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{"created":"2022-01-31T14:05:22.482347+00:00","id":"lit19184","links":{},"metadata":{"alternative":"Handbuch der Physiologie. Band 3: Handbuch der Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Hering, Ewald","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"In: Handbuch der Physiologie. Band 3: Handbuch der Physiologie der Sinnesorgane, edited by Ludimar Hermann, 343-601. Leipzig: F. C. W. Vogel","fulltext":[{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"VIERTER THEIL.\nDER RAUMSINN UND DIE BEWEGUNGEN DES AUGES\nVON\nProf. Dr. EWALD HERIMf in Prag.\nERSTER ABSCHNITT.\nDas Sehen mit unbewegten Augen.\nEINLEITUNG.1\nWir sehen die Dinge in sehr vielen F\u00e4llen in einer anderen Gestalt und an einem anderen Orte, als ihrer wirklichen Gestalt und ihrem wirklichen Orte entspricht.\nDer Mond ist f\u00fcr unseren Gesichtsinn eine kleine, flache Scheibe in einer Entfernung, die jedenfalls nicht erheblich \u00fcber die Entfernung hinausgeht, in welcher uns der fernste noch sichtbare Berg am\nl Bei der ausserordentliclien Menge der Einzelthatsachen, welche die Literatur \u00fcber die r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen beigebracht hat, war es ganz unm\u00f6glich, auf dem zugemessenen Raume irgend ersch\u00f6pfend zu sein. Ich habe mich also darauf beschr\u00e4nkt, die a\u00fcgemeinen S\u00e4tze, welche sich aus den bisher bekannt gewordenen Thatsachen abstrahiren lassen, an einigen Beispielen zu er\u00f6rtern. \u2014 Noch reicher fast, als in Betreff der Thatsachen, ist die Literatur in Betreff der Theorien. Diese habe ich kurz ber\u00fchrt, insofern sie mir nicht in handgreiflicher Weise durch die angef\u00fchrten Thatsachen bereits widerlegt schienen. Auf irgendwelche Vollst\u00e4ndigkeit in den Angaben \u00fcber die Literatur habe ich ebenfalls wegen der Ueberf\u00fclle verzichtet. Wer weitere Belehrung sucht oder selbst auf diesem Gebiete arbeiten will, findet ausf\u00fchrliche Literaturverzeichnisse im Handbuche der physiologischen Optik von Helmholtz und in Aubert\u2019s Grundz\u00fcgen der physiologischen Optik (Handb. d. ges. Augenhe\u00fck. von Gr\u00e4fe u. Saemisch II. 2. Th.). In einem Handbuche der Physiologie kann die Lehre von den Sinneswahrnehmungen, welche nur mit einem Fusse in der Physiologie mit dem andern in der Psychologie steht, nicht nach demselben Maassstabe wie die rein physiologischen Capitel bearbeitet werden. Die Psychophysik, deren Hauptinhalt die Lehre von den Sinnen bildet, hat sich bereits zur selbstst\u00e4ndigen Disciplin entwickelt.","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344 Hering, Physiol. Optik IY. Der Raumsinn und die Bewegungen des Auges.\nHorizonte erscheint. Gleichwohl sind wir zu dem Schl\u00fcsse berechtigt, dass der Mond Kugelgestalt und eine Gr\u00f6sse und Entfernung hat, die seine scheinbare weit \u00fcbertrifft. Wir denken uns also den Mond ganz anders, als wir ihn sehen. Den Mond nun, wie wir ihn uns denken, nennen wir den wirklichen Mond. Die fernen B\u00e4ume einer geraden Allee, die wir durchschreiten, erscheinen uns kleiner und einander n\u00e4her ger\u00fcckt, als die gleich grossen B\u00e4ume in unserer N\u00e4he. Wir denken uns aber aus guten Gr\u00fcnden jene fernen B\u00e4ume ebenso gross und in demselben gegenseitigen Abstande von einander, wie die nahen. Den Raum denken wir uns unendlich, aber wir sehen ihn stets begrenzt durch den Horizont, den Fussboden und das Himmelsgew\u00f6lbe, oder sonstwie. Unsere Ueberzeugung, dass der Mond viel gr\u00f6sser und ferner ist, als alles Irdische, dass die fernen B\u00e4ume so gross sind, wie die nahen, kann uns nicht dazu verhelfen, Mond und B\u00e4ume auch entsprechend gross und fern zu sehen.\nDen Raum, wie er uns in einem gegebenen Augenblicke erscheint, wollen wir den jeweiligen Sehraum nennen, und die Dinge, wie wir sie diesen Raum erf\u00fcllen oder begrenzen sehen, die Seh-dinge. Die Form dieser Sehdinge und ihre Anordnung im Sehraume k\u00f6nnen also, wie obige und zahllose andere Thatsachen lehren, andere sein, als die Form und Anordnung der wirklichen Dinge im wirklichen Raume. Die Sehdinge decken sich nach Gestalt und Ort nicht nothwendig mit den wirklichen Dingen, der Sehraum nicht mit demjenigen Theile des wirklichen Raumes, welcher die, den eben vorhandenen Sehdingen entsprechenden wirklichen Dinge umschliesst.\nDa es ein absolutes Maass des Raumes nicht giebt, sondern wir nur eine Raumgr\u00f6sse mit einer anderen vergleichen und das Verh\u00e4ltnis beider feststellen k\u00f6nnen, so ist das eben Gesagte dahin zu verstehen, dass die r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse der in einem gegebenen Augenblicke vorhandenen Sehdinge andere sind, als die r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse der ihnen entsprechenden wirklichen Dinge.\nDiese Unterscheidung zwischen Sehraum und wirklichem Raum, zwischen den Dingen wie sie r\u00e4umlich sind und den Dingen wie sie uns beim Sehen r\u00e4umlich erscheinen, muss durchaus gemacht werden, und man muss sich hier\u00fcber ganz klar sein, wrenn man eine richtige Einsicht in die Gesetze des Sehens gewinnen will. Es handelt sich hierbei nicht um irgendwelche metaphysische Speculation, sondern um einen leicht zu fassenden Fundamentalsatz der Sinnenlehre. In wie weit der Raum und die Dinge, wie wir sie uns auf Grund unserer gesammten sinnlichen Erfahrungen denken und als wirklich bezeichnen, abgesehen von diesem ihrem Vorhandensein in unserem Denken noch eine andere, von diesem Denken unabh\u00e4ngige Existenz haben, ist eine ganz andere Frage, deren Er\u00f6rterung nicht hierher geh\u00f6rt.","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung.\n345\nDer Stoff, aus welchem die Sehdinge bestehen, sind die Gesichtsempfindungen. Die untergehende Sonne ist als Sehding eine flache kreisf\u00f6rmige Scheibe, welche aus Gelbroth, also aus einer Gesichtsempfindung besteht. Wir k\u00f6nnen sie daher geradezu als eine kreisf\u00f6rmige, gelbroth e Empfindung bezeichnen. Diese Empfindung haben wir da, wo uns eben die Sonne erscheint.\nDies ist der einfachste Ausdruck f\u00fcr das Thats\u00e4chliche. Man hat sich aber gew\u00f6hnt zu sagen, man habe die Empfindung eigentlich im Auge oder im Kopfe, und versetze sie nur in den Aussenraum. Die so in den Aussenraum versetzte Empfindung nennt man demnach auch wohl Vorstellung. Da aber Niemand die Sonne in seinem Auge oder in seinem Kopfe sieht, und wir \u00fcberhaupt selbst bei geschlossenen Augen jede Gesichtsempfindung vor den Augen und vor dem Kopfe und niemals in denselben haben, so ist offenbar, dass die letzterw\u00e4hnte Auffassung und Bezeichnungsweise sich nicht blos an das Thats\u00e4chliche h\u00e4lt, sondern der Ausfluss weiterer Speculation ist, die wir bei aller Achtung vor derselben zun\u00e4chst bei Seite zu lassen haben. Dies gilt noch mehr von einer zweiten Auffassung, nach welcher die Empfindung eigentlich formlos ist und erst von uns, z. B. mittels unbewusster Schl\u00fcsse, zu r\u00e4umlichen Vorstellungen verarbeitet wird. Diese sogenannte \u201ereine\u201c Empfindung w\u00e4re hiernach nur ein form- und raumloses Etwas, auf dessen Grundlage erst die Vorstellung als Anschauung sich bildet.\nDa wir aber Gesichtsempfindungen, die weder Form noch Ort noch Ausdehnung, also \u00fcberhaupt keinerlei r\u00e4umliche Eigenschaft h\u00e4tten, gar nicht kennen, solche Empfindungen also f\u00fcr uns ebenfalls nur ein Ergebniss der Speculation sind, so m\u00fcssen wir auch diese Ansicht so lange unber\u00fccksichtigt lassen, als es sich nur um die Schilderung der Thatsachen handelt. Weiss, Schwarz, Blau u. s. w. nennen wir Empfindungen, diese Empfindungen haben immer r\u00e4umliche Eigenschaften, eine mehr oder minder bestimmte Form oder zum Mindesten eine Ausdehnung, auch haben sie immer irgend welchen Ort und zwar diesen stets ausserhalb unserer Augen. Wenn nun eine weisse Empfindung von quadratischer Form vor uns ist, so sagen wir, dass wir ein weisses Quadrat sehen. Umgekehrt k\u00f6nnen wir also auch sagen, dass dieses weisse Quadrat, so wie wir es sehen, d. h. als Sehding, eine weisse quadratisch geformte Empfindung ist, die vpr uns im Sehraum liegt. Es bleibt Jedem unbenommen, sich dies in die Sprache seiner theoretischen Ansichten \u00fcber die Natur, Entstehung und Entwicklung der r\u00e4umlichen Gesichtswahnlehmung zu \u00fcbersetzen.","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"346 Heking, Physiol. Optik IY. Der Raumsinn und die Bewegungen des Auges.\nDiejenige verticale Ebene im Raume, welche unsern K\u00f6rper bei zwangloser aufrechter Haltung, d. i. bei seiner Prim\u00e4rstellung1 in symmetrische H\u00e4lften theilt, nennen wir die Medianebene des wirklichen Raumes.\nEine zweite verticale Ebene geht durch die Drehpunkte beider Augen; sie schneidet die Medianebene rechtwinklig und heisse die Frontalebene des wirklichen Raumes.\nDie durch die Drehpunkte beider Augen gelegte Horizontalebene endlich heisse die horizontale Hauptebene des wirklichen Raumes.\nDurch diese drei Ebenen ist ein medianer, ein frontaler und ein horizontaler ebener Durchschnitt des Kopfes gegeben. Wenn nun der Kopf seine Stellung \u00e4ndert, w\u00e4hrend wir mit den F\u00fcssen noch auf der alten Stelle stehen, so fallen die Ebenen dieser Durchschnitte nicht mehr mit d\u00e7n oben genannten Hauptebenen des Raumes zusammen. Wir nennen die Ebene des medianen Kopfschnittes die Medianebene des Kopfes, die des frontalen Schnittes die Frontalebene des Kopfes, die des horizontalen Schnittes die prim\u00e4re Blick -ebene. Diese drei Ebenen sind also mit dem Kopfe fest verbunden und mit ihm beweglich zu denken; nur wenn der Kopf wieder in die oben angenommene aufrechte und gerade Stellung zur\u00fcckkehrt, fallen diese drei Ebenen des Kopfes wieder mit den drei Hauptebenen des Raumes zusammen.\nJe nachdem wir nun das eine oder das andere zweckm\u00e4ssiger finden, werden wir die Lage eines Aussendinges in Bezug auf die drei Hauptebenen des Raumes oder aber in Bezug auf die drei Schnittebenen des Kopfes bestimmen.\nVon den drei wirklichen Hauptebenen des Raumes haben wir die scheinbaren zu unterscheiden. Wir haben auch bei geschlossenen Augen oder im Finstern immer eine Vorstellung von unserem K\u00f6rper und diese ist bei gerader, aufrechter Stellung besonders genau. Folglich haben wir in diesem Falle auch eine ziemlich zutreffende Vorstellung von der Lage der drei durch ihn bestimmten Hauptebenen des Raumes. Die vorgestellte Medianebene nennen wir seine vermeintliche oder scheinbare Medianebene, und ebenso unterscheiden wir die scheinbare horizontale Hauptebene und die scheinbare Frontalebene des Raumes. Ist unsere Vorstellung von der Stellung unseres K\u00f6rpers ungenau, so wird auch die scheinbare Lage einer oder s\u00e4mmtlicher genannter Hauptebenen eine falsche sein.\n1 Eine genauere Bestimmung dieser Prim\u00e4rstellung wird im Capitel \u00fcber die Augenbewegungen gegeben.","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung.\n347\nWir werden im Folgenden meist eine gerade aufrechte Stellung des K\u00f6rpers und Kopfes annehmen. K\u00f6nnten wir dies ganz ausschliesslich thun, so h\u00e4tten wir nicht n\u00f6thig, die drei Schnittebenen des Kopfes von den drei Hauptebenen des Raumes zu unterscheiden, denn dieselben w\u00fcrden dann immer zusammenfallen. Wir werden ferner annehmen, das Vorstellungsbild, welches wir auf Grund zahlreicher gegenw\u00e4rtiger Empfindungen und unter Mithilfe erg\u00e4nzender Erinnerungsbilder von unserem K\u00f6rper haben, decke bei Prim\u00e4rstellung desselben unter gew\u00f6hnlichen Umst\u00e4nden den wirklichen K\u00f6rper, so dass die drei scheinbaren Hauptebenen des Raumes mit seinen wirklichen zusammenfallen.\nDenjenigen Theil des wirklichen Raumes, dessen Inhalt bei einer gegebenen Augenstellung beiden Augen zugleich sichtbar ist, nennen wir den binocularen Gesichtsraum zum Unterschiede vom Ge-sichtsraum\u00eb des linken oder rechten Auges. Der binoculare Gesichtsraum ist der, beiden unocularen Gesichtsr\u00e4umen gemeinsame Theil des Aussenraumes. Wir unterscheiden also streng zwischen dem jeweiligen Gesichtsraum, welcher die eben gesehenen Dinge, und dem jeweiligen Sehraume, welcher die entsprechenden Sehdinge enth\u00e4lt.\nEs wird sp\u00e4ter er\u00f6rtert werden, dass wir bei Prim\u00e4rstellung des Kopfes und symmetrischer Convergenz der Gesichtslinien einen Aus-senpunkt, der sich auf beiden Netzh\u00e4uten an den Stellen des directen Sehens abbildet, in der scheinbaren Medianebene sehen und zwar mit solcher Bestimmtheit, dass wir, wenn dabei zugleich viele andere Punkte sichtbar sind, \u00fcber die Wahl des in der Medianebene erscheinenden nur innerhalb eines sehr kleinen Sehraumbezirkes zweifelhaft sind. Daraus folgt aber nicht, dass in allen F\u00e4llen ein Aussenpunkt der uns in der Medianebene zu liegen scheint, auch in der wirklichen Medianebene liegt. Denn erstens k\u00f6nnen wir uns \u00fcber die Stellung unseres K\u00f6rpers oder Kopfes t\u00e4uschen, welchenfalls die wirkliche Medianebene nicht mit der scheinbaren zusammenfallen w\u00fcrde. Zweitens k\u00f6nnten unsere Gesichtslinien wider unseren Willen unsymmetrisch convergiren, w\u00e4hrend wir geradaus zu sehen vermeinen. Drittens k\u00f6nnte der Gang der Lichtstrahlen, -welche von dem fraglichen Aussenpunkte ausgehen, ein ungew\u00f6hnlicher sein, weil wir z. B. Prismen vor beiden Augen h\u00e4tten. In allen diesen F\u00e4llen w\u00fcrde sich ein nicht median gelegener Aussenpunkt auf den Stellen des directen Sehens abbilden k\u00f6nnen, und wir w\u00fcrden denselben mit grosser Bestimmtheit in der Medianebene sehen, auch wenn wir w\u00fcssten, dass er nicht da liegt.","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348 Hering, Physiol. Optik IY. Der Raiimsinn und die Bewegungen des Auges.\nWir m\u00fcssen deshalb streng unterscheiden zwischen der Bestimmtheit der Lage eines Sehdinges und der mehr oder minder grossen Uebereinstimmung dieser Lage mit der des entsprechenden wirklichen Dinges im wirklichen Raume. Hat ein Sehding zu den drei scheinbaren Hauptebenen des Raumes dasselbe Lagenverh\u00e4ltniss, wie das entsprechende wirkliche Ding zu den wirklichen Hauptebenen, und fallen erstere und letztere zusammen, so sagen wir, dass der Sehort des Dinges oder seine Lokalisirung richtig ist. Die Lokalisirung eines Sehdinges kann aber sehr bestimmt und doch falsch sein. Wie n\u00f6thig es ist, diese strenge Unterscheidung zwischen der Bestimmtheit und der Richtigkeit der Lokalisirung zu machen, geht aus Folgendem hervor.\nUm unsere Bewegungen in Uebereinstimmung zu setzen mit den r\u00e4umlichen Gesichtswahrnehmungen und z. B. mit Sicherheit nach einem gegebenen Ziele zu werfen, ist nothwendig, dass erstens der scheinbare Ort des Zieles in gesetzm\u00e4ssiger Weise von seinem wirklichen Orte abh\u00e4nge, und dass zweitens die Wurfbewegung der Hand wieder in gesetzm\u00e4ssiger und zweckentsprechender Weise von dem scheinbaren Orte des Dinges abh\u00e4nge. Dass der scheinbare Ort dem wirklichen entspreche, ist dabei nicht n\u00f6thig. Denn angenommen, man s\u00e4he das Wurfziel, \u00e4hnlich wie den Mond, viel zu nahe, so w\u00fcrden wir dasselbe doch treffen, wenn wir gelernt h\u00e4tten, bei einer bestimmt gegebenen scheinbaren Entfernung des Zieles dem Wurfgeschoss denjenigen Stoss zu ertheilen, welcher es bis zum wirk: liehen Orte des Zieles treibt. Hierzu bedarf es also, wenn anders die Bedingungen des Sehens die gew\u00f6hnlichen und normalen sind, nur der Bestimmtheit nicht auch der Richtigkeit des scheinbaren Ortes.\nUm den Ort eines kurz zuvor gesehenen Dinges nachtr\u00e4glich mit den Fingern richtig anzugeben, oder einen gesehenen Gegenstand sicher mit der Hand zu ergreifen, auch wenn die Hand w\u00e4hrend der Bewegung selbst nicht gesehen wird, ist ebenfalls eine richtige, der Wirklichkeit entsprechende Lokalisirung gar nicht n\u00f6thig, sondern nur erforderlich, dass dieselbe hinreichend bestimmt sei, damit durch sie als Zwischenglied eine gesetzm\u00e4ssige Beziehung zwischen dem wirklichen Orte des gesehenen Dinges und der Bewegung der Hand gegeben werde. \u2014\nUnser Sehorgan besteht aus den beiden Augen, den Sehnerven und denjenigen Hirntheilen, welche am Zustandekommen der in das Bereich des Gesichtssinnes geh\u00f6renden Empfindungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen mit betheiligt sind. Wir nennen dies gesammte Organ das Doppelauge.","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"1. Cap. Die Correspondent der Netzh\u00e4ute.\n349\nDa wir normaler Weise mit beiden Augen zugleich sehen, so haben wir von dem doppel\u00e4ugigen Sehen auszugehen, und das ein\u00e4ugige Sehen nur in zweiter Linie zu ber\u00fccksichtigen. Wir werden uns im ersten Abschnitte unserer Betrachtung die Augen unbewegt denken, im zweiten aber das Sehen mit wanderndem Blicke er\u00f6rtern.\nERSTES CAPITEL.\nDie Correspondent der Netzh\u00e4ute.\nDas L\u00e4geverh\u00e4ltniss eines Aussenpunktes zu den beiden Netzh\u00e4uten des Doppelauges bestimmen wir mittels der Richtungslinien, deren jede einen Aussenpunkt mit seinem Bildpunkte auf der Netzhaut verbindet. Wir nehmen an, dass s\u00e4mmtliche Richtungslinien sich in einem Punkte kreuzen, welcher seine Lage im Auge nie \u00e4ndert. S\u00e4mmtliche Richtungslinien einer Netzhaut bilden ein Strahlb\u00fcschel, das mit dem Auge fest verbunden und mit ihm beweglich ist. Jedem bestimmten Strahle dieses B\u00fcschels entspricht ein bestimmter Netzhautpunkt und umgekehrt. Jedem bestimmten Aussen-punkte, welcher beiden Augen zugleich sichtbar ist, entsprechen zwei Richtungslinien, deren Lage in jedem Strahlb\u00fcschel und Auge von der jeweiligen Stellung des letzteren abh\u00e4ngt.\nGleichg\u00fcltig ist hierbei vorerst, wie wir uns die Netzhaut gestaltet denken, und wir werden deshalb im Folgenden der Einfachheit wegen meist annehmen, jede Netzhaut sei eine sph\u00e4risch gekr\u00fcmmte Fl\u00e4che, deren Mittelpunkt im Kreuzungspunkte der Richtungslinien liegt, oder eine im hinteren Endpunkte der Gesichtslinie senkrecht zur letzteren stehende Ebene, auf die wir uns s\u00e4mmtliche Punkte der wirklichen Netzhaut mittels der Richtungslinien projicirt denken.\nWir wollen ferner annehmen, dass der Kreuzungspunkt der Richtungslinien trotz der Accommodation eine unver\u00e4nderliche Lage im Auge haben.\nEin ausgezeichneter Strahl jedes der beiden Strahlb\u00fcschel ist die Gesichtslinie (Helmholtz) als die der Stelle des sch\u00e4rfsten oder directen Sehens entsprechende Richtungslinie. Einen Punkt ein\u00e4ugig oder doppel\u00e4ugig fixiren heisst die Gesichtslinie eines oder jedes","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"35(T Hering, Physiol. Optik IY. 1. Cap. Die Correspondenz der Netzh\u00e4ute.\nAuges so stellen, dass sie durch den fixirten Punkt geht. Beide Gesichtslinien schneiden sich beim gew\u00f6hnlichen Sehen stets; ihre Ebene heisse die Blick ebene und ihr Durchschnittspunkt der Blickpunkt. Derselbe wird auch als Fix\u00e2t ionsp unkt bezeichnet; wir wollen jedoch mit diesem Worte den Punkt benennen, in welchem eine Gesichtslinie ein Aussending schneidet. Wenn wir z. B. auf das Papier sehen, w\u00e4hrend die Gesichtslinien parallel liegen, so schneidet die linke Gesichtslinie das Papier in einem andern Punkte, als die rechte und wir haben also einen links\u00e4ugigen und einen rechts\u00e4ugigen Fixationspunkt zu unterscheiden. Der Blickpunkt liegt dabei in grosser Ferne hinter dem Papier, oder es giebt, falls die Gesichtslinien nicht genau in einer Ebene liegen, gar keinen Blickpunkt. F\u00fcr gew\u00f6hnlich fallen allerdings beide Fixationspunkte mit dem Blickpunkte zusammen.\nDer Winkel, welchen bei feststehendem Auge zwei Richtungslinien einschliessen, die den beiden Endpunkten einer gegebenen Strecke im Aussenraume entsprechen, heisst der Gesichtswinkel der Strecke.\nStreng genommen m\u00fcsste man entweder die im vorderen Knotenpunkte sich kreuzenden vorderen Richtungslinien, in vielen F\u00e4llen noch besser die Yisirlinien zur Bestimmung des Gesichtswinkels ben\u00fctzen. Von allen diesen Winkeln w\u00e4re noch der Gesichtswinkel bei bewegtem Auge zu unterscheiden, d. i. der Winkel, welchen die beiden Lagen der Gesichtslinie bei abwechselnder Fixirung des einen und anderen Endpunktes der Strecke einschliessen. Seine Spitze liegt im Drehpunkte des Auges, insoweit wir den Abstand dieses Punktes von der Gesichtslinie vernachl\u00e4ssigen d\u00fcrfen.1\nDie Annahme, dass sich s\u00e4mmtliche Richtungslinien in einem Punkte schneiden, der seinen Ort im Auge nicht \u00e4ndert, ist selbstverst\u00e4ndlich ungenau, aber sie ist uns als die f\u00fcr die Darstellung weitaus bequemste erschienen. Handelte es sich nur um das Sehen isolirter Punkte oder Linien, nicht um das Sehen von Grenzlinien verschieden heller und verschieden farbiger Fl\u00e4chen, so w\u00fcrde man besser die Visirlinien statt der Gesichtslinien ben\u00fctzen und mit Helmholtz annehmen, dass das Centrum der Visirlinien eine unver\u00e4nderliche Lage im Auge hat, so wie ferner annehmen, dass die zu einem bestimmten Netzhautpunkte geh\u00f6rige Visir-linie bei der Accommodation ihre Lage im Auge nicht \u00e4ndert. Die Netzhautbildfl\u00e4che k\u00f6nnte man sich dann als die vordere oder hintere H\u00e4lfte einer um das Centrum der Visirlinien als Mittelpunkt gelegten Kugelfl\u00e4che denken; denn es kommt ja auch hier nur darauf an, dass ein bestimmter Netzhautpunkt einer bestimmten Linie des Visirlinienbiischels zugeh\u00f6re und umgekehrt.\n1 Vgl. Helmholtz, Physiol. Optik S. 99.","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"Das Schema der Correspondes.\n351\nI. Das Schema der Correspondes.\nWenn wir einen bestimmten Stern am Himmel flxiren, so scheinen uns s\u00e4mmtliche Sterne an einer je nach den Umst\u00e4nden ebenen oder irgendwie gekr\u00fcmmten Fl\u00e4che zu liegen, welche die Grenze unseres Sehraumes bildet. Stehen wir vor einer weissen weit ausgedehnten vertikalen Wand und fixiren eine Stelle derselben, so sehen wir entsprechend eine weisse Ebene als Grenzfl\u00e4che des Sehraumes. Eine solche bei unbewegten Augen erscheinende Sehfl\u00e4che, vor welcher nichts Anderes sichtbar ist, und welche den Sehraum begrenzt, heisstein Sehfeld des unbewegten Doppelauges.\nSchliessen wir w\u00e4hrend der Fixirung eines bestimmten Sternes ein Auge, so erscheinen uns die Sterne nach wie vor an denselben Orten im Sehfelde. Verdecken wir bei binocularem Sehen dem einen Auge durch' einen nahe vorgehaltenen Schirm die eine H\u00e4lfte des Himmels bis zum fixirten Sterne, dem andern die andere H\u00e4lfte, so setzen sich die beiden ein\u00e4ugig gesehenen H\u00e4lften zu einem Ganzen zusammen, in welchem die Sterne dieselbe scheinbare Lage haben wie zuvor.\nEs ist also, wenn der Blickpunkt in grosser Ferne liegt, und die Gesichtslinien parallel sind, f\u00fcr die scheinbare Lage der sichtbaren sehr fernen Dinge, insoweit der hier beschriebene Versuch dies zu beurtheilen gestattet, gleichg\u00fcltig, ob die Dinge sich zugleich in beiden oder nur in einem, oder endlich ob sie sich zum Theil im einen, zum Theil im andern Auge abbilden, vorausgesetzt, dass dabei das Sehfeld seine Form und Lage nicht \u00e4ndert, und die scheinbare Ferne der Dinge dieselbe bleibt, wie dies beim Versuche am Himmelsgew\u00f6lbe der Fall ist.\nVerschieben wir dagegen w\u00e4hrend der Betrachtung des Sternhimmels das eine Auge durch Fingerdruck etwas nach oben oder unten, schieben wir schnell vor das eine Auge ein Prisma oder schielen wir einw\u00e4rts, so dass die Gesichtslinien nicht mehr parallel liegen; dann erscheinen alle Sterne doppelt. Verdecken wir dem durch Fingerdruck verschobenen Auge die eine H\u00e4lfte des Himmels, dem andern die andere, so haben die beiden ein\u00e4ugig gesehenen H\u00e4lften eine ver\u00e4nderte Lage zu einander und erscheinen gegen einander verschoben.\nDie Bilder des Sternhimmels m\u00fcssen also bei binocularer Betrachtung auf beiden Netzh\u00e4uten eine ganz bestimmte Lage haben, wenn durch vollst\u00e4ndiges oder partielles Verdecken eines Auges in der r\u00e4umlichen Erscheinungsweise der Sterne keine Aenderung ein-","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352 Hering, Physiol. Optik IY. 1. Cap. Die Correspondenz der Netzh\u00e4ute.\ntreten soll. Diese Lage der Bilder auf beiden Netzh\u00e4uten nennt man die correspondirende Lage, und die Stellen beider Netzh\u00e4ute, auf welchen hierbei das Bild eines und desselben Sternes liegt, heissen correspondirende Stellen oder Deckstellen.\nJedes Paar solcher Deckstellen ist also dadurch charakterisirt, dass beiden in einem gegebenen Sehfelde wie z. B. dem scheinbaren Himmelsgew\u00f6lbe ein und derselbe Ort entspricht, an welchem die von ihnen ausgel\u00f6ste Empfindung erscheint, und zwar gleichviel, ob diese Empfindung von beiden Stellen zugleich oder nur von einer derselben ausgel\u00f6st wurde. Daher kann die eine Stelle durch die andere vertreten werden, ohne dass dadurch am scheinbaren Orte der zugeh\u00f6rigen Empfindung im gegebenen Sehfelde etwas ge\u00e4ndert wird.\nWenn man beide als Halbkugelfl\u00e4chen oder Ebenen gedachten Netzh\u00e4ute so zusammen legen w\u00fcrde, dass die beiden congruenten Bilder des Sternhimmels sich dabei deckten, so w\u00fcrden auch alle correspondirenden Punkte beider Netzh\u00e4ute sich decken, und die beiden Richtungslinien jedes Paares, welche wir als correspondirende Richtungslinien bezeichnen k\u00f6nnen, zusammenfallen. Da die Stellen des directen Sehens, welche wir die physiologischen Netzhaut-centren nennen wollen, nicht mit den geometrischen Mittelpunkten der Netzh\u00e4ute zusammenfallen, sich vielmehr jede Netzhaut von jenen Centren nasenw\u00e4rts weiter erstreckt als schl\u00e4fenw\u00e4rts, so versteht sich, dass bei dem gedachten Zusammenliegen der hemisph\u00e4rischen Netzh\u00e4ute sich dieselben nur mit ihrem gr\u00f6sseren Theile decken k\u00f6nnten, und dass dieser gemeinsame Theil jederseits durch die nasenw\u00e4rts gelegene Partie jeder Einzelnetzhaut \u00fcberragt w\u00fcrde. Der Mitteltheil eines gegebenen Sehfeldes, in welchem die auf den correspondirenden Abschnitten beider Netzh\u00e4ute abgebildeten Dinge erscheinen, ist der binoculare, die nach rechts und links anstossen-den Theile sind die unocularen Abschnitte des Sehfeldes.\nUm die Lage eines Punktes der Netzhaut zu bestimmen, legen wir bei Prim\u00e4rstellung des Kopfes durch die beiden horizontal und parallel geradeaus gestellten, d. i. in ihrer Prim\u00e4rstellung befindlichen Gesichtslinien eine Ebene, die Blickebene, und bezeichnen die Linie, in welcher jede Netzhaut von dieser Ebene geschnitten wird, als mittlen Querschnitt der Netzhaut (horizontale Trennungslinie nach Ruete, Netzhauthorizont nach Helmholtz). Ferner denken wir uns durch jede Gesichtslinie eine zur Blickebene senkrechte Ebene gelegt, und nennen die Linie, in welcher diese Ebene die Netzhaut durchschneidet, den mittlen L\u00e4ngsschnitt (ver-","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"Einteilung der Netzhaut.\n353\nticale Trennungslinie nach Ruete, scheinbar verticaler Meridian nach Helmholtz). Mittler Querschnitt und mittler L\u00e4ngsschnitt der Netzhaut kreuzen sich also im Centrum der Netzhaut.\nLegen wir ferner in die Verbindungslinie der beiden Kreuzungs-punkte der Richtungslinien alle m\u00f6glichen zur Blickebene geneigten Ebenen, so wird jede Netzhaut von jeder solchen Ebene in einer Linie durchschnitten, welche wir einen Querschnitt der Netzhaut nennen wollen. Legen wir ebenso durch die im Kreuzungspunkte der Richtungslinien senkrecht zur horizontalen prim\u00e4ren Blickebene stehende Gerade alle m\u00f6glichen Ebenen, so schneidet jede derselben die Netzhaut in einer Linie, welche ein L\u00e4ngsschnitt heisse. Jeder Querschnitt oder L\u00e4ngsschnitt einer Netzhaut ist bestimmt durch die Gr\u00f6sse und das Vorzeichen des Winkels, welchen seine Ebene mit der Ebene des mittlen Querschnittes oder L\u00e4ngsschnittes einschliesst, und je zwei tyier- oder* L\u00e4ngsschnitte, deren Ebenen um gleiche positive, beziehungsweise negative Winkel von der Ebene des mittlen Quer- oder L\u00e4ngsschnittes ab weich en, sind correspondirende Netzhautschnitte. Jeder Netzhautpunkt ist bestimmt, wenn wir den Querschnitt und den L\u00e4ngsschnitt kennen, welchem er angeh\u00f6rt; und je zwei Punkte beider Netzh\u00e4ute, welche correspondirenden L\u00e4ngs- und Querschnitten angeh\u00f6ren, sind correspondirende Punkte. Rechts und oben sind positiv.\nDie Abweichung eines Netzhautpunktes vom mittlen Querschnitte heisst seine (positive oder negative) L\u00e4ngsabweichung oder H\u00f6he, und wir messen dieselbe durch den Winkel, welchen die Ebene des Querschnittes, dem der Punkt angeh\u00f6rt, mit der Ebene des mittlen Querschnittes einschliesst. Entsprechend messen wir die (positive oder negative) quere Abweichung oder Breite eines Netzhautpunktes durch den Winkel, welchen die Ebene des L\u00e4ngsschnittes, dem der Punkt angeh\u00f6rt, mit der Ebene des mittlen L\u00e4ngsschnittes macht. Deckpunkte sind also solche, welche auf beiden Netzh\u00e4uten gleiche Breite und H\u00f6he haben.\nUm die Beziehung eines bestimmten Deckpunktpaares zu der Stelle des Sehfeldes ausdr\u00fccken zu k\u00f6nnen, in welcher eine von ihm ausgel\u00f6ste Empfindung erscheint, nennen wir L\u00e4ngsmittellinie des Sehfeldes die Linie, auf welcher s\u00e4mmtliche von den L\u00e4ngsschnitten der Netzh\u00e4ute ausgel\u00f6sten Empfindungen gesehen werden, und quere Mittellinie des Sehfeldes die Linie, welche den scheinbaren Ort aller Aussenpunkte enth\u00e4lt, die sich auf den mittlen Querschnitten der Netzh\u00e4ute abbilden. Im Kreuzungspunkte der queren und der L\u00e4ngsmittellinie erscheint also die den Netzhautcentren entsprechende Empfindung, er ist der scheinbare Ort des fixirten Aussen-\nHandbuch der Physiologie. Bd. IH.\t23","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354 Hering, Physiol. Optik IY. 1. Cap. Die Correspondenz der Netzh\u00e4ute.\npunktes. Setzen wir den einfachsten Fall, dass das Sehfeld eine Ebene ist, so k\u00f6nnen wir wieder den Abstand eines beliebigen Punktes im Sehfelde von der queren Mittellinie desselben den (positiven oder negativen) L\u00e4ngsabstand oder die H\u00f6he, den Abstand von der L\u00e4ngsmittellinie des Sehfeldes den queren Abstand oder die Breite des Punktes nennen.\nDa nun, wie wir gesehen haben, jedem Deckpunktpaare nur ein Punkt im Sehfelde entspricht, so k\u00f6nnen wir jede zwei Deckpunkte dadurch charakterisirt denken, dass die von ihnen ausgel\u00f6ste Empfindung eine und dieselbe H\u00f6he und Breite im gegebenen Sehfelde hat, gleichviel, ob sie durch gleichzeitige Reizung beider oder nur eines der Deckpunkte ausgel\u00f6st wurde.\nCorrespondirend gelegene Netzhautpunkte haben also in Beziehung auf ein gegebenes Sehfeld einen und denselben oder identischen H\u00f6hen- und Breitenwerth. Die \u00e4ltere Bezeichnung der Deckstellen als identischer Stellen erscheint deshalb angemessen, wenn es sich nur um den ihnen entsprechenden Ort in einem gegebenen Sehfelde handelt; im Uebrigen ist sie unzutreffend, weil es, wie wir sp\u00e4ter sehen werden, f\u00fcr die scheinbare Ferne der Dinge nicht gleichg\u00fcltig ist, ob sie sich auf einem Punkte der rechten oder auf dem correspondirenden Punkte der linken Netzhaut abbilden.\nZwei Punkte auf beiden Netzh\u00e4uten, welche nicht Deckpunkte sind, heissen disparate Punkte (Fechner), zwei verschiedene Punkte einer und derselben Netzhaut differente Punkte (Fechner).\nEin Punktpaar, welches correspondirenden Querschnitten aber disparaten L\u00e4ngsschnitten angeh\u00f6rt, heisse ein querdisparates Punktpaar; eines, das auf correspondirenden L\u00e4ngsschnitten aber disparaten Querschnitten liegt, ein l\u00e4ngs dis parates; ein sowohl auf disparaten Quer- als auch L\u00e4ngsschnitten liegendes heisse ein schr\u00e4g disparates Punktpaar.\nDie Differenz des Breitenwerthes der beiden disparaten L\u00e4ngsschnitte, welchem ein Punktpaar angeh\u00f6rt, ist das Maass der queren Disparation, die Differenz des H\u00f6henwerthes der beiden disparaten Querschnitte, auf welchen das Punktpaar liegt, das Maass der L\u00e4ngs-disparation.\nDiese Art der Eintheilung der Netzh\u00e4ute, welche eine physiologisch begr\u00fcndete und f\u00fcr die meisten weiteren Untersuchungen allein zweckm\u00e4ssige ist, wurde von Hering1 eingef\u00fchrt. Ueber die \u00e4ltere Eintheilung s. u.\n1 Hering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie I. \u00a7 6. 1861 und III. \u00a7 77. 1863.","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"Methode der Substitution.\n355\nAus dem Gesagten folgt \u00fcbrigens noch nicht, dass zwei Empfindungen, welche von differenten Punkten desselben L\u00e4ngs- (oder Quer-) Schnittes, oder von disparaten Punkten eines correspondirenden L\u00e4ngsschnitt- (oder Querschnitt-) Paares ausgel\u00f6st werden, im ebenen Sehfelde auch denselben Breiten- (oder H\u00f6hen-) Werth haben, und von der mittlen L\u00e4ngs- (oder Quer-) linie des Sehfeldes gleichweit abliegen m\u00fcssen. In wie weit gleichen Breiten- oder H\u00f6henwerthen verschiedener Netzhautpunkte gleiche Breiten- oder H\u00f6henwerthe der zugeh\u00f6rigen Empfindungen im Sehfelde entsprechen, wird im n\u00e4chsten Capitel er\u00f6rtert.\nDie \u00e4ltere aber nur in besonderen F\u00e4llen verwendbare Einthei-lung der Netzhaut ist folgende : Die Stelle des directen Sehens wird als Pol der hemisph\u00e4risch gedachten Netzhaut angesehen; um diesen Pol denkt man sich auf der Kugelfl\u00e4che ein System von Parallelkreisen gelegt. Jede durch die Gesichtslinie gelegte Ebene schneidet die Netzhaut in einem sogenannten Meri d i a ne derselben. Der dem mittlen Querschnitt entsprechende Meridian heisst der scheinbar horizontale, der dem mittlen L\u00e4ngsschnitt entsprechende der scheinbar verticale Meridian. Ein Netzhautpunkt ist bestimmt, wenn man den Meridian und den Parallelkreis kennt, welchem er angeh\u00f6rt.\nII. Genauere Bestimmung der Deckpunkte.\nDie oben erw\u00e4hnte Thatsache, dass wir beim Fixiren eines Sternes dem linken Netzhautbilde des Sternhimmels das correspondirende Bild im rechten Auge ganz oder theilweise substituiren k\u00f6nnen und umgekehrt, ohne dass dadurch die scheinbare Anordnung der Sterne im Sehfelde sich merklich \u00e4ndert, er\u00f6ffnet uns den Weg zur genaueren Untersuchung der Lage der Deckpunkte auf den Netzh\u00e4uten. Wir suchen also festzustellen, in wie weit f\u00fcr je einen bestimmten Punkt der einen Netzhaut ein bestimmter Punkt der andern eintreten kann, ohne dass dadurch der Ort der zugeh\u00f6rigen Empfindung im gegebenen Sehfelde ge\u00e4ndert wird. Diese zuerst von v. Recklinghausen 1 f\u00fcr Convergenzstellungen ben\u00fctzte und von Hering 2 zum Zwecke der allgemeinen Untersuchung der Deckstellen entwickelte Methode heisse die Meth ode der gegenseitigen Substitution der Netzhautstellen.\nDenken wir uns die Gesichtslinien bei Prim\u00e4rstellung des Kopfes horizontal geradeaus, also zugleich parallel gestellt, als ob wir einen\n1\tv. Recklinghausen, Arch. f. Ophthalmologie V. 2. Abth. S. 127. 1859.\n2\tHering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie III. \u00a7 73. 1863.\n23*","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356 Hering, Physiol. Optik IY. 1. Cap. Die Corresponded der Netzh\u00e4ute.\nfernen Punkt betrachteten, der in gleicher H\u00f6he wie unsere Augen \u00fcber dem Horizonte liegt.. In einer dem Fernpunkte der etwas kurzsichtigen oder kurzsichtig gemachten1 Augen befinde sich ein verticaler weisser Schirm, welcher von den parallelen Gesichtslinien senkrecht durchschnitten wird. Die beiden Schnittpunkte seien auf der weis-sen Fl\u00e4che durch zwei ganz gleiche kleine Marken sichtbar gemacht, oder es sei um jeden derselben ein kleiner Kreis gezogen (Fig. 1).\nBefindet sich zwischen den Augen in der Medianebene ein bis nahe an den weissen Schirm reichender schwarzer Schirm oder blickt jedes Auge durch eine cylindrische R\u00f6hre, deren Axe mit der Gesichtslinie zusammenf\u00e4llt, so ist dem linken Auge nur die linke dem rechten nur die rechte Marke sichtbar; die Bilder derselben aber decken sich und man sieht nur eine Marke in der L\u00e4ngsmittellinie des ebenen verticalen Sehfeldes. Zieht man ferner auf dem Schirme durch den linken Fixationspunkt eine senkrechte schwarze Linie, so erscheint dieselbe als eine durch die Mitte des Sehfeldes gehende ann\u00e4hernd verticale Linie, obwohl sie nur vom linken Auge gesehen wird. Da aber unserer Voraussetzung nach zwei correspondirende Netzhautstellen einer und derselben Stelle im gegebenen Sehfelde entsprechen, so muss es gleichg\u00fcltig sein, ob wir dem linken Auge die ganze Linie sichtbar machen oder ihm nur die obere H\u00e4lfte, den correspondirenden Stellen des rechten Auges aber die untere H\u00e4lfte darbieten. Zeichnen wir also die beiden Linienh\u00e4lften so auf den\n1 Bei Anwendung von Linsen muss man sehr sorgf\u00e4ltig darauf achten, dass nicht durch schiefe Stellung der Linse eine Verzerrung des Netzhautbildes herbeigef\u00fchrt werde. Besser ist es immer, wenn man ohne Gl\u00e4ser untersuchen kann.","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"Haploskopische Vorrichtungen.\n357\nSchirm wie es Fig. 1 darstellt, so muss uns wieder eine durch die Marke in der Mitte des Schirmes verlaufende gerade Linie erscheinen, falls sich jetzt die nur vom rechten Auge gesehene untere Linienh\u00e4lfte auf Deckpunkten derjenigen Netzhautpunkte des linken Auges abbildet, welche anfangs das Bild der unteren Linienh\u00e4lfte trugen. Dies ist nun aber meistens nicht der Fall, und deshalb erscheint die Linie in der Mitte geknickt, und es bilden ihre beiden H\u00e4lften einen nach rechts offenen sehr stumpfen Winkel, wie in der Mitte der Fig. 1 dargestellt ist. Bieten wir umgekehrt dem rechten Auge die obere, dem linken die untere Halblinie, so erscheint der Winkel gleichgross, aber nach links offen.\nUm die Linie ungebrochen zu sehen, m\u00fcssen wir entweder die vom linken Auge gesehene obere Halblinie mit ihrem oberen Ende oder die rechts\u00e4ugig gesehene untere Halblinie mit ihrem unteren Ende um einen bestimmten kleinen Winkel nach links hin neigen. Ersteren Falls erscheint uns aber die nun ungebrochene Linie mit dem oberen Ende etwas nach links, letzterenfalls etwas nach rechts geneigt. Soll die Linie ungebrochen und zugleich in der Medianebene erscheinen, so m\u00fcssen wir die erw\u00e4hnte Neigung auf beide Halblinien zu gleichen H\u00e4lften vertheilen. Die dann f\u00fcr jede Halblinie n\u00f6thige Neigung ist individuell verschieden und schwankt nach den bisherigen Angaben zwischen 0\u00b0 und etwa 1\u00b0 30'.\nUm die Neigung der Halblinien leicht und messbar ausf\u00fchren zu k\u00f6nnen, ben\u00fctzt man entweder statt der Linien zwei schwarze F\u00e4den, die je in einem Fixationspunkt befestigt und mit dem andern Ende \u00fcber einer Kreistheilung beweglich sind, oder man theilt nach dem Vorg\u00e4nge Volkmann\u2019s1 den Schirm in eine rechte und linke H\u00e4lfte, giebt jeder H\u00e4lfte die Form einer Kreisscheibe, welche um den Punkt f beziehentlich /' als den Mittelpunkt drehbar ist, versieht die Peripherie jeder Kreisscheibe mit einer Kreistheilung und liest an einem Index die Gr\u00f6sse der n\u00f6thigen Drehung ab.\nDie richtige Lage der Gesichtslinien zum Schirme controlirt man dadurch, dass man in f und /' feine zur Schirmfl\u00e4che senkrechte Nadeln anbringt, welche beiderseits in totaler Verk\u00fcrzung und also punktf\u00f6rmig erscheinen m\u00fcssen.2 Eine derartige Vorrichtung, mittels welcher jedem Auge ein besonderes Gesichtsfeld dargeboten, der Inhalt beider Gesichtsfelder aber vereint im Sehfelde zur Erscheinung gebracht wird, heisse eine haploskopische Vorrichtung.\n1\tVolkmann, Physiol. Untersuchungen II. 1864.\n2\tUeber andere Mittel zur Contr\u00f4le der Stellung der Gesichtslinie in Bezug auf den Schirm vgl. den Abschnitt \u00fcber die Augenbewegungen.","page":357},{"file":"p0358.txt","language":"de","ocr_de":"358 Hering, Physiol. Optik IY. 1. Cap. Die Correspondenz der Netzh\u00e4ute.\nDie Gesammtheit der Richtungslinien, welche den einzelnen Punkten einer durch den Fixationspunkt (/oder f') gehenden Verticallinie entsprechen, bilden eine senkrechte Ebene, welche die Netzhaut in ihrem verticalen Meridiane durchschneidet, und auf diesem Meridiane liegt zugleich das Bild der Linie.\nAus dem Versuche geht also hervor, dass die bei horizontal und parallel geradaus gestellten Gesichtslinien vertical liegenden Netzhautmeridiane nicht genau correspondiren, dass dagegen ein mit dem oberen Ende etwas nach links geneigter Netzhautmeridian des linken Auges einem mit dem oberen Ende um denselben Winkel nach rechts geneigten Meridiane des rechten Auges als correspondirend zugeh\u00f6rt. Ein Linienbild, welches auf diesen symmetrisch zur Meridianebene geneigten correspondirenden Meridianen liegt, erscheint, wie der Versuch lehrt, in der L\u00e4ngsmittellinie des Sehfeldes und theilt dasselbe in eine rechte und linke H\u00e4lfte.\nDiese Netzhautmeridiane nun sind f\u00fcr die meisten Augen die wahren mittlen L\u00e4ngsschnitte der Netzh\u00e4ute, nicht aber sind es, wie wir schematisch annahmen und nur f\u00fcr Einzelne ganz richtig ist, die bei der gegebenen Augenstellung wirklich verticalen Meridiane der Netzh\u00e4ute. Der Winkel, um welchen die beiden Halblinien gedreht werden m\u00fcssen, und um welchen die beiden mittlen L\u00e4ngsschnitte von der verticalen Lage abweichen, ist nicht nur f\u00fcr verschiedene Beobachter verschieden, sondern auch, wie Helmholtz1 gefunden und Donders2 best\u00e4tigt hat, selbst f\u00fcr einen und denselben Beobachter nicht constant, was sogleich seine Erkl\u00e4rung finden wird.\nDie Abweichung der mittlen L\u00e4ngsschnitte von den bei Prim\u00e4rstellung der Augen verticalen Meridianen wurde von Hering3 4 und Helmholtz 4 gefunden, ausf\u00fchrlicher untersucht von Volk-\n1\tHelmholtz, Arch, f Ophthalmologie X. 2. Abth. S. 3.1864.\n2\tDonders, Onderzoekingen physiol. Labor. UtrechtlII. 2. p. 45.1875 und Arch, f. Ophthalmologie XXI. 3. Abth. S. 100.1875. Donders beurtheilte die Lage der mittlen L\u00e4ngsschnitte nach dem scheinbaren Parallelismus zweier Trug- oder Halbbilder, deren eines dem einen, das andere dem andern Auge angeh\u00f6rte. Dies geht nur an, solange keine Veranlassung ist, die Bilder in einer zur Verticalen geneigten Ebene zu sehen. Denn ob solche Halbbilder parallel erscheinen, h\u00e4ngt nicht bloss von ihrer Lage auf den Netzh\u00e4uten ab, sondern auch sehr wesentlich davon, ob man dieselben in einer verticalen oder einer irgendwie geneigten Ebene localisirt (\u201evorstellt\u201c, \u201ezu sehen glaubt\u201c, \u201eprojicirt\u201c). Wirklich auf zwei L\u00e4ngsschnitten gelegene Bilder erscheinen je nach den Umst\u00e4nden parallel, convergent oder divergent nach oben. Man darf daher, wie Hering (Beitr\u00e4ge zur PhysiologieIII. \u00a7 90. 1863) ausf\u00fchrlich gezeigt hat, den scheinbaren Parallelismus von Halbbildern, ausser in ganz besonderen F\u00e4llen, nicht zum ausschliesslichen Kriterium ihrer Lage auf der Netzhaut machen.\n3\tHering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie III. S. 175. April 1863.\n4\tHelmholtz, Verh. d. naturliist.-med. Ver.z. Heidelberg. 3. Mai 1863 und Arch, f. Ophthalmologie IX. 2. Abth. S. 189. 1863.","page":358},{"file":"p0359.txt","language":"de","ocr_de":"Bestimmung der mittlen L\u00e4ngs- und Querschnitte.\n359\nmann.1 Weiters finden sich Messungen bei Helmholtz2, Berthold3, Dobrowolsky4 5, yan Moll 5 und Donders (1. c.).\nv. Recklinghausen6 sah an einem Kreuze, dessen vertikaler Schenkel in der Medianebene, der horizontale in der Blickebene parallel zur Frontalebene lag, wenn er dessen Mittelpunkt aus einer Entfernung von nicht mehr als 25 Ctm. mit einem Auge fixirte, den vertikalen Schenkel nach aussen, den horizontalen nach oben schwach concav gekr\u00fcmmt. Bert-hold7 sah einen fixirten verticalen Faden, der senkrecht zur Gesichtslinie war, als einen schwach gekr\u00fcmmten Bogen mit der Concavit\u00e4t nach rechts, wenn er mit dem rechten, nach links, wenn er mit dem linken Auge beobachtete. Er theilt mit, dass ein anderer Beobachter eine fixirte vertikale Linie stets im Fixationspunkte geknickt sah. Solche Abweichungen m\u00fcssten bei obigen Versuchen mit eingerechnet werden, wenn es auf sehr feine Messungen ank\u00e4me. Sie scheinen keine blossen Anomalien zu sein.\nWiederholt man den Versuch mit horizontalen Linien, so erscheint entweder die eine Halblinie der Wirklichkeit entsprechend als die gerade Fortsetzung der andern, oder die beiden Halblinien schliessen im Sehfelde wieder einen sehr stumpfen Winkel ein, der aber einer Geraden meist viel n\u00e4her kommt, als der an den verticalen Halblinien beobachtete.\nDer Winkel ist nach oben offen, wenn die linke Halblinie dem linken, die rechte dem rechten Auge entspricht.\nDiesenfalls werden also die beiden Netzh\u00e4ute in nicht corre-spondirenden Meridianen von der Blickebene geschnitten. Man kann es aber leicht dahin bringen, dass beide Augen eine kleine Rollung um die Gesichtslinie derart ausf\u00fchren, dass nun correspondir.ende Meridiane und zwar die beiden mittlen Querschnitte in die Blickebene zu liegen kommen. Donders erreichte dies, indem er dicht vor den Scheiben oberhalb und unterhalb des fixirten Punktes einige horizontale und daher unter sich parallele feine F\u00e4den quer \u00fcber beide Scheiben hinweg spannte. Die Augen suchen und finden nun gleichsam von selbst diejenige Lage, bei welcher sich jeder Faden auf uorrespondirenden Querschnitten abbildet.8 Ist dies erreicht, so erscheinen auch die beiden horizontalen Halblinien als eine zusammenh\u00e4ngende Gerade.\n1\tVolkmann, Monatsber. d. Berliner Acad. August 1863 und Physiol. Untersuchungen aus d. Gebiete d. Optik II. S. 199. 1864.\n2\tHelmholtz, Physiol. Optik S. 703.\n3\tBeethold, Arch. f. Ophthalmologie XI. 3. Abth. S. 107. 1865.\n4\tDobkowolsky. ebenda. XVIII. 1. Abth. S. 53. 1872.\n5\tMoll, Onderzoekingen in het physiol. Labor. III. t. Utrecht 1875.\n6\tv. Recklinghausen, Arch. f. Ophthalmologie V. 2. Abth. S. 134.1859.\n7\tBeethold, ebenda XI. 3. Abth. S. 141.1865.\n8\tVgl. das N\u00e4here hier\u00fcber im Abschnitte \u00fcber die Augenbewegungen.","page":359},{"file":"p0360.txt","language":"de","ocr_de":"360 Hering, Physiol. Optik IY. 1. Cap. Die Correspondenz der Netzh\u00e4ute.\n*\nHat man auf diese Weise die queren Mittelschnitte der Netzh\u00e4ute so zu sagen an die Blickebene gefesselt, was sich an den horizontalen Halblinien fortw\u00e4hrend controliren l\u00e4sst, und bringt nun zugleich auch die verticalen Halblinien auf den Scheiben an, so ist der Winkel, um welchen man dieselben neigen muss, damit sie als eine zusammenh\u00e4ngende Gerade in der L\u00e4ngsmittellinie des Sehfeldes erscheinen, ein f\u00fcr jeden einzelnen Beobachter constanter. Die oben erw\u00e4hnte Inconstanz hatte also ihren Grund darin, dass die Augen nicht bei allen Versuchen dieselbe Lage hatten, sondern in der Zeit von einer Beobachtung zur andern kleine Rollungen um die Gesichtslinie ausgef\u00fchrt hatten.\nDas wesentliche Endergebniss ist, dass wenn die queren Mittelschnitte in der Blickebene liegen, in den meisten Augen nicht die zur Blickebene senkrechten Netzhautmeridiane correspondirende sind, sondern dass der L\u00e4ngsmittellinie des Sehfeldes zwei andere Meridiane entsprechen, deren jeder mit der oberen H\u00e4lfte etwas nach aussen geneigt ist und mit dem wirklich verticalen Meridian einen sehr kleinen Winkel einschliesst, der zwischen 0\u00b0 und etwa 1015 \" schwankt. F\u00fcr die meisten Augen divergiren also die mittlen L\u00e4ngsschnitte etwas nach oben, wenn die queren Mittelschnitte in der Blickebene liegen. Diese Abweichung in der Anordnung der Deckstellen von dem oben er\u00f6rterten Schema wird als physiologische Ineongruenz der Netzhaut bezeichnet. Dieselbe wurde von Helmholtz1 und Volkmann2 gefunden.3\nF\u00fcr die weitere Untersuchung legt man nach Volkmann durch den Fixationspunkt jeder Scheibe des Haploskops eine horizontale Gerade und eine auf dem Fixationspunkte stehende Halblinie, welche aber auf der einen Scheibe oberhalb, auf der andern unterhalb der Horizontalen liegt und bei vorhandener Netzhautincongruenz von der verticalen Lage in demselben Sinne und Grade abweicht, wie der mittle L\u00e4ngsschnitt von dem zur Blickebene senkrechten Netzhautmeridian. Haben die Augen des Beobachters keine Ineongruenz,\n1\tHelmholtz, Verh. d. naturhist.-med. Yer. z. Heidelberg. 3. Mai 1863.\n2\tYolkmann, Sitzgsber. d. Berliner Acad. 13. Aug. 1863.\n3\tSiehe ausserdem die oben angef\u00fchrte Literatur \u00fcber die Divergenz der mittlen L\u00e4ngsschnitte. Helmholtz war der Meinung, dass eigentlich schon v. Recklinghausen (Arch. f. Ophthalmologie Y. 2. Abth. S. 127. 1859) die Ineongruenz der Netzh\u00e4ute entdeckt habe. Derselbe sah ein rechtwinkliges Kreuz, das nicht \u00fcber 250 mm. vom Gesichte entfernt war und mit einem Schenkel in der Medianebene mit dem anderen senkrecht zu derselben, mit seiner Ebene also schief zur Gesichtslinie lag, nicht rechtwinklig, sondern etwas verzerrt. Lag das Kreuz nahezu senkrecht zur Gesichtslinie, so verschwand die T\u00e4uschung, konnte also auch nicht in der Ineongruenz der Netzh\u00e4ute ihren Grund haben.","page":360},{"file":"p0361.txt","language":"de","ocr_de":"Bestimmung der correspondirenden L\u00e4ngs- und Querschnitte.\t361\nso k\u00f6nnen die stehenden Halblinien rechtwinklig zur Horizontalen liegen.\nParallel zur stehenden Halblinie legt man ferner auf beide Scheiben nach rechts oder beiderseits nach links eine zweite gerade Halblinie und zwar wieder auf der einen Scheibe oberhalb, auf der andern unterhalb des horizontalen Kreuzschenkels, wie Fig. 2 versinn-\nFig. 2.\nlicht. Stellt man die Gesichtslinien auf die durch ein Kreuzchen markirten Mittelpunkte der Scheiben ein, so erscheint im Sehfelde ein rechtwinkliges Kreuz und eine zum stehenden Schenkel desselben parallele ganze Gerade, welche den Netzhautbildern der beiden seitlichen Halblinien entspricht, wie es die kleine Mittelfigur der Abbildung Fig. 2 in verkleinertem Maassstabe darstellt. Da die beiden seitlichen Halblinien sich beiderseits auf L\u00e4ngsschnitten abbilden, welche auf der als eben gedachten Netzhaut gleichen Abstand vom mittlen L\u00e4ngsschnitt haben und demselben parallel sind, so folgt aus dem Versuche, dass diese L\u00e4ngsschnitte correspondirende sind. Eine zweckm\u00e4ssige Modification dieses Versuchs von Volkmann1 2 ist durch Fig. 3 versinnlicht.\nVolkmann 1 legte auf jede Scheibe durch den Fixationspunkt eine ganze ann\u00e4hernd vertikale Linie, nicht blos eine Halblinie; es hat dies aber, wie Helmholtz 2 bemerkt, den Nachtheil, dass diese beiden stehenden Geraden auch dann als eine einfache vertikale Gerade im Sehfelde erscheinen, wenn sie nicht genau auf den mittlen L\u00e4ngsschnitten liegen, sich vielmehr auf etwas disparaten L\u00e4ngsschnitten abbilden (vergl. das Capitel \u00fcber das Sehen mit disparaten Stellen). Diesenfalls werden aber die beiden stehenden Halblinien nicht als eine zusammenh\u00e4ngende Gerade,\n1\tVolkmann, Physiol. Untersuchungen im Gebiete der Optik I.\n2\tHelmholtz, Physiol. Optik S. 707.","page":361},{"file":"p0362.txt","language":"de","ocr_de":"362 Hering, Physiol. Optik IV. 1. Cap. Die Corresponded der Netzh\u00e4ute.\nsondern etwas gegeneinander verschoben erscheinen, weil ihre Bilder nun ebenfalls auf entsprechend disparate L\u00e4ngsschnitte fallen.\nFig. 3.\nHering1 fand es wahrscheinlich, dass bei solchen Versuchen die auf der \u00e4usseren Netzhauth\u00e4lfte abgebildete stehende Halblinie eigentlich einen etwas kleineren Abstand von der Mittellinie haben m\u00fcsste, als die andere auf der inneren Netzhauth\u00e4lfte abgebildete Halblinie, weil die Breiten-werthe auf der \u00e4usseren Netzhauth\u00e4lfte vielleicht etwas rascher wachsen, als auf der inneren. Dem w\u00fcrde die von Kundt2 gefundene Thatsache entsprechen, dass man bei Halbirung einer ein\u00e4ugig gesehenen zur Gesichtslinie senkrecht liegenden horizontalen Strecke, die \u00e4ussere H\u00e4lfte derselben, welche sich also auf der inneren Netzhauth\u00e4lfte abbildet, stets zu gross macht. Ist die Vermuthung Hering\u2019s richtig, so w\u00fcrde sich daraus eine zweite Art der physiologischen Incongruenz der Netzh\u00e4ute ergeben. Ueber die Gr\u00fcnde dieser Ansicht vergleiche das Capitel \u00fcber das Sehen mit disparaten Netzhautstellen.\nIn analoger Weise l\u00e4sst sich bei einer Anordnung der Halblinien, wie sie Fig. 4 versinnlicht, darthun, dass je zwei Querschnitte beider\n1\tHering, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1S65. S. 161.\n2\tKundt, Ann. d. Physik CXX. S. 118.1863.","page":362},{"file":"p0363.txt","language":"de","ocr_de":"Bestimmung der correspondirenden Meridiane und Parallelkreise. 363\nNetzh\u00e4ute, welche in derselben Richtung und gleichweit vom mittlen Querschnitt abliegen, correspondirende Querschnitte sind.\nSind nun auf diese Weise die correspondirenden L\u00e4ngsschnitte einerseits und die correspondirenden Querschnitte andrerseits gefunden, so ergiebt sich daraus die beiderseitige Anordnung der Deckpunkte. Je zwei Netzhautpunkte, welche sowohl auf correspondirenden L\u00e4ngsschnitten als auf correspondirenden Querschnitten liegen, sind Deckpunkte. Yergl. Cap. II, Fig. 7.\nHering benutzte zur Untersuchung der correspondirenden Meridiane ausser verticalen und horizontalen Halblinien auch beliebig schr\u00e4g gestellte und ausserdem Halbkreise von verschieden grossem Halbmesser, wie es Fig. 5 summarisch darstellt. Auf diese Weise lassen sich erstens\nFig. 5.\ndie correspondirenden Netzkautmeridiane und zweitens die correspondirenden Parallelkreise und somit auch die correspondirenden Punkte finden. Die Anwendung von Halbkreisen eignet sich aber nicht f\u00fcr diejenigen, in deren Netzh\u00e4uten die oben beschriebene Incongruenz erheblich vorhanden ist, weil in Folge derselben die Kreise verzerrt erscheinen. Auf solchen Netzh\u00e4uten sind Parallelkreise von gleichem Radius nicht genau correspondirende.\nEine zur Bestimmung der correspondirenden Meridiane sehr zweckm\u00e4ssige Modification der Methode benutzte Helmholtz. Man denke sich auf jede Scheibe der haploskopischen Vorrichtung drei einander nahe parallele und horizontale Linien gezeichnet, deren mittlere durch den Fixationspunkt geht, und diese Linien haploskopisch vereinigt. Entfernt man nun von der einen Scheibe die obere und untere, von der anderen die mittlere Linie, markirt aber beide Mittelpunkte und betrachtet die Scheiben haploskopisch, so sieht man wieder drei Linien, aber die mittlere, nur dem einen Auge zugeh\u00f6rige, wird genau parallel den beiden anderen, welche sich im andern Auge abbilden, nur dann erscheinen, wenn die mittlen Querschnitte beider Netzh\u00e4ute genau parallel d. i. also hier in der Blickebene liegen.","page":363},{"file":"p0364.txt","language":"de","ocr_de":"364 Hering, Physiol. Optik IY. 1. Cap. Die Correspondenz der Netzh\u00e4ute.\nGiebt man den Linien eine vertikale oder beliebige schr\u00e4ge Lage, so wird bei haploskopischer Vereinigung die mittle den beiden anderen im Allgemeinen nicht parallel erscheinen, man kann sie aber parallel sehen, wenn man z. B. die einfache Linie ein wenig in passendem Sinne um den Fixationspunkt dreht ; der Winkel der dazu erforderlichen Drehung ist das Maass f\u00fcr die Divergenz der beiden entsprechenden Netzhautmeridiane. Helmholtz1 benutzte als \u00e4usseres Linienpaar die parallelen Con-touren eines rothen Papierstreifens auf schwarzem Grunde, als einfache Mittellinie einen blauen Faden.\nEndlich ist noch eine Modification der Substitutionsmethode2 zu erw\u00e4hnen, die aber weniger zur Untersuchung als zur Illustrirung der Correspondenz der Netzh\u00e4ute brauchbar ist. Erzeugt man sich im einen Auge ein langdauerndes Nachbild einer einfachen Figur, \u00f6ffnet nun das andere Auge und schliesst das mit dem Nachbild versehene, so erscheint unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden das Nachbild im Sehfelde des offenen Auges so, als ob es sich auf der Netzhaut dieses Auges bef\u00e4nde und zwar in einer Lage, welche mit der Lage des Nachbildes auf der anderen Netzhaut correspondirend ist. Das Nachbild wird also scheinbar von der einen Netzhaut auf correspondirende Stellen der anderen \u00fcbertragen. Dies ist ein gutes Beispiel f\u00fcr die Thatsache, dass der Doppelnetzhaut ein einfaches Sehfeld entspricht.\nJe weiter die Netzhautstellen, welche man auf ihre Correspon-denz untersucht, von der Stelle des directen Sehens abliegen, desto breiterer Striche oder \u00fcberhaupt gr\u00f6sserer Objecte muss man sich statt der Linien bedienen, desto unsicherer muss aber auch die Bestimmung werden, weil die Localisirung \u00fcberhaupt zunehmend unsicher wird. Dies gilt insbesondere auch von der Umgegend des blinden Flecks. Ausf\u00fchrliche Untersuchungen \u00fcber diese nach der Peripherie zunehmende Unsicherheit in der Bestimmung der corre-spondirenden Stellen haben Mandelstamm3 und Sciioeler4 und zwar ebenfalls nach der Substitutionsmethode ausgef\u00fchrt. Sie fanden, dass diese Unsicherheit nicht nach allen Richtungen vom Centrum nach der Peripherie der Netzhaut gleich rasch zunimmt, vielmehr langsamer in der Richtung nach oben als in den andern Richtungen, betreffs welcher jedoch die Ergebnisse beider Beobachter nicht ganz \u00fcbereinstimmen. Schoeler fand, dass die Unsicherheit in den beiden seitlichen Richtungen am schnellsten wuchs. Vergl. \u00fcbrigens das VIII. Capitel.\n1\tHelmholtz, Physiol. Optik S. 704. Der oben Seite 358, Anm. 2 ger\u00fcgte Fehler kommt hier nicht in Betracht; denn selbst wenn die beiden \u00e4usseren F\u00e4den nicht streng parallel erscheinen, giebt man doch dem zwischen ihnen erscheinenden Faden eine symmetrische Mittellage.\n2\tHering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie I. S. 182.\n3\tMandelstamm, Arch. f. Ophthalmologie XVIII. 2. Abth. S. 133. 1872.\n4\tSchoeler, ebenda XIX. 1. Abth. S. 1. 1873.","page":364},{"file":"p0365.txt","language":"de","ocr_de":"Aeltere Untersuchungsmethoden. Herkunft der Correspondes.\n365\nVor Einf\u00fchrung der Substitutionsmethode benutzte man eine andere, viel weniger sichere Methode zur Aufsuchung der correspondirenden Stellen. Man fixirte fest einen Punkt und bestimmte f\u00fcr ein kleines, vom Hintergr\u00fcnde gut abstechendes, indirect gesehenes Object (Linien, F\u00e4den, Stecknadelkn\u00f6pfe u. s. w.) diejenigen Orte im Aussenraum, an welchen es nicht doppelt, sondern einfach gesehen wurde. Ueber diese Methode vergl. das Capitel \u00fcber die Doppelbilder.\nJoh. M\u00fcller *, welcher zuerst den Satz von der Correspondes oder, wie er sie nennt, der Identit\u00e4t der Netzh\u00e4ute, ausf\u00fchrlicher er\u00f6rterte, leitete ihn nicht blos aus dem Doppel- und Einfachsehen ab, sondern bewies ihn auch mit H\u00fclfe der Druckphosphene.\nWenn man den Augapfel mit einer stumpfen Spitze im Bereiche der Netzhaut dr\u00fcckt, so sieht man einen feurigen Kreis im dunkeln Sehfelde. Dr\u00fcckt man nun beide Aug\u00e4pfel, z. B. rechterseits, so sieht man im Allgemeinen zwei Kreise nach links neben- oder \u00fcbereinander, man kann aber durch passendes Verschieben der einen Spitze den einen Kreis dem anderen n\u00e4her und endlich beide zur Vereinigung bringen, dann sind identische Stellen gedr\u00fcckt. Ebenso gelingt der Versuch auf der linken und auf der unteren Seite der Aug\u00e4pfel, minder gut an der oberen. Doch sind diese Versuche sehr angreifend. Weiter sagt M\u00fcller: \u201eWenn bei geschlossenen Augen im subjectiven Sehfelde Nachbilder und Blendungsbilder haften, welche, da die afficirten Stellen identisch sind, auch nur einfach gesehen werden k\u00f6nnen, so werden diese nicht zu Doppelbildern, man mag die Augen in jeder beliebigen Convergenz der Achsen bewegen\u201c. Er that also auch auf diese Weise dar, dass das Einfachsehen der zweifach vorhandenen Netzhautbilder von der Lage auf der Netzhaut, nicht aber von der Augenstellung abh\u00e4ngig ist.\nDie alte, insbesondere von Joh. M\u00fcller vertretene Ansicht, nach welcher die Correspondenz der Netzh\u00e4ute auf einer angeborenen Einrichtung beruht, ist vielfach bestritten und behauptet worden, dass die Correspondenz der Raumwerthe auf beiden Netzh\u00e4uten erst im Laufe des individuellen Lebens erworben werde, obwohl die partielle Kreuzung der Sehnervenfasern im Chiasma und das oft mit Sicherheit beobachtete Vorkommen correspondirender partieller L\u00e4hmungen der Netzhaut beweist, dass die Correspondenz auf anatomischer Grundlage beruht. Selbst wenn man der Gesichtsempfindung jede urspr\u00fcnglich r\u00e4umliche Eigenschaft aberkennen und die Raumwerthe der Netzhautstellen lediglich als einen Erwerb individueller Erfahrung ansehen will, muss man auf jene Thatsachen R\u00fccksicht nehmen und zugestehen, dass zwischen correspondirenden Stellen eine angeborene, auf anatomischer Grundlage beruhende functionelle Beziehung besteht, durch welche, m\u00f6ge sie nun eine sensorische oder motorische oder beides zugleich sein, der r\u00e4umlichen Auslegung der von Deckstellen kommenden Empfindungen von vornherein eine bestimmte Bahn angewiesen wird.\nDass schon die Gesichtsempfindungen des Neugeborenen r\u00e4umliche Eigenschaften haben, deren genauere Unterscheidung derselbe allerdings ebenso erlernen muss, wie er die feineren qualitativen Verschiedenheiten\n1 Joh. M\u00fcller, Zur vergleich. Physiologie des Gesichtssinns S. 71. 1826.","page":365},{"file":"p0366.txt","language":"de","ocr_de":"366 Hering, Physiol. Optik IY. 2. Cap. Die Localisirung im ebenen Sehfelde.\nder Empfindung erst allm\u00e4hlich zu erfassen erlernt, dies ist eine Annahme, zu welcher der Physiolog vollkommen berechtigt ist, weil manche Thiere schon unmittelbar nach der Geburt aus Mutterleib oder Ei sichere r\u00e4umliche Wahrnehmungen machen.\nZWEITES CAPITEL.\nDie Localisirung im ebenen Sehfelde.\nDie Anordnung des in einem gegebenen Sehfelde Erscheinenden ist unter Vermittlung des Doppelnetzhautbildes in gesetzm\u00e4ssiger Weise abh\u00e4ngig von der Anordnung der entsprechenden Dinge im Aussenraume.\nUm zu untersuchen, inwieweit g\u00fcnstigsten Falls jene scheinbare und diese wirkliche Anordnung \u00fcbereinstimmen, hat man meist den einfachen Fall gew\u00e4hlt, in welchem die Aussendinge in einer Ebene liegen, deren scheinbare Lage im Sehraume mit ihrer wirklichen Lage m\u00f6glichst \u00fcbereinstimmt, so dass die Ebene des Sehfeldes sich mit der des wirklichen Objectfeldes entweder deckt, oder wenigstens ihr parallel ist. Letzteren Falls werden zwar die im Objectfelde liegenden Figuren in falscher Entfernung und falscher Gr\u00f6sse gesehen, aber ihre relative Anordnung im Sehfelde wird dadurch nicht alterirt. Damit alle in einer Ebene gelegenen Punkte sich auf Deckstellen abbilden, w\u00e4re n\u00f6thig, dass dieselbe im Punkthoropter (vergl. Capitel III) l\u00e4ge. Eine Ebene als Punkthoropter scheint aber nur m\u00f6glich, wenn der Blickpunkt sehr fern ist; es m\u00fcssten denn die Deckpunkte etwas anders angeordnet sein, als es nach den bisherigen Untersuchungen angenommen werden muss. Man ist deshalb darauf angewiesen, nur mit einem Auge zu untersuchen, was hier deshalb angeht, weil, wie wir gesehen haben, das nur mit einem Auge Gesehene in einem gegeb enen Sehfelde ganz in derselben Anordnung erscheint, als ob es bei derselben Augenstellung mit correspondiren-den Punkten beider Netzh\u00e4ute gesehen w\u00fcrde.\nBei Prim\u00e4rstellung des Kopfes und der Augen ist es verh\u00e4ltniss-m\u00e4ssig am leichtesten, ein bestimmt gelegenes, n\u00e4mlich ein vertikales und zur scheinbaren Frontalebene paralleles Sehfeld zu bekommen. Wir haben schon oben gefunden, dass, wenn man vor das Gesicht einen der Frontalebene parallelen vertikalen Schirm anbringt, auf","page":366},{"file":"p0367.txt","language":"de","ocr_de":"Herstellung des ebenen Sehfeldes.\n367\nwelchem sich gerade gegen\u00fcber jedem Auge je ein Fixationspunkt befindet, man anderweite auf diesem Schirme gelegene, dem einen oder dem andern Auge sichtbare Linien in einer der scheinbaren Frontalebene nahezu parallelen Ebene sieht. Nur die scheinbare Entfernung dieses ebenen Sehfeldes entspricht nicht immer der wirklichen Entfernung des Schirmes.\nWir w\u00e4hlen also als Objectfeld eine zur Gesichtslinie des einen Auges senkrechte Ebene, und ben\u00fctzen dazu eine Scheibe der oben beschriebenen haploskopischen Vorrichtung, auf welcher wir die zur Untersuchung bestimmten Linien und Punkte anbringen. Um zu erreichen, dass trotz ein\u00e4ugigem Sehen auch das andere Auge immer genau die vorgeschriebene Stellung beibeh\u00e4lt, machen wir auf die Mitte der anderen, leeren Scheibe eine Marke, welche diesem Auge als Fixationspunkt dient, so dass dasselbe also nur die Marke und im Uebrigen eine gleichm\u00e4ssige leere Fl\u00e4che sieht. Brauchen wir ein gr\u00f6sseres Objectfeld, als die Scheibe bietet, so bringen wir vor das Auge, welches nur die Marke sehen soll, einen verticalen Spiegel (ss. Fig. 6), der unter 45\u00b0 zur Gesichtslinie geneigt ist, wie es die Figur schematisch im Durchschnitte darstellt, und k\u00f6nnen nun ein grosses Objectfeld (00) in beliebiger Entfernung vom andern Auge aufstellen, w\u00e4hrend eine gleich grosse aber leere Scheibe (o' o') mit der Marke (/') so seitw\u00e4rts aufgestellt wird, dass ihr Spiegelbild in dieselbe Entfernung wie das Objectfeld (00) zu liegen kommt.\nLassen sich die Figuren, welche das eine Auge sehen soll, auf einer entfernten, zur Gesichtslinie senkrechten Wand anbringen, so stellt sich die Gesichtslinie des andern Auges, auch wenn dasselbe verdeckt oder geschlossen ist, wenigstens ann\u00e4hernd mit auf den vom offenen Auge fixirten Punkt ein, so dass dann beide Gesichtslinien nicht erheblich vom Parallelismus abweichen. Man braucht dann, wenn es nicht auf besondere Genauigkeit ankommt, f\u00fcr dieses Auge keine besondere Vorrichtung, um es mit Hilfe eines Fixationspunktes in die richtige Stellung zu bringen.\nWenn man die beschriebenen Vorsichtsmaassregeln ausser Acht l\u00e4sst, kann man grosse Fehler begehen. Die Anordnung des im Sehfelde Er-\nFig. 6.","page":367},{"file":"p0368.txt","language":"de","ocr_de":"368\tHering, Physiol. Optik IY. 2. Cap. Die Localisirung im ebenen Sehfelde.\nscheinenden h\u00e4ngt beim ein\u00e4ugigen Sehen keineswegs blos von der Anordnung der Netzhautbilder und also mittelbar von der Anordnung der entsprechenden Aussenobjecte, sondern auch von der Lage und Form des Sehfeldes ab, in welchem sie erscheinen.1\nZwei verticale Coconf\u00e4den, hinter welche man ein Blatt so h\u00e4lt, dass der obere Rand desselben vom Gesichte weggeneigt ist, k\u00f6nnen bei ein\u00e4ugiger Betrachtung als zwei nach oben divergirende Linien auf dem Blatte erscheinen. Das Sehfeld ist dann zur wirklichen Ebene der F\u00e4den geneigt. Rechtwinklige Kreuze k\u00f6nnen auf diese Weise schiefwinklig, Kreise als Elipsen gesehen werden ; gerade F\u00e4den k\u00f6nnen, wenn sie auf einer dahinter gelegenen Kugelfl\u00e4che gesehen werden, gekr\u00fcmmt erscheinen u. A. m. Auch auf die Stellung des anderen Auges, welches geschlossen ist oder wenigstens die zum Versuche benutzten Linien u.s. w. gar nicht sieht, kommt es oft an, wie sp\u00e4ter gezeigt werden wird. Deshalb muss, wenigstens bei einem Theil der hierhergeh\u00f6rigen Beobachtungen, die Stellung dieses Auges controlirt und ihm insbesondere die Prim\u00e4rstellung gegeben werden.\nSoll eine durch den fixirten Punkt des Objectfeldes gehende Gerade unter den hier gegebenen Umst\u00e4nden vertical erscheinen, so muss sie, wie besonders Volkmann'2 ausf\u00fchrlich dargelegt hat, so gelegen sein, dass sie sich auf dem mittlen L\u00e4ngsschnitt der Netzhaut - abbildet, soll sie horizontal erscheinen, so muss ihr Bild auf dem mittlen Querschnitte der Netzhaut liegen. Ersterenfalls muss die Gerade also bei den meisten Beobachtern f\u00fcr das linke Auge mit dem oberen Ende nach links, f\u00fcr das rechte nacb rechts geneigt sein, wenn sie vertical erscheinen soll. Die mittlen Querschnitte der Netzh\u00e4ute sind unter den hier gegebenen Bedingungen bei den meisten Beobachtern horizontal oder wenig mit dem \u00e4usseren Ende unter die Horizontalebene geneigt ; deshalb wird die horizontal scheinende Linie des Objectfeldes ebenfalls horizontal oder ein wenig mit dem \u00e4usseren Ende nach unten geneigt sein.\nJede der fixirten und scheinbar verticalen Geraden des Objectfeldes parallele Linie erscheint, wenn sie nicht zu lang ist, ebenfalls vertical, jede, der fixirten und scheinbar horizontalen Geraden parallele und nicht zu lange Linie ebenfalls horizontal. Helmholtz hat in Fig. 7 schematisch dargestellt, welche Lage solche Linien im Objectfelde f\u00fcr sein rechtes und linkes Auge haben m\u00fcssen, um ihm vertical, beziehentlich horizontal zu erscheinen.3 F\u00fcr Beobachter,\n1\tYgl. Hering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie II. \u00a7 52\u201454. 1862 und Volkmann, Physiol. Untersuchungen I. S. 139. 1863.\n2\tVolkmann, Physiol. Untersuchungen im Gebiete der Optik II. 1864.\n3\tBei haploskopischer Vereinigung der beiden H\u00e4lften der Figur deckten sich f\u00fcr Helmholtz die weissen und die schwarzen Linien, ohne eigentlich zu verschmelzen, weil dies durch ihre verschiedene Farbe verhindert wird.","page":368},{"file":"p0369.txt","language":"de","ocr_de":"Scheinbar verticale und horizontale Linien.\n369\nderen Netzh\u00e4ute eine geringere oder gar keine Incongruenz zeigen, m\u00fcssen die scheinbar verticalen Linien des Objectfeldes entsprechend weniger oder gar nicht zu den scheinbar horizontalen Linien des Objectfeldes geneigt sein.\nAus dem Er\u00f6rterten folgt, dass ein im Objectfelde gelegenes rechtwinkliges Kreuz, dessen einer Schenkel vertical, der andere horizontal liegt, weder mit dem rechten noch mit dem linken Auge gesehen rechtwinklig erscheint, sondern dass ersterenfalls der rechte obere und der linke untere, letzterenfalls der linke obere und der rechte untere Winkel etwas gr\u00f6sser als ein Rechter gesehen wird, immer vorausgesetzt, dass die Incongruenz der Netzh\u00e4ute bei dem Beobachter vorhanden ist. Um das Kreuz rechtwinklig zu sehen, muss man den verticalen Schenkel f\u00fcr das rechte Auge mit dem oberen Ende etwas nach rechts, f\u00fcr das linke entsprechend nach links neigen, so dass das wirkliche Kreuz etwas schiefwinklig wird. Der Winkel, unter welchem sich die beiden Schenkel durchschneiden, entspricht dem Winkel, unter welchem der mittle L\u00e4ngsschnitt zum mittlen Querschnitt der Netzhaut geneigt ist.\nBei den bis jetzt er\u00f6rterten Thatsachen kam es auf eine bestimmte Lage der im Objectfelde gelegenen Linien in Beziehung auf die Lage der Netzhautquerschnitte an; f\u00fcr die folgenden ist die Lage der beobachteten Linien im Objectfelde gleichg\u00fcltig.\nJede durch die Fixationspunkte gehende Gerade des Objectfeldes erscheint auch im Sehfelde als eine Gerade.1 Nicht dasselbe gilt von den ausserhalb des Fixationspunktes verlaufenden Geraden.\n1 Yergl. jedoch die im vorigen Capitel S. 359 erw\u00e4hnte Beobachtung v. Recklinghausen\u2019s und Berthold\u2019s.\nHandbuch der Physiologie. Bd. III.\n24","page":369},{"file":"p0370.txt","language":"de","ocr_de":"370 Hering, Physiol. Optik IY. 2. Cap. Die Localisirung im ebenen Sehfelde.\nEs wurde oben gesagt, dass die indirect gesehenen Geraden im Objectfelde, welche der fixirten scheinbar Yerticalen oder Horizontalen parallel erscheinen sollen, nicht zu lang sein d\u00fcrfen. Erstrecken sie sich n\u00e4mlich zu weit \u00fcber das Objectfeld, so erscheinen sie gekr\u00fcmmt derart, dass sie ihre Concavit\u00e4t dem Fixationspunkte zuwenden. Jede zwei beliebig gerichtete parallele Geraden im Objectfelde, die den Fixationspunkt zwischen sich haben, erscheinen gegen letzteren etwas concav und also nach beiden Seiten schwach conver-girend.1 Wollte man sie als zwei parallele Gerade sehen, so m\u00fcsste man ihnen auf dem Objectfelde eine schwache entgegengesetzte Kr\u00fcmmung geben. Diese Scheinkr\u00fcmmung der indirect gesehenen geraden Linien ist um so gr\u00f6sser, je weiter sie vom Fixationspunkte abliegen, ohne dass sich jedoch wegen der dann zunehmenden Unsicherheit der Localisirung ein genaues Maass der Kr\u00fcmmung angeben l\u00e4sst.\nHelmholtz2 hat sp\u00e4ter auf Grund einer Hypothese, welche im H. Abschnitt zu er\u00f6rtern sein wird, die Kr\u00fcmmung bestimmt, welche indirect gesehene Linien seiner Ansicht nach haben m\u00fcssen, um als Gerade zu erscheinen, und diese Kr\u00fcmmungen durch Fig. 8 dargestellt. Die Strecke ee bedeutet den Abstand, in welchem man sich das beobachtende Auge senkrecht \u00fcber dem Mittelpunkte der Figur zu denken hat, wenn dasselbe die hyperbolisch gekr\u00fcmmten Linien der Zeichnung als parallele Gerade sehen soll. Die Figur, deren sich Helmholtz zum Versuche bediente, war im Verh\u00e4ltniss von 16:3 gr\u00f6sser als Figur 8 und an einer yerticalen Wand befestigt; sie wurde aus einer Entfernung von 20 Cm. in ihrem Mittelpunkte fest fixirt, wobei die Gesichtslinie senkrecht zur Wand lag.\nNach einer Beobachtung von K\u00fcster3, welcher mit Reihen elec-trischer Funken im Dunkelraume experimentirte, m\u00fcssten die Linien\n1\tHering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie III. S. 189.1863. Schon fr\u00fcher hatte v. Recklinghausen (Arch. f. Ophthalmologie Y. 2. Abth. S. 127. 1859) und Nagel (Das Sehen mit zwei Augen S. 108.1861) solche Scheinkr\u00fcmmungen an den Doppelbildern von geraden Linien beobachtet, die jedoch zum Theil auf die im I. Capitel S. 359 erw\u00e4hnten Scheinkr\u00fcmmungen verticaler Linien zur\u00fcckzuf\u00fchren sind.\n2\tHelmholtz, Physiol. Optik S. 553.\n3\tK\u00fcster, Arch. f. Ophthalmologie XXII. 1. Abth. S. 149. K\u00fcster selbst glaubte allerdings durch seine Yersuche die Angaben von Helmholtz streng erwiesen zu haben. Die Construction des von ihm benutzten Apparates beruht jedoch auf einem Missverst\u00e4ndniss dessen, was Helmholtz unter den Directions- oder Richtungskreisen des Sehfeldes versteht. Der dadurch eingef\u00fchrte Fehler hat aber nicht viel auf sich, um so weniger als die Localisirung im indirecten Sehen etwas Unsicheres hat und man dabei immer zum Schematisiren d. h. im besonderen Falle eher dazu geneigt ist, eine Linie oder Funkenreihe als geradlinig denn als krumm anzusehen. Deshalb m\u00fcsste eine experimentelle Untersuchung der Hypothese von Helmholtz nach der Methode der mittlen Fehler angestellt werden, wenn sie streng beweiskr\u00e4ftig sein sollte.","page":370},{"file":"p0371.txt","language":"de","ocr_de":"T\u00e4uschungen beim indirecten Sehen.