meist von selbst an einer weichem Stelle nicht weit vom Nabel, zuweilen wird er auch von der Mutter zerbissen. Die Nabelgef\u00e4sse ziehen sich bald bis znr v\u00f6lligen Verschliessung zusammen, wahrend der ersten Wochen nach der Geburt schliesst sich dann auch das Foramen ovale im Septum atriorum und der Ductus Botnlli, so dass nunmehr alles Blut, welches dem K\u00f6rper zugeht, erst die Lungen passirt und umgekehrt, und die Lungenblutbalm eine Station des ganzen Kreislaufs und keine Fraction der allgemeinen Blutbahn mehr ist. Die neugebornen S\u00e4ugethiere suchen instinetm\u00e4ssig die Zitzen der Mutter und saugen, und auch im neugebornen Kinde ist ein best\u00e4ndig sich wiederholender Trieb zum Sangen an jedwedem dargebotenen Gegenstand sichtbar. In dem m\u00fctterlichen Organismus vermehrt sich in den ersten Tagen die schon w\u00e4hrend der Schwangerschaft sparsamer eingetretene Milchsecretion rasch, und die Th\u00e4tigkeit, welche dem Uterus w\u00e4hrend der Schwangerschaft gewidmet rvar, wird nun den Br\u00fcsten zugewandt, so wie sich die m\u00fctterlichen Gef\u00fchle, von der ersten Mutterfreude an dem freien, aber h\u00fclfsbed\u00fcrftigen Daseyn des athmenden, schreienden, zappelnden Wesens, ganz auf die liebevolle Ern\u00e4hrung und den Schutz der jungen Brut concentriren. Nach der Geburt erfolgt aus den Genitalien ein massiger naturgem\u00e4sser blutiger Abgang, der Lochienfluss, welcher einige Tage anh\u00e4lt, dann ser\u00f6s wird und all-m\u00e4lig mit Herstellung der verwundeten innern Oberfl\u00e4che des Uterus in eine mehr schleimige Ausscheidung \u00fcbergeht. Die Secretion der Milch wird reichlicher erweckt durch den mechanischen Reiz der Papillen verm\u00f6ge des Saugens und durch alle auf die Ern\u00e4hrung und Gegenwart des Kindes bez\u00fcglichen m\u00fctterlic en","page":762},{"file":"p0763.txt","language":"de","ocr_de":"Nach der Geburt, Milch.\n763\nVorstellungen. Einmal erregt kann diese Secretion unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden ohne eine bestimmte Grenze oft sehr lange erhalten werden, wie man bei den Thieren und zuweilen auch bei Menschen sieht. Wach dem Wiedererscheinen der Menstruation gegen den neunten Monat oder fr\u00fcher oder sp\u00e4ter vermindert sie sich in der Regel- Bei nicht s\u00e4ugenden Frauen erscheint die Menstruation gew\u00f6hnlich fr\u00fchzeitig und gegen die sechste Woche nach der Geburt wieder.\nDie Milch der Schw\u00e4ngern und W\u00f6chnerinnen gleich nach der Geburt heisst das Colostrum. Es enth\u00e4lt nach Donn\u00e9 ausser den gew\u00f6hnlichen Milchk\u00fcgelchen oder Fettk\u00fcgelchen eigent\u00fcmliche granulirte K\u00f6rperchen , welche erst gegen den zwanzigsten Tag nach der Geburt verschwinden. Die eigentlichen Milchk\u00fcgelchen bestehen haupts\u00e4chlich aus Fett und geben der Milch ihre weisse Farbe; sie scheinen noch von einer andern Materie umgeben, da sie nicht sogleich durch Alcohol und Aether aufgel\u00f6st werden. In der Ruhe sammeln sich die Fettk\u00fcgelchen gr\u00f6sstenteils auf der Oberfl\u00e4che und bilden den aus Milchfett oder Butter bestehenden Rahm. Bei anhaltender Bewegung der Milch kleben die Fettk\u00fcgelchen aneinander und bilden die Butter, nach deren Entfernung die Milchfl\u00fcssigkeit zur\u00fcckbleibt. Diese enth\u00e4lt die \u00fcbrigen Bestandtheile der Milch, K\u00e4sestoff, Milchzuk-ker, Salze aufgel\u00f6st. Das Butterfett geh\u00f6rt unter die stickstofflosen verseifbaren Fette.\nDer K\u00e4sestolf, Casein, ist im warmen und kalten Wasser l\u00f6slich und gerinnt nicht beim Kochen. Von Alcohol, Sublimat, Alaun, essigsaurem Bleioxyd wird er niedergeschlagen, die Wiederschl\u00e4ge l\u00f6sen sich nach dem Auswaschen des F\u00e4llungsmittels in' Wasser wieder auf. S\u00e4uren schlagen den K\u00e4sestoff nieder, wenn sie in kleinen Quantit\u00e4ten zugesetzt werden, \u00fcbersch\u00fcssige S\u00e4ure l\u00f6st den K\u00e4sestoff wieder auf. Sehr eigenth\u00fcmlich ist das Verhalten des K\u00e4sestoffs zum Pepsin und dem dasselbe enthaltenden Labmagen, er wird davon niedergeschlagen und der Wiederschlag ist in Wasser nicht wieder l\u00f6slich. Die saure Aufl\u00f6sung von K\u00e4sestoff wird durch Kaliumeisencyanid getr\u00fcbt oder gef\u00e4llt. In Hinsicht seiner elementaren Zusammensetzung geh\u00f6rt der K\u00e4sestoff und dadurch die Milch zu den stickstoffhaltigen Wahrungsmitteln. Er besteht nach Mulder\u2019s Analyse ausser einem Antheil Schwefe! (0,41) aus\nC 55,10\nII 6.97\nW 15,95\nO 21,62\nDie beiden andern Hauptbestandtlieile der Milch, Fett und Milchzucker sind stickstoftlose Wahrungsmittel. Der Milchzucker bleibt nach Abscheidung der Butter und des K\u00e4sestoffs in der Aufl\u00f6sung (Serum lactis, Molken) zur\u00fcck. Der Milchzucker crystallisirt leicht, rein ist er nicht der G\u00e4hrung f\u00e4hig, wohl aber scheint er unter Einwirkung des stickstoffhaltigen K\u00e4sestoffs sich in Schleimzucker zu verwandeln. Die Zusammensetzung des Milchzuckers ist nach Gay-Lussac, Tiienard, Prqut und Berzelius","page":763},{"file":"p0764.txt","language":"de","ocr_de":"764 VIII. Buch. Von d. Eni Wickelung. III. Ahschn. Von d. Geburt.\nKohlenstoff 10,46 Wasserstoff 6.60 Sauerstoff 52,93.\nDie frische Frauenmilch ist schwach alkalinisch, Kuhmilch ist frisch schon zuweilen schwach sauer, beim langem Stehen und vorz\u00fcglich bei electrischer Disposition der Luft wird alle Milch sauer von Umsetzung der Bestandtheile, wahrscheinlich des Milchzuckers; diese S\u00e4ure ist Milchs\u00e4ure.\nDie Milch verschiedener Thiere ist nicht in allen Beziehungen gleich. Wach Simon wird der K\u00e4sestoff der Frauenmilch von Sauren nicht niedergeschlagen, was wahrscheinlich von der geringem Quantit\u00e4t des K\u00e4sestoffs und der Quantit\u00e4t der angewandten S\u00e4ure abh\u00e4ngt, denn eine verd\u00fcnnte Aufl\u00f6sung von K\u00e4sestoff wird nur von einem Minimum von S\u00e4ure niedergeschlagen, von mehr S\u00e4ure aber wieder aufgel\u00f6st.\nDie Frauenmilch\tenth\u00e4lt nach\tPayen\nButter............... 5,18\t5,16\t5,20\nK\u00e4sestoff............ 0,24\t0,18\t0,25\nFester R\u00fcckstand der abgedampften\tMolken\t.\t.\t7,86\t7,62\t7,93\nWasser .................... 85,80\t86,00\t85,50\nDie abgerahmte Kuhmilch besteht nach Berzelius aus K\u00e4scstoff durch Butterfett\tverunreinigt\t2,600\nMilchzucker........................3,500\nAlcoholextract, Milchs\u00e4ure und ihre\nSalze.................................  0,600\nChlorkalium..........................  .\t0,170\nPhosphorsaures Alkali..............0,025\nPhosphorsaurer Kalk, freie Kalkerde in Verbindung mit K\u00e4sestoff, Talkerde und Spuren von Eisenoxyd\t....\t0,230\nWasser......................... 92,875\nDas specifische Gewicht der Frauenmilch ist. 1,020 \u20141,025, der Kuhmilch...............................1,03.\nDonn\u00e9, du lait et en particulier de celui des nourrices. Paris 1837. Muell. Arch. 1839. 182. Henle, Fror. Not. 1839. 223. Simon, die Frauenmilch. Berl. 1838. Marchand im encyclop. IV\u00f6rterb. d. med. JVissensch. 23. Bd. p. 309.\nII. Capitel, Von den Lebensaltern.\nDie Entwickelungen dauern nach der Geburt einen grossen Theil des Lebens, ohne so fundamental zu seyn, wie im F\u00f6tusleben. Nur bei einigen Abtheilungen der Thiere mit Verwandlungen, wie bei den Insecten, einigen Crustaceen, den Cirripeden, unter den Spinnen bei den Hydrachnen, unter den Wirbelthieren aber bei den nackten Amphibien, gehen auch nach dem Eileben noch fundamentale Formver\u00e4nderungen und neue Bildungen von Organen und Organgruppen vor sich. Siehe oben B. 1. 3. Auflage p-169. Die Entwickelungen der h\u00f6heren Thiere und des Menschen nach","page":764},{"file":"p0765.txt","language":"de","ocr_de":"Lebensalter,\n765\nder Geburt beschr\u00e4nken sieb auf die Ver\u00e4nderungen, welche die Lebensalter auszeichnen. H\u00e4lt man sieb an die Lebensabschnitte, wie sie durch eigenth\u00fcmliche Evolutionen oder den Abschluss derselben bestimmt werden, so k\u00f6nnen folgende Lebensalter unterschieden werden.