\n371\neine etwas schw\u00e4chere hyperbolische Kr\u00fcmmung als die der Fig. 8 haben, um unter den genannten Umst\u00e4nden als Gerade zu erscheinen.\nDer beschriebenen Scheinkr\u00fcmmung der geraden Linien des Objektfeldes entspricht es nun ferner, dass eine Scheibe, ein Quadrat\ne \\\n\\ e\nFis. 8.\noder dergleichen um so kleiner erscheinen, je excentrischer sie im ebenen Objectfelde liegen, v. Wittich 1 und Aubert1 2 haben einige derartige Beobachtungen mitgetheilt. Helmholtz3 hat dann darauf hingewiesen, dass diese scheinbare Verkleinerung in der radialen Richtung des Sehfeldes bedeutender ist, als in der tangentialen. Die Fig. 8 zeigt dies nach Helmholtz\u2019s Angabe ebenfalls. Dieselbe erschien ihm aus passender Entfernung gesehen, wie ein Schachbrett mit quadratischen und also \u00fcberall gleich grossen Feldern. Eine kreisf\u00f6rmige Scheibe auf dem ebenen Objectfelde erschien ihm, wenn sie peripher lag, elliptisch, so dass der kurze Durchmesser in Bezug auf die Mitte des Sehfeldes radial gerichtet war.\n1\tv. Wittich, Arch. f. Ophthalmologie IX. 3. S. 10. 1863.\n2\tAubert, Physiologie der Netzhaut S. 252. 1865.\n3\tHelmholtz, Physiol. Optik S. 554.\n24*","page":371},{"file":"p0372.txt","language":"de","ocr_de":"372 Hering, Physiol. Optik IY. 2. Cap. Die Localisirung im ebenen Sehfelde.\nMan kann also die Scheinkr\u00fcmmungen der Geraden und die Schein Verkleinerung der indirect gesehenen Theile des Objectfeldes, welche in der radialen Richtung st\u00e4rker ist, als in tangentialer, unter eine allgemeine Regel bringen, indem man sagt: die scheinbare Anordnung des im ebenen Objectfelde Liegenden ist derart, als ob das Objectfeld sich allerseits in radialer Richtung zusammengezogen h\u00e4tte, jedoch so, dass die Gr\u00f6sse dieser Zusammenziehung auf dem peripheren Theile des Objectfeldes st\u00e4rker w\u00e4re, als auf dem mehr centralen. Stellt abc Fig. 9 einen Sector des Objectfeldes vor, so w\u00fcrden z. B. die Punkte a und b wegen der radialen Contraction des Sehfeldes in a und \u00df zu liegen scheinen, c und d w\u00fcrden ihren scheinbaren Ort in y und d haben. Die Figur ab de des Objectfeldes w\u00fcrde also im Sehfelde durch die Figur a\u00df\u00f6y vertreten, und wie man sieht, in radialer Richtung st\u00e4rker verkleinert erscheinen, als in tangentialer. Sollte die Verkleinerung eine gleichm\u00e4ssige sein, so m\u00fcsste die radiale Scheinverschiebung jedes Objectpunktes proportional seinem Abstande vom Mittelpunkte sein.\nAus dieser Regel lassen sich die Un\u00e4hnlichkeiten zwischen der wirklichen Anordnung der Dinge im ebenen Objectfelde und ihrer scheinbaren im ebenen Sehfelde ableiten ; allerdings nur dem Sinne nach, nicht auch dem Maasse nach. Doch liegen \u00fcber Letzteres noch zu wenig Untersuchungen vor, um dar\u00fcber etwas Bestimmtes aussagen zu k\u00f6nnen.\nSpitze Winkel erscheinen zu gross, stumpfe zu klein. \u2022 In Fig. 10 ist a d in Wirklichkeit eine Gerade, doch erscheint die rechte H\u00e4lfte dieser Linie nicht als Fortsetzung der linken, sondern etwas nach oben verschoben. Vielmehr erscheint ad' als eine Gerade, obwohl die beiden H\u00e4lften derselben in Wirklichkeit gegen einander verschoben sind. Fig. 11 zeigt, wie diese T\u00e4uschung durch das Falschsehen der Winkel bedingt ist. Der wirkliche spitze Winkel ne d erscheint zu gross, etwa als Winkel ncd\". Ebenso erscheint statt des wirklichen Winkels abm der Winkel a'bm. Die Verl\u00e4ngerung des Schenkels a'b w\u00fcrde die Gerade on in c\u2019 treffen. Hier also und nicht in c m\u00fcsste die wirkliche Linie cd ansitzen, um als Fortsetzung der wirklichen Linie ab zu erscheinen. Legen wir nun im Punkte c' eine andere wirkliche Linie c'd' unter demselben Winkel","page":372},{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"Falschsehen schiefer Winkel.\n373\nFig. 10.\nFig. 11.\nan, so erscheint sie in cf also als scheinbare Verl\u00e4ngerung der scheinbaren Linie a' b.\nDurch das Falschsehen eines Winkels bekommen eigentlich beide Schenkel desselben eine ver\u00e4nderte Lage im Sehfelde, doch wird sie je nach den Umst\u00e4nden bald mehr auf den einen, bald mehr auf den andern Schenkel bezogen.\nIn Fig. 121 erscheinen die langen schr\u00e4gen wirklich parallelen Geraden nicht parallel, weil jede Gerade gleichsam aus einer Anzahl Winkelschenkeln besteht, deren jeder im Vergleich zu seiner wirklichen Lage verschoben erscheint. Da also jeder Bruchtheil der Linie eine falsche scheinbare Richtung hat, so erscheint auch die ganze Linie in falscher Richtung.\nDass die T\u00e4uschung \u00fcber die Lage der parallelen langen Linien in Fig. 12 und \u00e4hnlichen Figuren sich im Wesentlichen auf ein Falschsehen der Winkel zur\u00fcckf\u00fchren l\u00e4sst, wurde von Hering2 gezeigt. Da solche T\u00e4uschungen auch im Nachbilde deutlich fort-bestehen, so lassen sie sich nicht allein als aus der Augenbewegung resultirend ansehen, durch welche, wie Helmholtz3 angab, die T\u00e4uschung bedeutend vergr\u00f6ssert wird.\nUeber verschiedene Versuche einer Erkl\u00e4rung des Falschsehens der schiefen Winkel vergl. insbesondere Helmholtz und den II. Abschnitt.\nFig. 12.\n1\tDie Figur ist eine auf noch st\u00e4rkere T\u00e4uschung berechnete Ab\u00e4nderung eines von Z\u00f6llner mitgetheilten Musters. Ann. d. Physik CX. S. 500.1860.\n2\tHering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie I. \u00a7 26. 1861.\n3\tHelmholtz, Physiol. Optik S. 564.","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"3\t74 Hering, Physiol. Optik IV. 2. Cap. Die Localisirung im ebenen Sehfelde.\nIm ZoLLNERSchen Muster stehen die langen Parallellinien vertical, doch fand schon Z\u00f6llner, dass die T\u00e4uschung am gr\u00f6ssten ist, wenn diese Linien unter 45\u00b0 zur Blickebene geneigt sind. Solche Linien werden n\u00e4mlich am unsichersten localisirt, w\u00e4hrend von horizontalen und ver-ticalen Linien das Gegentheil gilt (vergl. Abschnitt IL). Die Folge ist, dass die Scheinverschiebung bei schr\u00e4ger Lage der langen Linien zum gr\u00f6ssten Theile diese betrifft, w\u00e4hrend sie bei verticaler oder horizontaler Lage derselben vorzugsweise den dann schr\u00e4gen kurzen Linien zuf\u00e4llt.\nUeber die Localisirung der in der Umgebung des blinden Flecks gelegenen Netzhautbilder bestehen zwischen den verschiedenen Beobachtern widerstreitende Meinungen. E. H. Weber1, Fick2, Volkmann3, Helmholtz4 meinen, dass die den blinden Fleck umgebenden Bilder so lokalisirt werden, wie es ihrer Lage im Vergleich zu den \u00fcbrigen Theilen des Netzhautbildes entspricht, als ob also die empfindliche Netzhautschicht an der blinden Stelle gar nicht unterbrochen w\u00e4re. y. Wittich5 dagegen giebt an, dass ihm die umgebenden Bilder in der Richtung nach der Stelle des blinden Fleckes verzogen erscheinen, etwa so, als ob die Grenztheile der vom Sehnerv durchbrochenen empfindlichen Schicht unmittelbar zusammenstiessen. Funke6 meint, dass je nach den Umst\u00e4nden bald die eine, bald die andere Art der Localisirung eintrete. Alle stimmen darin \u00fcberein, dass die Continuit\u00e4t des Sehfeldes trotz der L\u00fccke in der empfindlichen Schicht nicht unterbrochen ist und dass das, was man an der entsprechenden Stelle des Sehfeldes zu sehen meint, ganz abh\u00e4ngig ist von dem, was sich auf den angrenzenden Theilen der Netzhaut abbildet.\nMan denke sich die Netzhaut als eine mit den Netzhautbildern bemalte Kautschukplatte und in dieselbe an der Stelle des blinden Fleckes ein Loch geschlagen, so lassen sich hieran die verschiedenen Ansichten \u00fcber die sogenannte Ausf\u00fcllung des blinden Fleckes veranschaulichen: 1) die Bilder in der Umgebung des Loches erscheinen so, als ob dasselbe durch Contraction seiner dehnbaren Umgebung zum Verschwinden gebracht worden w\u00e4re, wobei der unmittelbar angrenzende Theil der Kautschukplatte sammt den aufliegenden Farben (Empfindungen) am st\u00e4rksten, die weitere Nachbarschaft weniger gedehnt wurde. 2) Die Bilder erscheinen so, als ob nur ein ganz schmaler Saum im Umkreis des Loches sammt seiner Farbe (Empfindung) so stark gezerrt worden w\u00e4re, dass dadurch das Loch geschlossen wurde, w\u00e4hrend die weitere Nachbarschaft des Loches gar nicht von der Dehnung betroffen wurde. 3) Das Loch\n1\tE. H. Weber, Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. 1852. S. 149.\n2\tFick, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1853. S. 396.\n3\tVolkmann, Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. April 1853. S. 27.\n4\tHelmholtz, Physiol. Optik S. 578.\n5\tFunke, Ber. d. naturf. Ges. z. Freiburg in Br. ni. 3.","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"Der Horopter.\n375\nist eigentlich immer vorhanden, aber unsere Phantasie f\u00fcllt dasselbe so aus, wie es auf Grund der umgebenden Bilder am Einfachsten und Wahrscheinlichsten ist. 4) Man kann das Loch, obwohl es da ist, ebenso wenig sehen, wie die Peripherie der Kautschukplatte; auch ringsum hat das Sehfeld eine Grenze, aber wir sehen sie ebensowenig wie den Rand der L\u00fccke, welche dem blinden Flecke entspricht.\nDRITTES CAPITEL.\nDer Horopter.\nAuf Grundlage der im ersten Capitel empirisch festgestellten Anordnung der correspondirenden Punkte der beiden Netzh\u00e4ute l\u00e4sst sich f\u00fcr jede gegebene Augenstellung berechnen, welche Punkte des Aussenraumes in der Lage sind, sich auf Deckpunkten abzubilden, oder anders gesagt, in welchen Punkten des Aussenraumes sich corre-spondirende Richtungslinien schneiden. Man muss dabei freilich die empirisch gewonnenen Ergebnisse mehr oder weniger schematisiren und insbesondere auch annehmen, dass die, einem bestimmten Netzhautpunkte beim Sehen in die Ferne zugeh\u00f6rende Richtungslinie ihre Lage im Auge nicht \u00e4ndert, wenn dasselbe sich f\u00fcr die N\u00e4he accom-modirt.\nDenkt man sich durch die Gesichtslinie und den mittlen L\u00e4ngsschnitt der Netzhaut eine Ebene und in diese Ebene eine zur Gesichtslinie senkrechte Gerade gelegt, so lassen sich durch diese Gerade noch unendlich viele Ebenen legen, deren jede die Netzhaut in einem anderen L\u00e4ngsschnitte schneidet.\nDieses System von Ebenen stellt ein sogenanntes Ebenenb\u00fcschel dar. Jede dieser Ebenen heisse eine L\u00e4ngsschnittebene, und das ganze System das B\u00fcschel der L\u00e4ngsschnittebenen.\nAnalog denke man sich durch die Gesichtslinie und den mittlen Querschnitt der Netzhaut eine Ebene und in diese eine zur Gesichtslinie rechtwinklige Gerade gelegt. Jede andere durch diese Gerade gelegte Ebene schneidet die Netzhaut in einem andern Querschnitte und heisse eine Querschnittebene; die Gesammtheit aller m\u00f6glichen Querschnittebenen heisse das B\u00fcschel der Querschnittebenen.\nBestimmt man bei einer gegebenen Augenstellung f\u00fcr zwei L\u00e4ngsschnittebenen, welche correspondirenden L\u00e4ngsschnitten entsprechen,","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":"376\nHering, Physiol. Optik IV. 3. Cap. Der Horopter.\nund deshalb correspondirende L\u00e4ngsschnittebenen heissen sollen, deren Durchschnittslinie im Aussenraume, so muss jeder Punkt dieser geraden Linie sich auf correspondirenden L\u00e4ngsschnitten abbilden, weil sich in ihm Richtungslinien durchschneiden, welche correspondirenden L\u00e4ngsschnitten der Netzhaut, wenn auch im Allgemeinen nicht correspondirenden Punkten dieser L\u00e4ngsschnitte angeh\u00f6ren. Die Bilder eines in jener Geraden liegenden Punktes k\u00f6nnen also, wenn sie nicht im besonderen Falle auf Deckpunkten liegen, nur eine L\u00e4ngsdisparation haben.\nDa jede zwei correspondirende L\u00e4ngsschnittebenen sich in einer solchen Geraden schneiden, so giebt es immer eine unendliche Zahl oder eine sogenannte Schaar solcher Geraden, welche in ihrer Ge-sammtheit eine Fl\u00e4che darstellen, und zwar im Allgemeinen eine geradlinige Fl\u00e4che zweiten Grades. Diese Fl\u00e4che heisst der L\u00e4ngs-horopter (Hering) oder Verticalhoropter (Helmholtz) deshalb, weil sie, soweit sie im binocularen Gesichtsraum liegt, die Gesammtheit derjenigen Aussenpunkte darstellt, welche bei der gegebenen Augenstellung sich auf correspondirenden L\u00e4ngsschnitten abbilden, und deren Bilder also nur L\u00e4ngsdisparation haben k\u00f6nnen, nicht aber quere Disparation.\nIn ganz analoger Weise stellt die Gesammtheit aller Geraden, in welchen sich je zwei correspondirende Querschnittebenen durchschneiden, im Allgemeinen eine geradlinige Fl\u00e4che zweiten Grades dar, welche der Querh oropter oder Horizontalh oropter heisst, weil sie jeden Aussenpunkt enth\u00e4lt, der sich bei der gegebenen Augenstellung auf correspondirenden Querschnitten abbildet, dessen Bilder also nur quere Disparation haben.\nJede''Gerade, welche im L\u00e4ngshoropter liegt, bildet sich auf correspondirenden L\u00e4ngsschnitten ab, und obwohl dabei die Bilder der einzelnen Punkte der Geraden nicht auf Deckpunkte fallen, so decken sich doch gleichsam die beiderseitigen Bilder im Ganzen, weil die Disparation der Bilder jedes Einzelpunktes in der Richtung des Linienbildes selbst stattfindet. Analoges gilt vom Querhoropter. Deshalb bezeichnete Helmholtz diese beiden Fl\u00e4chen auch als den verticalen und horizontalen Linienhoropter, w\u00e4hrend Hering sie Partialhoropter genannt hatte. Der fixirte Punkt geh\u00f6rt, da er sich auf Deckpunkten, also zugleich auf correspondirenden L\u00e4ngsschnitten und Querschnitten abbildet, sowohl dem L\u00e4ngs- als dem Querhoropter an. Ausserdem giebt es stets noch eine zusammenh\u00e4ngende Reihe von Punkten, von welchen dasselbe gilt, welche also den beiden Partial- oder Linearhoroptern gemeinsam sind, und","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"Horopter bei Parallelstellungen.\n377\nin der Durchschnittslinie dieser beiden Fl\u00e4chen gelegen sind. Die Gesammtheit dieser Punkte liegt, wie Hering und Helmholtz zeigten, im Allgemeinen auf einer Curve doppelter Kr\u00fcmmung und dritten Grades. Sie heisst Punkthoropter (Helmholtz) oder Totalhorop-ter (Hering), weil jeder in ihr und im binocularen Gesichtsraum gelegene Punkt sich auf Deckpunkten abbildet.\nIn besonderen F\u00e4llen hat der Durchschnitt der genannten beiden Linearhoroptoren eine einfachere Gestalt, und diese Grenzf\u00e4lle sind von vorwiegendem Interesse, daher sie im Folgenden allein ber\u00fccksichtigt werden.\nIm Capitel \u00fcber die Augenbewegungen wird gezeigt werden, dass unsere Augen, wenn die Kopfstellung zwanglos gew\u00e4hlt werden kann, sowohl beim Fern- als beim Nahsehen meist so gestellt sind, dass die queren Mittelschnitte beider Netzh\u00e4ute genau oder sehr ann\u00e4hernd parallel gestellt sind. Unter dieser besonderen Bedingung ergeben sich f\u00fcr die verschiedenen Augenstellungen folgende Linearund Punkthoropteren.\n1. Der Horopter bei symmetrischer Parallelstellung der Gesichtslinien. Jede zwei correspondirende Querschnittebenen fallen zusammen, weil die Axen der beiden B\u00fcschel der Querschnittebenen zusammenfallen.\nDer Quer h\u00f6r opter ist also der ganze binoculare Gesichtsraum.\nIn denjenigen Augen, deren mittle L\u00e4ngsschnitte rechtwinklig zu den mittlen Querschnitten sind, liegen jede zwei correspondirende L\u00e4ngsschnittebenen parallel, schneiden sich also in der Unendlichkeit. Der L\u00e4ngshoropter ist mathematisch genommen eine unendlich ferne zu den Gesichtslinien senkrechte Ebene, praktisch genommen der ganze \u00fcber eine gewisse Entfernung hinaus gelegene Raum, weil minimale Abweichung zweier correspondirender Richtungslinien vom Parallelismus nicht in Betracht kommen kann.\nDie genannte unendlich ferne Ebene ist zugleich der mathematische Punkthoropter. Praktisch genommen ist es der ganze \u00fcber eine gewisse Entfernung hinaus gelegene, binocular sichtbare Raum.\nSind die mittlen L\u00e4ngsschnitte, wie in den meisten Augen, zu den mittlen Querschnitten in der oben er\u00f6rterten Weise geneigt, so ist der L\u00e4ngshoropter eine in endlicher Entfernung unterhalb der Blickebene gelegene und mit dieser parallele Ebene; dieselbe'ist, da sie auch dem Quer h\u00f6r opter angeh\u00f6rt, zugleich der Punkthoropter. Helmholtz giebt","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378\nHering, Physiol. Optik IY. 3. Cap. Der Horopter.\nan, dass f\u00fcr seine Augen diese Ebene mit der Horizontalebene des Fussbodens nahebei zusammenf\u00e4llt, wenn seine Blickebene horizontal liegt.\n2. Horopter bei symmetrischer Convergenz der Gesichtslinien. Jede zwei correspondirende Querschnittebenen schneiden sich in der Medianebene, die Ebenen der beiden mittlen Querschnitte fallen zusammen, und der Quer horopter besteht also aus der Medianebene und der Blickebene.\nF\u00fcr Augen, deren mittle L\u00e4ngsschnitte rechtwinklig zu den mittlen Querschnitten sind, schneiden sich je zwei correspondirende L\u00e4ngsschnittebenen in einer zur Blickebene senkrechten Geraden. Die Schaar dieser Geraden bildet einen zur Blickebene senkrechten Kreiscylinder, welcher durch den Blickpunkt und in seiner ausserhalb des binocularen Gesichtsraumes liegenden Fortsetzung durchdiebeidenKnotenpunktederRichtungs-linien geht. Dieser Cylinder ist der L\u00e4ngshoropter. Der Punkthoropter besteht aus dem in der Blickebene durch den Blickpunkt und beide Kreuzungspunkte der Richtungslinien gelegten Kreise, dem sogenannten M\u00fcLLER\u2019schen Horopterkreise, und aus einer zur Blickebene senkrechten Geraden, die auf dem Punkte des Kreises steht, in welchem derselbe die Medianebene durchschneidet, d. i. also hier zugleich der Blickpunkt.\nEs ist bemerkenswert!!, dass dieser Punkthoropter genau derselbe bleibt, auch wenn die Gesichtslinien unsymmetrisch convergiren, weil dabei auch der L\u00e4ngshoropter derselbe ist, und der Querhoropter aus der Blickebene und einer zu ihr senkrechten Ebene besteht, welche jetzt zwar mit der Medianebene einen Winkel einschliesst, dieselbe aber stets in der eben genannten Geraden des Punkthoropters schneidet.\nF\u00fcr Augen, deren mittle L\u00e4ngsschnitte nicht rechtwinklig zu den mittlen Querschnitten liegen, besteht der Quer h\u00f6r opter wieder aus der Blickebene und der Medianebene.\nDer L\u00e4ngshoropter aber ist eine Kegelfl\u00e4che, deren Spitze unterhalb der Blickebene liegt. Diese Kegelfl\u00e4che durchschneidet die Blickebene in dem eben besprochenen, durch den Blickpunkt und beide Kreuzungspunkte gehenden Kreise, die Medianebene aber in einer durch den Blickpunkt gehenden Geraden, welche zur Blickebene derart geneigt ist, dass ihr oberer Theil dem Gesichte ferner liegt. Die Neigung derselben zur Blickebene ist um so st\u00e4rker, je weiter der Blickpunkt von den Augen abliegt.\nDieser Kreis (M\u00fcLLER\u2019scher Kreis) und diese zur Blick-","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"Horopter bei Convergenzstellungen.\n379\nebene geneigte nnd durch den Blickpunkt gehende Gerade bilden also den Punkthoropter.\nIm Hinblick auf das Folgende sei nur noch erw\u00e4hnt, dass auch f\u00fcr Augen mit Netzhautincongruenz der L\u00e4ngshoropter zu einem senkrecht zur Blickebene stehenden, durch Blickpunkt und beide Knotenpunkte gehenden Kreiscylinder wird, so oft die mittlen L\u00e4ngsschnitte senkrecht zur Blickebene liegen. Die Blickebene geh\u00f6rt dann aber nicht zum Querhoropter, und der M\u00fcLLER\u2019sche Kreis nicht mehr zum Punkthoropter.\n3. Der Meridianhoropter, L\u00e4ngshoropter und Querhoropter sind, wie wir sahen, geradlinige Fl\u00e4chen, welche dadurch charak-terisirt sind, dass jede in ihnen gelegene Gerade sich auf correspon-direnden Netzhautlinien abbildet. Derartige Fl\u00e4chen zweiten Grades, Partial- oder Linienhoropteren, giebt es aber noch unendlich viele; doch kn\u00fcpft* sich bis jetzt nur noch an eine derselben ein besonderes Interesse. Diese ist dadurch ausgezeichnet, dass jede in ihr gelegene Gerade sich auf correspondirenden Meridianen abbildet; sie heisst daher der Meridianhoropter (Hering).\nDerselbe ist bei symmetrischer Convergenz der Gesichtslinien im Allgemeinen eine Kegelfl\u00e4che (Doppelkegelmantel), deren Mittelpunkt (Spitze) im Blickpunkte liegt. Im besonderen Falle, wo corre-spondirende Meridiane in der Blickebene liegen, geht diese Fl\u00e4che in zwei Ebenen \u00fcber, deren eine f\u00fcr Augen ohne Netzhautincongruenz die Blickebene, die andere die im Blickpunkte senkrecht zur Blickebene und zur Medianebene stehende Ebene ist.\nDie Aufgabe, auf Grund einer gegebenen Anordnung der Deckpunkte den Horopter zu bestimmen, ist eine rein mathematische, und ihre ausf\u00fchrliche L\u00f6sung darf deshalb hier \u00fcbergangen werden. Eine allgemeine Aufl\u00f6sung des Problems mit H\u00fclfe der STEiNEu\u2019schen Geometrie hat Hering 1 gegeben, eine analytische Helmholtz.1 2 Yon diesem mathematischen oder theoretischen Horopter hat man den empirischen Horopter unterschieden, d. i. den Inbegriff aller Stellen des binocularen Gesichtsraumes, an welchen bei gegebener Augenstellung kleine deutliche Objecte einfach, nicht in Doppelbildern, erscheinen. Vergleiche hier\u00fcber das Capitel \u00fcber die Doppelbilder. Ueber den Versuch einer empirischen Bestimmung des L\u00e4ngshoropters nach anderer Methode vergleiche das Capitel \u00fcber das Sehen mit disparaten Netzhautstellen.\n1\tHering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie IV. 1864.\n2\tHelmholtz, Arch. f. Ophthalmologie X. 1. S. 1.1864 undPhysiol. OptikS. 745.","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380 Hering, Physiol. Optik IV. 4. Cap. Von d. Pr\u00e4valenz u. d. Wettstreite d. Conturen.\nVIEETES CAPITEL.\nVon der Pr\u00e4valenz und dem Wettstreite der\nConturen.\nWenn wir den Sternhimmel oder andere sehr ferne Dinge betrachten, so liegen die Bilder aller binocular gesehenen Objectpunkte genau oder sehr ann\u00e4hernd auf Deckstellen. Je zwei Deckstellen werden also in derselben Weise von Lichtstrahlen gereizt. Dies ist nicht mehr der Fall, wenn die Netzh\u00e4ute Bilder von Dingen empfangen, welche nicht im Horopter liegen; dann k\u00f6nnen die Bilder zweier verschiedener Aussendinge auf Deckstellen fallen. Es ist also zu untersuchen, wie sich das r\u00e4umliche Sehen verh\u00e4lt, wenn correspondirende Netzhauttheile verschieden gestaltete Bilder erhalten, wobei correspondirende Punkte dieser Theile verschieden gereizt werden.\nBei den im ersten Capitel beschriebenen haploskopischen Versuchen haben wir hier\u00fcber schon einige Erfahrungen gesammelt. Dabei boten wir z. B. dem linken Auge eine vom Mittelpunkte der ihm gegen\u00fcber liegenden Scheibe nach oben, dem rechten Auge in analoger Weise eine nach unten laufende schwarze Halblinie auf weis-sem Grunde. Den nicht durch Licht gereizten Netzhautstellen, auf welchen im einen Auge das Bild einer schwarzen Halblinie lag, geh\u00f6rten im andern Auge Deckstellen zu, welche von weissem Lichte erregt wurden. Gleichwohl sahen wir beide Halblinien schwarz. Die Reizung derjenigen Netzhautstellen, auf deren zugeh\u00f6rigen Deckstellen im andern Auge das Bild der schwarzen Halblinie lag, l\u00f6ste also keine wahrnehmbare Empfindung aus, sondern blieb so zu sagen latent. Dasselbe w\u00fcrde der Fall gewesen sein, wenn wir die Halblinien beiderseits farbig auf andersfarbigem Grunde gemacht h\u00e4tten.\nZeichnen wir auf die Mitte der linken Scheibe des Haploskops ein Sternchen und links davon den Buchstaben M, auf die Mitte der rechten Scheibe ein gleiches Sternchen, und rechts davon den Buchstaben C, wie es hier dargestellt ist,\n*c\nso sehen wir, wenn jede Gesichtslinie auf das Kreuzchen ihrer Seite eingestellt ist, beide Buchstaben nahe beisammen und dazwischen","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"Pr\u00e4valenz der Conturen.\n381\nein einfaches Sternchen. Wer die n\u00f6thige Uebung hat, kann ohne H\u00fclfe eines Haploskops seine Blicklinien auf die beiden Sternchen einstellen.\nWenn also auf correspondirenden Netzhauttheilen beiderseits ein Grund von derselben Farbe, auf der einen aber zugleich eine gut vom Grunde abstechende, mit nicht allzu breiten Strichen ausgef\u00fchrte Figur irgend welcher Art sich abbildet, so sehen wir im Allgemeinen diese Figur ebenso deutlich, als wenn sie sich zugleich auf der andern Netzhaut in correspondirender Weise abbildete. Die dem Netzhautbilde der Figur correspondirenden Netzhautstellen des andern Auges l\u00f6sen dabei keine deutlich wahrnehmbare Empfindung aus; vielmehr wird die ihnen entsprechende Empfindung, wie man zu sagen pflegt, unterdr\u00fcckt. Hierauf beruht die M\u00f6glichkeit, die Corresponded der Netzh\u00e4ute nach der Methode der gegenseitigen Substitution-derselben zu untersuchen.\nLiegen auf der 'einen Scheibe des Haploskops weisse Striche oder Flecke auf schwarzem Grunde, w\u00e4hrend die andere Scheibe gleichm\u00e4ssig weiss ist, wie es die beiden \u00e4usseren Felder der Fig. 13\nFig. 13.\ndarstellen, so erscheint der Grund des Sehfeldes in einem schwankenden und meist gl\u00e4nzenden Grau, welches bald mehr ins Schwarze bald mehr ins Weisse \u00fcbergeht, und auf diesem Grunde liegen dauernd weisse Figuren, jede rings umgeben von einem dauernd schwarzen Saume, welcher sich in das jeweilige Grau des Grundes abstuft, wie es das Mittelfeld der Fig. 13 darstellt.\nSind die linkseitigen Figuren farbig auf andersfarbigem Grunde, und hat die rechte Scheibe die Farbe der linkseitigen Figuren, so erscheinen diese dauernd in ihrer Farbe umgeben von einem Saume von der Farbe des linkseitigen Grundes, der \u00fcbrige Grund aber in einer schwankenden F\u00e4rbung; bald tritt hier die Farbe der einen, bald die der anderen Scheibe deutlicher hervor, bald zeigt sich eine Mischfarbe. Beide Farben liegen gleichsam mit einander im Kampfe. Die einseitig gesehenen Figuren aber bleiben stets sichtbar und um","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382 Hering, Physiol. OptikIV. 4. Cap. Yon d. Pr\u00e4valenzu. d. Wettstreite d. Conturen.\nsie herum wenigstens ein Saum ihres Grundes, welcher in keinen Wettstreit mit der Farbe der andern Seite eintritt, sondern dieselbe dauernd unterdr\u00fcckt.\nF\u00e4rben wir die linke H\u00e4lfte der linken Scheibe des Haploskops schwarz, die rechte weiss, die obere H\u00e4lfte der rechten Scheibe schwarz und die untere weiss, wie es die beiden \u00e4ussern Felder der Fig. 14 zeigen, so dass ein scharfer Contur beide H\u00e4lften trennt, so\nFie. 14.\nerscheint uns, wenn jede Gesichtslinie auf den Mittelpunkt der bez\u00fcglichen Scheibe gerichtet ist, und wir passend accommodirt sind, ein Sehfeld, welches im linken oberen Quadranten dauernd schwarz, im rechtem untern dauernd weiss ist. Die beiden andern Quadranten erscheinen, abgesehen von der unmittelbaren Nachbarschaft der Conturen, im Allgemeinen gl\u00e4nzend grau, bald dunkler, bald heller. An der Kreuzungsstelle des vertical en und horizontalen Conturs sehen wir bald nur den verticalen Contur, w\u00e4hrend der horizontale unterbrochen ist, bald den horizontalen, w\u00e4hrend der verticale unterbrochen ist. Der obern H\u00e4lfte des verticalen Conturs liegt nach rechts ein weisser, seiner untern nach links ein schwarzer Saum an, der allm\u00e4hlich in das Grau des bez\u00fcglichen Quadranten \u00fcbergeht. Ebenso zeigt die linke H\u00e4lfte der horizontalen Grenzlinie nach- unten einen dauernd weissen, die rechte H\u00e4lfte nach oben einen dauernd schwarzen Saum. Beide Conturen liegen an der Kreuzungsstelle gleichsam mit einander im Kampfe, bald siegt der eine mit dem ihm unmittelbar anliegenden Theile seines Grundes und durchbricht so den andern, bald ist das Umgekehrte der Fall. Dabei k\u00e4mpfen auch in den beiden oben als grau bezeichneten Quadranten das Schwarz und Weiss mit einander, und geben bald eine hellere bald eine dunklere und meist gl\u00e4nzende Mischung. Das Mittelfeld der Fig. 14 zeigt eine bestimmte Phase dieses Wettstreites.\nZiehen wir durch die Mitte der linken weissen Scheibe des Haploskops einen m\u00e4ssig breiten schwarzen Verticalstrich, durch die Mitte der rechten ebenfalls weissen Scheibe einen Horizontalstrich,","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"Wettstreit der Conturen.\n383\nund markiren den Mittelpunkt jeder Scheibe durch ein kleines weisses Kreuzchen, um der Gesichtslinie einen Haltpunkt zu geben, so erscheint uns im Sehfelde ein ann\u00e4hernd rechtwinkliges Kreuz, etwa wie a, b, c der Fig. 15. Die Mitte des Kreuzes, wo beide Schenkel sich decken,\nFig. 15.\nerscheint immer schwarz und h\u00e4ngt bald nur mit dem \u00fcbrigen Schwarz ( des horizontalen Schenkels wie in a: bald nur mit dem des verticalen Schenkels, wie in b, bald mit keinem von beiden zusammen, wie in c. Die Unterbrechung des Zusammenhanges kommt dadurch zu Stande, dass an der Kreuzungsstelle am bez\u00fcglichen Contur des Schwarzen etwas Weiss vom Grunde gleichsam haften bleibt, welches in unmittelbarer N\u00e4he des Conturs am hellsten ist und sich in das Schwarze des unterbrochenen Schenkels abschattirt. Bald erscheint der eine Strich unterbrochen, bald der andere, bald beide, so dass beide Sehen-t kel an der Kreuzungsstelle gleichsam im Wettstreite mit einander sind ; nie sehen wir ein in der Mitte zusammenh\u00e4ngendes Kreuz, wie es erscheinen w\u00fcrde, wenn beide Striche sich auf derselben Netzhaut abbildeten.\nLiegt auf der linken Scheibe ein System paralleler Linien, auf der rechten ein System ebenfalls paralleler, aber anders gerichteter Linien, wie auf den beiden \u00e4ussern Feldern der Fig. 16, so sieht man\nFig. 16.\nim Sehfelde allenthalben die Linien des einen Systems die des andern durchbrechen, wie es das Mittelfeld der Figur ann\u00e4hernd dar-","page":383},{"file":"p0384.txt","language":"de","ocr_de":"384 Hering, Physiol. OptikIY. 4. Cap. Yond. Pr\u00e4valenz u.d. Wettstreited. Conturen.\nstellt. An der einen Stelle ist das eine System, an der andern das andere durchbrochen; an einer und derselben Stelle tritt bald das eine deutlich hervor, bald das andere, kurz es ist ein fortw\u00e4hrender unruhiger Wechsel wahrzunehmen, wenn nicht die Aufmerksamkeit ganz besonders auf das eine System gerichtet ist und demselben an der eben beachteten Stelle zum Siege im Wettstreit verhilft.\nAllgemein k\u00f6nnen wir sagen, dass erstens, wenn auf der einen Netzhaut das scharfe Bild eines Conturs, d. i. eine scharfe Grenze zwischen zwei verschiedenfarbigen Fl\u00e4chen liegt, w\u00e4hrend \u00fcber die correspondirende Stelle der andern Netzhaut das Bild eines gleichartigen Grundes gebreitet ist, der Contur im gemeinsamen Sehfeld sichtbar wird, weil die dem Contur anliegenden Theile des Grundes \u00fcber die entsprechenden Theile des andern Netzhautbildes den Sieg davon tragen, und die denselben entsprechende Empfindung gleichsam unterdr\u00fccken. Jeder Contur des einen Netzhautbildes verhilft dem ihm anliegenden Theile des Grundes zum dauernden Siege \u00fcber den andersfarbigen Grund des andern Netzhautbildes. Man kann dies die Pr\u00e4 valenz der Conturen nennen. Zweitens ist zu sagen, dass wenn in beiden Netzhautbildern Conturen so verlaufen, dass sie nur mit je einem Punkt auf Deckstellen liegen, sie sich an der diesem Deckstellenpaar entsprechenden Stelle des Sehfeldes zwar zu durchkreuzen scheinen, aber immer derart, dass bald der eine Contur mittels der ihn ums\u00e4umenden Theile seines Grundes den andern unterbricht, bald wieder dieser den ersten. Man nennt dies den Wettstreit (Wetteifern, Panum) der Conturen.\nDie Pr\u00e4valenz und der Wettstreit der Conturen wurde zuerst von H. Meyer1 2 und nachher ausf\u00fchrlicher von Panum 2 er\u00f6rtert, deren Abhandlungen auch obige Figuren im Wesentlichen entlehnt sind. Vergl. ausserdem Welcker3, Fechner4 und Helmholtz.5\nDie Bedeutung der Pr\u00e4valenz der Conturen und ihres Wettstreites liegt darin6, dass durch sie \u201edie Fusion beider Netzhautbilder verhindert, und jedem derselben eine gewisse Selbst\u00e4ndigkeit gewahrt wird\u201c. Wenn wir mit einem Auge durch ein unbelegtes verticales Spiegelglas sehen, welches unter 45\u00b0 zur Gesichtslinie geneigt ist, so erscheinen uns die direct und die durch Spiegelung ge-\n1\tH. Meyer, Arch. f. Ophthalmologie II. 2. S. 77.\n2\tPanum, Physiol. Untersuchungen \u00fcber das Sehen mit zwei Augen 1858.\n3\tWelcker, Ueber Irradiation 1852.\n4\tFechner, Ueber einige Verh\u00e4ltnisse des binocularen Sehens. Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. VII. S. 378.\n5\tHelmholtz, Physiol. Optik S. 766.\n6\tHering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie Y. S. 313.","page":384},{"file":"p0385.txt","language":"de","ocr_de":"Bedeutung des Wettstreits der Conturen.\n3S5\nseltenen Dinge in demselben Raume durch einander geschoben. Wir wissen dann zwar die Conturen der direct gesehenen von denen der gespiegelten Dinge meist zu sondern, aber dieselben Mischfarben f\u00fcllen die Conturen beider aus, und mancherlei T\u00e4uschungen k\u00f6nnen dabei Vorkommen. Dem g\u00e4nzlich Unerfahrenen m\u00fcssten nothwendig beide Bilder in eines zusammenfliessen. Setzen wir dagegen das Spiegelbild durch kleine Drehungen des Spiegelglases in Bewegung, so wird die Sonderung beider Bilder sehr erleichtert, weil dann das, was sich gemeinsam verschiebt, als zusammengeh\u00f6rig erkannt wird.\nBest\u00e4nde keine Pr\u00e4valenz der Conturen und kein Wettstreit weder des Grundes noch der Conturen, und g\u00e4ben verschieden gereizte Deckstellenpaare eine stetige, aus den beiderseitigen Erregungen re-sultirende Empfindung in derselben Weise, wie sie es bei beiderseits gleicher Reizung thun, so w\u00fcrden verschieden gestaltete und gef\u00e4rbte Bilder beider Netzh\u00e4ute bei ruhendem Blicke in ganz derselben Weise in Eines zusammenfliessen, wie bei festgehaltenem Spiegel die Bilder, der direct gesehenen und der gespiegelten Dinge. Durch Schwankungen der Convergenz der Gesichtslinien wird die Sonderung der beiderseitigen Bilder noch weiter unterst\u00fctzt in \u00e4hnlicher Weise wie bei dem obigen Versuche durch die Bewegung des Spiegels.\nPanum 1 meint, \u201edass die Conturen die Retina besonders stark reizen, und dass die Nervenerregung, die durch sie hervorgebracht wird, eine andere und weit kr\u00e4ftiger ist, als diejenige, welche durch eine gleich-massig erleuchtete Fl\u00e4che gesetzt wird.\u201c H. Meyer und Helmholtz dagegen geben eine psychologische Erkl\u00e4rung und meinen, dass die Conturen pr\u00e4valiren, weil sich ihnen die Aufmerksamkeit zuwendet, und dass im Wettstreit der Conturen immer derjenige Contur siege, welcher eben Gegenstand der Aufmerksamkeit ist. In ausf\u00fchrlicher Weise hat besonders Fechner 2 den Einfluss der Aufmerksamkeit auf diese Erscheinungen auseinandergesetzt, ohne \u00fcbrigens dieselben lediglich hieraus erkl\u00e4ren zu wollen.\n1\tPanum, 1. c. S. 47.\n2\tFechner, 1. c. S. 392.\nHandbuch der Physiologie. Bd. III.\n25","page":385},{"file":"p0386.txt","language":"de","ocr_de":"386 Heking, Physiol. Optik IY. 5. Cap. Das Gesetz der identischen Sehrichtungen.\nF\u00dcNFTES CAPITEL.\nDas Gesetz der identischen Sehrichtungen.\nMan stelle sich in etwa V2 Mtr. Entfernung vor ein Fenster, das eine freie Aussicht gew\u00e4hrt, fixire den Kopf mit einem Kopfhalter, wie ihn die Photographen ben\u00fctzen, schliesse zun\u00e4chst das rechte Auge und suche mit dem linken einen etwas nach rechts gelegenen fernen Gegenstand auf, der sich gut von seiner Umgebung abhebt, z. B. einen einzelnen Baum. W\u00e4hrend man ihn mit dem linken Auge fixirt, mache man auf die Fensterscheibe einen schwarzen Punkt derart, dass er dem linken Auge die Mitte des Baumes verdeckt. Nun schliesse man das linke und \u00f6ffne das rechte Auge, richte letzteres auf den schwarzen Punkt der Fensterscheibe und beachte, welches Object des Aussenraumes er jetzt dem rechten Auge theilweise verdeckt. Dieses Object, es sei z. B. eine Esse, merke man sich. Schliesslich fixire man den Punkt auf der Scheibe mit beiden Augen und man wird gerade hinter demselben, von ihm theilweise gedeckt, zugleich den fernen Baum und die ferne Esse sehen, bald deutlicher den Baum, bald die Esse, bald beide, je nachdem im Wettstreite das Bild des einen oder des andern Auges siegt. Man sieht also den Punkt auf der Scheibe, den Baum und die Esse in derselben Richtung. Befindet sich der Punkt in der Medianebene des Kopfes und convergiren daher die Augen symmetrisch, so scheinen Punkt, Baum und Esse in der Medianebene zu liegen, obwohl letztere beide sich in Wirklichkeit ganz wo anders befinden.\nFig. 17. versinnlicht die Einrichtung des Versuches; ff ist die Fensterscheibe, p der fixirte schwarze Punkt ; auf der linken Gesichtslinie / b liegt der ferne Baum, auf der rechten r e die ferne Esse. Die Bilder von b und e fallen also ebenso wie das Bild von p auf die Stelle des directen Sehens und daher auf correspondirende Theile beider Netzh\u00e4ute ; die ganz gleichen Bilder von p liegen genau corre-spondirend, die ganz verschiedenen des Baumes und der Esse befinden sich nur auf correspondirenden Netzhautgegenden.\nDer Versuch zeigt, dass Objecte, welche auf einer der beiden gekreuzten Gesichtslinien und also in ganz verschiedener Richtung vom Kopfe liegen, gleichwohl in einer und derselben Richtung erscheinen, und sich, wenn sie zugleich in verschiedenen Entfernungen","page":386},{"file":"p0387.txt","language":"de","ocr_de":"Die Hauptsehrichtung.\n387\ngesehen werden, zwar nicht dem Orte nach, wohl aber wenigstens der Richtung nach decken ; ferner, dass sie, wenn bei Prim\u00e4rstellung des Kopfes die Gesichtslinien horizontal symmetrisch gekreuzt sind,\nFig. 17.\ns\u00e4mmtlich auf der scheinbaren Medianlinie als der Durchschnittslinie zwischen der scheinbaren Medianebene und der scheinbaren prim\u00e4ren Blickebene zu liegen scheinen. Die Linie, in welcher Alles auf der Stelle des directen Sehens Abgebildete erscheint, heisst die gemeinsame Sehrichtungslinie oder kurz Sehrichtung der Netzhautcentren oder die Hauptsehrichtung.\nLiegt mehr nach rechts vom fixirten Punkt p ein zweiter schwarzer Punkt // auf der Fensterscheibe, so befindet sich derselbe sehr angen\u00e4hert im L\u00e4ngshoropter und bildet sich ebenfalls nahezu auf correspondirenden Stellen ab. Die fernen Aussenobjecte (c und d in Fig. 17), welche auf den beiden zum Punkte // geh\u00f6rigen Richtungslinien liegen, erscheinen uns ebenfalls in derselben Richtung, wie der Punkt // n\u00e4mlich hinter diesem in der Ferne zu liegen. Den beiden correspondirenden Punkten, welche das Bild von // empfangen, entspricht also abermals eine und dieselbe Sehrichtungslinie oder Seh-richtung, welche nach rechts von der scheinbaren Medianebene abweicht, Die Anordnung der Sehdinge ist daher im Sehraum etwa so, wie es Fig. 17 rechterseits darstellt. Alles erscheint in der scheinbaren Blickebene ; dem wirklichen Punkte p entspricht der Sehpunkt","page":387},{"file":"p0388.txt","language":"de","ocr_de":"388 Hering, Physiol. Optik IY. 5. Cap. Das Gesetz der identischen Sehrichtungen.\nTr, gerade dahinter auf der scheinbaren Medianlinie liegen in der Ferne die den wirklichen Dingen e und b entsprechenden Sehdinge \u00e9 und \u00df. Der wirkliche Punkt // erscheint als Punkt tt! im Sehraume, dahinter auf einer nach rechts von der scheinbaren Medianlinie abweichenden Sehrichtungslinie die den wirklichen Dingen c und d entsprechenden Sehdinge y und d.\nMan stelle sich wieder wie vorhin vor das Fenster, fixire einen entfernten, in der Medianebene gelegenen Gegenstand (a Fig. 18),\nFig. 18.\nschliesse das linke Auge und bringe auf der Glasscheibe einen rothen Punkt (p) so an, dass er dem linken Auge eine Stelle des fixirten fernen Objectes verdeckt und also mit ihm in gleicher Richtung erscheint. Hierauf schliesse man das linke Auge, \u00f6ffne das rechte und markire wieder, aber mit blauer Farbe denjenigen Punkt (//) auf der Scheibe, welcher jetzt in derselben Richtung wie das fixirte Object (ff) erscheint. Fixirt man nun letzteres binocular, so sieht man das dem Objecte ff entsprechende Sehding a wieder in der scheinbaren Medianebene und gerade davor auf der Scheibe einen Punkt tv, welcher bald roth, bald blau aussieht, weil er durch die scheinbare Deckung der wirklichen Punkte p und p' entstanden ist.\nMehr rechts vom fernen fixirten Objecte a liege ein anderes ungef\u00e4hr gleich fernes Object b. W\u00e4hrend man mit dem linken Auge allein fixirt, bringe man wieder auf die Scheibe einen rothen Punkt","page":388},{"file":"p0389.txt","language":"de","ocr_de":"Mittle Quer- und L\u00e4ngsebene des Sehraumes.\n389\n(r) da an, wo die Scheibe von der Richtungslinie des Objectes b geschnitten wird ; ebenso, w\u00e4hrend a nun vom rechten Auge fixirt wird, einen blauen Punkt r' an der Stelle, wo jetzt die Richtungslinie von b die Scheibe schneidet. Endlich fixire man a binokular und man wird nun nicht nur in der Richtung von a sondern auch in der Richtung von b einen Punkt q auf der Scheibe sehen, welcher bald roth, bald blau aussieht und also durch scheinbare Verschmelzung der wirklichen Punkte r und r\u2019 entstanden ist. Die Anordnung der Sehdinge im Sehraum ist jetzt etwa so, wie es Fig. 18 rechterseits darstellt. Wieder liegt das auf beiden Netzhautcentren Abgebildete n\u00e4mlich ]) und a auf der scheinbaren Medianlinie des Sehraums in tc und a, und ebenso erscheinen das Object b: die Punkte r und r' auf einer und derselben nach rechts von der scheinbaren Medianlinie abweichenden Sehrichtungslinie in \u00df und q.\nF\u00fcr d\u00e9n letztbeschriebenen Versuch kann man, w\u00e4hrend man immer das in der Medianebene liegende Object a fixirt, statt des indirect gesehenen Objectes b einen beliebigen anderen indirect gesehenen gleich fernen Gegenstand ben\u00fctzen und so f\u00fcr jedes beliebige Deckstellenpaar beweisen, dass die Sehdinge, welche den auf diesen Deckstellen gelegenen Bildern entsprechen und in verschiedener Entfernung gesehen werden, auf einer und derselben Sehrichtungslinie im Sehraume erscheinen.\nJe zwei bestimmten correspondirenden Richtungslinien oder Vi-sirlinien entspricht also im Sehraume eine einfache Sehrichtungslinie derart, dass auf letzterer alles das erscheint, was auf den ersteren wirklich liegt.\nWas immer sich bei einer gegebenen Augenstellung auf den mitt-len Querschnitten abbildet, erscheint in einer Ebene, welche den ganzen Sehraum in eine obere und eine untere H\u00e4lfte theilt und die mittle Querebene des Sehraumes heissen soll. Diese Ebene f\u00e4llt bei horizontal symmetrischer Convergenz der Augen und Prim\u00e4rstellung des Kopfes mit der scheinbaren horizontalen Hauptebene zusammen. Was auf den beiden mittlen L\u00e4ngsschnitten abgebildet ist, erscheint in einer Ebene, welche den ganzen Sehraum in eine rechte und linke H\u00e4lfte theilt und die mittle L\u00e4ngsebene des Sehraumes heissen soll. Diese Ebene f\u00e4llt bei Prim\u00e4rstellung des Kopfes und symmetrischer Stellung der Gesichtslinien mit der scheinbaren Medianebene zusammen. Auf der Durchschnittslinie der mittlen L\u00e4ngsebene und der mittlen Querebene des Sehraumes erscheint alles, was auf den Netzhautmitten abgebildet ist.\nDa wir die Lage der Dinge auf unsern K\u00f6rper und insbeson-","page":389},{"file":"p0390.txt","language":"de","ocr_de":"390 Hering, Physiol. Optik IV. 5. Cap. Das Gesetz der identischen Sehrichtungen.\ndere auf misera Kopf beziehen, und dieser daher den Ausgangspunkt der Richtungen bildet, in welchen uns die Dinge erscheinen, so m\u00fcssen wir uns s\u00e4mmtliche Sehrichtungslinien, deren jede einem Deckstellenpaare entspricht, vom Kopfe aus divergirend denken, genauer gesagt von der Stelle aus, an welcher wir uns, bezogen auf die Sehdinge, unsern Kopf vorstellen. Dieser bildet also das Centrum der Sehrichtungen oder Sehrichtungslinien. Die Lage einer bestimmten Sehrichtungslinie im Sehraume ist bestimmt durch den scheinbaren Winkel, welchen sie einerseits mit der mittlen Querebene, anderseits mit der mittlen L\u00e4ngsebene einschliesst, und die Gr\u00f6sse dieses Winkels w\u00e4chst mit dem Abstande des, dieser Sehrichtungslinie entsprechenden Deckstellenpaares vom mittlen Querschnitt beziehungsweise mittlen L\u00e4ngsschnitt der Netzhaut.\nSehen wir ab von der oben beschriebenen kleinen Incongruenz der Netzh\u00e4ute, so k\u00f6nnen wir uns das Richtungslinienb\u00fcschel des rechten Auges mit dem des linken so zusammengelegt denken, dass je zwei correspondirende Richtungslinien zusammenfallen. Das Centrum des so entstandenen einfachen Linienb\u00fcschels denken wir uns in die Mitte zwischen beide Augen gelegt, so dass alle den mittlen L\u00e4ngsschnitten der Netzh\u00e4ute zugeh\u00f6rigen Linien des B\u00fcschels in der Medianebene des Kopfes liegen. Dann w\u00fcrde dieses einfache\nLinienb\u00fcschel die Gesammtheit aller Sehrichtungslinien ungef\u00e4hr darstellen. Handelt es sich nur um das Sehen ferner Objecte, so kann man sich das Centrum der Sehrichtungen besser in der L\u00e4ngsaxe des Kopfes auf gleicher H\u00f6he mit den Augen gelegen denken.\nAuch beim ein\u00e4ugigen Sehen bleiben die Sehrichtungen in der Regel dieselben. Man fixire z. B. einen schwarzen Punkt (Fig. 19) auf der Fensterscheibe ff w\u00e4hrend man vor das eine Auge und einige Zoll von ihm entfernt ein grosses Kartenblatt k k mit einem \u00e4usserst feinen Loche h\u00e4lt, so dass man das Loch als einen kleinen Zerstreuungskreis und in der Mitte des letzteren den Punkt /?, wenn auch etwas undeutlich sieht. Auf der Gesichtslinie des linken Auges befinde sich in der Ferne das Object o.\nFig. 19.","page":390},{"file":"p0391.txt","language":"de","ocr_de":"Centrum der Sehrichtungen.\n391\nObwohl man nun weiss, dass dasselbe nur mit dem linken Auge gesehen wird und also nach rechts von der Medianebene des Kopfes liegen muss, so sieht man es doch gerade aus hinter dem Punkte p in der scheinbaren Medianebene. Ebenso erscheinen dabei alle andern durch das Fenster sichtbaren Dinge auf der ihnen zukommenden Sehrichtungslinie und daher s\u00e4mmtlich an einem falschen Orte. Das rechte Auge sieht hierbei gar nichts als den Punkt p und den kleinen Zerstreuungskreis des Loches, welcher sich wie ein Nebel \u00fcber das Wenige legt, was das rechte Auge sonst noch durch das Loch hindurch sehen k\u00f6nnte, so dass auch dies Wenige kaum erkennbar und nicht st\u00f6rend wird. Verdeckt man das rechte Auge vollst\u00e4ndig, so \u00e4ndert sich zun\u00e4chst nichts. Nur wenn man \u00fcber die wirkliche Lage der Dinge reflectirt und das verdeckte Auge seine Stellung \u00e4ndert, kann eine Aenderung in der scheinbaren Pachtung der Dinge' eintreten.\nAnders verh\u00e4lt sich die Lage des Sehrichtungsb\u00fcschels zum Kopfe bei denen, welche ein\u00e4ugig sind oder sich, wie Mikroskopiker, gew\u00f6hnt haben, h\u00e4ufig nur das eine Auge zu benutzen, oder bei Menschen mit habitueller falscher Kopfhaltung. Wer \u00fcberhaupt ein\u00e4ugig ist oder oft ein\u00e4ugig sieht, ist nicht den groben T\u00e4uschungen aus-gesetzt, wie der ganz normal Doppel\u00e4ugige. Bei alledem aber wird an dem wesentlichen Inhalte des Gesetzes der identischen Sehrichtungen nichts ge\u00e4ndert: immer erscheint, sobald beide Augen sehen, das correspondirend Abgebildete auf einer und derselben Sehrichtungslinie; nur die Lage des ganzen Sehrichtungsb\u00fcschels zu den scheinbaren Hauptebenen des Baumes kann eine andere werden.\nJ. von Kries bei welchem unter gewissen Bedingungen unwillk\u00fcrliches Divergenzschielen eintritt, hat an sich selbst beobachtet, dass bei Divergenzstellungen seiner Augen zwar die auf correspondirenden Punkten sich abbildenden Gegenst\u00e4nde stets zusammenzufallen scheinen, dass aber in ganz \u00e4hnlicherWeise mit dem hierbei auftretenden Wettstreite der Sehfelder auch ein Wettstreit der Sehrichtungen eintritt. v. Kries, obwohl er binocular fixiren kann, pflegt f\u00fcr die N\u00e4he vorzugsweise das linke, f\u00fcr die Ferne vorzugsweise das rechte Auge zu benutzen und das andere abweichen zu lassen. Infolge dessen hat er gelernt, beim Gebrauche des linken Auges die Dinge so zu sehen, wie wenn das Centrum der Sehrichtungslinien weiter nach links, beim Gebrauche des rechten Auges so, wie wenn es weiter nach rechts im Kopfe l\u00e4ge, als beim normalen doppel\u00e4ugigen Sehen der Fall ist. Er ist gleichsam ein doppelter Ein\u00e4ugiger, und unter Umst\u00e4nden gerathen seine beiden Arten der Localisirung in Conflict, ohne dass das Gesetz der identischen Sehrichtungen dadurch alterirt wird.\n1 v. Kries, Arch. f. Ophthalmologie XXIV. 4. Abth. S. 117.","page":391},{"file":"p0392.txt","language":"de","ocr_de":"392 Hering, Physiol. Optik IY. 6. Cap. Das Sehen mit disparaten Stellen.\nDie Anordnung der Sehrielitungen im Sehraume wurde zuerst von Hering1 2 ausf\u00fchrlich dargelegt, ungef\u00e4hr gleichzeitig und unabh\u00e4ngige davon auch von Towne 2 gefunden, aber erst sp\u00e4ter \u00f6ffentlich mitgetheilt. Die Grundz\u00fcge des Gesetzes der Sehrichtungen finden sich schon bei Joh.. M\u00fcller3 u. A. Pr\u00e9vost.4\nDenkt man sich statt zweier Augen ein in der Mitte zwischen den beiden wirklichen Augen gelegenes Auge, und die Netzhautbilder beider wirklichen Augen auf die Netzhaut dieses Mittelauges so \u00fcbertragen, dass, sie in Beziehung zum verticalen und horizontalen Mittelschnitt dieser Netzhaut ebenso angeordnet sind, wie auf jeder Netzhaut in Beziehung zum mittlen L\u00e4ngsschnitt und mittlen Querschnitt, so w\u00fcrden die Richtungslinien dieses imagin\u00e4ren Einauges ann\u00e4hernd die Sehrichtungen sein. Dieses imagin\u00e4re Einauge hat man auch das Cyclopenauge genannt.\nSECHSTES capitel.\nDas Sehen mit disparaten Stellen.\nGleichviel, ob die Ergebnisse der bisher vorliegenden Untersuchungen \u00fcber die Anordnung der correspondirenden Stellen der Wahrheit mehr oder weniger nahe kommen, immer wird sich ergeben m\u00fcssen, dass insbesondere bei Convergenz der Gesichtslinien nur ver-h\u00e4ltnissm\u00e4ssig wenige Punkte des Aussenraumes in der Lage sind,, sich auf Deckstellen abzubilden. Es fragt sich nun, wie die r\u00e4umlichen Eigenschaften der von einem Netzhautstellenpaar ausgel\u00f6sten Empfindungen sich verhalten, je nachdem dieses Stellenpaar ein correspondirendes oder disparates ist.\nZur Untersuchung dieser Frage bieten sich zwei verschiedene Wege. Man kann erstens, w\u00e4hrend ein bestimmter Aussenpunkt fixirt wird, andere Punkte oder ausgedehnte Objecte von einfacher Form in verschiedene Lagen bringen, so dass sie sich bald auf correspondirenden, bald auf disparaten Stellen abbilden m\u00fcssen, w\u00e4hrend man dabei ihre scheinbare Lage mit der scheinbaren Lage des fixirten\n1\tHering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie 1.1861 und II. \u00a7 63\u201469, woselbst das Wesen der Sehrichtungen ausf\u00fchrlicher er\u00f6rtert und insbesondere gezeigt wird, dass die Lage des hinzugedachten Ausgangspunktes der Sehrichtungslinien eine variable ist und dass man sich denselben sogar manchmal hinter dem Kopfe zu denken hat.\n2\tTowne , nach einer brieflichen Mittheilung an Helmholtz (Physiol. Optik S. 745).\n3\tJoh. M\u00fcller, Handb. d. Physiologie II. S. 376. 1840.\n4\tPr\u00e9vost, Essai sur la th\u00e9orie de la vision binocul. Gen\u00e8ve 1843.","page":392},{"file":"p0393.txt","language":"de","ocr_de":"Das Spiegelhaploskop.\n393\nPunktes vergleicht. Oder man kann die Untersuchung nach der haploskopischen Methode anstellen.\nDenkt man sich, w\u00e4hrend ein bestimmter Punkt eines Aussen-dinges fixirt wird, durch jede Gesichtslinie eine zu derselben rechtwinklige Ebene, beiderseits in derselben Entfernung vom Auge, gelegt und alle \u00fcbrigen Punkte des Dinges mittels der Richtungslinien auf diese Ebene projicirt, so w\u00fcrden diese Projectionen beiden Augen in r\u00e4umlicher Beziehung dasselbe Netzhautbild geben, wie das Object selbst. Br\u00e4chte man die beiden projectivischen Zeichnungen auf die beiden Scheiben des oben beschriebenen Haploskops in derselben Entfernung von den Augen, welche zuvor die Projectionsebenen hatten, und stellte jede Gesichtslinie auf den Punkt ein, welcher dem zuvor fixirten Aussenpunkt entspricht, so w\u00fcrden beide Netzh\u00e4ute dasselbe Bild empfangen, wie beim Sehen des wirklichen Objectes, und die Bilder w\u00fcrden auf beiden Netzh\u00e4uten auch wieder dieselbe Lage haben, wenn beide Zeichnungen so gestellt w\u00e4ren, dass z. B. auf den mittlen Querschnitten der Netzh\u00e4ute wieder die Bilder derselben Punkte l\u00e4gen wie zuvor.\nZwischen dem Sehen des wirklichen Dinges und dem haploskopischen Sehen seiner beiden Projectionen bliebe dann nur noch der wesentliche Unterschied, dass bei ersterem die Gesichtslinien convergent, bei letzterem parallel sind, was zugleich einen verschiedenen Accommodationszustand mit sich bringt.\nAber auch dieser Unterschied l\u00e4sst sich durch eine Modification des Haploskopes beseitigen, wie sie Fig. 20 schematisch darstellt.1 Vor jeder der beiden horizontalen und zun\u00e4chst parallel angenommenen Gesichtslinien befindet sich ein um 450 zu ihr geneigter kleiner Spiegel. Die beiden projectivischen Zeichnungen liegen je auf einer verticalen Ebene abc, o! b' d welche ebenfalls unter 45\u00b0 zur Ebene des zugeh\u00f6rigen Spiegels geneigt ist und demselben auf einem Schlitten beliebig gen\u00e4hert oder wieder von ihm entfernt werden kann. Spiegel und Bildebene einer Seite sind auf je einem Gestell befestigt, welches um eine verticale Axe drehbar ist, deren gedachte Verl\u00e4ngerung durch den Drehpunkt des bez\u00fcglichen Auges geht. Bei der Drehung des Gestelles \u00e4ndert sich also weder die Lage der Zeichnung zum Spiegel, noch die Lage des letzteren zum Drehpunkt des Auges, wenn der Kopf durch einen Halter fixirt ist. Sind b und b1\n1 Dieser Apparat unterscheidet sich von dem beweglichen Spiegelstereoskope Wheatstone\u2019s nur dadurch, dass bei letzterem beide Spiegel sammt den zugeh\u00f6rigen Bildebenen um eine gemeinschaftliche zwischen den beiden Spiegeln gelegene verticale Axe drehbar sind, w\u00e4hrend im ersteren jeder Spiegel seine besondere, zugleich durch den Drehpunkt des entsprechenden Auges gehende Axe hat.","page":393},{"file":"p0394.txt","language":"de","ocr_de":"394 Hering. Physiol. Optik IY. 6. Cap. Das Sehen mit disparaten Stellen.\ndie dem Fixationspunkte entsprechenden Punkte der beiden Zeichnungen, so m\u00fcssen die Gesichtslinien, wenn der Apparat die durch Fig. 20 versinnlichte Stellung hat, parallel stehen, um auf die Spiegelbilder \u00df,\u00dfr dieser Punkte zu treffen; hat aber der Apparat eine Stellung, wie sie Fig. 21 darstellt, so m\u00fcssen die Gesichtslinien zu demselben Zwecke convergi-ren. Dabei \u00e4ndert sich also zwar die Augenstellung, nicht aber das Bild auf der Netzhaut, sofern die mittlen L\u00e4ngsschnitte und Querschnitte wieder dieselbe Lage zur Blickebene haben und nicht etwa mit der ver\u00e4nderten Accommodation der Augen zugleich die Anordnung der correspondu\u2019 enden Bichtungslinien sich ge\u00e4ndert hat.\nGleichviel ob man die Objecte selbst oder deren Doppelprojec-tionen zur Untersuchung benutzt, immer muss man solche Objecte w\u00e4hlen, f\u00fcr deren scheinbare Anordnung im Raume keine anderen Umst\u00e4nde, als allein die Stellung des Kopfes und der Augen und die Lage der Bilder auf der Netzhaut bestimmend werden k\u00f6nnen. Dies ist bei den folgenden Versuchen m\u00f6glichst angestrebt,\nMan h\u00e4nge eine Anzahl durch kleine Gewichte belasteter, etwa 2 Ctm. von einander abstehender feiner F\u00e4den oder Dr\u00e4hte von verschiedener St\u00e4rke vor einem entfernten gleichfarbigen und ebenen Hintergr\u00fcnde so auf, dass sie s\u00e4mmtlich in einer verticalen Ebene liegen.1 Stellt man sich in einem Abstande von etwa 1 Mtr. vor den F\u00e4den auf, so dass alle F\u00e4den von der Frontalebene gleichweit abstehen, h\u00e4lt vor das Gesicht eine kurze R\u00f6hre, welche beiden Augen das obere und untere Ende der F\u00e4den verdeckt, und fixirt mit\n1 L\u00e4sst man die Gewichte in Wasser tauchen, so wird das l\u00e4stige Pendeln der F\u00e4den bald ged\u00e4mpft.","page":394},{"file":"p0395.txt","language":"de","ocr_de":"Liniensystem im L\u00e4ngshoropter.\n395\nhorizontaler Blickebene fest den in der Medianebene gelegenen Faden, so erscheinen s\u00e4mmtliche F\u00e4den in einer Ebene oder in einer Fl\u00e4che, welche in querer Richtung eine \u00e4usserst schwache Kr\u00fcmmung hat, die zun\u00e4chst vernachl\u00e4ssigt werden kann (s. u.). Die F\u00e4den liegen hierbei ziemlich genau im Horopter der L\u00e4ngsschnitte, wenn man, den Kopf so zur Blickebene neigt, dass die L\u00e4ngsschnitte beider Netzh\u00e4ute senkreckt zur Blickebene stehen.1 Diesenfalls ist der schematische L\u00e4ngshoropter ein verticaler Kreiscylinder, der durch den Blickpunkt und den mittlen Knotenpunkt beider Augen geht, und diesen Cylinder tangirt die Ebene der F\u00e4den l\u00e4ngs des fixirten Fadens. Da der Cylinder etwa einen halben Meter im Durchmesser hat, so ist seine Kr\u00fcmmung schwach, und die dem fixirten Faden n\u00e4heren F\u00e4den, auf welche es besonders ankommt, liegen nahezu im Cylinder selbst. L\u00e4sst man jetzt, w\u00e4hrend man die Augen schliesst, von einem Gehilfen einen der F\u00e4den aus der Ebene der andern etwas verschieben und blickt wieder auf den Mittelfaden, so erkennt man selbst bei geringf\u00fcgiger Verschiebung augenblicklich, welcher Faden und in welchem Sinne er verr\u00fcckt ist. Je n\u00e4her der bez\u00fcgliche Faden dem Blickpunkte liegt, eine desto geringere Verschiebung desselben nach vorn oder hinten gen\u00fcgt, um ihn sofort auch n\u00e4her oder ferner erscheinen zu lassen als seine Nachbarn. Sind die F\u00e4den von vornherein nicht genau in einer Ebene, so sieht man sofort, welche F\u00e4den n\u00e4her und welche ferner liegen, und stellt man sich die Aufgabe, die F\u00e4den bei fester Fixirung des Mittelfadens wieder in eine Ebene zu bringen, was man mit H\u00fclfe einer passenden Vorrichtung selbst besorgen oder von einen Gehilfen besorgen lassen kann, so bringt man die F\u00e4den wirklich in eine Ebene oder wenigstens in eine Fl\u00e4che, welche eine ganz schwache regelm\u00e4ssige Kr\u00fcmmung in querer Richtung hat (s. u.).\nFixirt man den Mittelfaden nur mit einem Auge, so ist man \u00fcber die Anordnung der F\u00e4den sehr unsicher und unterliegt mannichfachen T\u00e4uschungen. Versucht man dabei die anfangs nicht in einer Ebene befindlichen F\u00e4den in eine solche zu bringen, so begeht man meist grobe und ganz regellose Fehler: Beweis, dass die Localisirung nur bei binocularem Sehen eine so sichere ist.2\n1\tWie dies zu controliren ist, wird im Abschnitte \u00fcber die Augenbewegungen zu besprechen sein.\n2\tDeshalb eignen sich diese Versuche, wenn man sie z. B. mit steifen Dr\u00e4hten verschiedener Dicke anstellt, welche auf kleinen Stativen befestigt sind und leicht verschoben werden k\u00f6nnen, zur Entscheidung der Frage, ob jemand binocular sieht oder nicht. Verf\u00e4llt er dabei in grobe T\u00e4uschungen, so sieht er nicht binocular oder ist wenigstens auf einem Auge amblyopisch.","page":395},{"file":"p0396.txt","language":"de","ocr_de":"396 Hering, Physiol. Optik IV. 6. Cap. Das Sehen mit disparaten Stellen.\nIst der bei obigem Versuche verschobene Faden nach hinten, d. h. vom Gesichte wegger\u00fcckt worden, dabei aber vertical geblieben, so befinden sich seine Bilder jetzt nicht mehr auf correspon-direnden, sondern auf disparaten L\u00e4ngsschnitten. Das Bild auf der rechten Netzhaut liegt im Vergleiche zum Bilde im linken Auge zu weit nach links, als dass es correspondirend sein k\u00f6nnte, wie Fig. 22\nFig. 22.\nzeigt, in welcher f den Durchschnitt des fixirten, a des verschobenen Fadens bedeutet. Eine solche Art der queren Disparation zweier Netzh\u00e4uteheisst eine ungekreuzte oder gleichseitige Disparation. Der Grund zu dieser Bezeichnung wird sogleich zu besprechen sein.\nIst der Faden (b Fig. 22) aus der Fl\u00e4che der \u00fcbrigen und also aus dem L\u00e4ngshoropter nach dem Gesichte hin verschoben worden und dabei vertical geblieben, so liegt jetzt sein Bild auf der rechten Netzhaut im Vergleiche zum linken Netzhautbilde zu weit nach rechts wie es Fig. 22 versinnlicht. Eine solche Art der queren Disparation zweier Netzhautbilder heisst eine gekreuzte oder ungleichseitige Disparation.\nJeder Faden, dessen Netzhautbilder eine ungekreuzte Disparation haben, erscheint also ferner, jeder Faden dessen Bilder gekreuzte Disparation haben, n\u00e4her als die im L\u00e4ngshoropter selbst gelegenen und deshalb correspondirend abgebildeten F\u00e4den, und zwar w\u00e4chst, wie man sich leicht bei dem Versuche \u00fcberzeugen kann, der scheinbare Abstand des Fadens von der scheinbaren Fl\u00e4che der \u00fcbrigen","page":396},{"file":"p0397.txt","language":"de","ocr_de":"Bedeutung der queren Disparation.\n397\nmit der Gr\u00f6sse der queren Disparation ihrer Netzhautbilder und also mit ihrem wirklichen Abstande von der Fl\u00e4che der \u00fcbrigen F\u00e4den.\nR\u00fcckt man den bez\u00fcglichen Faden zu weit aus der Ebene der \u00fcbrigen heraus, so dass die quere Disparation seiner Netzhautbilder ein gewisses Maass \u00fcberschreitet, so wird er bei fester Fixirung des Mittelfadens, die bei allen diesen Versuchen vorausgesetzt wurde, nicht mehr einfach vor oder hinter der Fl\u00e4che der \u00fcbrigen gesehen, sondern doppelt als zwei nebeneinander liegende F\u00e4den : statt eines wirklichen Dinges treten also zwei Sehdinge auf. Ein solches Doppelsehding, dem ein einfaches wirkliches Ding entspricht, heisst ein Doppelbild oder Doppeltrugbild. Jedes der beiden Trugbilder eines Doppelbildes wird auch als Halbbild (Helmholtz) bezeichnet.\nErscheint ein Faden deshalb doppelt, weil er zu weit jenseits der L\u00e4ngshoropterfl\u00e4che liegt, so verschwindet bei Schluss des rechten Auges das nach rechts liegende Trugbild oder Halbbild, bei Schluss des linken Auges das linke Trugbild, und das Doppelbild heisst deshalb ein gleichseitiges oder ungekreuztes; ist der Faden diesseits der L\u00e4ngshoropterfl\u00e4che gelegen, so verschwindet bei Schluss des rechten Auges das linke, bei Schluss des linken das rechte Trugbild und das Doppelbild heisst ein ungleichseitiges oder gekreuztes. Deshalb wurde auch oben die entsprechende Art der Disparation der Netzhautbilder analog bezeichnet.\nEs h\u00e4ngt von der Uebung im indirecten Sehen und im festen Fixiren ab, ob das Doppelsehen bei einem kleineren oder erst bei einem gr\u00f6sseren Werthe der queren Disparation zweier zusammengeh\u00f6riger Netzhautbilder beginnt; je gr\u00f6sser diese Uebung ist, bei desto kleinerer Disparation zeigen sich schon die Doppelbilder. Diese Doppelbilder werden noch besonders zu er\u00f6rtern sein; hier soll es sich nur um den scheinbaren Ort einfach erscheinender Objecte handeln.\nEin dem obigen ganz analoger Versuch l\u00e4sst sich nach der hap-loskopischen Methode anstellen. Auf der linken Scheibe des Hap-loskops befindet sich die linke H\u00e4lfte der Fig. 23, auf der rechten die rechte H\u00e4lfte. Die Linien f und f gehen jederseits durch den Fixationspunkt. Die Linienpaare aa', bb\\ cc' und d d' bilden sich dann jedes auf correspondirenden L\u00e4ngsschnitten ab, weil a von / ebensoweit absteht wie a' von,/', b von f soweit wie b\u2019 von /' u. s. f. Nicht dasselbe gilt von den Linienpaaren m m! und nnr. Das Bild von 77i liegt auf der linken Netzhaut dem mittlen L\u00e4ngsschnitte n\u00e4her als das Bild von m' auf der rechten Netzhaut, im Vergleich mit letzterem also zuweit nach rechts und die beiden Bilder haben daher,","page":397},{"file":"p0398.txt","language":"de","ocr_de":"398 Hering, Physiol. Optik IY. 6. Cap. Das Sehen mit disparaten Stellen.\ninsofern man sie als die zusammengeh\u00f6rigen Bilder einer einfachen Aussenlinie betrachten kann, eine gekreuzte Disparation. Die Bilder von n und n' dagegen haben ungekreuzte Disparation. Die beiden\nFig.\n23.\nLiniensysteme stellen also die Projectionen von sieben verticalen F\u00e4den dar, von welchen f\u00fcnf, n\u00e4mlich der mittle und jederseits die beiden \u00e4ussersten in der Fl\u00e4che des L\u00e4ngshoropters liegen, der dritte von links dagegen vor, der f\u00fcnfte hinter dieser Ebene. Dem entsprechend ist nun auch das Anschauungsbild, welches die beiden Systeme bei haploskopischer Vereinigung erzeugen. Man sieht die erstgenannten f\u00fcnf F\u00e4den1 in einer Ebene oder wenigstens in einer der Ebene sehr nahe kommenden, sehr schwach gekr\u00fcmmten, nach dem Gesichte concaven Cylinderfl\u00e4che (s. u.), den dritten vor, den f\u00fcnften hinter derselben.\nAuf die Anfertigung solcher Doppelzeichnungen wie Fig. 23 muss grosse Sorgfalt verwendet werden. Diejenigen Theile der beiden Zeichnungen, welche sich correspondirend abbilden sollen, m\u00fcssen sich, wenn man die Linien \u00fcber einander gelegt denkt, genau decken. Deshalb ist es am besten, diesen Tlieil der Zeichnungen auf mechanischem Wege zu vervielf\u00e4ltigen und das Uebrige hineinzuzeichnen.\nWenn eine Linie ohne sichtbares Ende sich auf correspondiren-den L\u00e4ngsschnitten abbildet, weil sie im L\u00e4ngshoropter liegt, so bildet sich doch nicht auch ein einzelner Punkt der Linie auf Deckstellen ab, vielmehr haben die Netzhautbilder jedes einzelnen Punktes eine sogenannte verticale oder L\u00e4ngsdisparation mit Ausnahme des fixirten und derjenigen Punkte, welche im Punkthoropter liegen. Diese Disparation kommt aber hier nicht in Betracht, weil die Linienbilder im Ganzen auf Deckstellen liegen, obwohl sie sich nicht mit entsprechenden Punkten decken. Je zwei Deckpunktpaare empfangen also gleiche Bilder, und wenn dieselben auch von zwei ver-\n1 Falls sie ganz genau gezeichnet sind, was in Fig. 23 nicht der Fall ist.","page":398},{"file":"p0399.txt","language":"de","ocr_de":"Punktsystem im L\u00e4ngshoropter.\n399\nschiedenen Punkten der Aussenlinie herr\u00fchren, so ist doch das Doppelnetzhautbild, auf das es allein ankommt, genau ebenso beschaffen, als wenn die Bilder von einem und demselben Aussenpunkte stammten.\nAnders verh\u00e4lt es sich, wenn wir statt des Liniensystems ein isolirtes Punktsystem in den L\u00e4ngshoropter bringen. Hier bildet sich jeder Punkt, der nicht zugleich im Querhoropter und also im Punkthoropter liegt, zwar auf correspo'ndirenden L\u00e4ngsschnitten, nicht aber auf correspondirenden Punkten derselben ab, und seine Bilder haben also eine L\u00e4ngsdisparation.\nUm also zugleich diese L\u00e4ngsdisparation zur Geltung kommen zu lassen, kann man kleine Perlen von verschiedener Gr\u00f6sse auf Co-conf\u00e4den reihen, und sie in unregelm\u00e4ssigen Abst\u00e4nden von etwa V2 bis 2 Ctm. mittels einer Gummil\u00f6sung an den F\u00e4den befestigen. Mit diesen F\u00e4den wiederhole man den eben beschriebenen Versuch und w\u00e4hle die Beleuchtung und den Hintergrund so, dass man zwar die Perlen deutlich, die feinen Coconf\u00e4den aber gar nicht sieht. Wieder wird man die F\u00e4den, wenn sie sich in einer Ebene befinden, auch in einer Ebene oder vielleicht in einer sehr schwach, aber in regelm\u00e4ssiger und symmetrischer Weise gekr\u00fcmmten Cylinderfl\u00e4che (s. u.) sehen. Waren die F\u00e4den nicht alle in derselben Ebene, und stellt man sich die Aufgabe, sie in einer solchen anzuordnen, so wird man sie wirklich wieder in eine Ebene oder vielleicht in eine sehr schwach, aber im entgegengesetzten Sinne gekr\u00fcmmte Cylinderfl\u00e4che bringen.\nJede der jetzt gleichsam frei in der Luft schwebenden Perlen bildet sich, da die F\u00e4den ziemlich genau im L\u00e4ngshoropter liegen, auf correspondirenden L\u00e4ngsschnitten, nicht aber, mit Ausnahme der fixirten Perle und der sonst noch zuf\u00e4llig im Punkthoropter liegenden, auf correspondirenden Querschnitten ab. Ihre Bilder haben daher zwar L\u00e4ngsdisparation, nicht aber quere Disparation. Doch erscheinen uns alle Perlen, sowohl die im Punkthoropter liegenden und daher auf Deckpunkten abgebildeten, als die \u00fcbrigen, deren Bilder sich auf disparaten Punkten correspondirender L\u00e4ngsschnitte befinden, in derselben ebenen oder \u00e4usserst schwach cylindrisch gekr\u00fcmmten Fl\u00e4che. Lassen wir einen Faden verschieben, so sehen wir auch hier sofort alle auf ihm befestigten Perlen aus der Fl\u00e4che der \u00fcbrigen im entsprechenden Sinne heraustreten. Auch dieser Versuch l\u00e4sst sich mittels projectivischer Zeichnungen eines Punktsystems nach der haploskopischen Methode wiederholen.\nMan spanne sehr feine Dr\u00e4hte von gleicher St\u00e4rke parallel \u00fcber einen grossen Rahmen so, dass nur drei in einer Ebene, die \u00fcbrigen","page":399},{"file":"p0400.txt","language":"de","ocr_de":"400 * Hering, Physiol. Optik IV. 6. Cap. Das Sehen mit disparaten Stellen.\ntkeils vor, theils hinter dieser Ebene liegen; einer der eben genannten drei Dr\u00e4hte gehe durch den Mittelpunkt der Fl\u00e4che des Rahmens und habe in diesem Mittelpunkt eine Marke. Diesen Rahmen stellt man senkrecht zur Medianlinie so, dass die F\u00e4den horizontal liegen. L\u00e4sst man nun Jemanden, der die Anordnung der Dr\u00e4hte nicht kennt, fest die Marke des Mitteldrahtes fixiren aus etwa 1 Mtr. Entfernung durch eine kurze R\u00f6hre, welche beiden Augen den Rahmen ganz verdeckt, so ist derselbe nicht im Stande, die Anordnung der Dr\u00e4hte zu erkennen und immer geneigt, sie s\u00e4mmtlich in einer Ebene zu sehen.\nHierbei bildet sich, falls die mittlen L\u00e4ngsschnitte senkrecht zur Blickebene sind und die Ebene der Dr\u00e4hte parallel der Frontalebene liegt, entweder nur der in der Blickebene liegende, oder wenn die oben beschriebene Incongruenz der Netzh\u00e4ute vorhanden ist, gar kein Draht auf correspondirenden Netzhautlinien ab. Denken wir uns beide Netzh\u00e4ute sammt den Bildern der Dr\u00e4hte so ineinander gelegt, dass die mittlen Querschnitte und die Netzhautcentren zusammenfallen , so kreuzen sich je zwei zusammengeh\u00f6rige Drahtbilder unter einem sehr spitzen Winkel, wie es Fig. 24 darstellt, in welcher q q\ndie zusammengelegten queren Mittelschnitte, die schr\u00e4gen unterbrochenen Linien zwei Drahtbilder im linken, die schr\u00e4gen ausgezogenen Linien zwei Drahtbilder im rechten Auge schematisch darstellen. Diese Drahtbilder haben also keine quere Disparation und erhalten sie auch dann nicht, wenn man nicht fest fixirt, sondern die Convergenz der Gesichtslinien etwas mehrt oder mindert. Dieser Versuch ist seinem wesentlichen Inhalte nach von H. Meyer1 angegeben worden.\nAus allen diesen Versuchen und ihren zahlreichen Modificationen folgt erstens, dass, wenn keine anderweitigen Motive f\u00fcr die Lokali-sirung nach der Dimension der Tiefe wirksam sind, bei einer gegebenen Lage des Blickpunktes alle im L\u00e4ngshoropter gelegenen und daher auf correspondirenden L\u00e4ngsschnitten abgebildeten Linien oder Punkte mit grosser Bestimmtheit in einer Fl\u00e4che erscheinen, welche entweder eine Ebene oder eine sehr schwach gekr\u00fcmmte Cylinder-fl\u00e4che ist, und dass zweitens alle diesseits der L\u00e4ngshoropterfl\u00e4che gelegenen Punkte oder Linien, deren Netzhautbilder eine gekreuzte\n1 H. Meyer, Arch. f. Ophthalmologie II. 2. Abth. S. 92. 1856.","page":400},{"file":"p0401.txt","language":"de","ocr_de":"Kernfl\u00e4che des Sehraums.\n401\nquere Disparation haben, vor jener Fl\u00e4che erscheinen, alles jenseits des L\u00e4ngshoropters Gelegene und deshalb mit ungekreuzter Dispaparation Abgebildete aber hinter jener Fl\u00e4che erscheint, in der das im L\u00e4ngshoropter selbst Gelegene gesehen wird.\nLetztere Fl\u00e4che nun heisse die Kernfl\u00e4che des Sehraums. In ihr erscheint Alles, was sich correspondirend oder nur mit L\u00e4ngsdisparation abbildet; sie scheidet im Sehraume das mit gekreuzter Disparation Gesehene von dem mit ungekreuzter Disparation Gesehenen. Je gr\u00f6sser die quere Disparation eines Doppelnetzhautbildes, desto weiter erscheint das entsprechende Sehding hinter oder vor dieser Kernfl\u00e4che. Auch l\u00e4sst sich durch zweckm\u00e4ssige Modification der obigen Versuche leicht zeigen, dass alle Punkte oder Linien, deren Netzhautbilder eine gleich grosse gekreuzte Disparation haben, gleichweit von der Kernfl\u00e4che nach vorn abliegend und daher in einer der Kernfl\u00e4che 'parallelen Fl\u00e4che erscheinen, und dass mutatis mutandis dasselbe von allen mit gleich grosser ungekreuzter Disparation abgebildeten Punkten oder Linien gilt.\nNach der Ansicht Hering\u2019s 1 ist die Kernfl\u00e4che immer eine Ebene, sofern nicht anderweite Motive f\u00fcr die Localisirung nach der Dimension der Tiefe ins Spiel kommen. Er betrachtete bei \u00e4hnlicher Anordnung, wie die oben geschilderte, ein ebenes System sehr feiner F\u00e4den aus gr\u00f6sserer N\u00e4he und sah bei fester Fixirung des Mittelfadens die F\u00e4den in einer nach dem Gesichte deutlich convexen verticalen Cylinderfl\u00e4che. Um die F\u00e4den bei Fixirung des Mittelfadens in einer Ebene zu sehen, musste er sie in einer nach dem Gesichte concaven Cylinderfl\u00e4che anordnen. Die Kr\u00fcmmung jener convexen, wie dieser concaven Cylinderfl\u00e4che musste um so st\u00e4rker sein, je n\u00e4her der Blickpunkt dem Gesichte lag. Verglich er die Kr\u00fcmmung der Cylinderfl\u00e4che, in welcher die F\u00e4den liegen mussten, um in einer Ebene zu erscheinen, mit der Kr\u00fcmmung des, der gegebenen Convergenzstellung entsprechenden schematischen L\u00e4ngshoropters, so ergab sich, dass die Cylinderfl\u00e4che des letzteren st\u00e4rker gekr\u00fcmmt war, als die Cylinderfl\u00e4che der F\u00e4den. Er vermuthete daher1 2, dass die correspondirenden L\u00e4ngsschnitte nicht genau in der Weise angeordnet sind, wie wir es oben angenommen haben, sondern dass die Breitenwerthe der L\u00e4ngsschnitte auf der \u00e4usseren Netzhauth\u00e4lfte rascher wachsen, als auf der inneren. Es w\u00fcrde dann z. B. die Richtungslinie eines auf der \u00e4usseren H\u00e4lfte des queren Mittelschnittes der linken Netzhaut gelegenen Punktes mit der Gesichtslinie einen etwas kleineren Winkel einschlies-sen, als die Richtungslinie des correspondirenden Punktes auf der inneren H\u00e4lfte der rechten Netzhaut. An die Stelle des M\u00fcLLER\u2019schen Horopterkreises w\u00fcrde eine andere Curve, f\u00fcr st\u00e4rkere Convergenzen wahrscheinlich eine Ellipse treten, welche ebenfalls durch den Blickpunkt und die bei-\n1\tHering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie V. 1864.\n2\tDie Gesetze der binocularen Tiefenwahrnehmung. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1865. S. 82 u. 161.\nHandbuch der Physiologie. Bd. III.\n26","page":401},{"file":"p0402.txt","language":"de","ocr_de":"402 Hering, Physiol. Optik IV. 6. Cap. Das Sehen mit disparaten Stellen.\nden mittlen Knotenpunkte ginge, und deren in der Medianebene liegender Durchmesser der kleinere w\u00e4re. Durch diese Curve m\u00fcssten also bei der erw\u00e4hnten Augenstellung die F\u00e4den senkrecht zur Blickebene hindurchgehen, um in einer Ebene zu erscheinen. F\u00e4den, die in einer wirklichen Ebene liegen, welche die elliptische Cylinderfl\u00e4che des L\u00e4ngshoropters im fixirten Mittelfaden tangirt, w\u00fcrden mit Ausnahme des letzteren hinter dem L\u00e4ngshoropter liegen und sich auf L\u00e4ngsschnitten von ungekreuzter Disparation abbilden, um so mehr, je weiter sie vom Mittelfaden nach rechts oder links abliegen ; daraus w\u00fcrde dann resultiren, dass die F\u00e4den in einer gegen das Gesicht convexen Fl\u00e4che erscheinen m\u00fcssten, wie es auch thats\u00e4chlich der Fall ist. Es w\u00fcrde sich ferner aus dieser Annahme ergeben, dass in einer gewissen Entfernung vom Auge, bei welcher nach der gew\u00f6hnlich angenommenen Anordnung der Deckpunkte der L\u00e4ngshoropter noch eine schwache nach dem Gesichte concave cylindrische Kr\u00fcmmung hat, derselbe bereits eine Ebene und in noch gr\u00f6sserer Entfernung eine nach dem Gesichte schwach convexe Cylinderfl\u00e4che (zweiten Grades) sein m\u00fcsste.\nZur Unterst\u00fctzung dieser Ansicht Hesse sich die oben (S. 362) schon erw\u00e4hnte Beobachtung Kundt\u2019s \u00fcber die Halbirung horizontaler Linien anf\u00fchren; ferner die Angabe Nagel\u2019s1 2, dass man bei haploskopischer Vereinigung zweier ganz gleicher ebener Systeme paralleler Verticallinien oder identischer ebener Druckschriften die Linien oder die Zeilen auf einer nach dem Gesichte concaven Fl\u00e4che zu sehen glaubt.\nW\u00e4re diese Hypothese richtig, so b\u00f6te sich jetzt auch ein einfaches Mittel, den L\u00e4ngshoropter empirisch mit einer viel gr\u00f6sseren Genauigkeit zu bestimmen, als es die weiter unten zu besprechende Methode mit H\u00fclfe der Doppelbilder gestattet.\nAber es steht dieser Hypothese eine andere von Helmholtz aufgestellte entgegen. Dieser meint, dass ein im cylindrischen L\u00e4ngshoropter gelegenes Fadensystem in seiner wirklichen Anordnung, d. h. in einer entsprechenden Cylinderfl\u00e4che erscheine, wenn nur Vorsorge getroffen sei, dass man das Fadensystem in der richtigen Entfernung localisire. Dies sei aber bei den beschriebenen Versuchen nicht der Fall, vielmehr untersch\u00e4tze man dabei den Convergenzgrad der Gesichtslinien und sehe daher die F\u00e4den zu fern. Nun kann aber ein entferntes cylindrisches System verticaler F\u00e4den von schw\u00e4cherer concaver Kr\u00fcmmung genau dieselben Netzhautbilder geben, wie ein n\u00e4heres und st\u00e4rker concav gekr\u00fcmmtes; ein entfernteres convexes System dieselben Bilder, wie ein n\u00e4heres ebenes; ein n\u00e4heres concaves System dieselben Bilder, wie ein entfernter liegendes ebenes System. Auf diese Weise w\u00fcrden sich die oben angef\u00fchrten T\u00e4uschungen \u00fcber die Form des Liniensystems vollst\u00e4ndig erkl\u00e4ren.\nDen Grund daf\u00fcr, dass wir die F\u00e4den in zu grosse Ferne verlegen > sucht Helmholtz in dem Mangel sichtbarer verticaler Distanzen. Er reihte\n1\tNagel, Das Sehen mit zwei Augen S. 58.\n2\tEine Ausnahme hiervon macht der angef\u00fchrte Versuch Nagel\u2019s, bei welchem das haploskopisch gesehene Liniensystem in der N\u00e4he erscheint, obwohl ein Fadensystem, welches bei parallelen Gesichtslinien dieselben Netzhautbilder giebt, sehr fern liegen m\u00fcsste. Dies entspricht jedoch ebenfalls der Ansicht von Helmholtz.","page":402},{"file":"p0403.txt","language":"de","ocr_de":"Symmetrische Querdisparation.\n403\ndeshalb Perlen auf die F\u00e4den. Ein entferntes ebenes System solcher F\u00e4den giebt jetzt nicht mehr dieselben Netzhautbilder, wie ein n\u00e4heres, concav-cylindrisches, weil zwar die F\u00e4den im Ganzen sich beidenfalls auf denselben Netzhautstellen abbilden und also die horizontalen scheinbaren Distanzen der F\u00e4den in beiden F\u00e4llen dieselben sein k\u00f6nnen, die Perlen eines n\u00e4heren cylindrischen Systems aber sich mit anderer L\u00e4ngsdisparation abbilden, als die eines ferneren ebenen Systems, und also die verti-calen scheinbaren Distanzen f\u00fcr beide Augen nicht in beiden F\u00e4llen dieselben sind. Aus diesen Verschiedenheiten der L\u00e4ngsdisparation der beiden Bilder erkennen wir nach Helmholtz, dass das System im einen Falle ein ebenes, im anderen ein cylindrisches ist. W\u00e4hrend also Hering annimmt, dass L\u00e4ngsdisparation zweier zusammengeh\u00f6riger Netzhautbilder ohne allen Einfluss auf die binoculare Tiefenwahrnehmung sei, bietet dieselbe nach Helmholtz eine Mith\u00fclfe zur richtigen Localisirung nach der Tiefe.1 2 Uebri-gens sind die Versuche von Helmholtz mit denen von Hering nicht streng vergleichbar, weil letzterer dieselben bei fester Fixirung angestellt hat, w\u00e4hrend Helmholtz den Blick von einem Faden zum andern wandern liess.\nGleichviel ob die eine oder die andere Ansicht richtig ist, die oben er\u00f6rterte Definition und Bedeutung der Kernfl\u00e4che bleibt dieselbe, nur w\u00fcrde dieselbe bei Ausschluss aller anderweitigen Motive der Localisirung nach Hering stets eine Ebene, nach Helmholtz eine Cylinderfl\u00e4che sein, deren Kr\u00fcmmungsradius mit der scheinbaren Ferne der Fl\u00e4che w\u00e4chst.\nBei symmetrischer Kopfhaltung befinde sich in der Medianebene des Kopfes und in mittler Sehweite ein senkrechter Faden oder Draht, welcher in der H\u00f6he der Augen sich mit einem horizontalen queren Faden oder Draht kreuzt und im Kreuzungspunkt mit letzterem verkn\u00fcpft ist. Dieser Kreuzungspunkt wird binocular fixirt und dabei Sorge getragen, dass die queren Mittelschnitte der Netzh\u00e4ute in der horizontalen Blickebene liegen.- Der Hintergrund sei ganz gleichfarbig, und eine kurze vor das Gesicht gehaltene R\u00f6hre verdecke das obere und untere Fadenende. L\u00e4sst man nun den Faden oder auch nur die obere oder untere Fadenh\u00e4lfte um den fixirten Punkt so drehen, dass sie immer in der Medianebene bleiben, so sieht man den Faden sich in der scheinbaren Medianebene vor- oder zur\u00fcckneigen bis zu einer gewissen Grenze seiner wirklichen Neigung, \u00fcber welche hinaus er in Doppelbilder zerf\u00e4llt. Der Faden tritt hierbei bald vor bald hinter die L\u00e4ngshoropterfl\u00e4che, und jeder Punkt desselben giebt also ersterenfalls Bilder von gekreuzter letzterenfalls von ungekreuzter querer Disparation. Das Bild eines beliebigen Fadenpunktes steht auf der einen Netzhaut ebensoweit vom mittlen L\u00e4ngsschnitt ab, als sein Bild auf der andern Netzhaut und zwar ist\n1\tUeber weitere Versuche, welche Helmholtz zur St\u00fctze seiner Ansicht beibringt, vergl. Physiol. Optik S. 656.\n2\tUeber die Contr\u00f4le dieser Netzhautlage vergl. das Capitel \u00fcber die Augenbewegungen.\n26*","page":403},{"file":"p0404.txt","language":"de","ocr_de":"404 Hering, Physiol. Optik IY. 6. Cap. Das Sehen mit disparaten Stellen.\ndie Richtung- des Abstandes beiderseits entgegengesetzt. Diese Art der queren Disparation, bei welcher die zusammengeh\u00f6rigen Bilder symmetrisch zu den beiden mittlen L\u00e4ngsschnitten der Netzh\u00e4ute liegen, heisse eine absolut symmetrische Querdisparation.\nDer Versuch lehrt also, dass alle Aussenpunkte, welche entweder ein correspondirendes auf den mittlen L\u00e4ngsschnitten liegendes oder ein zu diesen L\u00e4ngsschnitten symmetrisch disparates Doppelnetzhautbild geben, aber gleichwohl nicht als Doppelbilder gesehen werden, in einer Ebene erscheinen, welche unter den besonderen Bedingungen des obigen Versuches mit der scheinbaren Medianebene zusammenf\u00e4llt. Diese Ebene ist dieselbe, welche wir im vorigen Capitel als die mittle L\u00e4ngsebene des Sehraums bezeichneten. Wir sahen, dass dieselbe die Sehrichtungslinien aller auf den mittlen L\u00e4ngsschnitten der Netzh\u00e4ute liegenden Bilder enth\u00e4lt. Jetzt haben wir erfahren, dass zugleich auch die Sehrichtungslinien aller mit absolut symmetrischer Querdisparation abgebildeten und einfach gesehenen Aussenpunkte in dieser Ebene liegen. Dieser Satz l\u00e4sst sich ebenfalls mittels haploskopi-scher Versuche erweisen, wenn man entsprechend geneigte gerade Linien durch die beiderseitigen Fixationspunkte legt.\nMan fixire wieder unter denselben Bedingungen, wie beim letzten Versuche, einen verticalen Coconfaden, der in der H\u00f6he der Augen eine Perle tr\u00e4gt. Rechts und links sollen sich in nicht ganz gleicher Entfernung vom Gesichte noch einige verticale Coconfaden befinden, an welchen in derselben H\u00f6he je eine Perle befestigt ist, so dass s\u00e4mmtliche Perlen in der horizontalen Blickebene liegen. Man erkennt hierbei wie schon aus dem oben beschriebenen Versuche mit den F\u00e4den hervorgeht sofort, welche Perlen in einer der Frontalebene parallelen Horizontale liegen, welche n\u00e4her und welche ferner sind. Alle Perlen werden einfach gesehen, sofern nicht eine oder die andere allzuweit von der L\u00e4ngshoropterfl\u00e4che abliegt und deshalb ein Doppelbild giebt. Zugleich scheinen alle Perlen, die n\u00e4heren wie die ferneren in einer Ebene zu liegen, welche unter den gegebenen Bedingungen des.Versuchs mit der scheinbaren horizontalen Hauptebene zusammenf\u00e4llt. Die Perlen geben theils correspon-dirende, theils gekreuzte oder ungekreuzte Doppelnetzhautbilder. Es folgt also, dass alle Aussenpunkte, deren Doppelnetzhautbilder, seien sie correspondirende oder disparate, auf den mittlen Querschnitten liegen, in einer Ebene erscheinen, welche wir im vorigen Capitel als quere Mittelebene des Sehraums bezeichneten.","page":404},{"file":"p0405.txt","language":"de","ocr_de":"Symmetrische L\u00e4ngsdisparation.\n405\nEine horizontale Reihe von Perlen sei mittels yerticaler Cocon-f\u00e4den so angeordnet, dass s\u00e4mmtliche Perlen bei Fixirung der mitt-len im Horopterkreise liegen, was also wieder voraussetzt, dass die queren Mittelschnitte der Netzh\u00e4ute in der Blickebene liegen. Die \u00fcbrigen Versuchsbedingungen seien die gleichen wie beim vorigen Versuche. Jetzt neige man, w\u00e4hrend die mittle Perle fixirt wird, seinen Kopf nach vorn oder hinten. Dabei nehmen, wie im Capitel \u00fcber die Augenbewegungen gezeigt werden soll, die Augen eine derartige Stellung an, dass die queren Mittelschnitte der Netzh\u00e4ute nicht mehr in der Blickebene liegen, sondern einen kleinen Winkel mit der Blickebene einschliessen. Beim Vorneigen des Kopfes conver-giren sie etwas nach oben, wie es Fig. 25 schematisch darstellt. Es\nFig. 25.\nist bb und b'b' derjenige linke oder rechte Netzhautmeridian, in welchem die Blickebene die Netzhaut schneidet, mm und m!m! der quere Mittelschnitt jeder Netzhaut. Die Bilder der Perlen befinden sich s\u00e4mmtlich auf den Meridianen bb und b'die Bilder p, p' einer bestimmten Perle liegen gleichweit von den Netzhautcentren ab, auf correspondirenden L\u00e4ngsschnitten aber auf disparaten Stellen derselben, denn p liegt unterhalb, p' oberhalb des bez\u00fcglichen queren Mittelschnittes. Denken wir beide Netzh\u00e4ute so ineinander gelegt, dass die queren Mittelschnitte zusammenfallen, so stellen pp die so vereinigten Mittelschnitte, 7t und n* die beiden zusammengeh\u00f6rigen Bilder der Perle dar. Man sieht, dass beide Bilder gleich weit, aber entgegengesetzt von dem queren Mittelschnitte der Doppelnetzhaut abliegen, was man als absolut symmetrische L\u00e4ngsdisparation bezeichnen kann. Trotz dieser L\u00e4ngsdisparation ihrer Bilder erscheint die entsprechende Perle ebenso wie alle \u00fcbrigen in derselben Ebene wie vorhin, wo s\u00e4mmtliche Perlenbilder auf den queren Mittelschnitten waren, n\u00e4mlich in der queren Mittelebene des Sehraums, welche in diesem Falle mit der scheinbaren horizontalen Hauptebene zusammenf\u00e4llt.","page":405},{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"406 Hering. PhysioJ. Optik IV. 6. Cap. Das Sehen mit disparaten Stellen.\nWir k\u00f6nnen also die zuletzt ausgesprochene Regel dahin erweitern, dass alle Aussenpunkte, deren Bilder auf corre-spondirenden oder auf disparaten Stellen der inittlen Querschnitte liegen oder endlich eine absolut symmetrische Langsdisparation haben, in der queren Mittel-obene des Sehraums erscheinen.\nIm vorigen Capitel wurde gezeigt, dass diese Ebene alle Sehrichtungslinien derjenigen Deckstellenpaare enth\u00e4lt, welche den mitt-len Querschnitten der Netzh\u00e4ute angeh\u00f6ren. Die beiden letzten Versuche lehren, dass auch die Sehrichtungslinien disparater Stellenpaare der queren Mittelschnitte, sowie die Sehrichtungslinien absolut symmetrisch l\u00e4ngsdisparater Stellenpaare in dieser Ebene liegen, immer vorausgesetzt, dass die auf diesen Stellenpaaren liegenden Doppelnetzhautbilder im Sehraume einfach und nicht als Doppelbilder gesehen werden.\nAlles dies l\u00e4sst sich auch nach der haploskopischen Methode erweisen.\nDen auf Seite 403 bewiesenen Satz, dass einfach gesehene Aussenpunkte , deren Bilder symmetrisch zu den mittlen L\u00e4ngsschnitten liegen, in derselben Sehrichtungsebene erscheinen wie die auf den mittlen L\u00e4ngsschnitten selbst disparat oder correspondirend abgebildeten, hat Hering auch auf jedes andere correspondirende L\u00e4ngsschnittpaar \u00fcbertragen und behauptet, dass jeder Aussenpunkt dessen Netzhautbilder zu einem bestimmten correspondirenden L\u00e4ngsschnittpaare relativ symmetrisch liegen, so dass das eine Bild vom einen L\u00e4ngsschnitt soweit nach rechts (oder links) abliegt, als das andere Bild nach links (oder rechts) vom andern L\u00e4ngsschnitte, in derselben Ebene erscheinen, in welcher auch die auf dem bez\u00fcglichen L\u00e4ngsschnittpaare selbst abgebildeten Aussenpunkte gesehen werden. Analog hat er den auf Seite 405 bewiesenen Satz, dass Punkte, deren Netzhautbilder eine zum mittlen Querschnittpaar absolut symmetrische L\u00e4ngsdisparation haben, in derselben Sehrichtungsebene wie die auf den mittlen Querschnitten selbst (disparat oder correspondirend) abgebildeten Punkte erscheinen, auf alle \u00fcbrigen correspondirenden Querschnittpaare \u00fcbertragen.\nWenn die Netzhautbilder eines Aussenpunktes keine reine L\u00e4ngsdisparation oder reine Querdisparation haben, sondern schr\u00e4g disparat sind, so kann man sich die schr\u00e4ge Disparation in eine L\u00e4ngs- und eine quere Disparation zerlegt denken. Ein solcher Punkt erscheint nun nach Hering auf der Sehrichtungsebene desjenigen correspondirenden L\u00e4ngsschnittpaares, zu welchem die quere Componente seiner Disparation symmetrisch ist, und auf der Sehrichtungsebene desjenigen correspondirenden Querschnittpaares, zu welchem die L\u00e4ngscomponente seiner Disparation symmetrisch ist, d. h. also auf der Durchschnittslinie dieser beiden Sehrichtungsebenen.\nDiese S\u00e4tze wurden theils aus der Beobachtung an wirklichen Objecten, theils aus Versuchen nach der haploskopischen Methode abstrahirt.","page":406},{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"Br\u00fccke\u2019s Hypothese.\n407\nDie binoculare Tiefenwahrnehmung' auf Grund der Disparation zusammengeh\u00f6riger Netzhautbilder wurde seit der Erfindung des Stereoskops (vergl. Abschnitt II) vielfach nach der haploskopisclien Methode untersucht, am eingehendsten von Panum 1 und Nagel.1 2 3 Die oben angef\u00fchrten allgemeinen S\u00e4tze, welche sich ebenso aus den haploskopisclien Versuchen als aus den Versuchen an wirklich einfachen Aussenobjecten abstrahiren lassen, und welche nichts weiter als ein zusammenfassender Ausdruck f\u00fcr die grosse Mannichfaltigkeit der Thatsachen sind, hat zuerst Hering 3 aufgestellt. Ihre G\u00fcltigkeit ist ganz unabh\u00e4ngig von der Richtigkeit einer viel bestrittenen Hypothese, welche derselbe zur Erkl\u00e4rung jener S\u00e4tze gemacht hat.4\nNach der Identit\u00e4tslehre von Joh. M\u00fcller sollte nur das mit Deckstellen Gesehene einfach, alles mit disparaten Stellen Gesehene dagegen doppelt erscheinen. Durch die stereoskopischen Versuche Wheatstone\u2019s aber schien bewiesen zu sein, dass auch mit disparaten Stellen einfach gesehen werden k\u00f6nne. Um gleichwohl das Ergebniss dieser Versuche mit der M\u00fcLLER\u2019schen Identit\u00e4tslehre in Einklang zu bringen, stellte Br\u00fccke5 die Hypothese auf, dass dieses Einfachsehen mit disparaten Stellen nur ein scheinbares sei; dass vielmehr durch Hin- und Herwandern des Blickes unter fortw\u00e4hrender Aenderung der Convergenz die Netzhautbilder der einzelnen Theile des k\u00f6rperlichen Objectes oder seiner beiden Projectionen nacheinander auf Deckstellen gebracht w\u00fcrden, und aus der so entstehenden Reihe successiver correspondirender Eindr\u00fccke, welche der jeweiligen Convergenz entsprechend in verschiedener Entfernung localisirt w\u00fcrden, das Anschauungsbild des nach der Dimension der Tiefe ausgedehnten Objectes sich auf baue. Hiernach w\u00fcrde die zum successiven Einfachsehen der einzelnen Punkte n\u00f6thige Aenderung der Convergenz eine Bedingung der binocularen Tiefenwahrnehmung sein.\nInwieweit eine solche Wanderung des Blickpunktes bei der binocularen Tiefenwahrnehmung in Betracht kommt, wird im zweiten Abschnitt zu er\u00f6rtern sein. Dass aber die letztere auch ohne Blickbewegung m\u00f6glich ist, wurde auf verschiedene Weise schlagend erwiesen. Dove6 zeigte, dass die stereoskopische Verschmelzung zweier incongruenter projectivischer Doppelzeichnungen auch bei der Beleuchtung durch den electrischen Funken eintreten kann, dessen Dauer viel zu kurz ist, um die nach Br\u00fccke n\u00f6thigen Augenbewegungen\n1\tPanum, Physiol. Untersuchungen \u00fcber das Sehen mit zwei Augen. Kiel 1858.\n2\tNagel, Das Sehen mit zwei Augen. Leipzig u. Heidelberg 1861.\n3\tHering , Die Gesetze der binocularen Tiefenwahrnehmung. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1865. S. 79 u. 152.\n4\tDerselbe, Beitr\u00e4ge zur Physiologie V.\n5\tBr\u00fccke, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1841. S. 459.\n6\tDove, Monatsber. d. Berliner Acad. 1841. S. 252 und Farbenlehre S. 153.1853.","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"408 Hering, Physiol. Optik IY. 6. Cap. Das Sehen mit disparaten Stellen.\nausf\u00fchren zu k\u00f6nnen. Aubert1 und nach ihm Helmholtz2 verbesserten diesen Versuch dadurch, dass sie in den beiden zu verschmelzenden Zeichnungen an entsprechenden Stellen je ein kleines Loch anbrachten, welches von hinten beleuchtet wurde und dem gegen\u00fcber liegenden Auge als Fixationspunkt diente, w\u00e4hrend die Zeichnungen selbst noch verdunkelt waren. Dadurch wurde verh\u00fctet, dass nicht die Gesichtslinien im Momente der Beleuchtung eine unpassende Con-vergenz hatten. Aubert benutzte hierbei auch einen in der Medianebene liegenden Faden, der zur Horizontal ebene in einer dem Beobachter unbekannten Weise geneigt war; dabei wurde die Lage des Fadens stets richtig erkannt.\nHogers3 erzeugte sich erst das Nachbild einer von zwei zusammengeh\u00f6rigen projectivischen Zeichnungen im einen Auge, dann das der andern im andern Auge und sah die beiden Nachbilder stereoskopisch verschmelzen. Hering4 blickte mit beiden Augen durch eine kurze cylindrische R\u00f6hre nach einer ungef\u00e4hr in mittler Sehweite befindlichen verticalen Nadel, w\u00e4hrend ein Geh\u00fclfe Kugeln von verschiedener Gr\u00f6sse rechts oder links von der Nadel und bald n\u00e4her bald ferner als dieselbe aus verschiedener H\u00f6he herabfallen liess; er vermochte ebenso wie viele andere Personen stets mit Sicherheit anzugeben, ob die Fallbahn der Kugel n\u00e4her oder ferner oder gleichfern war wie die Nadel. Er empfahl, diesen einfachen Versuch zu ben\u00fctzen, um festzustellen, ob die Versuchsperson binocular sieht oder nicht, van der Meulen5 wiederholte diese Versuche und construite zur bequemeren Vornahme derselben einen Apparat. Don-ders6 ben\u00fctzte electrische Funken als Objecte der Tiefenwahrnehmung, nicht blos wie Dove zur Beleuchtung, indem er an bestimmter Stelle des sonst dunklen Raumes fortw\u00e4hrend schwache Inductions-funken \u00fcberspringen liess, welche einen scheinbar continuirlich leuchtenden Fixationspunkt bildeten, und ferner oder n\u00e4her dem Gesichte des Beobachters an verschiedenen Stellen einen anderen einfachen Funken erzeugte. Dabei wusste fast Jeder sofort anzugeben, ob dieser Funken n\u00e4her oder ferner lag als der Fixationspunkt. Die Meisten wussten auch die Entfernung ziemlich genau zu bestimmen.\nJon. M\u00fcller glaubte, dass Deckstellen in Betreff ihrer Raumwerthe identisch seien, wonach es f\u00fcr die r\u00e4umliche Wahrnehmung ganz gleich-\n1\tAubert, Physiologie der Netzhaut S. 315. 1865.\n2\tHelmholtz, Physiol. Optik S. 740.\n3\tRogers, Silliman\u2019s Journal 2. XXX. Nov. 1860 (citirt nach Helmholtz).\n4\tHering, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1865. S. 153.\n5\tvan der Meulen, Arch. f. Ophthalmologie XIX. 1. Abth. S. 113. 1873.\n6\tDonders, ebenda XIII. 1. Abth. S. 1. 1867.","page":408},{"file":"p0409.txt","language":"de","ocr_de":"Hypothese der Projection nach den Richtungslinien.\n409\ng\u00fcltig sein m\u00fcsste, ob ein Bild auf der rechten Netzhaut oder auf corre-spondirenden Stellen der linken Netzhaut liegt. Dem widersprechen die in diesem Capitel beschriebenen Thatsachen. Wird z. B. der Punkt f Fig. 26 fixirt, so bildet sich p mit gleichseitiger Disparation auf den Netz-\nFig. 26.\nhautstellen r und /, der Punkt p' dagegen mit gleich grosser ungleichseitiger Disparation in r\u2019 und V ab. Nun ist aber V correspondirend mit /, r' correspondirend mit r. W\u00e4ren also / und sowie r und r' f\u00fcr die r\u00e4umliche Wahrnehmung ganz gleichwertig, so m\u00fcsste auch die Lo-calisirung der Punkte p und p' im Sehraume dieselbe sein, was nicht der Fall ist: p wird vielmehr ferner, p' n\u00e4her gesehen als der Blickpunkt f. Diesen Widerspruch suchten die Einen dadurch zu beseitigen, dass sie die Correspondenz der Netzh\u00e4ute \u00fcberhaupt bestritten und behaupteten, die Netzhautbilder w\u00fcrden in der Richtung ihrer zugeh\u00f6rigen Richtungslinien gesehen, und zwei zusammengeh\u00f6rige Bilder im Durchschnittspunkte ihrer Richtungslinien localisirt, was, wie die bisher angef\u00fchrten Thatsachen zur Gen\u00fcge lehren, ganz unzul\u00e4ssig ist; Andere erkannten zwar die Correspondenz an, behaupteten aber gleichwohl, die Netzhautbilder w\u00fcrden auf den Richtungslinien (oder Visirlinien) gesehen, sodass je zweien Deckstellen zwei ganz verschiedene Sehrichtungen zukommen sollten. Man nannte die Richtungslinien deshalb auch Projec-tionslinien , weil auf ihnen die Netzhautbilder gleichsam in den Aussen-raum projicirt werden sollten. \u201eDer scheinbare Ort eines durch zwei zusammengeh\u00f6rige Componenten entstandenen Sammelbildes wird, sagte Pan\u00fcm l, durch die Kreuzungspunkte der den Componenten entsprechenden Projectionslinien bestimmt\u201c. Diese Ortbestimmung ist nach seiner Ansicht ein unmittelbarer Empfindungsact, den er als die Empfindung der binocularen Parallaxe bezeichnete.\n1 Panum, Physiol. Untersuchungen \u00fcber das Sehen mit zwei Augen S. 81. Kiel\n1858.","page":409},{"file":"p0410.txt","language":"de","ocr_de":"410 Hering, Physiol. Optik IV. 6. Cap. Das Sehen mit disparaten Stellen.\nDem gegen\u00fcber bewies Hering 1 ausf\u00fchrlich, dass erstens, wenn man die Correspondenz der Netzh\u00e4ute anerkennt, man logischer Weise nicht die Richtungslinien als Sehrichtungen ansehen darf- zweitens, dass die Richtungslinien \u00fcberhaupt nicht die Sehrichtungen sind. Er zeigte, dass je zwei correspondirenden Stellen zwar wirklich ein identischer H\u00f6hen -und Breitenwerth zukomme, wie dies Joh. M\u00fcller annahm, dass man aber dessen Lehre von der v\u00f6lligen r\u00e4umlichen Gleichwerthigkeit der Deckstellen aufgeben m\u00fcsse, weil dieselben betreffs der Tiefen Wahrnehmung nicht gleichwerthig sind, was er aus angeborenen Verschiedenheiten der von zwei Deckstellen ausgel\u00f6sten Empfindungen zu erkl\u00e4ren versucht.'1 2 3 4 Auch Helmholtz 1 vertritt die Identit\u00e4t des Breiten- und H\u00f6henwerthes zweier Deckstellen und nimmt ebenfalls an, dass angeborene Verschiedenheiten der Empfindungen zweier Deckstellen die Tiefenwahrnehmung erm\u00f6glichen. Aber w\u00e4hrend Hering diese angeborenen Verschiedenheiten darin sucht, dass die von Deckstellen ausgel\u00f6sten Empfindungen ange-borenermaassen einen verschiedenen r\u00e4umlichen Charakter (einen verschiedenen \u201e Tiefenwerth \u201c) haben, meint Helmholtz, dass die von der rechten Netzhaut ausgel\u00f6sten Empfindungen s\u00e4mmtlich durch ein unbekanntes Qu\u00e4le von den Empfindungen der linken Netzhaut verschieden seien, ein Quale, welches ebenso wie die reine Empfindung \u00fcberhaupt keinen r\u00e4umlichen Charakter habe, sondern nur mit dazu benutzt werde, aus der Empfindung die entsprechende r\u00e4umliche Vorstellung oder Wahrnehmung gestalten zu lernen.\nEndlich ist noch einer neuen Hypothese von Sch\u00f6n 4 zu gedenken. Derselbe nimmt mit Hering an, dass die Gesichtsempfindungen von vornherein, also angeb\u00f6renermaassen r\u00e4umliche sind. Betreffs der Correspondenz der Netzh\u00e4ute aber geht er wieder auf Joh. M\u00fcller zur\u00fcck und glaubt, dass die von identischen Punkten stammenden Empfindungen r\u00e4umlich gleichwerthig sind.\nUm nun gleichwohl die binoculare Tiefenwahrnehmung erkl\u00e4ren zu k\u00f6nnen, bem\u00fcht er sich qualitative Verschiedenheiten der in r\u00e4umlicher Beziehung als identisch angenommenen Empfindungen zweier Deckstellen aufzufinden, welche Verschiedenheiten als Anhaltpunkt f\u00fcr die richtige r\u00e4umliche Auslegung dienen sollen. Diese Verschiedenheiten zweier von Deckstellen kommenden Empfindungen beruhen nach s\u00f6iner Ansicht in der Hauptsache theils darauf, dass die eine Deckstelle erregbarer ist als die andere (\u201eErregbarkeitsmerkmal\u201c), theils darauf, dass beide im Wettstreit der Sehfelder nicht gleichwerthig sind (\u201eWettstreitmerkmal\u201c).\n* Schliesslich m\u00f6ge noch an die bekannte Thatsache erinnert werden, dass bei gewissen Thieren ein angeborenes und bereits weit entwickeltes Verm\u00f6gen zur Tiefenwahrnehmung vorkommt, wie Jeder weiss, der z. B. frisch ausgeschl\u00fcpfte H\u00fchnchen beobachtet hat. Dadurch sind die theoretischen Bedenken, welche die Philosophie gegen die M\u00f6glichkeit und Denk-barkeit angeborener Tiefenwahrnehmung vorgebracht hat, thats\u00e4chlich be-\n1\tHering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie II. 1862.\n2\tDerselbe, ebenda V. 1864 und Arch. f. Anat. u. Physiol. 1865. S. 95.\n3\tHelmholtz, Physiol. Optik \u00a7 31.\n4\tSch\u00f6n, Arch. f. 'Ophthalmologie XXII. 4. Abth. S. 31 und XXIV. 1. Abth. S. 27 und 4. Abth. S. 47.","page":410},{"file":"p0411.txt","language":"de","ocr_de":"Richtigkeit der Localisirung.\n411\nhoben, und es steht nichts der Annahme entgegen, dass auch die Gesichtsempfindungen des neugeborenen Menschen schon r\u00e4umliche Eigenschaften haben, welche sich auf alle drei Dimensionen des Raumes erstrecken, wenngleich das Verm\u00f6gen der klar bewussten Unterscheidung dieser r\u00e4umlichen Eigenschaften der Empfindungen sich beim Menschen erst nach der Geburt ausbildet, w\u00e4hrend das gleichsam fr\u00fchreif geborene H\u00fchnchen sofort ziemlich scharfe r\u00e4umliche Unterscheidungen nach allen drei Dimensionen des Raumes macht.\nSIEBENTES CAPITEL.\nDie Richtigkeit der Localisirung im Sehranme.\nWir haben uns im Obigen nur damit besch\u00e4ftigt zu untersuchen, nach welchen Gesetzen bei unbewegtem Blickpunkt auf Grund des gegebenen Doppelnetzhaubildes der Sehraum sich aufbaut. Wir lernten den Kernpunkt des Sehraumes als den scheinbaren Ort des bin-ocularen fixirten wirklichen Punktes kennen. Wir fanden ferner zwei ausgezeichnete Ebenen des Sehraums, n\u00e4mlich die mittle L\u00e4ngsebene und die mittle Querebene, welche die scheinbaren Orte aller der Punkte oder Linien enthielten, die sich auf dem mittlen L\u00e4ngsschnittpaar und dem mittlen Querschnittpaar der Doppelnetzhaut oder mit symmetrischer Disparation zu diesen Schnittpaaren abbilden. Jene beiden Ebenen des Sehraums schienen stets einen rechten Winkel einzuschliessen, obwohl der mittle L\u00e4ngsschnitt der Netzhaut in den meisten Augen nicht rechtwinkelig zum mittlen Querschnitte liegt.\nWir lernten ferner ein System von geraden Linien im Sehraume kennen, n\u00e4mlich das der ^ehrichtungslinien und sahen, dass jedem Deckstellenpaare eine dieser Linien zugeh\u00f6rt, derart, dass Alles was sich auf diesem Deckstellenpaar (oder auch mit relativ symmetrischer Disparation zu diesem Stellenpaar) abbildet auf jener Linie erscheint. Die Anordnung dieser Sehrichtungslinien im Sehraume fanden wir in gesetzm\u00e4ssiger Weise abh\u00e4ngig von der Anordnung der Deckstellen auf der Doppelnetzhaut.\nEndlich fanden wir noch eine dritte durch den Kernpunkt gehende ausgezeichnete Fl\u00e4che im Sehraume, die Kernfl\u00e4che, als den gemeinsamen scheinbaren Ort aller Aussenpunkte, welche sich correspon-dirend oder nur mit L\u00e4ngsdisparation, und aller unbegrenzt gesehenen Linien, die sich auf correspondirenden Netzhautlinien oder we-","page":411},{"file":"p0412.txt","language":"de","ocr_de":"412 Hering, Physiol. Optik IV. 7. Cap. Die Richtigkeit d. Localisirung im Sehraume.\nnigstens ohne jede quere Disparation abbilden. Diese Fl\u00e4che erwies sich uns, wenn anderweite aus der Erfahrung entnommene Motive der Localisation fehlten, als eine Fl\u00e4che von sehr einfacher und ganz gesetzm\u00e4ssiger Form, n\u00e4mlich als eine symmetrisch zur mittlen L\u00e4ngsebene gelegene Ebene (Hering), beziehentlich Cylinderfl\u00e4che (Helmholtz).\nEs zeigte sich also bei einer gegebenen Lage des Blickpunktes die Anordnung der Sehdinge im Sehraume lediglich abh\u00e4ngig von der Gestalt und Lage der Bilder auf der Doppelnetzhaut. Der Sehraum stellte sich uns dar als ein in sich zusammenh\u00e4ngender Complex r\u00e4umlich geordneter Gesichtsempfindungen. Der feste r\u00e4umliche Zusammenhang aller Theile desselben war gegeben einerseits durch das System der Sehrichtungslinien, insofern der Empfindung jedes Deckstellenpaares die gerade Linie vorgeschrieben war, auf der sie im Sehraume erscheinen musste, andererseits durch die Kernfl\u00e4che, indem durch dieselbe jedem zusammengeh\u00f6rigen Bildpaare sein Ort entweder in dieser Fl\u00e4che selbst oder, je nach Art und Gr\u00f6sse der queren Disparation, mehr oder weniger vor oder hinter dieser Fl\u00e4che angewiesen war.\nWir haben uns nun aber zu fragen, inwieweit die so auf Grund der Form und Lage der Netzhautbilder gegebene Anordnung der Sehdinge im Sehraume der wirklichen Lage der Dinge im Aussen-raume entspricht, und in wieweit die Localisirung, deren Gesetze wir kennen gelernt haben, auch eine richtige ist; ferner, in wieweit, wenn die Localisirung auf Grund dieser Gesetze unrichtig ist, Abweichungen von denselben Vorkommen k\u00f6nnen, weil anderweite aus der Erfahrung stammende Motive der Localisirung eine Correctur bewirken. Bei alledem wollen wir immer noch eine feste Lage des Blickpunktes und im Allgemeinen auch eine horizontal symmetrische Convergenz der Gesichtslinien annehmen jmd von den Bewegungen des Blickpunktes ganz absehen.\nZur vollkommen richtigen Localisirung w\u00fcrde geh\u00f6ren, dass sich s\u00e4mmtliche Sehdinge mit den entsprechenden wirklichen Dingen decken. Dazu ist erstens n\u00f6thig, dass der Kernpunkt in Beziehung zum Vorstellungsbilde unseres K\u00f6rpers, welches wir als richtig und den wirklichen K\u00f6rper deckend annehmen wollen, dieselbe Lage hat, wie der Blickpunkt zum wirklichen K\u00f6rper; dass die mittle L\u00e4ngsebene und die mittle Querebene des Sehraumes zusammenfallen mit der Medianebene und der horizontalen Hauptebene des wirklichen Raumes; dass die Kernfl\u00e4che zusammenf\u00e4llt mit dem Orte der Aussen-punkte und -linien, welche in ihr erscheinen. Zweitens aber ist","page":412},{"file":"p0413.txt","language":"de","ocr_de":"Localisirung des Kernpunktes.\n413\ndazu erforderlich, dass jeder Punkt im Sehraume zu den genannten drei Cardinalfl\u00e4chen dieselbe Lage hat, wie der entsprechende wirkliche Punkt zu den entsprechenden Fl\u00e4chen des wirklichen Raumes. Die Sehdinge k\u00f6nnten im Sehraume in Beziehung zu einander ebenso geordnet sein wie die wirklichen Dinge unter sich im wirklichen Raume, aber der Sehraum k\u00f6nnte als Ganzes falsch localisirt werden.\nAndererseits k\u00f6nnten bei symmetrischer Convergenz der Gesichtslinie zwar die drei Hauptfl\u00e4chen des Sehraumes mit den entsprechenden Fl\u00e4chen des wirklichen Raumes zusammenfallen, aber das Lage-verh\u00e4ltniss der Sehdinge in diesen oder zu diesen drei Hauptfl\u00e4chen des Sehraumes k\u00f6nnte ein anderes sein, als das der Dinge im wirklichen Raume. Wir haben schon F\u00e4lle kennen gelernt, in welchen die eine oder die andere der eben genannten Forderungen nicht erf\u00fcllt war, und wir wollen jetzt diese Forderungen im Einzelnen er\u00f6rtern, um in sehen, in wieweit ihre Erf\u00fcllung thats\u00e4chlich erreicht wird.\nI. Die Localisirung des Kernpunktes.\nWenn im sonst, dunklen oder leeren Raume in der Medianebene des Aussenraumes ein einzelner Punkt sichtbar wird, so localisiren wir denselben ziemlich bestimmt und, falls er. in der N\u00e4he ist, auch ziemlich richtig, selbst wenn keinerlei Vorwissen uns dabei unterst\u00fctzt.\nWir haben, wie in der Einleitung auseinander gesetzt wurde, zwischen der Bestimmtheit und der Richtigkeit der Localisirung wohl zu unterscheiden. Wenn in der eben beschriebenen Weise ein einzelner sichtbarer Punkt gegeben ist, und wir machen uns zur Aufgabe, uns demselben so gegen\u00fcber zu stellen, dass er in die scheinbare Medianebene zu liegen kommt, so werden wir dabei in den meisten F\u00e4llen einen Fehler begehen; der Punkt wird nicht genau in der wirklichen Medianebene liegen, obwohl er uns darin zu liegen scheint. Wiederholen wir denVersuch \u00f6fters, so erhalten wir eine ganze Reihe solcher Fehler, welche wir theils als positive theils als negative Fehler bezeichnen, je nachdem sie nach der einen oder anderen Richtung begangen wurden.\nSummiren wir alle diese positiven und negativen Fehlerwerthe und dividiren die Gesammtsumme durch die Zahl der Versuche, so erhalten wir entweder Null oder einen positiven oder negativen Werth, den sogenannten constanten Fehler.1 Dieser ist hier ein Maass f\u00fcr die Richtigkeit der Localisirung. Ist er Null, so ist die Localisirung\n1 Vergl. Fechner, Elemente der Psychophysik I. S. 121.","page":413},{"file":"p0414.txt","language":"de","ocr_de":"414 Hering, Physiol. Optik IY. 7. Cap. Die Richtigkeit d. Localisirung im Sehraume.\nim Allgemeinen richtig. Dass sie nicht auch in jedem Einzelfalle richtig ist, liegt an der nicht zureichenden Bestimmtheit der Localisirung. Ein Maass f\u00fcr den Grad der Bestimmtheit finden wir, wenn wir die Abweichung jedes einzeln gefundenen (rohen) Fehlers vom constanten Fehler suchen, die so erhaltenen Einzelwerthe (reine variable Fehler) ohne R\u00fccksicht auf das Vorzeichen summiren und durch die Zahl der Versuche dividiren. So erhalten wir den mittlen reinen Fehler als Maass der Bestimmtheit der Localisirung.\nWeder \u00fcber die Richtigkeit noch \u00fcber die Bestimmtheit, mit welcher wir einen in der wirklichen Medianebene liegenden Punkt in dieser Ebene localisiren, liegen messende Untersuchungen vor ; doch kann man sich in der eben erw\u00e4hnten Weise durch einfache Versuche leicht \u00fcberzeugen, dass beide ziemlich gross sein m\u00fcssen. In wieweit dabei der Umstand in Betracht kommt, dass bei medianer Lage eines Punktes und ganz gleichem Baue beider Augen auch die gr\u00f6sstm\u00f6gliche Gleichheit beider Netzhautbilder gegeben ist, w\u00e4re ebenfalls zu untersuchen.\nUeber die Richtigkeit und Bestimmtheit, mit welcher ein fixir-ter, in der horizontalen Hauptebene gelegener Punkt bei Prim\u00e4rstellung des Kopfes und symmetrischer Convergenz in dieser Horizontalebene localisirt wird, fehlen ebenfalls Untersuchungen. Doch kann man auch hier durch einfache Versuche nach Analogie des oben Erw\u00e4hnten feststellen, dass die dabei begangenen Fehler nicht sehr gross sind.\nDagegen sind mannichfache Versuche angestellt worden in Betreff der scheinbaren Entfernung eines in der Medianebene gelegenen Punktes.\nWundt1 blickte durch eine R\u00f6hre, deren Durchmesser den Abstand beider Augen \u00fcbertraf, nach einem Faden, dessen Entfernung vom Kopfe variirt werden konnte. Die Enden des Fadens waren ihm unsichtbar, und eine gleichfarbige Wand bildete den Hintergrund. Die scheinbare Entfernung des Fadens suchte er dann auf einem in der Hand gehaltenen Maassstabe abzusch\u00e4tzen. \u201eBei diesen Versuchen\u201c, sagte er, \u201e\u00fcberzeugt man sich alsbald, dass es durchaus unm\u00f6glich ist, hierbei ein Urtheil \u00fcber eine absolute Entfernung zu f\u00e4llen. Zwingt man sich mit dem Maassstabe in der Hand zu einem Urtheil, so f\u00e4llt dieses immer zu klein aus, und zwar scheint die wirkliche Entfernung meistens um ein Drittel bis die H\u00e4lfte verk\u00fcrzt,\n1 Wundt. Beitr\u00e4ge zur Theorie der Siimeswahrnehmung. Ztschr. f. rat. Med. III. Reihe. XII. Bd. S. 157. 1861.","page":414},{"file":"p0415.txt","language":"de","ocr_de":"Localisirung des Kernpunktes.\n415\nohne dass aber irgend ein constantes Verh\u00e4ltnis zwischen der wirklichen nnd gesch\u00e4tzten Entfernung stattfindet\u201c.\nDie grosse Unsicherheit des Ergebnisses d\u00fcrfte ihren Grund darin haben, dass die scheinbare Entfernung des Fadens mit einer ganz anders gelegenen Raumstrecke aus der Erinnerung verglichen werden musste.\nHelmholtz1 \u201ehielt dicht vor das Gesicht in die Medianebene ein Blatt steifen Papiers und blickte nach einem vertical herabh\u00e4ngenden Faden. Das Papier verdeckte dem rechten Auge alles, was sich links in einigem Abstande neben dem Faden befand, dem linken Auge, was sich rechts neben dem Faden befand. N\u00e4herte er nun von der rechten Seite her einen Bleistift dem Faden, so sah er er-steren nur mit dem rechten Auge, nicht mit beiden. Er versuchte dann mit dem Bleistifte den Faden zu treffen, indem er ihn schnell vorschob. Dann ging aber immer der Bleistift hinter dem Faden vorbei. Oeffnete er die vorher geschlossenen Augen, nachdem er seine Stellung ge\u00e4ndert hatte, richtete sie auf den Faden und versuchte dann schnell ihn in der angegebenen Weise zu treffen, so war die Entfernung zwischen Bleistift und Faden gering. Wartete er l\u00e4nger, indem er fortdauernd den Faden fixirte, so wurde der Fehler, immer gr\u00f6sser\u201c.\nDiese Versuche geben keinen unmittelbaren Aufschluss \u00fcber die Richtigkeit der Localisirung, sondern beleuchten nur den Grad der Harmonie zwischen der optischen Localisirung des fixirten Punktes und der tactischen Localisirung des Fingers.\nNach einem \u00e4hnlichen Principe hat sp\u00e4ter Donders2 einige messende Versuchsreihen angestellt, jedoch als Object der Localisirung einen leuchtenden Punkt im sonst dunklen Raume ben\u00fctzt. \u201eDer Beobachter befindet sich in einem vollkommen dunklen Kasten, in stehender Haltung, die Stirn unbeweglich gegen zwei St\u00fctzpunkte anlehnend, und sieht nach einem in ver\u00e4nderlicher Entfernung hervorgebrachten Blickpunkt, der aus schnell auf einander folgenden, sehr kleinen Inductionsfunken besteht. Nach ein Paar Secunden langer Fixirung hat er mit seinem, mit Kautschuk bekleideten Zeigefinger der rechten Hand den Funken zu treffen. Unmittelbar nach der Bewegung wird das Tageslicht hereingelassen und der Abstand des Lichtpunktes und der Fingerspitze vom Auge in Millimetern abgelesen. Um alle aus der St\u00e4rke des Lichtpunktes hervorgehende An-\n1\tHelmholtz, Physiol. Optik S. 650.\n2\tDonders, Arch. f. Ophthalmologie XVII. 2. S. 55.","page":415},{"file":"p0416.txt","language":"de","ocr_de":"416 Hering, Physiol. Optik IV. 7. Cap. Die Richtigkeit d. Localisirung im Sehraume.\ndeutung \u00fcber die Entfernung auszuschliessen, wird die secund\u00e4re Rolle ab und zu verschoben. Best\u00e4ndig aber wird der Lichtpunkt so schwach gehalten, dass selbst die Electroden und was sonst noch in dem Kasten zugegen ist, vollkommen unsichtbar bleiben\u201c.\nDie Entfernungen des Fadens variirten in 50 Versuchen zwischen 60 und 6-lOmm., 34 mal wurde die Entfernung \u00fcber-, 12 mal untersch\u00e4tzt, 4 mal richtig angegeben. Die beiden gr\u00f6ssten rohen Fehler betrugen + 35 mm. und \u2014 34 mm. Der constante Fehler betrug nahezu + 7 mm., der mittle reine Fehler 10,6 mm.\nVon diesen Versuchen gilt dasselbe wie von denen von Helmholtz; sie geben keinen unmittelbaren Aufschluss \u00fcber den Grad der Richtigkeit der Localisirung, sondern gestatten vorl\u00e4ufig nur einen ungef\u00e4hren Schluss auf dieselbe.\nIn einer anderen Versuchsreihe blieb der Kasten offen, so dass alle Gegenst\u00e4nde erleuchtet waren. Der Untersuchende \u00f6ffnete die Augen, sah die Electroden, sch\u00e4tzte die Entfernung, schloss die Augen wieder und hatte nun mit dem Finger den Punkt zwischen den Electroden zu treffen. Die Entfernungen variirten in 21 Versuchen zwischen 80 und 630 mm., die gr\u00f6ssten rohen Fehler betrugen + 30 und \u2014 12mm.; 15mal wurde die Entfernung \u00fcber-, 5mal untersch\u00e4tzt, 1 mal richtig angegeben. Der constante Fehler war 8,5 mm., der gr\u00f6sste variable Fehler 21,5 mm., der mittle variable Fehler 9,8 mm.\nMit wachsender Ferne des Blickpunktes wird die Localisirung des Kernpunktes zunehmend unsicher. Der constante Fehler ist beim Fixiren sehr ferner Objecte immer negativ, die scheinbare Entfernung des fixirten Punktes zu klein, was am auff\u00e4lligsten bei den Gestirnen, bei n\u00e4chtlichen Feuerscheinen, entfernten Laternen, Leuchtth\u00fcrmen u. s. w. hervortritt. Selbst eine richtige Sch\u00e4tzung der Entfernung \u00e4ndert an dem Zunahsehen ferner Fixationspunkte nichts.\nUnter abnormen Bedingungen des Sehens kann der Kernpunkt weit abliegen von dem Orte, der ihm nach der Lage des Blickpunktes zukommen w\u00fcrde. Bei allen oben beschriebenen haploskopischen Versuchen lag der Blickpunkt meist in sehr grosser Ferne, der Kernpunkt des Sehraums aber relativ nahe, etwa in der Entfernung, in welcher sich die beiden Fixationspunkte befanden, oder wenigstens nicht viel weiter. Man kann den beiden Fixationspunkten beim haploskopischen Versuch eine Distanz geben, welche die Augendistanz \u00fcbertrifft. Dann existirt gar kein Blickpunkt mehr, weil die Gesichtslinien divergiren ; einen Kernpunkt des Sehraums aber giebt es nach wie vor.","page":416},{"file":"p0417.txt","language":"de","ocr_de":"Localisirung der Hauptebenen.\n417\nEs w\u00e4re schliesslich zu er\u00f6rtern, wodurch diese im Allgemeinen ziemlich richtige Localisirung des Kernpunktes m\u00f6glich wird, wenn uns keinerlei andere, aus der Erfahruug stammende Behelfe \u00fcber die Lage des Blickpunktes Aufschluss geben. Dies soll im zweiten Abschnitt bei Besprechung der Augenbewegungen untersucht werden.\nII. Die Localisirung der mittlen L\u00e4ngs- und Querebene.\nDie mittle L\u00e4ngsebene des Sehraums f\u00e4llt, wie schon wiederholt erw\u00e4hnt wurde, bei aufrechter Stellung des K\u00f6rpers und Kopfes und symmetrischer Augenstellung mit der scheinbaren Medianebene zusammen, und ihre Abweichungen von der wirklichen Medianebene sind unter diesen Umst\u00e4nden meist sehr gering.\nMan stelle sich aufrecht vor eine horizontale weite R\u00f6hre, durch welche hindurch man mit fixirtem Kopfe nach einem feinen Faden oder Draht blickt, der in der H\u00f6he der Augen ein Merkzeichen tr\u00e4gt, das in der wirklichen Medianebene liegt und als Blickpunkt dient. Der Draht oder Faden sei in einer, der Frontal ebene parallelen Ebene um das Merkzeichen drehbar, zu welchem Zwecke der Faden \u00fcber einen grossen Reifen gespannt ist. Den Hintergrund bildet eine gleichfarbige Wand. L\u00e4sst man den anfangs zur Medianebene geneigten Faden so lange drehen, bis er in der scheinbaren Medianebene gesehen wird, so weicht seine wirkliche Lage nicht irgend erheblich von der wirklichen Medianebene ab.\nMittels derselben Vorrichtung kann man sich \u00fcberzeugen, dass bei aufrechter symmetrischer K\u00f6rper- und Kopfhaltung und horizontaler Blickebene auch die quere Mittelebene des Sehraums sehr angen\u00e4hert mit der horizontalen Hauptebene des wirklichen Raumes, die hier zugleich Blickebene ist, zusammenf\u00e4llt. Man l\u00e4sst zu diesem Zwecke den Faden so lange um das fixirte Merkzeichen drehen, bis er horizontal erscheint1 ; dann ist er auch wirklich angen\u00e4hert horizontal.\nIII. Die Localisirung der Kernfl\u00e4che.\nWenn die mittle L\u00e4ngs- und die mittle Querebene des Sehraums mit der wirklichen Medianebene und der horizontalen Hauptebene des Sehraums zusammenf\u00e4llt, so ist damit auch schon bestimmt, dass die Kernfl\u00e4che symmetrisch zur wirklichen Medianebene liegen muss ;\n1 Wenn der Faden zu nahe ist, kann er doppelt gesehen werden, weil bei horizontal convergirenden Gesichtslinien und Prim\u00e4r Stellung des Kopfes die queren Mittelschnitte der Netzh\u00e4ute nicht genau in der Blickebene liegen.\nHandbuch der Physiologie. Bd. HL\t27","page":417},{"file":"p0418.txt","language":"de","ocr_de":"418 Hering, Physiol. Optik IY. 7. Cap. Die Richtigkeit d. Localisirung im Sehraume.\ndenn die L\u00e4ngsmittellinie der Kernfl\u00e4che geh\u00f6rt der mittlen L\u00e4ngsebene des Sehraums an und ebenso ihre quere Mittellinie der mittlen Querebene des Sehraums.\nEs fragt sich nun zun\u00e4chst, ob die L\u00e4ngsmittellinie der Kernfl\u00e4che so localisirt wird, dass sie mit der entsprechenden Aussen-linie d. i. mit der Geraden des Punkthoropters zusammenf\u00e4llt ; ob also, wenn diese Gerade z. B. vertical liegt, sie auch vertical gesehen wird, oder wenn sie zur horizontalen Hauptebene geneigt ist, auch entsprechend geneigt erscheint.\nNach Hering1 2 wird bei prim\u00e4rer Kopfstellung und horizontaler symmetrischer Convergenz eine in der wirklichen Medianebene liegende Gerade bei Ausschluss aller anderweiten Motive der Localisirung nur dann vertical gesehen, wenn sie mit ihrem oberen Ende etwas ferner liegt, als mit dem unteren, und zwar um so mehr, je n\u00e4her sie \u00fcberhaupt ist; er erkl\u00e4rt die T\u00e4uschung daraus, dass bei ihm mit zunehmender Convergenz die Divergenz der mittlen L\u00e4ngsschnitte nach oben w\u00e4chst und die Gerade des Punkthoropters sich entsprechend mit dem oberen Ende von der Frontalebene wegneigt.\nNach Helmholtz 2 aber ist unter den genannten Bedingungen nur eine wirklich verticale Gerade auch die scheinbar Verticale in der Medianebene.\nZur Untersuchung ben\u00fctzten die Genannten F\u00e4den, welche innerhalb der Medianebene beliebig zum Horizonte geneigt werden konnten. Der Beobachter blickte durch eine R\u00f6hre, welche ihm das obere und untere Fadenende verdeckte und ausser dem Faden nur den gleichfarbigen Hintergrund sichtbar machte. Der Faden muss m\u00f6glichst fein sein, damit nicht eine etwaige perspectivische Verbreiterung seines n\u00e4heren Theils im Vergleich zum ferneren seine Lage erkennen l\u00e4sst.3\nWird unter Beibehaltung der horizontal symmetrischen Convergenz der Kopf stark zur\u00fcckgeneigt, was beim gew\u00f6hnlichen Sehen nie geschieht und also hier k\u00fcnstlich erzwungen ist, so drehen sich dabei die mittlen Querschnitte erheblich aus der horizontalen Blickebene heraus und convergiren nach unten ; entsprechend \u00e4ndern auch die mittlen L\u00e4ngsschnitte der Netzh\u00e4ute ihre Lage und werden convergent nach oben. Eine in der Medianebene befindliche nahe Ge-\n1\tHering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie V. S. 297.1864 und Arch. f. Anat. u. Physiol. 1865. S. 83.\n2\tHelmholtz, Physiol. Optik 1868. S. 661.\n3\tBesser w\u00e4re es, eine grosse ebene Glastafel zur einen. H\u00e4lfte mit. schwarzem, zur anderen mit weissem Papiere zu \u00fcberziehen und die Grenzlinie beider statt des Fadens zu benutzen.","page":418},{"file":"p0419.txt","language":"de","ocr_de":"Localisirimg der Kemfl\u00e4che.\n419\nrade, welche jetzt vertical erscheinen soll, muss nach Hering mit dem oberen Ende soweit stirnw\u00e4rts geneigt werden, dass sie ann\u00e4hernd in den Punkthoropter zu liegen kommt und sich auf den mittlen L\u00e4ngsschnitten abbildet. Nach Helmholtz, welcher diese Versuche wiederholte, muss die Gerade zwar auch in der erw\u00e4hnten Weise geneigt werden, aber soweit, dass sie sich auf denjenigen Netzhautmeridianen abbildet, welche bei parallel und horizontal geradeaus gestellten Gesichtslinien und gleicher Kopfhaltung wirklich vertical sein w\u00fcrden. Dies sind aber f\u00fcr Augen mit Netzhautincongruenz nicht genau die mittlen L\u00e4ngsschnitte. Die Differenz der beiderseitigen Angaben ist also nicht wesentlich. Ganz analoge Ergebnisse erhielten beide Beobachter unter sonst denselben Bedingungen bei Vorw\u00e4rtsneigung des Kopfes. Die in der Medianebene gelegene Gerade musste mit dem oberen Ende vom Gesicht weg geneigt werden, um vertical zu erscheinen.\nHelmholtz1 hat auch f\u00fcr unsymmetrische horizontale Parallel- und Convergenzstellungen der Gesichtslinien bei vorw\u00e4rts und r\u00fcckw\u00e4rts geneigtem Kopfe die wirkliche Lage derjenigen binocular fixirten Linien zu bestimmen versucht, welche ihm vertical erschienen. Er kam zu dem Ergebniss, dass unter diesen Umst\u00e4nden diejenigen Linien vertical erschienen, welche sich abbildeten auf solchen Meridianen der Netzh\u00e4ute, welche bei derselben Kopfhaltung wirklich vertical sein w\u00fcrden, wenn die Gesichtslinien nicht convergent sondern zur Halbirungslinie des wirklichen Convergenzwinkels parallel st\u00e4nden. Dies w\u00fcrden im Allgemeinen andere Meridiane sein als die mittlen L\u00e4ngsschnitte. Uebrigens ist es schwer und sehr anstrengend bei vorw\u00e4rts oder r\u00fcckw\u00e4rts geneigtem Kopf und unsymmetrischer Convergenz der Gesichtslinien die Blickebene horizontal zu halten ; man giebt derselben dabei unwillk\u00fcrlich durch Drehen des Kopfes eine Neigung zum Horizonte.\nIV. Die Localisirimg in die Kernfl\u00e4clie.\nDurch die Lage der L\u00e4ngsmittellinie der Kernfl\u00e4che ist nun die relative Lage dieser Fl\u00e4che zur wirklichen Medianebene und horizontalen Hauptebene vollends bestimmt. Wir sahen, dass jene Mittellinie ziemlich genau in die wirkliche Medianebene verlegt wird; betreffs ihrer Neigung zum Horizonte fanden wir eine Differenz in den Angaben der Beobachter, die aber praktisch genommen nicht ins Gewicht f\u00e4llt. Jetzt fragt sich nur noch, in wieweit die Form der Kernfl\u00e4che der Anordnung derjenigen wirklichen Aussendinge entspricht, welche in ihr erscheinen. Von den vielen m\u00f6glichen F\u00e4llen,\n1 Helmholtz, Physiol. Optik S. 662.\n27*","page":419},{"file":"p0420.txt","language":"de","ocr_de":"420 Hering, Physiol. Optik IV. 7. Cap. Die Richtigkeit d. Localisirung im Sehraume.\nwelche hier in Betracht kommen, sind besonders zwei bisher genauer untersucht worden. Erstens der Fall, wo die in der Kernfl\u00e4che erscheinenden Aussenpunkte oder Linien im L\u00e4ngshoropter liegen. Dieser Fall ist oben er\u00f6rtert worden, und wir haben gesehen in wieweit die Form der Kernfl\u00e4che von der Form der L\u00e4ngshoropterfl\u00e4che abweichen und damit eine Differenz zwischen wirklicher und scheinbarer Lage des in der L\u00e4ngshoropterfl\u00e4che Enthaltenen eintreten kann.\nDer zweite Fall ist der, wo unbegrenzt gesehene gerade Linien im Meridianhoropter liegen und sich also auf correspondirenden Meridianen abbilden, v. Recklinghausen1 fand, dass bei symmetrischer Convergenz der Gesichtslinien gerade Linien, welche in einer senkrecht zur Medianlinie (Halbirungslinie des Convergenzwinkels) stehenden Ebene gelegen sind und durch den Blickpunkt gehen, nur dann auch in einer Ebene erscheinen, wenn die queren Mittelschnitte der Netzh\u00e4ute in der Blickebene liegen. Diesen Falls n\u00e4mlich liegt der von den Linien gebildete ebene Stern im Meridianhoropter und bildet sich jede Gerade des Sternes auf correspondirenden Meridianen ab. Sind aber die queren Mittelschnitte zur Blickebene geneigt, was bei horizontaler Blickebene durch starkes Vor- oder R\u00fcckw\u00e4rtsneigen des Kopfes herbeigef\u00fchrt wird, so ist der Meridianhoropter nicht mehr die zur Medianlinie senkrecht stehende Ebene, sondern eine Kegelfl\u00e4che (Doppelkegelmantel), deren Mittelpunkt (Spitze) im Blickpunkt liegt2; deshalb muss man jetzt die einzelnen Strahlen so weit aus der genannten Ebene herausdrehen, bis sie in diese Kegelfl\u00e4che zu liegen kommen und sich wieder correspondirend abbilden, wenn anders sie als ein ebener Stern erscheinen sollen. Dies ist also eine weitere Best\u00e4tigung des oben aufgestellten Satzes, dass alle unbegrenzt gesehenen Geraden, welche sich correspondirend abbilden, in der Ebene der Kernfl\u00e4che erscheinen. Ordnet man bei den letzterw\u00e4hnten Augenstellungen die Geraden nicht in der Kegelfl\u00e4che des Meridianhoropters an, sondern l\u00e4sst sie in der zur Medianlinie senkrechten Ebene, so liegen sie zur einen H\u00e4lfte jenseits zur andern diesseits des Meridianhoropters, bilden sich daher disparat ab und scheinen entsprechend mit der einen H\u00e4lfte jenseits, mit der andern diesseits der Kernfl\u00e4che zu liegen, als ob sie einer krummen aber geradlinigen Fl\u00e4che angeh\u00f6rten.\nDer hier er\u00f6rterte Fall von T\u00e4uschung \u00fcber die Lage unbegrenzt gesehener Geraden ist \u00fcbrigens nach Hering3 nur einer von unz\u00e4hligen\n1\tv. Recklinghausen, Arch. f. Ophthalmologie V. 1. Abth. S. 155.1859.\n2\tSiehe oben Capitel III.\n3\tHering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie IV. S. 236.","page":420},{"file":"p0421.txt","language":"de","ocr_de":"Localisirung in die Kernfl\u00e4che.\n421\nm\u00f6glichen. Insbesondere ist jeder Punkt des Punkthoropters im Allgemeinen der Mittelpunkt einer Kegelfl\u00e4che zweiten Grades, welche dadurch ausgezeichnet ist, dass jede in ihr gelegene Gerade sich auf correspon-direnden Netzhautlinien abbildet und daher, wo sonstige Motive f\u00fcr die Localisirung fehlen, in der ebenen Kernfl\u00e4che erscheint.\nDurch jeden bei gegebener Lage des Blickpunktes beiden Augen sichtbaren Aussenpunkt l\u00e4sst sich eine bestimmte Gerade legen, welche sich in beiden Augen auf correspondirenden Netzhautlinien abbildet1 und also ebenfalls in der Kernfl\u00e4che erscheint.\nJede in der Blickebene liegende Gerade bildet sich, wenn die queren Mittelschnitte der Netzh\u00e4ute in der Blickebene liegen, auf diesen und also correspondirend ab, und wird daher in der queren Mittellinie der Kernfl\u00e4che gesehen, wenn alle andern Behelfe zur Lokalisirung fehlen. Ein feiner horizontaler Coconfaden z. B., der genau in der Medianebene verl\u00e4uft, scheint unter diesen Umst\u00e4nden parallel zur Frontal ebene durch den Blickpunkt zu gehen, so dass seine scheinbare Lage mit der wirklichen einen rechten Winkel einschliesst.\nGerade, unbegrenzt gesehene Linien, welche bei der angegebenen Augenstellung horizontal und senkrecht zur Medianebene \u00fcber oder unter der horizontalen Hauptebene, n\u00e4her oder ferner als der Blickpunkt liegen, geben zwar disparate Netzhautbilder wie sie in Fig. 24 S. 400 dargestellt wurden, erscheinen aber gleichwohl in der ebenen Kernfl\u00e4che, weil ihre Bilder keine quere Disparation haben. Betreffs der horizontalen Linien kommen also die gr\u00f6bsten Unrichtigkeiten der Localisirung vor, wenn anderweite H\u00fclfsmittel f\u00fcr letztere fehlen. Man braucht aber nur, wie Meyer (1. c.) und v. Recklinghausen (1. c.) zeigten, einen oder einige Merkpunkte auf den Linien anzubringen, um sie sofort ann\u00e4hernd richtig localisiren zu k\u00f6nnen.\nWir haben gesehen, was Alles bei Ausschluss anderweiter Motive der Localisirung in der Kernfl\u00e4che erscheinen kann; theils Objecte, welche in derjenigen Fl\u00e4che des wirklichen Raumes liegen, mit welcher die Kernfl\u00e4che des Sehraums zusammenf\u00e4llt, theils auch ausserhalb dieser Fl\u00e4che Gelegenes. Meistens aber, und insbesondere wenn die er\u00f6rterten F\u00e4lle von correspondirend abgebildeten unbegrenzten Linien nicht gegeben sind, erscheinen in der Kernfl\u00e4che nur solche Objecte, welche wirklich ziemlich genau in der entsprechenden Fl\u00e4che des Aussenraums liegen. Dies ist z. B. der Fall, wenn wir bei horizontal symmetrischer Convergenz der Gesichtslinien eine m\u00e4ssig entfernte verticale Ebene fixiren, auf welcher verschiedene ebene Figuren sichtbar sind. Wir k\u00f6nnen dabei unsern Kopf\n1 Helmholtz, Physiol. Optik S. 716.","page":421},{"file":"p0422.txt","language":"de","ocr_de":"422 Hering, Physiol. Optik IY. 7. Cap. Die Richtigkeit d. Localisirung im Sehraume.\nso stellen, dass die mittlen L\u00e4ngsschnitte der Netzh\u00e4ute vertical liegen und der L\u00e4ngshoropter eine verticale Cylinderfl\u00e4che ist, welche die Wand in ihrer L\u00e4ngsmittellinie tangirt. Liegt der Blickpunkt nicht zu nahe, so ist die Abweichung der Wandebene von der L\u00e4ngshoropterfl\u00e4che unbedeutend. Localisiren wir nun den Blickpunkt in die richtige Entfernung, so f\u00e4llt auch die Kernfl\u00e4che, wie aus der Er\u00f6rterung im vorigen Capitel hervorgeht, ebenfalls nahezu mit der Wand zusammen. F\u00fcr solche einfachste F\u00e4lle fragt sich nun, in wieweit die scheinbare Form und Anordnung der Figuren in der Kernfl\u00e4che der Wirklichkeit entspricht. Wir setzen dabei immer voraus, dass es sich um einfachste Figuren handelt, um gerade Linien oder auf der Wand vertheilte Punkte, von deren wirklicher Lage wir nichts vorwissen. Ferner setzen wir voraus, dass die Grenzlinien der Wand unsichtbar sind, was durch eine vor die Augen gehaltene weite R\u00f6hre zu erreichen ist. Diesenfalls gilt nun wieder das, was wir im Capitel II von der Anordnung der Sehdinge im ebenen Sehfelde im Vergleich zur Anordnung der Figuren im ebenen Objectfelde er\u00f6rtert haben. Die Kernfl\u00e4che ist jetzt das ebene Sehfeld, dessen Inhalt jedoch hier den Netzhautbildern beider Augen entspricht, w\u00e4hrend dort nur die Bilder einer Netzhaut in Betracht kamen. Die dort erw\u00e4hnten Abweichungen der scheinbaren Form und Gr\u00f6sse von der wirklichen kehren hier wieder. Nur die T\u00e4uschung in Betreff der horizontalen und verticalen Linien f\u00e4llt in der Kernfl\u00e4che weg. Denn wenn auch die wirklich Verticalen oder Horizontalen der Wand sich nicht genau auf den L\u00e4ngs- oder Querschnitten abbilden, so ist doch die Disparation ihrer Bilder zu diesen Netzhautschnitten eine symmetrische und jene Linien erscheinen demnach vertical und horizontal wie sie sind.\nUeber die Richtigkeit der Lokalisirung des ausserhalb der Kernfl\u00e4che Gelegenen (und einfach Erscheinenden) liegt eine kleine Versuchsreihe vonDoNDERS1 vor, welche nach derselben Methode angestellt wurde, wie die Versuche \u00fcber die Localisirung des Blickpunktes (s. o. S. 415).\n\u201eW\u00e4hrend der Lichtpunkt im Kasten in einer festen Entfernung von 300 mm. fixirt wurde, liess man einen einzelnen st\u00e4rkeren In-ductionsfunken \u00fcberspringen, bald in gr\u00f6sserer, bald in geringerer Entfernung vom Fixirpunkt und mehr oder weniger nach rechts oder links, immer im Bereich der H\u00e4nde. Der Ort, wo der Funken \u00fcbersprang, musste nun wieder mit dem Finger angewiesen werden.\u201c\n1 Donders, Arch. f. Ophthalmologie XV\u00dc. 2. S. 59.1871.","page":422},{"file":"p0423.txt","language":"de","ocr_de":"Localisirung ausserhalb der Kernfl\u00e4che.\n423\nIn der von Donders mitgetheilten Versuchstabelle ist nur der Tiefenabstand des seitlichen Funkenortes und des an seinen scheinbaren Ort gebrachten Fingers vom Gesichte angegeben; der Abstand von der Medianebene fehlt. Es wurden 29 Versuche gemacht; der gr\u00f6sste Tiefenabstand des seitlichen Funkens vom Gesichte betrug 600 mm., der kleinste 210 mm., der mittle 379,7 mm. Die gr\u00f6ssten rohen Fehler waren + 120 und \u2014 68, der constante Fehler betrug + 8,7 mm., der mittle reine Fehler beil\u00e4ufig 34 mm.\nDonders bemerkte noch, dass, wenn der Funke stark seitlich \u00fcbersprang und zwar ungef\u00e4hr in gleicher Entfernung mit dem Blickpunkte, die Entfernung regelm\u00e4ssig zu gross gesch\u00e4tzt wurde, und f\u00fchrt dies als Best\u00e4tigung des oben dargelegten Satzes an, nach welchem ein seitlich in gleicher Entfernung mit dem Blickpunkte gelegener Punkt ferner als der letztere erscheint, weil er jenseits des L\u00e4ngshoropters liegt.\nEinen directen Aufschluss \u00fcber die Richtigkeit der Localisirung geben auch diese Versuche nicht.\nUeberblicken wir das Ergebniss unserer Untersuchung \u00fcber die Richtigkeit der Localisirung des mit unbewegtem Blicke binocular und einfach Gesehenen, so ergiebt sich, dass bei prim\u00e4rer Kopfstellung und symmetrisch horizontaler Convergenz der Gesichtslinien gr\u00f6bere Fehler nur in Betreff derjenigen Linien Vorkommen, welche in ihrem Verlauf keine Merkpunkte haben und sich entweder auf corre-spondirenden Netzhautlinien oder wenigstens ohne quere Disparation abbilden. Einzelne Punkte dagegen oder Linien mit Merkpunkten werden, wie wir fanden, ziemlich richtig localisirt, und zwar um so richtiger, je n\u00e4her sie dem Blickpunkte beziehungsweise der Fl\u00e4che des L\u00e4ngshoropters liegen.\nWir fanden, dass der Kernpunkt mit dem Blickpunkte, die mittle L\u00e4ngsebene des Sehraums mit der wirklichen Medianebene, die mittle Querebene mit der wirklichen horizontalen Hauptebene ziemlich genau zusammenf\u00e4llt. Betreffs der Kernfl\u00e4che sahen wir, dass, wenn correspondirend abgebildete Linien ohne Merkpunkte ausgeschlossen sind, nur das in ihr erscheint, was in der Fl\u00e4che des L\u00e4ngshoropters liegt, und dass diese wenigstens beim Nahesehen nahezu da liegt, wo sie als Kernfl\u00e4che erscheint. Trotz der vielen T\u00e4uschungen also, welche, wie wir sahen, m\u00f6glich sind, entspricht doch beim Nahesehen der scheinbare Ort der Dinge im Allgemeinen wenigstens ann\u00e4hernd ihrem wirklichen, selbst wenn jedes anderweite H\u00fclfsmittel f\u00fcr die Localisirung und insbesondere die Mith\u00fclfe der Augenbewegungen ausgeschlossen ist.","page":423},{"file":"p0424.txt","language":"de","ocr_de":"424\nHering, Physiol. Optik IY. 8. Cap. Das Doppelsehen u. s. w.\nWir h\u00e4tten schliesslich noch die Aufgabe, die Richtigkeit der Localisirung bei andern Stellungen des Auges und des Kopfes zu er\u00f6rtern. Dieselbe ist jedoch bisher nicht systematisch untersucht worden. Einzelnes ist dar\u00fcber oben beil\u00e4ufig bemerkt worden, Anderes wird noch im zweiten Abschnitte zu erw\u00e4hnen sein.\nACHTES CAPITEL.\nDas Doppelsellen des Einfachen und das Einfach sehen des Doppelten.\nWenn die Disparation der beiden von einem Punkte oder einer Linie oder sonst welchem kleinen Objecte entworfenen Netzhautbilder eine gewisse Gr\u00f6sse \u00fcberschreitet, so sehen wir, wie schon S. 397 erw\u00e4hnt wurde, das einfache Aussenobject doppelt. Das diesseits der Fl\u00e4che des L\u00e4ngshoropters Gelegene gibt ungleichseitige oder gekreuzte, das jenseits Gelegene gleichseitige oder ungekreuzte Doppelbilder. Der L\u00e4ngshoropterfl\u00e4che angeh\u00f6rende Punkte geben Doppelbilder von reiner L\u00e4ngsdisparation, welche bei aufrechter Kopfhaltung und symmetrischer Augenstellung \u00fcbereinander erscheinen; dem Querhoropter angeh\u00f6rende Punkte geben Doppelbilder von reiner Querdisparation, welche unter den erw\u00e4hnten Umst\u00e4nden nebeneinander erscheinen. Ausserhalb der genannten beiden Horopterfl\u00e4chen liegende Punkte geben Doppelbilder, die schr\u00e4g gegen einander verschoben sind. Geh\u00f6ren die Bilder eines Doppelbildes beide den linken oder beide den rechten Netzhauth\u00e4lften an, so erscheinen beide Trugbilder auf derselben Seite des Sehraumes oder des Sehfeldes, also beide nach rechts oder nach links von der mitt-len L\u00e4ngsebene des Sehraumes oder der mittlen L\u00e4ngslinie des Sehfeldes; sie heissen dann einseitige, andernfalls aber doppelseitige Doppelbilder.\nFig. 27 stelle die Blickebene dar, w\u00e4hrend die queren Mittelschnitte der Netzhaut in derselben liegen, / sei der Blickpunkt, k\u2018f k\u201c der M\u00fcLLER\u2019sche Horopterkreis. Die von ihm eingeschlossene Fl\u00e4che enth\u00e4lt Punkte der Blickebene, welche ungleichseitige oder gekreuzte Doppelbilder {\\rl, r\\l und rl\\) geben; ausserhalb des Kreises gelegene Punkte geben gleichseitige oder ungekreuzte (| Ir,","page":424},{"file":"p0425.txt","language":"de","ocr_de":"Bedingungen des Doppelsehens.\n425\nl\\r und Ir |). Die zwischen den beiden Gesichtslinien {k\u2018 g und k\u201c g\u2018) gelegenen Abschnitte der Blickebene k\u2018 f ku und g1 f g enthalten Punkte, welche doppelseitige Doppelbilder erzeugen {r\\l und l\\r). Ausserhalb dieser Abschnitte gelegene Punkte geben einseitige Doppelbilder.\nF\u00fcr gew\u00f6hnlich sieht man keine Doppelbilder und vielen Laien sind dieselben unbekannt, obwohl fast immer Objecte da sind, welche sich auf sehr disparaten Stellen abbilden. Man fasst beim gew\u00f6hnlichen Sehen mit wanderndem Blicke nur das genauer auf, was in der Gegend des Blickpunktes liegt und daher nur Bilder von kleiner Disparation geben kann. Sobald etwas excentrisch im Sehraume Erscheinendes unsere Aufmerksamkeit erweckt, richten wir auch sogleich die Gesichtslinien auf das entsprechende Aus-senobject, sodass der Blickpunkt auf dasselbe zu liegen kommt. Will man Doppelbilder sehen lernen, so muss man einen Punkt fest fixiren, und dann kleine vom Hintergr\u00fcnde gut abstechende Gegenst\u00e4nde nahe der Medianebene jenseits oder diesseits des Blickpunktes anbringen. Fixirt man z. B. einen nahe vor\u2019s Gesicht gehaltenen Finger und h\u00e4lt 1\u20142 dm. dahinter einen Bleistift, so sieht man denselben in gleichseitigen Doppelbildern. Bringt man aber an die Stelle des Bleistiftes ein gr\u00f6sseres Blatt Papier, so sieht man dasselbe einfach, weil seine beiden Bilder sich theilweise decken, und nur bei genauerer Beobachtung bemerkt man, dass seine R\u00e4nder doppelt erscheinen.\nCorrespondirend mit der Netzhautstelle, welche das dem einen Trugbilde eines Doppelbildes entsprechende Netzhautbild tr\u00e4gt, liegt auf der andern Netzhaut das Bild irgend eines andern Objectes. Ist letzteres eine gleichfarbige Fl\u00e4che, so tritt das Bild derselben nicht leicht in Wettstreit mit dem erst erw\u00e4hnten Trugbilde. Ist es aber ein Gegenstand, der deutliche Conturen enth\u00e4lt, so zeigt sich der Wettstreit der Conturen. Fixirt man z. B. ein Tapetenmuster der Wand und bringt in die Richtung der einen Gesichtslinie einen Finger, so erscheint letzterer in ungleichseitigen Doppelbildern, welche anfangs das correspondirend abgebildete Tapetenmuster unterdr\u00fccken k\u00f6nnen. Achtet man aber l\u00e4nger und genauer auf das in der Median-","page":425},{"file":"p0426.txt","language":"de","ocr_de":"426\nHering, Physiol. Optik IV. 8. Cap. Das Doppelsehen u. s. w.\nebene gelegene Fingertrugbild, so sieht man das Tapetenmuster gleichsam durch das Fingerbild durchscheinen. Die Umrisse des Fingerbildes bleiben meist im Wettstreite siegreich; im Innern desselben aber siegen die Conturen des Tapetenmusters. Zwischendurch verdr\u00e4ngt letzteres auch einmal das ganze Trugbild des Fingers. Da die Augen f\u00fcr die Entfernung der Tapete und nicht des Fingers accommodirt sind, so sind die Conturen des Tapetenbildes scharf, die des Fingerbildes verwaschen und deshalb gegen erstere im Nachtheil beim Wettstreite. Wenn Jemand nun \u00fcberdies dem Tapetenmuster, welches er fixirt, seine Aufmerksamkeit zuwendet, so entgeht ihm leicht das Trugbild des Fingers ganz, obwohl es sich auf der Stelle des directen Sehens abbildet. Das andere Trugbild des Fingers liegt sehr seitw\u00e4rts und wird um so leichter \u00fcbersehen.\nDie Richtung, in welcher die Trugbilder erscheinen, ist unab\u00e4nderlich durch das Gesetz der identischen Sehrichtungen gegeben. Man braucht sich nur beide wirkliche Netzhautbilder auf die Netzhaut des imagin\u00e4ren Einauges in der oben er\u00f6rterten Weise \u00fcbertragen zu denken, so dass alle Deckstellen zusammenfallen, und die Richtungslinien des Einauges als die Sehrichtungslinien gelten zu lassen: so hat man f\u00fcr jedes Trugbild die zugeh\u00f6rige Sehrichtung. Das Einauge oder das Centrum der Sehrichtungen muss man sich dabei in die Medianebene des Kopfes, oder wenn man sich durch einseitigen Gebrauch eines Auges oder aus andern Gr\u00fcnden (s. S. 391) eine andere Art der Localisirung angew\u00f6hnt hat, entsprechend seitlich in den Kopf verlegt denken. Auf die Lage des Centrums der Sehrichtungen kommt hier vorerst nicht viel an ; wenn es auch eine anomale Lage hat, so bleibt doch dabei das System der Sehrichtungslinien in sich ganz unver\u00e4ndert, und innerhalb dieses Systems sind den Trugbildern ihre Sehrichtungslinien angewiesen.\nWenn man einem Laien die Aufgabe stellt, ein entferntes Object zu fixiren und von der rechten Seite her den rechten Zeigefinger gerade zwischen sich und das fixirte Object d. h. in die Medianebene zu bringen, so wird er ihn stets in die rechte Gesichtslinie statt in die Medianebene bringen; soll er den linken Zeigefinger von links her in die Medianebene bringen, so bringt er ihn in die linke Gesichtslinie. Der Finger erscheint dabei in ungekreuzten Doppelbildern ; doch muss man Laien meist erst darauf aufmerksam machen, dass ausser dem scheinbar in der Medianebene liegenden Finger noch ein zweiter seitw\u00e4rts zu sehen ist; denn wegen seiner excentrischen Lage wird dieses zweite Fingertrugbild von Laien meist \u00fcbersehen. Fig. 28 versinnlicht den Versuch.","page":426},{"file":"p0427.txt","language":"de","ocr_de":"Schlichtung und Sehfeme der Doppelbilder.\n427\nIn b liegt der Blickpunkt, in a ein rechts davon gelegenes Object, in d der Finger auf der Gesichtslinie db des rechten und der Richtungslinie da des linken Auges; w ist das Centrum der Sehrichtungen, w \u00df die Hauptsehrichtung, auf welcher das eine Trugbild des Fingers in d\u2018 und dahinter das fixirte Object in \u00df erscheint. Das zweite Fingertrugbild erscheint in d und dahinter in a das ebenfalls indirect gesehene Object a.\nMit der Linie oder Richtung, in welcher ein Trugbild oder Halbbild im Sehraum erscheint, fst noch nicht sein Ort auf dieser Linie oder seine scheinbare Ferne in dieser Richtung gegeben. Die Localisirung eines Trugbildes innerhalb der ihm zukommenden Sehrichtungslinie hat meist etwas Unsicheres und Unbestimmtes, um so mehr, je anhaltender man es unverriickten Blickes beachtet. Die im zweiten Abschnitte zu er\u00f6rternden Erfahrungsmotive f\u00fcr die Localisirung werden auch f\u00fcr die scheinbare Ferne der Trugbilder mitbestimmend. Bringt man z. B. beide Zeigefinger in verschiedener Entfernung vom Gesichte in die Medianebene und fixirt den einen, so sieht man die Trugbilder des andern dauernd in einer Entfernung, welche der des wirklichen Fingers nahezu entspricht. Dasselbe gilt von anderen, uns aus Erfahrung genau bekannten Dingen, wie Hering 1 gegen\u00fcber der \u00e4lteren Annahme, dass die Doppelbilder stets in gleicher Entfernung mit dem fixirten Objecte erscheinen, zuerst nachdr\u00fccklich betont hat. Fehlen anderweite Motive der Localisirung, so werden die Doppelbilder wenigstens im Beginne ihres Erscheinens nach denselben Gesetzen localisirt, welchen die Localisirung der disparat abgebildeten aber einfach gesehenen Objecte folgt (s. Cap. VI).\nWenn man eine kleine Lichtquelle sich auf einer Biconvexlinse spiegeln l\u00e4sst, so sieht man zwei Spiegelbilder, deren eines n\u00e4her liegt als das andere, v. Recklinghausen 2 ben\u00fctzte als Lichtquelle einen elektrischen Funken und sah dabei deutlich den einen Funken n\u00e4her als den anderen, auch wenn der eine in Doppelbildern er-\n1\tHering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie II. \u00a7 57. 1862.\n2\ty. Recklinghausen, Ann. d. Physik CXIY. S. 170.","page":427},{"file":"p0428.txt","language":"de","ocr_de":"428\nHering, Physiol. Optik IY. 8. Cap. Das Doppelsehen n. s. w.\nschien, weil seine Netzhautbilder zu disparat lagen, um ein einfaches Anschauungsbild auszul\u00f6sen. Helmholtz 1 liess einen Punkt der Wand in einer Entfernung von einigen Fussen fixiren und dabei ein Blatt steifen Papieres so vor den untern Theil des Gesichts halten, dass sein oberer Rand einige Zoll vor den Augen in ungef\u00e4hr derselben H\u00f6he lag. Der Papierschirm verdeckte dabei alle Gegenst\u00e4nde, die vor dem Beobachter unterhalb seiner Blickebene lagen. Schob er nun von unten her einen geraden Draht in solcher Entfernung in die H\u00f6he, dass er dem Beobachter in Doppelbildern sichtbar wurde, so erhielt derselbe sofort eine Vorstellung von der Entfernung des Drahtes, auch wenn er die Augen ganz unbewegt gelassen und den Draht nicht einfach gesehen hatte. Liess er den Beobachter nach dem verdeckten Theile des Drahtes greifen, wobei ihm die Hand selbst unsichtbar blieb, so traf er den Draht sogleich beim ersten Versuche. Um nicht aus der Dicke des Drahtes auf dessen Entfernung schliessen zu k\u00f6nnen, ben\u00fctze man abwechselnd Dr\u00e4hte von verschiedener und unbekannter St\u00e4rke. Eine Verschmelzung disparater Bilder ist also gar nicht unbedingt n\u00f6thig, um bin-oculare Tiefen Wahrnehmungen zu machen, vielmehr werden, auch wenn alle andern Motive der Localisirung fehlen, gekreuzte Doppelbilder vor, ungekreuzte hinter die Kernfl\u00e4che localisirt, um so mehr, je gr\u00f6sser ihre Disparation ist. Bei haploskopischer Vereinigung einfacher Linearzeichnungen, welche zwei Projectionen eines nach der Tiefe sich erstreckenden Gegenstandes darstellen und nach der S. 393 gegebenen Regel entworfen sind, \u00fcberzeugt man sich leicht, dass auch die nicht einfach gesehenen Theile der Doppelfigur gleichwohl diesseits oder jenseits der Kernfl\u00e4che erscheinen. Um das Einfachsehen der disparaten Theile der beiden Bilder zu verhindern, giebt man beiden Zeichnungen verschiedene Farben, wie dies z. B. in der Fig. 291 2 der Fall ist.\nNur muss man sich dabei dem unmittelbaren Eindr\u00fccke hingeben und darf nicht bei l\u00e4nger anhaltender fester Fixirung \u00fcber die Lage der beiden zusammengeh\u00f6rigen Trugbilder reflectiren : dann findet man sie bald unbestimmt. Das geschieht um so leichter, je disparater die beiden Halbbilder liegen. Hieraus erkl\u00e4rt sich die \u00e4ltere irrige Annahme, nach welcher Doppelbilder stets in derselben Entfernung wie der fixirte Punkt erscheinen sollten. Gerade bei den haploskopischen Versuchen heften sich, wenn man Zeichnungen\n1\tHelmholtz, Arch. f. Ophthalmologie X. 1. S. 28. 1864.\n2\tEntnommen aus Helmholtz\u2019s Physiol. Optik. Dove (Farbenlehre 1853) hat zuerst derartige Figuren zur Demonstration des binocularen Glanzes angegeben.","page":428},{"file":"p0429.txt","language":"de","ocr_de":"Empirischer Horopter.\n429\nauf Papier auwendet, die Doppelbilder leicht an die der Papierfl\u00e4che entsprechende Kernfl\u00e4che, weil man weiss, dass die Zeichnungen auf dem Papier liegen. Besser eignen sich zum Versuche auf Glas photographi\u00e9e Projectionen, am Besten wirkliche Aussen-\nFig. 29.