\n1.\tDas Alter des Eilebens. In diesem Alter ist das Bilden und Wachsen am gr\u00f6ssten. Die functionellen Erscheinungen der sich bildenden Organe fehlen jetzt noch grossentheils oder beginnen erst allm\u00e4htig. Bei den nackten Amphibien kommt es w\u00e4hrend des Eilebens noch nicht zur Entwicklung des Geschlechtsunterschiedes, nicht einmal zur Bildung der Geschlechtstheile. Diese entstehen erst lange Zeit nach dem Auskriechen bei der Larve. Bei den \u00fcbrigen Wirbelthieren hingegen fallt die Entscheidung des Geschlechtes in das Eileben.\nDie Ursachen, welche das Geschlecht der Embryonen bestimmen, sind unbekannt, wenn es auch scheint, dass das relative Alter der Zeugenden auf das Geschlecht einigen Einfluss habe. Siehe Girou de Bouzareingues ann. d. sc. nat. T. XI. 145, 314. T. XIII. 134. de c/ualUatibus parentum in sobolem transeuntibus. Diss. praes. Hofacker def. Notter Tub. 1827. Heusinger Zeitschrift f\u00fcr org. Phys. II. 446. Eine und dieselbe Zeugung bringt bei den Thieren, die mehrere oder viele Jungen zur Welt bringen, M\u00e4nnchen und Weibchen hervor, und bei den Thieren, wo die Befruchtung der Eier ausser dem thierischen K\u00f6rper geschieht, dient ein und derselbe Samen zur Befruchtung von Eiern, woraus M\u00e4nnchen und Weibchen werden. Wie verschieden das Geschlecht der Kinder auch in den Familien ausf\u00e4llt, im Grossen stellt sich immer die Gleichzahl her. Das Gesetz, welches diese Gleichzahl im Grossen hervorbringt, liegt nicht ausser dem Menschen, sondern in jedem einzelnen Menschen selbst. Die Herstellung des Gleichgewichts im Grossen bei allen einseitigen Abweichungen im Kleinen ist voraus angelegt, wie das Gleichgewicht der Gewinne und Verluste, des Gerade und\u00fcngerade heim Loosen oder Rathen, und bei jedem Zufalls-Spiel, das durch eine Norm beherrscht wird.\n2.\tDas unreife Alter. Es umlasst die Periode von der Geburt bis zur Pubert\u00e4tsentwickelung. Es zeichnet sich durch Wachsthum und Entfaltung der gegebenen Formen und das allm\u00e4lige \u00dfewusstwerden und Zergliedern der sensuellen Erscheinungen aus. In diese Periode fallen mehrere kleinere Entwickelungsphasen einzelner organischer Apparate, beim Menschen der erste Ausbruch der Z\u00e4hne um die H\u00e4lfte des ersten Jahres nach der Geburt, der im sechsten Jahre beginnende Zahnwechsel (siehe oben Bd. I. 3. Aull. p. 385. 401.), wonach man wieder ein Kindesalter bis zum sechsten und ein Knabenalter bis zum 14. \u201415. Jahre unterscheiden kann. Im erstem ist das Bed\u00fcrfniss der Nahrung am gr\u00f6ssten, die materielle Umwandlung der \u00d6rgane rascher und st\u00e4rker und daher auch die Art der Nahrung am wuchtigsten. Daher in dieser Zeit auch viele Fehler in der materiellen Zusammensetzung der Organe Vorkommen und durch fehlerhafte Nahrung unterhalten werden, wie Knochenerweichung,","page":765},{"file":"p0766.txt","language":"de","ocr_de":"766 VIII. Buch, Von d, Entwickelung. ///, Ahschn, Von d. Geburt,\nScrophelsucht und Aehnliches. Bis zum Knabenalter bat der Geist die F\u00e4lligkeit und St\u00e4rke zur Ansammlung von Kenntnissen und zu seiner eigenen Ausbildung erlangt, das Wachsthum fliesst ruhiger, die materielle Zusammensetzung ist befestigt, und diese Lebenszeit ist das Alter der Schule und der geistigen Erziehung, es wird darin der Grund zu Allem gelegt, worin das sp\u00e4tere geistige Leben wurzelt.\nDas Alter der Geschlechtsreife beginnt mit der Pubert\u00e4tsentwickelung und endet mit dem Abschluss der Geschlechtsreife, bei dem Weibe mit dem 45. \u2014 50. Jahre. Man kann weiter darin das Alter der reifen Jugend und des Mannes unterscheiden. Mit der schon fr\u00fcher geschilderten Entwickelung der Pubert\u00e4t geht gleichzeitig eiue weitere Ausbildung der Athem- und Stimmwerkzeuge, wovon bei der Stimme gehandelt worden, und die vollkommenste und bl\u00fchendste Entwickelung der Gestalt vor sich, so dass sich die Gesichtsz\u00fcge oft schnell ver\u00e4ndern und den Ausdruck annehmen, den sie das sp\u00e4tere Leben hindurch behalten. Das vorher knabenhafte Antlitz dient jetzt dem Ausdruck heftigerer Leidenschaften, die Leitung hat aufgeh\u00f6rt und wird nicht mehr vertragen, die Unarten des verzogenen Kindes brechen aus und die Verirrungen eines selbstst\u00e4ndig gewordenen Lebens, was durch eigene Erfahrung und Schicksale klug werden will und sich frei f\u00fchlt, beginnen. Da die entsprechende Entwickelung im weiblichen Organismus fr\u00fcher und rascher eintritt, so verlassen die M\u00e4dchen auch fr\u00fcher das Spiel der gleichalterigen Knaben und verachten sie, vor denen sie, wenn sie ihnen in der Entwickelung gefolgt, sittsam sich scheuen und err\u00f6then. In beiden Geschlechtern regt sich ein m\u00e4chtiges dichterisches Leben der Phantasie, es ist die Zeit der Ideale, ohne Neid, ohne Habsucht, ohne Missgunst, voll offener aufopfernder Freundschaft, ein unbegrenztes Schaffen und Sinnen liegt vor ihnen. Keiner kennt noch seine eigenen Grenzen, welche in dem Ernst des Mannes zum Bewusstseyn kommen. Die Liebe ist der Mittelpunkt der edelsten Gef\u00fchle. Die auf das Individuum bez\u00fcgliche vegetative Entwickelung ist vollendet, der Strom des Wachsthums der organischen Kraft gehet nun nach neuen Producten der Zeugung hin. Bei denen die bildende und ausgleichende Kraft von Anfang weniger sicher und die materielle Zusammensetzung weniger dauerhalt war, diese widerstehen auch jetzt schon nicht mehr so gut den \u00e4usseren Reizen, zumal auf ein so edles Organ wie die Lungen, welches zu dieser Zeit wegen der Entwickelung, welche die Athemorgane erleiden, eine viel gr\u00f6ssere Erregbarkeit besitzt. Daher nach dem Abschluss der Jugendentwickelungeu die vorher ruhige Anlage zu Krankheiten der Lungen auftaucht, welche w\u00e4hrend des individuellen Wachsthums, Vegetirens und Entwickelns so wenig sichtbar wTar, als die Hektik wahrend der Schwangerschaft.\nSo lange die Gestalt noch w\u00e4chst, bleiben auch die Epiphysen der Knochen noch frei und durch N\u00e4the von den Diaphysen getrennt, indem die Verl\u00e4ngerung der Knochen an diesen Stellen erfolgt. Nachdem die volle Gr\u00f6sse des Individuums erreicht ist, verwachsen die Epiphysen mit den Diaphysen.","page":766},{"file":"p0767.txt","language":"de","ocr_de":"Lebensalter.\n767\nIm Mannesalter weichen die schlanken Formen der Jagend oft einer x'eichern Vertheilung der Materie und einer beleibtem fettem Gestalt, in welcher sich eine mindere Herrschaft der formenden Kraft \u00fcber die Massen kund giebt. In diesem Alter hat auch das geistige Leben seine Reite erreicht, das \u00fceberschwengliche der Empfindungen abgestreift, es ist des Erstrebten, Misslungenen, Verfehlten, der Grenzen und des Besitzes gewiss, die Welt ist ruhiger, klarer, ernster geworden, die Leidenschaften sind noch da, wirken aber in anderer Richtung, Besitz erwerbend, verteidigend. Haus, Hof und Familie stecken sich ab und breiten sich aus, das Erworbene im eigenen Kreise mehrend, dann h\u00e4ngt man an der Scholle Erde und bauet ein Haus auf f\u00fcr eine Zukunft, die man oft nicht erlebt.\nInnerhalb des Mannesalters ist eine Anlage zu Krankheiten besonderer organischer Systeme nicht vorwaltend, im vorger\u00fcckten Mannesalter treten indess allm\u00e4lig die materiellen Ver\u00e4nderungen am h\u00e4ufigsten in denjenigen Organen ein, welche in der chemischen Umwandlung der Materie am meisten th\u00e4tig sind, wie in den grossen dr\u00fcsigen Eingeweiden, und die geringere Vegetationskraft vermag den st\u00f6renden Einfl\u00fcssen um so weniger das Gleichgewichtzu halten, je l\u00e4nger sie sich wiederholt haben. Nicht die Lungen sind es jetzt, welche viel fr\u00fcher sich als schw\u00e4cherer Theil zeigen, aber auch nach den Erregungen, welche sie in der Jugend erfahren, sich allm\u00e4hlig beruhigen; sondern mehr als andere sind die Organe des Unterleibs den materiellen Ver\u00e4nderungen ausgesetzt, w\u00e4hrend vorausgegangene Zerr\u00fcttungen des Nervensystems sich f\u00fchlbarer und nachhaltiger, als in der Jugend kundgeben, in welcher sie vorbereitet seyn m\u00f6gen, und die Tiefe der geistigen Ersch\u00fctterungen das Mannesalter mehr als andere zum Alter der Geisteskrankheiten machen.