\ndinge, \u00fcber deren Gr\u00f6sse und Ort man nichts vorweiss und welche man pl\u00f6tzlich in den binocularen Gesichtsraum vor oder hinter den Blickpunkt bringen l\u00e4sst. Bei dem S. 408 beschriebenen Fallver-si^ch sieht der ge\u00fcbte Beobachter die fallende Kugel, wenn ihre Fallbahn weit vom Blickpunkt nach vorn oder hinten abliegt, \u00f6fters doppelt, besonders wenn die Kugel gross und von einer Farbe ist, die stark vom Hintergr\u00fcnde absticht. Gleichwohl sieht er die Doppelbilder vor oder hinter der Kernfl\u00e4che, van der Meulen und van Dooremaal 1 haben sogar gefunden, dass, wenn dem einen Auge nur die obere, dem andern nur die untere H\u00e4lfte der Fallbahn sichtbar ist, man doch erkennt, ob die Kugel n\u00e4her oder ferner als der Blickpunkt herabgefallen ist.\nEs wurde schon im I. und IV. Capitel erw\u00e4hnt, dass man vor Einf\u00fchrung der Substitutionsmethode das Doppel- oder Einfachsehen kleiner Objecte als Kriterium daf\u00fcr gebrauchte, ob das Object im Horopter lag oder nicht, und auf diese Weise die Anordnung der Deckstellen zu bestimmen suchte. Bei der n\u00f6thigen Uebung im festen Fixiren und im Erkennen der Doppelbilder giebt diese Methode immerhin brauchbare Ann\u00e4herungswerthe. Fixirt man, w\u00e4hrend die mittlen Querschnitte in der Blickebene liegen, einen nahen\n1 van dee Meulen u. vanDooeemaal. Arch. f.Ophthalmologie XIX. 1. S. 137.1873.","page":429},{"file":"p0430.txt","language":"de","ocr_de":"430\tHering, Physiol. Optik IY. 8. Cap. Das Doppelsehen u. s. w.\nin der Medianebene gelegenen Punkt, und bewegt z. B. einen gl\u00e4nzenden Stecknadelkopf innerhalb der Blickebene in einer der Medianebene parallelen Bahn vom Gesichte weg, so erscheint er anfangs in ungleichseitigen Doppelbildern, wird in der N\u00e4he des Horopterkreises einfach und zerf\u00e4llt dar\u00fcber hinaus wieder in gleichseitige Doppelbilder. Da aber seine Doppelbilder schon verschmelzen, noch ehe er genau im Horopterkreise liegt, und noch verschmolzen bleiben, wenn er bereits etwas dar\u00fcber hinaus gelangt ist, so ist die Bestimmung ungenau. 1\nIn dieser und \u00e4hnlicher Weise haben A. Pr\u00e9vost2, Meissner3 und neuerdings wieder Sch\u00f6n4 den Horopter empirisch zu bestimmen versucht.\nDer Letztere experimentirte mit Lichtflammen und giebt an, dass sich der L\u00e4ngshoropter und damit die Correspondenz der Netzh\u00e4ute allseitig bis an die Grenzen des binocularen Gesichtsraumes nachweisen lasse, wenn man nur hinreichend helle und vom Grunde gen\u00fcgend abstechende Objecte benutze, was Schoeler5 nicht gethan und deshalb f\u00fcr die peripheren Theile des Gesichtsraumes so unsichere Ergebnisse gewonnen habe.\nMeissner hat bei derartigen Versuchen auch zuerst auf die gegenseitige Neigung der Doppelbilder einer geraden Linie geachtet und dieselbe zur Beurtheilung der Lage correspondirender Netzhautmeridiane ben\u00fctzt, eine Methode, die sp\u00e4ter in verbesserter Weise zur Untersuchung der Augenstellungen vielfach angewandt worden ist.\nSehr h\u00e4ufig ist der Fall, dass von einem Aussendinge nur ein Trugbild gesehen wird, entweder weil das andere sehr excentrisch liegt und deshalb gar nicht beachtet wird, oder weil das andere im Wettstreite unterliegt oder endlich, weil trotz binocularem Sehen der entsprechende Gegenstand nur unocular gesehen wird. Letzteres ist der Fall, wenn ein ferneres Object dem einen Auge durch ein n\u00e4heres verdeckt wird, w\u00e4hrend es dem andern Auge sichtbar bleibt, oder wenn das Object ausserhalb des binocularen Gesichtsraumes liegt und nur einem der beiden seitlichen unocularen Theilen des Gesichtsraumes angeh\u00f6rt.\nSch\u00f6n 6 giebt von den einseitigen Doppelbildern an, dass das Trugbild desjenigen Auges, auf dessen Seite sich auch das doppelterscheinende Object befindet, gegen\u00fcber dem andern fast immer im Vortheil sei und vor-\n1\tUnvergleichlich genauer wird sie. wie wir sahen, wenn man nicht das Einfachsehen zum Merkmal der Lage im Horopter macht, sondern die scheinbare Entfernung verglichen mit der des fixirten Punktes (siehe Cap. VI. S. 402).\n2\tA. Pr\u00e9vost, Sur la th\u00e9orie de la vision binoculaire p. 20. Gen\u00e8ve 1843.\n3\tMeissner, Beitr\u00e4ge zur Physiologie des Sehorgans. Leipzig 1843.\n4\tSch\u00f6n, Arch. f. Ophthalmologie XXIY. 1.S.51. 1878.\n5\tSchoeler, siehe oben S. 364.\n6\tSch\u00f6n, Arch. f. Ophthalmologie XXII. 4. S. 31 und XXIY. 1. S. 27.","page":430},{"file":"p0431.txt","language":"de","ocr_de":"Einfachsehen doppelter Objecte.\n431\nwiegend beachtet werde. Er erkl\u00e4rt dies aus der verschiedenen Erregbarkeit der verschiedenen Netzhauttheile und insbesondere daraus, :dass die Erregbarkeit auf dem temporalen Theile der Netzhaut rascher vom Centrum nach der Peripherie abnehme als auf dem nasalen.\nViel seltener als das Doppelsehen des wirklich Einfachen ist das Einfachsehen des wirklich Doppelten, wenn nicht letzteres wie bei den haploskopisch en Versuchen absichtlich herbeigef\u00fchrt wird. Blickt man durch ein enges Drahtgitter oder das Geflecht eines Rohrstuhles nach einem dahinter gelegenen Gegenstand, so empfindet man Unsicherheit und Unbehagen, solange nicht beide Netzh\u00e4ute correspondirend liegende Bilder des Gitters empfangen, welchen-falls aber je zwei wirklich verschiedene Maschen des Gitters haploskopisch verschmolzen werden. Hierbei kann, wie H. Meyer1 zeigte, das Gitter, statt an seinem wirklichen Orte, in der Entfernung des betrachteten Objectes erscheinen. H\u00e4lt ein im Doppelsehen nicht ge\u00fcbter Beobachter, w\u00e4hrend er in die Ferne blickt, in jede Gesichtslinie eine verticale Stricknadel, so verschmelzen ihm ihre beiden auf den mittlen L\u00e4ngsschnitten liegenden Bilder haploskopisch und er glaubt eine einzige Nadel in der Medianebene zu sehen. Der Ge\u00fcbte erkennt freilich rechts und links noch ein Trugbild der Nadeln. Denn jede derselben giebt zwei gekreuzte Trugbilder, da aber das linke Trugbild der rechten und das rechte der linken Nadel an derselben Stelle des Sehraumes zu erscheinen haben, so verschmelzen sie zu einem Sehdinge, das in der Medianebene erscheint.\nSolche durch Zusammenfallen zweier nicht zusammengeh\u00f6riger Trugbilder entstehende Sehdinge werden je nach den Umst\u00e4nden entweder in eine Entfernung localisirt, die den beiden zugeh\u00f6rigen wirklichen Dingen ann\u00e4hernd entspricht oder aber in die Entfernung, welche eben der Blickpunkt hat. Dr\u00e4hte oder F\u00e4den z. B. sieht man bei dem eben beschriebenen Versuch manchmal in grosser Entfernung wie dicke Stangen oder Taue. Bringt man dagegen beiderseits einen Zeigefinger auf je eine der parallel liegenden Gesichtslinien, so erscheint das aus der Verschmelzung der beiden inneren Trugbilder entstandene Bild des Fingers ungef\u00e4hr in der Entfernung der beiden wirklichen Finger. Legt man auf den Tisch zwei gleiche M\u00fcnzen oder Briefmarken mit einem gegenseitigen queren Abstande, der dem der Augen gleich ist, und richtet jede Gesichtslinie auf die M\u00fcnze ihrer Seite, so sieht man drei M\u00fcnzen auf dem Tische, deren mittle aus der Verschmelzung der beiden Trugbilder entstanden ist. Aber diese M\u00fcnze erscheint ebensowenig als der Tisch in jener grossen\n1 H. Meyer, Arch. f. physiol. Heilk. I. S. 316. 1862.","page":431},{"file":"p0432.txt","language":"de","ocr_de":"432\nHering, Physiol. Optik IY. 8. Cap. Das Doppelsehen u. s. w.\nEntfernung, in welcher der Blickpunkt liegt. Richtet man jedoch die linke Gesichtslinie auf die rechte, die rechte auf die linke M\u00fcnze, so dass der Blickpunkt in der Mitte zwischen Augen und Tisch liegt, so kann man eine kleine M\u00fcnze in der Gegend des Blickpunktes gleichsam in der Luft schweben sehen, wobei der Tisch entweder an seiner alten Stelle bleibt oder mit heranr\u00fcckt; oder aber man sieht wieder alle drei M\u00fcnzen auf dem Tische, ohne dass derselbe n\u00e4her ger\u00fcckt scheint. Je nachdem die Localisirung nach der Dimension der Tiefe mehr durch die Lage des Blickpunktes oder durch andere Motive bestimmt wird, tritt die eine oder die andere Art der Auslegung ein (vergl. Abschnitt II). \u2014\nEs sind von Volkmann 1 nach der haploskopischen Methode Messungen der gr\u00f6ssten Disparation gemacht worden, bei welcher zwei gleiche aber disparate Netzhautbilder von Linien oder Punkten noch einfach gesehen werden. Er bediente sich dabei eines als Tachistoskop1 2 bezeichneten Apparates. Ein der Frontalebene des Beobachters paralleler Schirm verdeckt anfangs die Doppelzeichnung. L\u00e4sst man den Schirm aber herabfallen, so wird durch einen Ausschnitt desselben die Zeichnung einen Augenblick sichtbar, um sofort wieder verdeckt zu werden. Schon oben wurde erw\u00e4hnt, dass die Gr\u00f6sse der zum Doppelsehen n\u00f6thigen Disparation sehr von der Uebung im festen Fixiren und indirecten Sehen abh\u00e4ngt. Insbesondere wird, wie sich auch bei Volkmann zeigte, durch die auf das Unterscheiden disparater Bilder gerichtete Uebung das Verm\u00f6gen zum Doppelsehen derselben sehr vergr\u00f6ssert. Wer dasselbe erworben hat, vermag manche projectivische Doppelzeichnung, die er fr\u00fcher leicht in allen Theilen einfach sah, nachher nicht mehr durchaus zu verschmelzen. Das Ergebniss derartiger Messungen h\u00e4ngt also wesentlich von individuellen Bedingungen ab. L\u00e4ngs disparate Bilder werden nach Volkmann leichter doppelt gesehen, als Bilder von gleich grosser querer Disparation. Dasselbe fand Donders 3 4, welcher bei Beleuchtung mit dem electrischen Funken experimentirte. Die instantan\u00e9 Beleuchtung, wie \u00fcberhaupt die nur fl\u00fcchtige Beobachtung beg\u00fcnstigt das Einfachsehen disparater Bilder. Bei dem S. 408 beschriebenen Fallversuche sehen Unge\u00fcbte die fallende Kugel noch einfach, wenn die Disparation der Netzhautbilder 3 mm. und mehr betr\u00e4gt, wobei die richtige Localisirung der Kugel beweist, dass wirklich beide Netzh\u00e4ute bei der Wahrnehmung betheiligt waren. Schoeler 4 fand\n1\tVolkmann, Arch. f. Ophthalmologie V. 2.1859.\n2\tDerselbe, Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. \"Wiss. 1859.\n3\tDonders, Arch. f. OphthalmologieXIII. 1. S. 12.1867.\n4\tSchoeler, ebenda XIX. 1. S. 20. 1873.","page":432},{"file":"p0433.txt","language":"de","ocr_de":"Grenzen des Einfachsehens.\n433\nbei binocularer Betrachtung stereoskopischer Figuren mit instantaner Beleuchtung 2 mm. quere Disparation der Netzhautbilder als das Maximum, bei welchem dieselben noch verschmolzen wurden, w\u00e4hrend dasselbe f\u00fcr Volkmann nur etwa Vs mm. betrug. Alle derartigen Zahlen gelten nur f\u00fcr die besonderen Bedingungen des Versuches. Sind die disparaten Netzhautbilder zweier Linien oder Punkte, welche haploskopisch vereinigt werden sollen, nicht ganz gleich, z. B. die eine Linie stellenweise unterbrochen oder mit einem Zeichen versehen, oder sind beide Linien oder Punkte von verschiedener Farbe, so werden sie leichter doppelt nebeneinander gesehen, wie Panum 1 und Volkmann (1. c.) gezeigt haben. Fig. 29 lehrt dies ebenfalls. \u2014\nGegen\u00fcber der Behauptung, dass man ein auf Deckstellen liegendes Nachbild unter Umst\u00e4nden doppelt sehen k\u00f6nne, hat Hering1 2 die schon oben erw\u00e4hnte Behauptung Joh. M\u00fcller\u2019s, dass dies nie der Fall \u00a3fei, ausf\u00fchrlich vertheidigt. Das auf den Netzhautmitten liegende Nachbild z. B. bleibt immer einfach, auch wenn man es nicht in den Blickpunkt localisirt. Man lege auf dieses Blatt eine kleine schwarze Scheibe und fixire ihren Mittelpunkt anhaltend. Dann mindere man die Convergenz der Gesichtslinien, als ob man ein hinter diesem Buche gelegenes Object fixiren wolle : man sieht dabei das einfache Nachbild auf der Schrift liegen, diese selbst freilich doppelt. Wenn z. B. die Gesichtslinien nach dem hinter dem Buche liegenden Punkte b (Fig. 30) convergiren, so erscheint gerade vor uns in der scheinbaren Entfernung des Papieres pp, d. h. ungef\u00e4hr in k, erstens das Wort w, auf welches die linke Gesichtslinie, zweitens das Wort w\u2018, auf welches die rechte Gesichtslinie gerichtet ist, und drittens das Nachbild. Die Buchstaben der beiden Worte liegen dabei mit einander im Wettstreite.\nFixirt man l\u00e4ngere Zeit ein verticales schwarzes Band auf einer weissen Wand aus grosser Entfernung, so bildet sich dies Band beiderseits sehr ann\u00e4hernd auf den mittlen L\u00e4ngsschnitten ab und erzeugt daselbst ein Nachbild. Blickt man nun mit dem linken Auge auf die Mitte eines nahe an\u2019s Gesicht gebrachten horizontalen kleinen Blattes, so scheint das Nachbild auf demselben nicht median gerade-\n1\tPanum, Das Sehen mit zwei Augen S. 64. Kiel 1858.\n2\tHering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie II. \u00a7 53.1862.\nHandbuch der Physiologie. Bd. III.\n28","page":433},{"file":"p0434.txt","language":"de","ocr_de":"434\nHering, Physiol. Optik IV. 8. Cap. Das Doppelsehen u. s. w.\naus, sondern etwas nach rechts zu verlaufen; fixirt man die Mitte des Blattes mit dem rechten Auge, so verl\u00e4uft das Nachbild etwas schr\u00e4ge nach links. Fixirt man aber die Mitte des Blattes mit beiden Augen zugleich, so verl\u00e4uft das Nachbild geradeaus und erscheint einfach auf der Durchschnittslinie der Medianebene und des Blattes. Achtet man nun zugleich auf die seitlichen R\u00e4nder des Blattes, so erkennt man, dass dieselben in schiefwinklig sich kreuzenden Doppelbildern erscheinen. Beim ein\u00e4ugigen Sehen bildet sich n\u00e4mlich das Blatt im linken Auge mit anderer perspectivischer Verzerrung ab als im rechten, und das Nachbild hat im linken Netzhautbilde zu den R\u00e4ndern des Blattes eine etwas andere relative Lage als im rechten Netzhautbilde. Entsprechend scheint uns, ein\u00e4ugig gesehen, das Nachbild eine verschiedene Lage auf dem Blatte zu haben, je nachdem wir mit dem linken oder mit dem rechten Auge sehen. Wir achten also dabei mehr auf die relative Lage des Nachbildes auf dem Blatte als auf seine absolute, d. h. seine Lage zur Medianebene.\nWheatstone, welcher zuerst festgestellt hat, dass man die Bilder disparater Stellen an demselben Orte sehen k\u00f6nne, zog daraus den Schluss, dass man auch umgekehrt die Bilder correspon-dirender Stellen nebeneinander sehen k\u00f6nne. Wundt l 2, Nagel \\ Helmholtz3 haben dem beigestimmt, Hering dagegen hat behauptet, es komme nie vor, dass man zwei auf Deckstellen liegende Bilder im Sehraume nebeneinander sehe; nur hintereinander, d. h. auf derselben Sehrichtungslinie k\u00f6nne man sie sehen.\nMan f\u00e4rbe ein steifes Blatt Papier zur rechten H\u00e4lfte roth, zur linken gr\u00fcn und mache auf die Mitte der geraden Grenzlinie beider Farben einen schwarzen Punkt. Dieses Blatt halte man so vors Gesicht, dass die Grenzlinie der Farben in die Mediauebene, und der schwarze Punkt, der als Fixationspunkt dient, in die H\u00f6he der Augen zu liegen kommt. Neigt man nun das Papier mit dem oberen Ende nach dem Gesichte, so sieht man die Grenzlinie einfach und der Wirklichkeit ann\u00e4hernd entsprechend geneigt, falls die Neigung des Papieres nicht zu stark ist und man nicht Uebung im Doppelsehen disparater Bilder hat. Das Analoge sieht man, wenn man die beiden perspectivisch verzogenen Zeichnungen eines solchen Blattes, wie sie Fig. 31 darstellt, haploskopisch vereinigt.\nWenn nun, sagt Helmholtz, die Fixationspunkte,/und fl auf\n1\tWundt, Ztschr. f. rat. Med. (3) XII. S. 227. 1861.\n2\tNagel, Das Sehen mit zwei Augen S. 78. 1861.\n3\tHelmholtz, Physiol. Optik S. 736.","page":434},{"file":"p0435.txt","language":"de","ocr_de":"Doppelsehen mit Deckstellen.\n435\ndie Netzhautcentren fallen, so werden auch je zwei gerade dar\u00fcber gelegene Punkte, wie z. B. die auf der Zeichnung Fig. 31 durch Kreuz-chen markirten, auf Deckstellen zu liegen kommen. Auf den zum Versuche benutzten farbigen Fl\u00e4chen sollen freilich diese beiden Punkte durch nichts von ihrer Umgebung verschieden sein. Sieht\ny \u0153\tc\n\u00dfcT\td\nFig. 31.\nman nun die Grenzlinien ab und cd als eine einfache und mit dem oberen Ende nach vorn geneigte Linie, so wird der durch das Kreuz-chen bezeichnete Punkt der gr\u00fcnen Halbfl\u00e4che nach links, der cor-respondirende Punkt der rothen Halbfl\u00e4che nach rechts von der Grenzlinie beider Fl\u00e4chen erscheinen, und die beiden Punkte werden also auf zwei verschiedenen Stellen des Sehfeldes gesehen, obwohl die entsprechenden Punkte der beiden Netzhautbilder auf Deckstellen liegen.\nWer im Unterscheiden disparater Bilder ge\u00fcbt ist, sieht freilich die Grenzlinie doppelt, wie es das Mittelbild der Fig. 31 darstellt, die beiden durch die Kreuzchen bezeichneten Punkte erscheinen ihm an demselben Orte im Sehfelde, und es zeigt sich daselbst wie \u00fcberhaupt in den beiden Dreiecken y cp a und \u00df q) d der Wettstreit der Farben oder eine Mischfarbe. Aber sofern Einer die Grenzlinie einfach sieht, trifft doch, so scheint es, die oben gemachte Auseinandersetzung von Helmholtz zu.\nIndess ist dies nur die eine der beiden hier m\u00f6glichen Auffassungen. Die andere ist die, dass beim Einfachsehen der Grenzlinie die den beiden Dreiecken a cp y und \u00df cp \u00f6 entsprechenden Empfindungen \u00fcberhaupt gar nicht ins Bewusstsein treten. Die scheinbare Lage der Dinge h\u00e4ngt von der scheinbaren Lage ihrer Umrisse ab, und die Empfindung oder Farbe, welche die Umrisse ausf\u00fcllt,\n28*","page":435},{"file":"p0436.txt","language":"de","ocr_de":"436\nHering, Physiol. Optik IV. 8. Cap. Das Doppelsehen u. s. w.\nfolgt stets der Lage der letzteren. Ein kreisf\u00f6rmiges Nachbild z. B. wird elliptisch, wenn es auf einer zur Blickebene stark geneigten Ebene gesehen wird u. s. f. Die Empfindung erweist sich bei den verschiedenen Auslegungen, welche ein Netzhautbild erhalten kann, dehnbar wie Kautschuk. So folgt auch die der Grenzlinie a \u00df nach rechts anliegende rothe und die der Grenzlinie y 6 nach links anliegende gr\u00fcne Empfindung dieser Grenzlinie in ihre durch die haplo-skopische Verschmelzung gegebene mediane Lage. Die den Dreiecken a \u00e7p y und \u00df cp d entsprechenden Theile des Netzhautbildes werden unterdr\u00fcckt, falls sie, wie hier angenommen wurde, ganz gleichartig sind und nichts Unterscheidbares, insbesondere keinerlei Punkte oder scharfe Conturen enthalten. Bringt man auf den farbigen Fl\u00e4chen, so wie auf Fig. 31, je ein Kreuzchen an, so sieht man bei der haploskopischen Verschmelzung ein einfaches Kreuzchen umgeben von der jeweiligen Mischfarbe, und wer dann bei fester Fixirung der Punkte f und f\u2018 die Grenzlinie noch einfach s\u00e4he, w\u00fcrde sie vor dem Kreuzchen sehen, als ob er das letztere durch eine geneigte Glasplatte s\u00e4he, die zur einen H\u00e4lfte aus rothem, zur andern aus gr\u00fcnem Glase besteht. Zwischen den beiden r\u00e4umlichen Auslegungen, welche ein solches Doppelnetzhautbild gestattet, n\u00e4mlich der stereoskopischen und der fl\u00e4chenhaften, findet beim Ge\u00fcbten h\u00e4ufig ein \u00e4hnlicher Wettstreit statt, wie der oben beschriebene zwischen den Conturen; bald tritt das nach der Dimension der Tiefe ausgedehnte einfache Bild ins Bewusstsein, bald wieder das fl\u00e4chenhafte doppelte.\nWelche der beiden hier er\u00f6rterten Auffassungen die richtige ist, muss dahin gestellt bleiben.\nEs bliebe uns \u00fcbrig, das Sehen von Bewegungen bei unbewegtem Blicke zu besprechen und endlich zu er\u00f6rtern, in wie weit die Localisirung, insbesondere betreffs der scheinbaren Ferne und Gr\u00f6sse, noch durch andere Motive bestimmt wird, als die oben dargelegten. Diese Er\u00f6rterungen aber werden zweckm\u00e4ssiger Weise im zweiten Abschnitte, welcher vom Sehen mit bewegtem Blicke handelt, am passenden Orte eingef\u00fcgt werden.\nDas Sehen mit unbewegten Augen ist im Grunde ein unnat\u00fcrlicher Zustand, den wir unserm Sehorgane nur zum Zwecke wissenschaftlicher Untersuchung abn\u00f6thigen; sonst pflegen unsere Augen nur dann still zu stehen, wenn unsere Aufmerksamkeit dem Gesichtssinne nicht zugewandt ist ; so oft wir wirklich sehen, bewegen wir auch fast immer die Augen.","page":436},{"file":"p0437.txt","language":"de","ocr_de":"ZWEITER ABSCHNITT.\nDas Sehen mit bewegten Augen.\nNEUNTES CAPITEL.\nDie Bewegungen des Blickpunktes.\nBeim gew\u00f6hnlichen Sehen \u00e4ndert der Blickpunkt fortw\u00e4hrend seine Lage; denn um die Aussendinge m\u00f6glichst vollst\u00e4ndig kennen zu lernen, betrachten wir nacheinander alle Einzeltheile derselben und suchen dieselben m\u00f6glichst scharf wahrzunehmen, was eben nur dadurch erreicht wird, dass wir ihre Bilder auf die beiden Netz-hautcentren bringen. Bei kleinen Objecten gen\u00fcgt hierzu die blosse Drehung der Aug\u00e4pfel in ihren H\u00f6hlen. Ist aber das betrachtete Aussending gr\u00f6sser, so ben\u00fctzen wir behufs der Bewegung des Blickpunktes auch Drehungen und Neigungen des Kopfes, weiterhin des Oberk\u00f6rpers, endlich sogar Ortsver\u00e4nderungen des ganzen K\u00f6rpers.\nSelten ruht unsere Aufmerksamkeit und damit unser Blick auch nur secundenlang auf einer Stelle, vielmehr springt sie von Punkt zu Punkt und ihren Spr\u00fcngen und Wanderungen folgt sklavisch der Blickpunkt, in dessen zweckentsprechender Bewegung wir vielleicht mehr Uebung haben, als in irgend welcher andern Bewegung, weil wir kein anderes Organ so anhaltend besch\u00e4ftigen, wie das Sehorgan.\nWenn wir nicht eben mit der Betrachtung eines Gegenstandes besch\u00e4ftigt sind, so stehen die Gesichtslinien fast immer nahezu symmetrisch zur Medianebene; die Convergenz der Gesichtslinien und die Neigung der Blickebene ist dabei je nach individueller Gewohnheit und nach anderen zuf\u00e4lligen Umst\u00e4nden verschieden. Wollen wir einen Gegenstand betrachten, so stellen wir uns ihm so gegen\u00fcber oder halten ihn so vors Gesicht, dass er symmetrisch zur Medianebene zu liegen kommt. Ist der Gegenstand fern, so drehen wir, je nachdem er \u00fcber oder unter der horizontalen Hauptebene","page":437},{"file":"p0438.txt","language":"de","ocr_de":"438 Hering, Physiol. Optik IY. 9. Cap. Die Bewegungen des Blickpunktes.\nliegt, den Kopf nach oben oder unten. Gegenst\u00e4nde, die wir mit der Hand halten, besehen wir mit etwas vorw\u00e4rts geneigtem Kopfe ; diese Haltung hat der Kopf insbesondere auch beim Lesen und Schreiben. Wird ein Object mit nach oben gewandtem Kopfe betrachtet, so bleibt die Blickebene nicht rechtwinklig zur Frontalebene des Kopfes, sondern ist auch relativ zum Kopfe gehoben; ist der Kopf im Interesse des Sehens nach unten gewandt, so ist auch die Blickebene relativ zum Kopfe gesenkt. Es ist also hierbei immer die Lage der Blickebene in Bezug auf die prim\u00e4re Blickebene in demselben Sinne ver\u00e4ndert, wie die Stellung des Kopfes in Bezug auf seine Prim\u00e4rstellung.\nIm Allgemeinen k\u00f6nnen wir zwei Hauptarten des Sehens unterscheiden, n\u00e4mlich das Fernsehen, wobei der Kopf durchschnittlich die Prim\u00e4rstellung einh\u00e4lt und die Gesichtslinien horizontal und parallel geradeaus gestellt sind, und das Nahesehen, wobei durchschnittlich der Kopf nach vorn geneigt und auch die Blickebene relativ zum Kopfe gesenkt ist, und die Gesichtslinien symmetrisch auf diejenige Entfernung convergiren, welche der individuellen mitt-len Blick- oder Sehweite entspricht, d. i. der Entfernung, aus der wir mittle Druckschrift oder andere kleine Objecte zu betrachten pflegen. Gesichtslinien und Blickpunkt haben also beim Fernsehen eine andere Mittellage als beim Nahesehen. Aus dieser Mittellage schweift der Blick nach allen Richtungen heraus, um immer wieder zu derselben zur\u00fcckzukehren.\nDie Bewegung des Blickpunktes aus der Mittellage erfolgt zun\u00e4chst durch Drehungen der Augen, dann des Kopfes, weiterhin des Oberk\u00f6rpers und schliesslich durch Drehungen und Ortsver\u00e4nderung des ganzen K\u00f6rpers. Liegt der Zielpunkt der Bewegung dem jeweiligen Blickpunkte sehr nahe, so bewegen sich allein -die Augen ; ist aber von vornherein eine gr\u00f6ssere Ortsver\u00e4nderung des Blickpunktes beabsichtigt, so beginnt gleichzeitig mit der Drehung der Augen auch eine des Kopfes, so dass die Bewegung des Blickpunktes die Resultirende beider Bewegungen ist. Kommt es uns darauf an, ein vom jeweiligen Blickpunkte erheblich Abliegendes rasch deutlich zu sehen, so beginnt auch die Drehung des Oberk\u00f6rpers gleichzeitig mit derjenigen der Augen und des Kopfes. Gleitet jedoch der Blick aus einer gegebenen Anfangslage entlang einer Geraden oder \u00fcberhaupt in gleichbleibender Richtung langsam vorw\u00e4rts, so dass der Blick Punkt f\u00fcr Punkt weiter schreitet, dann beginnt die Bewegung mit einer Drehung der Augen, darnach gesellt sich eine Drehung des Kopfes und schliesslich eine solche des K\u00f6rpers hinzu.","page":438},{"file":"p0439.txt","language":"de","ocr_de":"Begleitende Kopfbewegungen.\n439\nAus alledem ergiebt sich, dass es unter den gew\u00f6hnlichen Verh\u00e4ltnissen von der St\u00e4rke der Innervation abh\u00e4ngt, ob Kopf und K\u00f6rper mit bewegt werden. Die St\u00e4rke der Innervation ist um so gr\u00f6sser, erstens je weiter der Zielpunkt der Bewegung von der Mittellage abliegt, zweitens je gr\u00f6sser der Drang ist, das neue Ziel rasch mit dem Blicke zu erfassen. Setzt die Innervation gleich mit einer gewissen St\u00e4rke ein, so wird auch sofort der Kopf beziehungsweise der K\u00f6rper mitbewegt; entwickelt sie sich erst allm\u00e4hlich zu gr\u00f6sserer St\u00e4rke, so wird erst nachtr\u00e4glich der Kopf und der K\u00f6rper in die Bewegung einbezogen.\nWenn man mit der Cigarre oder einem Bleistift im Munde liest oder schreibt, und nur einigermaassen im indirecten Sehen ge\u00fcbt ist, so kann man, wie Donders1 erw\u00e4hnt, jede die Blickbewegungen begleitende Kopfbewegung sehr leicht beobachten ; denn die Doppelbilder des Bleistiftes bleiben unbewegt, so lange nur die Augen sich bewegen, verschieben sich aber relativ zur Schrift, sobald der Kopf die kleinste Bewegung macht. Man erkennt dann, dass -man beim Lesen nur sehr kleine Blickbewegungen nicht mit dem Kopfe begleitet. Beim Schreiben, wobei man von Zeit zu Zeit die Hand weiter schieben muss, tritt gew\u00f6hnlich bei jeder solchen Verschiebung gleichzeitig eine Drehung des Kopfes ein. Der Antheil, den beim Nahesehen die Kopfbewegung an der Blickbewegung nimmt, ist nach allen Richtungen aus der Mittellage ungef\u00e4hr derselbe.\nHat man den Kopf auf die Hand gest\u00fctzt, so nimmt derselbe an der Blickbewegung viel weniger Antheil; man f\u00fchlt dann jede Kopfbewegung an der Stirn- und Handfl\u00e4che.\nViel besser als an sich selbst macht man \u00fcbrigens derlei Beobachtungen an Andern, die nicht wissen, dass sie beobachtet werden. Man findet dabei mancherlei individuelle Verschiedenheiten.\nRitzmann 2 hat auf Anregung von Donders mit H\u00fclfe eines mit den Z\u00e4hnen festgehaltenen Visirzeichens (s. u.) messende Versuche \u00fcber den verh\u00e4ltnissm\u00e4ssigen Antheil der Kopfbewegung an der Blickbewegung angestellt, doch hatte seine Methode den Nachtheil, dass der Beobachter zugleich das Object der Beobachtung war, wobei, wie auch Ritzmann selbst hervorhebt, die Blickbewegungen leicht unnat\u00fcrlich werden. Man m\u00fcsste f\u00fcr solche Messungen, wenn sie reine Resultate geben sollten, eine Methode ausfindig machen, bei welcher die Versuchsperson gar nicht weiss, worum es sich han-\n1\tDonders, Arch. f. d. ges. Physiol. XIII. S. 399. 1876.\n2\tRitzmann, Arch. f. Ophthalmologie XXL (1) S. 131. 1875.","page":439},{"file":"p0440.txt","language":"de","ocr_de":"440 Hering, Physiol. Optik IY. 9. Cap. Die Bewegungen des Blickpunktes.\ndelt and auch nicht den Messapparat im Munde halten muss, wie dies bei Ritzmann\u2019s Methode der Fall ist.\nImmerhin stimmten die Ergebnisse von Ritzmann im Allgemeinen gut mit dem, was die unmittelbare Beobachtung an Andern lehrt, und sie sind bisher die einzigen in Zahlen ausgedr\u00fcckten. Er fand, dass die Kopfdrehungen der Entfernung der beiden Blickpunkte ann\u00e4hernd proportional Zunahmen, dass die Kopfbewegungen schon bei den kleinsten Blickbewegungen auftraten, und dass die Betheiligung des Kopfes nicht nach allen Richtungen gleich gross war, am kleinsten bei der Blickbewegung nach unten. In Bezug auf letzteren Punkt ist aber zu betonen,, dass Ritzmann ein verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig fernes Gesichtsfeld benutzte und dabei, wie es scheint, nur mit einem Auge beobachtete, was, wie aus dem Folgenden hervorgehen wird, zu anderen Ergebnissen f\u00fchren muss, als die Untersuchung beimBinocularsehen.\nRitzmann\u2019s 1 Methode war folgende : \u201e An einem mit Gebissabguss versehenen Mundst\u00fcck ragt ein leichtes Holzst\u00e4bchen in der Richtung der\nAxe des einen \u2014 hier des rechten \u2014 Auges nach vorn und ist hier so nach oben abgebogen, dass sein Endpunkt in die H\u00f6he des Auges, also in die verl\u00e4ngerte Axe selbst f\u00e4llt (siehe Figur 32). Dieses Ende ist das feste Visir(F). Von ihm geht senkrecht auf die Yisiraxe ein St\u00fcck Kreisbogen aus Aluminium (A /) aus, auf der concaven Fl\u00e4che in Grade ein-getheilt, ca. 50\u00b0 lang. Das Centrum, von dem aus dieser Kreis beschrieben ist, liegt \u00fcber dem hinteren Ende des St\u00e4bchens, und f\u00e4llt bei richtiger, f\u00fcr jeden Untersucher erst zu bewerkstelligender Einstellung in den Drehpunkt des betreffenden visirenden Auges. Der Bogen entspricht daher einem durch den Fixir-punkt gehenden Meridiane des kug-lig gedachten Blickfeldes, und zwar, da er um V drehbar ist, jedem beliebigen. Indem man nun den Aluminiumbogen auf den secund\u00e4r fixirten Punkt einstellt, und die diesem entsprechende Gradzahl abliest, hat man ein Maass f\u00fcr die directe m\u00e9ridionale Entfernung dieses Punktes von dem dem festen Visir entsprechenden Punkte des Raumes. Jene Zahl giebt n\u00e4mlich den Winkel an, um den sich das Auge drehen musste, um von einem zum andern zu gelangen. Der Winkel des Aluminiumbogens mit der Horizontalen, d. h. die Neigung des beide Punkte verbindenden Meridians gegen den Horizont, wird durch einen kleinen Zeiger auf einem\nFig. 32.\n1 Ritzmann, Arch. f. Ophthalmologie XXL 1. S. 133.1875.","page":440},{"file":"p0441.txt","language":"de","ocr_de":"Convergenz und Senkung der Blickebene.\n441\nGradbogen (G) angegeben. Durch diese beiden Werthe ist jeder Punkt in Bezug auf einen andern eindeutig bestimmt.\u201c\nWir haben bisher den Fall nicht besonders ber\u00fccksichtigt, wo der Blick von einem n\u00e4heren zu einem ferneren Punkte \u00fcbergeht oder umgekehrt. Sehr selten wird es dabei Vorkommen, dass beide Punkte in der Durchschnittslinie der Medianebene und der Blickebene, d. i. der Medianlinie, oder bei seitlich gerichtetem Blicke auf der ungef\u00e4hren Halbirungslinie des Convergenzwinkels der Gesichtslinien liegen. In solchem Falle w\u00fcrde eine blosse Mehrung oder Minderung der Convergenz der Gesichtslinien zur Ausf\u00fchrung der n\u00f6thigen Blickbewegung gen\u00fcgen und keine Veranlassung zu begleitender Kopfbewegung sein. In den weitaus meisten F\u00e4llen aber liegt der n\u00e4here oder fernere Punkt zugleich auch \u00fcber oder unter der augenblicklichen Blickebene, weil die Aussendinge meist auf einer Ebene angeordnet sind, die entweder horizontal oder m\u00e4ssig zur Horizontalen geneigt ist. Deshalb gesellt sich zur Mehrung der Convergenz meist auch eine weitere Senkung der Blickebene, und wenn der Zielpunkt der Bewegung seitw\u00e4rts liegt, auch eine Wendung der Gesichtslinie nach rechts oder links. So verbinden sich mit gewissen Convergenzgraden gewisse Neigungen der Blickebene relativ zum Kopfe und gewisse Stellungen des letzteren, und wenn, wie z. B. beim Lesen w\u00e4hrend des Biegens, diese gewohnten Bewegungscom-binationen nicht anwendbar sind, sondern durch andere ersetzt werden m\u00fcssen, so f\u00fchlen wir uns gest\u00f6rt und angestrengt.\nDie Linie, welche den Drehpunkt des Auges mit dem fixirten Punkte verbindet, ist von Helmholtz als Blicklinie benannt worden. Da jedoch, wie wir im folgenden Capitel sehen werden, streng genommen ein constanter Drehpunkt nicht nachgewiesen ist, und derselbe von den Einen auf der Hauptvisirlinie, von Anderen auf der Hornhautaxe angenommen wird, so erscheint es f\u00fcr jetzt gen\u00fcgend gerechtfertigt, wenn man kurzweg die Gesichtslinie zugleich als Tr\u00e4ger des Drehpunktes ansieht.1\nDie Stellung, welche die Gesichtslinien haben, wenn man bei der im n\u00e4chsten Capitel zu definirenden Prim\u00e4rstellung des Kopfes horizontal geradaus in die Ferne sieht, heisst die Prim\u00e4rstellung der Gesichtslinien und der Punkt des Gesichtsfeldes, auf welchen eine oder beide Gesichtslinien in der Prim\u00e4rstellung gerichtet sind, der prim\u00e4re Fixations- oder Blickpunkt.\n1 Dem entsprechend haben wir auch im Obigen nicht die durch die beiden Hauptvisirlinien gehende Ebene als ,,Yisirebene\u201c von der Blickebene als der durch die beiden ..Blicklinien\u201c gelegten Ebene unterschieden, sondern die durch die beiden Gesichtslinien gehende Ebene die Blickebene genannt.","page":441},{"file":"p0442.txt","language":"de","ocr_de":"442 Heking, Physiol. Optik IY. 9. Cap. Die Bewegungen des Blickpunktes.\nDenkt man sich bei fixirtem Kopfe die Gesichtslinie eines Auges aus der Prim\u00e4rstellung in allen durch letztere gehenden Bahnebenen m\u00f6glichst weit abgelenkt, so werden alle diese Grenzlagen der Gesichtslinie in ihrer Gesammtheit eine unregelm\u00e4ssige Kegelfl\u00e4che darstellen, deren Spitze im Drehpunkte liegt. Der von dieser Kegelfl\u00e4che umschlossene Raum ist der Bewegungsraum der bez\u00fcglichen Gesichtslinie. Denkt man sich ferner in beliebiger Entfernung vom Auge eine, die Prim\u00e4rstellung der Gesichtslinie senkrecht durchschneidende Ebene, so wird dieselbe die genannte Kegelfl\u00e4che in einer krummen Linie durchschneiden, welche die Grenze darstellt, bis zu welcher allerseits die Gesichtslinie des bez\u00fcglichen Auges in diesem ebenen Gesichtsfelde bewegt werden kann. Die von dieser krummen Linie umschlossene Fl\u00e4che des ebenen Gesichtsfeldes ist das Bewegungsfeld der bez\u00fcglichen Gesichtslinie. Denkt man sich ein sph\u00e4risches Gesichtsfeld, dessen Kr\u00fcmmungsmittelpunkt im Drehpunkte liegt, so erh\u00e4lt man entsprechend ein sph\u00e4risch gekr\u00fcmmtes Bewegungsfeld.\nNach Helmholtz 1 betr\u00e4gt die st\u00e4rkste ihm m\u00f6gliche Ablenkung der Gesichtslinie nach rechts oder links 50\u00b0, nach oben oder unten etwa 45\u00b0.\nGanz andere Zahlen f\u00fcr die Ablenkung nach oben und unten ergeben sich jedoch aus der Abbildung (Fig. 33), welche Helmholtz von der Form\nFig. 33.\tFig. 34.\nder ebenen Bewegungsfelder seiner beiden Gesichtslinien gegeben hat. Beide Felder sind \u00fcbereinandergelegt, sodass die prim\u00e4ren Punkte der-\n1 Helmholtz, Physiol. Optik S. 459.","page":442},{"file":"p0443.txt","language":"de","ocr_de":"Bewegungsfeld der Gesichtslinie.\n443\nselben sich decken; letztere entsprechen in der Figur der Spitze des Pfeiles. Die L\u00e4nge des Pfeiles entspricht dem angenommenen Abstande des Drehpunktes vom Bewegungsfelde. Nach unten hin ist das Bewegungsfeld jeder Gesichtslinie auf der inneren Seite eingeengt durch die hervortretende Nase b, b; was vom Nasenr\u00fccken noch fixirt werden kann, ist durch Schattirungen angedeutet.\nSchuurmann1 gab als Mittelwerthe f\u00fcr die maximalen Ablenkungen der Gesichtslinie emmetropischer Augen nach innen 45 \u00b0, nach aussen 42\u00b0, nach oben 34\u00b0, nach unten 57\u00b0; f\u00fcr Myopen erwies sich die Excursionsf\u00e4higkeit um so geringer, je st\u00e4rker die Myopie war, im Mittel nach innen 41 \u00b0, nach aussen 38\u00b0; f\u00fcr Hypermetropen nach innen 47 \u00b0, nach aussen 38 \u00b0. Doch ist zu bemerken, dass nicht die Prim\u00e4rstellung, sondern nur eine horizontal geradaus gerichtete Stellung der Gesichtslinie als deren Mittellage angenommen war.\nVolkmann2 3 4 5, welcher nach der unten zu beschreibenden Methode von Hering untersuchte, fand als Mittel aus den Versuchsergebnissen an 3 Personen (W. Volkmann, R. Heidenhain u. 0. Nasse) folgende Werthe:\nnach oben 350 nach innen 42 0 nach innen u. oben 380 nach aussen u. oben 380\nnach unten 500 nach aussen 38\u00b0 nach innen und unten 44 0 nach aussen u. unten 46 0\nDie Mittellage war auch hier nicht nothwendig die Prim\u00e4rstellung. Dasselbe gilt wohl auch von Aubert\u2019s 3 Messungen an seinem rechten Auge, welche ergaben:\nnach oben 300\tnach unten 570\nnach innen 44\u00b0\tnach aussen 38\u00b0\nK\u00fcster 4 fand aus der Prim\u00e4rstellung n. i. 45 \u00b0, n. a. 43 \u00b0, n. o. 33\u00b0, n. u. 43 und 44 \u00b0.\nHering 5 giebt f\u00fcr die maximalen Ablenkungen seiner Gesichtslinien aus der Prim\u00e4rstellung folgende Zahlen:\nlinkes\trechtes\tAuge\nnach oben\t20 0\t20 0\nnach unten\t62 0\t59 0\nnach innen\t440\t46 0\nnach aussen\t430\t43 o\n1\tSchuurmann, Vergelijkend onderzoek. der bewegingen van het oog. Utrecht 1863. Dies Cit\u00e2t ist entnommen dem Handb. d.ges. Augenheilk. HI. l.Th. S. 233. Betreffs der von Schuurmann angewandten Methode muss auf das uns nicht zug\u00e4ngliche Original verwiesen werden.\n2\tA.W. Volkmann,Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. Mathem.-physik. Cl. S. 62.6. Febr.\n1869.\n3\tAubert, Handb. d. ges. Augenheilk. II. 2. Th. S. 593. 1876.\n4\tK\u00fcster, Arch. f. Ophthalmologie XXII. (1) S. 174. 1876.\n5\tHering, Die Lehre vom binocularen Sehen S. 44. 1868.","page":443},{"file":"p0444.txt","language":"de","ocr_de":"444 Hering, Physiol. Optik IV. 9. Cap. Die Bewegungen des Blickpunktes.\nEr untersuchte nach folgender Methode: \u201eParallel zu den Verbindungslinien der Knotenpunkte wird eine vertikale Glastafel aufgestellt und auf derselben werden mit dickfl\u00fcssiger Tusche oder Oel-farbe die beiden Punkte markirt, in welchen die (in der Prim\u00e4rstellung befindlichen) horizontalen Gesichtslinien die Glastafel durchschneiden. Hinter der Glastafel ist auf einem farbigen Grunde eine zum Grunde ungef\u00e4hr complement\u00e4r gef\u00e4rbte kleine Scheibe oder Oblate angebracht, f\u00fcr Normalsichtige an einer m\u00f6glichst weit entfernten Wand, f\u00fcr Kurzsichtige im Fernpunkte ihrer Augen. Diese Scheibe wird fest fixirt, so dass man ein dauerhaftes Nachbild von derselben bekommt; dann l\u00e4sst man den Blick auf der fernen Wand in beliebiger Richtung so weit wandern, bis er nicht mehr weiter kann und das Nachbild auf der Wand stehen bleibt. In diesem Momente mar-kirt man wieder auf der Glastafel den Punkt, in welchem sie von der Gesichtslinie durchschnitten wird. Dann kehrt man wieder zur farbigen Scheibe zur\u00fcck, frischt das Nachbild auf und l\u00e4sst nun die Gesichtslinie in einer anderen Richtung bis an die Grenze ihres Spielraumes wandern u. s. f. Auf diese Weise bekommt man auf der Glastafel eine Reihe von Punkten, welche man zu einer Curve verbindet, die den vertikalen Durchschnitt der Kegelfl\u00e4che darstellt, von welcher der Spielraum der Gesichtslinie begrenzt wird. Nachdem man diese Curve f\u00fcr beide Augen erhalten hat, l\u00e4sst sich aus ihr und aus der Entfernung der Glastafel vom Drehpunkte der Augen der Winkel finden, um welchen die Gesichtslinie in einer beliebigen Richtung aus der Prim\u00e4rstellung abweichen kann. Das Nachbild ist unentbehrlich, weil man sonst keine Contr\u00f4le dar\u00fcber hat, ob die Gesichtslinie wirklich auf den Punkt, welchen man zu fixiren glaubt, eingestellt ist; man t\u00e4uscht sich in dieser Beziehung bei starker Wendung des Auges sehr leicht.\u201c Die auf der Glastafel von Hering verzeichneten Curven sind in Fig. 35 verkleinert wiedergegeben, die unterbrochene Curve geh\u00f6rt dem rechten, die ausgezogene dem linken Auge an; die Linie zwischen Fig. 35 u. 36 stellt den in demselben Verh\u00e4ltnisse verkleinerten Abstand der Glastafel von den Drehpunkten dar, l und r sind die Punkte, in welchen die linke und die rechte Gesichtslinie in der Prim\u00e4rstellung die Glastafel durchschnitten. Nach innen und unten wird die Curve von dem Contour der Nase gebildet. Denkt man sich eine zur Prim\u00e4rstellung der Gesichtslinien verticale sehr entfernte Ebene und auf derselben f\u00fcr jedes Auge das Gebiet verzeichnet, innerhalb dessen die Gesichtslinie auf jener Ebene sich bewegen kann, so haben diese beiden unocularen Bewegungsfelder in der Verkleinerung die in Fig. 34 (S. 442) ange-","page":444},{"file":"p0445.txt","language":"de","ocr_de":"Binocularer Blickraum.\n445\ngebene gegenseitige Lage. Die Punkte r und I (Fig. 35) sind hier in einen Punkt m zusammengefallen, welcher den sehr fernen Fixationspunkt darstellt. Die Figur zeigt ebenso wie die Nebenfigur 33 von Helmholtz, dass das eine Auge auf Punkte eingestellt werden\nFig. 35.\tFig. 36.\nkann, die das andere Auge nicht fixiren kann: die beiden unocu-laren Bewegungsfelder decken sich nicht. Diejenigen Theile, auf welche sich nur das linke Auge einstellen kann, sind vertical schraf-firt und mit l bezeichnet, die nur dem rechten Auge zug\u00e4nglichen horizontal schraffirt und mit r bezeichnet.\nNicht auf jeden Punkt des Aussenraumes, auf den jede Gesichtslinie f\u00fcr sich gerichtet werden kann, lassen sich beide Gesichtslinien zugleich richten, und der Spielraum des binocularen Blickpunktes, d. h. der binoc ul are Blickraum ist viel kleiner als der den beiden Bewegungsr\u00e4umen der Gesichtslinien gemeinschaftliche Baum. Am deutlichsten zeigt sich dies, wenn die Blickebene erheblich gesenkt und zugleich ein fernes Object betrachtet wird; man \u00fcberzeugt sich dabei leicht, dass das Einfachsehen immer schwieriger wird und immer leichter gleichseitige Doppelbilder der fernen Objecte auftreten, weil die Gesichtslinien unwillk\u00fcrlich mehr u. mehr convergiren. Um ferne, nach unten liegende Gesichtsobjecte zu erhalten, benutzt man zweckm\u00e4ssig einen mehr oder weniger tiefgehaltenen horizontalen oder wenig zur Horizontalebene geneigten Spiegel, welcher ferne \u00fcber oder an dem Horizonte gelegene Dinge spiegelt. Man befestige den Kopf und den Spiegel, blicke mit dem linken Auge nach dem erheblich unter dem Horizonte in der N\u00e4he der Medianebene erscheinenden Spiegelbilde eines fernen Objects und","page":445},{"file":"p0446.txt","language":"de","ocr_de":"446 Hering, Physiol. Optik IY. 9. Cap. Die Bewegungen des Blickpunktes.\nmarkire mit Tinte oder sonstwie den Punkt, wo jetzt die Gesichtslinie den Spiegel durchschneidet. Dann betrachte man denselben Punkt des Spiegelbildes mit dem rechten Auge und markire den Durchschnittspunkt der rechten Gesichtslinie mit der Spiegelebene. Blickt man nun mit beiden Augen zugleich nach dem fernen Spiegelbilde, so wird man es doppelt sehen und die beiden Marken werden sich nicht binocular decken. Gleichwohl kann man jede Marke f\u00fcr sich binocular fixiren : Beweis, dass jede Gesichtslinie sehr wohl auf jeden der beiden Punkte eingestellt werden kann, wenn die andere mit ihr convergirt, nicht aber wenn dieselbe mit ihr parallel ist.\nLegt man durch den binocularen Blickraum eine zur prim\u00e4ren Blickebene und zur Medianebene senkrechte Ebene, so giebt der Durchschnitt ein binocularesBlickfeld, da je nach der Entfernung, in welcher es von den Augen liegt, eine verschiedene Gestalt hat. In Fig. 36 (S. 445) hat Hering das binoculare Blickfeld seiner beiden in die Ferne sehenden Augen, in demselben Verh\u00e4ltniss verkleinert, in dasjenige Feld eingezeichnet, welches jeder von beiden Gesichtslinien beim ein\u00e4ugigen Sehen zug\u00e4nglich ist. Man sieht, wie klein hier das binoculare Blickfeld im Vergleich zum gemeinsamen Bewegungsfelde beider Gesichtslinien ist. Die Figur hat aber selbstverst\u00e4ndlich nur individuelle Bedeutung.\nAuch beim Nahesehen ist, wie Hering gezeigt hat, das binoculare Blickfeld viel kleiner als das Feld, welches den in derselben Entfernung gef\u00fchrten Durchschnitt des Raumes darstellt, der jeder von beiden Gesichtslinien f\u00fcr sich zug\u00e4nglich ist. Man braucht nur ein kleines Object nahe vor dem Gesichte umherzubewegen und es mit dem Blicke zu verfolgen, so wird man es schon doppelt sehen, wenn es noch erheblich von der Grenze desjenigen Gebietes absteht, welches den Spielr\u00e4umen beider Gesichtslinien gemeinsam ist, in Lagen also, in welchen jedes einzelne Auge es noch bequem fixiren kann. Bringt man bei gehobener Blickebene ein in der Medianebene gelegenes Object den Augen so nahe, dass die binoculare Fixirung desselben schon M\u00fche macht und das Gef\u00fchl starker Anstrengung im Auge hervorruft, und schliesst dann ein Auge, so wird man bemerken, dass es gar keine Anstrengung kostet, die Gesichtslinie des offenen Auges auf das Object einzustellen, und zwar gleichviel welches Auge das offene ist. N\u00e4hert man das Object noch mehr, so zerf\u00e4llt es in ungleichseitige Doppelbilder, obwohl auch jetzt noch die Gesichtslinie jedes einzelnen Auges auf dasselbe eingestellt werden kann, sobald das andere Auge geschlossen wird.\nAus der Prim\u00e4rstellung kann, wie die oben mitgetheilten An-","page":446},{"file":"p0447.txt","language":"de","ocr_de":"Beschr\u00e4nktheit des binocularen Blickraumes.\n447\ngaben lehren, die Gesichtslinie des emmetropischen Auges um beil\u00e4ufig einen halben rechten Winkel einw\u00e4rts gewandt werden. K\u00f6nnten beide Gesichtslinien gleichzeitig so weit einw\u00e4rts gedreht werden, so m\u00fcssten sie sich in einem Punkte der prim\u00e4ren Blickebene durch-schneiden, welcher nur um die halbe Distanz der Augen, d. i. um 30\u201435 mm. von der Verbindungslinie beider Drehpunkte der Augen entfernt w\u00e4re und also ganz dicht vor der Nasenwurzel l\u00e4ge. Die dazu n\u00f6thige Convergenz ist jedoch emmetropischen Augen nicht m\u00f6glich.\nMessungen der st\u00e4rksten m\u00f6glichen Convergenzgrade sind deshalb schwer anzustellen, weil hierbei die Erm\u00fcdung sich fast noch rascher bemerkbar macht, als bei den st\u00e4rksten Wendungen der Gesichtslinien beim ein\u00e4ugigen Sehen. Ferner ist dabei zu bedenken, dass das Maximum der Convergenz bei verschiedenen Neigungen der Blickebene \u2018zum Kopf verschieden ist, bei Hebung derselben ab-, bei Senkung zunimmt.\nDen Grund f\u00fcr die Einschr\u00e4nkung des binocularen Blickraumes im Vergleich zu dem Raume, welcher beiden Gesichtslinien beim ein\u00e4ugigen Sehen zug\u00e4ngig ist, findet Hering1 2 theils in der Unm\u00f6glichkeit, die entsprechenden (ungewohnten) Innervationen aufzubringen, theils in mechanischen Ursachen, welche darin liegen, dass das Auge bei einer und derselben Stellung der Gesichtslinie relativ zum Kopfe beim Nahsehen durch eine etwas andere Muskelth\u00e4tigkeit in seiner Lage gehalten wird, als wie beim Fernsehen (s. u.).\nWenn man das Excursionsverm\u00f6gen der Gesichtslinien auf einem in mittler Blick- oder Sehweite (12\") befindlichen, der Frontalebene ungef\u00e4hr parallelen Gesichtsfelde bestimmt, indem man auf demselben, wie dies Schneller 2 that, kleine Druckschrift aus der prim\u00e4ren Lage bis dahin verschiebt, wo eben noch die Buchstaben derselben erkannt werden, so findet man bei Emmetropen, dass das binoculare Blickfeld dem gemeinsamen Theile der beiden unocularen Blickfelder nahezu entspricht. Es ist dies deshalb von vornherein zu erwarten, weil die Innervationen, welche nothwendig sind, um die benutzten Buchstaben direct und scharf zu sehen, beim ein\u00e4ugigen Sehen dieselben sind, wie beim doppel\u00e4ugigen, sodass also jeder Grund f\u00fcr die relative Einschr\u00e4nkung des binocularen Blickfeldes wegf\u00e4llt. Aus der Unkenntniss dieses Umstandes erkl\u00e4ren sich einige Einw\u00fcrfe, welche gegen die Angaben Hering\u2019s \u00fcber die relative Gr\u00f6sse des binocularen Blickraumes erhoben worden sind. \u2014\nDie Geschwindigkeit der Bewegungen des Blickes hat Lamansky3 unter der Leitung von Helmholtz untersucht. Wenn das Auge w\u00e4h-\n1\tHering 1. c. S. 47.\n2\tSchneller, Arch. f. Ophthalmologie XXI. (3) S. 133. 1875.\n3\tLamansky, Arch. f. d. ges. Physiol. IL S. 418. 1869.","page":447},{"file":"p0448.txt","language":"de","ocr_de":"448 Hering, Physiol. Optik IY. 9. Cap. Die Bewegungen des Blickpunktes.\nrend seiner Bewegung der Reizung durch ein kleines intermittirendes Licht ausgesetzt wird, so wird die Zahl der hierbei gesehenen Nachbilder abh\u00e4ngen von der Zeit, in welcher die einzelnen Lichtreize nacheinander folgen, sowie von der Geschwindigkeit, mit welcher das Auge seinen Weg zur\u00fccklegt. Demnach suchte Lamansky aus der Zahl der Nachbilder, welche er erhielt, w\u00e4hrend er mit dem Auge eine bestimmte Bewegung ausf\u00fchrte und auf dasselbe eine Reihe in bestimmten Zeitintervallen sich folgender Lichtreize einwirken liess, die Winkelgeschwindigkeit der Bewegung der Gesichtslinie zu ermitteln. Als Blickfeld diente ein schwarzer Schirm, \u00fcber dessen Entfernung Lamansky nichts angegeben hat. Auf demselben bildeten zwei Marken den Anfang und das Ende der Blickbahn. Die Zeit zwischen je zwei Lichtreizen betrug 0,00477\". Der Kopf war fixirt.\nDie gr\u00f6sste Winkelgeschwindigkeit, etwa 4 mal 360\u00b0 in der Se-cunde, wurde f\u00fcr die Bewegungen in horizontaler Bahn gefunden, sowohl bei aufrechtem als bei vor- oder r\u00fcckw\u00e4rts geneigtem Kopfe. F\u00fcr die verticale Bahn war die Geschwindigkeit nahezu dieselbe. Kleinere Werthe ergaben sich f\u00fcr die schr\u00e4gen Blickbahnen (etwa 3\u20143,5mal 360\u00b0 in der Secunde).\nDie Zeit, welche zu einer Blickbewegung n\u00f6thig ist, und welche ausser der eigentlichen Bewegung des Augapfels auch die verschiedenen dabei in Betracht kommenden psychischen Processe in sich schliesst, hat Volkmann 1 in folgender Weise zu bestimmen versucht. Er \u201efixirte abwechselnd zwei Stecknadeln, welche in verschiedenen Richtungen und Entfernungen vom Auge aufgestellt waren, und pr\u00fcfte, wie oft er in der Zeit von Va Minute oder 1800 Tertien den Blick ver\u00e4ndern konnte. \u201c Mittels Division dieser Zeit durch die Zahl der Bewegungen erhielt er die Dauer einer Bewegung in Tertien. Die allgemeinen Ergebnisse seiner Untersuchung waren:\n1)\t\u201e Die Augenbewegungen sind unter allen Umst\u00e4nden sehr viel langsamer als die Fingerbewegungen eines ge\u00fcbten Clavierspielers.\n2)\tBei gleicher Entfernung der Objecte und unver\u00e4nderter Stellung der Ebene, in welcher sie liegen, w\u00e4chst die Schnelligkeit der Augenbewegungen mit der Verkleinerung des zu beschreibenden Winkels, ausgenommen, wenn die Gr\u00f6sse des letzteren unter 7\u00b0 f\u00e4llt, wo dann die Beschleunigung der Bewegung aufh\u00f6rt.\n3)\tDie Lage der Ebene, in welcher die gleich weit entfernten Objecte liegen, hat Einfluss auf die Dauer der Bewegung, indem\n1 Volkmann, Wagner\u2019s Handw\u00f6rterb. d. Physiol. III. 1. S. 276. 1846.","page":448},{"file":"p0449.txt","language":"de","ocr_de":"Geschwindigkeit der Blickbewegung.\n449\ng\u2019leichgrosse Bewegungen am schnellsten in einer lothrechten, langsamer in einer horizontalen oder schiefen Ebene ausgef\u00fchrt werden.\n4)\tBewegungen, an welchen beide Augen Theil nehmen, verlangen betr\u00e4chtlich mehr Zeit, als Bewegungen nur eines Auges (wahrscheinlich, weil die Kreuzung der Sehaxen nicht gleich zu finden ist).\n5)\tMit zunehmender Gr\u00f6sse der Bewegung w\u00e4chst die Dauer derselben in schnellerer Progression, wenn beide Augen beim Sehen betheiligt sind, als wenn nur eines benutzt wird.\n6)\tUngleiche Entfernung der abwechselnd fixirten Objecte hat einen bedeutend retardirenden Einfluss auf die Augenbewegungen. \u201c\nDie ausf\u00fchrlichen von Volkmann mitgetheilten Tabellen gestatten keinen Auszug. Durchschnittlich bedurfte derselbe zu einer Blickbewegung etwa eine halbe Secunde. Die Winkelgr\u00f6sse der Bewegung war dabei von verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig geringem Einfluss, woraus sich schliessen l\u00e4sst, dass ein grosser Theil der verbrauchten Zeit durch die psychischen Processe in Anspruch genommen wurde, nicht durch die eigentliche Bewegung.\nUeber die Geschwindigkeit, mit welcher durch Ver\u00e4nderungen des Convergenzwinkels der Gesichtslinien der Blickpunkt gen\u00e4hert oder entfernt wird, liegt ferner die Angabe Hering\u2019s vor, dass er die N\u00e4herung des binocularen Blickpunktes viel rascher ausf\u00fchren k\u00f6nne als dessen Fernerung.\nMit der N\u00e4herung oder Fernerung des Blickpunktes associirt sich, wie im Cap. XI n\u00e4her zu er\u00f6rtern ist, die Accommodation f\u00fcr die N\u00e4he oder Ferne und die Verengerung oder Erweiterung der Pupille. Ueber die Geschwindigkeit dieser Binnenbewegungen des Auges sind von Volkmann, Vierordt und Donders Untersuchungen angestellt worden.\nVolkmann 1 fixirte mit einem Auge durch zwei Kartenlocher von 2 mm. Distanz abwechselnd zwei Stecknadeln, deren eine 6, die andere 11 Zoll vom Auge entfernt war, und konnte so in Zeit von einer halben Minute 20 Accommodationsbewegungen ausf\u00fchren, wobei ihm das Verschwinden der Diplopie als Kriterium der genauen Accommodation diente.\nVierordt1 2 maass mit H\u00fclfe eines Hipp\u2019schen Chronoskops die Zeit, welche verging, wenn er von der ein\u00e4ugigen Betrachtung eines scharf gesehenen 18 Meter entfernten Objectes zur Betrachtung eines n\u00e4heren in derselben Richtung gelegenen weissen Fadens (oder urn-\n1\tVolkmann 1. c. S. 309.\n2\tVierordt, Grundriss der Physiologie S. 425. 1877.\nHandbuch der Physiologie. Bd. III.\t29","page":449},{"file":"p0450.txt","language":"de","ocr_de":"450 Hering, Physiol. Optik IV. 9. Cap. Die Bewegungen des Blickpunktes.\ngekehrt) \u00fcberging und das v\u00f6llige Verschwinden der anfangs auftretenden Zerstreuungskreise abwartete.\nAbstand des\nnahen Objectes vom Auge in Ctm.\n10\n11\n12\n14\n16\n22\n28\n34\n40\n52\n64\nZeiten in Secunden f\u00fcr die Accommodation.\t\nFern auf Nab. Nab auf Fern.\t\n1,18\t0,84\n0,94\t0,66\n0,83\t0,57\n0,77\t0,52\n0,64\t0,46\n0,60\t0,44\n0,49\t0,39\n0,43\t0,37\n0,30\t0,29\n0,24\t0,22\n0,20\t0,15\nDie Accommodation von Nah auf Fern geschah mithin viel schneller als die von Fern auf Nah.\nBetreffs der, die Accommodations\u00e4nderungen begleitenden Pupillen\u00e4nderungen fand Donders 1, dass die ersteren den letzteren etwas vorausgehen, und dass er durch abwechselndes Accommodiren f\u00fcr Nah und Fern bis dreissigmal in der Minute die Pupille \u201ezu starker Contraction und Dilatation bringen konnte. \u201c \u2014\nBei seinen Untersuchungen \u00fcber die Geschwindigkeit der Blickbewegung erhielt Lamansky auch Aufschl\u00fcsse \u00fcber die Form der Bahn, welche die Gesichtslinie auf dem ebenen Gesichtsfelde zur\u00fccklegte. Es erforderte, selbst wenn die Marken in einer Horizontale lagen, einige Uebung, \u201eum die Nachbilder in eine gerade Linie zu bekommenu, vielmehr bildeten sie anfangs \u201e kleine Bogen Bei den schr\u00e4gen Bewegungen \u201ebildeten die Nachbilder krumme Linien, welche f\u00fcr alle schr\u00e4gen Bewegungen nach innen concav nach innen, f\u00fcr alle schr\u00e4gen Bewegungen nach aussen concav nach aussen \u201c waren. Hieraus schliesst Lamansky, dass die Gesichtslinie bei der Ueberf\u00fchrung von einem Punkte zum andern keine Ebene durchlief und dass die Bahnen, welche die Gesichtslinie auf der Tafel beschrieb, eine der Kr\u00fcmmung der Nachbildreihe entgegengesetzte Kr\u00fcmmung hatten. Dieser Schluss ist jedoch nur f\u00fcr den Fall bindend, dass der Anfangs- und Endpunkt der Bewegung in einer durch die Prim\u00e4rstellung der Gesichtslinie gehenden Ebene lagen (s. u.). Denn wenn die Gesichtslinie bei Lamansky\u2019s Versuchen zwar eine\n1 Donders, Die Anomalien der Refract, u. Accommod. \u00a7 43. 1866.","page":450},{"file":"p0451.txt","language":"de","ocr_de":"Form der Blickbahnen.\n451\nebene Bahn durchmass, das Auge aber zugleich eine Rollung um die Gesichtslinie erfuhr, so musste die Nachbildreihe auch krummlinig werden. Angenommen aber, dass die Kr\u00fcmmungen der Nachbildreihe im Wesentlichen auf der Kr\u00fcmmung der Bahn der Gesichtslinie beruhten, best\u00e4tigen die Versuche Lamansky\u2019s die Ergebnisse, welche schon fr\u00fcher Wundt 1 nach einer andern Methode erhalten hat. Derselbe fand, dass die Gesichtslinie beim Blicken nach oben und unten, rechts und links auf einer der Frontalebene parallelen Verticalebene geradlinige Bahnen, bei allen schr\u00e4gen Bewegungen aber krummlinige Bahnen beschrieb. Dieselben waren beim Blicken schr\u00e4g\tnach\tinnen und\toben:\tconvex nach\tinnen und\tunten\n5,\t\u201e\t,,\t,,\tunten:\t,,\t,,\t,,\t,,\toben\n\u201e\t\u201e\taussen\t\u201e\toben:\t\u201e\t\u201e\taussen\t\u201e\tunten\n\u201e\t\u201e\tunten:\t\u201e\t\u201e\t\u201e\t\u201e\toben.\nDabei war die Kr\u00fcmmung am st\u00e4rksten, wenn bei aufrechtem Kopfe die Blickbahn um 45\u00b0 zum Horizont geneigt war.\nGleichgiltig war dabei, ob die Gesichtslinie aus der (ungef\u00e4hren) Prim\u00e4rstellung oder aus einer beliebigen anderen Stellung ihre Bewegung begann.\nWundt\u2019s Methode ist folgende : Ein Bogen Papier wird in quadratische Felder getheilt und jedes derselben mit einer Zahl, einem Buchstaben oder einem anderen Merkpunkte versehen. Die Merkpunkte m\u00fcssen so gew\u00e4hlt werden, dass sie bei raschem Ueber-fliegen leicht erkannt und nachher leicht wieder aufgefunden werden k\u00f6nnen. Man fixirt nun zun\u00e4chst bei geradeaus gerichtetem Blicke einen dieser Punkte, w\u00e4hrend man das Papier in eine auf der Gesichtslinie senkrechte Ebene und in bestimmten Abstand vom Auge h\u00e4lt; zugleich merkt man sich einen anderen Punkt, den man eben noch im indireeten Sehen beobachten kann, und auf den man die Sehaxe \u00fcberzuf\u00fchren gedenkt; es ist gut diesen Punkt noch mit einem besonderen Zeichen zu versehen, damit man ihn nicht etwa verliere. Geht man nun vom ersten Fixationspunkt in continuirlicher Bewegung zum zweiten \u00fcber, so ist es nach einiger Uebung leicht m\u00f6glich, wenigstens einen zwischenliegenden Punkt, der mit der Gesichtslinie \u00fcberfahren wird, wahrzunehmen; macht man daher denselben Weg in derselben Richtung mehrmals nach einander, so kann man leicht mehrere derartige Punkte auffinden, und durch Verbindung derselben erh\u00e4lt man die Curve, welche die bis zur Fl\u00e4che\n1 Wundt, Ztschr. f.rat. Med. 3. Reihe. VIL S.355. 1859 und Beitr\u00e4ge zur Theorie der Sinneswahrn. S. 202. Leipzig 1862.","page":451},{"file":"p0452.txt","language":"de","ocr_de":"452 Hering, Physiol. Optik IV. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\ndes Gesichtsfeldes verl\u00e4ngert gedachte Gesichtslinie in diesem beschreibt.\nOb der Kopf fixirt war oder nicht, hat Wundt nicht angegeben.\nZEHNTES CAPITEL.\nDie Bewegungen des Augapfels.\nI. Vom Drehpunkte des Auges.\nDa die hintere Fl\u00e4che des normalen Augapfels einer Kugelfl\u00e4che nahe kommt, und die mit Fettgewebe ausgekleidete Orbitalh\u00f6hle noth-wendig dieselbe Form hat, so liegt es nahe, den Augapfel mit einem Kugelgelenk zu vergleichen und den Kr\u00fcmmungsmittelpunkt der Hinterfl\u00e4che des Bulbus zugleich als den sowohl im Augapfel wie in der Orbita festliegenden Drehpunkt anzusehen. Indessen ist erstens das Fettpolster der Orbita viel zu nachgiebig, als dass eine Drehung um einen excentrischen Punkt des als sph\u00e4risch gedachten Bulbus oder eine Verschiebung des ganzen Bulbus bei seinen Drehungen ausgeschlossen werden k\u00f6nnte. Zweitens sind die Abweichungen des Bulbus von der Kugelgestalt die Regel und bei vielen ametropischen Augen so erheblich, dass die auf den ersten Blick ansprechende Annahme eines festen Drehpunktes alle Wahrscheinlichkeit verliert. Hat der Augapfel die Form eines Ellipsoides, so sind kleine Verschiebungen des ganzen Bulbus w\u00e4hrend seiner Drehungen von vornherein h\u00f6chst wahrscheinlich, weil jede Drehung des Augapfels zugleich eine Ver\u00e4nderung der Form seiner H\u00f6hle bedingt und kein Grund zu der Annahme vorliegt, dass die Widerst\u00e4nde, welche dieser Formver\u00e4nderung entgegenstehen, gerade so angeordnet seien, dass daraus eine Fixirung des Drehpunktes resultiren m\u00fcsste.\nEs fragt sich also, ob alle Axen, um welche sich der Augapfel drehen kann, seien sie feste oder augenblickliche, sich in einem und demselben Punkte des Augapfels schneiden, und ob dieser Punkt zugleich eine unver\u00e4nderliche Lage in der Orbita hat oder nicht. Es k\u00f6nnte ersteres der Fall sein, ohne dass zugleich das letztere statthat, d. h. es k\u00f6nnte einen im Augapfel unver\u00e4nderlichen Drehpunkt geben, aber der ganze Augapfel k\u00f6nnte sich w\u00e4hrend der Drehung sammt seinem Drehpunkte in der Orbita verschieben. Diesenfalls","page":452},{"file":"p0453.txt","language":"de","ocr_de":"Vom Drehpunkte.\n455\nw\u00fcrde also der im Augapfel feste Drehpunkt im Raume d. i. hier in der Orbita wandern. Oder es k\u00f6nnte umgekehrt der Drehpunkt des Augapfels eine feste Lage in der Orbita haben, aber der Augapfel k\u00f6nnte sich w\u00e4hrend seiner Drehung relativ zu diesem festen Punkte der Orbita verschieben: dann w\u00fcrde der Drehpunkt zwar in der Orbita festliegen, aber im Auge wandern. Bei den im Auge gegebenen Verh\u00e4ltnissen ist es jedoch vornherein das bei Weitem Wahrscheinlichste, dass es weder im Augapfel noch in der Orbita einen eigentlichen Drehpunkt giebt. Freilich l\u00e4sst sich auch anderseits Vorhersagen, dass die Annahme eines in beiden Beziehungen festen Drehpunktes wenigstens f\u00fcr das ann\u00e4hernd kugelig gebaute Auge gewiss nicht weit von der Wahrheit entfernt ist.\nWenn es weder im Auge noch in der Orbita einen festen Drehpunkt giebt, so heisst dies soviel, als dass sich nicht s\u00e4mmtliche \u00fcberhaupt 'm\u00f6gliche Drehungsaxen des Auges in einem Punkte des Bulbus oder der Orbita schneiden. Denken wir uns zwischen zwei beliebig im Bulbus gelegene, sich nicht schneidende Drehungsaxen desselben die k\u00fcrzeste Linie gelegt, welche \u00fcberhaupt von einem Punkte der einen zu einem Punkte der andern gezogen werden kann, so steht diese Linie auf beiden Axen senkrecht. Eine solche Linie heisse eine interaxiale. Verbinden wir jede einzelne m\u00f6gliche Drehungsaxe des Bulbus mit jeder anderen m\u00f6glichen Axe, so erhalten wir eine unendliche Anzahl solcher interaxialer Linien. Wenn nun, wie dies im Auge aller Wahrscheinlichkeit nach der Fall ist, alle diese interaxialen Linien des Bulbus nur einen sehr kleinen Raum in demselben einnehmen, welcher der interaxiale Raum des Bulbus heissen m\u00f6ge, so k\u00f6nnen wir sagen, das Auge drehe sich ann\u00e4hernd um einen im Auge festen Drehpunkt. Analog k\u00f6nnen wir auch f\u00fcr alle m\u00f6glichen durch die Orbitalh\u00f6hle gelegten Drehungsaxen den interaxialen Raum der Orbita suchen; auch dieser w\u00fcrde aller Wahrscheinlichkeit nach sehr klein sein, so dass wir auch sagen k\u00f6nnen, das Auge drehe sich um einen ann\u00e4hernd festen Punkt der Orbitalh\u00f6hle.\nVerschiebungen des ganzen Augapfels sind zuerst von J. J. M\u00fcller 1 mit Hilfe eines weiter unten zu beschreibenden Spiegelapparates beobachtet worden. Er fand, \u201e dass mit dem Bestreben, die Lidspalte m\u00f6glichst weit zu \u00f6ffnen, der Bulbus aus der Orbita hervortritt\u201c. Dieses Hervortreten erfolgt sehr rasch und verschwindet ebenso beim Nachlass der energischen Contraction des levator palp.\n1 J. J. M\u00fcller, Arch. f. Ophthalmologie XIV. (3) S. 205. 1868.","page":453},{"file":"p0454.txt","language":"de","ocr_de":"454 Hering, Physiol. Optik IY. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nsuper. Bei Prim\u00e4rstellung konnte es bis reichlich 1mm. gesteigert werden. Bei median- oder lateralw\u00e4rts gewandter Gesichtslinie war das Vortreten merklich kleiner; ebenso nahm es mit der Hebung der Blickebene ab und verschwand bei der st\u00e4rksten Hebung g\u00e4nzlich. Bei gesenkter Blickebene nahm es eher zu als ab. Das Vortreten zeigte sich auch dann, wenn die Oeffnung der Lidspalte trotz der st\u00e4rkeren Innervation nicht gr\u00f6sser wurde, blieb aber aus, wenn das obere Lid k\u00fcnstlich gehoben resp. in die Orbita hineingeschoben wurde.\nDonders 1 best\u00e4tigte die Angaben M\u00fcller\u2019s, indem er die Lage des Cornealprofils mittels des Ophthalmometers controlirte. Er fand, dass der Augapfel nicht nur bei st\u00e4rkerer Oeffnung der Lidspalte hervortritt, sondern auch bei Verengerung der Lidspalte etwas zur\u00fcckweicht. Letzteres war auch-beim Nicken der Fall.\nEs betrug bei vier verschiedenen Personen\ndas Vortreten des Bulbus:\t0,86;\t0,37;\t0,80;\t0,80\tmm.\ndas Zur\u00fccktreten desselben:\t0,41;\t0,41;\t0,66;\t0,59\tmm.\ndie ganze Lage\u00e4nderung :\t1,27;\t0,78;\t1,46;\t1,39\tmm.\nBerlin 2 fand nach einer anderen, unten zu er\u00f6rternden Methode, wenn er, von der gewohnheitsm\u00e4ssigen Oeffnung der Lidspalte ausgehend, diese Oeffnung m\u00f6glichst steigerte, f\u00fcr sein linkes Auge ein Vortreten um 0,677 mm., f\u00fcr das rechte um 0,652 mm. Ueberdies beobachtete er, wenn er bei Prim\u00e4rstellung eine Nadelspitze auf den Zerstreuungskreis eines ferneren Punktes visirte, bei weiterer Oeffnung der Lidspalte eine Verschiebung der Nadelspitze nach oben in Bezug auf den Zerstreuungskreis, woraus er schliesst, dass das Auge sich dabei etwas nach unten verschob. Nach seinen Messungen betrug die Verschiebung f\u00fcr das linke Auge 0,567 mm., f\u00fcr das rechte 0,689 mm. Diese Verschiebung nahm ab bei Seitw\u00e4rtswen-dung des Blickes nach beiden Richtungen, ebenso beim Blick nach oben. Beim Blicken nach unten nahm sie bis zu 17\u00b0 Neigung der Blickebene zu, um weiterhin wieder abzunehmen. Bei erhobenem Blicke trat bei leichtem Schl\u00fcsse des Lides eine geringe Verschiebung des Bulbus nach oben ein, welche sich in geringerem Grade auch bei horizontaler und gesenkter Blickrichtung zeigte, bei 20\u00b0 Senkung jedoch ganz verschwand. Endlich fand Berlin nach derselben Methode eine sehr kleine seitliche Verschiebung des Bulbus nach innen im Betrage von 0,15\u20140,175 mm., wenn er bei Prim\u00e4rstellung die Lidspalte stark erweiterte; dieselbe nahm bei nasenw\u00e4rts ge-\n1\tDonders, Arch. f. Ophthalmologie XVII. (1) S. 99. 1871.\n2\tBerlin, ebenda XVII. (2) S. 181. 1871.","page":454},{"file":"p0455.txt","language":"de","ocr_de":"Verschiebungen des Augapfels.\n455\nrichteter Gesichtslinie ab und wurde bei 14\u201422\u00b0 Einw\u00e4rtswendung gleich Null, um dar\u00fcber hinaus in entgegengesetzter Richtung aufzutreten. Bei Richtung des Blickes um 30\u2014380 nach aussen betrug die Verschiebung 0,175 bis 0,25 mm. im selben Sinne wie bei der Prim\u00e4rstellung.\nDiese Beobachtungen veranlassten Berlin zu untersuchen, ob sich auch bei den in gewohnter Weise ausgef\u00fchrten Blickbewegungen Verschiebungen des ganzen Bulbus nachweisen lassen, wobei er auf einen 10\u201415 dm. entfernten, horizontalen und der Frontalebene parallelen Faden visirte, hinter welchem die Zerstreuungskreise dreier sehr kleiner, 10\u201415 Fuss entfernter Spiegel erschienen, deren Mittelpunkte mit dem Faden in einer Ebene lagen. Der mittlere Spiegel entsprach ungef\u00e4hr der Prim\u00e4rstellung. F\u00fcr das in dieser Stellung nach dem mittleren Spiegel visirende Auge halbirte der Faden den Zerstreuungskreis des Spiegels. Bewegte sich nun der Blick den Faden entlang nach rechts oder links, so traf er bei einer Wendung von 25\u00b0\u201430\u00b0 wieder auf den Zerstreuungskreis eines Spiegelchens, und wenn die Hauptvisirlinie bei dieser Bewegung nicht aus der Ebene des Fadens und der Spiegel-centren verschoben worden war, musste wieder der Faden den Zerstreuungskreis des Spiegels halbiren. Dies war jedoch meistens nicht der Fall. Durch verschiedene Drehungen und Neigungen des Kopfes konnten dann die Bewegungen des Blickes in verschiedenen Richtungen und bei verschiedenen seitlichen, hohen oder tiefen Lagen der Blickbahn untersucht werden.\nDie Fig. 37 zeigt die Abweichung des Zerstreuungskreises vom Faden f\u00fcr das linke Auge, wie sie dem Beobachter erschien. F\u00fcr das rechte Auge w\u00fcrde das Spiegelbild dieser Figur gelten. Die Richtung und Lage der Linien entspricht der Richtung und Lage des Fadens in Bezug auf den immer aufrecht gedachten Kopf, wenn das auf den Punkt j) gerichtete Auge in der Prim\u00e4rstellung ist. A bedeutet Aussen, I Innen. Die Punkte bedeuten die Zerstreuungskreise der kleinen Spiegel. In derselben Richtung wie der Zerstreuungskreis relativ zum Faden verschoben erschien, musste auch eine Componente der Verschiebung des Centrums der Visirlinien erfolgt sein. Die Gr\u00f6sse der Verschiebungen der Zerstreuungskreise relativ zum Bilde","page":455},{"file":"p0456.txt","language":"de","ocr_de":"456 Hering, Physiol. Optik IV. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\ndes Fadens hat Berlin nicht gemessen. Er ist der Ansicht, dass dieselben aus Verschiebungen des ganzen Bulbus zu erkl\u00e4ren seien, und sch\u00e4tzt die letztere auf beil\u00e4ufig 0,5 mm.\nEs muss bemerkt werden, dass wenn w\u00e4hrend der Bewegung des Blickpunktes entlang dem Faden die festen oder die augenblicklichen Axen der Drehung nicht durch die Hauptvisirlinie selbst gehen, noth-wendig kleine Verschiebungen der Zerstreuungskreise in Bezug auf den Faden eintreten m\u00fcssen, auch wenn es einen festen Drehpunkt giebt. Was Berlin lediglich als Folge einer Verschiebung des Bulbus nahm, ist zun\u00e4chst und f\u00fcr sich nur ein Beweis f\u00fcr ein Heraustreten des Centrums der Visirlinie aus der Ebene, in welcher der Faden und die Spiegel-centren liegen, womit nicht bestritten werden soll, dass eine Verschiebung des Bulbus die wesentliche Ursache ist.\nNachweis eines Drehpunktes \u00fcberhaupt. W\u00e4hrend man fr\u00fcher sich mit der Annahme begn\u00fcgte, dass es einen unver\u00e4nderlichen Drehpunkt des Auges gebe, und sich lediglich damit besch\u00e4ftigte, den Ort dieses hypothetischen Punktes im Auge zu bestimmen, hat zuerst J. J. M\u00fcller experimentell zu entscheiden gesucht, ob \u00fcberhaupt ein Drehpunkt existirt. Nachher haben Volkmann, Woinow und Berlin dieselbe Frage behandelt. Die Methoden Volkmann\u2019s und Woinow\u2019s sind im Wesentlichen gleich und zwar die einfachsten, aber minder genau als die Methoden von M\u00fcller und Berlin.\nVolkmann 1 zog auf einer ebenen Tafel aus einem Punkte derselben eine Anzahl gerader Linien radienartig derart, dass je zwei benachbarte einen Winkel von 10\u00b0 einschlossen. Auf jeder dieser Linien wurden zwei feine N\u00e4hnadeln senkrecht zur Tafel eingesteckt, die eine 8\", die andere 16 \" vom Ausgangspunkte der Linien entfernt. An die Stelle dieses Ausgangspunktes der Linien wurde, nachdem das entsprechende St\u00fcck des Brettes abges\u00e4gt worden war, das Auge des Beobachters gebracht, dessen Kopf fest fixirt war. Es zeigte sich, dass f\u00fcr 10 Beobachter sowohl eine horizontale als eine verticale Stellung der Tafel relativ zum Auge gefunden werden konnte, bei welcher jede zwei, derselben Geraden angeh\u00f6rige Nadeln sich f\u00fcr den Beobachter \u201edeckten\u201c, wenn er auf dieselben visirte. Volkmann schloss hieraus, dass sowohl die Drehung in der horizontalen als in der verticalen Ebene um einen im Auge und im Raume festen Punkt des Augapfels erfolge. Indessen k\u00f6nnte der Versuch, auch wenn man von den relativ grossen Fehlerquellen desselben absehen wollte, streng genommen nur beweisen, dass die Hauptvisirlinie sich\n1 Volkmann, Ber. d. sacks. Ges. d. Wiss. Math.-phys. CI. 6. Febr. 1869.","page":456},{"file":"p0457.txt","language":"de","ocr_de":"Nachweis des Drehpunktes.\n457\nsowohl in horizontaler als in verticaler Richtung um einen relativ zur Orbita festen Punkt drehte, welcher auf der Hauptvisirlinie selbst lag. Im Augapfel konnte dabei der Drehpunkt seine Lage stetig \u00e4ndern. Denn eine Gerade kann sich um einen im Raume festen Punkt drehen und doch w\u00e4hrend dieser Drehung im Drehpunkte vorw\u00e4rts oder r\u00fcckw\u00e4rts gleiten.\nEs seien die Geraden dy, dg und dy\u2018 in der Fig. 38 drei Lagen der Hauptvisirlinie, und k, c, k\u2018 die zugeh\u00f6rigen Lagen des auf der Hauptvisirlinie gedachten geometrischen Mittelpunktes des Augapfels, so zeigt die Figur, dass w\u00e4hrend die Hauptvisirlinie sich aus der Lage dy in die Lage dy* um den im Raume festen Punkt d dreht, sie doch durch diesen Punkt erst vorw\u00e4rts dann wieder r\u00fcckw\u00e4rts gleitet und der mit ihr verbundene Augapfel sich erst nach vorn und dann wieder nach hinten verschiebt.\nWenn \u00fcbrigens bei dem beschriebenen Versuche Volk-mann\u2019s sich nicht alle Nadelpaare gedeckt h\u00e4tten, so h\u00e4tte dies, wie Berlin 1 hervorhob, nichts gegen die Existenz eines festen Drehpunkts bewiesen; denn wenn derselbe nicht auf der Hauptvisirlinie liegt, k\u00f6nnen sich auch nicht alle Lagen der letzteren in einem Punkte schneiden, sondern m\u00fcssen nur s\u00e4mmtlich eine Kugel tangiren, die den festen Drehpunkt zum Centrum und den Abstand desselben von der Hauptvisirlinie zum Radius hat, wie Fig. 39 zeigt, in welcher /\"den Drehpunkt, g g, y y, y* y1 2 die Hauptvisirlinie bedeuten.\nEbensowenig streng wie die Versuche Volkmann\u2019s beweisen die \u00e4hnlichen Versuche Woinow\u2019s 2 die Existenz eines zugleich im Augapfel und in der Orbita festliegenden Drehpunktes. Woinow untersuchte seine Augen nach einer von Helmholtz angegebenen Methode. \u201eAuf einer horizontalen Tischplatte wurde ein Blatt Papier aufgespannt und am Rande des Tisches eine Vorrichtung f\u00fcr ein Zahnbrettchen angebracht und sodann ein Lineal von 20 mm. Breite und 640 mm. L\u00e4nge dem Auge gegen\u00fcber in gewisser Entfernung einge-\n1\tBerlin, Arch. f. Ophthalmologie XVII. (2)S. 157. 1871.\n2\tWoinow, ebenda XVI. (1) S. 247. 1870.\nFig. 38.","page":457},{"file":"p0458.txt","language":"de","ocr_de":"458 Heking, Physiol. Optik IV. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nstellt. Auf dem Lineal waren feine parallele Striche mit Zwischenr\u00e4umen von 20 mm. vertical zur Fl\u00e4che des Tisches gezogen. Hierauf schloss er das eine Auge und nahm ein anderes \u00e4hnliches Lineal von 10 mm. Breite und 400 mm. L\u00e4nge mit \u00e4hnlichen Strichen von nur 10 mm. Zwischenr\u00e4umen zur Hand und bem\u00fchte sich, es vor sich so auf den Tisch zu stellen, dass alle Striche desselben bei\nallen Blickrichtungen in der gegebenen Ebene mit den entsprechenden Strichen des andern entfernteren Lineals zusammenfielen\u201c. Bei horizontalen Blickbewegungen fand ein vollkommenes Zusammenfallen der entsprechenden Striche beim strengsten Parallelismus der beiden Lineale statt. Um zu untersuchen, wie sich die Bewegungen des Blickes auf anderen Ebenen verhalten, drehte er das Zahnbrettchen und folglich auch den Kopf nach verschiedenen Richtungen, ohne jedoch die Stellung der Tischebene zu \u00e4ndern. Hierauf bem\u00fchte er sich abermals, das Lineal in der vorher erw\u00e4hnten Weise aufzustellen. Bei allen diesen Versuchen, sowie auch bei denjenigen, wo die Bahnebene der Gesichtslinie unter verschiedenen H\u00f6hen- und Seitenwendungswinkeln stand, beobachtete er, dass das Zusammenfallen der entsprechenden Striche der Lineale nur bei vollkommenem Parallelismus derselben stattfand. Hieraus schloss Woinow, \u201edass es f\u00fcr jede einzelne Ebene der Blickbewegung einen festen Drehpunkt gebe Um nun zu beweisen, dass dieser Drehpunkt f\u00fcr alle Ebenen der Blickbewegung derselbe sei, spannte er auf eine verticale Wand ein grosses Blatt Papier, auf dem parallele, verticale und horizontale Linien mit Zwischenr\u00e4umen von 40 mm. in der Weise gezogen waren, dass das ganze den Linien eines Schachbrettes \u00e4hnlich war. Sodann stellte er sich vor die Wand und bem\u00fchte sich, bei fester Fixation des Kopfes und bei Schluss des einen Auges einen Rahmen mit aufgespannten horizontalen und verticalen F\u00e4den von 20 mm. Zwischenraum so einzustellen, dass alle F\u00e4den mit den","page":458},{"file":"p0459.txt","language":"de","ocr_de":"Nachweis des Drehpunktes.\n459\nentsprechenden Linien des Papiers bei allen Blickrichtungen zusammenfielen, was denn auch m\u00f6glich war.\nDie Weite der Fehlergrenzen sind weder f\u00fcr Volkmann\u2019s noch f\u00fcr Woinow\u2019s Methode bestimmt worden. Wir k\u00f6nnten aus ihren Versuchen, soweit die Fehlergrenzen das gestatten, nur den Schluss ziehen, dass der Augapfel sich um einen in der Orbita festliegenden Punkt dreht, und dass die Hauptvisirlinie bei allen Stellungen des Auges durch diesen Punkt geht. Inwieweit dieser Drehpunkt auch im Auge festliegt, ist aus den Versuchen nicht ersichtlich.\nJ. J. M\u00fcller 1 benutzte eine von Fick angegebene Methode. Er meinte \u201e am unmittelbarsten f\u00fchre zum Entscheide, ob es einen Drehpunkt gibt, die Ermittelung der Bahn, welche irgend ein bestimmter Punkt der Cornea w\u00e4hrend der Bewegung des Bulbus durchl\u00e4uft. \u201c1 2 \u201e Die Form der Bahn entscheide ganz unmittelbar die Frage, ob die Drehung d\u00e8s Hornhautpunktes um einen festen Punkt herum stattgefunden hat oder nicht. Im vorliegenden Falle erzeuge eine solche und nur eine solche Bewegung eine kreisf\u00f6rmige Bahn des Punktes.\u201c3 M\u00fcller\u2019s Methode gestattete nun, den jeweiligen Ort des Durchschnittspunktes der Hauptvisirlinie und der vorderen Cornealfl\u00e4che auf eine der horizontalen Bahnebene jener Linie parallele Ebene zu projiciren und so eine aus einer Reihe einzelner Punkte bestehende Projection der Bahn jenes Cornealpunktes zu gewinnen, welche Projection der Form der wirklichen Bahn congruent war. F\u00fcr diese experimentell gewonnene Punktreihe suchte er \u201eprobeweise den Punkt der Zeichnungsebene und den Radius auf, welche einen Kreisbogen lieferten, in den die Punkte entweder fielen oder zu dessen Seiten sie sich m\u00f6glichst gleichm\u00e4ssig vertheilten.\u201c Diesen Punkt nahm er f\u00fcr die Projection des Drehpunktes.\nNun ist es zwar richtig, dass wenn das Auge sich um einen im Raume und im Augapfel festen Punkt dreht, jeder beliebige Punkt des Augapfels dabei einen Kreisbogen beschreiben muss; aber man darf nicht, wie dies M\u00fcller that, diesen Satz umkehren. Denn ein bestimmter Punkt des Augapfels, z. B. der Durchschnittspunkt der Hauptvisirlinie und der vorderen Cornealfl\u00e4che kann sehr wohl einen Kreisbogen beschreiben, w\u00e4hrend der Drehpunkt im Auge wandert. Fig. 38 liefert hierf\u00fcr ein Beispiel. Ist ygy\u2018 die kreisf\u00f6rmige Bahn des genannten Cornealpunktes, so zeigt die Figur, dass der im Raum festliegende Drehpunkt d seine Lage im Augapfel w\u00e4hrend der Be-\n1\tJ. J. M\u00fcller. Arch. f. Ophthalmologie XIV. (3) S. 183. 1868.\n2\t1. c. S. 191.\n3\t1. c. S. 204.","page":459},{"file":"p0460.txt","language":"de","ocr_de":"460 Hering, Physiol. Optik IY. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nwegung fortw\u00e4hrend \u00e4ndert, d. h. dass der Augapfel sich relativ zu diesem Drehpunkt stetig verschiebt, was soviel bedeutet, als dass der Drehpunkt im Auge wandert. Es ist aber auch der noch ver-wickeltere Fall m\u00f6glich, dass, w\u00e4hrend der Cornealpunkt einen Kreisbogen beschreibt, weder ein im Auge noch ein im Raume fester Drehpunkt existirt.\nDurch den theoretischen Irrthum M\u00fcller\u2019s wird \u00fcbrigens der Werth seiner Beobachtungen nicht beeintr\u00e4chtigt, weil durch seine Methode zugleich die jeweilige Lage der Hauptvisirlinie gegeben wird.1 Die Projectionen dieser Linie auf die der Bahnebene parallele Ebene durchschnitten sich, wie er angibt, entweder fast alle in einem Punkte oder \u201eschlossen sich einem kleinen Kreise um denjenigen Punkt herum an\u201c2, welcher zugleich der Kr\u00fcmmungsmittelpunkt des vom Cornealpunkte beschriebenen Kreisbogens war. Wenn aber eine im Augapfel feste Gerade (die Hauptvisirlinie) bei den Bewegungen des Auges eine Ebene beschreibt und dabei in allen Lagen einen im Raume festliegenden Kreis tangirt oder durch einen im Raum festen Tunkt geht, und zugleich ein bestimmter Punkt der Geraden (der Cornealpunkt der Hauptvisirlinie) einen Kreisbogen beschreibt, der mit jenem Kreise coneentrisch ist oder jenen Punkt zum Kr\u00fcmmungsmittelpunkt hat, so ist der Kr\u00fcmmungsmittelpunkt des Kreisbogens der zugleich im Raume und im Augapfel feste Drehpunkt f\u00fcr die bez\u00fcgliche Bahnebene der Geraden.\nM\u00fcller untersuchte bei horizontaler Bahnebene der Hauptvisirlinie und verschiedenen Neigungen des Kopfes zu dieser Horizontalebene. Wir d\u00fcrfen aus seinen Beobachtungen schliessen, dass sich sein Auge bei diesen Bewegungen wirklich um einen sowohl im Raume als im Augapfel ann\u00e4hernd festen Punkt drehte. Aber dieser Punkt hatte, wie M\u00fcller fand, nicht f\u00fcr alle Neigungen der Bahnebene zum Kopfe dieselbe Lage im Augapfel.\nDie Projectionen der Hauptvisirlinie und ihres Durchschnittspunktes mit der vorderen Cornealfl\u00e4che auf eine, der Bahnebene jener Linie parallele Ebene gewann M\u00fcller auf folgende Weise: Zwei verticale, unter 45\u00b0 Neigung zu einander fest verbundene Spiegel (/und //, Fig. 40) werden je mit einer verticalen Linie versehen (deren Durchschnitte P* und Pu darstellt), und so vor dem eignen Auge (AA\u2018) angebracht, dass der eine Spiegel (/) auf der lateralen Seite der Hauptvisirlinie, der andere (//) schr\u00e4g vor dem Auge steht. Unter diesen Umst\u00e4nden kann das Auge\n1\tGanz streng genommen ist allerdings auch dies nicht der Fall, weil die Projection der Hauptvisirlinie auf c\u00fce Horizontalebene keinen Aufschluss \u00fcber etwaige Verschiebungen dieser Linie in verticaler Richtung giebt.\n2\t1. c. S. 209.","page":460},{"file":"p0461.txt","language":"de","ocr_de":"Nachweis des Drehpunktes.\n461\nsein Bild (B B\u2018) im Profil sehen. Werden dann weiter die Spiegel so eingestellt, dass die Linie (P\") des schr\u00e4g vor dem Auge stehenden Spiegels (77) und das von letzterem entworfene Bild (b) der Linie {P\u2018) des andern Spiegels sich f\u00fcr das beobachtende Auge decken, und dieses Deckbild an den cornealen Band des ocularen Bildes (B B\u2018) tangirt, so ist der Ort bekannt, wo der Durchschnittspunkt ( A ) der Hauptvisirlinie mit der Cornea liegt. Die Linie A\u2018B ist bekannt, weil der Punkt P\" gegeben und der Punkt b, in welchem das Spiegelbild des Punktes P* liegt, aus der gegebenen Lage des letzteren zu finden ist. Eine kurze geometrische Betrachtung ergiebt ferner, dass ein von P\u2018 auf die Linie A4 A B gef\u00e4lltes Loth letztere Linie im Punkte A, d. i. der gesuchte Punkt, treffen muss. Stehen die verticalen Spiegel auf einem horizontalen Planum, so lassen sich die zur Construction des Punktes A n\u00f6thigen Punkte und Linien auf dem Planum so wie in Fig. 40 markiren, um so den senkrecht unter dem Corneal-punkte A liegenden Punkt des Planums finden. Giebt man bei fixirtem Kopfe der Hauptvisirlinie verschiedene Stellungen innerhalb der Horizontalebene, und bestimmt f\u00fcr jede Stellung die Lage jenes Punktes, so erh\u00e4lt man eine Punktreihe, welche die Projection der Bahn des Corneal-punktes A darstellt:\nBerlin 1 hielt die Methoden Volkmann\u2019s und Woinow\u2019s, welche die jeweilige Lage der Hauptvisirlinie mit Hilfe der Deckung dunkler linearer Objecte controlirten, f\u00fcr nicht hinreichend genau und benutzte deshalb beim Visiren als fernere Objecte kleine Flammen und als n\u00e4here Objecte eine Nadel oder eine feine Spitze. Ausser der Lage der Hauptvisirlinie bestimmte er zugleich die Lage je einer in-directen zweiten Visirlinie und auf diese Weise die jeweilige Lage des Centrums der Visirlinien. Da jene zweite Visirlinie durch indirectes Sehen bestimmt werden musste, so benutzte er hier als n\u00e4heres, die Flamme deckendes Object nicht eine Nadel oder Spitze, sondern die Kante eines dunklen Schirmes, den er bald von der\nFig. 40.\n1 Berlin. Arch. f. Ophthalmologie XVII. (2) S. 150.1 ST 1.","page":461},{"file":"p0462.txt","language":"de","ocr_de":"462 Hering, Physiol. Optik IY. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\neinen bald von der anderen Seite her so weit verschob, bis die indirect gesehene Flamme verschwand. Das Mittel der beiden Stellungen der deckenden Kante diente nebst dem Orte der Flamme zur Lagebestimmung der bez\u00fcglichen indirecten Visirlinie.\nSind W und V (Fig. 41) zwei leuchtende Punkte, N und L zwei Nadelspitzen, P und P\u2018 das Centrum der Visirlinien, so werden, wenn\ndie Hauptvisirlinie in PW liegt, sowohl N und W als L und V sich decken. Wird dann der Blick bei fixirtem Kopf auf V gerichtet und liegt nun die Hauptvisir-linien in P\u2018 V und das Centrum der Visirlinie in P\\ so wird V nicht mehr von L, und W nicht mehr von N gedeckt erscheinen, vielmehr muss L nach R und N nach K verschoben werden, damit dies der Fall ist. Sind die Punkte W, V, N, Kf L und R bekannt, so lassen sich daraus die beiden Lagen WB7und R V der Hauptvisirlinie und mit Hilfe der beiden indirecten Visirlinien LVund KW die beiden Lagen P und P\u2018 des Kreuzungspunktes der Visirlinien bestimmen. Ferner l\u00e4sst sich der\nFig. 41.\nDurchschnittspunkt 0 der beiden Lagen PW und P\u2018 V der Hauptvisirlinie und endlich der Abstand der beiden Orte P und PJ des Centrums der Visirlinien vom Punkt 0 finden. Wird in dieser Weise eine gr\u00f6ssere Anzahl verschiedener Lagen der Hauptvisirlinie und des Centrums der Visirlinien in einer Bahnebene bestimmt, zeigt sich dabei, dass die verschiedenen Orte des letzteren einem Kreisbogen angeh\u00f6ren und dass s\u00e4mmtliche Lagen der Hauptvisirlinie sich im Kr\u00fcmmungsmittelpunkte dieses Bogens durchschneiden oder wenigstens einen mit diesem Kreisbogen concentrischen Kreis tangiren, so hat sich das Auge bei der bez\u00fcglichen Bewegung um den Kr\u00fcmmungsmittelpunkt jenes Kreisbogens als um einen im Auge und im Raume festen Punkt gedreht. Schneiden sich die Lagen der Hauptvisir-linien nicht in einem Punkte, sondern tangiren einen Kreis, so liegt dabei der feste Drehpunkt ausserhalb der Hauptvisirlinie.\nBerlin ging \u00fcbrigens ebenso wie Volkmann von der unrichtigen Ansicht aus, dass wenn sich s\u00e4mmtliche Lagen der Hauptvisirlinie in einem Punkte schneiden, dieser Punkt der im Augapfel feste Drehpunkt sein m\u00fcsse. Er berechnete aus der Lage der Punkte W, V, N, Z und R die L\u00e4nge der Strecke OP, und wenn er diese f\u00fcr","page":462},{"file":"p0463.txt","language":"de","ocr_de":"Ort des Drehpunktes.\n463\nverschiedene Gr\u00f6ssen des Winkels WOVgleich gross fand, so schloss er, dass s\u00e4mmtliche Lagen der Hauptvisirlinie sich in 0 durchkreuzt h\u00e4tten und dies der feste Drehpunkt sei. Dieser Schluss ist jedoch nur dann zul\u00e4ssig, wenn auch OP1 stets gleich OP gefunden wird, weil dann auch erwiesen ist, dass der Kreuzungspunkt der Yisirlinie w\u00e4hrend der Drehung der Augen einen Kreisbogen beschrieben hat, dessen Kr\u00fcmmungsmittelpunkt in 0 liegt.\nDa Berlin der Contr\u00f4le wegen auch die Strecke OP1 mit bestimmte und sie wenigstens f\u00fcr sein rechtes Auge (Myopie l]u) in zwei f\u00fcr die prim\u00e4re Blickebene gemachten Bestimmungen gleich OP fand, so l\u00e4sst sich in der That schliessen, dass dieses Auge sich in dieser Bahn um eine im Raum und im Auge feste Axe drehte. F\u00fcr das linke Auge (Myopie V30) nahm bei Bewegungen in der prim\u00e4ren Blickebene die Gr\u00f6sse von OP um so mehr ab, je weniger nach links \u00f6der je weiter nach rechts die zur Bestimmung benutzte seitliche Lage (.RV) der Hauptvisirlinie von der Prim\u00e4rstellung abwich, w\u00e4hrend OP\u2018 umgekehrt zunahm. Hieraus schloss Berlin, dass der feste Drehpunkt nicht auf der Hauptvisirlinie selbst, sondern etwas abseits von derselben lag. Doch betrug dieser Abstand nach seiner Berechnung h\u00f6chstenfalls nur 0,6 mm.\nDer Ort des Drehpunktes im Augapfel. Die Methoden, deren sich M\u00fcller und Berlin zur Untersuchung der Frage bedienten, ob es \u00fcberhaupt einen Drehpunkt giebt, gestatteten bejahenden Falls zugleich die Bestimmung von dessen Ort im Auge.\nM\u00fcller fand bei aufrechtem Kopfe und bei Bewegungen des Blickes in der Horizontalebene in verschiedenen Versuchsreihen f\u00fcr den Abstand des Drehpunktes vom Durchschnittspunkte der Hauptvisirlinie mit der vorderen Cornealfl\u00e4che Werthe, welche f\u00fcr das linke Auge (Myopie V10) zwischen 14,2 und 15 mm. schwankten und als wahrscheinlichen Werth 14,56 mm. F\u00fcr das rechte Auge (Myopie 1/i00 schwankte dieser Werth zwischen 13 und 13,6 mm. und der wahrscheinliche Werth betrug 13,19 mm. Wurde der Kopf so weit nach vorn geneigt, dass die Neigung der horizontalen Blickebene relativ zur Frontalebene 20\u00b0 betrug, so war der wahrscheinliche Werth f\u00fcr das linke Auge 15,16 mm., f\u00fcr das rechte 13,29 mm. ; bei Senkung der Blickebene um 20\u00b0 relativ zum Kopfe f\u00fcr das linke Auge 14,34mm., f\u00fcr das rechte 12,87 mm.\nEs ergab sich also f\u00fcr M\u00fcller, dass der Drehpunkt f\u00fcr Horizontalbewegung sich umsomehr vom Scheitel der Cornea entfernte, je st\u00e4rker die Blickebene gehoben war.\nBerlin bestimmte, wie oben auseinandergesetzt wurde, den Ab-","page":463},{"file":"p0464.txt","language":"de","ocr_de":"464 Hering, Physiol. Optik IY. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nstand des Drehpunktes vom Centrum der Yisirlinien oder von der Pupillarebene. Den Abstand des Cornealpols von dieser Ebene nahm er gleich 3,2 mm. und erhielt so f\u00fcr sein linkes Auge (Myopie V30) bei aufrechtem Kopf und horizontaler Blickebene im Mittel 14,41 mm. als Abstand des Drehpunktes vom Cornealpol, f\u00fcr das rechte Auge (Myopie J/i4) 14,66 mm.; bei Hebung der Blickebene um 22\u00b0 f\u00fcr das linke Auge 14,81 mm., f\u00fcr das rechte 15 mm.; bei Senkung der Blickebene um 20\u00b0 f\u00fcr das linke Auge 14,32 mm., f\u00fcr das rechte 14,19 mm. Dabei ist zu bemerken, dass nach Berlin\u2019s Berechnung der Drehpunkt im linken Auge nicht auf der Hauptvisirlinie lag, sondern f\u00fcr horizontale Blickebene 0,541 mm., f\u00fcr 22\u00b0 Hebung derselben 0,652 mm., f\u00fcr 20\u00b0 Senkung 0,281 mm. von jener Linie medianw\u00e4rts abstand.\nDiese Ergebnisse stimmen, wie die obigen Zahlen lehren, mit denen M\u00fcller\u2019s insofern \u00fcberein, als auch dieser fand, dass der Drehpunkt sich um so mehr vom Cornealpol entfernt, je st\u00e4rker die Blickebene gehoben ist. F\u00fcr verticale Bewegungen des Blickes fand Berlin Werthe, welche im Mittel um 1,56 mm. kleiner waren, was er als Folge einer Verschiebung des Bulbus nach vorn betrachtet, welche bei der mit st\u00e4rkerer Oeffnung der Lidspalte einhergehenden Hebung des Blickes eintrete.\nWas die mechanischen Erkl\u00e4rungen betrifft, welche M\u00fcller und Berlin f\u00fcr die Lage\u00e4nderungen des Drehpunktes bei verschiedener Hebung der Blickebene gegeben haben, so muss auf die citirten Abhandlungen derselben verwiesen werden, um so mehr als, wie aus den oben gemachten Andeutungen hervorgeht, die experimentellen Befunde theilweise eine andere Deutung zulassen, als ihnen von ihren Autoren gegeben wurde.\nVolkmann1 suchte, nachdem er durch die oben beschriebenen Versuche zur Ueberzeugung von der Existenz eines Drehpunktes gekommen war, dessen Lage im Auge auf folgende Weise zu bestimmen :\n\u201eWenn ein mobiler Radius ac sich um den festen Punkt c dreht, so gen\u00fcgt es, den Winkel x des von ihm beschriebenen Bogens und die Sehne ab des letzteren zu kennen, um die L\u00e4nge des Radius zu berechnen. Sie ist gleich dem Quotienten aus der halben Sehne durch den Sinus des halben Winkels.\u201c Die Strecke zwischen der Mitte der Pupille und dem Drehpunkte c des Auges diente als der mobile Radius, und es galt nun, f\u00fcr eine Drehung der Hauptvisirlinie, deren Winkel bekannt war, die Sehne des Bogens zu bestimmen, welchen dabei die Mitte der Pupille beschrieb. Zu diesem Zweck stellte Volkmann dem Auge gegen\u00fcber in einer Entfernung von un-\n1 Volkmann 1. c. S. 32.","page":464},{"file":"p0465.txt","language":"de","ocr_de":"Ort des Drehpunktes.\n465\ngef\u00e4hr 3 Meter ein Fernrohr auf, welches um das 25 fache vergr\u00f6s-serte und mit einem Ocularmikrometer versehen war. Mit H\u00fclfe dieses Instrumentes bestimmte er die Zahl der Theilstriche, durch welche der Mittelpunkt der Pupille bei einer Drehbewegung des Auges, deren Winkelgr\u00f6sse durch die beiden Endlagen der Haupt-visirlinie gegeben war, hindurchgeht. Da er den Werth der Theilstriche f\u00fcr die Entfernung des Instrumentes vom Auge im voraus ermittelt hatte, so war mit der Zahl der Theilstriche die Grosse der fraglichen Sehne ohne weiteres gegeben.\nAus der so gefundenen Sehne und dem Winkel der Drehung bestimmte er den Abstand der Pupillenmitte vom Drehpunkte und addirte dazu, um den Abstand des letzteren vom Cornealpole zu finden, 2,36 mm. als den Abstand zwischen Hornhautpol und scheinbarer Pupillarebene. Es ergab sich ihm f\u00fcr horizontale Drehung als Mittel aus' 51 Beobachtungen an 10 Personen 13,61 mm., f\u00fcr verticale Drehungen als Mittel aus 43 Beobachtungen an 10 Personen 13,37 mm., als Gesammtmittel aller Beobachtungen 13,54 mm. Ueber die Beschaffenheit der Augen der einzelnen Personen hat Volkmann nichts mitgetheilt. F\u00fcr jede Person wurden Bestimmungen bei verschiedenen Gr\u00f6ssen des Winkels der Drehung gemacht; die sich dabei ergebenden Verschiedenheiten der Werthe betrugen im ung\u00fcnstigsten Falle nur 1,1 mm.\nDiese Bestimmungen Volkmann\u2019s k\u00f6nnten nur dann strengere G\u00fcltigkeit haben, wenn die Voraussetzung eines festen Drehpunktes richtig w\u00e4re und wenn dieser Drehpunkt auf der Pupillaraxe l\u00e4ge.\nWoinow1 bestimmte den Ort des Drehpunktes folgendermaassen. Nachdem er sein Auge in diejenige Lage zu den oben S. 457 erw\u00e4hnten Linealen gebracht hatte, bei welcher die Theilstriche des n\u00e4heren sich mit denen des ferneren deckten, und nun in bestimmter Richtung visirte, wurde von einem Assistenten ein Fernrohr seitlich von seinen Augen so eingestellt, dass der Verticalfaden des Fadenkreuzes den Scheitel der Hornhaut (welche der Assistent im Profil sah) zu tangiren schien. Nachdem dies geschehen war, brachte Woinow eine N\u00e4hnadel an die Stelle, wo sich zuvor sein Auge befand, und bewegte dieselbe in der Richtung seines fr\u00fcheren Visirens hin und her, bis die Nadel dem Assistenten mit dem Faden des unverr\u00fcckten Fernrohres zusammenzufallen schien. Jetzt ging die Nadel durch den Punkt, an welchem zuvor der Hornhautscheitel gelegen hatte. Aus der Entfernung der Nadel von dem in der Richtung des\n1 Woinow, Arch. f. Ophthalmologie XVI. (1) S. 249. 1870.\nHandbuch dor Physiologie. Bd. III.\n30","page":465},{"file":"p0466.txt","language":"de","ocr_de":"466 Hebing, Physiol. Optik IY. 10. Cap, Die Bewegungen des Augapfels.\nVisirens liegenden Striche des Lineals und der Entfernung desselben Striches von dem entsprechenden Striche des zweiten entfernteren Lineals Hess sich durch die Abziehung der ersten Gr\u00f6sse von der zweiten der Abstand des Drehpunktes vom Scheitel der Cornea finden. Diese Methode f\u00fchrte Woinow zu dem Schl\u00fcsse, dass der Drehpunkt seines rechten Auges 14,0 mm. und der des linken 14,1 mm. vom Scheitel der Cornea entfernt waren. Da die L\u00e4nge der Augen-axe f\u00fcr Womow\u2019s Auge nach seiner Angabe 21,826 mm. (bis zur empfindlichen Schichte der Netzhaut) betr\u00e4gt, so w\u00e4re der Abstand des Drehpunktes vom hinteren Pole des Auges 7,85 mm.\nAusserdem bestimmte Woinow 1 nach einer der BERLiN\u2019schen ganz analogen, aber ohne Kenntniss der letzteren ersonnenen Methode den Abstand zwischen dem Centrum der Visirlinien und dem Drehpunkte seines Auges, indem er letzteren auf der Hauptvisirlinie annahm. Er fand diesen Abstand zwischen 10,97 und 11,05 mm. schwankend und bezieht diese Schwankungen auf Lage\u00e4nderungen der scheinbaren Pupillarebene w\u00e4hrend der Accommodation. Nach der erstbeschriebenen Methode hatte Woinow den Drehpunkt 14 mm. hinter dem Hornhautpole gefunden; es m\u00fcsste also der Abstand des Hornhautpoles von der scheinbaren Pupillarebene mit 3 mm. angenommen werden, um das Ergebniss der zweiten Methode mit dem der ersten in Einklang zu bringen.\nWeiss1 2 untersuchte nach einer im Principe schon von Junge3 und von Donders4 angewandten Methode, welche auf der Lagebestimmung eines Spiegelbildchens der Cornea bei verschiedenen Stellungen des Auges beruht und ebenfalls die Existenz eines Drehpunktes auf der Hornhautaxe voraussetzt.\nDas untersuchte Auge wird so gerichtet, dass die Hornhautaxe in die Axe eines ihm gegen\u00fcber liegenden Ophthalmometers zu liegen kommt, wobei das Bild eines dicht \u00fcber dem Fernrohre des Ophthalmometers befindlichen Lichtes hinter der Mitte der Hornhaut erscheint. Vor dem Auge wird ein verticales Haar aufgespannt, welches ebenfalls durch die Axe der Hornhaut und des Ophthalmometers geht. Dies Visirhaar, welches bei der angegebenen Stellung des Auges fixirt werden muss, wird nun, w\u00e4hrend ihm das Auge folgt, auf einem horizontalen Gradbogen, dessen Kr\u00fcmmungsmittelpunkt ungef\u00e4hr in der Mitte des Augapfels liegt, um einen gemessenen Bogen (\u00ab) verschoben und mit ihm zugleich das Licht, so dass letzteres immer dieselbe relative Lage zum Auge beh\u00e4lt. Das Bildchen des Lichtes erscheint jetzt, durch das Ophthalmometer gesehen, seitw\u00e4rts,\n1\tWoinow, Arch. f. Ophthalmologie XVII. (2) S. 233. 1871.\n2\tWeiss, ebenda XXI. (2) S. 132. 1875.\n3\tJunge, Helmholtz\u2019s physiol. Optik S. 458.\n4\tDonders, Die Anom. der Refract, u. Accommod. S. 156. Wien 1866.","page":466},{"file":"p0467.txt","language":"de","ocr_de":"Ort des Drehpunktes.\n467\nund sein Abstand von der Axe des letzteren wird bestimmt, indem der scheinbare Abstand (d) zwischen Bildchen und Haar ophthalmo-metrisch gemessen wird. Schliesslich wird noch der Kr\u00fcmmungsradius (r) der Hornhaut f\u00fcr deren Scheitelgegend gemessen. Nimmt man nun an, dass der Kr\u00fcmmungsmittelpunkt des oben erw\u00e4hnten Gradbogens genau im Drehpunkt und letzterer auf der Hornhautaxe liegt, so ist der Abstand des Drehpunktes vom vorderen Horn-\n.\t_\td\tr\nhautpole = -------b\nsm ci 2\nDie ellipsoidische Form der Hornhaut kann, wie Weiss berechnet, bei dieser Methode keinen Fehler ergeben, der nicht innerhalb der Fehlergrenzen der Messung l\u00e4ge. Auch hat diese Methode den Vortheil, dass sie den Abstand des Drehpunktes vom Hornhautpol direct ergiebt und keine weitere Bestimmung des Abstandes zwischen Hornhautpol und Hornhautbasis oder scheinbarer Pupillarebene n\u00f6thig macht. Weiss bestimmte nach dieser Methode f\u00fcr 10 Augen die Lage des Drehpunktes und fand dessen Abstand vom Hornhautpole im Ganzen etwas kleiner als Donders (s. die Tabelle auf folg. S.). Unter jenen Augen befand sich nur ein emmetropisches, dessen Drehpunkt 12,899 mm. hinter dem Hornhautpole gefunden wurde.\nVon den \u00e4lteren Bestimmungen der Lage des Drehpunktes, welche alle von der Voraussetzung ausgingen, dass es einen solchen wirklich gebe, seien hier nur die Ergebnisse der Untersuchungen von Donders und Doter 1 angef\u00fchrt. Die Methode derselben ist folgende: \u201eMan bestimmt, wie gross die Bewegungswinkel (mit gleichen Excursionen nach beiden Seiten) sein m\u00fcssen, um die beiden Endpunkte des gemessenen horizontalen Durchmessers der Hornhaut, einen nach dem andern, mit demselben Punkte im Raume zusammenfallen zu lassen.\u201c Die Messung des horizontalen Cornealdurch-messers geschieht mit H\u00fclfe des Ophthalmometers. Die Bestimmungen wurden nur f\u00fcr horizontale Blickbewegungen gemacht; da aber gerade f\u00fcr diese nach den Untersuchungen von M\u00fcller und Berlin ein fester Drehpunkt noch am ehesten wahrscheinlich ist, so wird der Werth dieser Bestimmungen durch das Hypothetische ihrer Voraussetzungen wohl wenig beeintr\u00e4chtigt.\nVor dem Auge wurde ein horizontaler Gradbogen aufgestellt, dessen Mittelpunkt mit dem vermuth liehen Orte des Drehpunktes ungef\u00e4hr zusammenfiel. Gegen\u00fcber dem Auge war ein Fernrohr aufgestellt, dessen Axe mit der Axe der Hornhaut zusammenfiel, wenn\n1 Dondees, Die Anom. der Refract, u. Accommod. S. 156.\n30*","page":467},{"file":"p0468.txt","language":"de","ocr_de":"468 Hering, Physiol. Optik IV. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nein bestimmtes Visirzeichen auf dem Gradbogen fixirt wurde. Ein verticales Haar war vor dem Auge so angebracht, dass es ebenfalls durch diese Axe ging, so dass also der Mittelpunkt des Fadenkreuzes, das Haar und die Hornhautmitte sich f\u00fcr den Beobachter deckten. Nun wurde ein zweites Visirzeichen, welches der Untersuchte immer fixiren musste, auf dem Gradbogen soweit seitw\u00e4rts geschoben, bis der Hornhautrand sich mit dem Haare deckte und der Bogen abgelesen, um welchen das zweite Visirzeichen von dem ersten abstand. Dieselbe Bestimmung wurde nach der andern Seite hin gemacht. Beide Bogen zusammen wurden f\u00fcr den Winkel der Drehung genommen, welche das Auge ausf\u00fchren musste, um nach einander das eine und das andere Ende des horizontalen Cornealdurchmessers in die verl\u00e4ngerte Axe des Fernrohres zu bringen. Aus diesem Winkel und dem Cornealdurchmesser wurde der Abstand des Drehpunktes von der Hornhautbasis berechnet und dazu 2,6 mm. addirt. Die Methode setzt voraus, dass der Drehpunkt auf der Cornealaxe liegt.\nDie folgende Tabelle giebt die nach dieser Methode von Don-ders und Doyer und sp\u00e4ter von Mauthner1 gefundenen Mittelwerthe in Millimetern f\u00fcr emmetropische, myopische und hypermetropische Augen.\n\t\t\tLage des Drehpunktes\t\t\t\n\t\tL\u00e4nge der Seh-\t\tI\t\t\n\t\taxe.\thinter der Hornhaut.\tvor der hinteren Fl\u00e4che der Sle-rotica.\thinter der Mitte der Sehaxe.\t\n1.\tE.\t23,53\t13,45\t9,99\t1,77\t| Donders\n2.\tM.\t25,55\t14,52\t11,03\t1,75\t( und\n3.\tH.\t22,10\t13,22\t8,88\t2,17\t1 Doyer.\n1.\tE.\t24,98\t13,73\t11,25\t1,24\t\n2.\tM.\t27,23\t15,44\t11,79\t1,82\t1 /Mauthner.\n3.\tH.\t23,08\t13,01\t10,07\t1,47\t1 |\nII. Die Aiigeiibewegungen beim Fernsehen.\nWenn der Blickpunkt vom Orte a entlang einer horizontalen Geraden nach dem Orte b bewegt wird, ohne dass dabei der Kopf irgendwelche Bewegung macht, so ist die Ebene, welche durch den Drehpunkt eines Auges und durch die beiden Orte a und b geht, die von der Gesichtslinie dabei durchmessene Bahn. In der Senkrechten,\n1 Mauthner, Vorles. \u00fcber d. opt. Fehler d. Aug. S. 640. Wien 1876.","page":468},{"file":"p0469.txt","language":"de","ocr_de":"Die Augenbewegungen beim Fernsehen.\n469\nwelche im Drehpunkte des Auges auf dieser Ebene errichtet wird, liegt die Axe der Drehung. Wenn der bei Beginn der Drehung mit dieser Senkrechten zusammenfallende Durchmesser des Auges auch w\u00e4hrend des ganzen Verlaufes der Drehung in dieser Lage beharrt, so ist derselbe die festeAxe der Drehung. Die Gesichtslinie k\u00f6nnte aber in genau derselben ebenen Bahn von Punkt a nach b bewegt werden, ohne dass doch die Drehung des Augapfels um einen w\u00e4hrend der Drehung feststehenden Durchmesser des Augapfels erfolgte. Man denke sich in das Auge eine starke lange Nadel so eingestossen, dass sie mit der Gesichtslinie zusammenf\u00e4llt, und stelle sich vor, man fasse das in den Baum hinausragende St\u00fcck der Nadel an seinem Ende zwischen zwei Fingern und schiebe die Nadel in der Horizontalebene vorw\u00e4rts, so dass sie wieder dieselbe Bahn beschreibt wie vorhin die Gesichtslinie des activ bewegten Auges. Dann k\u00f6nnte man w\u00e4hrend der Verschiebung die Nadel zugleich zwischen den Fingern etwas um sich selbst drehen und damit den ganzen, fest mit der Nadel verbundenen Augapfel um die Gesichtslinie rollen, soweit es seine lockeren Befestigungen an der Orbita gestatten. Diesenfalls nun w\u00fcrde die Drehung des Augapfels zwar ebenfalls immer um die zur Ebene der Bahn im Drehpunkt senkrecht stehende Linie erfolgen, aber es w\u00fcrde nicht w\u00e4hrend der ganzen Drehung ein und derselbe Durchmesser des Auges in dieser Verticalen bleiben, sondern wir w\u00fcrden, weil wir zugleich den Augapfel um die Nadel rollen, auch immer andere Durchmesser desselben in die verticale Lage und also mit der im Kopfe festliegenden verticalen Axenlinie zum Zusammenfallen bringen. Es w\u00fcrde somit in jedem Augenblicke ein anderer Durchmesser des Auges die jeweilige oder augenblickliche Drehungsaxe im Augapfel sein. Je nachdem man nun die Sache auffasst, kann man sagen, das Auge werde dabei um eine im Kopfe feststehende verticale Linie (Axe) gedreht, gleichzeitig aber auch um die Gesichtslinie gerollt, oder man kann, wenn man den jeweilig in jener verticalen Linie liegenden Durchmesser des Auges als die augenblickliche Drehungsaxe bezeichnet, sagen, der Augapfel werde successive um immer andere seiner Durchmesser oder um augenblickliche Augapfelaxen gedreht.\nDa die erstere Auffassung anschaulicher ist, so wollen wir sie im Folgenden beibehalten.\nWenn die Gesichtslinie bei ihrer Bewegung eine irgendwie gelegene ebene Bahn durchmisst, so erfolgt also unserer Annahme gem\u00e4ss die Drehung stets um eine im Kopfe feststehende Axe, welche im Drehpunkt auf der Bahnebene senkrecht steht, aber es kann","page":469},{"file":"p0470.txt","language":"de","ocr_de":"470 Hering, Physiol. Optik IY. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\ndabei entweder immer derselbe Durchmesser des Augapfels mit der im Kopfe festen Drehungsaxe zusammenfallen, oder es kann, weil gleichzeitig eine Rollung des Augapfels um die Gesichtslinie stattfindet, in jedem Augenblicke der Drehung ein anderer Durchmesser des Augapfels in die im Raume festliegende Drehungsaxe ein treten. Die erste Art der Drehung werden wir eine einfache Drehung des Auges, die zweite eine mit Rollung verbundene Drehung nennen.\nEs gilt nun festzustellen, wie das Auge, wenn seine Gesichtslinie eine ebene Bahn beschreibt, sich wirklich dreht, ob einfach oder mit Rollung.\nDiese Frage hat Listing 1 auf Grund einer rein theoretischen Betrachtung mit einem Satze beantwortet, welcher als das Listing\u2019sehe Gesetz bezeichnet wird, und welcher besagt, dass es eine, aber auch nur eine ganz bestimmte Lage des Augapfels in der Orbita und also auch nur eine bestimmte Stellung der Gesichtslinie relativ zu den drei Haupteb enen des Kopfes giebt, aus welcher heraus die Gesichtslinie in jeder beliebigen ebenen Bahn durch einfache Drehung und also ohne gleichzeitige Rollung bewegt werden kann. Diese ganz bestimmte Lage des Augapfels sammt seiner Gesichtslinie in der Orbita heisst die Prim\u00e4r Stellung, jede andere wirklich vorkommende Lage der Gesichtslinie eine S e cund\u00e4rstel -lung. Denkt man sich also durch diese Prim\u00e4r Stellung der Gesichtslinie und durch diejenige Secund\u00e4rstellung, in welche sie \u00fcbergef\u00fchrt werden soll, eine Ebene gelegt, so ist nach jenem Gesetze der bei Beginn der Drehung zu dieser Ebene im Drehpunkte senkrecht stehende Durchmesser des Augapfels auch w\u00e4hrend des ganzen Verlaufs der Drehung die Drehungsaxe, und damit ist uns zugleich die Lage des ganzen Augapfels f\u00fcr jede dieser Bahn-ebene angeh\u00f6rige Secund\u00e4rstellung der Gesichtslinie gegeben.\nRein theoretisch betrachtet k\u00f6nnte bei einer gegebenen Stellung der Gesichtslinie relativ zum Kopfe und zur Orbita der Augapfel sehr verschiedene Lagen in der Orbita haben, denn man kann sich den Augapfel um die feststehende Gesichtslinie gerollt denken, soweit es seine Anheftungen in der Orbita zulassen. Wir haben aber schon im ersten Capitel gesehen, dass, wenn bei aufrechtem Kopfe die Gesichtslinien horizontal und parallel geradeaus gestellt sind, auch die Netzhaut und somit der ganze Augapfel immer dieselbe Lage zu den drei Hauptschnitten des Kopfes hat; denn wir fanden\n1 Ruete, Lehrb. d. Ophthalmologie S. 37. 2. Aufl. Yergl. auch Listing\u2019s nachtr\u00e4gliche Bemerkungen in den G\u00f6ttinger Nachrichten 1869. Nr. 17.","page":470},{"file":"p0471.txt","language":"de","ocr_de":"Listing\u2019s Gesetz.\n471\ndabei, von ganz kleinen Abweichungen abgesehen, die Lage des mittlen L\u00e4ngsschnittes jeder Netzhaut als eine ganz bestimmte. Nach dem LiSTiNG\u2019schen Gesetze w\u00fcrde dasselbe f\u00fcr jede beliebige andere Stellung der Gesichtslinie zum Kopfe gelten. Jeder bestimmten Se-cund\u00e4rstellung der Gesichtslinie entspr\u00e4che auch eine ganz bestimmte Lage der Netzhaut und des Augapfels in der Orbita, und wenn uns diese Lage f\u00fcr die Prim\u00e4rstellung bekannt ist, so k\u00f6nnen wir sie nach jenem Gesetze auch f\u00fcr jede Secund\u00e4rstellung finden. Wir denken uns dann durch die in dieser Secund\u00e4rstellung befindliche Gesichtslinie und durch ihre Prim\u00e4rstellung eine Ebene gelegt und das Auge um den zu dieser Ebene senkrechten Durchmesser des Augapfels als feste Axe aus der Prim\u00e4rstellung in die gegebene Secund\u00e4rstellung hineingedreht. Der Durchmesser also, welcher sowohl zur prim\u00e4ren als zur gegebenen secund\u00e4ren Stellung der Gesichtslinie senkrecht liegt, ist derjenige, welcher bei beiden Augenstellungen dieselbe Lage in der Orbita hat. Wenn uns aber einerseits die Lage der Gesichtslinie, andererseits die Lage eines zweiten Durchmessers des Augapfels in der Orbita gegeben ist, so ist damit die Lage des ganzen Augapfels in der Orbita bestimmt.\nHelmholtz 1 hat zuerst durch Versuche bewiesen, dass das Auge bei symmetrischer Kopfhaltung und beim Fernsehen, wobei also die Gesichtslinien immer nahezu parallel sind, wirklich ziemlich genau nach dem LiSTiNG\u2019schen Gesetze bewegt wird, und dass, wenn wir bei aufrechtem Kopfe einen gerade vor uns in gleicher H\u00f6he wie die Augen \u00fcber dem Horizonte gelegenen fernen Punkt fixiren, beide Gesichtslinien entweder genau oder wenigstens sehr angen\u00e4hert in ihrer Prim\u00e4r Stellung sind.\nUntersuchung mit H\u00fclfe von Nachbildern. Am besten f\u00fchrt man den Beweis f\u00fcr die Nichtigkeit des LiSTiNG\u2019schen Gesetzes mit einem linearen Nachbilde, das man sich auf einem passend gew\u00e4hlten Netzhautmeridiane erzeugt. Man setzt sich in erh\u00f6hter Stellung vor eine m\u00f6glichst grosse und entfernte einfarbige Wand, so dass der Kopf sich ungef\u00e4hr in gleicher H\u00f6he mit dem Mittelpunkte der Wand befindet. Am Stuhle ist ein Kopf halter befestigt, wie ihn die Photographen ben\u00fctzen. Ueber die Wand ist zun\u00e4chst ein horizontales und ein verticales, z. B. rothes Band gespannt, und beide B\u00e4nder kreuzen sich in dem Punkte der Wand, der sich in gleicher H\u00f6he mit den Augen und ungef\u00e4hr in der Medianebene des Kopfes befindet. Auf der Mitte der Durchkreuzungsstelle der B\u00e4nder wird eine schwarze Marke angebracht, welche\n1 Helmholtz, Arch. f. Ophthalmologie IX. (2) S. 153. 1863.","page":471},{"file":"p0472.txt","language":"de","ocr_de":"472 Hering, Physiol. Optik IY. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nals Fixationspunkt dient. Parallel dem verticalen Bande sind rechts und links, parallel dem horizontalen Bande oben und unten in regelm\u00e4ssigen Abst\u00e4nden schwarze Schn\u00fcre \u00fcber die Wand gespannt, so dass dieselben ein rechtwinkliges Gitter bilden. Hat die Wand ein Muster, das in horizontaler und verticaler Richtung in regelm\u00e4ssigen Abst\u00e4nden wiederkehrt, so kann man sich die Schn\u00fcre ersparen. Man h\u00e4lt nun den Kopf zwanglos aufrecht und die Antlitzfl\u00e4che parallel der Wand, bringt den beweglichen Kopf halter an den Hinterkopf und befestigt ihn. Hierauf fixirt man anhaltend die schwarze Marke und l\u00e4sst dann, nachdem man ein Auge geschlossen hat, den Blick langsam entlang dem horizontalen rothen Bande nach rechts oder links gehen, ohne den Kopf irgend zu verr\u00fccken. Dabei wandert das Nachbild des rothen Yerticalbandes als ein gr\u00fcner Strich mit dem Blicke \u00fcber die Wand und erscheint immer parallel zu den schwarzen Yerticalschn\u00fcren, falls das Auge sich w\u00e4hrend der Fixi-rung der Marke wirklich in der Prim\u00e4rstellung befunden hat. Das Nachbild des horizontalen Bandes wird diesenfalls gar nicht sichtbar, weil es immer mit dem Bilde des Bandes zusammenf\u00e4llt. Kehrt man mit dem Blicke zur schwarzen Marke zur\u00fcck, fixirt dieselbe wieder einige Zeit, um das Nachbild aufzufrischen, und l\u00e4sst nun den Blick auf dem verticalen Bande hinauf oder hinabgleiten, so erscheint das mitwandernde Nachbild des horizontalen Bandes immer parallel den horizontalen Schn\u00fcren, falls die Anfangsstellung der Gesichtslinie die wirkliche Prim\u00e4rstellung war; das Nachbild des verticalen Bandes aber bleibt jetzt unsichtbar. War jedoch beim Fixiren der Marke die Gesichtslinie des benutzten Auges nicht in der wirklichen Prim\u00e4rstellung, so bleibt bei Rechts- und Linkswendung des Blickes das wandernde Nachbild des verticalen Bandes nicht parallel zu den verticalen Schn\u00fcren und das des horizontalen Bandes erscheint als ein das rothe Band im jeweiligen Fixationspunkte unter sehr spitzem Winkel schneidender gr\u00fcner Strich; diesen Falls muss man den Kopf etwas vor- oder zur\u00fcckneigen, bis man die richtige Stellung gefunden. Ist dies geschehen und man l\u00e4sst nun den Blick am verticalen Bande hinauf oder hinuntergehen, und es erscheint jetzt das Nachbild des horizontalen Bandes nicht parallel mit den horizontalen Schn\u00fcren und wird das des verticalen als ein gegen dasselbe etwas verdrehter gr\u00fcner Strich gesehen, so muss man den Kopf ein wenig nach rechts oder links um seine verticale Axe drehen, bis die richtige Stellung gefunden ist. Gelingt endlich der Versuch nach beiden Richtungen, so ist die Gesichtslinie in der Prim\u00e4rstellung.","page":472},{"file":"p0473.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchung mit Nachbildern.\n473\nJetzt kann man den Versuch mit dem andern Auge wiederholen und man wird, wenn nur der Kopf eine gerade Haltung hat, finden, dass er auch mit diesem Auge gelingt. Ist die Wand zu nahe, so gelingt der Versuch mit keinem Auge genau, weil die Gesichtslinien erheblich vom Parallelismus abweichen und f\u00fcr convergirende Gesichtslinien nicht dasselbe Bewegungsgesetz gilt, wie f\u00fcr parallele. Ist aber die Wand massig fern, so ist die Convergenz so gering, dass der daraus resultirende Fehler gegen\u00fcber den sonstigen Fehlerquellen der Methode nicht ins Gewicht f\u00e4llt.\nMan kann sich die Auffindung der richtigen Kopfstellung sehr erleichtern , wenn man ein von Helmholtz 1 angegebenes Visirzeichen benutzt, \u00fcber dessen Gebrauch derselbe Folgendes angiebt:\n\u201eUm die Richtung der Prim\u00e4rstellung der Blickebene in Beziehung auf den Kopf zu fixiren, benutze ich ein Brettchen, welches ein Visirzeichen tr\u00e4gt und zwischen die Z\u00e4hne genommen wird. Es ist in Fig. 42 in geometrischer Projection abgebildet.\nDas Brettchen AB (13 cm. lang, 4 cm. breit) hat bei A einen den Zahnreihen entsprechenden bogenf\u00f6rmigen Ausschnitt, bei B tr\u00e4gt es eine vierkantige h\u00f6lzerne S\u00e4ule, an der ein horizontaler Streif C C aus steifem Papier mit Klebwachs, und daher leicht verschieblich befestigt ist. Die R\u00e4nder des Ausschnitts A werden auf beiden Seiten mit einem Wulst von heissem Schellack bedeckt, und wenn dieses zu erh\u00e4rten beginnt, dr\u00fcckt man die beiden Zahnreihen in den Schellack ab, indem man das Brettchen fest zwischen die Z\u00e4hne nimmt. Ist das Harz erkaltet, so ist nachher die Lage des Brettchens zwischen den Zahnreihen unverr\u00fcckbar festgestellt, und nach jeder Unterbrechung der Versuche immer wieder in genau unver\u00e4nderter Weise herzustellen.\nDer Papierstreifen CC wird so lang gemacht, als die Distanz der Drehpunkte der Augen. Man erkennt dies leicht, wenn man nach einem unendlich entfernten Objecte hinsieht. Dann erscheint der Papierstreifen in einem binocularen Doppelbilde ; man macht ihn so lang und dreht ihn so, dass die einander zugekehrten Enden seiner Doppelbilder gerade auf einander stossen. Alsdann m\u00fcssen die spitzen Enden des Streifens um die Entfernung der Drehpunkte (oder eigentlich der Centra der Visir-linien) beider Augen von einander entfernt sein. \u201c Der Streifen wird zun\u00e4chst so angebracht, dass seine Spitzen und die fixirte Marke der Wand sich decken.\nSind nun bei der anfangs gew\u00e4hlten Kopfstellung die Nachbilder\nFig. 42.\n1 Helmholtz, Physiol. Optik S. 517.","page":473},{"file":"p0474.txt","language":"de","ocr_de":"474 Hering, Physiol. Optik IV. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nbeim Wandern des Blickes den gleichgerichteten Schn\u00fcren nicht genau parallel geblieben, \u201eso muss man den Papierstreifen des Visirbrettchens verschieben, bis man die richtige Stellung desselben gefunden hat. Und zwar muss man den Papierstreifen weiter nach links schieben, wenn man nach oben blickend das linke Ende des Nachbildes h\u00f6her, nach unten blickend, dasselbe tiefer stehend findet. Findet man nach oben blickend dagegen das rechte Ende des Nachbildes h\u00f6her, nach unten blickend dasselbe tiefer, so verschiebt man nach rechts. Man verschiebe den Streifen dagegen nach oben, wenn man nach links blickend das linke, nach rechts blickend das rechte Ende des Nachbildes tiefer stehend findet, und umgekehrt. a\nHering 1 hat die Grenzen der Genauigkeit dieser Methode untersucht und gefunden, dass die Einzelbestimmungen innerhalb eines Spielraumes variirten, welcher an den \u00e4ussersten Grenzen des Blickfeldes bis auf 5\u00b0 wuchs, sodass Abweichungen von 2\u00b0 30' vom Mittelwerthe vorkamen.\nDer eben beschriebene Nachbildversuch wurde, abgesehen von der Anwendung des Visirzeichens, im Wesentlichen ebenso und zwar mit Benutzung nur eines verticalen Bandes zuerst von Donders 2 angestellt, jedoch mit beiden Augen zugleich, was streng genommen in solange nicht angeht, als man ihn nicht bereits f\u00fcr jedes Auge besonders angestellt hat. Denn gesetzten Falls die beiden Augen h\u00e4tten sich bei der Verti-calbewegung des Blickes etwas um die Gesichtslinien in entgegengesetztem Sinne gerollt, so w\u00fcrde gleichwohl, wie aus der S. 433 gegebenen Er\u00f6rterung hervorgeht, das Nachbild immer vertical erscheinen , ebenso das verticale Band, und nur bei sehr strenger Beobachtung w\u00fcrde man bemerken, dass entweder das Band oder das Nachbild in zwei sich unter sehr spitzen Winkeln schneidenden Doppelbildern erscheint, je nachdem bei der Ausgangsstellung die mittlen L\u00e4ngsschnitte vertical und parallel waren oder schwach nach oben divergirten. Analoges w\u00fcrde f\u00fcr die Horizontalbewegung gelten, falls dabei beide Augen sich in entgegengesetztem Sinne um die Gesichtslinie gerollt h\u00e4tten.\nBetreffs der sogleich zu besprechenden Bewegungen in schr\u00e4ger Richtung kam Donders zu keinem \u00fcbersichtlichen Resultate. Doch schien sich aus seinen Versuchen der Satz zu ergeben, dass dem Auge bei jeder bestimmten Stellung der Gesichtslinie relativ zum Kopfe eine ganz bestimmte Lage in der Orbita zukommt, welchen Satz sp\u00e4ter Helmholtz als das DoNDERs\u2019sche Gesetz bezeichnet hat.\nDer beschriebene Versuch lehrt nun zun\u00e4chst, dass die Gesichtslinie aus der beim Fixiren der Marke gegebenen Stellung heraus in horizontaler und verticaler Richtung durch einfache Drehung des Auges bewegt wird. Denn denkt man sich w\u00e4hrend des Fixirens der Marke durch das Verticalband und den Drehpunkt des Auges eine verticale Ebene gelegt, so schneidet dieselbe die Netzhaut in demjenigen Meridian, auf welchem das Bild des verticalen Bandes\n1\tHering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie IV. S. 252.1864.\n2\tDonders, Holland. Beitr\u00e4ge 1. Heft. S. 135.1846.","page":474},{"file":"p0475.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchung mit Nachbildern.\n475\nliegt. Wird nun das Auge, wie es das LiSTiNG\u2019sche Gesetz fordert, um den jetzt vertical stehenden Durchmesser des Augapfels gedreht, so k\u00f6nnen wir uns diese Ebene, welche die Richtungslinienebene des Nachbildes ist, mit gedreht denken. Dabei wird sie immer vertical bleiben und die verticale Wand in verticalen Linien schneiden. Auf diesen Schnittlinien der Wand aber wird das Nachbild erscheinen m\u00fcssen. Analog wird bei Yerticalbewegung des Blickes die Richtungslinienebene des Nachbildes vom horizontalen Bande die Wand immer in horizontalen Linien schneiden m\u00fcssen, falls die Drehung um den bei der Prim\u00e4rstellung horizontalen und zur Gesichtslinie rechtwinkligen Durchmesser des Auges erfolgt.\nWenn man nach Erzeugung des Nachbildes der B\u00e4nder in der Prim\u00e4rstellung den Blick in irgend welcher krummen oder zickzackf\u00f6rmigen Bahn zu einem beliebigen Punkte des verticalen oder horizontalen Bandes \u00fcberf\u00fchrt, so erscheint ersternfalls wieder das Nachbild des horizontalen, letzternfalls das des verticalen Bandes parallel zu den horizontalen, beziehentlich verticalen Schn\u00fcren, h\u00f6chstens zeigt das Nachbild, wie Helmholtz 1 angiebt, in den ersten Secun-den eine kleine Abweichung, die sich aber wieder verliert. Daraus geht hervor, dass, wie es Listing\u2019s Gesetz fordert, die Netzhaut und somit der ganze Augapfel immer wieder dieselbe Lage annimmt, sobald die Gesichtslinie wieder in dieselbe Secund\u00e4rstellung kommt, gleichviel auf welchem Wege die Gesichtslinie in diese Secund\u00e4rstellung gelangt ist ; immer vorausgesetzt, dass der Kopf die oben erw\u00e4hnte Haltung bewahrt und die Gesichtslinien ann\u00e4hernd parallel sind.\nUm nun zu beweisen, dass die Gesichtslinie auch bei der Bewegung in einer schr\u00e4g gelegenen ebenen Bahn aus der Prim\u00e4rstellung durch einfache Drehung des Auges und ohne gleichzeitige Rollung desselben bewegt wird, kann man den beiden sich immer rechtwinklig im prim\u00e4ren Fixationspunkte schneidenden B\u00e4ndern sammt dem Gitter der Parallelschn\u00fcre eine entsprechend geneigte Lage geben, was am leichtesten so geschieht, dass man B\u00e4nder und Schn\u00fcre auf einer sehr grossen um den prim\u00e4ren Fixationspunkt drehbaren Tafel anbringt. Man kann dann f\u00fcr jede beliebige Neigung der B\u00e4nder feststellen, dass, wenn man mit dem Nachbild im Auge den Blick auf dem einen Bande hingleiten l\u00e4sst, das Nachbild des andern immer sehr angen\u00e4hert parallel zu den bez\u00fcglichen Parallelschn\u00fcren erscheint, womit das LiSTiNG\u2019sche Gesetz durchg\u00e4ngig bewiesen ist.\n1 Helmholtz, Physiol. Optik S. 467.","page":475},{"file":"p0476.txt","language":"de","ocr_de":"476 Hering, Physiol. Optik IY. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nWir haben in der Einleitung die gerade, aufrechte Haltung des Kopfes als seine Prim\u00e4rstellung und die bei dieser Stellung durch die Drehpunkte der Augen gelegte Horizontalebene als die prim\u00e4re Blickebene bezeichnet ; zugleich haben wir darauf hingewiesen, dass von der genaueren Bestimmung dieser Prim\u00e4rstellung des Kopfes sp\u00e4ter zu sprechen sei. Die Prim\u00e4rstellung der Augen giebt uns zu dieser Bestimmung das Mittel. Hat man bei horizontal liegender Blickebene und parallel gestellten Gesichtslinien dem Kopfe diejenige Haltung gegeben, bei welcher die Gesichtslinien sich in der Prim\u00e4rstellung befinden, so ist auch der Kopf in seiner Prim\u00e4rstellung und die Blickebene hat ihre prim\u00e4re Lage relativ zum Kopfe. Deshalb heisst auch die bei Prim\u00e4rstellung des Kopfes durch die Drehpunkte der Augen gelegte Horizontalebene die prim\u00e4re Blickebene.\nHelmholtz1, welcher zuerst die G\u00fcltigkeit des LisTiNG\u2019schen Gesetzes auch f\u00fcr die schr\u00e4gen Bahnebenen der Gesichtslinien erwiesen hat, beschreibt seine zur genaueren Untersuchung ben\u00fctzte Methode folgendermaassen :\nn Als Gesichtsfeld dient eine an der Wand befestigte grosse h\u00f6lzerne Tafel, die mit hellgrauem Papier glatt \u00fcberzogen ist. Um die Stellung des Kopfes vor dieser sicher fixiren zu k\u00f6nnen, ist vor ihr in einer f\u00fcr die Accommodation des Beobachters passenden Entfernung ein kleines Tischchen aufgestellt und mit eisernen Klammern am Boden befestigt. Auf dem Tischchen ist ein eiserner Halter mit beweglichen Armen befestigt, wie man ihn in chemischen Laboratorien vielfach gebraucht, und dieser h\u00e4lt ein Brettchen \u00e4hnlich dem der Fig. 42, aber ohne die S\u00e4ule und das Visirzeichen. Das Brettchen dient nur dazu, dem Kopfe des Beobachters, wenn er die Z\u00e4hne darauf fest beisst, eine sichere Stellung der Tafel, gegen\u00fcber zu geben. Mittels der Z\u00e4hne kann die Stellung des Kopfes viel besser gesichert werden, als durch irgend welche Befestigung, welche nur die Weichtheile desselben unmittelbar unterst\u00fctzt. Ein zweiter verstellbarer horizontaler Arm des Halters wird so festgeschraubt, dass die Stirn gegen ihn anliegt. Auf der Tafel wird dann, dem einen oder andern Auge gegen\u00fcber, ein passend gef\u00e4rbter Streif aus sehr steifem Papier oder d\u00fcnnem Holz befestigt, der in seiner Mitte mit einem Stech-kn\u00f6pfchen, und um dieses drehbar, befestigt wird. Den Streifen mache ich entweder halb weiss und halb schwarz, oder halb gr\u00fcn und halb roth, so dass die Trennungslinie beider Farben der L\u00e4nge des Streifens parallel durch die Mitte seiner Breite hinl\u00e4uft. Diese Trennungslinie giebt dann ein gut gezeichnetes Nachbild. Ferner werden feine schwarze F\u00e4den horizontal und vertical \u00fcber die Mitte des Streifens gespannt, und die Stellung des Zahnbrettchens so lange ge\u00e4ndert, bis die Nachbilder des horizontalen Streifens l\u00e4ngs des horizontalen Fadens verschoben diesem parallel bleiben, und ebenso die Nachbilder des vertical gestellten Streifens l\u00e4ngs des verticalen Fadens. Dabei ist aber zu bemerken, dass die Gesichtslinien parallel gehalten werden m\u00fcssen, und um dies zu contro-\n1 Helmholtz, Physiol. Optik S. 518.","page":476},{"file":"p0477.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchung mit Nachbildern.\n477\nliren, mache ich in der Entfernung meiner Augen von einander (68 Millimeter) Punkte auf den Stellen der Tafel, nach denen ich hinblicke, den einen dicht an der Linie, nach der ich hinblicke, den andern in gleicher H\u00f6he seitw\u00e4rts, so dass, wenn ich die beiden Punkte mit parallelen Gesichtslinien betrachte, sie sich scheinbar vereinigen.\u201c\n\u201eAuf diese Weise kann man die Prim\u00e4rlage des einen und andern Auges finden, \u2014 sie liegen bei mir um die Distanz der Augen selbst von einander entfernt, \u2014 dann kann man nachher dem Streifen, von dem das Nachbild gewonnen wird, beliebige schr\u00e4ge Richtungen geben und F\u00e4den \u00fcber seine Mittellinie hinspannen, um l\u00e4ngs dieser die Nachbilder zu verschieben.\u201c Bringt man nach dem Vorschl\u00e4ge von Helmholtz auf der Mitte der Tafel ein kleines St\u00fcck Spiegelglas an, welches den Fixationspunkt tr\u00e4gt, so kann man die senkrechte Lage der Gesichtslinie zur Tafelebene mittels des Spiegelbildes der Pupille controliren.\nHeking 1 untersuchte in \u00e4hnlicher Weise wie Helmholtz. Ein verti-caler Holzrahmen, der durch ein inneres Kreuz in vier kleinere Quadrate getheilt ist, tr\u00e4gt in seiner Mitte nach hinten hin eine horizontale Axe, welche in einem an der Wand befestigten Lager ruht und um welche der Rahmen drehbar ist. Nach vorne ist der Rahmen zur linken H\u00e4lfte mit blauen, zur rechten mit orangefarbenem, vollst\u00e4ndig ebenem Papier so \u00fcberspannt, dass die gerade Trennungslinie beider Farben genau durch den Drehpunkt des Rahmens geht. In diesem Punkte ist eine lange feine Stahlnadel senkrecht zur Ebene des Papiers eingesteckt, welche also genau in der Verl\u00e4ngerung der Axe liegt, um welche der Rahmen drehbar ist. Parallel zur Trennungslinie der Farben sind feine Linien \u00fcber das Papier gezogen, ausserdem eine durch den Drehpunkt der Tafel gehende quere Linie rechtwinklig zu den \u00fcbrigen. Der Drehpunkt des Rahmens befindet sich in der H\u00f6he der Augen.\nStellte er nun dieser Tafel das zu untersuchende Auge so gegen\u00fcber, dass ihm die feine horizontale Nadel in totaler Verk\u00fcrzung, d. h. punktf\u00f6rmig erschien, so traf die Gesichtslinie senkrecht auf die Ebene des Papiers. Die Drehbarkeit des Rahmens gestattete leicht die Untersuchung auch f\u00fcr alle schr\u00e4gen Bahnebenen. Um trotz der relativen N\u00e4he der Tafel die Gesichtslinien parallel zu erhalten, stellte er einen zweiten Rahmen vor dem ersten und ihm parallel auf, \u00fcber welchen verticale F\u00e4den derart ausgespannt waren, dass jeder von seinen beiden Nachbarn denselben Abstand hatte, wie die beiden Drehpunkte beider Augen von einander. Richtete er die parallel gestellten Gesichtslinien auf die Tafel, so sah er diese F\u00e4den einfach, trotzdem dass jeder einzelne ihm Doppelbilder gab. Es bildete sich ihm n\u00e4mlich das ganze Fadensystem im rechten und im linken Auge auf ann\u00e4hernd correspondirenden Netzhautschnitten ab, wenngleich je zwei eorrespondirend gelegene Fadenbilder nicht von einem und demselben, sondern von zwei verschiedenen F\u00e4den herr\u00fchrten. Sobald aber die Bilder der scheinbaren F\u00e4den in zwei zerfielen, war dies ein Zeichen, dass die Gesichtslinien nicht mehr parallel standen. Allerdings erhielt er, w\u00e4hrend z. B. das linke Auge auf den Drehpunkt der Tafel eingestellt war, im rechten Auge ebenfalls ein Bild\n1 Hering, Die Lehre vom binocul. Sehen S. 74. Leipzig 1868.","page":477},{"file":"p0478.txt","language":"de","ocr_de":"478\tHering, Physiol. Optik IY. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\ndieser Farbengrenze, welches aber nur st\u00f6rend werden konnte, wenn die Lage des Nachbildes sich der horizontalen n\u00e4herte.\nDer von Hering bei diesen Versuchen benutzte, von Donders 1 f\u00fcr verschiedene Zwecke modificirte Kopf halter (Fig. 43) war folgendermassen eingerichtet. Zwei verticale Metalls\u00e4ulen sind in einem Stative oder auf einem horizontalen Tische eingef\u00fcgt in einer Entfernung von einander, welche um die H\u00e4lfte gr\u00f6sser ist, als der Kopf breit. Nahe ihrem oberen\nEnde hat jede S\u00e4ule eine horizontale Bohrung, in welcher eine kurze Axe drehbar ist, die nach beiden Seiten \u00fcber die S\u00e4ule hinausragt. Die Axe der einen S\u00e4ule liegt genau in der gedachten Verl\u00e4ngerung der andern. Das medianw\u00e4rts hervorragende St\u00fcck jeder horizontalen Axe ist vertical durchbohrt, und durch das Loch ein verti-caler Messingstab von etwa 12 cm. L\u00e4nge gesteckt, dessen oberes Ende etwas \u00fcber die Axe hervorragt. Das obere St\u00fcck dieses Stabes ist mit Schraubeng\u00e4ngen versehen, und durch zwei Schraubenmuttern, deren eine unter-, die andere oberhalb der durchbohrten Axe sitzt, kann der Messingstab hinauf und hinab und in jeder beliebigen Stellung festgeschraubt werden. An das untere Ende jedes dieser beiden verticalen Messingst\u00e4be ist ein gleich dicker horizontal nach vorn gerichteter Stab von etwa 8 cm. L\u00e4nge angesetzt, welcher also mit dem verticalen Stabe ein rechtwinkliges Knie bildet. Das freie Ende des horizontalen Knieschenkels ist wieder mit Schraubeng\u00e4ngen versehen, und durch die horizontale Bohrung eines horizontalen Querbalkens gesteckt, welcher abermals durch zwei Schraubenmuttern an den horizontalen Schenkeln vor- und zur\u00fcckgeschoben werden kann. Der horizontale Querbalken endlich tr\u00e4gt ein Brettchen mit einem Ausschnitte f\u00fcr die Z\u00e4hne, welches um eine verticale Axe auf dem Querbalken drehbar, durch eine Schraube zu fixiren und im Uebrigen ganz so eingerichtet ist, wie das Brettchen des von Helmholtz angegebenen Visirzeichens. Fasst man dieses mit Schellack belegte Brettchen mit den Z\u00e4hnen, so kann man durch Hinauf- oder Hinabschrauben der beiden verticalen Messingst\u00e4be das Brettchen sammt dem an ihm fixirten Kopfe hinauf- und hinabschieben; durch Vor- oder Zur\u00fcckschieben des Querbalkens, welcher das Brettchen tr\u00e4gt, kann man letzteres und mit ihm den Kopf vor- oder zur\u00fcckschieben, endlich kann man durch Drehung des Brettchens um\nFig. 43.\nI Donders, Arch. f. Ophthalmologie XXL (1) S. 70 und (3) S. 110.1875.","page":478},{"file":"p0479.txt","language":"de","ocr_de":"Kopfhalter.\n479\nseine verticale Axe den Kopf nach links oder rechts drehen. Man kann also auf diese Weise dem Kopfe diejenige Stellung geben , bei welcher die Verbindungslinie der beiden Drehpunkte der Augen genau in die mathematische Axe f\u00e4llt, um welche sich die beiden Metallaxen in den beiden S\u00e4ulen drehen k\u00f6nnen. Da nun mit diesen Metallaxen das Zahnbrettchen verbunden ist, und in letzterem wieder der Kopf unverr\u00fcckbar fixirt ist, so kann man mit H\u00fclfe des Apparates den Kopf um jene Axe drehen und mittels eines an der Metallaxe befestigten Zeigers auf einem Gradbogen die jeweilige Neigung des Kopfes, beziehentlich der Blickebene ablesen. H\u00e4lt man n\u00e4mlich z. B. den Kopf zun\u00e4chst aufrecht, und stellt die Blickebene horizontal, neigt dann den Kopf um 10\u00b0 nach vorne, so hat sich die Blickebene um 10\u00b0 gehoben, w\u00e4hrend die Drehpunkte beider Augen ihren Ort im Raume nicht ge\u00e4ndert haben.\nUm zu controliren, dass die Drehpunkte der Augen in der Drehungs-axe des Apparates liegen, stellt man vor dem am Brettchen fixirten Kopfe einen verticalen, der Frontalebene parallelen Spiegel auf und vor jedes Auge ein Fadenkreuz, dessen Ebene der Spiegelebene parallel und dessen einer Schenkel vertical, der andere horizontal ist. Beide Fadenkreuze haben einen der Augendistanz gleichen Abstand. Deckt sich f\u00fcr jedes Auge das Fadenkreuz mit seinem Spiegelbilde, so stehen die Gesichtslinien senkrecht auf der Spiegelebene. Dreht man nun, w\u00e4hrend man den Mittelpunkt des Fadenkreuzes fixirt, den Kopf im Kopf halter nach vorn oder hinten, und bleibt dabei die Deckung zwischen Fadenkreuz und Spiegelbild erhalten, so dreht sich der Kopf um die durch beide Drehpunkte der Augen gehende Axe. Selbstverst\u00e4ndlich muss man eine Entfernung des Spiegels und einen Abstand des Fadenkreuzes vom Spiegel w\u00e4hlen, bei welchem letzteres und sein Spiegelbild gleichzeitig ziemlich scharf gesehen werden k\u00f6nnen. Man findet durch Ausprobiren leicht diejenige Stellung des Zahnbrettchens, bei welcher f\u00fcr die beiden Augen die Verschiebung des Spiegelbildes auf ein Minimum gebracht wird; dann liegt derjenige Punkt des Auges in der Axe des Apparates, welcher f\u00fcr unsere Zwecke als der feste Drehpunkt des Auges angesehen werden darf.\nDer Apparat erspart, wenn er einmal eingestellt ist, viel Zeit und M\u00fche, da man ihn dann zu den mannigfachsten Versuchen ben\u00fctzen kann, bei denen es darauf ankommt, die Augenstellung genau zu controliren und die absolute Lage des Drehpunkes zu kennen. Bringt man vor dem Apparate eine verticale Ebene an, welche der Drehungsaxe des Apparates parallel geht, und markirt die beiden Punkte, in welchen die horizontal und parallel geradeaus gestellten Gesichtslinien senkrecht auf die Tafel treffen, so kann man aus dem Abstande eines beliebigen, horizontal nach rechts oder links von diesen Punkten gelegenen Fixationspunktes den Winkel der Seitenwendung der bez\u00fcglichen Gesichtslinie leicht berechnen, insofern dieser Abstand dividirt durch den Abstand der Beobachtungsebene von dem Drehpunkte des Auges die Tangente des gesuchten Winkels giebt. Da man ausserdem am Apparate die jeweilige Neigung der Blickebene ablesen kann, so kennt man jederzeit genau die Lage der Gesichtslinie relativ zu den Hauptebenen des Kopfes.\nDie Genauigkeit, mit welcher die Vergleichung der Richtung der","page":479},{"file":"p0480.txt","language":"de","ocr_de":"480 Hering, Physiol. Optik IY. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nNachbilder mit jener der F\u00e4den nach derart verbesserten Methoden geschieht, geht nach Helmholtz bis zu einem halben Grade etwa. Er fand bei diesen Beobachtungen gewisse kleine Ver\u00e4nderungen, die von dem Wege abhingen, auf dem das Auge in die betreffende Stellung gebracht worden war, und selbst an verschiedenen Tagen zu wechseln schienen. Auch fand er die Prim\u00e4rstellung an einem Tage ein wenig h\u00f6her, am andern tiefer, und sie ver\u00e4nderte sich sogar, w\u00e4hrend er eine Reihe von Versuchen ausftihrte.\nUntersuchung nach der Substitutionsmethode. Eine zweite Methode zur Untersuchung der Netzhautlagen bei Parallelstellung der Gesichtslinien ist die schon im ersten Capitel beschriebene Substitutionsmethode. Dieselbe hat den Nachtheil, dass sie im Allgemeinen nur die relative Lage der beiden Netzh\u00e4ute zu einander feststellt, nicht deren Lage in Bezug auf die drei Hauptschnittebenen des Kopfes, wie dies die Nachbildmethode thut. Nur wenn die Gesichtslinien parallel der Medianebene liegen, ergiebt sich daraus bei normalen Augen zugleich die Lage der Netzh\u00e4ute in Bezug auf die Hauptebenen des Kopfes. Dagegen hat aber diese Methode den Vortheil einer viel gr\u00f6sseren Genauigkeit, welche nach Helmholtz bis auf Vto Grad reicht. Hering1 fand nach dieser Methode zun\u00e4chst, dass, wenn die Gesichtslinien parallel der Medianebene liegen, die bei der Prim\u00e4rstellung verticalen Meridiane um so mehr nach oben divergiren, je mehr man die Blickebene relativ zum feststehenden Kopfe erhebt, um so mehr nach unten, je mehr man die Blickebene senkt, und dass also die mittlen L\u00e4ngsschnitte, wenn sie in der Prim\u00e4rstellung nach oben divergiren, ihre Divergenz bei Hebung der Blickebene verst\u00e4rken, w\u00e4hrend sie bei der Senkung derselben allm\u00e4hlich parallel und sogar convergent nach oben werden k\u00f6nnen.\nAbweichungen von Listing\u2019s Gesetz in diesem Sinne wurden sp\u00e4ter von Berthold2, Helmholtz3, Donders4, Landolt.5, Le Conte6 best\u00e4tigt.\nHering fand ferner, dass bei den meisten Parallelstellungen, welche irgend erheblich von der Prim\u00e4rstellung abweichen, der Parallelismus der in der Prim\u00e4rstellung verticalen Meridiane nicht genau erhalten bleibt und dass dabei Divergenzen und Convergenzen dieser\n1\tHering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie III. S. 175. 1863.\n2\tBerthold, Arch. f. Ophthalmologie XI. (3) S. 10 /. 1865.\n3\tHelmholtz, Physiol. Optik S. 523. 1867.\tt\n4\tDonders, Onderzoek. ged. in het Physiol. Labor. Utrecht 3. R. II. p. 380. 1873 und Arch. f. d. ges. Physiol. XIII. S. 390. 1876.\n5\tMitgetheilt von Aubert m Handb. d. gesammt. Augenheilk. von Graefe u.\nSaemischII. S. 660. 1876.\t\u00ab TT tt i ,n\tx, xr , T\n6\tle Conte, Amer, journ. of scienc. N. S. II. Vol. 49 (citirt nach Nagel s Jahresbericht f. Ophthalmologie 1872).","page":480},{"file":"p0481.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchung nach der Substitutionsmethode.\n481\nMeridiane oder genauer gesagt ihrer Richtungslinienebenen von mehreren Graden Vorkommen, was sp\u00e4ter von vielen Seiten best\u00e4tigt wurde. Diese Abweichungen sind individuell verschieden, und Helmholtz meint, dass sie bei kurzsichtigen Augen st\u00e4rker sind, als bei normalsichtigen. Es ist jedoch immer zu bedenken, dass diese Abweichungen nur dann erheblicher sind, wenn die Gesichtslinien weiter aus der Prim\u00e4rstellung herausgedreht werden, als beim gew\u00f6hnlichen Sehen der Fall ist. Denn wie oben gezeigt wurde, vermeiden wir alle st\u00e4rker abweichenden Secund\u00e4rstellungen der Gesichtslinie dadurch, dass wir den Kopf entsprechend wenden.\nMessende Y ersuche \u00fcber diese Anomalien, wie sie Berthold nannte, wurden dann von diesem mitgetheilt. Er gab an, dass sein kurzsichtiges (Vio) Auge dem LiSTiNG\u2019schen Gesetze nicht folgt, dass aber die Abweichung f\u00fcr das gew\u00f6hnlich benutzte Blickfeld sehr unbedeutend ist und erst bei starker Erhebung und Senkung auff\u00e4llig wird. Helmholtz 1 fand mit H\u00fclfe der Substitutionsmethode Abweichungen, die f\u00fcr jedes einzelne Auge nur 9 Winkelminuten betrugen. Volkmann1 2 f\u00fcr seine etwas kurzsichtigeren Augen Maximalabweichungen beim Blicke schr\u00e4ge nach unten rechts und links bis zu 54 Minuten f\u00fcr beide Augen zusammengenommen, also 27 Minuten f\u00fcr jedes Auge. Hering3 4 kam auf Grund eingehender Untersuchungen zu dem Ergebniss, dass, abgesehen von den Ver\u00e4nderungen der Divergenz der mittlen L\u00e4ngsschnitte bei Hebung und Senk ung der Blickebene, die Divergenz der ersteren wuchs, wenn bei beliebiger Neigung der Blickebene die Gesichtslinien nach rechts oder links gewandt wurden, und dass der Zuwachs hierbei um so st\u00e4rker war, je st\u00e4rker die Blickebene gehoben war. Die gr\u00f6sste Abweichung von Listing\u2019s Gesetz betrug 4U. Donders 4 fand die Anomalien im gew\u00f6hnlich ben\u00fctzten Gesichtsfelde kaum merkbar und erst gegen die Grenzen des Blickfeldes betr\u00e4chtlich.\nVolkmann untersuchte die Lage der Mittelschnitte bei verschiedenen Parallelstellungen nach der Substitutionsmethode von Hering mittels Halblinien, welche haploskopisch zu einer geraden Linie zusammengesetzt wurden (vergl. Cap itel I) ; Berthold wesentlich nach derselben Methode nur setzte er an Stelle der Halblinien frei durch den Raum gespannte F\u00e4den weil es ihm schwer fiel, die Gesichtslinien parallel zu halten. Er konnte so einen fernen Punkt fixiren, w\u00e4hrend doch jede Gesichtslinie durch das Ende je eines der beiden Halbf\u00e4den ging, welche haploskopisch zu einem scheinbar zusammenh\u00e4ngenden Faden vereinigt wurden.\nHelmholtz beschreibt seine Methode folgendermassen : \u201e F\u00fcr die Pr\u00fcfung der Parallelstellungen habe ich an einer verticalen Holztafel zwei durch kleine Gewichte gespannte F\u00e4den aufgeh\u00e4ngt, einen weissen vor schwarzem Grunde und einen schwarzen vor weissem Grunde. Die\n1\tHelmholtz, Physiol. Optik S. 468.\n2\tMitgetheilt von Helmholtz ebenda S. 468.\n3\tHering, Die Lehre vom binocul. Sehen S. 88.1868.\n4\tDonders, Arch. f. d. ges. Physiol. XIII. S. 391. 1876.\nHandbuch der Physiologie. Bd. ni.","page":481},{"file":"p0482.txt","language":"de","ocr_de":"482 Hering, Physiol. Optik IV. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nEntfernung der Stifte, an denen die F\u00e4den hingen, wurde so gew\u00e4hlt, dass bei den Beobachtungen die fixirten Mittelpunkte der F\u00e4den die Distanz meiner Augen, 68 Millimeter, hatten. Nach unten hin lehnten sich die F\u00e4den an zwei Nadeln, die in das Holz eingesteckt waren und die F\u00e4den etwas convergiren machten. Hinter der Mitte der F\u00e4den, die zu fixiren waren, war eine horizontale Linie gezogen, gerade in der H\u00f6he meiner Augen. Die F\u00e4den wurden mit parallel gerichteten Gesichtslinien betrachtet, wobei sie in denselben Ort des gemeinschaftlichen Sehfeldes zu liegen kommen, und die Nadel am untern Ende des einen wurde so lange verschoben, bis sich die F\u00e4den nicht mehr kreuzten und bei schwacher Convergenz nicht mehr in divergenten, sondern in parallelen Bildern erschienen. Dadurch, dass man den F\u00e4den verschiedene Farbe giebt, l\u00e4sst sich ihre Congruenz im Gesichtsfelde besser beurtheilen, als wenn sie gleichfarbig sind, wobei sie leicht stereoskopisch verschmelzen, selbst wenn sie sich durchaus noch nicht decken. Wenn man sie als nahe Doppelbilder sieht, so erscheinen ihre Mitten getrennt und ihre Enden vereinigt. Man muss dann darauf achten, dass die Vereinigung nach oben und nach unten hin in derselben Weise vor sich geht.\nIndem ich den Kopf vorn\u00fcber und hinten\u00fcber neigte, konnte ich diese Versuche mit parallel gesenkten und parallel gehobenen Gesichts -linien wiederholen. Bei sp\u00e4teren Wiederholungen dieser Versuche fand ich es noch vorteilhafter, dem einen Auge als Object einen geradlinig begrenzten rothen Streifen von 3 Millimeter Breite, dem andern einen blauen Faden, beide auf schwarzem Grunde zu zeigen. Der Faden muss in der Mitte des rothen Streifens erscheinen\u201c.\nDiese Methode unterscheidet sich von den \u00fcbrigen wesentlich dadurch, dass ein horizontaler Faden im Gesichtsfelde war; ein solcher veranlasst, wie schon oben S. 359 erw\u00e4hnt wurde und noch zu besprechen sein wird, die Augen zur Herstellung des Parallelismus correspondiren-der Meridiane, woraus sich vielleicht erkl\u00e4rt, dass Helmholtz kleinere Abweichungen fand, als andere Beobachter.\nZur Untersuchung nach der Substitutionsmethode diente Hering folgende Vorrichtung: \u201eAuf einem horizontalen, ebenen Tische steht an einem Stativ befestigt eine verticale Tafel, die bis auf den Tisch herabreicht, und deren Vorderseite mit grauem Papier \u00fcberzogen ist. In den Tisch sind vor der verticalen Beobachtungstafel die beiden S\u00e4ulen des oben beschriebenen Kopfhalters eingeschraubt. Die Tafel l\u00e4uft der queren Axe des Halters genau parallel und steht zun\u00e4chst im Fernpunkte der parallel gestellten Augen. Auf ihr befinden sich zwei lange, f\u00fcnfzehn Millimeter breite Messingstreifen so befestigt, dass der linke dem linken, der rechte dem rechten Auge gerade gegen\u00fcber liegt. Jeder von den beiden ist um denjenigen Punkt der Tafel drehbar, welcher mit dem Drehpunkte des gegen\u00fcberliegenden Auges auf gleicher H\u00f6he und ihm genau gegen\u00fcber liegt. Die Drehpunkte der beiden Messingstreifen haben also dieselbe Distanz wie die Augen, und wenn die Gesichtslinien parallel geradeaus gestellt sind, so trifft jede im Drehpunkte des gegen\u00fcberliegenden Streifens senkrecht auf die Tafel. Der eine Streifen reicht nach unten, der andere nach oben bis nahe an den Rand der Tafel und tr\u00e4gt dort einen Nonius, welcher an einem graduirten Kreisbogen gleitet, so","page":482},{"file":"p0483.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchung nach der Substitutionsmethode.\n483\ndass man die Abweichung des Streifens von der verticalen Lage auf Minuten ablesen kann. Nach der anderen Seite reicht jeder Streifen weniger weit, um nicht durch zu grosse L\u00e4nge die st\u00e4rkere Verdrehung der Streifen gegeneinander zu hindern. Auf der vorderen Seite sind beide Streifen mit demselben grauen Papier \u00fcberzogen wie die Tafel; ihre beiden Drehpunkte sind mit Tinte deutlich markirt. Der eine Streifen ist durch ein weisses Rosshaar genau l\u00e4ngs halbirt, der andere tr\u00e4gt zwei schwarze parallel gespannte Rosshaare, welche, das eine um 1 mm. nach links, das andere um 1 mm. nach rechts vom Drehpunkte des Streifens ab-weichen. Wenn die beiden Drehpunkte der Streifen binocular verschmelzen, so erscheint das weisse Haar des einen Streifens zwischen den beiden\nFig. 41.\nschwarzen, aber nur dann erscheinen alle drei parallel, wenn die Bilder der schwarzen Rosshaare auf der einen Netzhaut parallel zu demjenigen Netzhautmeridiane liegen, welcher mit dem, das Bild des weissen Rosshaares tragenden Meridiane der anderen Netzhaut correspondirt.\nDie beiden Punkte (/ und r Fig. 44) des Tisches, welche senkrecht unter dem Drehungspunkte der Augen liegen, sind markirt, und von jedem derselben ist eine gerade Linie (//' und rr\u2018) nach der verticalen Tafel hingezogen, welche rechtwinklig auf die untere Grenzlinie der Tafel trifft. Ausser diesen beiden Linien, welche so zu sagen die Projection der parallel geradeaus gestellten Gesichtslinien auf den Tisch darstellen, strahlen\n31*","page":483},{"file":"p0484.txt","language":"de","ocr_de":"484 Hering. Physiol. Optik IV. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nvon den Punkten / und r noch andere Linien radienf\u00f6rmig aus, welche unter einander um 5\u00b0 abweichen; die von dem einen Punkte ausgehenden sind roth, die anderen sind schwarz gezeichnet. Diese Linien stellen die Projectionen der um entsprechende Winkel innerhalb der horizontalen Blickebene nach rechts oder links gerichteten Gesichtslinien dar. Ausserdem sind zahlreiche quere Linien parallel der Tafel und der Verbindungslinie der Augendrehpunkte \u00fcber den Tisch gezogen, welche um je einen Centimeter von einander abstehen. An diesen Linien kann man, wenn man die Tafel dem Gesichte n\u00e4her oder ferner bringen will, con-troliren, dass dieselbe immer der Verbindungslinie der Augendrehpunkte parallel bleibt. Zwei kleine Zeiger am untern Rande der Tafel gestatten zugleich zu controliren, ob die Tafel die richtige Mittelstellung hat. Die Zeiger m\u00fcssen dann auf die Linie lll 2 und rr\u2018 des Tisches treffen. Schiebt man dann die Tafel entlang einer Querlinie seitw\u00e4rts, bis z. B. die beiden Zeiger auf die beiden Linien des Tisches treffen, welche je um 10\u00b0 von den mittlen Linien IV und rr\u2018 nach rechts abweichen, und stellt die Gesichtslinien wieder auf die Drehpunkte der beiden Messingstreifen ein, so weiss man, dass jede Gesichtslinie um 10\u00b0 nach rechts von der Medianebene abweiclit. Man kann also durch Verschiebung der Tafel den immer parallel bleibenden Gesichtslinien jede beliebige Seitenwendung nach rechts oder links geben, und zugleich den Grad der Seitenwendung auf dem Tische ablesen. Neigt man jetzt den Kopf vorw\u00e4rts, so giebt der Zeiger des Kopfhalters an einem Kreisbogen an, um wie viel man die Blickebene relativ zum Kopfe gehoben oder gesenkt habe. Die Blickebene selbst bleibt dabei immer horizontal und rechtwinklig zur Beobachtungstafel, welche man wieder bei jeder beliebigen Kopfneigung nach rechts oder links verschieben kann. Aus der Stellung endlich, welche man den beiden Messingstreifen geben muss, damit die drei Rosshaare parallel erscheinen, kann man ersehen, welche relative Lage die beiden mittlen L\u00e4ngsschnitte zu einander haben. Man kann dabei entweder beide Streifen aus der Verticallage ablenken oder auch nur einen; ersteren-falls kann man aus der Summe der beiden Ablenkungswinkel, letzteren-falls aus dem einfachen Ablenkungswinkel den Divergenzwinkel der mittlen L\u00e4ngsschnitte d. h. den Winkel berechnen, um welchen die eine Netzhaut um die Gesichtslinie verdreht werden m\u00fcsste, damit beide mittle L\u00e4ngsschnitte parallel l\u00e4gen.\nFick 1 und nach ihm Meissner 2 haben die Netzhautlage bei den verschiedenen Stellungen der Gesichtslinie mit H\u00fclfe des blinden Fleckes bestimmt. Doch giebt diese Methode minder genaue Resultate.