\nDie dritte grosse Lebensperiode kann als das unfruchtbare Lebensalter bezeichnet werden. Sie umfasst das Leben des Menschen von dem Aufh\u00f6ren der fruchtbaren Zeugung bis zum hohen und h\u00f6chsten Alter. In diesem Alter verliert die Gestalt nun auch an F\u00fclle und Turgor. Die Vegetation der Haare, die um Kopfe zuerst begonnen und sich im J\u00fcnglings- und Mannesalter dem Gesicht zugewendet, vergeht auch am Kopfe zuerst und dauert nur im Barte bis zum h\u00f6chsten Alter aus. Im hohen und h\u00f6chsten Mannesalter zeigt sich auch eine Neigung zur Absetzung von Kalksalzen oder Vererdung in den Knorpeln und H\u00e4uten der Blutgef\u00e4sse. Leicht verlieren auch die Z\u00e4hne oder ihre Tr\u00fcmmer ihren Zusammenhang mit den Kiefern. Die Alveolen verschwinden, nachdem jene ausgefallen. Daher die Kiefer der Greise sich verk\u00fcrzen. Diese Lebensperiode bringt es nach dem Abschluss aller Entwickelungen mit sich, dass die Energie der Lebensfunctionen gleichm\u00e4ssig oder ungleichm\u00e4ssig abnimmt, die Kraft der Bewegungen, die Intensit\u00e4t der Triebe, Neigungen und Theiinahme, die Sch\u00e4rfe der Sinne, die Lebendigkeit der Phantasie und der Math des Lebens und Widerstandes vergehen. Die wenigsten Menschen erreichen ein Alter, in welchem diese Abnahme der Kr\u00e4fte unmerklich zur Grenze des gesunden Lebens f\u00fchrt. Bei den","page":767},{"file":"p0768.txt","language":"de","ocr_de":"768\nSchlussbemerkungen \u00fcber die\nmeisten ist der Grund zum fr\u00fchzeitigen Ruin von localen Ursachen gelegt. Aber auch ohne diese gleicht der Organismus im hohem Alter nach dem Ablauf aller Entwickelungen mehr einem kunstreichen Mechanismus, als jener Urform des organischen Ganzen, welche den Mechanismus aus sich erzeugt, und dadurch seine Schaden auszugleichen bef\u00e4higt. Daher ist im hohen Alter meist eine kleine von aussen eindringende St\u00f6rung im Stande, den Stillstand des Ganzen, wie bei einem Triebwerk, herbeizuf\u00fchren. Eine ausf\u00fchrliche Belehrung \u00fcber die Lebensalter und den Umlauf des Lebens giebt der dritte Band von Burdach\u2019s Physiologie.\nSchht ssbemerkungen\n\u00fcber\ndie Entwickelungsvariationen der thierischen und menschlichen Lebensformen auf der Erde.\nNach diesem Abriss der Entwickelnngsgeschichte des individuellen thierischen Lebens f\u00fchrt die Betrachtung von den individuellen zu den allgemeinen Formen zur\u00fcck, denen diese innerhalb der Gattungen und Arten angeh\u00f6ren, und so kn\u00fcpft der Schluss der speciellen Physiologie wieder die Betrachtungen an, welche wir bei der allgemeinen Physiologie in den Prolegomena verliessen. Die Geschlechter der Thiere und Pflanzen ver\u00e4ndern sich w\u00e4hrend ihrer Ausbreitung \u00fcber die Oberfl\u00e4che der Erde, diese Ver\u00e4nderungen gehen innerhalb der den Arten und Gattungen vorgeschriebenen Grenzen vor sich, aber sie pflanzen sich als Typen der Variation der Arten durch die Generationen der organischen Wesen fort. Diesen Erscheinungen sollen unsere letzten Betrachtungen gewidmet seyn.\nEs wird hier sogleich von Wichtigkeit, den Begriff von Art oder Species und von Variation m\u00f6glichst scharf aufzufassen. Die Art ist eine durch die Individuen zun\u00e4chst repr\u00e4sentirte Lebensform, welche mit gewissen unver\u00e4usserlichen Characteren in der Generation wiederkehrt und durch die Generation \u00e4hnlicher Individuen constant w'iedererzeugt wird. Der letztere Umstand unterscheidet die Art von den Bastarden. Dass eine durch Generation erzeugte Lebensform sich mit einer andern fruchtbar begatten k\u00f6nne, ist kein blosses Kennzeichen der Lebensform, die wir Art nennen, und nicht hinreichend, um beide sich fruchtbar begattende Individuen als zu einer Art geh\u00f6rend zu betrachten. Denn auch Individuen aus zwei verschiedenen Arten einer und derselben Gattung k\u00f6nnen sich zuweilen fruchtbar begatten, wie Hund und Wolf, Pferd und Esel u. a., wodurch Bastarde erzeugt werden. Nur die Lebensform der Gattung, in Arten und Individuen repr\u00e4sentirt, l\u00e4sst keine fruchtbare Vermischung mit Individuen von Arten einer andern Gattung zu. Aber die Bastarde,","page":768},{"file":"p0769.txt","language":"de","ocr_de":"769\nVariationen der Lebensformen auf der Erde\u00bb\nderen Erzeugung schon durch die Abneigung der Individuen verschiedener Art erschwert wird, sind nicht mehr f\u00e4hig sich durch Vermischung mit ihres Gleichen in ihren Characteren zu erhalten. Vielmehr sind diese Verbindungen entweder ganz unfruchtbar, oder wenn sie zuweilen fruchtbar sind, wie bei der Vermischung eines Bastardes mit einer reinen Art, die zur Erzeugung des Bastarden mitgewirkt hat, so fallt das Product in die Lebensform der einen oder andern Art zur\u00fcck. Constante Wiedererzeugung derselben Lebensform durch Begattung mit ihres Gleichen ist also ein unver\u00e4usserliches und nothwendiges Kennzeichen der Arten. Siehe \u00fcber die hieher geh\u00f6rigen Thatsachen Budolpiu Beitr\u00e4ge zur Anthropologie und allgemeinen Naturgeschichte. Berlin 1812. Prichard Naturgeschichte des Menschengeschlechts. Leipz. 1840. 174. R. Wagner ebend. 439.\nDie Abarten oder Variet\u00e4ten sind innerhalb des Begriffs der Art vorkommende und durch Individuen repr\u00e4sentirte Lebensformen, welche sich auch fruchtbar unter sich und mit anderen Variet\u00e4ten derselben Art vermischen k\u00f6nnen. Individuen verschiedener Gattungen sind keiner fruchtbaren Vermischung f\u00e4hig, Individuen verschiedener Arten einer und derselben Gattung sind es, aber die Producte sind nicht zur Wiedererzeugung ihrer selbst bef\u00e4higt, bei den Abarten der Arten findet auch dieses statt. Die aus der Vermischung zweier Racen entstandene Mittelrace pflanzt sich durch Vermischung mit ihres Gleichen fort, w\u00e4hrend die Vermischung mit schon vorhandenen \u00e4lteren Racen, die in ihre Production eingegangen, durch mehrere Generationen zum Character der bestehenden Racen zur\u00fcckf\u00fchrt. Hierdurch ist bereits der Regrifl der Variet\u00e4t, welche, wenn sie perennirend wird, Race ist, gegeben. Indessen l\u00e4sst sich derselbe auch noch anderweitig begrenzen und von der Art unterscheiden. Die Art ist nicht f\u00e4hig sich in ihren Geschlechtern den Characteren einer andern Art zu n\u00e4hern oder diese selbst zu werden. Gegebene Variationen von Thieren, die allm\u00e4hlige Ueberg\u00e4nge ihrer Charaktere zeigen, k\u00f6nnen nicht als Arten von dem Zoologen auseinander gehalten werden. Bei der Abart ist es anders. Die \u00e4hnlichen zeugenden Individuen einer Variation in der Art, einer bestimmten Race, enthalten als Tr\u00e4ger der Art in sich immer wieder die entfernte M\u00f6glichkeit zur Erzeugung aller anderen Abarten dieser Art, vorausgesetzt, dass die inneren und \u00e4usseren Bedingungen durch eine grosse Reihe von Generationen hindurchwirken. Die Arten deT Thiere bieten keine entf\u00e8rnte M\u00f6glichkeit einer Erzeugung der einen aus der andern dar. Diese m\u00fcssen vielmehr nach Allem, was jetzt in der Geschichte der thierischen Welt vor sich geht, einzeln und unabh\u00e4ngig von einander geschaffen seyn. Zur Erkl\u00e4rung der Variationen einer einzelnen Art ist hingegen nichts erforderlich als zwei sich paarende Individuen, die zur selben Art geh\u00f6ren, und der lange dauernde und durch mehrere oder viele Generationen fortgesetzte Einfluss \u00e4usserer, modificirender, climatischer Einwirkungen. Die Art ist, wenn sie auch durch zwei \u00e4hnliche zeugende Individuen repr\u00e4sentirt wird, in sich in sofern productiv, dass sie selbst","page":769},{"file":"p0770.txt","language":"de","ocr_de":"770\nSchlussbemerkungen \u00fcber die\nunter inneren oder \u00e4usseren Bedingungen zur Erzeugung von Variationen innerhalb der Grenzen der Artencbaraktere f\u00fchrt.\nDie Ursachen, welche das Variiren der Arten bedingen, sind theils innere in den Organismen seihst liegende, theils \u00e4ussere, wie Wahrung, H\u00f6he \u00fcber dem Meer, Clima. Jede Art der Pflanzen und Tbiere hat an und lur sich schon, unabh\u00e4ngig von allen \u00e4usseren Einfl\u00fcssen, einen gewissen Variationskreis. Dahin geh\u00f6ren alle unterschiedenen Formen, welche aus einer Generation hervorgehen k\u00f6nnen. Jedes Individuum einer Art tr\u00e4gt in sich die M\u00f6glichkeit Glieder dieses Variationskreises zu pro-duciren, insofern jedes Individuum einer Art nicht allein das ihm vollkommen gleiche zeugt, sondern unter den Gesetzen, welche die Art \u00fcberhaupt beherrschen, zeugt. So k\u00f6nnen aus einer Ehe Individuen stammen mit blondem und dunkeim Haar, von hagerer schlanker Gestalt, von \u00fcppigen und von untersetzten robusten Formen, von verschiedenem Temperament, von verschiedener Bildung des Gesichtes, der Augen, des Mundes, der Wase, von krausem und schlichtem Haar. Die gew\u00f6hnlichsten aus innern Ursachen sich neu erzeugenden Variet\u00e4ten sind die blonde und schwarzhaarige Variet\u00e4t. Blonde Menschen kommen auch einzeln unter den vorzugsweise schwarzhaarigen Racen vor, wie unter den Mongolen, und Prichard f\u00fchrt seihst mehrere Beispiele von hellfarbigen Wegern an, die von Albino\u2019s noch zu unterscheiden w\u00e4ren.\nDie paarige Zeugung durch zwei Individuen von verschiedener Complexion und das relative Vorwiegen der Auspr\u00e4gung des einen oder andern Zeugenden in den Producten haben zwar an diesen Variationen den meisten Antheil. Aber seihst Individuen von m\u00f6glichst gleicher Complexion lassen hei ihrer gemeinschaftlichen Zeugung eine gewisse Variation der Formen und inneren Bef\u00e4higungen der Producte zu, wie allgemein be-bekannt. Durch die Vermischung dieser Varianten werden ihre Formen nicht constant erhalten und bilden sich nicht zu con-slanten Typen aus. Man sieht indess leicht ein, welche Bedingungen eintreten m\u00fcssen, um unabh\u00e4ngig von Clima, Nahrung, Standort, diese zuf\u00e4llig hervortretenden Varianten zu bleibenden Typen zu fixiren. Je \u00f6fter sich das Gleiche mit Gleichem ohne fremdartige Einmischung paaret, um so l\u00e4nger wird sich der Typus, zu w'elchem die Zeugenden geh\u00f6ren, erhalten. Auf diese Art wird sich unabh\u00e4ngig von allen \u00e4usseren Einfl\u00fcssen eine Race bilden und erhalten k\u00f6nnen, welche zum Variationskreis der Art, d. h. zum Kreis ihrer aus inneren Ursachen m\u00f6glichen Variationen geh\u00f6rt. Man stelle sich eine Brut von m\u00f6glichst gleichen Eltern vor, deren Junge sich wieder unter sich begatten, und lasse diese Vei\u2019mischungen immer innerhalb der Familie bleiben, so wird man eine Zucht, eine Race erhalten, deren Glieder bei allen m\u00f6glichen individuellen Verschiedenheiten von dem Typus der urspr\u00fcnglich zeugenden auf die Dauer beherrscht werden. Zuweilen wenn der formgebende Typus einmal durch eine Folge der Generationen in den Gliedern einer Familie fixirt ist, wird selbst die Einmischung des fremdartigen nicht hinreichend seyn den \u00e4l-","page":770},{"file":"p0771.txt","language":"de","ocr_de":"Variationen der Lebens]ormen auf der Erde.\n771\nteren fixirten Familientypus zu verwischen, und das eindringende Element wird von dem altern alinenreichen absorbirt werden. Dahin geh\u00f6rt ohne Zweifel die Erscheinung, dass in manchen f\u00fcrstlichen Geschlechtern, trotz aller Verbindungen mit anderen H\u00e4usern, auf eine erstaunensw\u00fcrdige Weise der Typus des f\u00fcrstlichen Hauses sich erblich wiederholt, wie in dem Hause der Bourbonen und nicht minder in mehreren deutschen F\u00fcrstenh\u00e4usern. Vorher wurde anschaulich gemacht, wie aus einer Familie durch Isolation und ausschliesslichen Verkehr in ihrem Kreis eine gleichgchildete Nation oder Heerde anwachse. Die Geschichte lehrt, wie der einmal vorhandene Typus der Nationen sich durch Jahrtausende trotz aller individuellen Variationen erh\u00e4lt, und dass er, wenn die Vermischungen mit fremdartigen ausgeschlossen werden, wie hei den Juden, seihst unter den ihre eigenthiimlichen Variationen bedingenden verschiedensten Climaten, sich unab\u00e4nderlich erh\u00e4lt.\nDie Fortpflanzung innerhalb der Gleichartigen \u00fcberliefert aber nicht allein eine im Variationskreis einer Art liegende physische Variet\u00e4t, sie ist auch geeignet die F\u00e4higkeiten, welche die Individuen durch Erziehung erlangen, zu vererben. Die F\u00e4higkeiten der Hunde zur Jagd, zum llirtenleben, zur Bewachung u. s. w. geh\u00f6ren allerdings sammt und sonders zu dem Begriff der Art und cs ist wahrscheinlich, dass aus der Brut eines einzigen wilden Hundes, oder den von dieser Brut abstammenden Generationen durch das der Art inwohnende Variationslehen Glieder hervorgehen, welche gez\u00e4hmt ganz verschiedene Talente, der eine mehr zur Jagd, der andere zum Hirtenlehen, der andere zum W\u00e4chter entwickeln. Allein die Erziehung und Abrichtung der Bef\u00e4higten zu diesem Dienst l\u00e4sst auch die gewonnenen F\u00e4higkeiten auf andere Generationen vererben, sobald diess durch die Vermischung der Gleichartigen gesch\u00fctzt wird.\nDie Variation wird ferner bedingt durch \u00e4ussere Einfl\u00fcsse; je l\u00e4nger diese wii\u2019ken, um so constanter und typischer wird die Variation. Dahin geh\u00f6rt die climatische Zone, unter welcher die Thiere leben. Das w\u00e4rmere oder k\u00e4ltere Klima hat einen vor-zugswreisen Einfluss auf die Haarbekleidung der Thiere. Es giebt bekanntlich hei den meisten Thieren zweierlei Arten der Haare, n\u00e4mlich lange, steife und zwischen diesen k\u00fcrzere, krause, wollenartige, die Grundhaare. Je weiter das Schaaf nach Norden verpflanzt wird, desto gleichm\u00e4ssiger zeigt die Bekleidung beiderlei Haare, hei Schaafen, welche in s\u00fcdlichen Gegenden wohnen, vermehrt sich das Wollenhaar auf Kosten des steifen Haars. So verh\u00e4lt es sich mit den spanischen Gebirgsschaafen Merinos. Das Clima ver\u00e4ndert auch den Habitus und die Gr\u00f6sse der Thiere. D as Rindvieh aus den gem\u00e4ssigten Zonen Europas, z. B. von Holland oder England nach Ostindien versetzt, soll in den folgenden Generationen betr\u00e4chtlich kleiner seyn. Stukm \u00fcber Racen, Kreuzung und Veredlung der landivir/hschaftlichen Hausthiere. Elberfeld 1825. 51. Dagegen hat sich die Haut hei dem nach dem s\u00fcdlichen America verpflanzten Rindvieh durch viele Generationen hindurch allm\u00e4lig so ver\u00e4ndert, dass die brasilianischen H\u00e4ute jetzt","page":771},{"file":"p0772.txt","language":"de","ocr_de":"772\nSchlussbemerkungen \u00fcber die\ndas vorz\u00fcglichste Leder liefern. .Das Meerschweinchen, Cavia aperea, in seinem Vateriande grau, hat sich, nach Europa verpflanzt, zu einer roth, schwarz und weissfleckigen Variet\u00e4t ausgebildet. Auch die H\u00f6he \u00fcber dem Meer hat unabh\u00e4ngig von den Breitegraden auf die Formen der Thiere Einfluss. Nach Sturm erreicht das Schwein in tiefer Gegend den gr\u00f6ssten Umfang des K\u00f6rpers, wird lang und hochseitig, aber kurzbeiniger, wie das ostfriesische. Je h\u00f6her es hinaufsteigt, desto mehr wird der K\u00f6rper kleiner, gedrungener, der Kopf weniger spitz und lang, der Hals k\u00fcrzer, dicker, das Hintertheil abgerundet. Aber auch die Nahrung mo-dificirt die Gestalt und Vegetation. Darum bergen die boil\u00e4ndischen, ostfriesischen, holsteinischen Niederungen ein an Gr\u00f6sse und Milchreichthum ausgezeichnetes Rindvieh, w\u00e4hrend dasselbe auf dem nackten Island in beiden Beziehungen verliert.