\nDrehling geradliniger Nachbilder bei einfacher Drehung des Auges. Angenommen, ein Auge befinde sich in der Prim\u00e4rstellung, seine Gesichtslinie liege horizontal und sei auf den Punkt p einer zur Gesichtslinie verticalen Wand gerichtet. Ist durch diesen Punkt auf der Wand ein verticaler farbiger Streifen gelegt, so wird derselbe sich auf dem verticalen Netzhautmeridiane\n1\tFick, Molesch. Unters. V. S. 193.\n2\tMeissner, Ztschr. f. rat. Med. 3. R. VIH. S. 1. 1860.","page":484},{"file":"p0485.txt","language":"de","ocr_de":"Drehung der Nachbilder bei Augenbewegungen.\n485\nabbilden und auf demselben bei anhaltender Fixation des Punktes p ein Nachbild erzeugen. Die ganze Wand sei durch verticale und horizontale Linien in Quadrate getheilt. Wird jetzt die Gesichtslinie bei unver\u00e4nderter Kopfhaltung vertical nach oben und unten, oder horizontal nach rechts oder links verschoben, so erscheint, wie wir sahen, auch das Nachbild auf der Wand immer vertical ; sobald aber der Blick in schr\u00e4ger Richtung auf- oder absteigt, erscheint das Nachbild schief. Analoges ist der Fall, wenn der farbige Streifen, dessen Nachbild man sich erzeugt hat, nicht vertical, sondern horizontal durch den Punkt p gelegt war. Oder hat man durch den Punkt p einen horizontalen und verticalen Streifen zugleich, d. h. ein farbiges rechtwinkliges Kreuz gelegt, so erscheint das Nachbild des Kreuzes rechtwinklig, ein Schenkel horizontal, der andere vertical, so lange der Blick auf eine durch den Punkt p gelegte horizontale oder verticale Linie der Wand gerichtet ist, das Kreuz erscheint dagegen schiefwinklig und seine Schenkel weder horizontal noch vertical, wenn der Blickpunkt irgend erheblich von jenen beiden Linien abweicht. Fig. 45 zeigt die Wand mit den horizontalen und verticalen Linien; das Kreuz in der Mitte bezeichnet das farbige Kreuz, durch dessen Fixirung das Nachbild erzeugt wird, die \u00fcbrigen Kreuze bedeuten das Nachbild bei den verschiedenen Lagen des Blickpunktes. In a, b, c und d erscheint dasselbe verzerrt.\nDiese Verzerrung ist eine Folge davon, dass die in Wirklichkeit rechtwinklig gekreuzten Linien der Wand sich auf der Netzhaut nicht auch rechtwinklig, sondern mit schiefwinkliger Durchkreuzung abbilden, sobald die Gesichtslinie in besprochener Weise schief zur Wand gestellt wird. Im Punkte b (Fig. 45) z. B. durchkreuzen sich auf der Wand eine horizontale und eine verticale Linie rechtwinklig; ist nun die Gesichtslinie auf diesen Punkt eingestellt, so projiciren sich die beiden Linien derart auf der Netzhaut, wie es die Linien h h und v v in Fig. 46A darstellen, w\u00e4hrend das auf der Netzhaut liegende Nachbild des farbigen Kreuzes selbstverst\u00e4ndlich nach wie vor rechtwinklig bleibt, wie es das Kreuz in derselben Figur zeigt. Da wir nun aber trotz dem schiefwinkligen Netzhautbilde die sich","page":485},{"file":"p0486.txt","language":"de","ocr_de":"486 Hering, Physiol. Optik IY. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nkreuzenden Wandlinien doch rechtwinklig sehen, indem wir das verzerrte Netzhautbild auf ein zur Blickrichtung nicht rechtwinklig gelegenes, sondern der Frontalebene paralleles Sehfeld beziehen, und\nda wir also die vier Winkel vah (Fig. 46 M) s\u00e4mmtlich als rechte sehen, so m\u00fcssen wir nun umgekehrt die auf der Netzhaut rechten Winkel des Nachbildes schief sehen, und das Nachbild erscheint uns demnach wie in Fig. 46 B. Lediglich also die Art, wie wir das Netzhautbild in diesen F\u00e4llen auslegen, insbesondere der Umstand, dass wir trotz dem schiefwinkligen Netzhautbilde der verticalen und horizontalen Wandlinien dieselben doch nach wie vor vertical und horizontal sehen, ist die Ursache der besprochenen Verzerrung des Nachbildes.\nGesetzt nun, wir h\u00e4tten durch den prim\u00e4ren Punkt p auf der Wand nur einen verticalen farbigen Streifen gelegt, uns ein Nachbild desselben erzeugt und dann den Blick entlang der schr\u00e4gen Linie p b bis zum Punkte b (Fig. 45) gef\u00fchrt, so w\u00fcrde das Nachbild w\u00e4hrend dieser Bewegung scheinbar seine Lage ge\u00e4ndert und sich mit dem oberen Ende nach rechts gedreht haben. Diess k\u00f6nnte, wie in der That vielfach geschehen ist, zu dem Irrthume verleiten, das Auge habe w\u00e4hrend dieser Bewegung eine Rollung um die Gesichtslinie erlitten, w\u00e4hrend doch die Ursache der scheinbaren Drehung des Nachbildes lediglich darin liegt, dass die verticalen Linien der Wand sich nicht mehr auf dem in der Prim\u00e4rstellung verticalen Meridiane oder ihm parallel abbilden, sondern ihre Bilder auf der Netzhaut sich w\u00e4hrend der Bewegung in Folge abge\u00e4nderter Projectionsver-k\u00e4ltnisse auf der Netzhaut verdrehen. H\u00e4tte w\u00e4hrend der prim\u00e4ren Fixirung des Punktes p der farbige Streifen horizontal gelegen, und w\u00fcrde dann die Gesichtslinie geradenwegs von p nach b \u00fcbergef\u00fchrt, so w\u00fcrde das Nachbild des Streifens bei dieser Bewegung ebenfalls eine scheinbare Drehung erleiden, aber entgegengesetzt als vorhin das Nachbild des verticalen Streifens, n\u00e4mlich so, dass das linke Ende des Nachbildes sich nach unten neigt. Diese Abh\u00e4ngigkeit der Richtung der scheinbaren Drehung des Nachbildes von seiner Anfangslage beweist schon, dass nicht eine Rollung des Auges um die Gesichtslinie die Ursache der Erscheinung sein kann. H\u00e4tte der","page":486},{"file":"p0487.txt","language":"de","ocr_de":"Bewegungen aus einer Secund\u00e4rstellung.\n487\nfarbige Streifen und mithin auch sein Nachbild bei der Prim\u00e4rstel-lung in der, die Punkte p und b verbindenden Geraden oder senkrecht zu derselben gelegen, so w\u00fcrde das Nachbild bei geradliniger Ueberf\u00fchrung des Blickes von p nach b keinerlei scheinbare Drehung erlitten haben, wie oben gezeigt wurde.\nMan hat also, wenn man aus der scheinbaren Drehung des Nachbildes Aufschluss \u00fcber die Orientirung der Netzhaut gewinnen will, zun\u00e4chst zu beachten, ob und inwieweit jene scheinbare Drehung durch die ver\u00e4nderte Gestalt und Lage des Netzhautbildes desjenigen Aussenobjectes bedingt ist, auf welchem das Nachbild erscheint, und mit dessen Linien und Conturen die Lage des Nachbildes verglichen wird.\nWill man mit H\u00fclfe eines Nachbildes bestimmen, ob und wie eine Rollung des Auges stattfindet, w\u00e4hrend der Blick entlang einer beliebig im Raume gelegenen geraden Linie sich fortbewegt, so ist es also am zweckm\u00e4ssigsten, den zur Erzeugung des Nachbildes ben\u00fctzten Streifen seiner L\u00e4nge nach in die Linie selbst zu legen, wie wir dies oben bei der Pr\u00fcfung des LiSTiNG\u2019schen Gesetzes gethan haben; bewegt man dann den Blick entlang dieser Linie und bleibt das Nachbild nicht in derselben, sondern dreht es sich aus derselben heraus, so ist jedesmal eine Rollung des Auges erfolgt, und zwar in demselben Sinne, in welchem sich das Nachbild zu drehen schien, jedoch nicht auch um denselben Winkel, weil der Winkel der Drehung des Nachbildes nicht bloss von der Rollung des Auges abh\u00e4ngig ist, sondern auch je nach der Lage der Fl\u00e4che, auf welcher das Nachbild erscheint, gr\u00f6sser oder kleiner gesehen werden kann.\nBewegung des Auges aus den Secund\u00e4rstellungen. Listing hat schon eine besonders wichtige Consequenz des von ihm aufgestellten Gesetzes betont. Nennen wir s\u00e4mmtliche Ebenen, welche wir uns durch die in der Prim\u00e4rstellung befindliche Gesichtslinie gelegt denken k\u00f6nnen, die prim\u00e4ren Bahnebenen, so folgt aus jenem Gesetze, dass, wenn die Gesichtslinie sich in irgend einer andern Ebene bewegt, die wir eine secund\u00e4re Bahnebene nennen wollen, ihre Bewegnng nicht durch einfache Drehung, sondern mit gleichzeitiger Rollung um die Gesichtslinie erfolgen muss.\nDie Fig. 47 macht den Einfluss dieser Rollungen auf die Lage des Nachbildes anschaulich. Gesetzten Falls wir h\u00e4tten, nachdem wir durch Fixirung von p in der Prim\u00e4rstellung das Nachbild eines kurzen verticalen Streifens erzeugt haben, den Blick nach p\u2018 gerichtet und von da aus entlang einer Verticalen hinauf oder hinab bewegt, so w\u00fcrde das Nachbild die in der Fig. 47 angegebenen","page":487},{"file":"p0488.txt","language":"de","ocr_de":"488 Hering, Physiol. Optik IV. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nscheinbaren Lagen angenommen haben und sich also im Vergleich zur Verticalen verdreht haben. Dies beweist, dass das Auge w\u00e4hrend dieser Bewegung der Gesichtslinie, wobei letztere eine secun-d\u00e4re Bahnebene durchmass, zugleich eine Bollung um die Gesichtslinie erfahren hat. Denn w\u00e4re die Drehung des Auges ohne Rollung\nFig. 47.\num eine zu dieser Bahnebene senkrechte Axe erfolgt,. so w\u00e4re ja auch die Richtungslinienebene des Nachbildes immer in dieser Bahnebene und das Nachbild immer auf der Verticalen geblieben.\nDie Fig. 47 zeigt \u00fcberhaupt, welche scheinbaren Lagen ein urspr\u00fcnglich verticales Nachbild beim Fernsehen auf einer verticalen Ebene bei den verschiedenen Stellungen der Gesichtslinie annimmt, vorausgesetzt, dass die Gesichtslinie bei der Prim\u00e4rstellung in dem Punkte p senkrecht auf die Ebene trifft, dass ferner der das Nachbild erzeugende Streifen vertical durch den Punkt p geht, der Kopf trotz der Bewegung des Auges unverr\u00fcckt festgehalten wird und dass e f die Gr\u00f6sse des directen Abstandes zwischen dem Drehpunkte des Auges und der verticalen Ebene ist. Denkt man sich diesen Abstand und die Figur in demselben Verh\u00e4ltnisse vergr\u00f6ssert, so passt","page":488},{"file":"p0489.txt","language":"de","ocr_de":"Die Bewegungen in secund\u00e4ren Bahnen.\n489\ndie Figur f\u00fcr jede beliebige gr\u00f6ssere Entfernung des Auges von der Yerticalebene. Da, so oft die Gesichtslinie beim Fernsehen wieder in dieselbe Stellung kommt, auch die Netzhaut immer wieder dieselbe Lage in der Orbita hat, so wird auch das urspr\u00fcnglich verticale Nachbild immer wieder dieselbe scheinbare Lage zeigen, sobald der Blick, unver\u00e4nderte (aufrechte) Stellung des Kopfes und der Objectebene vorausgesetzt, wieder auf denselben Punkt f\u00e4llt. Die Fig. 47 giebt also zugleich ein Bild der Lage\u00e4nderungen, welche das Nachbild erleidet, w\u00e4hrend der Blick in irgend einer beliebigen Richtung \u00fcber die Ebene hingleitet.\nSteigt der Blick von rechts unten nach rechts oben, so dreht sich, wie die Figur lehrt, das Nachbild in demselben Sinne, wie der Zeiger einer von uns betrachteten Uhr. Geht der Blick an derselben Linie herab, so ist die Drehung entgegengesetzt. Steigt der Blick von links unten nach links oben empor, so dreht sich das Nachbild mit dem oberen Ende nach links ; bei Senkung des Blickes von links oben nach links unten aber nach rechts. In demselben Sinne, wie hier das Nachbild, wenn auch nicht um denselben Winkel, ist nun auch bei den beschriebenen Bewegungen das Auge um die Gesichtslinie gerollt worden. Wir nennen den Rollungswinkel positiv, wenn der in der Prim\u00e4rstellung verticale Meridian der Netzhaut sich, von hinten gesehen, so gedreht hat, wie der Zeiger einer Uhr; andernfalls negativ.\nLassen wir den Blick nicht eine verticale, sondern andersgerichtete geradlinige Bahnen auf der verticalen Ebene durchlaufen, so sehen wir auch Drehungen des Nachbildes eintreten; aber diese sind zum Theile oder ganz die Folgen der ver\u00e4nderten Projection der Verticallinien auf die Netzhaut und geben uns nicht mehr direct an, ob und in welchem Sinne eine Rollung erfolgt sei. Will man f\u00fcr solchen Fall wissen, ob und in welchem Sinne eine solche eintritt, so denkt man sich die Fig. 47 um ihren Mittelpunkt p so weit gedreht, bis die urspr\u00fcnglich verticalen Linien der Figur mit derjenigen Linie parallel liegen, entlang welcher der Blick hingleiten soll. Die in der Figur verzeichneten Nachbildlagen geben dann die Richtung der Rollung an. Gesetzt die Linie, welche der Blick durchlaufen soll, ist um 45\u00b0 gegen den Horizont geneigt, so muss man die Figur um 45\u00b0 um ihren Mittelpunkt drehen. Ginge dann der Blick entlang der gegebenen Linie, z. B. von links unten nach rechts oben, so w\u00fcrde, falls diese Linie unterhalb der Prim\u00e4rstellung der Gesichtslinie vorbeil\u00e4uft, die Drehung des Nachbildes und die Rollung des Auges positiv und um so gr\u00f6sser sein, je weiter die Linie vom Mittelpunkte","page":489},{"file":"p0490.txt","language":"de","ocr_de":"490 Hering, Physiol. Optik IY. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nj) des Blickfeldes abliegt. Wird die Fig. 47 soweit gedreht, dass die L\u00e4ngslinien horizontal liegen, so lehrt sie, dass, wenn die Gesichtslinie entlang einer Horizontalen oberhalb der Prim\u00e4rstellung hingleitet, die Rollung negativ ist, dagegen positiv, wenn die horizontale Blickbahn unterhalb der Prim\u00e4rstellung liegt. \u2014\nDa nach Listing\u2019s Gesetz das Auge aus der Prim\u00e4rstellung in jede Secund\u00e4rstellung durch einfache Drehung um eine zur Gesichtslinie senkrechte Axe gedreht werden kann, so folgt, dass bei Prim\u00e4rstellung der Gesichtslinie alle diese Axen in der zur Gesichtslinie senkrechten Ebene, d. i. in der Aequatorialebene des Auges liegen. Diese Ebene heisse die prim\u00e4re Axenebene.\nUnter den vielen rein mathematischen Consequenzen des Listing\u2019-schen Gesetzes ist eine schon von Helmholtz betonte von besonderem Interesse. Wie aus der Prim\u00e4rstellung, so kann n\u00e4mlich auch aus jeder Secund\u00e4rstellung das Auge um einen seiner Durchmesser als feste Axe in jede beliebige andere Stellung gedreht werden, wobei aber die Gesichtslinie nicht eine ebene Bahn beschreibt, sondern eine krumme und zwar die Fl\u00e4che eines Kreiskegels. Alle diese Axen, um welche die Gesichtslinie aus einer Secund\u00e4rstellung in jede beliebige andere Stellung gedreht werden kann, liegen wieder in einer Ebene, welche eine secund\u00e4re Axenebene heissen soll, die aber jetzt von der Aequatorialebene des Auges abweicht. Dieselbe ist leicht zu finden.\nIst die Gesichtslinie aus der Prim\u00e4rstellung n um die Axe A und um den Winkel cp in die Secund\u00e4rstellung b gedreht worden, so hat sich nothwendig dabei auch die Aequatorialebene des Auges um dieselbe Axe und um denselben Winkel gedreht. Legen wir nun durch die Axe A eine Ebene, welche den Winkel cp h\u00e4lftet, der von der prim\u00e4ren und der secund\u00e4ren Lage der Aequatorialebene eingeschlossen wird, so ist diese Ebene die Axenebene der Secund\u00e4rstellung b. Diese Ebene weicht also um den halben Winkel cp sowohl von der Aequatorialebene des Bulbus als von der Frontalebene ab, in welcher die prim\u00e4re Axenebene lag. Mit jeder Wendung der Gesichtslinie aus der Prim\u00e4rstellung in einer prim\u00e4ren Bahnebene dreht sich im Kopfe die Axenebene um dieselbe Axe, wie das Auge, aber nur mit halb so grosser Winkelgeschwindigkeit ; in Bezug auf die Aequatorialebene des Augapfels aber \u00e4ndert sie ihre Lage im entgegengesetzten Sinne, weil die Aequatorialebene der Axenebene immer um das Doppelte voraus ist. Im Augapfel also dreht sich die Axenebene genau mit derselben Winkelgeschwindigkeit wie im Kopfe, aber in entgegengesetztem Sinne.","page":490},{"file":"p0491.txt","language":"de","ocr_de":"Bestimmung der Axenebene.\n491\nIn Fig. 48 ist c der Drehpunkt, ca die Gesichtslinie in der Prim\u00e4rstellung, cb die Gesichtslinie in einer Secund\u00e4rstellung, ee der Durchschnitt der zur Ebene acb senkrechten Aequatorialebene des Auges bei der Prim\u00e4rstellung und zugleich der Durchschnitt der prim\u00e4ren Axenebene, e'e* der Durchschnitt der Aequatorialebene f\u00fcr die Secund\u00e4rstellung b, ee der Durchschnitt der zur Secund\u00e4rstellung b geh\u00f6rigen secund\u00e4-ren Axenebene. \u2014\nDenkt man sich das Auge aus der Secund\u00e4rstellung b um die feste Axe ee um 360\u00b0 gedreht, so beschreibt die Gesichtslinie e b eine Kreiskegelfl\u00e4che, deren Axe in ee liegt und welche die Ebene der Zeichnung in cb und ca\u2018 durchschneidet. Die Gesichtslinie kommt also bei einer Drehung von 180\u00b0 in die Linie ca\\ d. i. in die Verl\u00e4ngerung derjenigen Linie zu liegen, in der sie sich bei der Prim\u00e4rstellung befand. Genau dasselbe w\u00fcrde gelten, wenn wir statt von der Secund\u00e4rstellung b von irgend einer anderen in derselben Ebene befindlichen Secund\u00e4rstellung ausgegangen w\u00e4ren.\nIst ae\u2018a\u2018e\u2018 der Durchschnitt eines kugeligen Gesichtsfeldes, dessen Kr\u00fcmmungsmittelpunkt im Drehpunkte c liegt, und a der prim\u00e4re Blickpunkt auf diesem Gesichtsfelde, so beschreibt die Gesichtslinie^ wenn sie aus der Secund\u00e4rstellung b um die Axe ee um 360\u00b0 gedreht wird, auf diesem Gesichtsfelde einen Kreis, dessen Ebene senkrecht auf der Ebene der Zeichnung steht und dieselbe in aJ und b durchschneidet. Dieser Kreis ist die Durchschnittslinie der kegelf\u00f6rmigen Bahn der Gesichtslinie mit dem kugeligen Gesichtsfelde. Da die Secund\u00e4rstellung b beliebig in der gegebenen Ebene gew\u00e4hlt werden kann, so erh\u00e4lt man f\u00fcr jede in der letzteren gelegene Secund\u00e4rstellung der Gesichtslinie einen solchen Kreis auf dem kugeligen Gesichtsfelde. Alle diese Kreise stehen auf der Ebene der Zeichnung senkrecht und ber\u00fchren sich s\u00e4mmtlich im Punkte a\u2018. Eine in diesem\nFig. 48.","page":491},{"file":"p0492.txt","language":"de","ocr_de":"492 Hering, Physiol. Optik IY. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nPunkte auf der Ebene der Figur errichtete Senkrechte ist die gemeinschaftliche Tangente aller dieser Kreise. Helmholtz nennt den Punkt a' den Occipitalpunkt und die beschriebenen Kreise die Richtkreise des Gesichtsfeldes. Da die Ebene aea'e eine ganz beliebige Ebene des Ebenenb\u00fcschels sein kann, welches die Gesichtslinie in der Prim\u00e4rstellung zur Axe hat, so giebt es im kugeligen Gesichtsfelde zahllose Systeme solcher Richtkreise.\nW\u00e4re statt des kugeligen ein ebenes Gesichtsfeld gegeben, dessen Durchschnitt die Gerade gy w\u00e4re, so w\u00fcrde die Gesichtslinie, w\u00e4hrend sie aus einer Secund\u00e4rstellung durch Drehung um eine feste Axe herausbewegt wird und dabei eine Kreiskegelfl\u00e4che beschreibt, dieses ebene Gesichtsfeld in Hyperbeln schneiden, welche man erh\u00e4lt, wenn man sich die Richtkreise des kugeligen Gesichtsfeldes aus dem Drehpunkte c auf das zur prim\u00e4ren Blicklinie senkrechte ebene Gesichtsfeld projicirt denkt. In Fig. 8 S. 371 stellen die Grenzlinien der schwarzen und weissen Felder zwei solche Systeme von Hyperbeln dar, wenn der Drehpunkt des prim\u00e4r gestellten Auges sich in der Entfernung ee senkrecht \u00fcber dem Mittelpunkte der Figur befindet. Helmholtz nennt diese Hyperbeln die Richtlinien des ebenen Blickfeldes.\nAus dem theoretisch abgeleiteten Satze, dass das Auge beim Fernsehen aus jeder beliebigen Stellung in jede beliebige andere durch Drehung um eine feste Axe \u00fcbergef\u00fchrt werden k\u00f6nnte, ohne gegen das LisTiNG\u2019sche Gesetz zu verstossen, ist von Einigen der weitere Schluss gezogen worden1, dass diese Art der Drehung auch in Wirklichkeit f\u00fcr gew\u00f6hnlich stattfinde, so oft die Gesichtslinie ohne bestimmt vorgeschriebene Bahn von einem Punkte zu einem andern geht. Dies ist nicht nur keineswegs bewiesen, sondern es sprechen sogar die oben (S. 450) mitgetheilten Versuche von Wundt und Lamansky entschieden dagegen. Die Gesichtslinie durchl\u00e4uft also, wenn sie bei fixirtem Kopfe von einer Stelle des Blickfeldes zu einer andern zwanglos \u00fcbergef\u00fchrt wird, nicht noth wendig die Richtlinien des Blickfeldes.\nWas im Obigen als Rollung bezeichnet wurde, wird gew\u00f6hnlich Raddrehung genannt. Man hat aber auch unter Raddrehungswinkel den Winkel verstanden, um welchen der, bei der Prim\u00e4rstellung in der Blickebene gelegene Netzhautmeridian bei Secund\u00e4rstellungen von der Blickebene abweicht, und welcher gleich ist dem Winkel, um welchen der bei der Prim\u00e4rstellung verticale Meridian von der zur Blickebene\n1 K\u00fcster, Arch. f. Ophthalmologie XXII. (1) S. 200\u2014205. 1876 und Donders Arch. f. d. ges. Physiol. Xni. S. 379. 1876.","page":492},{"file":"p0493.txt","language":"de","ocr_de":"Raddrehungswinkel nach Helmholtz.\n493\nverticalen Lage abweicht. Aus dem LisTiNG\u2019sehen Gesetze, welches jedoch, wie sich zeigen wird, nur f\u00fcr das in die Ferne sehende Auge g\u00fcltig ist, folgt, dass der bei der Prim\u00e4rstellung verticale Meridian (wohl zu merken nicht der mittle L\u00e4ngsschnitt) mit dem oberen Ende nach links von der zur Blickebene verticalen Lage abweicht, und der prim\u00e4re horizontale Meridian mit dem linken Ende unter die Blickebene gedreht ist, wenn die Gesichtslinie im rechten oberen oder linken unteren Viertel des Blickraumes liegt, w\u00e4hrend das Entgegengesetzte der Fall ist, wenn sie sich in den beiden anderen Vierteln befindet. Dabei ist der Blickraum als durch eine horizontale und eine verticale Ebene getheilt gedacht, welche durch diejenige horizontale Linie gelegt sind, mit der die Gesichtslinie in der Prim\u00e4rstellung zusammenf\u00e4llt. Helmholtz hat die Winkel dieser Meridianabweichung f\u00fcr die verschiedenen Stellungen der Gesichtslinie unter der Voraussetzung der strengen G\u00fcltigkeit des LisTiNG\u2019sehen Gesetzes berechnet, und in der folgenden Tabelle zusammengestellt. Die Abweichung der Blickebene von der prim\u00e4ren Lage ist darin als Erhebung bezeichnet, da man die Senkung als negative Hebung betrachten kann. Die seitliche Abweichung von der meridianen Richtung, welche die Gesichtslinie in der gehobenen oder gesenkten Blickebene hat, ist als Seitenwendung bezeichnet. Die Tabelle gilt f\u00fcr alle vier Viertel des Blickraumes, nur muss man bedenken, dass im rechten oberen und linken unteren die Abweichung des prim\u00e4ren Meridianes von der zur Blickebene verticalen Lage entgegengesetzt derjenigen ist, welche im linken oberen und rechten unteren Viertel eintritt.\nSeitenwen-\t\t\tErhebung der Blickebene\t\t\t\t\t\ndungderGe-\t\t\t\t\t\t\t\t\nsichtslinie.\t5\u00b0\t10\u00b0\t15\u00b0\t20\u00b0\t25\u00b0\t30\u00b0\t|\t35\u00b0\t|\t40\u00b0\n5\u00b0\t0\u00b013'\t0\u00b026'\t0\u00b040'\t0\u00b053'\t1\u00b07'\t1\u00b020'\t1\u00b035'\t1\u00b049'\n10\u00b0\t0\u00b026'\t0\u00b053'\t1\u00b019'\t1\u00b046'\t2\u00b013'\t2\u00b04t '\t3\u00b010'\t3\u00b039'\n15\u00b0\t0\u00b040'\t1\u00b019'\t1\u00b059'\t2\u00b040'\t3\u00b021'\t4\u00b02'\t4\u00b045'\t5\u00b029'\n20\u00b0\t0\u00b053'\t1\u00b046'\t2\u00b040/\t3\u00b034'\t4\u00b029'\t5\u00b025/\t6\u00b022'\t7\u00b02P\n25\u00b0\t1\u00b07'\t2\u00b013'\t3\u00b02P\t4\u00b029'\t5\u00b038'\t6\u00b048'\t8\u00b00'\t9\u00b014'\n30\u00b0\t1\u00b02P\t2\u00b04P\t4\u00b02'\t5\u00b025'\t6\u00b04S'\t8\u00b013'\t9\u00b039'\tll\u00b08'\n35\u00b0\t1\u00b035'\t3\u00b010'\t4\u00b045'\t6\u00b022'\t8\u00b00'\t9\u00b039'\tU\u00b02P\t13\u00b06'\n40\u00b0\t1\u00b049'\t3\u00b039'\t5\u00b029'\t7\u00b02P\t9\u00b0 14'\t11\u00b08'\t13\u00b06'\t15\u00b05'\nEine praktische Bedeutung w\u00fcrde die Kenntniss dieser von Helmholtz als Raddrehungswinkel bezeichneten Winkel insbesondere dann haben, wenn man nach der Substitutionsmethode Untersuchungen mit H\u00fclfe eines zu den Gesichtslinien verticalen Gesichtsfeldes anstellt. In Betreff der Bedeutung, welche der Bewegung der Augen nach dem LisTiNG\u2019sehen Gesetze f\u00fcr die r\u00e4umliche Wahrnehmung, insbesondere w\u00e4hrend der Bewegung zukommt, sind diese Winkel ohne Interesse. Hier kommt es auf das an, was wir mit Hering die Rollung des Auges genannt haben.\nWir sind \u00fcberhaupt im Obigen der Darstellung Hering\u2019s 1 gefolgt, weil\n1 Hering, Die Lehre vom binocularen Sehen 1868.","page":493},{"file":"p0494.txt","language":"de","ocr_de":"494 Hering, Physiol. Optik IV. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\ndie von Helmholtz gegebene Darstellung des LisTiNG\u2019schen Gesetzes eine Verwirrung insofern angerichtet hat, als vielfach der \u201e Raddrehungswinkel \u201c (Helmholtz) verwechselt wurde mit dem Winkel der um die Gesichtslinie erfolgten Rollung, d. h. in der Terminologie der Mechanik, der auf die Gesichtslinie projicirten Drehung oder der in die Gesichtslinie fallenden Componente der Drehung. Diese Verwechslung lag f\u00fcr einen Leser, der das LisTiNG\u2019sche Gesetz noch nicht durchdacht hatte, um so n\u00e4her, als Helmholtz 1 in seiner ersten Abhandlung sagte, er wolle \u201e f\u00fcr die Drehung um die Gesichtslinie den bezeichnenden Namen der Raddrehung beibehalten, da sich die Iris dabei wie ein Rad um ihren Mittelpunkt dreht\u201c ; und zwei Seiten weiter: \u201eDie Raddrehung des Auges wollen wir nun messen durch den Winkel, den der Netzhauthorizont\u201c (d. i. der mittle Querschnitt) \u201emit der Visirebene bildet.\u201c Ganz dieselben Definitionen wiederholen sich bei der zweiten Darstellung'1 2 3, welche Helmholtz von den Gesetzen der Augenbewegung gegeben hat. So oft sich aber die Gesichtslinie in einer prim\u00e4ren Bahnebene bewegt, die nicht vertical oder horizontal ist, ergeben sich dann \u201eRaddrehungswinkel\u201c, ohne dass doch eine Rollung um die Gesichtslinie stattfindet.\nDonders3 und Hermann4 haben Apparate zur Veranschaulichung des LisTiNG\u2019schen Gesetzes der Augenbewegungen angegeben.\nAugenbewegung mit begleitender Kopfbewegung. Durch die willk\u00fcrlichen Blickbewegungen werden die Netzhautbilder der ruhenden Aussendinge auf der Netzhaut verschoben. Die Bahn, welche ein bestimmtes Bild bei dieser Verschiebung auf der Netzhaut beschreibt, h\u00e4ngt ab von der Art der Bewegung des Auges und muss bei einer und derselben Orts\u00e4nderung der Gesichtslinie verschieden sein, je nachdem die Gesichtslinie mit oder ohne Rollung bewegt wird. So lange der Kopf, wie dies bei den obigen Versuchen der Fall war, feststeht, k\u00f6nnen wir bei jeder bestimmten Bewegung aus dem LisTiNG\u2019schen Gesetze f\u00fcr jeden beliebigen Aussen-punkt die Bahn seiner Bewegung auf der Netzhaut ableiten. Dies ist aber nicht mehr der Fall, wenn wir, wie dies beim gew\u00f6hnlichen Seben meist der Fall ist, die Ortsver\u00e4nderung des Blickpunktes nicht bloss durch Augenbewegung, sondern zugleich auch durch Kopfbewegungen bewirken. Denn diesenfalls h\u00e4ngt die Bahn eines Bildpunktes auf der Netzhaut nicht bloss von der Art der Drehung des Auges, sondern auch mit von derjenigen der begleitenden Kopfbewegung ab.\nHelmholtz5 giebt an, dass \u201edie gew\u00f6hnlichen Bewegungen des Kopfes nach demselben Principe geschehen, wie die der Augen,\n1\tHelmholtz, Arch. f. Ophthalmologie IX. (2) S. 154. 1863.\n2\tDerselbe, Physiol. Optik S. 462.\n3\tDonders, Arch. f. Ophthalmologie XVI. (1) S. 154. 1870.\n4\tHermann, Arch. f. d. ges. Physiol. VTH. S. 305. 1874.\n5\tHelmholtz, Physiol. Optik S. 486.","page":494},{"file":"p0495.txt","language":"de","ocr_de":"Axen der Kopfdrehungen.\n495\nwenn auch mit gr\u00f6sserer Freiheit ver\u00e4nderlich als die des Auges\u201c, d. h. mit andern Worten, dass der Kopf sich aus seiner Prim\u00e4rstellung heraus um eine Axe dreht, welche der Axe der gleichzeitigen Augendrehung ann\u00e4hernd parallel ist. Hiernach m\u00fcsste, wenn wir den oben beschriebenen Nachbildversuch so wiederholen, dass dabei der Kopf sich zwanglos mitbewegen kann, im Uebrigen aber die Versuchsbedingungen die gleichen sind, auch das Nachbild bei den verschiedenen Bewegungen des Blickes auf der verticalen Wand sich ann\u00e4hernd ebenso verhalten, wie bei fester Kopfhaltung. Hering1 hat jedoch darauf aufmerksam gemacht, dass zwischen dem Blicken mit fixirtem und dem mit frei beweglichem Kopfe insofern ein wesentlicher Unterschied besteht, als die Art der associirten Drehung des Kopfes die Rollung der Augen gerade bei den f\u00fcr die r\u00e4umliche Wahrnehmung wichtigsten Bewegungen compensiren kann. Man findet n\u00e4mlicH bei Wiederholung des Nachbildversuches mit frei beweglichem Kopfe, wenn man mit dem Nachbilde eines bei Prim\u00e4rstellung fixirten verticalen Streifens im Auge den Blick auf einer der seitw\u00e4rts gelegenen verticalen Schn\u00fcre auf- und absteigen l\u00e4sst, dass das Nachbild diese Verticalen immer nahezu deckt. Dabei wendet man den Kopf, wie oben S. 438 schon er\u00f6rtert wurde, seitw\u00e4rts. W\u00fcrde man ihn soweit wenden, dass die eben betrachtete Verticalschnur in seine Medianebene zu liegen k\u00e4me, so w\u00e4re das Ergebniss des Versuches selbstverst\u00e4ndlich. So aber folgt daraus, dass die zu erwartende Rollung des Auges durch die Art der Kopfbewegung nahezu compensirt werde. Wiederholt man den Versuch mit einem horizontalen Nachbilde und l\u00e4sst den Blick an den h\u00f6her oder tiefer gelegenen horizontalen Schn\u00fcren hingleiten, so sind die Neigungen des Nachbildes zur Horizontalen nur um weniges kleiner, als wenn man den Versuch mit festgehaltenem Kopfe anstellt. Es folgt hieraus, dass der Kopf sich nicht nach demselben Principe bewegt, wie die Augen, was, wie wir weiter sehen werden, nicht ohne wesentliche Bedeutung f\u00fcr die r\u00e4umliche Wahrnehmung ist.\nRitzmann hat mit H\u00fclfe des oben (S. 440) beschriebenen Vorzeichens auch die Lage der Axen zu bestimmen versucht, um welche die associirten Kopfbewegungen erfolgen. Er giebt an, \u201e dass f\u00fcr Blickbewegungen in horizontaler und verticaler Bahn die Kopfbewegung um eine verticale, beziehungsweise horizontale Axe stattfindet.\u201c Individuell verschieden fand er \u201e die Richtung der Kopfbewegung f\u00fcr Blickexcursionen in schiefer Richtung. \u201c\t\u201e Es kommen, wie er sagt, hierbei Abweichungen\nder Kopfbewegung von dem, dem LiSTiNG\u2019schen Gesetze analogen Ver-\n1 Hering, Die Lehre vom binocularen Sehen S. 106.1868.","page":495},{"file":"p0496.txt","language":"de","ocr_de":"496 Hering, Physiol. Optik IV. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nhalten vor. \u201c1 Ein bestimmtes Gesetz daf\u00fcr hat er nicht angegeben. \u201eDie Frage, ob der Kopf bei Betrachtung desselben Punktes dieselbe Stellung habe, unabh\u00e4ngig von dem Wege, auf dem er zu dessen Betrachtung gelangt, muss, sagt Ritzmann2, in strengem Sinne genommen, negativ beantwortet werden.\u201c Doch fand er \u201eeine Andeutung eines solchen Verhaltens.\u201c\nIII. Die Augeiibewegungen beim Nahsehen.\nWenn das Gesetz Listing\u2019s mit der von ihm angenommenen und von Helmholtz experimentell nachgewiesenen Prim\u00e4rstellung auch beim Nahsehen giltig w\u00e4re, so w\u00fcrde sich aus demselben auch f\u00fcr jede Convergenzstellung oder, wie wir sie nennen wollen, Nahst eil un g der Gesichtslinien die Lage des Auges und seiner Mittel-schnitte ableiten lassen. Es w\u00fcrde sich dabei ergeben, dass die in der Prim\u00e4rstellung horizontalen Meridiane bei jeder Convergenz innerhalb der prim\u00e4ren Blickebene dieselbe nicht verlassen, dass sie dagegen bei jeder symmetrischen Nahstellung in gehobener Blickebene mit ihrem \u00e4usseren Ende unterhalb der Blickebene liegen, wobei sie nach oben convergiren w\u00fcrden. Umgekehrt m\u00fcssten nach jenem Gesetze die in der Prim\u00e4rstellung horizontalen Meridiane nach unten convergiren, sobald die Gesichtslinien bei gesenkter Blickebene symmetrisch convergiren. Die Abweichungen der mittlen Querschnitte von der Blickebene m\u00fcssten um so st\u00e4rker sein, je st\u00e4rker die Hebung oder Senkung der Blickebene und je st\u00e4rker die Convergenz w\u00e4re.\nAber schon ehe Helmholtz die Giltigkeit des LiSTiNG\u2019schen Gesetzes f\u00fcr die Fernsfellungen des Blickes und das Fernsehen erwiesen hatte, war insbesondere von Meissner3 4 und v. Recklinghausen 4 gezeigt worden, dass die Augen bei symmetrischer Convergenz der Gesichtslinien ganz andere Stellungen haben, als nach Listing\u2019s Gesetz zu erwarten war. Sp\u00e4ter machte Volkmann5 vereinzelte hierher geh\u00f6rige Beobachtungen. Er fand, dass \u201ebei Convergenz auf einen 30 cm. entfernten Punkt in der Horizontalebene der Divergenzwinkel der mittlen L\u00e4ngsschnitte von 2\u00b0, 15 bis auf 4\u00b0, 16 stieg, so dass ihre Abweichung von der verticalen Lage um etwa 10 wuchs ; bei st\u00e4rkerer Convergenz auf 20 cm. Abstand nahm\n1\tArch. f. Ophthalmologie XXL (1) S. 131\u2014143. 1875.\n2\tEbenda S. 146.\n3\tMeissner, Beitr\u00e4ge zur Physiologie des Sehorgans. Leipzig 1854.\n4\tv. Recklinghausen, Arch. f. Ophthalmologie V. (2) S. 173. 1859.\n5\tMitgetheilt von Helmholtz, Physiol. Optik S. 523.","page":496},{"file":"p0497.txt","language":"de","ocr_de":"Bewegungsgesetz beim Nahesehn.\n497\ndiese Abweichung um weitere 0\u00b0,37 zu. Wenn Volkmann einen verticalen farbigen Streifen bei Parallelstellung fixirte und dann, ohne die Gesichtslinie des einen Auges zu verr\u00fccken, die andere auf einen in der ersten Gesichtslinie gelegenen nahen Punkt einstellte, so erschien das Nachbild nun gegen den Streifen verdreht, Beweis, dass das Auge in demselben Sinne um die feststehende Gesichtslinie gerollt worden war, und dass also bei derselben Stellung einer Gesichtslinie relativ zum Kopfe das Auge verschiedene Lagen in der Orbita hat, je nachdem die zweite Gesichtslinie parallel oder convergent zur ersten ist.\nHelmholtz 1 fand analoge, doch viel schw\u00e4chere Abweichungen. Donders1 2 solche bis zu 3\u00b0. Hering3 untersuchte dann nach der Substitutionsmethode die Augenstellungen bei verschiedenen Lagen der Blickebene, verschiedenen Graden der Convergenz und sowohl bei symmetrischer als bei unsymmetrischer Convergenz der Gesichtslinien, und kam zu dem allgemeinen Ergebniss 4 5, dass (von den Hebungen der Blickebene abgesehen) \u201edie mittlen L\u00e4ngsschnitte bei symmetrischen Convergenzstellungen mit dem obern Ende weiter nach aussen, beziehentlich weniger nach innen geneigt sind, als das LiSTiNG\u2019sche Gesetz fordert, und dass diese Abweichung einerseits mit der Zunahme des Convergenzwinkels, andererseits mit der Senkung der Blickebene und \u00e4ussersten Falls beinahe auf 5\u00b0 w\u00e4chst\u201c; dass ferner bei unsymmetrischer Convergenz die relative Lage beider Netzh\u00e4ute zu einander und somit die Divergenz der mittlen L\u00e4ngs- oder Querschnitte sich nicht sehr erheblich anders zeigt, als bei gleich starker symmetrischer Convergenz.\nDonders 5 fand sp\u00e4ter bei 17 Personen Zunahme der Divergenz der mittlen L\u00e4ngsschnitte bei Convergenz in der prim\u00e4ren Bliekebene bis zu 5\u00b0. Analoge Ergebnisse erhielt le Conte.6 7 8 Landolt 7 machte eine grosse Reihe von Versuchen bei symmetrischer Convergenz und verschiedener Neigung der Bickebene nach \u00e4hnlicher Methode und mit analogem Ergebniss wie Hering. Nur Dobrowolskys erhielt ganz abweichende\n1\tHelmholtz, Physiol. Optik S. 469.\n2\tJ. B. Schuurmann vergelijkend Onderzoek. van het og. Utrecht 1863 (citirt nach Helmholtz, Physiol. Optik S. 524).\n3\tHering, Die Lehre vom binocularen Sehen 1868.\n4\tLe. S. 96.\n5\tDonders, Arch. f. d. ges. Physiol. XIII. S. 419. 1876.\n6\tle Conte, American Journal of science and arts. XLYII. 2. p. 153 (citirt nach Nagel\u2019s Jahresber. f. Ophthalmologie 1872).\n7\tLandolt, Handb. d. ges. Augenheilk. H. (2) S. 660. 1876.\n8\tDobrowolsky, Arch. f. Ophthalmologie XVIII. (1) S. 53. 1872.\nHandtuch der Physiologie. Bd. III.\t32","page":497},{"file":"p0498.txt","language":"de","ocr_de":"498 Hering, Physiol. Optik 1Y. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nResultate ; doch fehlen bei ihm Angaben \u00fcber die unerl\u00e4sslichen Controlvorrichtungen.\nMeissner fand, dass seine Augen, wenn sie in einer um 45\u00b0 gegen den Horizont geneigten Blickebene aus der Parallelstellung bis auf 40\u00b0 convergirten, keine Rollung erlitten, Recklinghausen dasselbe f\u00fcr eine Neigung der Blickebene von 35\u00b0 und Convergenz bis auf 50\u00b0. Beide kannten die Prim\u00e4rstellung noch nicht, und es fragt sich also, inwieweit die von ihnen zum Ausgang gew\u00e4hlte Blickebene (von 0\u00b0 Neigung) der prim\u00e4ren Blickebene nahe kam. F\u00fcr Meissner standen bei Neigung der Blickebene um 45\u00b0 die mittlen L\u00e4ngsschnitte vertical, f\u00fcr Recklinghausen lagen bei Neigung der Blickebene um 35\u00b0 die mittlen Querschnitte in der Blickebene.\nHering konnte keine Lage der Blickebene finden, bei der starke Convergenz ohne alle Rollung verlaufen w\u00e4re, doch war sie bei Neigung der Blickebene um 25\u00b0 am geringsten. Donders 1 theilte mit, dass f\u00fcr f\u00fcnf verschiedene Beobachter bei einer bestimmten Neigung der Blickebene, die zwischen 20 und 27\u00b0 lag, die queren Mittelschnitte bei allen symmetrischen Convergenzgraden in der Blickebene blieben; bei einem sechsten Beobachter variirte diese Neigung zwischen 20 und 30\u00b0.\nUeber die Stellung der Augen bei gehobener Blickebene und Convergenz vergleiche die erw\u00e4hnten Untersuchungen von Meissner, Recklinghausen, Hering und Landolt. \u2014\nMeissner fixirte einen in der Medianebene gelegenen Punkt und beobachtete dabei die Doppelbilder einer hinter dem Blickpunkte in der Medianebene gelegenen Geraden. Diese Doppelbilder erscheinen im Allgemeinen nicht parallel, sondern man muss, wenn dies der Fall sein soll, die Gerade in eine zur L\u00e4ngshoropter fl\u00e4che nahezu parallele Lage bringen und kann nun aus der Lage der Geraden die Lage der mittlen L\u00e4ngsschnitte berechnen. Diese Methode und die Art der Berechnung hatte zwar, wie Hering1 2 zeigte, einige nicht unwesentliche Fehlerquellen, indessen konnte man doch schon aus Meissner\u2019s Angaben erhebliche Abweichungen von Listing\u2019s Gesetz erkennen.\nv. Recklinghausen untersuchte nach der Substitutionsmethode und zwar mit einer in der Blickebene parallel der Frontalebene gelegenen Linie, welche sich in ihrem Mittelpunkte derart knicken liess, dass beide H\u00e4lften derselben um gleiche Winkel in der zur Medianlinie senkrechten Ebene \u00fcber die Blickebene erhoben oder unter dieselbe gesenkt werden konnten, w\u00e4hrend die Spitze des so gebildeten Winkels immer im Blickpunkte liegen blieb. In die Medianebene brachte er einen bis an den Mittelpunkt der Linie reichenden Schirm, so dass jedes Auge nur die eine H\u00e4lfte der Linie sah, wenn der Mittelpunkt derselben binocular fixirt wurde. Aus dem Winkel, um welchen beide Linienh\u00e4lften gehoben oder gesenkt werden mussten, damit die Linie nicht mehr geknickt sondern gerade erschien, liess sich der Winkel berechnen, um welchen die mittlen Querschnitte von der Blickebene abwichen.\nHering benutzte die oben (S. 482) beschriebene Vorrichtung. Die\n1\tDonders, Arch. f. d. ges. Physiol. XIH. S. 419. 1876.\n2\tHering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie in. \u00a7 88.","page":498},{"file":"p0499.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungsmethoden beim Naheseben.\n499\nbeiden Messingstreifen, welche die Beobachtungslinie trugen, wurden einander soweit gen\u00e4hert, dass sie nur noch um die halbe Distanz der beiden Drehpunkte der Augen von einander abstanden. Stellte er nun die linke Gesichtslinie auf den Drehpunkt des rechten, die rechte auf den des linken Messingstreifens ein, so konnte er wieder ganz analog verfahren, wie bei den Parallelstellungen. Senkrecht unter dem Drehpunkte jedes Streifens trug die Tafel am unteren Rande je eine Marke; diese Marken wurden in der beschriebenen Weise auf die radienartigen Linien des Tisches eingestellt, welche die Seitenabweichung der Gesichtslinie nach Graden angaben. Wenn also z. B. die linke Marke gerade auf den mit -j- 20\u00b0 bezeichneten Radius des rechts gelegenen Radiensystems zu liegen kam, die rechte Marke auf den mit +20\u00b0 bezeichneten Radius des linken Radiensystemes (Fig. 44 S. 483), so convergirten die Gesichtslinien um 40\u00b0, falls die linke auf den Drehpunkt des rechten, die rechte auf den Drehpunkt des linken Messingstreifens eingestellt war. Uebri-gens stand es frei, die beiden Messingstreifen einander noch mehr zu n\u00e4hern, oder auch bei schw\u00e4cheren Convergenzgraden die linke Gesichtslinie auf den linken, die rechte auf den rechten Streifen einzustellen. Bei den st\u00e4rksten Convergenzgraden wurde den beiden Messingstreifen wieder die urspr\u00fcngliche Distanz der Augendrehpunkte gegeben.\nLe Conte bediente sich der auf S. 369 abgebildeten Gitter, welche er so gegeneinander drehte, bis sie, haplo-skopiscli vereinigt, parallel schienen oder sich deckten.\nDONDEES1 untersuchte auf verschiedene Weise. Einmal bediente er sich einer schon S. 358, Anm. 2 erw\u00e4hnten Methode. Sein Apparat, den er Isoskop nennt, besteht aus \u201e 1) einem rechtwinkligen festen Rahmen A, B, 6', D (Fig. 49), welcher an der oberen Seite eine unbewegliche Scale S von beinahe 60\u00b0 tr\u00e4gt; 2) einem beweglichen Rahmen, dessen Leisten cij b, c, d durch Schrau-\nFig. 49.\n\"\t7\t7\t7\nben 1, 2, 3, 4 beweglich verbunden sind, so dass er Rautenform annehmen kann, wobei die horizontalen Leisten a, b horizontal bleiben, die vertica-len c, d unter vollkommen gleichen Winkeln seitlich geneigt sind: diese letzten sind genau in ihrer Mitte gleichfalls durch Schrauben 5, 6 mit den correspondirenden Punkten des festen Rahmens beweglich verbunden. Eine der verticalen Leisten d des beweglichen Rahmens tr\u00e4gt eine Scale mit Nonius n, beweglich \u00fcber der festen Scale und genau die Neigung\n1 Donders, Arcb. f. Ophthalmologie XXI. (3) S. 107. 1875.\n32*","page":499},{"file":"p0500.txt","language":"de","ocr_de":"500 Hering, Physiol. Optik IV. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nder Leisten anzeigend, was in Zehnteln von Graden abgelesen, in Hundertsteln gesch\u00e4tzt werden kann. Gleiche Neigung erhalten die urspr\u00fcnglich verticalen F\u00e4den Ul, U2, w\u00e4hrend der im Rahmen ausgespannte Faden U seine verticale Richtung unver\u00e4nderlich beh\u00e4lt. Ist dieser von Ul etwas weiter entfernt als die Knotenpunkte des rechten und linken Auges, dann sieht man, bei parallelen Blicklinien, die Halbbilder von U und UY nahe bei einander und kann sie durch Drehen des Rahmens mit der Hand an einem der unteren Enden 7 oder 8 der Leisten c oder d scheinbar parallel stellen.\u201c Giebt man den F\u00e4den U und Ul (oder U2) von vornherein einen kleineren gegenseitigen Abstand, so kann man bei beliebiger Oonvergenz der Gesichtslinien untersuchen.\nVor diesem Apparate wurde ein Kopfhalter nach Analogie des oben beschriebenen aufgestellt.\nBei einem anderen Versuche benutzte Donders1 wieder den Kopf-lialter und eine Objectebene, welche mittels zweier Arme an den S\u00e4ulen des Kopf halters so fixirt war, dass man sie um die durch die beiden Drehpunkte der Augen gelegte Linie (die Grundlinie) drehen konnte. Zugleich konnte dieselbe dem Gesichte n\u00e4her oder ferner gestellt werden. Die Objectebene blieb, wenn jede Gesichtslinie auf den Fixationspunkt ihrer Seite gerichtet war, immer senkrecht zur Blickebene. Donders bestimmte nun bei horizontaler Blickebene mittels Halblinien nach Hering\u2019s Methode2 die Lage der mittlen L\u00e4ngs- oder Querschnitte. Dann schob er die Fixationspunkte n\u00e4her zusammen oder fixirte mit gekreuzten Gesichtslinien und drehte die horizontalen Halblinien, bis sie eine scheinbare Gerade gaben, und konnte so die Abweichung der queren Mittel-schnitte an der Blickebene f\u00fcr verschiedene Convergenzen und Neigungen der Blickebene berechnen.\nEr nannte das Instrument Horopteroskop, weil er damit auch den ebenen Meridianhoropter (vergl. oben S. 379) demonstriren konnte, zu welchem Zwecke die Objectebene um ihre horizontale Queraxe zur Blick-ebene geneigt werden konnte.\nOben (S. 497) sahen wir, dass durchschnittlich mit der Senkung der Blickebene auch die Oonvergenz w\u00e4chst und umgekehrt. Mit wachsender Senkung der Blickebene und gleichzeitig * wachsender Oonvergenz w\u00fcrde aber nach dem LiSTiNG\u2019schen Gesetze auch der Neigungswinkel der mittlen Querschnitte zur Blickebene wachsen. Aus dem von Hering gefundenen Satze \u00fcber die Abweichungen von diesem Gesetze bei Convergenzstellungen ergiebt sich aber, dass die nach Listing\u2019s Gesetz zu erwartenden Neigungen der mittlen Querschnitte zur Blickebene, wobei die Ebenen ihrer Richtungslinien einen nach oben offenen Winkel bilden w\u00fcrden, dadurch compensirt wird, dass die wirkliche Lage der Querschnitte im entgegengesetzten Sinne von der erwarteten abweicht.\n1\tDonders, Arch. f. d. ges. Physiol. XIII. S. 395. 1876.\n2\tSiehe oben Cap. I.","page":500},{"file":"p0501.txt","language":"de","ocr_de":"Parall\u00e9lisme d. mittl. Querschnitte beim Nahesehen.\n501\nEs fragt sich nun, ob diese Compensirung eine derartige ist, dass dadurch der Parallelismus der queren Mittelschnitte f\u00fcr diejenigen Con-vergenzen resultirt, welche bei Betrachtung eines nahen, angen\u00e4hert oder wirklich horizontalen Objectfeldes benutzt werden. Ein einfacher Versuch lehrt, dass dies im engeren Blickfelde der Fall ist. Man lege vor sich auf den Tisch ein grosses Blatt Papier, auf welchem eine gerade Linie gezogen ist, die, wenn man gerade vor dem Papier sitzt, in die Medianebene des Kopfes zu liegen kommt. Ferner bringe man zwischen Kopf und Papier in die Medianebene eine Papper welche nicht ganz bis auf das Papier reicht, so dass jedes Auge die Linie auf demselben eben noch sehen kann, wenn man den Blick auf derselben hinwandern l\u00e4sst. Fixirt man jetzt bei ganz zwangloser, gewohnheitsgem\u00e4sser Kopfhaltung einen Punkt der medianen Linie und schiebt von der Seite her eine lange Stricknadel genau in querer Richtung \u00fcber den Fixationspunkt weg, so dass die Nadel halb links halb rechts zu liegen kommt, so erscheint sie als eine Gerade, obwohl man ihre linke H\u00e4lfte nur mit dem linken, ihre rechte nur mit dem rechten Auge sieht.\nDies beweist, dass die mittlen Querschnitte der Netzh\u00e4ute in der Blickebene liegen, denn andernfalls w\u00fcrden die beiden Halbbilder der Nadel einen Winkel mit einander machen. Schiebt man jetzt, ohne den Kopf zu verr\u00fccken, die Nadel vom Gesichte weg oder nach demselben hin, ohne ihre quere Richtung zu \u00e4ndern, und folgt mit dem Blicke entlang der medianen Linie, so erscheint die Nadel noch eine ziemliche Strecke gerade, dann aber erh\u00e4lt sie eine schwache Knickung derart, dass bei zu grosser Entfernung der Nadel die Oeffnung des stumpfen Winkels der Knickung vom Gesichte weg, bei zu grosser N\u00e4herung ihm zugewendet ist. F\u00fchrt man aber die letztbeschriebene Blickbewegung zwanglos aus, welchen Falls dann der Kopf sich etwas daran betheiligt, so bleibt die Knickung der Nadel auch bei etwas st\u00e4rkeren Excursionen des Blickes l\u00e4ngs der medianen Linie aus. Schiebt man ferner das Blatt mit der Linie seitw\u00e4rts, so dass letztere parallel der Medianebene bleibt und dreht auch den Schirm mit seinem unteren Rande entsprechend zur Seite, so kann man den Versuch innerhalb ziemlich weiter Grenzen mit analogem Erfolge bei unsymmetrischen Convergenzstellungen wiederholen, woraus sich ergiebt, dass auch hierbei immer correspondirende Meridiane, wenn auch nicht die mittlen Querschnitte, in der Blickebene liegen.\nDie mediane Linie der Tafel ist bei dem eben beschriebenen Versuche mit der Nadel nicht in der Lage, sich eorrespondirend ab-","page":501},{"file":"p0502.txt","language":"de","ocr_de":"502 Heeing, Physiol. Optik IV. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nzubilden, falls die Tafel nicht mit dem ferneren Ende gehoben ist, so dass sie den L\u00e4ngshoropter tangirt und nahezu mit dem Meridianhoropter zusammenf\u00e4llt. Man braucht nur vor das eine Auge von unten, vor das andere von oben her in etwa 10 cm. Entfernung einen kleinen Schirm zu halten, der dem einen Auge die obere, dem andern die untere H\u00e4lfte der Geraden auf der horizontalen Tafel verdeckt, und man wird eine scheinbare Knickung derselben sehen, weil die fernere H\u00e4lfte der Geraden jenseits, die n\u00e4here diesseits der L\u00e4ngs-horopterfl\u00e4che gelegen ist, und die Gerade sich daher nicht auf dem mittlen L\u00e4ngsschnitte abbilden kann.\nMan kann sich den oben erw\u00e4hnten Satz von den Abweichungen vom LiSTiNa\u2019schen Gesetz beim Nahsehen auch so veranschaulichen, dass man die Augen zun\u00e4chst auch bei den Convergenzstellungen nach dem LiSTiNG\u2019schen Gesetze gestellt denkt und sich weiter vorstellt, beide Augen erf\u00fchren nun eine Rollung um die Gesichtslinie derart, dass die mittlen Querschnitte sich mit ihrer schl\u00e4fenw\u00e4rts liegenden H\u00e4lfte solange gleichviel senken, bis sie parallel liegen, was bei symmetrischer Convergenz zugleich bedeutet, dass sie in die Blickebene zu liegen kommen; und zwar m\u00fcsste diese symmetrische Rollung um so st\u00e4rker sein, je st\u00e4rker die Convergenz und je mehr die Blickebene gesenkt ist. Daraus folgt zugleich, dass auch bei unsymmetrischer Convergenz die beiden mittlgn Querschnitte parallel zur Blickebene geneigt sind und zwar so, dass sie, wenn der Blickpunkt rechts von der Medianebene liegt, mit ihrer rechten H\u00e4lfte, wenn er links liegt, mit ihrer linken H\u00e4lfte unter der Blickebene sind. Es gilt dies Alles jedoch genauer nur f\u00fcr das eng\u00f6re Blickfeld.\nUm sich dies Verhalten durch den directen Versuch zu veranschaulichen, \u00fcberziehe man eine ebene Tafel, z. B. eine Glasscheibe von m\u00e4ssiger Gr\u00f6sse mit weissem Papier, welches mit einem quadratischen Gitter von schwarzen Parallellinien derart bedeckt ist, dass zwei der Linien sich im Mittelpunkte der Tafel rechtwinklig kreuzen. Diese Tafel lege man vor sich auf den Tisch, so dass ihr Mittelpunkt in der Medianebene des Kopfes und in mittler Blickweite liegt und die Linien parallel der Medianebene und der Frontalebene laufen. Durch die Mitte der Tafel lege man in querer Richtung einen halb blauen, halb gelben Streifen, so dass die Grenzlinie der beiden Farben den queren Linien der Tafel parallel ist. Den markirten Mittelpunkt dieser Linie fixire man anhaltend und lasse dann mit dem Nachbild im Auge den Blick ohne begleitende Kopfbewegung nach rechts oder links wandern. Dabei dreht sich das Nachbild der Grenzlinie stets positiv (wie ein Uhrzeiger), wenn der Blickpunkt aus der Median-","page":502},{"file":"p0503.txt","language":"de","ocr_de":"Princip des gr\u00f6ssten Horopters.\n503\nebene in die rechte, negativ, wenn er in die linke H\u00e4lfte des engeren Blickfeldes \u00fcbergeht, um so st\u00e4rker, je mehr die Blickebene gesenkt wird. Da, wie oben gezeigt wurde, die queren Mittelschnitte bei diesen Blickbewegungen immer nahezu parallel bleiben, so kann man mit binocularem Nachbilde experimentiren. Zur Contr\u00f4le kann man aber auch das Nachbild nur in einem Auge erzeugen und dann das andere Auge wieder \u00f6ffnen. Doch ist dabei zu bedenken, dass w\u00e4hrend der Erzeugung des ein\u00e4ugigen Nachbildes beide Augen auf den Mittelpunkt der Tafel gerichtet sein sollen.\nDieser Versuch zeigt zugleich, dass es keinen Punkt auf der Mittellinie der Tafel giebt, der mit dem prim\u00e4ren Blickpunkt beim Fernsehen insofern verglichen werden k\u00f6nnte, als von ihm aus der Blick in jeder geraden Richtung auf dem ebenen Blickfelde wandern k\u00f6nnte, ohne dass die Augen eine Rollung erf\u00fchren.\nEs handelt sich also nicht etwa um irgend welche neue, f\u00fcr das Nahsehen bestimmte Prim\u00e4rstellung. Auch wenn man die Tafel so zur Blickebene neigt, dass ihre mediane Linie mit der Geraden des L\u00e4ngshoropters und sie selbst mit dem Meridianhoropter zusammenf\u00e4llt, und also die g\u00fcnstigste Lage daf\u00fcr gegeben ist, dass sich auf der Tafel angebrachte Figuren m\u00f6glichst correspondirend abbilden, \u00e4ndert sich an dem Ergebnisse des Versuchs nichts Wesentliches. Ob bei dieser Lage des ebenen Blickfeldes der Parallelismus der queren Mittelschnitte in etwas weiteren Grenzen erhalten bleibt, was theoretisch viel f\u00fcr sich hat, w\u00e4re noch zu untersuchen.\nEndlich sei erw\u00e4hnt, dass auch dann keine mechanische Analogie mit dem LiSTiNG\u2019schen Gesetze gefunden wird, wenn man das Blickfeld rechtwinklig zur Blickebene anbringt, eine Lage desselben, welche wir beim Nahsehen vermeiden; denn entweder liegen die aus der N\u00e4he betrachteten Dinge auf dem Tische, und dann neigen wir den Kopf, jedoch nicht soweit, dass die Ebene des Tisches senkrecht zur Blickebene liegt, oder wir halten die Dinge, z. B. ein Bild, in der Hand, dann neigen wir den Kopf weniger und halten das Bild so, dass es nahezu in den L\u00e4ngshoropter zu liegen kommt.\nDagegen besteht zwischen dem LiSTiNG\u2019schen Gesetze der Augenbewegung f\u00fcr das Fernsehen und dem oben mitgetheilten Gesetze f\u00fcr das Nahsehen allerdings eine grosse optische Analogie: beide erf\u00fcllen das Princip des gr\u00f6ssten Horopters, wie es Meissner gefordert hat, d. h. sie erfolgen beim gew\u00f6hnlichen Sehen so, dass die gr\u00f6sst-m\u00f6gliche Correspondenz der Netzhautbilder erreicht wird.\nIm Interesse dieser Correspondenz werden unter besonderen Umst\u00e4nden auch Bewegungen und Stellungen der Augen herbeigef\u00fchrt,","page":503},{"file":"p0504.txt","language":"de","ocr_de":"504 Hering, Physiol. Optik IY. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nzu welchen beim gew\u00f6hnlichen Sehen gar keine oder nur geringe Veranlassung gegeben ist. Man kann diese Bewegungen bezeichnen als\nIV. Aussergew\u00f6hnliche Augenbewegungen im Interesse des\nEinfachsehens.\nWenn man correspondirend liegende identische Druckschriften oder Zeichnungen mit parallelgerichteten Gesichtslinien haploskopisch zur Deckung gebracht hat und dann die eine innerhalb ihrer Ebene ein wenig um den Fixationspunkt dreht, so f\u00fchren, wie Nagel 1 gefunden hat, die Augen eine kleine Rollung um ihre Gesichtslinie aus, durch welche die Bilder der beiden Zeichnungen wieder die m\u00f6glichst eorrespondirende Lage auf den Netzh\u00e4uten erhalten. Hierzu w\u00fcrde an sich gen\u00fcgen, dass nur das eine Auge eine Rollung um denselben Winkel ausf\u00fchrt, um welchen die ihm gegen\u00fcberliegende Zeichnung gedreht wurde. In Wirklichkeit aber werden statt dessen beide Augen in symmetrischer Weise um denselben Winkel gerollt; h\u00f6chstens ist, wie Nagel1 2 meint, die Rollung desjenigen Auges, dessen Netzhautbild verdreht wurde, etwas st\u00e4rker als die des andern. Dieselben Rollungen zeigen die Augen, wenn man die Correspondenz der Netzhautbilder dadurch aufhebt, dass man beide Zeichnungen in entgegengesetzter Richtung ein wenig um den Fixationspunkt dreht. Um auf diese Weise ziemlich starke Rollungen der Augen herbeizuf\u00fchren, muss man die Drehung der Zeichnungen sehr langsam ausf\u00fchren oder mit Unterbrechungen allm\u00e4hlich verst\u00e4rken, weil sonst die Rollung hinter der Drehung zur\u00fcckbleibt und das haploskopische Bild in Doppelbilder zerf\u00e4llt. Immer sind selbst die st\u00e4rksten hierbei erreichten Rollungen klein und \u00fcberschreiten nach Nagel\u2019s Angabe nicht 5\u00b0 f\u00fcr jedes Auge, was einer gegenseitigen Verdrehung der Bilder um 10\u00b0 entspricht.\nDiese Rollungen im Interesse der Herstellung m\u00f6glichster Correspondenz der Netzhautbilder treten jedoch kaum ein, wenn die Bilder ausschliesslich oder auch nur vorwiegend verticale oder stark zur Horizontalen geneigte Conturen enthalten. Denn solche geben im Wesentlichen querdisparate Netzhautbilder, welche durch kleine Aenderungen des Convergenzwinkels Punkt f\u00fcr Punkt leicht zur Deckung gebracht werden k\u00f6nnen, soweit sie nicht schon mit dis-paraten Stellen einfach gesehen werden.\nEnthalten aber die Zeichnungen vorwiegend horizontale Punkt-\n1\tNagel, Das Sehen mit zwei Augen S. 51. 1861.\n2\tDerselbe, Arch. f. Ophthalmologie XIV. (2) S. 235. 1868.","page":504},{"file":"p0505.txt","language":"de","ocr_de":"Symmetrische Rollungen.\n505\nreihen und Conturen, so geben diese bei der Verdrehung l\u00e4ngsdisparate Netzhautbilder, es entstehen Doppelbilder, die sich durch Conver-genz\u00e4nderungen nicht Punkt f\u00fcr Punkt beseitigen lassen, und diese Doppelbilder erzeugen jenes unbehagliche Gef\u00fchl, welches Jeder beim Sehen im Stereoskope erf\u00e4hrt, wenn die Verschmelzung der beiden Bilder nicht gelingt. Diese Doppelbilder und das durch sie bedingte Unbehagen k\u00f6nnen hier nur durch Rollungen der Augen beseitigt werden.\nBietet man den Augen von vornherein zwei etwas gegeneinander verdrehte gleiche Bilder zur haploskopischen Vereinigung, so bleibt letztere trotz zahlreichen horizontalen Conturen aus, wenn die gegenseitige Verdrehung der Bilder wenige Grade \u00fcbersteigt. Man muss dann zum Zwecke der Verschmelzung erst die Bilder wieder in eine nahezu correspondirende Lage zur\u00fcckbringen und nach erfolgter Verschmelzung langsam weiter drehen, wie oben beschrieben wurde.\nHelmholtz 1 fand unabh\u00e4ngig von Nagel und nach einer andern Methode Rollungen der Augen bis zum Betrage von 7\u00b0 f\u00fcr beide Augen zusammen. Wenn man zwei rechtwinklige Prismen hintereinander so vor ein Auge h\u00e4lt, dass ihre Hypotenusenfl\u00e4chen parallel, aber nach entgegengesetzten Seiten, und je zwei Kathetenfl\u00e4chen ebenfalls parallel und die Kanten rechtwinklig zur Richtung der Gesichtslinie liegen, so erscheinen alle Objecte in unver\u00e4nderter Lage (abgesehen von einer kleinen scheinbaren N\u00e4herung oder Vergr\u00f6sse-rung). Die Dinge werden n\u00e4mlich erst von der Hypotenusenfl\u00e4che des vom Auge entfernteren, dann von der des n\u00e4heren Prismas gespiegelt und erfahren also eine zweimalige Umkehrung ihres Bildes. Man kann dabei die Prismen so gegeneinanderstellen, dass der Strahl, welcher vor dem Eintritt ins entferntere Prisma mit der Gesichtslinie zusammenf\u00e4llt, dasselbe auch nach seinem Austritt aus dem n\u00e4heren Prisma thut.\nDreht man nun das eine Prisma um diesen Strahl als Axe, so erleiden die Dinge eine Scheindrehung um den fixirten Punkt, sodass also auch ihr Netzhautbild in ganz analoger Weise verdreht wird, wie bei den oben beschriebenen Versuchen.\nLegt man die Prismen mit zwei Kathetenfl\u00e4chen aneinander und dreht dann das eine um die zu diesen Fl\u00e4chen senkrechte Axe, so tritt, wie Hering 2 gegen Helmholtz\u2019s erste Beschreibung des Versuchs einwandte, eine Scheinverschiebung der Objecte nach oben oder unten und seitw\u00e4rts\n1\tHelmholtz, Verb. d. naturhist.-med. Yer. z. Heidelberg 1S65. S. 258 und Physiol. Optik S. 476.\n2\tHering, Die Lehre vom binocularen Sehen S. 61.","page":505},{"file":"p0506.txt","language":"de","ocr_de":"506 Hering, Physiol. Optik IV. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nhinzu, wodurch der Versuch unrein wird, weil die Augen im Interesse der Correspondenz der Bilder zu complicirteren Bewegungen gezwungen werden.\nHering (1. c.) konnte anfangs weder mit H\u00fclfe von Doppelzeichnungen noch nach der Methode von Helmholtz Rollungen seiner Augen herbeif\u00fchren, weil er Objecte und Zeichnungen benutzte, welche wenig oder gar keine horizontale Conturen enthielten, und weil grosse Uebung im Doppelsehen disparater Bilder ein wesentliches Hinderniss f\u00fcr das Gelingen der Versuche bildet. Sp\u00e4ter hat er mit H\u00fclfe horizontaler Conturen ebenfalls kleine Rollungen erhalten 1 und dieselben als einen weiteren Beweis f\u00fcr seine Ansicht hingestellt, dass die gr\u00f6sstm\u00f6gliche Correspondenz der Netzhautbilder ein wesentliches Leitmotiv f\u00fcr die Augenbewegungen ist.\nDer grossen Langsamkeit, mit welcher die beschriebene Rollung erfolgt, entspricht die weitere Thatsache, dass die einmal erfolgte Rollung eine gewisse Dauerhaftigkeit besitzt. Blickt man z. B., nachdem die Augen sich einige Zeit mit der haploskopischen Betrachtung zweier gegeneinander verdrehter Zeichnungen besch\u00e4ftigt haben, nach einer entfernten querhorizontalen Linie, so sieht man dieselbe in Doppelbildern, die sich im Blickpunkte unter sehr spitzem Winkel durchschneiden, und erst allm\u00e4hlich gehen die Augen durch Gegenrollung in ihre normale Stellung zur\u00fcck, so dass querhorizontale Linien sich wieder correspondirend abbilden.\nDieses Verhalten ist von grosser Bedeutung f\u00fcr das gew\u00f6hnliche Sehen. Sind n\u00e4mlich die Augen zu den Aussendingen so gestellt, dass viele Punkte und quere Conturen derselben schr\u00e4g disparate Netzhautbilder geben, weil die mittlen Querschnitte nicht in der Blickebene liegen, so kann diesem Uebelstande durch kleine Rollungen der Augen abgeholfen werden, welche, einmal eingetreten, fortbestehen und wahrscheinlich habituell werden, wenn die Bedingungen ihres Entstehens fortdauern oder h\u00e4ufig wiederkehren.2\nGanz \u00e4hnlich wie die beschriebenen Rollungen verh\u00e4lt sich betreffs der Langsamkeit und Schwierigkeit ihres Eintretens und betreffs der Nachdauer eine zweite, schon l\u00e4nger bekannte Art von Bewegungen, welche ebenfalls im Interesse der Correspondenz der Bilder ausgef\u00fchrt werden. Wenn man n\u00e4mlich von zwei zun\u00e4chst corre-spondirenden Bildern, welche bei Parallelstellung der Gesichtslinien haploskopisch vereinigt wurden, das eine sehr langsam und absatzweise ein wenig nach oben oder unten schiebt, so folgt das entsprechende Auge dieser Verschiebung, so dass nun die Gesichtslinien\n1\tHering, Arch. f. Ophthalmologie XV. (1) S. 1. 1869.\n2\tDerselbe, ebenda S. 7.","page":506},{"file":"p0507.txt","language":"de","ocr_de":"Einseitige Hebung und Senkung. Divergenzstellung.\n507\nnicht mehr in einer Ebene liegen. Solche einseitige Hebungen und Senkungen des Auges hat zuerst Donders1 mit H\u00fclfe eines schwachen Prismas erzielt. H\u00e4lt man ein solches zun\u00e4chst mit verticaler Kante vor ein Auge, so dass der brechende Winkel nach innen gerichtet ist, stellt durch Erh\u00f6hung der Convergenz das Einfachsehen wieder her und dreht dann das Prisma um die Richtung der Gesichtslinien ganz allm\u00e4hlich in die horizontale Lage, so hebt oder senkt sich ebenfalls das Auge im Interesse des Einfachsehens. Helmholtz 1 konnte auf diese Weise Differenzen in der Hebung oder Senkung beider Gesichtslinien um h\u00b0 ohne Schwierigkeit herbeif\u00fchren, Hering'2 3 nach l\u00e4ngerer Uebung Prismen von 8\u00b0 \u00fcberwinden. Entfernt man das Prisma, so bleibt das Auge relativ zum andern einige Zeit in seiner abnormen Stellung und man sieht anfangs Alles in \u00fcbereinander liegenden Doppelbildern.\nIn ganz analoger Weise lassen sich mit H\u00fclfe haploskopisch vereinigter Zeichnungen, deren gegenseitigen Abstand man allm\u00e4hlich ver-gr\u00f6ssert (H. Meyer 2), oder durch vertical gestellte Prismen (Donders j) Divergenzen der Gesichtslinien im Interesse des Einfachsehens herbeif\u00fchren, welche von Meyer und Hering bis auf 10\u00b0 gebracht werden konnten. H\u00e4lt man nach Rollet 3 vor die Augen je eine dicke planparallele Glasplatte vertical und so zur Gesichtslinie geneigt, dass ihr medianw\u00e4rts gelegener Rand dem Gesichte n\u00e4her ist als der laterale, und blickt durch die Platten nach fernen Objecten, so sieht man dieselben einfach, obwohl hierzu wegen der durch die Platten bedingten Verschiebung der Lichtstrahlen eine Divergenz der Gesichtslinien erforderlich ist. Bringt man bei parallelen Gesichtslinien in jede derselben einen starken verticalen Faden oder Draht in einer Entfernung, welche ein deutliches Sehen derselben gestattet, so werden die Bilder derselben haploskopisch verschmolzen. Erh\u00f6ht man nun allm\u00e4hlich den gegenseitigen Abstand der Dr\u00e4hte oder neigt ihr oberes Ende nach aussen, so gehen die Gesichtslinien zur Divergenz \u00fcber und die Verschmelzung bleibt bis zu einer gewissen Grenze erhalten.4\nV. Rollungen der Augen bei seitlicher Neigung des Kopfes.\nWenn man den Kopf nach der Schulter neigt, so erleiden beide Augen eine der Drehung des Kopfeg entgegengerichtete Rollung um\n1\tDonders, Holl\u00e4nd. Beitr. I. S. 382. 1846.\n2\tH. Meyer, Annal, d. Phys. u. Chem. LXXXV. S. 208.1852.\n3\tRollet, Sitzgsber. d. Wiener Acad. XLII. 2. Abth. S. 488. 1860.\n4\tBecker und Rollet, ebenda XLIII. 2. Abth. S. 667. 1861.","page":507},{"file":"p0508.txt","language":"de","ocr_de":"508 Hering, Physiol. Optik IV. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\ndie Gesichtslinie. Gesetzten Falls, man fixirt einen gradaus in der Ferne gelegenen Punkt und dreht den Kopf um eine von vorn nach hinten gehende Horizontalaxe nach rechts, d. i. positiv, so erf\u00e4hrt jedes Auge eine negative Rollung, derart also, dass die rechte H\u00e4lfte des mittlen Querschnittes gehoben wird. Bringt man den Kopf in die aufrechte Lage zur\u00fcck, so werden auch die Augen wieder in die alte Stellung gerollt. Man kann sich hiervon leicht \u00fcberzeugen, wenn man nach Donders\u2019 Vorschlag am oben (S. 473) beschriebenen Visirzeichen von Helmholtz statt des kurzen Querstreifens einen l\u00e4ngeren und breiteren grauen Pappstreifen anbringt und auf demselben ein schmales rothes Band, das von rechts nach links l\u00e4uft. Jedem Auge gerade gegen\u00fcber befindet sich auf dem Bande eine Marke zumFixiren; liegen die Gesichtslinien parallel, so verschmelzen beide Marken haploskopisch. Fixirt man nun einige Zeit die haploskopische Marke und neigt dann ohne Ver\u00e4nderung der Fixation den Kopf stark zur Seite, so sieht man ein gegen das Band verdrehtes, dasselbe im Fixationspunkte durchschneidendes Nachbild. Man kann auch einen gleichfarbig grauen Papierstreifen mit querer Mittellinie ben\u00fctzen, auf welchem die beiden Fixationspunkte mar-kirt sind. Auf den Pappstreifen legt man dann einen gleichfalls ganz ebenen, zur oberen H\u00e4lfte rothen, zur unteren gr\u00fcnen Cartonstreifen mit zwei Fixationspunkten auf der Grenzlinie der Farben, und zwar so, dass diese Punkte genau auf die Fixationspunkte des grauen Pappstreifens zu liegen kommen. Entfernt man nach Erzeugung des Nachbildes den farbigen Carton, so deckt die Mittellinie des Nachbildes die Mittellinie des Pappstreifens ; neigt man aber den Kopf z. B. nach rechts, d. i. positiv, so verdreht es sich gegen diese Linie im negativen Sinne.\nDurch analoge Versuche l\u00e4sst sich zeigen, dass, -wie Woinow fand, die Rollungen auch bei Convergenzstellung ganz dieselben sind, wie bei Parallelstellung. Am besten senkt man dabei, indem man die quere Mittellinie des Pappstreifens tiefer legt, die Blickebene so weit, dass trotz der Convergenz die mittlen Querschnitte in die Blickebene zu liegen kommen, weil man sonst die quere Linie in sich durchschneidenden Doppelbildern sieht.\nDie Rollung ist in beiden Augen gleich stark. Man kann dies an den Nachbildern und nach einem Vorschlag von Donders auch auf folgende Weise beobachten:\nAn den vorderen Rand eines Brettchens, welches das von Helmholtz beschriebene Visirzeichen tr\u00e4gt, steckt man zwei verticale Dr\u00e4hte so, dass sie etwas weiter von der Mittels\u00e4ule abstehen, als","page":508},{"file":"p0509.txt","language":"de","ocr_de":"Parallele Rollungen.\n509\ndie beiden Spitzen des queren Papierstreifens. Dann betrachtet man z. B. in Prim\u00e4rstellung ein fernes Object, wobei die beiden Spitzen der Trugbilder des Querstreifens sich ber\u00fchren, falls das Visirzeichen richtig eingestellt ist, und die beiden Dr\u00e4hte ungleichseitige Doppelbilder geben. Das linke Trugbild des rechten und das rechte des linken Doppelbildes erscheinen dabei nahe der Medianebene. Man richte die Dr\u00e4hte so, dass diese beiden Trugbilder genau parallel sind: neigt man dann den Kopf nach rechts oder links zur Schulter, so bleiben die Trugbilder parallel. Beweis, dass die Rollung in beiden Augen gleich stark ist.\nMan hat, wie Breuer fand, eine verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig starke y ortibergehende Rollung, welche die erw\u00e4hnte Bewegung des Kopfes begleitet, zu unterscheiden yonder bleib enden Rollabweichung, welche fortbesteht, wenn man den Kopf dauernd geneigt h\u00e4lt. Die erstere geht schon nach 1 \u2014 2 Secunden in die bleibende Rollabweichung zur\u00fcck. Die Gr\u00f6sse der vor\u00fcbergehenden Rollung fand Mulder f\u00fcr verschieden grosse Bewegungen des Kopfes ungef\u00e4hr gleich, wenn nur die Schnelligkeit der Bewegung dieselbe war. Wenn man mit der oben beschriebenen Vorrichtung experimentirt und bei Conver-genzstellung durch den binocularen, bei Parallelstellungen durch einen der beiden unocularen Fixationspunkte einen Faden spannt, der die quere Mittellinie des farbigen Cartons unter einem Winkel von 1\u00b0\t-20\u00b0 durchschneidet, so kann man bei rascher Seitw\u00e4rtsneigung\nFig. 50.\ndes Kopfes beobachten, ob das Nachbild der Farbengrenzlinie sich so weit dreht, dass es mit dem Faden zusammenf\u00e4llt. Durch passende Verstellung des Fadens l\u00e4sst sich dies erreichen, wenn es nicht zuf\u00e4llig gleich anfangs der Fall war. Mulder beobachtete auf diese Weise Rollung bis zu 20\u00b0.\nUeber die bleibende Rollabweichung haben Mulder und K\u00fcster zahlreiche Messungen angestellt. Die Curven in Fig. 50 veranschaulichen das Verh\u00e4ltniss zwischen dem Winkel der Kopfneigung und demjenigen der bleibenden Rollabweichung. Die L\u00e4nge der Abscissen","page":509},{"file":"p0510.txt","language":"de","ocr_de":"510 Hering, Physiol. Optik IY. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nstellt die Kopfneigungen, die L\u00e4nge der Ordinaten die entsprechenden Rollabweichungen nach gleichem Maassstabe vor. Man sieht, dass die Abweichung anfangs rascher, dann langsamer mit der Kopfneigung w\u00e4chst, und \u00fcber 50\u00b0 Kopfneigung hinaus nur noch \u00e4usserst wenig zunimmt.\nEine Abweichung des Kopfes in Folge von Drehung um seine Verticalaxe nach rechts oder links bis 20\u00b0, oder eine Neigung desselben nach vorn oder hinten hatte keinen merklichen Einfluss auf die Gr\u00f6sse der Rollung.\nDie bleibende Abweichung h\u00e4ngt, wie Nagel zeigte, lediglich von der Neigung des Kopfes ab, gleichviel, wie die letztere herbeigef\u00fchrt wurde, ob man nur den Kopf oder zugleich den Oberk\u00f6rper geneigt hat. Auch ist es gleichg\u00fcltig, ob die Neigung des Kopfes activ oder passiv herbeigef\u00fchrt wurde; man kann sich, statt den Kopf selbst zu neigen, denselben von einem Andern zwischen die H\u00e4nde nehmen und neigen lassen. Auch wenn man auf der Seite liegt, zeigt sich, wie Nagel fand, die Abweichung.\nDie Rollabweichung ist eine dauernde, wenn der Kopf in der zur Yerticalebene des Raumes geneigten Lage verharrt. Um dies zu zeigen, erzeugte Mulder ein Nachbild, nachdem er bereits 15 Minuten lang den Kopf geneigt gehalten hatte, und richtete sich dann auf. Es ergab sich, dass in diesen 15 Minuten die Rollabweichung sich nicht ge\u00e4ndert hatte. Ferner legte er sich durch 45 Minuten horizontal auf die Seite, erzeugte das Nachbild und stand auf. Die nun bleibende Abweichung des Nachbildes betrug 5\u00b0 2, w\u00e4hrend er bei 90\u00b0 Neigung des Kopfes 6\u00b0 erhalten hatte. K\u00fcster erhielt bei demselben Versuche 8\u00b0 5 Abweichung nach dem Aufstehen statt 10\u00b0 6, die er sonst bei 90\u00b0 Neigung des Kopfes gefunden hatte. Dass es sich hierbei wirklich um das Zur\u00fcckgehen einer bestandenen und nicht um eine durch das Aufstehen bewirkte neue Rollung handelt, wurde daraus geschlossen, dass sich durch l\u00e4ngere Zeit die Lage des Nachbildes nicht \u00e4nderte.\nBringt man, wie Donders that, vor das eine Auge ein Spiegel-chen auf einem mit den Z\u00e4hnen gehaltenen Brettchen, so kann man sein eigenes Auge w\u00e4hrend der Rollung beobachten, ohne dass sich die Stellung der Gesichtslinie zum Spiegel \u00e4ndert, wenn man den Kopf neigt. Ist man nicht sehr kurzsichtig, so nimmt man statt des Planspiegels eine auf der einen Seite versilberte Sammellinse. Donders \u201eneigte den Kopf zur Seite, bis eine Arteria eiliaris gerade hinter dem Augenlide verschwand, und stillhaltend sah er sie nicht mehr als 0,5 mm. zur\u00fccktreten; wenn er nun aus der geneigten Stel-","page":510},{"file":"p0511.txt","language":"de","ocr_de":"Parallele Rollung.\n511\nlung wieder in die senkrechte tiberging, kam das Gef\u00e4ss weit \u00fcber dem Augenlide zum Vorschein um wieder 0,5 bis 1 mm. zu sinken\u201c.\nUeber die tieferen Ursachen dieser Rollungen und ihre Bedeutung f\u00fcr die r\u00e4umliche Wahrnehmung bestehen sehr verschiedene Ansichten. Nagel bringt sie in Beziehung zur Erhaltung des Gleichgewichts, nach Breuer und Mach 1 werden sie von den Nerven der Bogeng\u00e4nge des Labyrinths ausgel\u00f6st. Donders erkl\u00e4rt sie dagegen f\u00fcr eine mit der Neigung des Kopfes associirte Bewegung, \u201edie f\u00fcr die gew\u00f6hnliche Bewegung des Kopfes ein gen\u00fcgendes Hilfsmittel zur Compensation ist\u201c.1 2\nDie Rollung der Augen bei Neigung des Kopfes wurde, wie Nagel angiebt, zuerst von John Hunter erw\u00e4hnt. Sp\u00e4ter er\u00f6rterte sie ausf\u00fchrlich Hueck 3 4 5, doch waren seine Beobachtungen keine messenden und er meinte, dass durch die Rollung bei nicht zu starker Neigung des Kopfes die letztere durch die Rollung vollst\u00e4ndig compensirt werde. Weil aber das Nachbild eines verticalen Bandes bei jeder Seitw\u00e4rtsneigung des Kopfes sich auch auf der Wand neigt, hielten Ruete und Donders Hueck\u2019s Angaben f\u00fcr unrichtig, bis Javal 4 die Rollungen mit H\u00fclfe seines Astigmatismus beobachtete. Sie wurden dann von Nagel 5 in derselben Weise, von Skrebitzki6 mit Nachbildern genauer untersucht. Weitere Mittheilungen machten Donders 7, Woinow 8, Breuer9 und Mulder 10 11. Letzterer benutzte folgende von Donders 11 angegebene Methode: \u201eDas f\u00fcr die Versuche construirte Instrument besteht aus einem Kopfhalter, welcher sich um eine horizontale, zur Grundlinie senkrechte Axe dreht (Seitw\u00e4rtsneigung also gegen die Schulter), und bei jeder Einstellung durch den Beobachter schnell und leicht zu fixiren ist. Wenn der Kopf darin festgehalten wird, und zwar genau in der Prim\u00e4rstellung, betrachtet das Auge ungef\u00e4hr 20 Secunden lang eine von entfernten Gasfl\u00e4mmchen gebildete Lichtlinie, die sich im Querdurchmesser einer grossen Scheibe befindet, l\u00f6scht die Fl\u00e4mmchen durch eine kleine Handbewegung bis auf ein Minimum aus, dreht nun den Kopf im Kopfhalter und stellt diesen durch eine zweite Handbewegung wieder fest, gerade w\u00e4hrend das Nachbild mit einem in einem Diameter der Scheibe von bekannter Richtung\n1\tMach. Grundlinien der Lehre von d. Bewegungsempfindungen. Leipzig 1875.\n2\tArch. f. Ophthalmologie XXI. (1) S. 114.1875.\n3\tHueck, Die Axendrehung des Auges. Dorpat 1838.\n4\tJaval, Trait\u00e9 th\u00e9oretique et pratique des maladies des yeux, par L. Wecker.\nH.\tp. 815. Paris 1866. (citirt nach Mulder.)\n5\tNagel, Arch. f. Ophthalmologie XVII. (1) S. 237. 1871.\n6\tSkrebitzki, Arch. f. Ophthalmologie XYII. (1) S. 107. 1871.\n7\tDonders, Klin. Monatsbl\u00e4tter S. 389. 1871. (citirt nach Mulder.)\n8\tWoinow, Arch. f. Ophthalmologie XVK (2) S. 233 und Klin. Monatsbl\u00e4tter S. 387. 1871.\n9\tBreuer, Ueber die Function der Bogeng\u00e4nge des Ohrlabyrinths. Med. Jahrb.\nI.\tHeft. 1874 und 1. Heft 1875.\n10\tMulder, Arch. f. Ophthalmologie XXI. (1) S. 68. 1875.\n11\tDonders, Arch. f. d. ges. Physiol. XIII. S. 409. 