\nAus dem Zusammenfluss verschiedener, sowohl innerer als \u00e4usserer, im einzelnen nicht nachweissbarer Bedingungen sind die gegenw\u00e4rtigen Racen der Thiere hervorgegangen, von welchen sich die auffallendsten Formen bei denjenigen Thieren zeigen, welche der ausgedehntesten Verbreitung auf der Erde f\u00e4hig sind. Ausser den Ver\u00e4nderungen der ganzen Gestalt sind die Haut, die Hautbekleidung, das Geh\u00f6rn, die Fettentwickelung, der Sitz der auffallendsten Ver\u00e4nderungen, sei es dass die Ohren sich verl\u00e4ngern und h\u00e4ngend werden, wie bei dem kirgisischen Schaaf und einigen Hunden, oder das Geh\u00f6rn fehlt, wie bei dem endlichen Schaaf, oder sich durch seine Spiralen auszeichnet, wie bei dem ungarischen Schaaf, oder dass sich das Fett zu einem R\u00fcckenh\u00f6cker anh\u00e4uft, wie bei dem kleinen Zeburind, oder dass es sieb am Schw\u00e4nze ansammelt, wie bei dem Schaaf Tibets und der Bucharei, oder dass die Haare sich locken, wie bei dem Pudel, oder zur dichtesten Wolle sich kr\u00e4useln, wie bei den Merinos. Bei den Menschen wiederholen sich Verl\u00e4ngerungen der Haut, Verschiedenheiten der Bekleidung, locale Anh\u00e4ufung des Fettes, wie die Verl\u00e4ngerung der Nymphen und ihrer Commissuren bei den Hottentoltinnen und Buschm\u00e4nninnen, das bald schlichte, reiche oder sparsame, bald lockige, bald wollig gekr\u00e4uselte Haar, die Fettanh\u00e4ufung an dem Hintern und Kreuz der Hollentottinnen und Buschm\u00e4nninnen.\nDie durch klimatische Einfl\u00fcsse erzeugten Variet\u00e4ten sind selten so tief eingebildet, dass sic nicht wieder allm\u00e4lig vergeben beim Wechsel des Klimas und vielleicht schon in eine andere klimatische Variation \u00fcbergehen. So hat sich die Wolle der Merinos, welche die Engl\u00e4nder auf einige S\u00fcdseeinseln verpflanzten, schon sehr bald in schlichtes Haar verwandelt. Ebenso geht diese Wolle in Peru und Chili in Kurzem in schlichte, steife Haare \u00fcber. Sturm a. a. O. p. 42. 50. Ein deutscher G\u00e4rtner in Neapel liess wiederholt Samen von Weisskraut aus Deutschland kommen, um dort den noch unbekannten Kopfkohl anzuziehen, es gelang aber nicht und er bekam entweder bloss Blattkohl oder er verwandelte sich in Blumenkohl. Ebend. 48. Nach Sturm soll die nackte Gerste, Hordeum coeleste, am Rheine nicht selten in gemeine Gerste ausarten.","page":772},{"file":"p0773.txt","language":"de","ocr_de":"Variationen der Lebensformen auf der Erde.\n773\nEs giebt indessen auch Beispiele, dass die durch klimatische Einfl\u00fcsse erzeugten typischen Variet\u00e4ten sich nach der Verpflanzung erhalten, wenn sie durch eine bloss gleichartige Vermischung beg\u00fcnstigt worden, davon liefern die Menschenracen die auffallendsten Beispiele.\nDie Menschenracen geboren dem allgemeinen Begriff der Race an, es sind Formen einer einzigen Art, welche sich fruchtbar paaren und durch die Zeugung fortpflanzen, nicht Arten eines Genus; w\u00e4ren sie das letztere, so w\u00fcrden ihre Bastarde unter sich unfruchtbar seyn. Auch hier ist, wie bei allen Racen, die Aberration aller Racenverschiedenheiten von einer Form abzuleiten und bedingt theils durch Variation der Producte der zeugenden Individuen und lange fortgesetzte gleichartige Vermischungen, und theils durch die klimatischen \u00e4usseren Einfl\u00fcsse, m\u00f6gen nun die Menschen zuerst an verschiedenen Orten der Erde zugleich aufgetreten seyn oder sich von einem Ort \u00fcber die Erde verbreitet haben. Allerdings geh\u00f6ren einige \u00e4usserste Formen der Menschenracen zu denjenigen Variationen, welche gegenw\u00e4rtig nicht mehr in ganzer Reinheit von selbst entstehen, weder durch innere Ursachen, noch durch klimatische, und w'elche ihre Cbaractere in keinem Clima ablegen, vielmehr bei einer gleichartigen Vermischung rein fortpflanzen. Denn die Neger bleiben in den gem\u00e4ssigten und k\u00e4lteren Climaten schwarz und behalten alle Charaktere der Neger, erzeugen auch unter sich in anderen Climaten nur ihres Gleichen, und die Europ\u00e4er bleiben ausser einiger Dunkelung der Hautfarbe in den heissen Climaten Europ\u00e4er; unter gleichen Breitegraden erhalten daher Neger, Europ\u00e4er und kupferfarbene Amerikaner ihre Formtypen und ihre Farben, und auf manchen Inseln Australiens giebt es rein sich erhaltende braune malaische und schwarze negerartige Menschen. Indessen sind selbst diese Ilaceneigenth\u00fcmlichkeiten keine absoluten, zu welchen der Variationstrieb nicht auch in anderen Racen in einzelnen F\u00e4llen hinneigte oder klimatische Einfl\u00fcsse Ann\u00e4herungen darbieten.. Denn die wollartige Kr\u00e4uselung des Haares k\u00f6mmt auch bei den Europ\u00e4ern zirvveilen vor, und fast so stark wie bei den Negern. Ihre Gesichts- und Sch\u00e4delform findet sich in einzelnen F\u00e4llen unter den Europ\u00e4ern wieder, bei welchen man nach Weber ausser der ovalen herrschenden Sch\u00e4delform noch die langgezogene und viereckige Form des Sch\u00e4dels als sporadische Hinneigungen zum Neger- und Mongolentypus unterscheiden kann. Vorlik hat \u00fcber die Verschiedenheiten des Beckens in verschiedenen Racen viel Licht verbreitet. Es ist zuweilen von dem Typus der Europ\u00e4er sehr abweichend, am meisten bei den Negern und den Buschm\u00e4nnern, wo es sich durch die verticale Stellung der Darmbeine und andere Verh\u00e4ltnisse der thierisehen Form am meisten n\u00e4hert.. Indessen giebt es auch hier Aberrationen von dem R.acen-typus. Nach Webers Untersuchungen finden sich bei den verschiedenen Menschenracen auch Beispiele von einer Beckenform mit ovalem, rundem, vierseitigem, keilf\u00f6rmigem Beckeneingang. Tn der Negerrace giebt es manche Aberrationen von dem Typus, wie die schwarzbraune Farbe der Hottentotten und Buschm\u00e4nner","page":773},{"file":"p0774.txt","language":"de","ocr_de":"774\nSchlussbemerkungen \u00fcber die\nund das halbwollige Haar der Papusneger Australiens, die zuweilen verschmelzenden Nasenbeine der Hottentotten und Buschm\u00e4nner und die verl\u00e4ngerten Nymphen ihrer Weiber. Obgleich ferner das Verhalten der Haut hei den gegebenen Racen und Nationen zum Lichte und zur klimatischen W\u00e4rme h\u00f6chst verschieden ist, so ist es doch in einer gewissen Breite bei allen Menschen offenbar, und bei allen dunkelt die Haut mehr oder minder in heissen Kli~ maten. Bei der Negerrace ist diese Empfindlichkeit am gr\u00f6ssten, so dass das w\u00e4hrend des Embryolebens noch farblose Rind erst nach der Geburt am Lichte sich f\u00e4rbt. Bei den blonden Europ\u00e4ern dunkelt die Haut am Licht gar nicht, bei den schwarzhaarigen dunkelt sie.\nOb die gegebenen Racen von mehreren oder einem Urmenschen abstammen, kann nie aus der Erfahrung ermittelt werden. Diese Frage hat aber auch nicht f\u00fcr die Theorie der Racen die hohe Bedeutung, welche Einige darin suchen. Denn m\u00f6gen viele oder wenige Individuen eines Thiers oder einer Pflanze zugleich erschaffen seyn, die Bedingungen, welche zu dem Variiren f\u00fchren, beth\u00e4tigen sich auch am Einzelnen. Die Geschichte der Racen der Thiere und Pflanzen f\u00fchrt unabweisslich zu dem Satze, dass alle wahren Racenverschiedenlieiten einer Art von Einzelnen aus durch innere und \u00e4ussere Ursachen und in hinreichend langer Zeit sich bilden k\u00f6nnen.\nEine scharfe Einthciiung der Menschenracen ist unm\u00f6glich. Die gegebenen Formen sind sich ungleich an typischer Sch\u00e4rfe und Eigenth\u00fcmlichkeit, und ein sicheres, wissenschaftliches, inneres Princip der Abgrenzung liegt nicht wie bei den Arten vor. Die Aufgabe einer physischen Geschichte der Menschen ist alle Eigent\u00fcmlichkeiten der Nationen, welche sich durch gleichartige Vermischung als solche constant fortpllanzen, aufzufassen, aber diese naturgeschichtliche Auffassung des Menschen kann nicht der Gegenstand dieses Werkes seyn, welches sich begn\u00fcgen muss, die hervortretendsten Racen des Menschengeschlechts nach Anleitung der Ordnung von Bltjmenbach anzuf\u00fchren, die sich immer noch am meisten empfiehlt, weil sie am bequemsten ist.\nMan unterscheidet demnach:\n1. Die kaukasische Race.\nDie Hautfarbe ist mehr oder minder weiss, ins Fleischfarbene, seltener hellbr\u00e4unlich; das Haar mehr oder minder wellig, hell oder dunkel; die Stirn hoch und gew\u00f6lbt; das Gesicht oval; der Gesichtswinkel *) des Sch\u00e4dels gross bis SO0\u2014\u2022 S50 ; eine\n*) Anmerkung. Unter Gesichtswinkel versteht man den zwischen der Gesichlslinie und einer horizontalen Linie der Sch\u00e4delbasis enthaltenen Winkel. Die erstere ber\u00fchrt die Glabella und den vorspringendsten Thetl des Oberkiefers, letztere ist die Mitte einer Ebene, welche durch die Spina nasalis anterior nnd den Meatus audit, durchgeht. Dieser NVinkcl ist bei Kindern immer gr\u00f6sser als heim Erwachsenen, daher auch heim jungen Affen, wie heim jungenOrang verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig gross, w\u00e4hrend er heim erwachsenen Affen viel kleiner ist und das Gesicht einen mehr thicrischen Ausdruck erhalten hat. Die Gr\u00f6sse des Gesichtswinkels w\u00fcd bedingt durch ein relatives Ucbcrwicgcn des Hirnseh\u00e4dels","page":774},{"file":"p0775.txt","language":"de","ocr_de":"Variationen der Lebensformen auf der Erde.\n775\nschmale, mehr oder weniger gebogene oder vortretende Nase; senkrechtstehende Z\u00e4hne; massige Lippen; vorspringendes Rinn und reicher Bart, wie \u00fcberhaupt reicher Haarwuchs.\nZu dieser Race rechnet Bcumenbacu die Europ\u00e4er (mit Ausnahme der Lappen und Finnen), die westlichen Asiaten bis zum Ob, Ganges und zum caspischen Meer, und die Nordafricaner.\n2.\tDie mongolische Pia ce.\nSie li\u00e2t eine gelbe Hautfarbe; schwarzes, schlichtes, sparsames Haar; breites, plattes Gesicht, dessen breitester Tlieil in der \u2022lochgegend; platte, breite Glabella ; kurze breite flache Nase; enggeschlitzte schiefe Augenlieder, w'eit auseinander stehende Augen.\nHierzu geh\u00f6ren nach Blumewbach die \u00fcbrigen Asiaten, ausser den Malayen, in Europa die Lappen und Finnen, die n\u00f6rdlichsten Amerikaner, Eskimos, Gr\u00f6nl\u00e4nder.\n3.\tDie amerikanische Pi a c e.\nSie hat eine br\u00e4unlich kupferfarbene Haut; schwarzes, schlichtes, sparsames Haar; mehr oder weniger schwachen Bart; mehr oder weniger vorragende Nase. Alle \u00fcbrigen angegebenen Cha-ractere sind nicht constant und nicht treffend.\nHierzu geh\u00f6ren die \u00fcbrigen Amerikaner.\n4.\tDie aethiopische Pi a ce.\nSchwarze oder schwarzbraune Hautfarbe; schwarzes, meist starkes, kurzes wolliges, krauses Haar; schmaler langer Sch\u00e4del; zur\u00fccktretende Stirn; vortretender Oberkiefer bei zur\u00fccktretendem Rinn und schr\u00e4ge gestellten Z\u00e4hnen; kleine oben eingedr\u00fcckte aufgest\u00fclpte Nase ; dicke Lippen; Gesichtswinkel 70 \u2014 75\u00b0,\nDie \u00fcbrigen Afrikaner oder Neger, die Neger Neuhollands und des indischen Archipels oder Papus.\n5.\tDie malayische Race.\nBraune Haut; schwarzes, weiches, lockiges, reichliches Haar; massig schmaler Sch\u00e4del; krummgew\u00f6lbte Stirn; massig vorragender Oberkiefer; stumpfe, breite Nase ; dicke Lippen; grosser Mund.\nZu dieser geh\u00f6ren die braunen Insulaner der S\u00fcdsee, der Sundainseln, Molukken, Philippinen, Marianen und die Malayen des festen Landes Malacca.\nEs w\u00fcrde unstreitig weit zweckm\u00e4ssiger sein, diese Racen als constante und extreme Formen der Variationen entgegenzustellen, als alle jene V\u00f6lker in diese Racen vertheilen zu w'ol-len. Diess ist unm\u00f6glich, und die Wissenschaft erfordert auch keine solche Vertheilung. Der Versuch dazu f\u00fchrt aber unvermeidlich zum Willk\u00fchrlichen. Die tartarischen und finnischen Nationen werden immer eine unbekannte Stellung in Beziehung\n\u00fcber die Smnenzone und den Fresstheil des Sch\u00e4dels. In der Antike ist dieser \"Winkel zur Erzielung eines edlern Ausdrucks bis zum rechten und mehr \u00fcbertrieben und daher in diesem Punkte gleichsam das kindliche Verh\u00e4ltnis auf den Erwachsenen \u00fcbertragen. Die Capacitat des Sch\u00e4dels f\u00fcr das Gehirn ist bei verschiedenen Menschenracen trotz aller \u00e4ussern Verschiedenheiten der Sch\u00e4del nach Tiedemann\u2019\u00ab Untersuchun gen gleich. S. Tiedemann, das Hirn des Negers mit dem des Euro-' p\u00e4ers und Orang-Utans verglichen. Heidelberg 1837. 4. \u00fc\u00eeI er\u2019s Physiologie. ?r III.\t50","page":775},{"file":"p0776.txt","language":"de","ocr_de":"776\nSchlussbemerkungen Uber die\nzu der mongolischen und caucasischen Race behaupten, nicht ohne Wilik\u00fchr zieht man sie zu einer von beiden her\u00fcber. Ebenso ist es mit den Papus und Alfuros im Verh\u00e4ltniss z.u den Malayen und Negern. Enter den Bewohnern der Inseln des stillen Meers kann man schwarze, braune und selbst weisse unterscheiden!, wenigstens giebt es auf den Gesellschaftsinseln sowohl weisse als gelbbraune Menschen. Es kann hier nicht eiufallen, die weissen zu der caucasischen Race z\u00e4hlen zu wollen, ebenso wenig als es gemeint sein kann, die Guyacas unter den America-nein wegen ihrer fast weissen Farbe f\u00fcr identisch mit der cau~ easischen Race sit halten; vielmehr scheinen diese Variationen ohngef\u00e4hr so, wie die blonde und dunkele Variet\u00e4t unter den Europ\u00e4ern entstanden zu sein. Es fragt sich aber auch, ob nlhht die Racen der Papus und Alfuros der Ableitung nach den Negern Africas fremd sind, und ob diese schwarzen Racen des indischen Archipels nicht vielmehr in einem weit n\u00e4hern Zusammenh\u00e4nge mit der braunen malayischen Race stehen, so dass sich die schwarze und braune malayische Race zu einander verhielten, wie die eigentlichen Neger und schwarzbraunen S\u00fcdafricaner. Es ist kein nothwendiger Grund vorhanden, alle auf der Erde vorkommenden schwarzen, oder alle braunen und weissen V\u00f6lker von einander abzuleiten, vielmehr wenn Verschiedenes aus Einem hervorgehen kann, so begreift man sehr wohl, wie die Natur unter geschichtlich getrennt gebliebenen entfernten Nationen auch m\u00f6glicherweise zu \u00e4hnlichen Formen f\u00fchren kann.\nD ie Aehnlichkeit und Verschiedenheit der Sprache kann zuweilen f\u00fcr die Stellung der V\u00f6lker zu gegebenen B.acen leitend sein, aber auch dies ist nicht immer sicher: denn man trifft nicht selten Sprachen von ganz verschiedenen Sprachst\u00e4minen bei einer und derselben Race; Sprachen gehen unter und werden verdr\u00e4ngt, wie die Racen.\nMit R\u00fccksicht auf die Sprachenst\u00e4mme kann man auf den\u00bb grossen Europ\u00e4ischasiatischen Continent unterscheiden:\n1.\tDie V\u00f6lker des indoeurop\u00e4ischen Sprachenstammes umfassend das Sanskrit, die Persische, Griechische, Lateinische, Germanische Celtische, Slavische Sprache.\n2.\tDie Semitischen Sprachen, Aram\u00e4ische, Ph\u00f6nicische, Hebr\u00e4ische, Arabische, wozu noch die Aethiopische oder Geezische im n\u00f6rdlichen und nord\u00f6stlichen Africa.\nDas sind die V\u00f6lker, welche die bedeutendste Geschichte gehabt, die am meisten der Cultur f\u00e4llig gewesen, es sind aber die, welche unter dem Namen der caucasischen Race zusammengefasst sind.\n3.\tDie V\u00f6lker der Tschudischen Sprachen, wohin die mehr oder weniger verwandten Sprachen der Ungern, Finnen, Lappen, Samojeden, Esthen, Lieven, der Permier, der Wogulen, der Ostia-ken, der Tscheremissen, der Mordvinen, der Kori\u00e4ken, Tschutkt-schen, Kurilen, von Einigen auch die Sprachen der kaukasischen V\u00f6lker, wie der Georgier, Tscherkessen gerechnet werden.\n4.\tDie V\u00f6lker der tartarischen, mongolischen Sprachen, wie der Mandschu in China, der T\u00fcrken, Usbeken, Bucharen, Baschkiren, Jakuten, Kirgisen, Kalm\u00fccken, Tungusen u. a.","page":776},{"file":"p0777.txt","language":"de","ocr_de":"Variationen der Lebensformen auf der Erde.\n777\n5. Die V\u00f6lker einsilbiger Sprachen, tbe\u00eels mit Begriffszeiehen (China, Tonkin, Kochinchina), theils mit Sylbenschrift, Tibet, Siam, Birma. Diese Sprachen haben keine Endbiegungen und drucken die Beziehungen der W\u00f6rter durch die Betonung aus.