1876.","page":511},{"file":"p0512.txt","language":"de","ocr_de":"512 Heking, Physiol. Optik IV. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nausgespannten Faden zusammenf\u00e4llt, und der Unterschied zwischen der Neigung dieses Durchmessers und der des Kopfes, die sich beide genau bestimmen lassen, ist die Rollbewegung. \u201c\nHelmholtz hatte, ohne noch die hier er\u00f6rterten Rollungen zu kennen, den oben beschriebenen Nachbildversuch zum Beweise des LiSTiNo\u2019schen Gesetzes auch so angestellt, dass er zur Untersuchung der schr\u00e4gen Bahnen der Gesichtslinie nicht den Nachbild erzeugenden Streifen auf der Wand, sondern den Kopf neigte, wobei er die Prim\u00e4rstellung der Gesichtslinie an dem Visirzeichen controlirte. Er fand auch so, dass die Gesichtslinie die prim\u00e4ren Bahnebenen ohne Rollung des Auges durchmass. Hieraus w\u00fcrde sich also ergeben, dass die Prim\u00e4rstellung der Gesichtslinie und das Bewegungsgesetz der Augen sich nicht \u00e4ndert, auch wenn die Augen durch die beschriebenen Rollungen eine andere Lage in der Orbita haben und s\u00e4mmtliche Muskeln in etwas anderer Weise am Augapfel angreifen, falls nicht etwa die verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig weiten Fehlergrenzen der Methode den Versuch getr\u00fcbt haben.\nVI. Die Augenmuskeln.\nSo gut uns gegenw\u00e4rtig die Augenbewegungen bekannt sind, so wenig wissen wir noch \u00fcber den Antheil, den die einzelnen Augenmuskeln an jeder bestimmten Bewegung haben.\nDie sechs Augenmuskeln sind so angeordnet, dass je zwei sich beil\u00e4ufig als Antagonisten verhalten, insofern sie den Augapfel ungef\u00e4hr um dieselbe Axe, jedoch in entgegengesetzter Richtung zu drehen streben. Innerhalb welcher Grenzen sich bei den verschiedenen Stellungen des Auges die Abweichungen jedes Muskelpaares vom Antagonismus bewegen, ist nicht bekannt. Indessen werden diese Abweichungen sicher nie so gross sein, dass sich nicht auf Grund des ann\u00e4hernd antagonistischen Verhaltens je zweier Muskeln annehmen liesse, dass jede bestimmte Drehung des Augapfels nur auf eine einzige Weise, d. h. immer wieder von denselben Muskeln und mit demselben Verh\u00e4ltniss der Anstrengung der einzelnen Muskeln erzeugt wird. Wenn es gilt, das Auge aus irgend einer Stellung um irgend welche Axe herauszudrehen, so steht bei strengem Antagonismus jedes Muskelpaares die Wahl der zur Drehung erforderlichen Muskeln, schon theoretisch genommen, nicht frei, sondern es giebt nur eine einzige Art der Innervation und der entsprechenden Muskelaction, durch welche die Drehung herbeigef\u00fchrt werden kann. Praktisch genommen gilt dieser Satz auch dann, wenn der Antago-","page":512},{"file":"p0513.txt","language":"de","ocr_de":"Bestimmung der Drehungsmomente.\n513\nnismus der einzelnen Muskelpaare kein genauer ist. Ein Vicariren verschiedener Muskeln untereinander ist also hei strengem Antagonismus \u00fcberhaupt nicht denkbar ; bei nur angen\u00e4hertem Antagonismus aber deshalb thats\u00e4chlich ausgeschlossen, weil die vicarirenden Muskeln, welche das n\u00f6thige Drehungsmoment aufbringen k\u00f6nnten, dies nur mit einem ganz unverh\u00e4ltnissm\u00e4ssig grossen Kraftaufwande verm\u00f6chten.\nUm den Antheil bestimmen zu k\u00f6nnen, welchen die einzelnen Muskeln an der Ausf\u00fchrung einer bestimmten Drehung haben, sucht man zuv\u00f6rderst f\u00fcr jeden Muskel die Resultirende aus dem Zuge seiner s\u00e4mmtlichen Einzelfasern zu finden. Zu diesem Zwecke denkt man sich durch die geometrischen Mittelpunkte der Muskelurspr\u00fcnge und Ans\u00e4tze und durch den Drehpunkt eine Ebene gelegt und auf derselben im Drehpunkt eine Senkrechte errichtet: diese betrachtet man als di'e Axe des Drehbestrebens des Muskels, und um zugleich die Richtung der angestrebten Drehung zu bestimmen, bezeichnet man die Axenh\u00e4lfte derjenigen Seite, von welcher aus gesehen die Drehung im Sinne der Bewegung eines Uhrzeigers erfolgen w\u00fcrde, als die Halbaxe der Drehung. Eine der Kraft des Drehbestrebens proportionale, aus dem Drehpunkte auf diese Halbaxe aufgetragene Strecke ist das vom Muskel erzeugte Drehungsmoment.\nDie Bestimmung des Mittelpunktes der f\u00e4cherartig ausgebreiteten Muskel ans\u00e4tz e unterliegt einer gewissen Willk\u00fcr; einen genauen Drehpunkt giebt es nicht; die angenommene Resultirende setzt voraus, dass die Muskelfasern ganz symmetrisch zu derselben vertheilt sind ; der Mittelpunkt des interaxialen Raumes liegt nicht genau im Kr\u00fcmmungsmittelpunkte einer sph\u00e4rischen Hinterfl\u00e4che des Augapfels. Aus allen diesen Gr\u00fcnden versteht sich, warum auch unter der Annahme, dass s\u00e4mmtliche Fasern eines Muskels immer gleichzeitig und gleich stark innervirt werden, eine genaue Bestimmung der Halbaxen des Drehbestrebens nicht m\u00f6glich ist.\nDie Axe, um welche bei einer gegebenen Augenstellung ein Muskel das Auge zu drehen strebt, ist nicht nothwendig auch die unver\u00e4nderliche Axe der wirklichen Drehung, welche der Muskel erzeugt, wenn er sich allein contrahirt, und zwar auch dann nicht, wenn man annehmen darf, dass durch die, w\u00e4hrend der Bewegung erfolgende Verschiebung des Muskelansatzes relativ zum Muskelursprung keine Lagen\u00e4nderung des Drehungsmomentes bewirkt wird. Wie der Weg eines Schiffes nicht blos von der Richtung der treibenden Kraft abh\u00e4ngt, sondern auch von der Richtung der Widerst\u00e4nde und insbesondere der Stellung des Steuers, so h\u00e4ngt auch die Drehung, welche ein Muskel bewirkt, nicht allein ab von der Lage und Gr\u00f6sse des\nHandbuch der Physiologie. Bd. III.\t33","page":513},{"file":"p0514.txt","language":"de","ocr_de":"514 Hering. Physiol. Optik IV. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nvon ihm erzeugten Drehungsmomentes, sondern zugleich von der Lage und Gr\u00f6sse des, aus dem gleichzeitigen Zuge aller \u00fcbrigen Muskeln und den sonstigen Anheftungen des Augapfels an der Orbita resultirenden Drehungsmomentes. Nur insoweit man annehmen darf, dass das aus den Widerst\u00e4nden der Drehung resultirende Moment immer in derselben Axe liegt, wie das vom Muskel erzeugte, darf man die Axe, um welche ein Muskel das Auge aus einer bestimmten Anfangslage herauszudrehen strebt, auch als die Axe der wirklich erfolgenden Drehung ansehen.\nBetreffs der Annahme, dass die Lage des Drehungsmomentes, welches ein bestimmter Muskel erzeugt, sich bei den verschiedenen Stellungen des Auges nicht wesentlich \u00e4ndert, hat Helmholtz 1 auf die Bedeutung des breiten, f\u00e4cherf\u00f6rmigen Ansatzes der Muskeln am Bulbus hingewiesen. \u201eNehmen wir\u201c, sagt er, \u201eals Beispiel den rectus super, und infer., so spannen sich, wenn das Auge nach innen gedreht wird, bei der Verk\u00fcrzung des Muskels vorwiegend die Fasern der Sehne, welche nach dem \u00e4ussern Rande der Hornhaut hin gerichtet sind, weil diese am meisten verl\u00e4ngert sind.\u201c \u201eWenn sich das Auge nach aussen dreht, wirken dagegen haupts\u00e4chlich die innern Str\u00e4nge beider Sehnen. So bleibt die Richtung des Muskelzuges dieselbe, trotz der ver\u00e4nderten Stellung des Auges. \u201c\nDie Widerst\u00e4nde der Drehung sind, sofern es sich nur um das f\u00fcr gew\u00f6hnlich benutzte kleine Gebiet der Lagen\u00e4nderungen handelt, im Wesentlichen in den nichtactiven Muskeln und haupts\u00e4chlich in den Antagonisten der jeweiligen activen Muskeln zu suchen, daher das aus s\u00e4mmtlichen Widerst\u00e4nden resultirende Drehungsmoment seine Lage w\u00e4hrend der Drehung auch nicht erheblich \u00e4ndern wird.\nFick1 2, Ruete3 und insbesondere Volkmann4 haben auf Grund anatomischer Untersuchung die Lage der Axen zu bestimmen gesucht, um welche jeder Muskel bei einer bestimmten .Mittelstellung das Auge zu drehen strebt. Diese Mittelstellung war sicher bei den verschiedenen Augen verschieden, d\u00fcrfte aber nicht sehr erheblich von der Prim\u00e4rstellung differirt haben. Das allgemeine Ergebniss dieser Untersuchungen ist, dass die Axe des \u00e4ussern und innern Geraden beil\u00e4ufig senkrecht zur prim\u00e4ren Blickebene, die Axen der \u00fcbrigen Muskeln dieser Ebene mehr oder weniger nahe liegen, und zwar die gemeinschaftliche Axe des obern und untern Geraden unter einem Winkel von beil\u00e4ufig 66\u00b0 \u2014 71\u00b0, die gemeinschaftliche Axe\n1\tHelmholtz, Physiol. Optik. S. 471.\n2\tFick, Ztsehr. f. rat. Med. (3) IV. S. 101. 1853.\n3\tRuete, Ein neues Ophthalmotrop. Leipzig 1857.\n4\tA. W. Volkmann, Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. 6. Febr. 1869. S. 28.","page":514},{"file":"p0515.txt","language":"de","ocr_de":"Einzelwirkimg der Augenmuskeln.\n515\nder beiden Schiefen unter einem Winkel von beil\u00e4ufig* 36\u00b0\u201438\u00b0 zur Gesichtslinie, wie dies Fig. 51 schematisch darstellt. Dieselbe ist der Horizontalschnitt des linken Auges von oben gesehen; ou ist die Verbindungslinie der beiden Drehpunkte (Grundlinie), die unterbrochene Linie die Gesichtslinie ; die vier Halbaxen des Drehbestrebens des Rectus superior und inferior, sowie der beiden Obliqui sind mit den entsprechenden Anfangsbuchstaben bezeichnet. Eine durch den Drehpunkt m gelegte Senkrechte w\u00fcrde mit ihrer obern H\u00e4lfte die dem Rectus internus, mit ihrer untern H\u00e4lfte die dem Rectus externus zugeh\u00f6rige Halbaxe darstellen.\nFig. 52 versinnlicht ann\u00e4hernd die Bahnen, welche die Gesichtslinie des linken Auges auf einer zur Prim\u00e4rstellung senkrechten und\nFig. 51.\num die Strecke dd vom Drehpunkte abstehenden Ebene beschreiben m\u00fcsste, wenn das Auge um eine der genannten sechs Halbaxen gedreht w\u00fcrde. Der Figur ist die Anahme Ruete\\s zu Grunde gelegt,\n33*","page":515},{"file":"p0516.txt","language":"de","ocr_de":"516 Hering, Physiol. Optik IV. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nnach welcher die Axe des ob\u00e9ra und untern Geraden um 71\u00b0, die der Schiefen um 38\u00b0 von der Gesichtslinie ab weicht, wobei bemerkt werden muss, dass die Angaben Volkmann\u2019s hiervon nicht unwesentlich verschieden sind (s. u.). Am Ende jeder Blickbahn ist durch einen Strich die scheinbare Lage eines Nachbildes angegeben, welches das Auge in der Prim\u00e4rstellung von einem fixirten horizontalen Streifen aufgenommen hat. Die L\u00e4nge jeder Bahn entspricht einer Drehung des Auges um 50\u00b0; die Zahlen geben die Gr\u00f6sse des jeweiligen Winkels der erfolgten Drehung an. Die krummen Bahnen sind hyperbolisch.\nNach Listing\u2019s Gesetz liegt die prim\u00e4re Axenebene senkrecht zur Gesichtslinie. In diese Ebene f\u00e4llt, wie man sieht, nur die Halb-axe des vom \u00e4ussern oder innern Geraden erzeugten Drehbestrebens. Ein in der Linie mo Fig. 51 liegendes und also auf verticale Hebung der Gesichtslinie gerichtetes Drehungsmoment kann nur durch das Zusammenwirken des obern Geraden und des untern Schiefen erzeugt werden, sofern man annehmen darf, dass deren Halbaxen in der prim\u00e4ren Blickebene liegen. Soll z. B. das Drehungsmoment ma (Fig. 51) entstehen, so muss der obere Gerade das Moment ma\", der untre Schiefe das Moment ma' erzeugen, aus welchen beiden dann das Moment ma resultirt. Analog kann ein auf verticale Senkung der Gesichtslinie gerichtetes Moment nur durch eine bestimmte Art des Zusammenwirkens des untern Geraden mit dem obern Schiefen entstehen. Soll die Gesichtslinie in schr\u00e4ger Bahn z. B. nach oben und aussen bewegt werden, so muss sich die gemeinsame Th\u00e4tig-keit des obern Geraden und untern Schiefen verbinden mit der Th\u00e4-tigkeit des \u00e4ussern Geraden, und es ist bemerkenswerth, dass das Yerh\u00e4ltniss der von den ersteren beiden Muskeln erzeugten Momente unter sich hierbei ganz dasselbe sein muss, wie bei gerader Hebung der Gesichtslinie. Analoges gilt von allen \u00fcbrigen schr\u00e4gen Bewegungen.\nHering1 hat ein hypothetisches Gesetz aufgestellt, nach welchem sich der Antheil, den die einzelnen Muskeln an den verschiedenen Bewegungen haben, leicht \u00fcbersehen lassen w\u00fcrde. Er meint, dass der Blickpunkt innerhalb des engeren Blickfeldes durch dieselbe Innervation und Muskelaction, durch welche er aus der Prim\u00e4rstellung in verticaler Bahn gehoben oder gesenkt wird, auch aus jeder Secund\u00e4rstellung vertical gehoben oder gesenkt werden kann, und dass der analoge Satz f\u00fcr jede Bewegung des Blickpunktes in horizontaler und der Frontalebene paralleler Richtung gilt. Daraus w\u00fcrde sich weiter ergeben, dass allen unter sich parallelen Blickbahnen auf einem, der Frontalebene parallelen Gesichtsfelde eine und dieselbe Innervation und Muskelaction entspricht.\n1 Hering, Die Lehre vom binocularen Sehen. \u00a7 9.","page":516},{"file":"p0517.txt","language":"de","ocr_de":"Antheil der einzelnen Muskeln an den Blickbewegungen.\n517\nAlle Abweichungen von diesem Gesetze im weiteren Blickfelde sollen sich nach Hering durch entsprechende St\u00f6rungen der Localisirung de& Kernpunktes verrathen. Er st\u00fctzt das Gesetz vorwiegend auf theoretische Gr\u00fcnde, welche sich aus den im n\u00e4chsten Capitel gemachten Er\u00f6rterungen ergeben.\nPositive Rollungen bei feststehender Gesichtslinie k\u00f6nnen nach dem auf Seite 515 gegebenen Schema linkerseits nur durch gleichzeitige Action des obern Schiefen und obern Geraden, negative nur durch Zusammenwirken des untern Schiefen und untern Geraden eingeleitet werden.\nOb die Augenmuskeln beim Sehen unter einer tonischen Innervation stehen, so dass es keine Stellung des Auges gibt, bei der nicht s\u00e4mmtliche Muskeln, wenn auch zum Theil nur schwach, in Th\u00e4tigkeit sind, ist nicht entschieden1).\nDie sorgf\u00e4ltigsten Bestimmungen des Ursprunges und Ansatzes der Augenmuskeln verdanken wir Volkmann, welcher 30 Leichen darauf untersuchte. Mit R\u00fcete nimmt Volkmann an, dass die Augen des Todten sich in der Prim\u00e4rstellung befinden. Zur Begr\u00fcndung dieser Annahme f\u00fchrt er an, dass die Pupillendistanz in diesen 30 F\u00e4llen im Minimum 55 mm., im Maximum 70 mm., im Mittel 63,8 mm. betrug, w\u00e4hrend er sie bei 30 lebenden Erwachsenen beim Sehen in die Ferne im Minimum 58 mm., im Maximum 70 mm., im Mittel 63,1 mm. gross fand. Leichen wie Lebende waren \u00fcberwiegend m\u00e4nnlichen Geschlechts. Da nach Pa-num 2 die Abst\u00e4nde der Drehpunkte beider Augen bei Erwachsenen um mehr als 20 mm. differiren k\u00f6nnen, so erscheint Volkmann\u2019s Kriterium f\u00fcr die durchschnittliche Prim\u00e4rlage der Augen bei Leichen unsicher. Ueberdies wird durch die Pupillendistanz die Lage der Blickebene nicht controlirt.\nDurch den Drehpunkt denkt sich Volkmann die Axen eines rechtwinkligen Coordinatensystems gelegt; die Verbindungslinie der Drehpunkte ist die ^-Axe, ihre rechte H\u00e4lfte positiv; die Gesichtslinie d. i. die der Medianebene parallele Horizontale ist die y-Axe, deren positive H\u00e4lfte nach hinten liegt. Die Lage dieser Axe relativ zum Kopfe ist nat\u00fcrlich abh\u00e4ngig von der Wahl der aufrechten Kopfstellung; die auf den genannten beiden Axen senkrecht stehende ^-Axe ist zur oberen H\u00e4lfte positiv. Bezogen auf diese Axen fand Volkmann folgende Wertlie:\nMuskeln des rechten Auges\tUrspr\u00fcnge\t\t\tAns\u00e4tze\t\t\n\tX\ty\tz\tX\ty\tz\nrectus superior\t\u2014 16\t31,76\t3,6\t0,0\t\u2014 7,63\t10,48\nrectus interior\t\u2014 16\t31,76\t\u2014 2,4\t0,0\t\u2014 8,02\t\u2014 10,24\nrectus externus\t\u2014 13\t34,0\t0,6\t10,08\t\u2014 6,50\t!\t0,0\nrectus internus\t\u2014 17\t3.00\t0,6\t\u2014 9,65\t\u2014 8,84\t0,0\nobliquus superior\t\u2014 15,27\t\u2014 8.24\t12,25\t2,90 !\t4,41\t11,05\nlobliquus inferior\t\u2014 11,10\t\u2014 11,34\t\u2014 15.46\t\u2014 8.71 ]\t7.18\t0,0\n1\tvergl. Hering, Sitzgsber. d. Wiener Acad. 3. Abth. LXXIX. S. 137. 1879.\n2\tPanum, Nordiskt med. Arkiv VII. No. 9. 1875 (citirt nach dem Jahresber. f\u00fcr Anat. u. Physiol, v. Hofmann u. Schwalbe).","page":517},{"file":"p0518.txt","language":"de","ocr_de":"518 Hering, Physiol. Optik IV. 10. Cap. Die Bewegungen des Augapfels.\nHieraus ergibt sieb u. A., dass die Halbaxen des \u00e4ussern lind innern Geraden ziemlich genau senkrecht zur prim\u00e4ren Blickebene, die der vier \u00fcbrigen jedoch nicht in derselben liegen, und zwar weichen sie um folgende Winkel von der Blickebene ab:\nim rechten Auge im linken Auge\nDie Halbaxe des rect. super, um 17n5' nach unten\n77\t77\t\u201e rect. infer.\t\u201e 18ft34'\t77\t77\n77\t77\t\u201e obliq. infer.\t\u201e\t6014'\t77\t77\n77\t77\t,, obliq. super.\t\u201e 10\u00b045'\t,, oben\t\nnach oben\n77\t77\n77\t77\n,, unten\nNur der obere und innere Gerade sind also ziemlich genaue Antagonisten.\nEs folgt aus Volkmann\u2019s Angaben, dass zwar ein nach innen oder aussen gerichtetes Drehungsmoment durch alleinige Verk\u00fcrzung des innern oder \u00e4ussern Geraden erzeugt werden k\u00f6nnte, dass aber zur Herstellung eines gerade nach oben gerichteten Moments sich der Anspannung des obern Geraden und untern Schiefen noch eine kleine Anspannung des \u00e4ussern Geraden zugesellen m\u00fcsste, und dass dieser Muskel auch an der Erzeugung eines nach unten gerichteten Moments, doch hier in viel schw\u00e4cherem Maasse sich betheiligen m\u00fcsste. Ebenso w\u00fcrde ein im linken Auge auf negative, im rechten auf positive Rollung um die feststehende Gesichtslinie gerichtetes Moment nur unter wesentlicher Mitbetheiligung des \u00e4ussern Geraden zu Stande kommen, w\u00e4hrend f\u00fcr die entgegengesetzte Rollung die gemeinsame Action des obern Schiefen und obern Geraden nahezu gen\u00fcgen w\u00fcrde.\nVolkmann hat auch Bestimmungen der L\u00e4nge, des Gewichts, des mittlen Querschnitts und des relativen Gewichts der Augenmuskeln gemacht und daf\u00fcr folgende Mittelwerthe gefunden:\n\trectus superior\trectus internus\trectus inferior\trectus j externus\tobliquus superior\tobliquus inferior\nGewicht\t0,514\t0,747\t0,671\t0,715\t0,285\t0,288 grm.\nL\u00e4nge\t41,8\t40,8\t40,0\t40,6\t32,2\t34,5 min.\nQuerschnitt\t11,34\t17,39\t15,85\t16,73\t8,36\t7,89 \u25a1 mm.j\nrelative 1 Schwere |\t1\t1,45\t1,30\t1,39\t0,55\t0,57 I\nEndlich hat Volkmann auch die L\u00e4nge der auf den Augapfel aufgewickelten Strecke jedes Muskels zu bestimmen versucht, von deren Gr\u00f6sse das Maximum der Drehung abh\u00e4ngt, welche der Muskel, theoretisch genommen, erzeugen kann. Er setzte dabei einen","page":518},{"file":"p0519.txt","language":"de","ocr_de":"Volkmann\u2019s anatomische Untersuchungen der Augenmuskeln.\n519\nkugligen Augapfel und einen im Centrum desselben liegenden Drehpunkt voraus. \u201eIn nachstehender Tabelle bezeichnet l die L\u00e4nge der aufgewickelten Strecke des Muskels, welche hier zugleich das Maass seiner gr\u00f6ssten Verk\u00fcrzung ist; A ist die berechnete L\u00e4nge des ganzen Muskels bei der Prim\u00e4rstellung, L dieselbe L\u00e4nge nach\nAussage der Messung mit Ausschluss der Sehne und y das Verh\u00e4ltnis der maximalen Verk\u00fcrzung zur L\u00e4nge des Muskels in der Prim\u00e4rstellung. u\nMuskeln\tX\tA\tL\tX I r\nrectus superior\t8,92 mm.\t43,72 mm.\t41,8 mm.\t0,21\nrectus inferior\t9,83 \u201e\t44,50 \u201e\t40,0 ,,\t0,24\nrectum externus\t13,25 \u201e\t48,86 \u201e\t40,6 \u201e\t0,32\nrectus internus\t6,33 ,,\t39,82 \u201e\t40,8 ..\t0,15\nobliquus superior\t5,23 \u201e\t\u2014\t32,2 .,\t0,16\nobliquus inferior\t16,74 \u201e\t34,43 \u201e\t34,5 \u201e\t0,48\n\u201e Der Werth A f\u00fcr den M. obliquus superior ist absichtlich nicht mit aufgenommen, weil er sich nur auf die Sehne des Muskels bezieht.u\nELFTES CAPITEL.\nDie Association der Augenbewegungen.\nDie Stellungen und Bewegungen des einzelnen Auges sind nicht gen\u00fcgend verst\u00e4ndlich, wenn man nicht auch seine Beziehungen zum anderen Auge ber\u00fccksichtigt. So sahen wir schon S. 496 dass bei gleicher Stellung der Gesichtslinie relativ zum Kopfe die Lage der Netzhaut mit abh\u00e4ngig ist von der jeweiligen Stellung des anderen Auges.\nDie beiden Augen sind bei ihren Bewegungen derart mit einander verkn\u00fcpft, dass das eine nicht unabh\u00e4ngig vom anderen bewegt wird, vielmehr auf einen und denselben Willensantrieb die Musculatur beider Augen gleichzeitig reagirt. Daher sind wir im Allgemeinen nicht im Stande, ein Auge ohne das andere zu heben oder zu senken, sondern beide Augen heben und senken sich gleichzeitig und gleich","page":519},{"file":"p0520.txt","language":"de","ocr_de":"520 Hering, Physiol. Optik IY. 11. Cap. Die Association der Augenbewegungen.\nstark. Ebensowenig k\u00f6nnen wir zum Zwecke der Rechts- oder Linkswendung die Muskeln eines Auges allein innerviren. Zwar ist es uns m\u00f6glich, beide Augen gleichzeitig um verschiedene Winkel und mit verschiedenen Geschwindigkeiten nach links oder rechts, einw\u00e4rts oder ausw\u00e4rts zu bewegen und sogar, w\u00e4hrend ein Auge feststeht, das andere ausw\u00e4rts oder einw\u00e4rts zu drehen, was f\u00fcr eine gegenseitige Unabh\u00e4ngigkeit der Augen bei ihren Bewegungen zu sprechen scheint; doch hat Hering1) gezeigt, dass sich diese un-gleichm\u00e4ssigen Bewegungen recht wohl mit der Annahme einer gleich-m\u00e4ssigen Innervation in Einklang bringen lassen. Nach seiner Ansicht sind solche Bewegungen nicht etwa deshalb m\u00f6glich, weil wir im Stande w\u00e4ren, gleichzeitig jedem Auge eine besondere Innervation zuzuwenden, sondern weil dabei jedes Auge von zwei Innervationen getroffen wird, deren eine auf eine Wendung beider Augen nach rechts oder links, deren andere auf eine Einw\u00e4rts- oder Ausw\u00e4rtsdrehung beider Augen gerichtet ist. Indem diese beiden Innervationen des Doppelauges sich im einen Auge gegenseitig unterst\u00fctzen, im anderen aber entgegenwirken, muss die wirklich eintretende Bewegung in beiden Augen nothwendig eine verschiedene sein.\nBlicken z. B. beide Augen (Fig. 53) zun\u00e4chst gerade aus in weite Ferne, wobei die Gesichtslinien XI und Qr parallel liegen, und es zieht ein nach rechts und in gr\u00f6sserer N\u00e4he erscheinendes Object a unsere Aufmerksamkeit auf sich, so haben wir erstens Veranlassung, das Doppelauge auf die dem Objecte entsprechende N\u00e4he einzustellen, und demgem\u00e4ss erfolgt eine Innervation beider Augen zur Convergenz, durch welche Innervation an und f\u00fcr sich, da sie beide Augen zu gleich starker Wendung nach innen antreibt, die anfangs parallelen Gesichtslinien auf den etwa gleich nahe wie a gelegenen Punkt a eingestellt werden w\u00fcrden, wie es die unterbrochenen Linien X V und q rl darstellen. Ausserdem aber haben wir, da das Object a, welches wir deutlich sehen wollen, nach rechts erscheint, auch Veranlassung, das Doppelauge nach rechts zu wenden, und dem gem\u00e4ss erfolgt eine Innervation beider Augen zur Wendung nach rechts, durch welche Innervation an und f\u00fcr sich, da sie ebenfalls beiderseits gleich stark wirkt, beide Augen um gleiche Winkel nach rechts gewendet werden, und ihre Gesichtslinien zuletzt in die durch die unterbrochenen Linien X l\u201c und q r\u201c versinnlichte Stellung kommen w\u00fcrden. Beide Innervationen erfolgen nun aber gleichzeitig und es bekommt somit\n1 Hering. Lehre vom binocul. Sehen. \u00a7 2.","page":520},{"file":"p0521.txt","language":"de","ocr_de":"Unsymmetrische Convergenzbewegimgen.\n521\ndie linke Gesichtslinie erstens einen Antrieb zur Einw\u00e4rtswendung um den Winkel IXl1 und zweitens einen Antrieb zur Rechtswendung um den Winkel 1X1\u201c ; infolge dieses doppelten Antriebes wird die linke Gesichtslinie um < /1 V -f- < / X l11 = < / X lw nach rechts gedreht und also auf den Punkt a eingestellt. Die rechte Gesichtslinie bekommt erstens einen Antrieb zur Einw\u00e4rtswendung um <rpr'; und zweitens einen Antrieb zur Rechtswendung um <rpr\"; beide Antriebe wirken in entgegengesetzter Richtung. Demnach bewegt sich die Gesichtslinie in der Richtung des st\u00e4rkeren Antriebes nach rechts, und zwar um <rpr\"\u2014 < r g r1 \u2014 < r q i wird also ebenfalls auf Punkt a eingestellt. So resultirt, trotzdem, dass beide Innervationen auf beide Augen gleich stark erfolgen, doch eine verschiedene Bewegung beider Augen, weil beide Innervationen im einen Auge sich einander unterst\u00fctzen, im andern sich gegenseitig hemmen.\nNach dieser Auffassung werden also beide Augen, was ihre Bewegungen im Dienste des Gesichtssinnes betrifft, wie ein einfaches Organ gehandhabt. Dem bewegenden Willen gegen\u00fcber ist es gleich-giltig, dass dieses Organ in Wirklichkeit aus zwei gesonderten Gliedern besteht, weil er nicht n\u00f6thig hat, jedes der beiden Glieder f\u00fcr sich zu bewegen und zu lenken, vielmehr ein und derselbe Willensimpuls beide Augen gleichzeitig beherrscht, wie man ein Zwiegespann mit einfachen Z\u00fcgeln leiten kann.\nMan k\u00f6nnte daran denken, dass die antagonistischen Innervationen, welche unter den genannten Bedingungen auf ein und dasselbe Auge ausge\u00fcbt werden, nicht wirklich zu entsprechenden Spannungen der hierbei in Betracht kommenden antagonistischen Muskeln (rect. int. und ext.) f\u00fchren, sondern sich schon im Centralorgane gegenseitig auf heben oder das Gleichgewicht halten. Hering 1 nimmt an, dass es wirklich zu entsprechend st\u00e4rkerer Spannung der Antagonisten komme, was sich durch eine, bis jetzt nicht nachgewiesene Steigerung des interocul\u00e4ren Druckes verrathen m\u00fcsste.\nDie Richtung, in welcher der Blickpunkt in Beziehung zu unserem Kopfe gelegen ist, also die Blickrichtung des Doppelauges, wollen wir uns durch eine gerade Linie versinnlichen, welche den Blickpunkt mit einem etwa in der Mitte zwischen beiden Augen ge. legenen Punkte verbindet, und diese Linie heisse die binoculare Blicklinie. Dieselbe \u00e4ndert ihre Lage, sobald unser Blick nach rechts oder links oben oder unten wandert; aber der Blick kann auch entlang der unbewegten Blicklinie in gr\u00f6ssere N\u00e4he oder gr\u00f6ssere Ferne gehen.\nWir k\u00f6nnen uns demnach auch hier wieder (vgl. S. 392) beide Augen durch ein einziges imagin\u00e4res Auge repr\u00e4sentirt denken, wel-\n1 Hering, Sitzgsber. d. Wiener Acad. 3. Abth. LXXIX. S. 149. 1879.","page":521},{"file":"p0522.txt","language":"de","ocr_de":"522 Hering, Physiol. Optik IV. 11. Cap. Die Association der Augenbewegungen.\nches in der Mitte zwischen beiden wirklichen Augen gelegen ist. Wie ein solches Auge innervirt werden m\u00fcsste um nach links, rechts, oben oder unten gewandt zu werden, oder sich f\u00fcr die gr\u00f6ssere N\u00e4he oder Ferne anzupassen, so werden die beiden wirklichen Augen innervirt, nur dass der letzteren Innervation beim imagin\u00e4ren Einauge lediglich eine innere Accommodation, bei den wirklichen Augen zugleich eine \u00e4ussere Einstellung beider Gesichtslinien f\u00fcr die N\u00e4he oder Ferne entspricht.\nDer Blickpunkt liege in a (Fig. 54), und (.i m sei die Blieklinie des f\u00fcr die N\u00e4he des Punktes a accommodirten imagin\u00e4ren Einauges, wobei der Accommodation desselben der Conver-genzwinkel X a \u00e7 der wirklichen Gesichtslinien entspricht. Ein in b, also nach rechts und ferner als a gelegenes Object lenke jetzt die Aufmerksamkeit auf sich. Um es deutlich zu sehen, w\u00e4re f\u00fcr das imagin\u00e4re Einauge erstens eine Accommodation f\u00fcr gr\u00f6ssere Ferne und zweitens eine Drehung nach rechts um den Winkel m/.ib n\u00f6thig. Durch die Accommodation allein w\u00fcrde das imagin\u00e4re Auge etwa f\u00fcr den Punkt b\u2018 angepasst werden. Dieser Accommodation des imagin\u00e4ren Auges entspricht in der Wirklichkeit die Accommodation beider Augen und zugleich die Einstellung beider Gesichtslinien auf den Punkt b\u2018. Der Drehung der Blicklinie des imagin\u00e4ren Auges um den Winkel m/< b entspricht an den wirklichen Augen eine Drehung beider Gesichtslinien um einen gleichgrossen Winkel; die bereits auf b\u2018 eingestellt gedachten Gesichtslinien w\u00fcrden sich also beziehungsweise um die Winkel b\u2018 X b und b\u2018 q b nach rechts drehen m\u00fcssen. Diesen beiden Winkeln entspricht der gleich grosse Winkel m/ub, um welchen sich die binoculare Blicklinie nach rechts wenden muss. Wie nun im imagin\u00e4ren Einauge die Accommodation und die Rechtswendung nicht nach einander, sondern mit einander vor sich gehen k\u00f6nnten, so erfolgen auch am wirklichen Doppelauge die analogen Ver\u00e4nderungen gleichzeitig. Das linke Auge bekommt dabei erstens einen Antrieb nach links, entsprechend der auf Minderung des Convergenzwinkels gerichteten Innervation des Doppelauges, und zweitens einen st\u00e4rkeren Antrieb nach rechts, entsprechend der zum Zwecke der Rechtswendung des Doppelauges erfolgenden Innervation; seine Gesichtslinie geht deshalb im Sinne des st\u00e4rkeren Antriebes um den Winkel b\u2018Xb \u2014 aXb\u2018 = aXb nach rechts. Die analogen Antriebe erh\u00e4lt auch das rechte Auge, bei welchem sie sich aber gegenseitig unterst\u00fctzen, so dass daselbe um den Winkel a q b\u2018 + b\u2018Qb = agb nach rechts gewandt wird.\nDass ein gewisser Zwang zu den beschriebenen Bewegungsassociationen vorhanden ist, geht aus folgenden Thatsachen hervor:","page":522},{"file":"p0523.txt","language":"de","ocr_de":"Beweise f\u00fcr das Associationsgesetz.\n523\nWenn wir ein Auge verdecken, so folgt das verdeckte Auge den Bewegungen des andern, wovon man sich leicht an einer zweiten Person \u00fcberzeugen kann, wenn man von der Seite her das nur lose verdeckte Auge beobachtet, oder auf das ganz geschlossene Auge die Fingerspitzen legt und so die Cornea tastet. Der Wille vermag nicht, diese f\u00fcr das Sehen ganz zwecklosen Mitbewegungen des gedeckten Auges zu unterdr\u00fccken.\nWenn ein Auge vollst\u00e4ndig erblindet ist, begleitet es gleichwohl die Bewegungen des noch sehenden, und zwar ebenso bei Parallelais bei Convergenzbewegungen. Wenn beide Augen vollst\u00e4ndig erblindet sind, bewegen sie sich dennoch immer gleichzeitig. Bei einem \u201eabsolut blind Gebornen \u201c fand Donders 1 \u201eparallele Augenbewegungen in allen Bichtungen.\u201c\nSchielende, welche nachweisbar nur das Netzhautbild des einen Auges auffassen, bewegen gleichwohl beide Augen gemeinschaftlich.\nDie unwillk\u00fcrlichen Bewegungen beim Nystagmus erfolgen in beiden Augen gleichzeitig und in analoger Weise.\nBei Parese gewisser Augenmuskeln sind die Kranken, obwohl sie durch die Doppelbilder sehr bel\u00e4stigt werden, auch dann nicht im Stande beide Augen auf gewisse Aussenpunkte einzustellen, wenn sie bei ein\u00e4ugigem Sehen jedes Auge f\u00fcr sich auf jene Punkte einzustellen verm\u00f6gen. K\u00f6nnten sie jedes Auge unabh\u00e4ngig vom anderen innerviren, so m\u00fcsste ihnen die gleichzeitige Einstellung beider Augen auf alle die Punkte m\u00f6glich sein, auf die sie jedes Auge f\u00fcr sich einzustellen verm\u00f6gen.\nDiese Thatsachen beweisen, dass die associirten Innervationen und Bewegungen auch dann vorhanden sind, wenn sie das Sehen nicht f\u00f6rdern oder gar st\u00f6ren.\nHering hat aus dem Gesetze der gleichm\u00e4ssigen Innervation beider Augen, wie er es nennt, noch folgende Erscheinung erkl\u00e4rt: Wenn man Jemanden geradeaus und in die Ferne blicken l\u00e4sst, dann z. B. in die linke Gesichtslinie 12\u201415 Ctm. vom Auge eine Nadelspitze h\u00e4lt, und nun den Blick auf diese richten l\u00e4sst, so ger\u00e4th das linke Auge w\u00e4hrend der Ueberf\u00fchrung des Blickpunktes in eine gewisse Unruhe, welche sich durch ein leichtes Hin- und Herzucken desselben verr\u00e4th. W\u00e4ren die Augen in ihren Bewegungen von einander unabh\u00e4ngig, so brauchte nur das rechte Auge innervirt zu werden, w\u00e4hrend das linke, dessen Gesichtslinie schon auf die Nadelspitze gerichtet ist, gar keine Innervation be-\n1 Donders, Arch. f. d. ges. Physiol. XIII. S. 383. 1876.","page":523},{"file":"p0524.txt","language":"de","ocr_de":"524 Hering, Physiol. Optik 1Y. 11. Cap. Die Association der Augenbewegungen.\nd\u00fcrfte. Steht aber dieses Auge bei dem Versuche unter dem Einfl\u00fcsse zweier gleichzeitiger antagonistischer Innervationen, welche sich w\u00e4hrend des Ablaufes der Blickbewegung nicht immer genau aufheben, so muss das Auge in ein leichtes Hin- und Herschwanken kommen, bis die richtige, so zu sagen neutrale Innervation eingetreten ist. Dasselbe Zucken zeigt sich, wenn man umgekehrt die Aufmerksamkeit und damit den Blick von der Nadelspitze wieder auf den Punkt richten l\u00e4sst, der in der Ferne auf der linken Gesichtslinie liegt. Auch kann man den Versuch mit demselben Erfolge anstellen, w\u00e4hrend das andere Auge geschlossen ist: Nach l\u00e4ngerer Uebung, oder wenn man ein Auge ben\u00fctzt, welches wie z. B. beim Mikroskopiren, oft in einseitiger Weise gebraucht worden ist, zeigt sich das Zucken nur schwach oder gar nicht. Sonst ist es immer sehr deutlich.\nMehrere schon im Capitel X. besprochene Thatsachen erl\u00e4utern und best\u00e4tigen ebenfalls die gleichm\u00e4ssige Innervation beider Augen. Wenn in der S. 504 beschriebenen Weise das eine von zwei corre-spondirenden Netzhautbildern um das Netzhautcentrum etwas verdreht wird, so f\u00fchren beide Augen eine kleine Rollung derart aus, dass beide Netzhautbilder wieder in die correspondirende Lage kommen, obwohl hierzu die alleinige Rollung des einen Auges gen\u00fcgen w\u00fcrde.\nBei gleicher Stellung einer Gesichtslinie hat, wie wir sahen, die Netzhaut eine verschiedene Lage, je nachdem der Blickpunkt auf derselben in der Ferne oder in der N\u00e4he liegt. Denkt man sich bei einer gegebenen nahen Lage des Blickpunktes die Netzh\u00e4ute zun\u00e4chst so gestellt, wie es dem LiSTiNG\u2019schen Gesetze entsprechen w\u00fcrde, so muss man sich weiter beide Augen etwas um die Gesichtslinie (das linke negativ das rechte positiv) gerollt denken, damit sie in diejenige Stellung kommen, welche sie bei der gegebenen Lage des nahen Blickpunktes wirklich haben. Ganz dieselbe Rollung tritt nun auch beim ein\u00e4ugigen Sehen ein. Betrachtet man z. B. mit dem linken Auge ein fernes Object, bringt dann in passender N\u00e4he eine Nadelspitze in die Gesichtslinie und accommodirt auf dieselbe, so erf\u00e4hrt das linke Auge eine kleine negative Rollung, welche unverst\u00e4ndlich w\u00e4re, wenn man nicht w\u00fcsste, dass beide Augen immer gleichzeitig innervirt werden, gleichviel ob sie beide am Sehacte theilnehmen oder nicht.\nBei dem beschriebenen Versuche erf\u00e4hrt das Auge, wie Hering 1\n1 Hering, 1. c. S. 14.","page":524},{"file":"p0525.txt","language":"de","ocr_de":"Accommodation und Convergenz.\n525\nfand, auch eine kleine unwillk\u00fcrliche Ablenkung nach oben, w\u00e4hrend es von der Betrachtung des fernen zur Betrachtung des n\u00e4hern \u00fcbergeht; diese Ablenkung muss durch eine willk\u00fcrliche Gegeninnervation ausgeglichen werden, was sich durch eine kleine Scheinbewegung des fixirten Punktes verr\u00e4th (vergl. hier\u00fcber S. 541).\nMit der Convergenz associirt sich die Accommodation f\u00fcr die N\u00e4he und die Verengerung der Pupille, so dass, wenigstens bei Emmetropen, der Refractionszustand der Augen immer der Entfernung des binoeularen Blickpunktes entspricht. Die zugeh\u00f6rigen Innervationen folgen, wie schon v. Gr\u00e4fe betonte, ebenfalls dem Gesetze der gleich-massigen Innervation und wir sind daher nicht im Stande, beiden Augen eine verschiedene Accommodation zu ertheilen, und zwar auch dann nicht, wenn Verh\u00e4ltnisse gegeben sind, unter denen eine ungleiche Accommodation zweckm\u00e4ssig w\u00e4re. \u201eWir sind\u201c sagt Don-ders 1 \u201e nicht in der Lage, selbst eine geringe Differenz in der Refraction durch Accommodation auszugleichen, wenn letztere in beiden Augen die gleiche Breite hat; so unzertrennlich ist die Accommo-dationsspannung des einen Auges mit der des anderen verbunden.\u201c Jemand, der gleiche Augen hat, kann sich nach Donders leicht von dem Gesagten \u00fcberzeugen, wenn er ein schwach negatives oder positives Glas vor das eine Auge h\u00e4lt, auf irgend ein Object sieht und dann abwechselnd das eine und das andere Auge verdeckt. Hering'1 2 3 hielt eine Nadel, welche er binocular fixirte, ganz nahe vors Gesicht und bewegte sie dann seitw\u00e4rts, um ihren Abstand von beiden Augen m\u00f6glichst verschieden zu machen. Dann spaltete er das einfache Nadelbild durch eine leichte Mehrung oder Minderung der Convergenz oder mittels eines Prismas, dessen Kante horizontal lag, in Doppelbilder und \u00fcberzeugte sich von der Verschiedenheit der Sch\u00e4rfe der beiden Trugbilder. Es erschien dabei das Bild desjenigen Auges als das sch\u00e4rfere, welches den gr\u00f6sseren Abstand von der Nadel hatte. Schloss er dieses, so vermochte er gleichwohl mit dem anderen Auge die Nadel scharf zu sehen, Beweis, dass sie sich nicht ausserhalb des Accommodationsbereiches befand. In ganz ausf\u00fchrlicher Weise hat endlich Rumpf 3 gegen\u00fcber den Einwendungen von Kaiser4, Schneller5 und Woinow6 bewiesen, dass die Innervation zur Accommodation eine gleichm\u00e4ssig bilaterale ist.\n1\tDonders, Anomal, d. Refr. u. Accomm. S. 471.\n2\tHering 1. c. S. 135.\n3\tR\u00fcmpf, Zur Lehre von d. binoc. Accommod. Inaug. Dissert. Heidelberg 1877. (Beilageheft zu den klin. Monatsbl f. Augenheilk. Aug. XV.)\n4\tKaiser, Arch. f. Ophthalmologie XIII. (2) S. 366.\n5\tSchneller, ebendas. XYI. (1) S. 176.\n6\tWoinow, ebendas. XYI. (1) S. 209.","page":525},{"file":"p0526.txt","language":"de","ocr_de":"526 Hering, Physiol. Optik IY. 11. Cap. Die Association der Augenbewegungen.\nDie schon yon E. H. Weber 1 untersuchte Frage, ob die Contraction der Pupille mit der Convergenz der Gesichtslinien oder mit der Accommodation associirt sei, beantwortet sich zun\u00e4chst dahin, dass sie mit beiden zugleich associirt ist. Beim ein\u00e4ugigen Sehen bringt auch bei unge\u00e4nderter Stellung der entsprechenden Gesichtslinie die Accommodation f\u00fcr die N\u00e4he eine Verengerung der Pupille mit sich, sei es dass man auf ein wirklich vorhandenes nahes Object accommodirt, sei es dass man, ohne den anfangs betrachteten fernen Punkt ausser Acht zu lassen, die Accommodation f\u00fcr die N\u00e4he ohne nahes Object erzeugt, was man bei einiger Uebung leicht vermag. Diesen Versuch darf man aber nicht so deuten, als finde hier Accommodation oder Pupillen\u00e4nderung ohne Aenderung der Convergenz statt; denn in Wirklichkeit \u00e4ndert sich dabei auch die Stellung des geschlossenen Auges unter dem Lide, was der leise aufgelegte Finger bemerklich macht.\nDer Zusammenhang zwischen einem bestimmten Convergenzgrade der Gesichtslinien und einer bestimmten Accommodation l\u00e4sst sich wie unten er\u00f6rtert wird, innerhalb gewisser engen Grenzen l\u00f6sen. Dabei richtet sich, wie Plateau1 2 fand, die Pupillenweite nicht nach der Convergenz sondern nach der Accommodation, woraus folgt, dass sie mit der ersteren fester associirt ist, als mit der letzteren. Vgl. hier\u00fcber auch Joh. M\u00fcller3 und Donders4 5 6.\nDie reflectorische Verengerung oder Erweiterung der Pupillen infolge einseitiger oder doppelseitiger Mehrung oder Minderung des Lichtreizes geschieht ebenfalls stets beiderseits in gleicher Weise, und es folgt also die hierbei stattfindende reine Reflexinnervation einem analogen Gesetze wie die \u00fcbrigen motorischen Innervationen des Doppelauges. Donders 5 zeigte, dass beide Pupillen sich streng gleichzeitig verengen, wenn auch nur in einem Auge das einfallende Licht vermehrt wird. Er setzte vor beide Augen Convexgl\u00e4ser so, dass das eine etwas h\u00f6her lag als das andere, und blickte dann nach einem entfernten Lichtpunkte. Er sah nun denselben in zwei \u00fcbereinander liegenden Zerstreuungskreisen, deren Gr\u00f6sse von der Gr\u00f6sse der Pupille abhing, und konnte so die Ver\u00e4nderungen der Pupillenweite controliren. Hering 6 kam mit einer abge\u00e4nderten Methode zu demselben Ergebniss. Fixirt man den Kopf, bringt dicht vor jedem Auge einen kleinen feststehenden Schirm mit einem feinen Loche an und stellt dann seine Gesichtslinien so ein, dass jede durch das Loch des Schirmes der betreffenden Seite hindurcbgeht, so ver-\n1\t\"W EBEE\n2\tPlateau, l\u2019Institut 1835. S. 103.\n3\tDonders 1. c. S. 484.\n4\tJoh. M\u00fcller, Handb. d. Physiol. II. S. 237.\n5\tDonders 1. c. S. 483.\n6\tHering 1. c. S. 134.","page":526},{"file":"p0527.txt","language":"de","ocr_de":"Associirte Irisbewegung. L\u00f6sung der Associationen.\n527\nschmelzen die Bilder der beiden Zerstreuungskreise zu einem einzigen. Hat man durch den einen Schirm dicht oberhalb, durch den andern dicht unterhalb des ersten Loches ein zweites feines Loch gestochen, so erh\u00e4lt man bei binocularer Verschmelzung der beiden ersten L\u00f6cher drei Bilder als drei kleine \u00fcbereinander liegende Scheiben, von welchen die mittlere binocular, die obere und die untere nur von je einem Auge gesehen werden. Man kann es nun leicht so einrichten, dass die obere und die untere Scheibe genau gleich gross erscheinen. In den einen Schirm ist ferner ausw\u00e4rts von den beiden feinen L\u00f6chern ein gr\u00f6sseres Fenster geschnitten, welches zun\u00e4chst durch einen Deckel geschlossen ist. Oeffnet man dasselbe pl\u00f6tzlich, so dass eine hinreichende Lichtmenge auf die periphere Netzhaut des einen Auges fallen kann, so sieht man den obern und den untern Zerstreuungskreis sich gleichzeitig verkleinern.\nDas Bestehen der beschriebenen Associationen schliesst nicht aus, dass unter bestimmten Umst\u00e4nden die betheiligten Muskeln auch eine mehr oder weniger selbstst\u00e4ndige Innervation erfahren k\u00f6nnen, wie dies fast von allen Associationen gilt, welche im Bereiche des dem Willen unterworfenen motorischen Apparates Vorkommen. Schon oben S. 507 haben wir die im Interesse der Correspondenz erfolgende einseitige Hebung oder Senkung eines Auges besprochen, Bewegungen, welche sich von den gew\u00f6hnlichen Augenbewegungen auch dadurch unterscheiden, dass sie nicht durch einen Ortwechsel der Aufmerksamkeit, sondern nur durch das Streben nach deutlicherer Wahr-mung eingeleitet werden.\nFerner ist es, wie Plateau1 fand, m\u00f6glich, bei unver\u00e4nderter Convergenz der Gesichtslinien die Accommodation innerhalb gewisser Grenzen zu \u00e4ndern (relative Accommodationsbreite). Wenn man, wie Donders2 that, eine schwache Convex- oder Concavbrille aufsetzt und Dinge betrachtet die in mittler Blickweite liegen, so sieht man dieselben anfangs undeutlich, weil jetzt der durch die Brille ver\u00e4nderte Refractionszustand des optischen Apparates nicht mehr der Entfernung des Blickpunkts entspricht; nach einiger Zeit aber \u00e4ndern die Augen ihren Accommodationszustand und gleichen dadurch den durch die Brille eingef\u00fchrten Fehler aus, womit aber ein Gef\u00fchl von Anstrengung verbunden ist, so lange man sich noch nicht an die Brille gew\u00f6hnt hat. W\u00e4hlt man von vornherein zu starke Gl\u00e4ser, so bleibt nur die Alternative, entweder einfach und sehr undeutlich, oder zwar deutlich aber doppelt zu sehen.\nSetzt man nach dem Vorgang von Donders vor beide Augen je ein schwaches Prisma mit verticaler Kante, so muss man, um z. B.\n1\tPlateau, l\u2019Institut 1835. S. 103.\n2\tDonders, Holl. Beitr\u00e4ge I. S. 379. 1846.","page":527},{"file":"p0528.txt","language":"de","ocr_de":"528 Hering, Physiol. Optik IV. 11. Cap. Die Association der Augenbewegungen.\nDinge in mittler Blickweite einfach zu sehen, je nachdem die brechende Kante nach aussen oder innen liegt, die Convergenz der Gesichtslinien mehren oder mindern. Da sich mit dieser Convergenz-\u00e4nderung eine, hier ganz unzweckm\u00e4ssige Aenderung der Accommodation verbindet, so sieht man zun\u00e4chst undeutlich. Aber auch hier tritt bei schwachen Prismen eine Correction dadurch ein, dass die Accommodation allm\u00e4hlich wieder nahezu auf das fr\u00fchere Maass zur\u00fcckkehrt.\nBei haploskopischen Versuchen kann man durch Ver\u00e4nderung der Entfernung der Bilder vom Kopfe oder der Distanz der Bilder untereinander ebenfalls alle m\u00f6glichen Grade der Disharmonie zwischen den Augenstellungen und der Entfernung der Gesichtsobjecte herbeif\u00fchren und sich \u00fcberzeugen, dass m\u00e4ssige St\u00f6rungen durch Aenderung der Accommodation corrigirt werden. Schliesslich wird es nach l\u00e4ngerer Uebung in dergleichen Versuchen m\u00f6glich, ohne alle besondere Veranstaltungen bei unver\u00e4nderter Fixirung eines beliebig entfernten Objects die Accommodation etwas zu \u00e4ndern.\nZahlreiche Messungen der bei bestimmten Convergenzen der Gesichtslinien m\u00f6glichen Accommodations\u00e4nderungen verdanken wir Donders h\nDie Association der Augenbewegungen betrachtete Joh. M\u00fcller1 2 als angeboren. Den directen Beweis f\u00fcr die Richtigkeit dieser Ansicht betreffs der Parallelbewegungen liefern nach Hering\u2019s3 Ansicht die Neugebornen. Da die cerebrale oder psychische Reife derselben eine sehr verschiedene ist, so muss man zur Beobachtung solche Neugeborne w\u00e4hlen, deren Schlaf durch l\u00e4ngere Perioden einer ganz spontanen Munterkeit unterbrochen ist, wobei sie die Augen durch l\u00e4ngere Zeit hinreichend offen halten. Man \u00fcberzeugt sich dann leicht, dass die Augen vorherrschend Parallelbewegungen ausf\u00fchren, w\u00e4hrend bei den Bewegungen andrer Theile und insbesondere den mimischen Bewegungen die symmetrische Association deutlich ausgepr\u00e4gt ist. Man findet ferner auch die Association zwischen der Hebung der Augen, der Lider und des Kopfes, sowie die Association zwischen Seitw\u00e4rtswendung der Augen und des Kopfes schon deutlich ausgesprochen. Seltner zeigen sich die symmetrischen Bewegungen der Augen (Convergenz- und relative oder schwache absolute Divergenzbewegungen).\nF\u00fcr den angebornen Zusammenhang zwischen Convergenz und\n1\tDonders, Anomal, d. Refract, u. Accommod. S. 93.\n2\tJoh. M\u00fcller, Handb. d. Physiol. II. S. 103. 1840.\n3\tHering, Die Lehre vom binocularen Sehen \u00a7 6.","page":528},{"file":"p0529.txt","language":"de","ocr_de":"Augpnbewegungen der Neugebornen.\n529\nAccommodation hat Donders die Thatsache angef\u00fchrt, dass bei hypermetropischen Kindern sich h\u00e4ufig convergirendes Schielen entwickelt.\nDie oben er\u00f6rterten Ausnahmen von der gew\u00f6hnlichen Association sind von Helmholtz 1 als Beweis daf\u00fcr angesehen worden, dass letztere nicht auf angebornen organischen Einrichtungen beruhe. Indessen ist von fast allen angebornen Associationen im Gebiete der willk\u00fcrlichen Muskulatur bekannt, dass sie eine mehr oder minder grosse Unabh\u00e4ngigkeit der dabei betheiligten Einzelapparate nicht aussehliessen.\nDie Angaben Herings \u00fcber die associirten Augenbewegungen der Neugebornen sind von Raehlmann und Witkowsky1 2, welche 40 Kinder in den ersten zehn Lebenstagen untersuchten, in allen wesentlichen Punkten best\u00e4tigt worden. Sie kamen ebenfalls zu dem Ergebnisse, dass \u201e die meisten Augenbewegungen der neugebornen Kinder scheinbar associirte Seitenbewegungen sind\u201c. Die Convergenz- und Divergenzbewegungen, welche zwischendurch beobachtet wurden, fassen die Genannten als nicht coordinirte Bewegungen auf. Ausserdem aber constatirten sie \u201e oft \u201c H\u00f6henabweichungen, \u00fcber deren Gr\u00f6sse sie nichts angaben, und \u201ebisweilen\u201c vollkommen einseitige Bewegungen, welche von den einseitigen Bewegungen, wie sie von den Genannten an Schlafenden beobachtet wurden, bisweilen gar nicht, bisweilen durch ihre gr\u00f6ssere Raschheit verschieden waren. Dass Raehlmann und Witkowsky, wie auch Schoeler3, nicht coordinirte Augenbewegungen oft beobachteten, erkl\u00e4rt sich wohl daraus, dass sie Neugeborne ohne Auswahl untersuchten. Viele derselben kommen aus ihrem schl\u00e4frigen Zustande eigentlich nie recht heraus und f\u00fchren noch tagelang eine Art F\u00f6talleben. Im Schlafe aber kommen, wie Raehlmann und Witkowsky fanden, auch bei \u00e4lteren Kindern und bei Erwachsenen nicht coordinirte, \u201eatypische\u201c Augenbewegungen vor.\nDie Frage, ob und inwieweit die Association der Augenbewegungen angeboren ist, darf nicht, wie es geschehen ist, vermengt werden mit der ganz andern Frage, ob Neugeborne schon binocular oder \u00fcberhaupt fixiren. Schoeler, sowie Raehlmann und Witkowsky haben \u00fcbereinstimmend mit fr\u00fcheren Beobachtern gesehen, dass die Kinder in den ersten Tagen nach der Geburt selbst Flammen und andere helle Dinge nicht fixiren. Dasselbe hatte auch Hering4 angegeben. Die Angaben der verschiedenen Autoren \u00fcber die Zeit, zu welcher die ersten deutlichen Zeichen des Fixirens auftreten, sind sehr verschieden und schwanken zwischen wenigen Tagen und mehreren Wochen.5 6 Hierbei kommt offenbar die schon oben betonte grosse Verschiedenheit der psychischen Reife der Neugebornen sehr in Betracht. Hat doch Donders 0 mit Engelmann \u201ebinoculare Fixation mit Ver\u00e4nderung der Convergenz bei einem m\u00e4nnlichen Kinde kaum eine Stunde nach der Geburt\u201c wahrgenommen,\n1\tHelmholtz, Physiol. Optik S. 472.\n2\tRaehlmann und Witkowsky, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1877. S. 454.\n3\tSchoeler, Arch. f. Ophthalmologie XIX. (1) S. 41. 1873.\n4\tHering 1. c. S. 21.\n5\tVergl. Raehlmann u. Witkowsky 1. c.\n6\tDonders, Arch. f. d. ges. Physiol. XIII. S. 383. 1876.\nHandbuch der Physiologie. Bd. III.\n34","page":529},{"file":"p0530.txt","language":"de","ocr_de":"530 Hering, Physiol. Optik IY. 11. Cap. Die Association der Augenbewegungen.\nwas, wie er hinzuf\u00fcgt, \u201esicher eine Ausnahme\u201c war, ja sogar ein Kind beobachtet*, welches \u201e wenige Minuten nach der Geburt einen vorgehaltenen Gegenstand sehr bestimmt binocular fixirte und nicht allein demselben bei seitlichen Bewegungen folgte, sondern auch bei Ann\u00e4herung die Convergenz vermehrte, bei Entfernung des Gegenstandes verringerte. \u201c\nDer Thatsache, dass dem von r\u00e4umlichen Wahrnehmungen oder Vorstellungen geleiteten Willen gegen\u00fcber sich die beiden Augen wie ein einfaches Organ verhalten, entspricht die im I. Capitel er\u00f6rterte Correspondenz der Netzh\u00e4ute, der zu Folge sich in Bezug auf die identischen Breiten- und H\u00f6henwerthe und die dadurch bedingten einfachen Sehrichtungen beide Augen ebenfalls wie ein einfaches Organ verhalten. Die sensorische Correspondenz der Netzh\u00e4ute hat ihr motorisches Correlat in der durch die Association bedingten Correspondenz der Bewegungen.'1 2 Daf\u00fcr, dass diese zweifache Correspondenz in den Functionen beider Augen auf angeborener organischer Grundlage ruht, lassen sich mancherlei Erfahrungen aus der Anatomie und Pathologie anf\u00fchren. Betreffs der Correspondenz der Netzh\u00e4ute geh\u00f6rt hierher das Vorkommen partieller, auf beiden Netzh\u00e4uten correspondirend localisirter L\u00e4hmungen, insbesondere der doppelseitigen Hemiopie, welche letztere sich nach Munk\u2019s3 Angaben auch experimentell an Affen erzeugen l\u00e4sst; ferner die partielle Kreuzung der Fasern im Chiasma nerv, opt., f\u00fcr welche insbesondere Gudden4 neuerdings zahlreiche Thatsachen beigebracht hat. W\u00e4hrend bei gewissen Thie-ren, denen wir nach der Lagerung ihrer Augen zwei v\u00f6llig getrennte Gesichtsfelder zuschreiben m\u00fcssen, die Sehnerven vollst\u00e4ndig gekreuzt sind, ist beim Menschen und bei einer Anzahl von Thieren, deren Gesichtsfelder sich theilweise decken, diese Kreuzung unvollst\u00e4ndig gefunden worden, derart, dass nicht alle Fasern j.edes Tractus opticus zum Auge der entgegengesetzten Seite verlaufen, sondern ein TheH im Chiasma zum Auge derselben Seite abschwenkt.\nBetreffs einer organischen Grundlage f\u00fcr die Association der Bewegungen sind, abgesehen von den in der Physiologie der Grosshirnrinde erw\u00e4hnten Thatsachen, besonders Adam\u00fck\u2019s5 Versuche an Hunden zu erw\u00e4hnen, welche ebenfalls ergaben, dass die bei nat\u00fcr-\n1\tDonders, Arch. f. Ophthalmologie XVII. (2) S. 34. 1871.\n2\tNach einer von Hering (Beitr\u00e4ge zur Physiol. Y. \u00a7 124) kurz angedeuteten Theorie entspricht ebenso der symmetrisch assocnrten Innervation bei N\u00e4herung und Fernerung des Blickpunktes eine symmetrische Yertheilung der Tiefenwerthe auf der Doppelnetzhaut.\n3\tYergl. dieses Handb. II. 2. Abth. S. 326.\n4\tGudden, Arch. f. Ophthalmologie NX. (2) S. 249. XXI. (3) S. 199. XXY. (1) S. 1.\n5\tAdam\u00fck, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1870. Nr. 5. S. 66.","page":530},{"file":"p0531.txt","language":"de","ocr_de":"Innervation der Augenmuskeln.\n531\nlicher Innervation associirten Muskeln auch durch k\u00fcnstliche centrale Reizung aus einem Punkte des Gehirns in associirte Th\u00e4tigkeit versetzt werden k\u00f6nnen, Thatsachen, die zwar eine verschiedene Deutung zulassen, aber jedenfalls sehr nahe legen, dass die Association der Augenbewegungen, um mit Aubert1 zu sprechen, \u201eauf anatomischer Gruppirung der Nervenelemente und auf einem anatomisch gegebenen Mechanismus beruht.\u201c\nAdam\u00fck reizte mit dicht bei einander stehenden Eleetroden durch Inductionsschl\u00e4ge die Vorderh\u00fcgel der Corpora quadrigemina. Bei Reizung des rechten Vorderh\u00fcgels erhielt er Bewegungen beider Augen nach links, bei Reizung des linken Bewegungen beider Augen nach rechts. \u201e Durch die Reizung der verschiedenen Punkte jedes H\u00fcgels kann man, sagt Adam\u00fck, mannichfaltige Bewegungen hervorrufen, aber immer mit beiden Augen zu gleicher Zeit und in derselben Richtung. Wird l\u00e4nger gereizt, so dreht sich auch der Kopf nach derselben Seite, wie die Augen. Wenn durch eine tiefe Incision die beiden H\u00fcgel getrennt sind, beschr\u00e4nkt sich die Bewegung nur auf die Seite der Reizung.\u201c Bei allen diesen Bewegungen bleibt die Pupille unver\u00e4ndert. Reizt man in der Mitte zwischen den Vorderh\u00fcgeln, so erh\u00e4lt man symmetrische Bewegungen und zwar stellen sich die im Ruhest\u00e4nde nach unten convergirenden Augen parallel, wenn man nach vorn reizt. Weiter nach hinten gibt die Reizung Bewegung beider Augen nach oben mit Erweiterung der Pupille, noch weiter nach hinten Convergenz nach oben. Wenn man \u201eden hinteren untern Theil der vorderen H\u00fcgel reizt \u201c, so zeigt sich starke Convergenz nach unten mit Verengerung der Pupille. Donders2, in dessen Laboratorium Adam\u00fck arbeitete, best\u00e4tigt diese Ergebnisse.\nZW\u00d6LFTES CAPITEL.\nDie Localisirung bei bewegtem Blicke.\nWir haben, wie aus den Darlegungen der beiden letzten Capitel hervorgeht, zwei Classen von Augenbewegungen zu unterscheiden. Die eine umfasst die eigentlichen Blickbewegungen, durch welche die Ortsver\u00e4nderungen des Blickpunktes bewirkt werden; sie sind eine Folge davon, dass die Aufmerksamkeit ihren Ort im Raume wechselt, und werden also lediglich durch r\u00e4umliche Wahrnehmungen\n1\tAubert, Handb. d. gesammt. Augenheilk. II. (2) S. 668.\n2\tDonders, Arch. f. Ophthalmologie XVIII. (2) S. 153. 1872.\n34*","page":531},{"file":"p0532.txt","language":"de","ocr_de":"532 Hering, Physiol. Optik IV. 12. Cap. Die Localisirung bei bewegtem Blicke.\noder Vorstellungen veranlasst und geleitet. Die andere Classe umfasst diejenigen Bewegungen, welche, w\u00e4hrend die Aufmerksamkeit auf demselben Orte ruhen bleibt, durch den Drang zur deutlicheren Wahrnehmung des Gegenstandes herbeigef\u00fchrt werden. Hierher geh\u00f6ren z. B. die auf S. 506 beschriebenen Bewegungen, mittels welcher eine durch Prismen oder sonstwie herbeigef\u00fchrte allgemeine L\u00e4ngsdisparation der beiden Netzhautbilder beseitigt wird, ebenso die Rollungen der Augen, durch welche die gest\u00f6rte Correspondes der beiderseitigen Bildlagen wiederhergestellt wird (S. 504); ferner die Accommodationsbewegungen, welche bei unver\u00e4nderter Lage des Blickpunktes dann eintreten k\u00f6nnen, wenn die gewohnte Harmonie zwischen Convergenzgrad und Entfernung des betrachteten Gegenstandes irgendwie gest\u00f6rt worden ist (S. 527).\nWir k\u00f6nnten diese zweite Classe von Bewegungen als die Correc-tivbewegungen bezeichnen, weil sie s\u00e4mmtlich dazu dienen, die St\u00f6rung der gewohnten Leistungsf\u00e4higkeit des Gesichtsorganes durch \u00e4ussere oder innere Bewegungen der Augen zu corrigiren. Im Folgenden besch\u00e4ftigen wir uns nur mit den eigentlichen Blickbewegungen.\nI. Die Localisirung bei Blickbewegungen nach den Dimensionen der Breite und H\u00f6he.\nIm I. Capitel haben wir jedem einzelnen Deckpunktpaare und entsprechend der von ihm ausgel\u00f6sten Empfindung einen bestimmten positiven oder negativen H\u00f6hen- und Breitenwerth in Bezug auf die Netzhautmitte und auf den Kernpunkt des Sehfeldes zugeschrieben, welche Raumwerthe wir als die relativen Raumwerthe bezeichnen wollen. Dabei hielten wir uns jedoch nur an die Localisirung bei ruhendem Blicke. F\u00fcr die Localisirung bei bewegtem Blicke ergibt sich nun zuv\u00f6rderst der Satz, dass durch die Bewegung an sich und wenn nicht durch dieselbe anderweite Erfahrungsmotive der Localisirung in Wirksamkeit gesetzt werden (vergl. Cap. XIII), die relativen Raumwerthe der Netzhautstellen und der zugeh\u00f6rigen Empfindungen nicht ge\u00e4ndert werden, dass aber die absoluten, d. h. die auf den wirklichen Raum 1 bezogenen Raumwerthe sich \u00e4ndern und\n1 Streng genommen sind die Raumwerthe, welche wir hier als die absoluten bezeichnen, nicht auf den wirklichen Raum d. h. auf die durch Urtheil und Schluss gewonnene Vorstellung von den drei Hauptebenen zu beziehen, sondern auf die Hauptebenen eines Raumes, den wir als den F \u00fchkraum. bezeichnen m\u00f6chten, dessen Lage haupts\u00e4chlich durch die sogenannten Gleichgewichtsgef\u00fchle bestimmt wird und uns unmittelbar, nicht erst durch Reflexionen bewusst ist. Wir sind aber schon in der Einleitung der Einfachheit wegen von der Annahme ausgegangen, dass unsre Vorstellung (unser Gef\u00fchl) von der Lage der Hauptebenen des","page":532},{"file":"p0533.txt","language":"de","ocr_de":"Aenderung der absoluten Raumwerthe.\n533\nzwar alle in gleichem Sinne und Maasse. Die ge\u00e4nderte Lage der Hauptsehrichtung bedingt also eine entsprechende Lage\u00e4nderung des ganzen Systems der Sehrichtungen, ohne dass dieses in sich eine Aenderung erf\u00e4hrt; mit der Orts\u00e4nderung des Kernpunktes verbindet sich eine Orts\u00e4nderung des ganzen Complexes der Gesichtsempfindungen, welchen wir als Sehfeld oder Sehraum bezeichnet haben, aber die relative Lage der einzelnen Empfindungen dieses Complexes d. i. die Anordnung der Sehdinge im Sehraum gehorcht nach wie vor denselben Gesetzen, wie bei ruhendem Blicke.\nDa sich n\u00e4mlich bei jeder Blickbewegung die Bilder der Aussen-dinge auf der Netzhaut verschieben und somit ihre relativen Raumwerthe \u00e4ndern, wir die Dinge aber dabei gleichwohl im Allgemeinen in Ruhe sehen, so folgt, dass die durch die Bildverschiebung bedingte Aenderung der relativen Raumwerthe compensirt wird durch die bei der Blickbewegung stattfindende Aenderung des absoluten Raumwerthes des ganzen Empfindungscomplexes oder des Sehraumes und damit jeder Einzelempfindung oder jedes Sehdinges, und dass also beide Aenderungen gleich gross aber entgegengesetzt sind. W\u00e4re dies nicht der Fall, so m\u00fcssten die Dinge w\u00e4hrend der Bewegung des Blickes ihre scheinbare Lage \u00e4ndern, es m\u00fcssten Scheinbewegungen und Aenderungen der scheinbaren Gestalt auftreten. Solche zeigen sich, wie wir sehen werden, wirklich in allen F\u00e4llen, wo die Aenderung der absoluten Raumwerthe die Aenderung der relativen nicht genau oder gar nicht compensirt.\nDie Aenderung der absoluten Raumwerthe kann ebensowohl die auf die Hauptebenen des Raumes bezogenen Breiten- und H\u00f6hen-werthe als auch die Tiefenwerthe der von der Doppelnetzhaut ausgel\u00f6sten Empfindungen im positiven oder negativen Sinne betreffen.\nDagegen ist bis jetzt kein sicherer Fall bekannt, in welchem lediglich durch Blickbewegungen die absoluten Raumwerthe der Netzhautstellen derart ge\u00e4ndert w\u00fcrden, wie die relativen Raumwerthe der Netzhautbilder der Aussendinge bei Rollung des Auges um die feststehende Gesichtslinie. Wohl aber findet eine solche Aenderung der absoluten Raumwerthe statt und es wird gleichsam die Axe der Polarcoordinaten f\u00fcr die Raumwerthe ver\u00e4ndert, wenn wir den Kopf zur Seite neigen, was beim gew\u00f6hnlichen Sehen nicht vorkommt.\nIn wieweit wir bei prim\u00e4rer Stellung des Kopfes und der bino-\nRaumes eine richtige sei, was heissen soll, dass die Hauptebenen des F\u00fchlraumes mit denen des gedachten Raumes oder Denkraumes zusammenfallen. Dies ist freilich nicht immer der Fall, wie u. A. die Experimente Mach\u2019s \u00fcber die Bewegungsempfindungen zur Gen\u00fcge lehren (vergl. Mach, Die Lehre von den Bewegungsempfind. Leipzig 1875).","page":533},{"file":"p0534.txt","language":"de","ocr_de":"534 Heeing, Physiol. Optik IV. 12. Cap. Die Localisirung bei bewegtem Blicke.\ncularen Blicklinie richtig' localisiren, haben wir im VII. Capitel er\u00f6rtert ; entsprechend werden wir auch bei bewegtem Blicke und bei jeder anderen Lage der binocularen Blicklinie localisiren, falls wirklich die dadurch ge\u00e4nderte Lage der Bilder auf unserer Netzhaut durch die Aenderung der absoluten Raumwerthe genau ausgeglichen wird. Es w\u00e4re also zu untersuchen, innerhalb welcher Grenzen letzteres der Fall ist. Man hat sich jedoch seither mit der Thatsache der ann\u00e4hernd richtigen Localisirung bei bewegtem Blicke begn\u00fcgt und eingehendere Untersuchungen nicht angestellt. Es liegen uns daher nur vereinzelte hierhergeh\u00f6rige Thatsachen vor.\nDas erste Erforderniss f\u00fcr die richtige Localisirung w\u00fcrde sein, dass die durch die Aenderung der absoluten Raumwerthe bedingte Ortsver\u00e4nderung des Kernpunktes genau die gleiche w\u00e4re, wie die Orts Ver\u00e4nderung des Blickpunktes; das zweite w\u00e4re, dass die Sehdinge nicht nur im Sehraume dieselbe relative Lage zu einander h\u00e4tten, wie die wirklichen Dinge im wirklichen Raume, soweit dies nach den Auseinandersetzungen des VII. Capitels \u00fcberhaupt denkbar ist, sondern dass auch ihre absolute, d. h. die auf die Hauptebenen des wirklichen Raumes bezogene Lage dieselbe w\u00e4re.\nDie Bewegungen des Blickpunktes werden veranlasst und geleitet durch Ortsver\u00e4nderungen der Aufmerksamkeit. Zieht ein zun\u00e4chst indirect gesehenes Object die Aufmerksamkeit auf sich, so wird durch diesen Ortwechsel der Aufmerksamkeit und das Streben, das Object deutlich zu sehen, die entsprechende Blickbewegung ohne unser weiteres Zuthun ausgel\u00f6st. Die Wanderung der Aufmerksamkeit setzt die Wanderung des Blickpunktes. Ehe also noch die Blickbewegung beginnt, ist der Ort, der das Ziel derselben bildet, bereits im Bewusstsein und von der Aufmerksamkeit erfasst, und die Lage dieses Ortes im Sehraume bestimmt die Richtung und Gr\u00f6sse der Blickbewegung. In demselben Maasse aber als die Aufmerksamkeit ihren Ort im Raume \u00e4ndert, \u00e4ndern sich zugleich auch die absoluten Raumwerthe der Netzhaut und es wird die Richtung und Gr\u00f6sse dieser Aenderung lediglich durch die Richtung und Gr\u00f6sse des Abstands bedingt, welchen der jeweilige neue Aufmerksamkeitsort in Bezug auf den alten hat.\nDass die Aenderung der absoluten Raumwerthe in der That allein von dem Ortswechsel der Aufmerksamkeit, nicht aber erst nachtr\u00e4glich von der dadurch ausgel\u00f6sten Blickbewegung bedingt ist, wird dadurch bewiesen, dass erstere auch dann eintritt, wenn letztere anomaler Weise ausbleibt. Ist z. B. der \u00e4ussere Gerade des rechten Auges gel\u00e4hmt und der Kranke schliesst das linke Auge, so","page":534},{"file":"p0535.txt","language":"de","ocr_de":"Scheinbewegungen.\n535\nscheint sich ihm alles Sichtbare nach rechts zu bewegen; er unterliegt dem sogenannten Gesichtsschwindel. Sobald sich n\u00e4mlich seine Aufmerksamkeit nach rechts wendet, erfahren alle Breitenwerthe der Netzhaut einen entsprechenden positiven Zuwachs, und er localisirt, da wegen der L\u00e4hmung das Auge und seine Netzhautbilder ihre Lage nicht ver\u00e4ndern, die Sehdinge in demselben Maasse weiter nach rechts, als der Aufmerksamkeitsort nach rechts gewandert ist.\nEbenso treten Scheinbewegungen der Aussendinge ein, wenn die Augen sich bewegen, ohne dass doch der Aufmerksamkeitsort sich ge\u00e4ndert hat. Solche anomale, nicht durch den Ortwechsel der Aufmerksamkeit, sondern durch andere unbewusste Vorg\u00e4nge ausgel\u00f6ste Bewegungen treten z. B. ein, wenn man sich mehrere Male rasch um sich selbst gedreht hat und dann pl\u00f6tzlich stehen bleibt. K\u00f6rper und Augen setzen dann die Drehung in der Richtung der vorangegangenen K\u00f6rperdrehung fort, es werden dadurch die Netzhautbilder verschoben, und da diese Verschiebung der Bilder hier nicht durch Aenderung der absoluten Raumwerthe compensirt wird, so scheinen sich die Dinge entsprechend der Bildverschiebung in derjenigen Richtung zu verschieben, welche der Richtung der Augendrehung entgegengesetzt ist (Purkinje\u2019s Gesichtsschwindel). Dass dabei die starke unwillk\u00fcrliche Nachdrehung der Augen, und nicht die viel geringere Nachdrehung des K\u00f6rpers die Verschiebung der Netzhautbilder im Wesentlichen bedingt, kann man leicht mit H\u00fclfe eines zuvor erzeugten dauerhaften Nachbildes beweisen.1\nIn analoger Weise f\u00fchren auch alle passiven, nicht durch Mus-kelcontraction bewirkten Augenbewegungen, wie man sie z. B. durch seitlichen Fingerdruck auf den Augapfel herbeif\u00fchren kann, zu entsprechender Scheinbewegung der sichtbaren Dinge.\nAbgesehen also davon, dass durch die jeweilige Augenstellung die Lage der Bilder auf der Netzhaut mit bestimmt wird, haben die Stellungen und Bewegungen der Augen an sich keinen Einfluss auf die Localisirung, und nur insoweit, als sie Ausdruck der jeweiligen Localisirung der Aufmerksamkeit und des dadurch bedingten absoluten Raumwerthes der Netzhautstellen sind, beeinflussen sie scheinbar die Localisirung. Wie sich dies in den oben angef\u00fchrten F\u00e4llen in sehr auff\u00e4lliger und schlagender Weise offenbart, so zeigt es sich auch in geringerem Grade bei zahlreichen anderen Gelegenheiten.\nBewegt sich z. B. die Gesichtslinie bei fixirtem Kopfe in secun-\n1 Hering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie I. S. 31. 1861.","page":535},{"file":"p0536.txt","language":"de","ocr_de":"536 Hering, Physiol. Optik iy. 12. Cap. Die Localisirung bei bewegtem Blicke.\nd\u00e4ren ebenen Bahnen, so erf\u00e4hrt dabei das Auge, wie S. 487 er\u00f6rtert wurde, zugleich eine Rollung um die Gesichtslinie. Lassen wir also z. B. den Blick entlang einer erheblich \u00fcber der prim\u00e4ren Blickebene gelegnen Horizontalen hingleiten, so wandert die Aufmerksamkeit horizontal nach rechts oder links, und es erfahren die Breitenwerthe der Netzhaut den entsprechenden positiven Zuwachs. Die Netzhautbilder der einzelnen Linienpunkte aber \u00e4ndern in Folge ihrer Verschiebung nicht blos ihre relativen Breitenwerthe im entgegengesetzten Sinne und Maasse, welchenfalls sie ja doch immer auf demselben Netzhautmeridian bleiben w\u00fcrden, sondern sie verlassen diesen Meridian in Folge der Rollungen und \u00e4ndern daher zugleich ihre H\u00f6henwerthe um ein Geringes. Die Folge ist, dass die Linie ihre scheinbare Lage \u00e4ndert; wandert der Blick nach rechts, so dreht sie sich scheinbar im positiven, wandert er nach links, im negativen Sinne. L\u00e4sst man den Blick rasch entlang der Linie hingleiten, wobei man nicht Zeit hat, auf die ganze Linie zu achten, sondern nur das in der N\u00e4he des Blickpunktes liegende St\u00fcck auffasst, so resultirt aus den raschen scheinbaren Richtungs\u00e4nderungen der Linie das Bild einer gekr\u00fcmmten, nach unten concaven Linie, eine Beobachtung, welche zuerst Helmholtz 1 gemacht hat. Analoges gilt von allen geraden Linien, welche in secund\u00e4ren Blickbahnen gelegen sind; sie erscheinen unter den genannten Umst\u00e4nden stets concav nach dem Orte des prim\u00e4ren Blickpunktes.\nMan darf bei dem beschriebenen Versuche die horizontale Linie nicht mit allzu stark gehobenem Blicke betrachten, weil sonst die T\u00e4uschung durch eine andere mehr oder weniger compensirt wird. Will man n\u00e4mlich den stark gehobenen Blick horizontal nach rechts oder links wenden, so weicht die Gesichtslinie, je n\u00e4her sie dem rechten oder linken obern Winkel der Orbita kommt, mehr und mehr nach unten ab, weil die Bewegung einen Widerstand findet, der im engern Blickfelde nicht vorhanden ist. In Folge dessen kommt die Linie \u00fcber den Blickpunkt zu liegen und die Aufmerksamkeit muss etwas ansteigen, wodurch eine Innervation zu st\u00e4rkerer Hebung des Auges ausgel\u00f6st und der Blickpunkt wieder auf die Linie gebracht, beziehungsweise auf derselben erhalten wird. Dementsprechend w\u00fcrde die Linie, wenn keine gleichzeitige Rollung stattf\u00e4nde, nach rechts und links ansteigend und also nach oben concav erscheinen.\nWenn, wie wir sahen, bei raschem Hingleiten des Blickes auf einer in secund\u00e4rer Blickbahn gelegenen Geraden dieselbe concav nach dem prim\u00e4ren Blickpunkte erscheint, so ist zu erwarten, dass umgekehrt eine nach dem prim\u00e4ren Blickpunkte hin convexe Linie\n1 Helmholtz, Physiol. Optik. S. 551.","page":536},{"file":"p0537.txt","language":"de","ocr_de":"Falschsehen gerader und krummer Linien.\n537\nvon entsprechender Kr\u00fcmmung unter den genannten Umst\u00e4nden gerade erscheinen wird. K\u00fcster 1 hat angegeben, dass Reihen leuchtender Punkte im Dunkelraume, welche ann\u00e4hernd1 2 in den S. 492 er\u00f6rterten Richtkreisen eines kugligen Gesichtsfeldes liegen, ihm zwar gekr\u00fcmmt erschienen, wenn er einen Punkt derselben bei der zugeh\u00f6rigen Secund\u00e4rstellung des Auges fixirte, aber geradlinig, wenn er den Blick die Linie entlang gleiten liess. Dies setzt nat\u00fcrlich voraus, dass die Blickbewegung hinreichend rasch geschieht und dass man immer nur die dem Blickpunkte n\u00e4heren Punkte der Reihe betrachtet. Denn nimmt man sich Zeit, die ganze Reihe zu beachten, so wird man sie nothwendig krumm sehen, wie sie ist.\nF\u00fcr ein Auge, dessen Drehpunkt sich in der Entfernung e e senkrecht \u00fcber dem Mittelpunkte der Fig. 55 bef\u00e4nde, w\u00fcrden die hyper-\ne !----------------------------1 9\nFig. 55 (nach Helmholtz).\nbolischen Grenzlinien der schwarzen und weissen Felder die von Helmholtz sogenannten Richtlinien des Sehfeldes darstellen. Betrachtete Helmholtz in dieser Weise mit bewegtem Blicke eine solche in vergr\u00f6ssertem Maassstabe gezeichnete Figur aus einer entsprechend\n1\tK\u00fcster, Arch. f. Ophthalmologie XXII. (1) S. 149. 1876.\n2\tYergl. die Anmerk. 3 auf S. 370.","page":537},{"file":"p0538.txt","language":"de","ocr_de":"538 Hering, Physiol. Optik IV. 12. Cap. Die Localisirung bei bewegtem Blicke.\nvergr\u00f6sserten Entfernung, so sali er die hyperbolischen Linien zwar nicht geradlinig, wohl aber erschien ihm die Figur nicht eben, sondern als eine kuglig- concave Fl\u00e4che, auf welcher sich die Linien als gr\u00f6sste Kreise darstellten. Nach den im Sehfelde selbst gelegenen Richtungen erschienen die Hyperbeln nicht gekr\u00fcmmt, nur das Sehfeld selbst erschien so.\nDas Netzhautbild eines Richtkreises oder einer Richtlinie hat, wie aus den S. 494 gemachten Er\u00f6rterungen folgt, die Eigent\u00fcmlichkeit, dass es sich nur in sich selbst verschiebt, wenn der Blick auf der Richtlinie hingleitet. Ist also die letztere unbegrenzt, so \u00e4ndert dabei das Netzhautbild im Ganzen seinen Ort auf der Netzhaut nicht, sondern nur die Einzelpunkte desselben verschieben sich in der Bahn des Bildes. In dieser Beziehung verh\u00e4lt sich das Bild einer Richtlinie ebenso, wie das Bild einer Geraden, welche durch den prim\u00e4ren Blickpunkt geht. Denn das Bild einer solchen verschiebt sich ebenfalls nur in sich selbst, wenn der Blick an ihr hinl\u00e4uft. Hieraus folgert Helmholtz, dass die Richtlinien ebenfalls gradlinig, oder als gr\u00f6sste Kreise des kugeligen Sehfeldes erscheinen m\u00fcssen. Er erkl\u00e4rt ferner hieraus, dass ihm, wie S. 371 er\u00f6rtert wurde, die Richtlinien auch bei ruhendem Blicke geradlinig erscheinen, wenn er nicht sie selbst, sondern den zugeh\u00f6rigen prim\u00e4ren Punkt des Blickfeldes fixirt.\nDa die Er\u00f6rterung der Theorien, welche \u00fcber die Entwicklung des Raumsinnes, sei es in ontogenetischer oder phylogenetischer Beziehung aufgestellt worden sind, nicht im Plane dieser Abhandlung liegt, so m\u00f6ge zum Verst\u00e4ndniss der obigen Ansicht von Helmholtz hier nur erw\u00e4hnt werden, dass derselbe die Raumwerthe der Netzhaut als etwas lediglich im Laufe des individuellen Lebens Erworbenes ansieht. Hat der Anf\u00e4nger im Sehen eine Richtlinie des Gesichtsfeldes mit dem Blicke durchlaufen und sie trotz ihrer Kr\u00fcmmung geradlinig gesehen, weil ihr Bild sich bei der Bewegung in sich selbst verschob, und sein Blick kehrt nun zum prim\u00e4ren Punkte zur\u00fcck, so nimmt er nach Helmholtz die jetzt indirect gesehene Linie nach wie vor f\u00fcr eine Gerade und gew\u00f6hnt sich so, die Bilder derjenigen Netzhautlinien, welche den indirect gesehenen Richtlinien entsprechen, auf gerade Linien des Aussenraumes zu beziehen.\nWir haben gesehen, dass diejenigen Augenbewegungen, welche mit gleichzeitiger Rollung um die Gesichtslinie erfolgen, zu Gesichtst\u00e4uschungen f\u00fchren, und k\u00f6nnten es daher wiinschenswerth finden, dass solche Rollungen gar nicht vork\u00e4men. Indessen ist dies schon theoretisch genommen unm\u00f6glich, weil das Auge keine frei bewegliche Kugel ist, und w\u00e4re es auch eine solche, so w\u00fcrde damit der andre und gewiss viel gr\u00f6ssere Uebelstand verbunden sein, dass bei einer und derselben Stellung der Gesichtslinie, insbesondere auch bei Prim\u00e4rstellung, die Netzhaut und ihre Mittelschnitte in die verschiedensten Lagen kommen m\u00fcssten,","page":538},{"file":"p0539.txt","language":"de","ocr_de":"Bedeutung des LisTiNG\u2019schen Gesetzes.\n539\nso dass selbst in der Prim\u00e4rstellung von einem bestimmten Lagever-h\u00e4ltniss zwischen den Mittelschnitten der Netzhaut und den Verticalen und Horizontalen des Aussenraumes nicht mehr die Rede sein k\u00f6nnte. Soll aber jeder bestimmten Stellung der Gesichtslinie relativ zum Kopfe eine ganz bestimmte Lage der Netzhaut unab\u00e4nderlich zugeh\u00f6ren, so werden, wie Helmholtz 1 hervorgehoben hat, die dann \u00fcberhaupt unvermeidlichen Rollungen durch die Bewegung nach dem LisTiNG\u2019schen Gesetz auf die Weise vertheilt, dass sie um so kleiner sind, je n\u00e4her die Bewegungsbahnen der Mittellage der Gesichtslinie sind. Dies ist, wenn die Mittellage der Prim\u00e4rstellung entspricht, offenbar die zweckm\u00e4ssigste Vertheilung der unvermeidlichen Rollungen, insoweit man annehmen darf, dass die H\u00e4ufigkeit, mit welcher die Gesichtslinie eine Secund\u00e4rstellung einnimmt, um so gr\u00f6sser ist, je n\u00e4her diese der Mittelstellung liegt. Eine wichtige Folge des LisTiNG\u2019schen Gesetzes ist also die, dass durch dasselbe die unvermeidlichen Rollungen und die dadurch bedingten Scheinverschiebungen der Aussendinge m\u00f6glichst vermieden sind, und die Localisirung bei bewegtem Blicke mit der bei ruhendem Blicke in den gr\u00f6sstm\u00f6glichen Einklang gebracht ist. Nehmen wir dazu die Thatsache, dass nach Listing\u2019s Gesetz die Bewegungen des Doppelauges beim Fernsehen zugleich derart sind, dass immer eine m\u00f6glichst vollkommene Correspondenz der Netzhautbilder erhalten bleibt, so ist die Bedeutung dieses Gesetzes f\u00fcr das Sehen mit bewegtem Blicke im Wesentlichen gekennzeichnet.1 2\nII. Die Localisirung hei den Blickbewegungen nach der Dimension der Tiefe.