\nAustralien ist theils von den braunen Malay en, theils von den schwarzbraunen Papuas und Alfuros bewohnt. Die Alfuros leben in den Centraltheilen der meisten Molukken, Philippinen, von Madagaskar, l\\eu-Guinea, auch im Norden von Neu-Guinea, auf Neubritanien, Neuirland, Louisiade, Bouka, Santa Cruz, den Salornonsinseln und zerstreut im Innern Neuhollands. Sie gelten f\u00fcr die Ureinwohner; sie haben nach Lesson d\u00fcnne Beine, vorragende Zahne, rauhe, dicke, schlichte Haare, dicke Barte und sind von schmutzig brauner oder schwarzer Farbe. Von den davon verschiedenen Papuas an den K\u00fcsten werden sie Endamanen genannt. Diese ebenfalls schwarzbraunen Papuas an den K\u00fcsten vieler Inseln in den Malayischen Meeren, Waigiou, Sallawaty, Gummen, Battenta u. a. scheinen Mischlinge zwischen den Malayen und Alfuros oder \u00e4chten Papuas zu sein, sie sind den Madagassen \u00e4hnlich. Ihre Haare sind m\u00e4ssig wollig, dick, lang und herabfallend, ihre Nase ist platt, die Nasi\u00f6cher quer weitert, die Stirn hoch, der Bart d\u00fcnn, die Farbe tief schwarzbraun.\nDie Malayen haben sich von Sumatra auf das Festland Malacca ausgedehnt, auch hier findet man die beiderlei Farben bei einem Theil der Gebirgbewohuer, n\u00e4mlich auch die Semang, woilhaarige Negritos.\nVerwandte Malayische Sprachen werden auf den Philippinen, den Sundainseln und Madagaskar gesprochen. Aehnlich im Bau und in den W\u00f6rtern, sind die Neuseel\u00e4ndische, Tahitische, Sand-wichische, Tongische Sprache. Siehe W. v. Humboldt die Ka~ wisprache. I. Berlin, 1836. p. 2.\nAfrica bewohnen zweierlei Nationen, den Indoeurop\u00e4ern verwandte im n\u00f6rdlichen und nord\u00f6stlichen Theil, Abyssinier, Nubier, Aegypter, Berbern, Das ganze \u00fcbrige Afrika ist von Negern bewohnt. Die Zahl der Sprachen ist ausserordentlich, ebenso wie in Amerika, dessen kupferfarbene Bewohner trotz aller nationalen Verschiedenheiten der Peruaner, Guaranen, Araucaner, Pampas, Puris, Botocuden, Moluchen, Patagonen, Feuerl\u00e4nder, Mexican\u00ab-, Caraiben, Canadier, Calii\u00f6rnier, mit Ausnahme vielleicht der (Mongolischen) Bewohner des nord\u00f6stlichen Iheils von America verwandt scheinen.\nln Hinsicht des Einzelnen muss aut die Naturgeschichte des Menschen und die dar\u00fcber handelnden Specialwerke verwiesen werden :\nBlumenbach de generis humani varietate nativa. Gatt. ed. 3. 1795. Blumenbach decades collectionis craniorum Gott. 1790. P. Ca mper \u00fcber den nat\u00fcrlichen Unterschied der Gesichtsz\u00fcge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen \u00c6lers. Berlin,\n1192. Vire y hist. not. du genre humain. Paris, 1824. Desmoulins lust. nat. des races humaines,. Paris, 1820. Bory de St. Vincent der Mensch. Weimar, 1837. G. Vrolik. consid\u00e9rations sur la diversit\u00e9 des bassins de diff\u00e9rentes rares humaines. Amsterd., 1826.\nT. M. Weber die Lehre von den Ur- und Racenformen der Sch\u00e4del","page":777},{"file":"p0778.txt","language":"de","ocr_de":"778 Scblussbemtrkungen \u00fcber Variationen der Lebensformen.\nund Becken des Menschen. D\u00fcsseldorf, 1830. R. Wagner, Naturgeschichte des Menschen. Kempten, 1831. Van der Hoeven in Tijd-schrift poor naturlijke geschiedenis. T. 1.\u2014IV. die Menschenracen, in der Deutschen Vierteljahrsschrift. 1838. Prichard, Naturgeschichte des Menschengeschlechts mit Anmerkungen und Zus\u00e4tzen von R. Wagner. Leipz, 1840. Berthold, Menschenracen jim encycl. IV\u00f6rterb. d. Med. IVissenscli. B. 23. p. 44.\nNachtr\u00e4ge und Berichtigungen.\nBand I. Ueber die Electrieit\u00e4t der Thiere vergl. Matteucci, essai sur les phenomenes \u00e9lectriques des animaux. Paris 1840.\nUeber das Blut siehe Berzelius Thierchemie, neue Ausgabe. Huenefeld, der Chemismus der thierischen Organisation. Lerpz. 1840. R. Wagner, Nachtr\u00e4ge zur vergl. Physiol, d. Blutes. Leipz. 1838. Mandl, anatomie microscopique, sang. Paris 1838. H. Nasse in Unters, z. Phys. u. Path. 2. 2. 145. Gulliver, Lond. a. Edinb. phil. mag. 1839. M\u00e4rz. Owen, Lond. med. gaz. 1839. Nov. 283. Dec. 473.\nUeber die Lymphe siehe Marchand und Colberg in Muell. Arch. 1838. 129.\nUeber die Blutmenge siehe Valentin in dessen Repertorium\n1838.\t281.\nUeber das Athmen siehe Enschut, de respirationis chymismo Traj. 1836.\nUeber die Regeneration der Nerven siehe Steinrueck, de nervorum regeneralione. Berol. 1838.\nUeber die Galie siehe Deiiarceau\u2019s und Berzelius neuere Arbeiten in Berzelius Thierchemie, neue Ausgabe.\nUeber die Verdauung siehe ferner Pappeniieim zur Kenntniss der Verdauung im gesunden und kranken Zustande. Breslau 1839. Wasmann, de digestione. Berol. 1839.\nUeber die Schlingbewegungen siebe Bidder, Beobachtungen \u00fcber die Bewegungen des weichen Gaumens. Dorpat 1838.\nUeber das Wachsthum der Knochen siebe Flourens in l\u2019institut. 1840.\nUeber das graue Fasersystem des Gangliennerven siebe Valentin in Mueller\u2019s Archiv 1839. p. 139. Rosenthal de forma-lione granulosa. Vratisl. 1839. Mueller\u2019s Archiv 1839. Jahresbericht. CCII.\nZur Lehre von den Wirkungen der Nerven siebe Valentin, de functionibus nervorum cerebralium et nervi sympathici. Bernae\n1839.\t4. BIarsiiall Hall \u00fcber den Zustand der Irritabilit\u00e4t in den Muskeln gel\u00e4hmter Glieder in Muell. Arch. 1839. 199. V\u00f6lker\u2019s","page":778},{"file":"p0779.txt","language":"de","ocr_de":"Nachtr\u00e4ge und Berichtigungen.\n779\nMitbewegungen in Muell. Arch. 1838. 409. Budge, Sympathien ebend. p. 389. Magendie, le\u00e7ons sur les fondions et les maladies du syst\u00e8me nerveux. Paris 1839. Grainger on the structure a. fondions of the spinal chord. Land. 1837. F. Nasse \u00fcber Reflexbewegungen in Untersuch, z. Phys. u. Path. Laymann, Anwendung der Induction auf Nervenphysik. Coblenz 1839. Stromeyer, motorisch sensorielle Reflexion. G\u00fclt. Anzeigen 1S36. Van Deen \u00fcber die motorischen und sensoriellen Str\u00e4nge des R\u00fcckenmarkes in Tydschrift voor natuurlijke geschiedenis. 1838. Kronenberg, motorische und sensible Nervenwurzeln in Muell. Arch. 1839. 360. Carus ebend. 336. Stilling \u00fcber Spinalirritation. Leipz. 1840. In Betreff' der Wirkungen einzelner Nerven Volkmann in Muell. Arch. 1840.\nBand II. Pag. 7. Zur Lehre von der Wimperbewegung siehe Mayer, Supplemente 2. Fror. Not. n. 1024. Ueber die Wimperbewegung am Peritoneum der Fr\u00f6sche ebend., vergl. Valentin und Vogt weiter unten. Ueber die Wimperbewegung im Innern der Gehirnh\u00f6hlen siehe Purkinje in Mueller\u2019s Archiv 1836.\nPag. 133. Zur Lehre von der Stimme vergl. J. Mueller \u00fcber die Compensation der physischen Kr\u00e4fte am Slimmorgane. Berlin 1839. Duttenhofer, Unters, \u00fcber die menschl. Stimme. Stuttg. 1839.\nPag. 325. Ueber den feinem Bau der Retina. Die stabf\u00f6rmigen K\u00f6rper liegen nach neueren Untersuchungen nicht an der innern, sondern \u00e4ussern Flache der Retina, an der innern aber eine Schicht von Zellkugeln mit Kern, Hirn-Ganglien-Kugeln. Man sehe \u00fcber den feinem Bau der Retina Bidder in Mueller\u2019s Archiv. 1839. p. 371. Hannover ebendas. 1840. p. 320.\nZur Lehre vom Sehen siehe Hu eck in Muell. Arch. 1840. 76. 82. Volkers in Muell. Arch. 1838. 60. Volkmann ebend. 37. 3. Mile in Muell. Arch. 1839. 64. Volkmann ebend. p. 233. Hueck, die Bewegung der Cry st alllinse. Dorpat 1839. Ueber die neueren Leistungen der Physiologie der Sinne siehe Tourtual in Muell. Arch. 1840.\nPag. 491. Ueber Geschmacksnerven vergl. C. Vogt in Mueller\u2019s Archiv 1840. 71.\nPag. 617 \u2014 621. Ueber getrennte Geschlechter bei Echinoder-men siehe Valentin in Froriep\u2019s Not. XII. N.l. Rathke, ebend. N. 269. Peters in Mueller\u2019s Archiv 1810. 143.\nUeber getrennte Geschlechter bei Polypen (Veretillum), Mollusken (Patella. Chiton). Siehe R. Wagner, Fror. Not. XII. 7.\nUeber getrennte Geschlechter bei Carinaria und Firola siehe Edw'ards und Peters L\u2019institut. 1840. N. 334. Ueber vereinigte Geschlechter bei Pecten. Edwards, ebend. 336.\nPag. 625. Die Trennung des Eierstocks vom Eierleiter ist auch bei Sepia von Krohn beobachtet. Mueller\u2019s Archiv 1839. 353.\nPag. 626, Z. 21 liess Abhdlg. d. K. Baiers. Akademie. II. 1837.\nPag. 637. Ueber die Structur der Samenthierchen des B\u00e4ren siehe Valentin Nov. Act. Nat. Cur. XIX. p. 1. p. 237.\nUeber Samenkapseln der Cyclcps siehe v. Siebold in Beitr\u00e4gen zur Naturgeschichte der wirbellosen Thicre. Danzig 1839. Ueber die Samenkapseln der Sepien Peters in Mueller\u2019s Archiv 1810. 4S,","page":779},{"file":"p0780.txt","language":"de","ocr_de":"780\nNachtr\u00e4ge und Berichtigungen.\nPag. 610. Ueber die Menstruation der Affen siehe Ehrenberg Abhand'lg. d. Akademie zu Berlin, 1833. p. 351. 358. Ueber die Menstruation der Thiere Numan, Fror. Not. 150.\nPag. 645. Nach einer brieflichen Mittheilung von Valentin wimpert das Peritoneum bei den Haien zwischen Leber und Ei~ erstoek, lerner der .Bauchfell\u00fcberzug der Nieren und Ovarien.\nNach brieflicher Mittheilung von C. Vogt wimpert hei den weiblichen Salmonen, die keine Eierleiter haben, und hei denen die Eier durch die Bauchh\u00f6hle abgehen, die ganze innere Fl\u00e4che der Bauchw\u00e4nde.\nPag. 647. Die Fortleitung der Samenthiereben bis zum Eierstock ist von Bischoff, R. Wagner, Barry beobachtet.\nPag. 664. Die hier beschriebenen Dotterzelien der Haien und Rochen sind noch von einer andern Zelle, Membran der Mutterzelle umgeben, die sich im Verfolg der Entwickelung mit feiner Granulation f\u00fcllt. Die scheinbaren Theilungen der Dotterzelien scheinen von aneinander liegenden Zellen ihr Ansehen zu erhalten. Bei einigen Haien weichen die Dotterzelien von dem gew\u00f6hnlichen Verhalten ab. So z. B. bei den Scymnen, wo die Dotlerkcrner sehr grosse Zellen sind, welche mit vielen kleineren Zellen, der jungen Brut voll gef\u00fcllt sind.\nPag. 704. Die zweite Reihe der Beobachtungen von Barry ist erschienen. Researches on embryology. Second series. London 1839.\nPag. 727. Die Giraffe hat nach Owen Cotyiedonen am Chorion, wie die Mehrzahl der Wiederk\u00e4uer.\nPag. 750. Das Ovarium der S\u00e4ugethiere besteht nach Valentin\u2019s Untersuchungen anfangs aus R\u00f6hren, in welchen die Follikel entstehen. Valentin in Muell. Arch. 1838. p. 530.\nPag. 755. Im ersten Band dieses Werkes ist das Wachsthum der Z\u00e4hne nach dem Princip der schichtweisen Apposition dargestellt und nur bemerkt, dass in den Plagiostomen hei den Gattungen Myliobatis und Rhinoptera eine Ausnahme stattfinde, indem hier nach meinen Beobachtungen die Zahnplatten schon ihre ganze Gr\u00f6sse erreicht haben, ehe die Ivalksalze in sie abgesetzt werden. Schwann vermuthet bei den h\u00f6hern Thieren einen Uebergang der oberfl\u00e4chlichen Fasern der Zahnpulpa in die Substanz. des Zahns, so dass die Pulpa verknorpele und verkn\u00f6chere. In diesem Falle w\u00fcrde die Chondrose und Ossification schichtweise Vordringen. Owen\u2019s Untersuchungen best\u00e4tigen diese Ansicht. Siehe Ann. d. sc. nat. 1839. (Jet.\nPag. 758. Vergl. Valentin's Beobachtungen \u00fcber die Genesis der Gewebe in Wagner\u2019s Physiologie p. 132. IIenle\u2019s Beobachtungen \u00fcber die Structur der Gewebe, in dessen Symholae ad anatomiam cet. Beruh 1837. Muell. Arch. 1838. p. 102. Fror. N. Not. nr. 291.\nGedruckt Lei den GeLr. Unger in Berlin.","page":780},{"file":"z0001.txt","language":"de","ocr_de":"Nachtr\u00e4ge und Berichtigungen.\nI. Band, dritte Auflage.\nSeite 381. wo die Wirkungen des organischen Fasersystems erl\u00e4utert werden* sind zwei Thesen aufgestellt, dass es entweder mit den Ganglien die unwillk\u00fchrliche vom Gehirn und R\u00fcckenmark unabh\u00e4ngige Bewegung vermittele, oder den chemischen Processen der Absonderung und der Ver\u00e4nderung der Materie diene. F\u00fcr diese Thesen wurden theils experimentelle , \u2022'theils anatomische Thatsachen beigebracht, ohne dass ein entschiedenes Uebergewicht der Gr\u00fcnde zur Feststellung einer dieser Ansichten berechtigte. Doch tritt eine Beg\u00fcnstigung der letztem Ansicht in der Darstellung hervor. Zufolge einiger neuern Beobachtungen von Remak wird der Antheil der Ganglien an der unwillk\u00fcrlichen Bewegung in so weit wahrscheinlicher, als Remak an den auf der Oberfl\u00e4che des Herzens verlaufenden Aesten der Herznerven, beim Kalb viele kleine mikroskopische Ganglien gefunden hat. Vergl. die im zweiten Bande p. 70. aufgestellte Hypothese. Vielleicht lassen sich beide Ansichten vereinigen.\nII. Band.\n%\nSeite 310. Z. 15. \u00fcber den Bau der Augen bei den Spinnen und die Vereinigung der Charactere der zusammengesetzten Augen mit denen der einfachen, siehe Brants in Tydschrift voor natuurlyke geschiedenis. 4. 1. und 2. St\u00fcck, p. 135.\n\u2014\t322. Z. 5. v. u. \u00fcber Richtungslinien des Sehens vergl. Mile in Pog-\ngend. Ann. 1837. N. 9. p. 37.\n\u2014\t316. Z. 12. v. u. \u00fcber den Bau der Retina vergl. Valentin Repert.\n1837. 2.\n\u2014\t440. Z. 10. v. u. In Beziehung auf die hier angef\u00fchrten Gr\u00fcnde f\u00fcr die\nMeinung, dass das Knacken von einer willk\u00fchrlichen Zusammenziehung des Musculus tensor tympani herr\u00fchre, bemerke ich nachtr\u00e4glich, dass mir nach reiflicherer Erw\u00e4gung jene Gr\u00fcnde zu einem Beweise nicht hinreichend scheinen.\n\u2014\t441. Z. 4. Der knackende Ton kann ferner mit dem brummenden\np. 440. unten beschriebenen zugleich erfolgen, aber auch davon isolirt werden. Bringe ich die Bewegung f\u00fcr beide hervor, und gebe gleich darauf einen summenden Ton der Stimme bei geschlossenem oder wenig ge\u00f6ffnetem Munde \u00e4n, so hat dieser eine ausserordentliche Resonanz, und es muss in Folge jener Bewegung etwas ver\u00e4ndert seyn, wodurch etwas stark resonirt, was vorher schwach oder gar nicht resonirte. Die Resonanz des Tons der eignen Stimme ist so stark, dass es wie Orgelton klingt. Die Bewegung zum Knacken scheint die Resonanz nicht einzuleiten, sondern die zweite Art der Bewegung thut es, denn ich kann die Bewegung des Knackens isoliren, ohne dass die Stimme, resonirt. Ich kann ferner die Resonanz auf dem","page":0},{"file":"z0002.txt","language":"de","ocr_de":"einen und andern Ohr isolirt .eintreten* lassen. Eine Erkl\u00e4rung die ser Erscheinung will mir nicht gelingen. Noch ein anderes Reso-nanzph\u00e4noinen des Ohrs verdient hier erw\u00e4hnt zu werden. Dieses kann jeder leicht beobachten, was mit d\u00e9in vorhererw\u00e4hnten nicht der Fall ist. Wenn man irgend einen Ton bei zugehaltenem Mund summend singt, und mit den lose eingesteckten Fingern seiner Hand die beiden Ohr\u00f6ffnungen deckt, ohne fest an zu dr\u00fccken, so h\u00f6rt man seinen Stimmton viel st\u00e4rker als zuvor, aber mit einer eigenen dumpfen Resonanz in den Ohren, wie Orgelton. Wenn der Finger tiefer und fest eindr\u00fcckt, so h\u00f6rt die Resonanz auf. Man kann, wenn man den Finger bloss lose in das eine Ohr h\u00e4lt, die Resonanz auch auf diesem einen Ohre h\u00f6ren. Der Klang bei diesem Resonanzph\u00e4nomen ist \u00e4hnlich demjenigen bei dem vorherbeschriebenen, aber sehr viel schwacher.\nSeite 473. Z. 15. D ie obigen Figuren k\u00f6nnen auch die Ver\u00e4nderung des Klanges eines Instrumentes durch Resonanz erl\u00e4utern. Die kleinste Ver\u00e4nderung eines resonirenden K\u00f6rpers ver\u00e4ndert seinen Klang, wahrschein lieh indem die Abwerfung der Wellen ver\u00e4ndert wird. Da nun die Kreuzung der primitiven Wellen mit den resonirenden Weilen ausserst mannigfaltig scyn kann, so kann auch der Klang von Resonanz \u00e4usserst mannigfaltig seyn.\nBerlin, gedruckt bei den Gebr\u00fcdern ('\nngcr","page":0}],"identifier":"lit17252","issued":"1840","language":"de","title":"Handbuch der Physiologie des Menschen f\u00fcr Vorlesungen. Zweiter Band","type":"Book","volume":"2"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:12:53.905178+00:00"}

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