\nAusser den Breiten- und H\u00f6henbewegungen des Blickpunktes und den aus gleichzeitiger Breiten- und H\u00f6henbewegung resultiren-den schr\u00e4gen Bewegungen sind noch die Bewegungen des Blickpunktes nach der Dimension der Tiefe zu er\u00f6rtern. Auch bei diesen geht der Aenderung der Convergenz die entsprechende Ortsver\u00e4nderung der Aufmerksamkeit voraus und giebt erst zu jener den An-stoss. Die Aussenpunkte, welche bei Beginn der Blickbewegung soeben noch correspondirende Bilder auf der Doppelnetzhaut gaben, erzeugen im n\u00e4chsten Augenblicke wegen der ver\u00e4nderten Convergenz der Gesichtslinien querdisparate Bilder, welche bis zu einer gewissen Gr\u00f6sse der Disparation und beim gew\u00f6hnlichen Sehen fast immer einfach gesehen werden. Eine Scheinbewegung der Aussendinge nach der Dimension der Tiefe tritt aber auch hier nicht ein, weil die durch die Verschiebung der Netzhautbilder bedingte Aende-\n1\tHelmholtz, Physiol. Optik S. 484.\n2\tUeber die Versuche einer theoretischen Ableitung, beziehungsweise genetischen Erkl\u00e4rung des LisTiNG\u2019schen Gesetzes vergl. Helmholtz, Physiol. Optik \u00a7 27 ; Hering, Beitr. z. Physiol. V. \u00a7 114 und Die Lehre vom binocul. Sehen \u00a7 19 ; Donders. Arch. f. d. ges. Physiol. XIII. S. 373.","page":539},{"file":"p0540.txt","language":"de","ocr_de":"540 Hering, Physiol. Optik IY. 12. Cap. Die Localisirung bei bewegtem Blicke.\nrung des relativen Tiefenwerthes der Sehdinge compensirt wird durch die mit der Translocation der Aufmerksamkeit gesetzte Aenderung der absoluten Tiefenwerthe, oder anders gesagt, durch die ver\u00e4nderte Lage des Kernpunktes.\nWird bei der Convergenz\u00e4nderung die Disparation der Netzhautbilder zu gross, und achten wir besonders auf die Doppelbilder, so zeigen diese w\u00e4hrend der N\u00e4herung oder Fernerung des Blickpunktes eine seitliche Bewegung, indem das eine sich nach rechts, das andre nach links verschiebt, womit sich zugleich eine Drehung der Bilder verbinden kann, falls die Augen w\u00e4hrend der Bewegung eine Rollung erfahren. Da bei vielen Menschen der Gebrauch beider Augen kein ganz gleichm\u00e4ssiger ist, sondern dieselben \u00f6fters nur ein Auge und dann fast immer dasselbe benutzen, so ist meistens die Bewegung beider Doppelbilder nicht gleich gross, vielmehr scheint sich das Trugbild des f\u00fcr gew\u00f6hnlich einseitig benutzten Auges langsamer seitw\u00e4rts zu bewegen, als das andre, oder es steht unter Umst\u00e4nden ganz still, und das andre bewegt sich allein. Es ist diese Erscheinung im Einklang mit dem in Cap. V er\u00f6rterten Verhalten der Sehrichtungen bei Personen, welche oft unocular sehen.\nEine sehr auff\u00e4llige Scheinbewegung, auf welche Hering 1 hingewiesen hat, tritt ein, wenn bei ein\u00e4ugigem Sehen der Fixationspunkt aus der Ferne in die N\u00e4he verlegt wird oder umgekehrt. Dieselbe erl\u00e4utert zugleich das Gesetz der Sehrichtungen und das der associirten Innervation.\nFixirt man n\u00e4mlich zun\u00e4chst einen fernen Punkt, so dass die Gesichtslinien {ll und gr Fig. 56) parallel liegen, und bringt in die eine, z. B. linke Gesichtslinie ein kleines nahes Object (/>), so scheint sich dieses, wenn man das rechte Auge schliesst und dann f\u00fcr das nahe Object accommodirt, nach links zu bewegen. Das Object erscheint n\u00e4mlich, ehe es noch fixirt wird, nicht nur n\u00e4her, als der anfangs betrachtete ferne Punkt, sondern auch nach links von der Medianebene, und der Aufmerksamkeitsort wird also von dem fernen medianen nach einem nahen seitlichen Punkte des Raumes verlegt. Dies bedingt nicht nur\n1 Hering, Die Lehre vom binocularen Sehen \u00a7 1.","page":540},{"file":"p0541.txt","language":"de","ocr_de":"Scheinbewegungen bei Convergenz\u00e4nderung.\n541\neine Aenderung des absoluten Tiefenwerthes des Kernpunktes, sondern auch eine Aenderung der absoluten Breitenwerthe. Der Aende-rung des ersteren entspricht die Verlegung des Kernpunktes aus der Ferne in die N\u00e4he, der Aenderung der Breitenwerthe eine Verschiebung desselben aus der Medianebene nach links. Da sich aber bei dieser Aenderung der absoluten Breitenwerthe der relative Breitenwerth des Netzhautbildes vom fixirten Objecte (p) nicht \u00e4ndert, vielmehr das linke Auge seine Stellung zum Objecte beibeh\u00e4lt, so er-giebt sich eine Scheinbewegung.\nDer Aenderung des absoluten Tiefenwerthes entspricht eine Conver-genzinnervation, welche f\u00fcr sich den Blickpunkt ungef\u00e4hr nach p\u2018 verlegen w\u00fcrde, der Aenderung der Breitenwerthe eine Innervation zur Linkswendung beider Gesichtslinien, welche dieselben in die Lagen g r\u2018 und 11\u201c bringen w\u00fcrde, und welche zugleich die Linkswendung der bin-ocularen Blicklinie aus /u m nach /u m\u2018 bedingt. Beide Innervationen finden* aber gleichzeitig statt und heben sich in der oben beschriebenen Weise f\u00fcr das linke Auge in ihrer Wirkung auf, w\u00e4hrend sich ihre Wirkungen f\u00fcr das rechte summiren. So bleibt die linke Gesichtslinie in ihrer Lage, die des geschlossenen Auges kommt ungef\u00e4hr nach gr\u201c zu liegen und das Object p erscheint ann\u00e4hernd da, wo es wirklich liegt.\nDa infolge der Aenderung der Convergenz und Accommodation das linke Auge eine kleine negative Rollung um die festliegende Gesichtslinie erf\u00e4hrt (vergl. S. 497), so verdreht sich das Netzhautbild und man sieht, wenn man als ferneres oder n\u00e4heres Fixationsobject eine gerade Linie ben\u00fctzt, eine schwache Scheindrehung derselben im entgegengesetzten, positiven Sinne. Endlich zeigt sich auch eine sehr schwache Scheinverschiebung des fixirten Punktes nach unten, was auf einer entsprechend kleinen Abweichung des Auges nach oben beruht.\nMan darf bei dem beschriebenen Versuche nicht ein Auge benutzen, welches man sehr viel zu ein\u00e4ugigem Sehen zu gebrauchen pflegt, weil diesenfalls die binoculare Hauptsehrichtung mehr oder weniger genau mit der Gesichtslinie dieses Auges zusammenf\u00e4llt. Macht man dann aber den Versuch mit dem andern Auge, so ist die Scheinbewegung um so auffallender. Wer stets beide Augen zugleich zu benutzen pflegt, wird mit jedem Auge denselben Erfolg haben. Die ausf\u00fchrliche Beschreibung des Versuches mit allen Cautelen siehe bei Hering (1. c.).\nEinfluss der Blickbewegung auf die Sehgr\u00f6sse. Wenn man die Sehrichtungen in der Weise divergirend annimmt, wie es im Cap. V geschehen ist, so scheint damit zugleich gesagt, dass das einem bestimmten Netzhautbilde entsprechende Sehding um so gr\u00f6sser ist, je entfernter es im Sehraume liegt, wonach die Gr\u00f6sse eines Sehdinges einerseits der Gr\u00f6sse des Netzhautbildes, anderseits der Entfernung, in welcher es erscheint, proportional sein m\u00fcsste. Bei ruhendem Blicke aber ist es schwer, sich mit Bestimmtheit dar\u00fcber auszusprechen, in wie weit dem so ist. Der Theil des Sehraumes,","page":541},{"file":"p0542.txt","language":"de","ocr_de":"542 Hering, Physiol. Optik IV. 13. Cap. Die Localisirung bei bewegtem Blicke.\ndessen Inhalt wir genauer auffassen, ist auch nach der Dimension der Tiefe nur klein, so dass die Entfernungsdifferenzen der deutlichen Sehdinge nur gering sind. Je gr\u00f6ssere Uebung man aber im festen Fixiren und mdirecten Sehen hat, desto leichter zerf\u00e4llt Alles in Doppelbilder. Dazu kommt, dass es schwer ist, bei Vergleichung der Gr\u00f6sse verschieden entfernt liegender Sehdinge streng auseinander zu halten die Gr\u00f6sse, in der man die Dinge sieht und diejenige, in der man sich dieselbe denkt. Erstere ist die eigentliche Sehgr\u00f6sse, letztere die gesch\u00e4tzte Gr\u00f6sse.\nUnter scheinbarer Gr\u00f6sse hat man bald die gesch\u00e4tzte Gr\u00f6sse, bald auch die Gr\u00f6sse des Netzhautbildes oder den Gesichtswinkel (die Kleifung) verstanden. Die Sehgr\u00f6sse ist von beiden verschieden. H\u00e4lt man z. B. ein quadratisches Papier horizontal vor sich hin, so dass seine R\u00e4nder parallel der Medianebene, beziehungsweise der Frontalebene liegen, und fixirt ungef\u00e4hr seine Mitte un-ocular, so sieht man dasselbe nicht genau quadratisch und horizontal. Vielmehr zeigen der rechte und linke Rand des Sehdinges eine schwache Convergenz und der fernere Rand ist etwas k\u00fcrzer, als der n\u00e4here ; zweitens liegt der fernere Rand etwas h\u00f6her als der n\u00e4here. Im Netzhautbilde des Quadrates convergiren die seitlichen R\u00e4nder unvergleichlich st\u00e4rker und der fernere Rand ist viel k\u00fcrzer als der n\u00e4here. Das Verh\u00e4ltniss der Gr\u00f6ssen des fernen und nahen Randes ist also am Sehdinge ein andres als am Netzhautbilde, und wieder ein anderes am wirklichen Dinge. Die unrichtige Form des Sehdinges hindert aber nicht, zu urtheilen, dass das entsprechende Aussending ein quadratisches ist, und demnach den fernen Rand ebenso gross zu sch\u00e4tzen, als den n\u00e4heren. Dieses Beispiel zeigt uns also den Unterschied zwischen sogenannter scheinbarer Gr\u00f6sse, Sehgr\u00f6sse und gesch\u00e4tzter oder gedachter Gr\u00f6sse.\nFixirt man die Mitte des Quadrates fl\u00fcchtig binocular und ohne auf die Doppelbilder der seitlichen R\u00e4nder zu achten, so sieht man es fast genau quadratisch, weil die binoculare Tiefenlocalisirung genauer ist, als die unoculare; doch bleibt ein kleiner Fehler im Sinne des bei ein\u00e4ugiger Fixation begangenen bestehen. Dieser ist viel bedeutender, wenn es sich um gr\u00f6ssere Entfernungsdifferenzen der bei ruhendem Blicke gleichzeitig sichtbaren Dinge handelt. Es sind bei ruhendem Blicke \u00fcberhaupt alle Sehdinge im Vergleich zu den wirklichen in der Richtung nach der Tiefe auffallend zusammengeschoben, und je fester und l\u00e4nger man fixirt und je gr\u00f6ssere Uebung man im Doppelsehen hat, desto mehr r\u00fcckt Alles in eine durch den Kernpunkt gehende Fl\u00e4che, die Kernfl\u00e4che, zusammen, so dass, wenn","page":542},{"file":"p0543.txt","language":"de","ocr_de":"Sehgr\u00f6sse.\n543\nnicht Erfahrungsmotive zu H\u00fclfe kommen, schliesslich nur noch die mit sehr geringer Querdisparation abgebildeten Dinge vor und hinter jener Fl\u00e4che erschienen. Den geringen Entfernungsdifferenzen der Sehdinge entspricht dann auch eine geringe Verschiedenheit ihrer Sehgr\u00f6sse, eine Verschiedenheit, die in auffallendem Missverh\u00e4ltniss zu der Gr\u00f6ssenverschiedenheit der wirklichen Dinge steht.\nAnders verh\u00e4lt es sich, wenn man den Gesichtsraum mit dem Blicke nach der Dimension der Tiefe durchmisst. Hierbei r\u00fcckt Alles nicht allzufern Liegende deutlich und der Wirklichkeit viel entsprechender nach der Tiefe auseinander. Wir sind also betreffs der richtigen Tiefenlocalisirung fast noch mehr als bei der Durchmusterung des Sehraumes nach der Dimension der H\u00f6he und Breite darauf angewiesen, durch successives Deutlichsehn der Einzelheiten den Mangel einer simultanen deutlichen Wahrnehmung eines gr\u00f6sseren Sehraumbezirkes zu ersetzen. So wenig zugegeben werden kann, dass die Localisirung der Netzhautbilder in verschiedene Entfernung lediglich durch Convergenz\u00e4nderungen bedingt sei, so sehr muss im Sinne Br\u00fccke\u2019s betont werden, dass uns erst durch die Convergenz\u00e4nderungen die volle Ausn\u00fctzung und Verwerthung unseres auf der Disparation der Netzhautbilder beruhenden Verm\u00f6gens der Tiefenwahrnehmung m\u00f6glich wird.\nMit der N\u00e4herung und Fernerung des Blickpunktes geht nun einher das Gr\u00f6sser- oder Kleinersehen des jeweiligen lixirten Dinges. H\u00e4lt man von zwei gleichlangen und gleichbreiten Streifen Papier den einen 15 dm. entfernt und nach links, den anderen 30 dm. entfernt und nach rechts von der Medianebene und fixirt sie abwechselnd, so sieht man den entfernten nicht ungef\u00e4hr halb so gross, als den n\u00e4hern, obwohl sein Netzhautbild nur etwa halb so gross ist, sondern man sieht ihn nahebei, nicht ganz gleich gross wie den n\u00e4heren. Achtet man aber, w\u00e4hrend man den einen dauernd fixirt, zugleich auf den andern, so erscheint derselbe in Doppelbildern, die sich meistens theilweise decken, wodurch die Vergleichung der Breite des n\u00e4heren mit der des ferneren gest\u00f6rt wird. Dagegen kann man die L\u00e4nge des einfach gesehenen n\u00e4heren Streifen mit der L\u00e4nge der Trugbilder des ferneren vergleichen. Man sieht dann die Trugbilder wesentlich k\u00fcrzer als den nahen einfach erscheinenden Streifen, \u00fcbrigens aber keineswegs nur halb so lang als diesen. Es entspricht dies der im Cap. VIII. er\u00f6rterten Thatsache, dass die Localisirung der Trugbilder nach der Tiefe eine unsichere und der wirklichen Entfernung des Objects nicht entsprechende ist. Nur wenn die Trugbilder des einen Streifens dem Bilde des anderen","page":543},{"file":"p0544.txt","language":"de","ocr_de":"544 Hering, Physiol. Optik IY. 12. Cap. Die Localisirung bei bewegtem Blicke.\nsehr nahe liegen, kann man eine genauere Vergleichung ihrer beiderseitigen scheinbaren Gr\u00f6ssen oder der Gesichtswinkel anstellen.\nAchtet man, w\u00e4hrend man den Blick von dem n\u00e4heren Papierstreifen auf den ferneren \u00fcbergehen l\u00e4sst, zugleich auf den ersteren, so sieht man denselben etwas gr\u00f6sser werden ; umgekehrt nimmt die Sehgr\u00f6sse des ferneren etwas ab, wenn man den Blick von ihm auf den n\u00e4heren Streifen zur\u00fcckf\u00fchrt.\nTr\u00e4ufelt man eine Atropinl\u00f6sung in ein Auge, so sieht man nach einiger Zeit mit diesem Auge alle nicht zu nahen Aussendinge kleiner, es tritt sogenannte Mikropsie ein, welche zuerst von F\u00f6rster1 n\u00e4her er\u00f6rtert wurde. Aubert2 sah infolge des Eintr\u00e4ufelns von etwa V500 Gran Atropin nach 30 Minuten Buchstaben in 65 dm. Entfernung mit dem atropinisirten Auge nur halb so gross, als mit dem andern. Dabei erschienen die Buchstaben vollkommen scharf und war also das Auge genau accommodirt. Ursache des Kleinersehens ist nach F\u00f6rster die gr\u00f6ssere Accommodationsanstrengung, wie sie ein gesundes Auge nur bei entsprechend gr\u00f6sserer N\u00e4he des Objectes noting hat. Trotzdem erscheinen aber merkw\u00fcrdiger Weise die kleiner gesehenen Dinge nicht n\u00e4her, sondern, wie F\u00f6rster und Aubert angeben, vielmehr ferner als bei Betrachtung mit dem gesunden Auge. Ueber eine psychologische Erkl\u00e4rung dieser auffallenden Erscheinung*vgl. F\u00f6rster und Aubert (11. cc.).\nDie Aenderung der Sehgr\u00f6sse bei Aenderungen der Accommodation zeigt sich auch unter gew\u00f6hnlichen Umst\u00e4nden. Wenn man von der ein\u00e4ugigen Fixirung eines fernen Objectes zur Betrachtung eines nahen \u00fcbergeht, so scheint das ferne kleiner zu werden; umgekehrt w\u00e4chst die Sehgr\u00f6sse des n\u00e4heren, wenn man wieder f\u00fcr das fernere accommodirt. Ueber weitere Beispiele vergl. insbesondere Panum. 3\nIII. Die Localisirung bei secund\u00e4ren Lagen der binocularen\nBlicklinie.\nWir haben im Obigen die Localisirung w\u00e4hrend der Bewegung er\u00f6rtert und gesehen, dass dieselbe einerseits vom Ortswechsel der Aufmerksamkeit und der dadurch gesetzten Aenderung der absoluten Raumwerthe, andererseits von der Art der ausgel\u00f6sten Augenbewegungen und der dadurch bedingten Verschiebung der Netzhautbilder abh\u00e4ngt. Denken wir uns die Blickbewegung in einem beliebigen Momente sistirt, so wird jetzt die scheinbare Lage der Dinge ebenfalls einerseits von der Art abh\u00e4ngen, wie die absoluten Raumwerthe im Vergleich zur prim\u00e4ren Lage des Blickpunktes ver\u00e4ndert sind, anderseits von der Lage der Bilder auf die Doppelnetzhaut.\n1\tF\u00f6rster, Ophthalmol. Beitr\u00e4ge S. 79. 1S62.\n2\tAubert, Physiologie der Netzhaut S. 329. 1865.\n3\tPancm, Arch. f. Ophthalmologie V. (1) S. 1. 1859.","page":544},{"file":"p0545.txt","language":"de","ocr_de":"Localisirung des Kernpunktes.\n545\nIm ersten Abschnitte haben wir bereits die Richtigkeit der Localisirung bei festgehaltenem Blickpunkte f\u00fcr gewisse Lagen desselben untersucht und zwar insbesondere f\u00fcr den Fall, wo die binoculare Blicklinie horizontal und median liegt, und also die Gesichtslinien parallel sind oder symmetrisch convergiren. Betreffs der sonstigen Lagen der binocularen Blicklinie und des Blickpunktes haben wir auf den Mangel eingehender Untersuchungen und im Uebrigen auf diesen Abschnitt verwiesen.\nDie Localisirung des Kernpunktes. Jeder bestimmten Lage des (binocularen) Blickpunktes entspricht bei unver\u00e4nderter prim\u00e4rer Kopfstellung eine ganz bestimmte Stellung des Doppelauges. Anderseits entsprechen den verschiedenen Lagen des Aufmerksamkeitsorts im Raume 1 die verschiedenen Stellungen des Doppelauges, allerdings nicht genau, aber doch mit einer, je nach der Lage jenes Ortes verschiedenen Ann\u00e4herung. Wir k\u00f6nnen auch im absolut dunklen Raume unsre Aufmerksamkeit dem oder jenem Orte zuwenden, als ob wir dort etwas suchten oder erwarteten. Dann stellen sich unsre Augen ungef\u00e4hr auf diesen Ort ein. Taucht dann wirklich an diesem Orte etwas Sichtbares auf, so ist sein scheinbarer Ort schon von vornherein bestimmt.\nAm sichersten passt sich die Augenstellung der Richtung der Aufmerksamkeit an, wenn der Ort der letzteren horizontal vor uns in der Medianebene und also geradeaus liegt. Gesetzt nun, wir h\u00e4tten im dunklen Raume unsere Aufmerksamkeit absichtlich in dieser Weise und zwar in die Ferne gerichtet, so wird auch die binoculare Blicklinie nahezu horizontal und median liegen ; mit welcher Genauigkeit es der Fall ist, wurde nicht untersucht.\nWird nun pl\u00f6tzlich ein seitlich, h\u00f6her oder tiefer gelegenes fernes Object sichtbar, so gibt dasselbe peripher liegende Netzhautbilder von bestimmtem H\u00f6hen- und Breitenwerthe, wodurch zugleich seine scheinbare Lage mehr oder minder genau bestimmt ist. Dadurch, dass sich nun sofort die Aufmerksamkeit, und in Folge dessen wieder die binoculare Blicklinie auf diesen Ort richtet, \u00e4ndert sich an der bereits erfolgten Localisirung nichts wesentliches.\nAnalog verh\u00e4lt es sich, wenn das pl\u00f6tzlich erscheinende Object relativ nahe liegt. Da die Gesichtslinien, wie wir annehmen durften, beim Hinausblicken in die Feme des Dunkelraumes nahezu parallel liegen oder wenigstens nur schwach convergiren, so wird das auftauchende Object Bilder von ungleichseitiger Disparation geben und\n1 Genauer gesagt im F\u00fchlraume (vergl. S. 523 \u00c4nm.'i.\nHandbuch der Physiologie. Bd. in.\n35","page":545},{"file":"p0546.txt","language":"de","ocr_de":"546 Hering, Physiol. Optik IV. 12. Cap. Die Localisirung bei bewegtem Blicke.\ndementsprechend mehr oder weniger nahe erscheinen. Die auf diesen n\u00e4hern Ort translocirte Aufmerksamkeit l\u00f6st nun die Convergenz-bewegung aus, und so wird der Blickpunkt unter fortw\u00e4hrender Leitung des Doppelnetzhautbildes an den Ort des wirklichen Objects gebracht.\nIm Wesentlichen ist also unter den angef\u00fchrten Bedingungen die Localisirung des Objects schon auf Grund der Raumwerthe der Netzhautbilder erfolgt, ehe die entsprechende Augenstellung eingetreten ist, und wir k\u00f6nnen daher nicht die Art der Augenstellung als das Bedingende der ann\u00e4hernd richtigen Localisirung betrachten. Eine andere Frage ist, inwieweit durch die Richtung und Dauer der Verschiebung des Netzhautbildes w\u00e4hrend der Blickbewegung die Localisirung eine Correctin' erf\u00e4hrt und an Richtigkeit gewinnt. Hier\u00fcber Hessen sich nur Vermuthungen aufstellen, da die Frage noch nicht experimentell untersucht ist.\nDas er\u00f6rterte Beispiel lehrt, dass die Localisirung des fixirten Objects bei secund\u00e4rer Lage der binocularen Blicklinie und des Blickpunkts im Wesentlichen davon abh\u00e4ngt, dass die Aufmerksamkeit an den ungef\u00e4hr entsprechenden Ort verlegt werden muss, wenn anders die Augen sich passend einstellen sollen, und das Object einfach und deutlich gesehen werden soll. Jede Lage des Aufmerksamkeitsorts bedingt eine, innerhalb gewisser Grenzen bestimmte Augenstellung, und wo die Aufmerksamkeit ist, da ist auch die Kernstelle des Sehraums und ebenda erscheint also auch das fixirte Object.\nBei ein\u00e4ugigem Sehen ist die Localisirung nach der Dimension der Tiefe eine sehr unbestimmte, falls anderweite Erfahrungsmotive ausgeschlossen sind. Wir sind dann einzig und allein auf das H\u00fclfs-mittel der Accommodation angewiesen. Je n\u00e4her der fixirte Punkt liegt, desto st\u00e4rker m\u00fcssen wir accommodiren, um ihn m\u00f6glichst scharf zu sehen. W\u00e4hrend wir dies thun, tritt zwar auch eine ungef\u00e4hr entsprechende Zunahme der Convergenz der Gesichtslinien ein, aber es fehlt die M\u00f6glichkeit, das Sehding gleich von vornherein auf Grund der Disparation der Netzhautbilder zu localisiren, beziehungsweise die Nothwendigkeit, eine ganz bestimmte Convergenz festzuhalten, um das Object einfach zu sehen. Wundt Hess durch eine kurze R\u00f6hre einen, vor einer einfarbigen fernen Wand aufgeh\u00e4ngten Faden von unbekannter Dicke fixiren und seine Entfernung sch\u00e4tzen; auch entfernte oder n\u00e4herte er den Faden und bestimmte die Gr\u00f6sse der Verschiebung, welche n\u00f6thig war, damit der Beobachter die Art der Orts\u00e4nderung des Fadens erkenne. Das Ergebnis seiner Versuche fasste er in Folgendem zusammen: die Accom-","page":546},{"file":"p0547.txt","language":"de","ocr_de":"Muskelsinn und Innervationsgef\u00fchle.\n547\nmodation sagt niemals etwas aus \u00fcber die absolute Entfernung der Gegenst\u00e4nde, sondern sie giebt nur eine \u00e4usserst oberfl\u00e4chliche Kennt-niss ihrer relativen Lage, indem sie es m\u00f6glich macht, das N\u00e4here vom Ferneren zu unterscheiden. Wenn ein und dasselbe Object seine Lage im Raume \u00e4ndert, so giebt uns die Accommodation f\u00fcr sich nur Aufschluss \u00fcber eine Art dieser Lage\u00e4nderung, n\u00e4mlich \u00fcber die Ann\u00e4herung ans Auge; damit aber diese Ann\u00e4herung wahrnehmbar werde, muss sie eine bestimmte Gr\u00f6sse erreichen, die mit der Entfernung vom Nahpunkte zunimmt; d. h. in jeder Distanz vom Auge existirt eine bestimmte Unterscheidungsgrenze der Ann\u00e4herung. Diese Unterscheidungsgrenze ist nicht von constanter Gr\u00f6sse, sondern namentlich in hohem Grade dem in l\u00e4ngerer Zeit wirksam werdenden Einfl\u00fcsse der Uebung und dem in k\u00fcrzerer Zeit sich geltend machenden Einfl\u00fcsse der Erm\u00fcdung unterworfen.\nWir haben uns im Obigen bem\u00fcht, die bis hierher in diesem Capitel besprochenen Thatsaclien ohne die Mith\u00fclfe irgend welcher Hypothese darzustellen. Aus denselben ergiebt sich unmittelbar, dass die Augenstellung von der Localisirung der Aufmerksamkeit abh\u00e4ngig ist, welche letztere zugleich auch die Localisirung des Kernpunktes und damit den scheinbaren Ort des fixirten Objectes bestimmt. Wir d\u00fcrfen aber nicht verschweigen, dass diese Auffassung von der Mehrzahl der Autoren nicht getheilt, sondern bis jetzt nur von Hering1 vertreten wird. Derselbe ist zuerst der fr\u00fcher sehr verbreiteten Ansicht entgegengetreten, nach welcher sich Alles umgekehrt verhalten und die Localisirung des Kernpunktes von der Augenstellung abh\u00e4ngen soll. Man nahm und nimmt zum Theil auch noch einen sogenannten Muskel sinn des Gesichtsorganes an. Der jeweilige Verk\u00fcrzungsgrad der Augenmuskeln soll hiernach Gef\u00fchle oder Empfindungen erzeugen, auf Grund deren die Localisirung des fixirten Punktes erfolgen soll. \u201eDie Feinheit der Muskelempfindungen\u201c, sagte Wundt2, \u201egeht so weit, dass die Muskeln in dieser Hinsicht unsern sch\u00e4rfsten objectiven Sinnesorganen, dem Gesicht und Geh\u00f6r, an die Seite gestellt werden k\u00f6nnen.\u201c\nDie oben angef\u00fchrten, zum grossen Theil l\u00e4ngst bekannten That-sachen lehren aber, dass die Augenstellungen an sich, und also auch die etwaigen Empfindungen derselben ohne merklichen Einfluss auf die Localisirung sind. Man hat daher den Ausweg ergriffen, an die Stelle der Muskelempfindungen sogenannte Innervationsgef\u00fchle zu setzen, welche durch die motorische Innervation schon im Centralorgane und nicht erst in der Peripherie erzeugt werden oder die erstere begleiten sollen. Die Thatsaclien aber n\u00f6thigen nicht zu dieser Annahme, sondern lediglich gewisse theoretische Voraussetzungen, die hier \u00fcbergangen werden d\u00fcrfen. Denkt man sich, dass der jeweilige Ort der Aufmerksamkeit\n1\tHering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie I. \u00a7 11. 1861.\n2\tW\u00fcndt, Ztschr. f. rat. Med. (3) XV. S. 143. 1862.\n35*","page":547},{"file":"p0548.txt","language":"de","ocr_de":"548 Hering, Physiol. Optik IV. 12. Cap. Die Localisirung bei bewegtem Blicke.\nbedingt ist durch einen bestimmten psychophysischen Process, so kann man diesen Process auch zugleich als das physische Moment gelten lassen, welches die entsprechende Innervation der Augenmuskeln ausl\u00f6st. Es ist von vornherein nicht einzusehen, was durch die hypothetische Einschiebung eines weiteren physischen oder psychischen Vorganges, welcher den Innervationsgef\u00fchlen zu entsprechen h\u00e4tte, irgend gewonnen werden kann. Wir haben deshalb die Darstellung der Thatsachen nicht durch Einf\u00fchrung der hypothetischen Innervationsgef\u00fchle compliciren wollen, obwohl dieselben von hervorragenden Forschern angenommen werden.\nDass die Augen bei ihren Bewegungen gewisse Empfindungen erzeugen, welche wir in die Gegend der Orbita localisiren, ist sicher. Macht man eine starke Convergenzbewegung, so hat man eine deutliche Empfindung in der Augenh\u00f6hle, schw\u00e4chere Empfindungen bemerkt man bei jeder nicht allzu kleinen Wendung des Blickes. Die Nerven der Lider, der Conjunctiva und auch der tieferen Theile vermitteln diese Binnenempfindungen des Auges, wie wir sie nennen k\u00f6nnten. F\u00fcr andere Glieder, insbesondere die Extremit\u00e4ten ist festgestellt, dass ihre Binnenempfindungen uns die Wahrnehmung ihrer Lage und mittelbar die richtige Localisirung von Tastempfindungen mit erm\u00f6glichen helfen, daher man f\u00fcr die Augen das Analoge annehmen zu d\u00fcrfen glaubte. Hier aber liefert die Art, wie wir bei passiver oder durch unwillk\u00fcrliche Muskel-contraction erzeugter Verschiebung der Augen localisiren, sofort den Beweis, dass die etwaigen Binnenempfindungen f\u00fcr die Localisirung nicht das Entscheidende sind.\nWenn oben die Translocation der Aufmerksamkeit als das Motiv der Augenbewegung hingestellt wurde, so soll damit nicht gesagt sein, dass wir \u00fcberhaupt nicht im Stande seien, unsre Aufmerksamkeit wandern zu lassen, ohne dass sofort auch die entsprechenden Augenbewegungen ausgel\u00f6st werden. Letzteres gilt zwar f\u00fcr die meisten Menschen, aber durch Uebung kann man es sehr wohl dahin bringen, auch bei festgehaltenem Blick die Aufmerksamkeit wandern zu lassen, und indirect Gesehenes besonders zu beachten. Doch muss man hierbei immer zugleich auf das direct Gesehene merken. L\u00e4sst man dieses nur einen Augenblick ausser Acht, so erfolgt sofort eine Augenbewegung, wie man mittels der Nachbilder oder durch Auscultation der Muskelger\u00e4usche des Auges leicht erkennen kann. Es handelt sich also hierbei weniger um eine eigentliche Translocation, als vielmehr um eine gr\u00f6ssere, \u00fcber das gewohnte Maass hinausgehende Ausbreitung der Aufmerksamkeit, wobei immer der Haupttheil derselben dem direct Gesehenen zugewandt bleiben muss. Jedenfalls ist ein l\u00e4ngeres indirectes Sehen bei ruhendem Blicke ein erzwungener Zustand. Will man annehmen, dass diejenigen Orts\u00e4nderungen der Aufmerksamkeit, welche motorische Folgen haben, sich specifisch von denen unterscheiden, welche bei ruhendem Blicke stattfinden k\u00f6nnen, so wird dadurch an der Giltigkeit der oben gemachten Er\u00f6rterungen nichts ge\u00e4ndert.\nDie Localisirung des \u00fcbrigen Sehraumes. Ausser der Localisirung des Kernpunktes und der dadurch gegebenen Lage der Hauptsehrichtung kommt die Frage in Betracht, in wieweit wir bei","page":548},{"file":"p0549.txt","language":"de","ocr_de":"Localisirung horizontaler und verticaler Linien.\n549\nsecund\u00e4ren Lagen der binocularen Blicklinie und des Blickpunktes die \u00fcbrigen Tbeile des jeweiligen Sehraums richtig localisiren.\nZun\u00e4chst hat man hierbei an die verticalen und horizontalen Linien zu denken. Zwischen beiden besteht ein sehr wesentlicher Unterschied insofern, als es nur eine verticale Richtung, dagegen unendlich viele horizontale gibt. Die richtige Localisirung verticaler Linien ist dadurch unvergleichlich beg\u00fcnstigt. Auch scheint es in der That, dass wir bei ungezwungener Haltung des frei beweglichen Kopfes seitlich gelegene verticale Linien ziemlich richtig sehen, wenn wir sie bei horizontaler oder nicht allzustark gehobener oder gesenkter Blickebene betrachten. Es steht dies in Einklang damit, dass, wie oben (S. 495) bemerkt wurde, verticale Linien sich unter solchen Umst\u00e4nden immer ziemlich genau auf dem mittlen L\u00e4ngsschnitte oder wenigstens auf demselben Meridiane abbilden, welcher auch das Bild einer bei Prim\u00e4rstellung fixirten Verticalen empf\u00e4ngt. Dies gilt selbstverst\u00e4ndlich dann nicht mehr, wenn der Kopf bei Betrachtung der seitlichen Verticalen fixirt ist. Ausser den verticalen bilden auch die querhorizontalen, also der prim\u00e4ren Frontalebene parallelen Linien einen besonderen Fall, weil sie uns h\u00e4ufiger Vorkommen als anders gelegene Horizontallinien. Besondere Untersuchungen \u00fcber die Localisirung fixirter gerader Linien bei zwangloser oder bei fester prim\u00e4rer Kopfhaltung sind nicht angestellt worden. Einige Specialf\u00e4lle sind in Cap. VII., andere im Folgenden erw\u00e4hnt.\nDie Localisirung verticaler, beziehungsweise horizontaler Linien bei vor- oder zur\u00fcckgeneigtem Kopfe und seitlichen Blickrichtungen hat Helmholtz untersucht. Es ist aber zu bemerken, dass solche Kopfhaltungen beim gew\u00f6hnlichen Sehen nicht benutzt werden.\nZur Untersuchung bei Parallel Stellungen spannte Helmholtz1 \u00fcber das eine Ende einer cylindrischen R\u00f6hre von etwa einem Fuss L\u00e4nge einen schwarzen Faden als Durchmesser aus, nahm das andre Ende der R\u00f6hre vor ein Auge, w\u00e4hrend das zweite Auge geschlossen war, hielt vor das entferntere Ende der R\u00f6hre ein weisses Blatt Papier, so dass er nichts von den Gegenst\u00e4nden des Zimmers sah, und suchte nun den schwarzen Faden durch Drehung der R\u00f6hre um ihre L\u00e4ngsaxe m\u00f6glichst genau horizontal oder vertical zu stellen, und zwar mit parallel gerichteten Gesichtslinien, eine Bedingung, die er auch bei verschlossenem zweiten Auge zu erf\u00fcllen gelernt hat. Wenn er dann das weisse Papier von dem anderen Ende der R\u00f6hre wegzog, konnte er die Richtung, welche er dem Faden gegeben hatte, mit der Richtung verschiedener objectiver horizontaler und verticaler Linien vergleichen, die sich im Zimmer vorfanden. Er setzte sich bei diesen Versuchen fest auf einen Lehnstuhl und bog den Kopf bald vorn\u00fcber, bald hinten\u00fcber, oder hielt\n1 Helmholtz, Physiol. Optik S. 608.","page":549},{"file":"p0550.txt","language":"de","ocr_de":"550 Hering, Physiol. Optik IY. 12. Cap. Die Localisirung bei bewegtem Blicke.\nihn vertical, w\u00e4hrend die R\u00f6hre immer horizontal gehalten, dabei aber bald gerade ans, bald nach rechts, bald nach links gerichtet wurde, so dass sich dabei die Gesichtslinie nach einander in alle m\u00f6glichen Lagen gegen den Kopf einstellte.\nEs zeigte sich, dass in allen diesen Stellungen, soweit das Auge sich ohne f\u00fchlbaren Zwang bewegen konnte, die horizontal erscheinende Linie wirklich horizontal war und die vertical scheinende nur um einen solchen Winkel von der wirklich verticalen Richtung abwich, wie der mittle L\u00e4ngsschnitt des betreffenden Auges vom wirklich verticalen Meridian abweicht.\nZu analogen Ergebnissen kam Dastich unter Leitung von Helmholtz. 1 Er betrachtete durch eine R\u00f6hre einen entfernten, vor einer gleichfarbigen Wand h\u00e4ngenden Faden, dessen Lage ge\u00e4ndert wurde, bis er vertical schien. Doch wurde auch hier die Stellung des geschlossenen Auges nicht besonders eontrolirt.\nHiernach w\u00fcrde also bei diesen secund\u00e4ren Parallelstellungen die jeweilige Lage der Netzhaut relativ zur Blickebene, insbesondere die Lage des' mittlen L\u00e4ngs- und Querschnittes bei der Localisirung der Netzhautbilder sozusagen mit eingerechnet.\nFerner untersuchte Helmholtz2 auch bei Convergenz und bin-ocularem Sehen. Bei aufrechtem Kopfe sah er einen wirklich verticalen Faden stets vertical, gleichviel ob er geradeaus oder seitw\u00e4rts blickte.3 Bei zur\u00fcckgebeugtem Kopfe musste er das untere Ende des Fadens (innerhalb der durch die binoculare Blicklinie gelegten Verticalebene) etwas heranziehen, bei vorgebeugtem Kopfe aber etwas entfernen, um den Faden vertical zu sehen, und zwar war dies nicht nur bei symmetrischer Convergenz der Fall, sondern auch bei unsymmetrischer. Er kam zu dem Schl\u00fcsse, dass bei nicht prim\u00e4rer Lage der Blickebene und Convergenz der Gesichtslinien \u201ediejenigen Linien vertical zur Visirebene (Blickebene) erscheinen, welche sich abbilden auf solchen Meridianen des Auges, welche bei der Stellung des Auges parallel der mittleren Sehrichtung (Hauptsehrichtung) wirklich vertical sein w\u00fcrden zur Visirebene.\u201c\nAuf Grund aller dieser Ergebnisse m\u00f6chte Helmholtz dem Gesetze der identischen Sehrichtungen eine etwas andre Fassung geben als Hering. \u201eMan denke sich, sagt er, in der Mitte zwischen beiden Augen ein imagin\u00e4res mittleres Cyclopenauge, welches auf den gemeinsamen Fixationspunkt beider Augen gerichtet ist, und dessen Raddrehungen nach demselben Gesetze erfolgen, wie die der beiden wirklichen Augen. Man denke sich die Netzhautbilder aus einem der wirklichen Augen in dieses imagin\u00e4re Auge \u00fcbertragen, so dass Blickpunkt auf Blickpunkt und Netzhauthorizont (mittler Querschnitt) auf Netzhauthorizont f\u00e4llt. Dann werden die Punkte des Netzhautbildes nach aussen projicirt in den Richtungslinien des imagin\u00e4ren Cyclopenauges. \u201c\nDieser Satz scheint im Widerspruch zu stehen mit den oben ange-\n1\tHelmholtz, Physiol. Optik S. 611.\n2\tDerselbe, Physiol. Optik. S. 662.\n3\tDies stimmt betreffs der symmetrischen Convergenz nicht \u00fcberein mit der S. 418 erw\u00e4hnten Angabe Hering\u2019s, welche von Nagel best\u00e4tigt wurde. (Nagel, Jahresber. f. Ophthalm. II. Jahrg. f. d. Jahr 1871. S. 120 Anm.)","page":550},{"file":"p0551.txt","language":"de","ocr_de":"Genauigkeit der Tiefenwahrnehmung.\n551\nf\u00fchrten S\u00e4tzen \u00fcber Localisirung bei Bewegung des Blickes. Denn wenn die jeweilige Lage der Netzhaut oder der sogenannte Raddrehungswinkel und also auch eine w\u00e4hrend der Bewegung des Blickes stattfindende Rollung bei der Localisirung mit eingerechnet w\u00fcrde, so sollte man meinen, dass eine gerade Linie, an welcher der Blick hingleitet, nie die von Helmholtz selbst beschriebene Scheinkr\u00fcmmung oder Lagen\u00e4nderung zeigen k\u00f6nne, sondern immer richtig localisirt werden m\u00fcsse.\nGenauigkeit der binocularen Tiefenwahrnehmung. Das Relief und kleine Entfernungsunterschiede werden um so sicherer gesehen, je n\u00e4her die Objecte dem L\u00e4ngshoropter oder im besonderen Falle dem Punkthoropter liegen. Dass dies f\u00fcr den Punkthoropter gilt, hat zuerst Helmholtz 1 gezeigt. Er knickte einen geraden Draht in seiner Mitte so, dass seine beiden H\u00e4lften einen stumpfen Winkel bildeten, der \u00e4usserst wenig von einem doppelten rechten (gestreckten) Winkel ab wich. Brachte er den Draht in ein solche Lage, dass er nahezu mit der Geraden des Punkthoropters zusammenfiel, so erkannte er die Knickung noch, w\u00e4hrend sie bei allen anderen Lagen des Drahtes nicht mehr wahrzunehmen war. Ferner ordnete er drei Stecknadelk\u00f6pfe in einer horizontalen geraden Linie an. Tangirte diese Gerade den M\u00fcLLER\u2019schen Horopterkreis, so konnten kleine Verschiebungen einer der beiden seitlichen Nadeln viel eher erkannt werden, als wenn die Reihe eine andere Lage in der Blickebene hatte. Lag die mittle Nadel median in einer Entfernung von etwa 50 cm., so bedurfte es nur einer Verschiebung der seitlichen Nadel von etwa ein Viertel Millimeter, um noch zu erkennen, dass die Nadelk\u00f6pfe nicht mehr in einer Geraden lagen. Helmholtz2 hat auf Grund solcher Versuche die Gr\u00f6sse der kleinsten Disparation der Netzhautbilder berechnet, bei welcher die Verschiebung der einen Nadel eben noch sicher erkannt wurde. Sie entsprach einem Gesichtswinkel von 60 72 Winkelsecunden oder 0,0044 mm. Lagenverschiedenheit der Netzhautbilder. Daraus folgt, um mit Helmholtz zu sprechen, \u201edass die Vergleichung der Netzhautbilder beider Augen zum Zwecke des stereoskopischen Sehens mit derselben Genauigkeit geschieht, mit welcher die kleinsten Abst\u00e4nde von einander von einem und demselben Auge gesehen werden.\u201c\nNach Hering m\u00fcssen die Nadelk\u00f6pfe in der horizontalen Horopterlinie selbst liegen, wenn die gr\u00f6sste Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr kleine Verschiebungen der einen Nadel erreicht werden soll. Bei obigem Versuche war dies jedenfalls sehr angen\u00e4hert der Fall, weil Helmholtz selbst\n1 Helmholtz, Arch. f. Ophthalmologie X. (1) S'. 27. 1864. und Physiol. Optik S. 720.\n2 Derselbe, Physiol. Optik S. 645.","page":551},{"file":"p0552.txt","language":"de","ocr_de":"552 Hering, Physiol. Optik IY. 12. Cap. Die Localisirung hei bewegtem Blicke.\nbemerkt, dass die Nadeln keinen grossen Abstand von einander haben d\u00fcrfen, wenn der Versuch das beschriebene Resultat haben soll.\nHering 1 hat sich zu zeigen bem\u00fcht, dass die Bedeutung, welche Helmholtz dem Punkthoropter zuschrieb, eigentlich der L\u00e4ngshoropterfl\u00e4che zukommt, dem Punkthoropter aber nur insofern, als derselbe immer ein Theil des L\u00e4ngshoropters oder im besonderen Falle mit diesem identisch ist. Er erkl\u00e4rt diese Bedeutung des L\u00e4ngshoropters f\u00fcr die Tiefenwahrnehmung daraus, dass die Verschiedenheiten der queren Disparation um so genauer wahrgenommen werden, je kleiner die absolute Gr\u00f6sse der Disparation ist.\nF\u00fcr die meisten Menschen f\u00e4llt beim Fixiren eines nicht zu nahen Punktes der Fussbodenfl\u00e4che die letztere mit dem L\u00e4ngshoropter zwar nicht genau aber doch ann\u00e4hernd zusammen, woraus sich die ebenfalls zuerst yon Helmholtz betonte Thatsache erkl\u00e4rt, dass wir das Relief des Fussbodens besonders genau wahrnehmen.\nHelmholtz giebt an, dass f\u00fcr ihn bei Prim\u00e4rstellung der Augen die Fl\u00e4che des Punkthoropters genau mit der horizontalen Fussbodenfl\u00e4che Zusammenfalle, was andre Beobachter f\u00fcr ihre Augen nicht best\u00e4tigen konnten. Uebrigens schreibt Helmholtz dem Horopter noch eine andere Bedeutung zu. Er meint, dass nicht nur das Relief, sondern auch die Lage der Dinge \u00fcberhaupt dann am richtigsten wahrgenommen werde, wenn letztere im Punkthoropter liegen. Daraus erkl\u00e4rt er z. B., dass die Fussbodenfl\u00e4che viel ausgedehnter und weiter hingestreckt erscheint, wenn man den Fussboden bei aufrechter Kopfhaltung betrachtet, als wenn man dabei den Kopf seitw\u00e4rts neigt oder zwischen den gespreizten Beinen durchblickt; denn nur bei aufrechtem Kopfe kann der Fussboden mit dem Punkthoropter ann\u00e4hernd zusammenfallen. Nach Hering aber tr\u00e4gt zur richtigen Localisirung des Fussbodens gerade der Umstand mit bei, dass er nicht genau im Horopter liegt, vielmehr die jenseits des fixirten Punktes befindlichen Theile Bilder von ungekreuzter querer Disparation geben, w\u00e4hrend die n\u00e4heren Theile sich mit gekreuzter Disparation abbilden. Der Hauptsache nach aber erkl\u00e4rt er die scheinbare Lage des Fussbodens aus einem Erfahrungsmotiv (vergl. Cap. XIII).\nIV. Vergleichung von Gr\u00f6ssen und Lagen.\n( Augenmaas s.)\nE. H. Weber1 2 hat zuerst den kleinsten Unterschied zu bestimmen versucht, welchen zwei nacheinander betrachtete Linien oder Strecken haben m\u00fcssen, um eben noch mit Sicherheit als verschieden gross wahrgenommen zu werden. Er fand, dass es dabei\n1\tHering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie Y. S. 354. 1864.\n2\tWeber, Handw\u00f6rterb. d. Physiol, von Wagner III. 2. Abth. S. 559.","page":552},{"file":"p0553.txt","language":"de","ocr_de":"Strecken- und Winkelvergleichung.\n553\nnicht auf die absolute, sondernauf die relative L\u00e4ngen-yerschiedenheit ankomme, und dass im g\u00fcnstigsten Falle Linien noch unterschieden wurden, deren L\u00e4ngen sich wie 100 : 101 verhielten. Zur Pr\u00fcfung des WEBER\u2019schen Satzes wurden nachher zahlreiche Versuchsreihen angestellt, aber meistens nicht nach Weber\u2019s Methode des ebenmerklichen Unterschieds, sondern theils nach der Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle, theils nach der Methode der mittlen Fehler.1 Es ergab sich, besonders aus Chodin\u2019s1 Versuchen, dass der Satz durchaus keine strenge G\u00fcltigkeit hat. Dabei fand sich auch, dass die Vergleichung von verticalen Distanzen viel weniger genau ist, als die von horizontalen. Dem entspricht auch die Angabe yon Helmholtz 2, dass man bei H\u00e4lftung verticaler Strecken gr\u00f6ssere Fehler macht, als bei H\u00e4lftung horizontaler.\nVergleicht man horizontale Distanzen mit gleich langen verticalen, so erscheinen letztere gr\u00f6sser als erstere. Sucht man eine verticale Strecke einer horizontalen gleich zu machen, so f\u00e4llt die erstere zu kurz aus. Die hierbei begangenen Fehler sollen nach Wundt3 bis zu ein F\u00fcnftheil der horizontalen Strecke betragen\n1 1\nk\u00f6nnen, nach Chodin je nach der L\u00e4nge der Linien \u2014 bis \u2014.\n\u00b0\t61\t9,5\nAlle diese Beobachtungen wurden mit bewegtem Blicke angestellt. Man kann bei solchen Versuchen bemerken, dass man nach einander den Blickpunkt bald in die Mitte der einen, bald in die der andern Strecke verlegt, sodass die Strecken, wenn sie parallel oder in derselben Linie liegen, nacheinander auf denselben Netzhautstellen abgebildet werden. Man \u00fcbertr\u00e4gt also, um einen von Helmholtz gebrauchten Vergleich anzuwenden, die betreffende Netzhautstrecke wie einen Zirkel nacheinander auf die eine und die andere Objectstrecke. Analog verf\u00e4hrt man, um den Parallelismus zweier Linien zu pr\u00fcfen, indem man den Blick in der Mitte zwischen beiden Linien hingleiten l\u00e4sst. Die Gleichheit zweier Winkel nimmt man, wie Helmholtz erw\u00e4hnt, am sichersten wahr, wenn ihre Schenkel parallel liegen, sodass man ihre Bilder nacheinander auf dieselbe Netzhautstelle bringen kann. An diesen Thatsachen zeigt sich auch, dass man diese Vergleichungen von Strecken nicht mit H\u00fclfe etwaiger Muskelempfindungen oder Innervationsgef\u00fchle macht, welche uns \u00fcber die Gr\u00f6sse des vom Blicke zur\u00fcckgelegten Weges unterrichten\n1\tYgl. hier\u00fcber Fechner, Psychophysik II. S. 211. 1860 ferner dies. Handb. II. 2. Theil. S. 234, und Chodin, Arch. f. Ophthalmologie XXIII. (1) S. 92. 1877.\n2\tHelmholtz, Physiol. Optik S. 543.\n3\tWttndt, Ztschr. f. rat. Med. (3) VII. S. 374. 1859.","page":553},{"file":"p0554.txt","language":"de","ocr_de":"554 Hering, Physiol. Optik IY. 12. Cap. Die Localisirung bei bewegtem Blicke.\nk\u00f6nnten, sondern dass die Vergleichung mit H\u00fclfe des Raumsinnes der Netzhaut geschieht, was \u00fcbrigens nach den oben angef\u00fchrten Thatsachen schon selbstverst\u00e4ndlich ist.\nVergleicht man eine durch Punkte oder Striche getheilte Strecke oder Fl\u00e4che mit einer gleichgrossen leeren, so sieht man, wie Hering 1 gefunden hat, erstere gr\u00f6sser als letztere. Das einfachste Beispiel hierf\u00fcr bietet Fig. 57. Von zwei gleichgrossen Winkeln, deren einer\nFig. 57.\nin kleinere Winkel getheilt ist, erscheint der letztere gr\u00f6sser. Zwei gleich grosse Quadrate erscheinen verschieden gross, wenn das eine mit einem rechtwinkligen Liniengitter bedeckt ist, und verschieden breit und hoch, wenn das eine durch verticale, das andere durch horizontale Linien getheilt ist, wie dies Fig. 58 zeigt, auf welcher\nA\tB\n----------- Il\tI !\nFig. 58 (nach Helmholtz).\nA und B genaue Quadrate sind. Versuchsreihen mit Messung der Gr\u00f6sse der T\u00e4uschung siehe bei Kundt2, Aubert3, Messer4.\nDa nicht untersucht ist, inwieweit die hier besprochenen T\u00e4uschungen sich auch bei ruhendem Blicke, bei Momentanbeleuchtung oder im Nachbilde zeigen, so konnten sie nicht den im II. Cap. er\u00f6rterten Thatsachen angereiht werden. Ueber verschiedene Erkl\u00e4rungsversuche vergl. Hering, Kundt, Aubert und Helmholtz (11. cc.).\nMach5 theilte eine unver\u00e4nderte horizontale Strecke von 10\" L\u00e4nge in ver\u00e4nderlichem Verh\u00e4ltniss in zwei Abschnitte und bem\u00fchte sich, eine zweite daneben liegende gleichgrosse und ebenfalls horizontale Strecke in demselben Verh\u00e4ltniss zu theilen, und zwar bei binocularem Sehen. Er fand die in folgender Tabelle verzeichneten\n1\tHering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie I. \u00a7 24. 1861.\n2\tKundt, Annal, d. Physik u. Chemie CXX. S. 118. 1863.\n3\tAubert, Physiol, d. Netzhaut \u00a7 119. 1865.\n4\tMesser, Annal, d. Physik u. Chemie CLVII. S. 172. 1876.\n5\tMach, Sitzgsber. d. Wiener Acad. 2. Abth. XLIII. Jan. 1861.","page":554},{"file":"p0555.txt","language":"de","ocr_de":"Lagenvergleichung.\n555\nmittlen variablen Fehler, in welcher x die L\u00e4nge des linken Abschnittes der getheilten Strecke in Linien, \u00a3 den mittlen variablen Fehler bedeutet (nach Elimination des constanten Fehlers, den Mach nicht mitgetheilt hat).\nX\t\u00a3\tX\t\u00a3\n0,5\t0,01\t6,0\t0,14\n1,0\t0,04\t7,0\t0,07\n2,0\t0,07\t8,0\t0,06\n3,0\t0,07\t9,0\t0,03\n4,0\t0,13\t9,5\t0,01\n5.0\t0.21\t\t\nDie grossen Fehler bei x = 5,0\" r\u00fchren nach Mach daher, dass er nicht auf Halbirung achtete, sondern auf Gleichmachen der linkseitigen oder rechtseitigen H\u00e4lften der beiden Strecken. Er bediente sich n\u00e4mlich als theilbarer Strecke eines horizontalen Schlitzes in einem Schirme, hinter welchem ein halb roth, halb gr\u00fcn gef\u00e4rbter Schieber horizontal verschoben wurde, so dass die Grenzlinie der Farben den Schlitz in ver\u00e4nderlichem Verli\u00e4ltniss in einen rothen und einen gr\u00fcnen Abschnitt theilte.\nMach stellte ferner messende Versuche an \u00fcber die Genauigkeit bei Vergleichung der Lage zweier Linien von begrenzter L\u00e4nge, deren eine rechts, die andere links von der Medianebene im ebenen, etwas zum Horizont geneigten Gesichtsfelde lag. Zwei Scheiben, aus deren Mitte ein Faden entsprang, wurden nebeneinander gelegt, der eine Faden in beliebiger Lage befestigt und dann der Faden der anderen Scheibe bei binocularem Sehen m\u00f6glichst in dieselbe (parallele) Lage gebracht. Als Normallage des Fadens diente die zur Medianebene parallele Lage. Die folgende Tabelle enth\u00e4lt den gefundenen mittlen variablen Fehler ip. Der Winkel uim welchen der erste Faden von der Normallage abwich, ist mit cp bezeichnet.\n<P\tV\t\u00a5\t\u00a5\n0\u00b0\t0,2\t50\u00b0\t1,3\n10\u00b0\t0,6\t60\u00b0\t1,4\n20\u00b0\t1,2\t70\u00b0\t1,3\n30\u00b0\t1,1\t80\u00b0\t0,9\n40\u00b0\t1,2\t90\u00b0\t0,3\n45\u00b0\t1,3\t\ti\nEs ergibt sich also die schon oben (S. 371) zu einer Erkl\u00e4rung beigezogene Thatsache, dass die verticalen und querhorizontalen","page":555},{"file":"p0556.txt","language":"de","ocr_de":"556 Hering, Physiol. Optik IY. 12. Cap. Die Localisirung bei bewegtem Blicke.\nLinien am sichersten localisirt werden, Linien von beil\u00e4ufig 450 Neigung am unsichersten. Hierbei ist zu bedenken, dass wegen der ann\u00e4hernd horizontalen Lage des Gesichtsfeldes der Winkel cp auf der Netzhaut andere Werthe hatte, als im Gesichtsfelde.\nY. Das Sehen von Bewegungen.\nWenn sich ein Object in einem Gesichtsraume bewegt, dessen \u00fcbriger Inhalt ruht, so zieht es unsre Aufmerksamkeit ganz besonders leicht auf sich, und wir pflegen es mit dem Blicke zu begleiten, wenn nicht unsre Aufmerksamkeit anderweit in ungew\u00f6hnlicher Weise gefesselt wird. Bilder auf den peripheren Theilen der Netzhaut, die wir sonst nur ausnahmsweise betrachten, dr\u00e4ngen sich sofort ins Bewusstsein, wenn sie sich bewegen, und die Bilder kleiner, nicht sehr vom Grunde abstechender Objecte sehen wir mit den \u00e4ussersten peripheren Theilen der Netzhaut \u00fcberhaupt nur dann, wenn sie bewegt sind (Pukkinje). Jede Aenderung einer Empfindung muss mif einer gewissen Geschwindigkeit stattfinden, wenn sie uns unmittelbar zum Bewusstsein kommen soll. Wie die Helligkeitszunahme eines Leuchtpunkts nur dann als solche empfunden wird, wenn sie schnell genug erfolgt, andernfalls aber zwar nachtr\u00e4glich erschlossen, nicht aber in ihrem Werden selbst gesehen werden kann, so muss auch die Aenderung des Raumwerthes und damit des Ortes einer Empfindung mit einer gewissen Geschwindigkeit erfolgen, wenn wir die Bewegung als solche sehen sollen. Andernfalls k\u00f6nnen wir zwar nachtr\u00e4glich bemerken, dass das Ding seinen Ort ge\u00e4ndert, und daraus erschliessen, dass es sich bewegt hat, aber die Bewegung selbst k\u00f6nnen wir nicht sehen. Wir m\u00fcssen daher streng unterscheiden zwischen der blossen Ueberzeugung von der Bewegung eines Dinges und der unmittelbaren Anschauung der Bewegung.1 2 3 4 Erstere beruht auf Schl\u00fcssen, letztere auf dem unmittelbaren sinnlichen Eindr\u00fccke.\nWill man im Sinne einer von Hering 2 aufgestellten Theorie des optischen Raumsinnes das Localisiren einer Empfindung als ein Empfinden des Ortes bezeichnen und also von Raumgef\u00fchlen- oder empfindungen sprechen, wie man von Ton- oder Farbenempfindung spricht, so muss man consequenter Weise auch Bewegungsgef\u00fchle- oder empfindungen annehmen, wie dies Exner 3 und Vierordt 4 sp\u00e4ter gethan haben.5\n1\tCzermak, Ideen zu einer Lehre vom Zeitsinn. Molesch. Unters. Y.\n2\tHering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie Y. \u00a7 124. 1864.\n3\tExner, Sitzgsber. d. Wiener Acad. LXXII. 3. Abth. S. 156. 1875.\n4\tVierordt, Ztschr. f. Biologie XII. S. 225. 1876.\n5\tIn etwas anderem Sinne hat Mach den Ausdruck Bewegungsempfindung gebraucht. Yergl. Grundlinien d. Lehre v. d. Bewegungsempfindungen 1875.","page":556},{"file":"p0557.txt","language":"de","ocr_de":"Scheinruhe und Scheinbewegung.\n557\nBestimmungen der kleinsten Geschwindigkeit, mit welcher die Raumwerthe einer Gesichtsempfindung sich \u00e4ndern m\u00fcssen, damit eine Bewegung derselben als solche gesehen oder empfunden werde, liegen nicht vor. Diese Minimalgeschwindigkeit h\u00e4ngt vor Allem davon ab, ob und in welcher N\u00e4he von dem bewegten Dinge oder Punktcomplexe sich unbewegte Punkte oder Linien befinden. Denn man sieht das Wachsen einer Distanz zwischen zwei Punkten oder Linien um so leichter, je kleiner dieselbe unter sonst gleichen Umst\u00e4nden ist. Das langsame Dahinziehen einer Wolke am sonst blauen Himmel sieht man oft erst dann als Bewegung, wenn man ein unbewegtes Object zwischen sich und die Wolke bringt, und ein einziger isolirter leuchtender Punkt im sonst dunklen Baume muss sich viel rascher bewegen, um richtig bewegt gesehen zu werden, als ein Punkt auf einer mit zahlreichen fixen Punkten oder Linien versehenen Fl\u00e4che\u2019.\nAnderseits kann man bei zu grosser Geschwindigkeit der Bewegung die letztere wegen der Nachdauer der Erregung nicht sehen. So erscheinen uns die fallenden Regentropfen als F\u00e4den, wenn wir die Augen ruhig halten. Bewegt man aber das Auge rasch in der Richtung des Bewegten, so kann man g\u00fcnstigen Falls das Bewegte und die Bewegung sehen und so z. B. den fallenden Regentropfen gleichsam im Fluge erhaschen.\nWenn nicht ein einzelnes Object, sondern ein grosser Theil der sichtbaren Dinge sich gleichzeitig und in demselben Sinne bewegt, so kann eine T\u00e4uschung derart eintreten, dass das Bewegte als ruhend und das Ruhende als bewegt gesehen wird. Betrachten wir z. B. die langsam vor dem Monde vor\u00fcberziehenden Wolken, so k\u00f6nnen wir, wenn wir nicht zugleich etwas feststehendes Irdisches beachten, den Mond als hinter den Wolken bewegt, letztere aber als feststehend sehen. Dazu geh\u00f6rt jedoch eine gewisse Langsamkeit der Bewegung, weil andernfalls die rasche Lage\u00e4nderung der Wolken in Bezug auf unsern Standort bemerkt und so die T\u00e4uschung verhindert wird. Wir ersehen hieraus, dass wenn zwei Empfindungscomplexe des Sehraumes ihre Raumwerthe relativ zu einander \u00e4ndern, diese Aenderung bisweilen statt auf den bewegten auf den ruhenden bezogen werden kann.\nSehr eindringlich sind derartige T\u00e4uschungen, wenn durch unsere eigene passive Bewegung eine Verschiebung fast des ganzen Netzhautbildes erzeugt wird. Betrachten wir, in einem festgeankerten Kahne sitzend, unbewegten Blickes die vor\u00fcberziehenden Wellen, so erhalten wir leicht den Eindruck, als ob die Wellen stehende w\u00e4ren","page":557},{"file":"p0558.txt","language":"de","ocr_de":"558 Hering, Physiol. Optik IV. 12. Cap. Die Localisirung bei bewegtem Blicke.\nund der Kahn mit uns durch die Wellen z\u00f6ge; im stehenden Eisenbahnwagen halten wir oft eine vor\u00fcbergehende Wagenreihe f\u00fcr ruhend, den eigenen Wagen aber f\u00fcr bewegt, und was dergleichen bekannte Beispiele mehr sind. In allen solchen F\u00e4llen \u00e4ndert der gr\u00f6ssere Theil des Sehrauminhaltes seinen Raumwerth relativ zum \u00fcbrigen Theile und ob diese Aenderung als eine Bewegung des einen oder anderen Theiles gesehen wird, h\u00e4ngt von Nebenumst\u00e4nden ab. Es ist bemerkenswerth, dass in solchen F\u00e4llen die T\u00e4uschung so zwingend sein kann, dass sie gegen unser besseres Wissen eintritt.\nSind zwei isolirte Punkte oder Striche sichtbar, deren einer sich von dem andern entfernt, und befinden sich in der N\u00e4he keinerlei anderweite Merkzeichen, so sieht man meist nicht nur das wirklich bewegte Object in Bewegung, sondern leicht auch das benachbarte unbewegte und zwar dieses in entgegengesetzter Richtung; das sichtbare Wachsen des Abstandes der beiden Objecte wird also auch hier nicht ausschliesslich auf das bewegte Object, sondern zum Theil auf das unbewegte bezogen.\nHierher geh\u00f6rt eine von Helmholtz 1 gemachte Beobachtung. \u201eMan ziehe auf einem Papier eine lange gerade Linie A, und bewege eine Spitze, welche man immer fixirt, in Richtung einer zweiten geraden Linie B, welche die erste unter einem sehr kleinen Winkel schneidet. Die zweite gerade Linie braucht nicht gezeichnet zu sein ; doch schadet es auch nicht, wenn sie wirklich sichtbar gezogen wird. Wenn man der bewegten Spitze mit dem Blicke folgt, so scheint dabei die gerade Linie A auf dem Papier eine Bewegung gegen die Nadelspitze hin oder von ihr weg zu machen, je nachdem sich die Nadel ihr n\u00e4hert oder von ihr entfernt. Das Bild der Linie A verschiebt sich dabei auf der Netzhaut theils parallel sich selbst, theils in Richtung der Breite. Die erstere Bewegung wird wenig oder gar nicht bemerkt, wenn die Linie lang ist und keine deutlich gezeichneten Merkpunkte besitzt ; die zweite Bewegung senkrecht zu ihrer L\u00e4nge wird dagegen desto deutlicher bemerkt,\n\u201eDabei scheint auch die Richtung der Linie A ver\u00e4ndert, und zwar so, dass der Winkel, den sie mit der Linie B macht, in dei sich die Spitze bewegt, vergr\u00f6ssert erscheint. Das letztere erkennt man am besten, wenn man eine gerade Linie a b (Fig. 59) zieht, und eine Spitze eines Zirkels so auf das Papier aufsetzt, dass die andere sich in dem Bogen c d e hin und herbewegen kann. Wenn man dann dieser beweglichen Spitze mit dem Auge folgt, so scheint\n1 Helmholtz 1. c. S. 568.","page":558},{"file":"p0559.txt","language":"de","ocr_de":"Scheinbewegung.\n559\ndie Linie a b sich abw\u00e4rts zu bewegen so lange man die Zirkelspitze von c nach d gehen l\u00e4sst, aufw\u00e4rts wenn sie von d nach c gebt. Gleichzeitig erh\u00e4lt die ganze Linie a b scheinbar eine Richtung wie f g, so lange sich der Blick des Beobachters der Spitze\nFi\u00e7. 59 (nach Helmholtz).\nfolgend l\u00e4ngs c d bewegt, und eine Richtung wie h ?, wenn er sich zwischen d und e bewegt. W\u00e4hrend man bei der Bewegung von c nach e durch den h\u00f6chsten Theil des Bogens bei d hindurchgeht, ver\u00e4ndert die Linie a b deutlich ihre Richtung.\u201c\nDa hiernach, wenn die Blickbahn eine Linie des Gesichtsfeldes schiefwinklig durchkreuzt, der schiefe Winkel falsch gesehen wird, so erkl\u00e4rt Helmholtz hieraus die von ihm gefundene Thatsache, dass die T\u00e4uschung, welche das S. 37 3 abgebildete Zollner\u2019scIic Muster und \u00e4hnliche Figuren erzeugen, gr\u00f6sser ist, wenn man sie mit bewegtem Blicke als wenn man sie bei fester Fixirung oder bei Momentanbeleuchtung ansieht. Helmholtz identificirt also die blosse Bewegung des Blickpunktes mit der ob-jectiven Bewegung der Spitze. Ebenso erkl\u00e4rt er die eigenthiimliche Unruhe, in welche die Einzeltheile des Z\u00f6llner\u2019scIien Musters zu gerathen scheinen, wenn man den Blick dar\u00fcber hinf\u00fchrt. Insoweit aber auch bei ruhendem Blicke schiefe Winkel noch falsch gesehen werden (vgl. S. 373), giebt Helmholtz daf\u00fcr eine Erkl\u00e4rung, welche ebenso wie die von Z\u00f6llner 1 gegebene auf der Annahme einer rein psychischen Contrastwirkung gegr\u00fcndet ist. (Yergl. auch Cap. XIII.)\nWenn sich ein mit Punkten und Linien versehenes Object hinter einem Spalte vorbeibewegt, so dass man immer nur einen Theil des Objectes sieht, so kann man seine Gr\u00f6sse in der Richtung der Bewegung nur aus der Dauer und Geschwindigkeit der sichtbaren Bewegung seiner Einzelpunkte sch\u00e4tzen, wobei grosse Fehler derart begangen werden, dass man jene Gr\u00f6sse bei zu langsamer Bewegung meist \u00fcbersch\u00e4tzt, bei zu schneller untersch\u00e4tzt. Z\u00f6llner1 2 schnitt in etwas steifes dunkles Papier einen Spalt von ungef\u00e4hr 2 mm. Breite und 40 mm. L\u00e4nge, zeichnete ferner auf weissem steifen Papier mit breiten und schwarzen Conturen einfache Figuren, z. B. einen Kreis oder ein Quadrat, und schob dieselben dicht hinter dem Spalte und senkrecht zur Richtung desselben schnell hin und her.\n1\tZ\u00f6llner, Annal, d. Physik u. Chemie CX. S. 500. 1860 u. CX1Y. S. 587. 1861. Ueber die Natur der Kometen. S. 378. Leipzig 1872.\n2\tDerselbe, Annal, d. Physik u. Chemie CXVII. S. 477. 1862.","page":559},{"file":"p0560.txt","language":"de","ocr_de":"560 Hering, Physiol. Optik IY. 12. Cap. Die Localisirung bei bewegtem Blicke.\nDann sah er ein Zerrbild und zwar bei einer gewissen Gr\u00f6sse der Bewegung eine Verk\u00fcrzung der Dimensionen in der Richtung der Bewegung, so dass z. B. ein Kreis als Ellipse erschien, deren kleine Axe in der Bewegungsrichtung lag. Die Augen Z\u00f6llners f\u00fchrten dabei, wie ein zweiter Beobachter constatirte, kleine Bewegungen aus. Eine Verzerrung im entgegengesetzten Sinne fand Helmholtz 1 bei Wiederholung des Versuches, wenn der Kreis langsam hinter dem Spalte verschoben wurde, was er daraus erkl\u00e4rt, dass wegen des Falschsehens der schiefen Winkel die Einzeltheile der Kreislinie so gegen den Spalt geneigt erscheinen, wie in Wirklichkeit die Einzeltheile einer querliegenden Ellipse geneigt sein w\u00fcrden. Sorgt man mittels einer Marke an der Grenzlinie des Spaltes f\u00fcr ganz feste Fixirung, so ist die letztere Art der Verzerrung leicht zu beobachten, w\u00e4hrend die erstere nach Z\u00f6llner jetzt nur in einzelnen F\u00e4llen noch bemerklich ist. Es beruht dies darauf, dass durch die Geschwindigkeit der Bewegung die Auffassung der Einzeltheile des Bildes erschwert und durch das Nachklingen der Erregung auf der Netzhaut das Bild selbst verwischt wird. Zum Gelingen des Versuchs bei fester Fixirung geh\u00f6rt \u00fcberhaupt immer, dass man erstens die Richtung der Bewegung des Objectes erkennt, was selbstverst\u00e4ndlich ist, wenn man sie selbst mit der Hand hervorbringt, und zweitens, dass die successiv gesehenen Bruchst\u00fccke der Figur derart sind, dass sich die ganze Figur daraus reconstruiren l\u00e4sst. Je gr\u00f6sser z. B. das jeweilig gesehene Bruchst\u00fcck einer Kreislinie ist, desto leichter ist die Reconstruction. Ist der Spalt zu schmal, so sieht man nur schwarze Punkte in ihm auf- und ablaufen.\nBewegt man umgekehrt den Spalt sehr langsam dicht vor der ruhenden Figur vor\u00fcber, w\u00e4hrend man ersterem mit dem Blicke folgt, so sieht man wieder eine Ellipse, deren grosse Axe in der Richtung der Bewegung liegt. Bewegt man den Spalt rasch auf der ruhenden Figur hin und her, und gelingt es, dem Spalte mit dem Blicke zu folgen, so tritt die entgegengesetzte Verzerrung ein.\nWenn man den Spalt zu rasch bewegt, so dass man mit dem Blicke nicht folgen kann, sieht man den Kreis weniger verzerrt und um so richtiger, je ruhiger das Auge gehalten und je rascher der Spalt bewegt wird, was lediglich eine Folge der Nachdauer der Erregung ist.\nBewegt man endlich den Spalt und die Figur gleichzeitig aber in entgegengesetzter Richtung, so erscheint die Figur in der Richtung\n1 Helmholtz 1. c. S. 695.","page":560},{"file":"p0561.txt","language":"de","ocr_de":"Anorthoskopie.\n561\nder Bewegungen stark verk\u00fcrzt, um so mehr, je rascher die Bewegung ist, eine Erscheinung, die zuerst Plateau 1 beschrieben und mit H\u00fclfe zweier hintereinander liegenden und in entgegengesetzter Richtung rotirenden Scheiben demonstrirt hat, deren hintere die Figuren tr\u00e4gt, w\u00e4hrend die vordere einen radial gestellten Spalt hat. Dieser Apparat ist unter dem Namen Anorthoskop bekannt.1 2 3 Die T\u00e4uschung l\u00e4sst sich am besten an folgendem von Z\u00f6llner (1. c.) mitgetheilten Schema erl\u00e4utern.\nEs m\u00f6ge sich auf einem Streifen AB (Fig. 60) eine Reihe gleichweit abstehender Punkte a, b, c, d, e befinden. Dicht \u00fcber diesem Strei-\nFig. 60 (nach Z\u00f6llner).\nfen werde ein andrer Streif CD mit einem Spalt in der Richtung der Pfeile hin und her geschoben. Bleibt dabei der Streifen AB in Ruhe, so wird man die einzelnen Punkte der Reihe nach erblicken. Ist die Bewegung des Spaltes so schnell, dass die Zeit, welche er gebraucht, um von a bis e zu gelangen, kleiner ist als die Nachdauer der durch die Momentbilder der Punkte ausgel\u00f6sten Netzhauterregung, so wird man die Punkte nicht mehr nacheinander, sondern gleichzeitig nebeneinander und in richtigem gegenseitigen Abstande sehen. Anders verh\u00e4lt es sich bei gleichzeitiger Bewegung der Punkte in entgegengesetzter Richtung. Man sieht dann, je nach der Gr\u00f6sse dieser Bewegung, die Punkte n\u00e4her zusammenger\u00fcckt, weil diesen-falls der Eindruck ganz derselbe sein muss, wie wenn die Punkte zwar ruhten, aber entsprechend n\u00e4her aneinander ger\u00fcckt w\u00e4ren.\nBei dem oben beschriebenen Versuche Z\u00f6llners, bei welchem nur die Figur rasch bewegt wurde, wird, wie Helmholtz 3 meint, die Bewegung des Spaltes einigermaassen ersetzt durch Bewegungen der Augen ; \u201eder optische Eindruck ist hierbei derselbe, als ob der Spalt sich in entgegengesetzter Richtung wie das Auge bewegte, also auch entgegengesetzt dem bewegten Bilde\u201c, und hieraus ergiebt sich, ganz wie im Anorthoskop, eine scheinbare Verk\u00fcrzung der Figur.\nWenn man l\u00e4ngere Zeit die vor\u00fcberziehenden Wellen eines\n1\tPlateau. Annal, d. Physik und Chemie XXXVII. S. 464. 1836.\n2\tUeber verschiedene Formen und die Theorie des Anorthoskops vergl. Helmholtz, Physiol. Optik S. 352.\n3\tHelmholtz, Physiol. Optik S. 605.\nHandbuch der Physiologie. Bd. ni.\n36","page":561},{"file":"p0562.txt","language":"de","ocr_de":"562 Hering, Physiol. Optik IY. 12. Cap. Die Localisirung bei bewegtem Blicke.\nStromes oder das herabst\u00fcrzende Wasser eines Wasserfalles beobachtet, oder aus einem nicht allzurasch fahrenden Eisenbahnwagen auf die n\u00e4chst der Bahn liegenden, scheinbar vor\u00fcberfliegenden Dinge geblickt hat, und man richtet dann die Augen auf einen ruhenden Gegenstand, z. B. den Weg oder den Boden des Wagens, so sieht man hier eine schwache Bewegung, welche der zuvor gesehenen entgegengesetzt ist. Arretirt man ein Kymographion, nachdem man l\u00e4ngere Zeit das Entstehen der Curve beobachtet hat, so scheint die Trommel eine Zeit lang r\u00fcckw\u00e4rts zu laufen. Diese von Purkinje 1 und Plateau2 beschriebene, von Oppel3 und Dvorak4 weiter untersuchte Art der Scheinbewegung kann durch jede beliebige, l\u00e4ngere Zeit in gleicher Weise andauernde Bewegung der Netzhautbilder von nicht zu grosser oder kleiner Geschwindigkeit erzeugt werden. Mittels Papierstreifen, welche \u00fcber Walzen gehen, oder mittels rotirender Scheiben, auf denen zahlreiche Linien oder Punkte angebracht sind, kann man alle m\u00f6glichen Modificationen der Erscheinung herbeif\u00fchren. Um dieselbe ganz rein zu erhalten, hat man f\u00fcr gute Fixirung des Blickes zu sorgen (Oppel).\nDie Scheinbewegung ist immer an der Stelle des Sehfeldes localisirt, an welcher zuvor das bewegte Object erschien, und beruht also auf einer localen Reaction des Sehorganes gegen die vorangegangene Erregung. Fand die Bewegung nur in der einen H\u00e4lfte des Sehfeldes statt, so zeigt sich auch nachher die Scheinbewegung nur in dieser H\u00e4lfte. War die gesehene Bewegung in einem Theile des Sehfeldes rascher als im anderen, so ist auch die Scheinbewegung im ersteren rascher als im letzteren, war sie in einem Theile des Sehfeldes anders gerichtet als im anderen, so gilt das auch von der Scheinbewegung.\nZeichnet man nach Plateau auf eine Scheibe eine tom Centrum ausgehende Spirale und setzt die Scheibe in Rotation, so erh\u00e4lt man bei der einen Richtung der Drehung den Eindruck, als ob die Scheibe mit Kreisen bedeckt sei, welche aus der Mitte entstehend immer gr\u00f6sser werden, um schliesslich an der Peripherie zu verschwinden. Im Netzhautbilde findet dabei eine centrifugale Bewegung der Einzeltheile der Spirale statt. Blickt man nach l\u00e4ngerer Fixirung der Scheibenmitte auf eine Druckschrift oder dergl., so sieht man an der entsprechenden Stelle eine centripetale, nach dem Blickpunkte ge-\n1\tPurkinje, Medic. Jahrb\u00fcch. d. \u00f6sterr. Staates YI. 2. St\u00fcck. S. 96. 1820.\n2\tPlateau. Annal, d. Physik u. Chemie LXXX. S. 289. 1850.\n3\tOppel, ebenda XCIX. S..540. 1856.\n4\tDvorak, Sitzgsber. d. Wiener Acad. 2. Abth. LXI. S, 257.1870.","page":562},{"file":"p0563.txt","language":"de","ocr_de":"Scheinbewegung.\n563\nrichtete Bewegung der Buchstaben ; betrachtet man das Gesicht eines Menschen, so scheint dasselbe zusammenzuschrumpfen und sich zu entfernen. Hatte man die Scheibe entgegengesetzt gedreht, wobei die scheinbaren Kreise auf der Scheibe fortw\u00e4hrend schrumpfen und im Centrum verschwinden, so sieht man nachher eine centrifugale Scheinbewegung, und ein betrachtetes Gesicht scheint sich zu ver-gr\u00f6ssern und n\u00e4her zu kommen. Legt man, wie Dvorak that, auf eine grosse weisse Scheibe mit einer Spirale eine kleinere con-centrische mit einer entgegengesetzt laufenden Spirale, auf diese etwa noch eine dritte, noch kleinere, mit einer der ersten gleichlaufenden Spirale und auf das gemeinschaftliche Centrum aller Scheiben einen kleinen schwarzen Kreis, fixirt w\u00e4hrend der Drehung fest den letzteren, und sieht nachher auf einen weissen lineirten Schirm, so erscheint auf demselben das dunkle Nachbild der Scheibe in drei theils schrumpfende, theils schwellende Ringe getheilt.\nNach fester Fixirung des Mittelpunktes einer mit radialen Linien versehenen langsam rotirenden Scheibe scheint das nachher betrachtete Object sich in entgegengesetzter Richtung um den fixirten Punkt zu drehen. Betrachtet man nach l\u00e4ngerer Fixirung eines bewegten Objectes ein anderes bewegtes, so ergiebt sich nach Kleiner 1 unter Umst\u00e4nden aus der Bewegung des letzteren und der Scheinbewegung eine Bewegung in der Richtung der Resultirenden.\nJoh. M\u00fcller suchte diese Scheinbewegungen durch die Annahme zu erkl\u00e4ren, dass die Nachbilder der bewegten Objecte in derselben Reihenfolge nach einander verschwinden, wie sie entstanden sind.\nMerkw\u00fcrdige Angaben \u00fcber die scheinbare Bewegung des Nachbildes bewegter Objecte, welches durch nur momentane Betrachtung der Objecte erzeugt war, hat Engelmann1 2 gemacht.\nWir haben in diesem Capitel keinerlei R\u00fccksicht genommen auf die Localisirung bei selbst\u00e4ndiger activer Bewegung des Kopfes oder des ganzen K\u00f6rpers. Nur in so weit Kopfbewegungen sich den Augenbewegungen associiren und also durch Blickbewegungen eingeleitet werden, sind sie ber\u00fccksichtigt worden. Von diesen Bewegungen sind jene zu unterscheiden, welche nicht behufs der Blickbewegung ausgef\u00fchrt werden, sondern deren Zweck die Locomotion des Kopfes oder des ganzen K\u00f6rpers ist. Ihr Einfluss auf die optische Localisirung w\u00e4re Sache einer besonderen Untersuchung, die\" vielmehr in die Lehre vom Raumsinn \u00fcberhaupt als in die Lehre vom Raumsinn des Auges geh\u00f6rt. Nur die Loca-\n1\tKleiner, Arch. f. d. ges. Physiol. XVIII. S. 573.1878.\n2\tEngelmann, Jenaische Ztschr. f. Med. u. Naturw. III. S. 443.1867.\n36*","page":563},{"file":"p0564.txt","language":"de","ocr_de":"564; Hering, Physiol. Optik IY. 13. Cap. Der Einfluss der Erfahrungsmotive.\nlisirung bei vorw\u00e4rts oder r\u00fcckw\u00e4rts geneigtem Kopfe und horizontaler Blickebene wurde besprochen, weil die dabei stattfindende Abweichung der queren Mittelschnitte von der Blickebene die Gesetze der Localisi-rung in instructiver Weise erl\u00e4utert.\nFerner wurde hier verzichtet auf die Er\u00f6rterung der Compensations-bewegungen der Augen, wie sie bei den selbst\u00e4ndigen Kopf- und K\u00f6rperbewegungen eintreten, weil dieselben ohne eingehende Ber\u00fccksichtigung des Gleichgewichtssinnes nicht besprochen werden k\u00f6nnen. Nur mit den parallelen Rollungen der Augen bei seitlicher Neigung des Kopfes haben wir deshalb eine Ausnahme gemacht, weil dieselben ein besonderes Licht werfen auf die Function der Augenmuskeln und auf die mechanischen Bedingungen der Augenbewegung nach Listing\u2019s Gesetz. Ueber andere Compensationsbewegungen vergleiche insbesondere Breuer 1 ; \u00fcber Loca-lisirung bei ungew\u00f6hnlicher Kopfhaltung Aubert1 2, Donders3 und S. 584.\nDREIZEHNTES CAPITEL.\nDer Einfluss der Erfalmmgsmotive auf die Localisirung.\nWir waren bei den bisher beschriebenen Versuchen meist bestrebt, Bedingungen herzustellen, unter welchen das Vorwissen der Lage und Anordnung der gesehenen Dinge und das Localisiren auf Grund der Erfahrung m\u00f6glichst ausgeschlossen war. Dass der vollst\u00e4ndige Ausschluss der Erfahrungsmotive undenkbar ist, wird allgemein anerkannt, und die folgenden Er\u00f6rterungen werden dies nur bekr\u00e4ftigen k\u00f6nnen. Wo die Grenze zwischen Angeborenem und Erworbenem liegt, wissen wir nicht. Aber es scheint unzul\u00e4ssig, anzunehmen, dass die r\u00e4umlichen Eigenschaften der Empfindungen und ihre Localisirung einzig und allein das Product der Erfahrung sind, einerseits weil viele neugeborne Thiere das Gegentheil direct erweisen, und nicht anzunehmen ist, dass der neugeborne Mensch sich in dieser Beziehung anders als nur graduell von den Thieren unterscheide; andrerseits weil Gesichtsempfindungen ohne alle r\u00e4umliche Eigenschaften etwas Unfassbares sind. Einen Versuch, alles R\u00e4umliche der Gesichtsempfindung aus der Erfahrung abzuleiten, hat Helm-\n1\tBreuer, Wiener medicin. Jahrb. I. Heft 1874 und I. Heft 1875.\n2\tAubert, Physiol, d. Netzhaut S. 275.\n3\tDonders bei Mulder, Arch. f. Ophthalmologie XXL (1) S. 109.1875.","page":564},{"file":"p0565.txt","language":"de","ocr_de":"Reproductionsverm\u00f6gen des Sehorgans.\n565\nholtz gemacht, w\u00e4hrend Joh. M\u00fcller die H\u00f6hen- und Breitenwerthe der Netzhautstelle als angeboren annahm und Hering diese Annahme auch auf die Tiefenwerthe ausdehnte.1 Dass mit der Annahme an-geborner Raumwerthe nicht gesagt ist, der Neugeborne localisire schon, wie der Erwachsene, bedarf kaum der Erw\u00e4hnung.\nI. Der Einfluss der Erfahrung im Allgemeinen.\nDie Physiologie muss annehmen, dass jede Gesichtsempfindung nach Form und Qualit\u00e4t bedingt und getragen ist von einem im Sehorgane stattfindenden ganz besonderen, nur dieser Empfindung entsprechenden materiellen Processe, welcher ihr physisches Corr\u00e9l\u00e2t ist. G\u00e4be es Empfindungen (Vorstellungen, Wahrnehmungen), welche kein physisches Correlat haben, so k\u00f6nnten dieselben kein Gegenstand physiologischer Betrachtung sein. Wird jener sogenannte psychophysische Process wie gew\u00f6hnlich durch die auf die Netzhaut fallenden Lichtstrahlen ausgel\u00f6st, so ist seine Art nicht bloss abh\u00e4ngig von der Art des Reizes, sondern auch von der Beschaffenheit des ganzen nerv\u00f6sen Apparates, welcher dem Sehorgan zugeh\u00f6rt, und von dessen jeweiligem allgemeinen und localen Zustande, der sich als Stimmung desselben bezeichnen l\u00e4sst; daher ein und derselbe Reiz je nach der Beschaffenheit und der Stimmung dieses Apparates sehr verschiedene Empfindungen ausl\u00f6sen kann.\nDie Beschaffenheit des Nervenapparates ruht selbstverst\u00e4ndlich im Wesentlichen auf angeborner Grundlage; aber die Gesammtheit der im Laufe des Lebens auf ihn theils unter Vermittlung der Augen theils auf andern Wegen einwirkenden Reize ist mitbedingend f\u00fcr seine weitere Entwicklung; oder anders ausgedr\u00fcckt: die unwillk\u00fcrliche und die willk\u00fcrliche Erfahrung und Ein\u00fcbung haben mitbestimmenden Einfluss auf die materielle Beschaffenheit des nerv\u00f6sen Sehorganes und darum auch auf seine Function und insbesondere auf die Art, wie es auf das Netzhautbild als \u00e4usseren Reiz reagirt.\nDass Erfahrung und Ein\u00fcbung f\u00fcr das Sehorgan \u00fcberhaupt m\u00f6glich sind, beruht auf dem Reproductionsverm\u00f6gen (Ged\u00e4chtniss) seiner nerv\u00f6sen Substanz. Jede bestimmte Th\u00e4tigkeit des Organes macht es zur Wiederholung eben derselben Th\u00e4tigkeit geeigneter, daher immer leichtere Anst\u00f6sse gen\u00fcgen, um es zur Reproduction derselben zu veranlassen. Wir k\u00f6nnen sagen, das Organ gew\u00f6hnt sich an be-\n1 vergl. auch Stumpf, Ueber den physiologischen Ursprung der Raumvorstel-lung. Leipzig 1873.","page":565},{"file":"p0566.txt","language":"de","ocr_de":"566 Hering, Physiol. Optik IY. 13. Cap. Der Einfluss der Erfahrungsmotive.\nstimmte oft wiederholte Th\u00e4tigkeiten. Auf die Art oder den Inhalt dieser Gew\u00f6hnung kann unser Wille einen bestimmenden Einfluss aus\u00fcben. Wir verm\u00f6gen willk\u00fcrlich aus der Menge der in unser Bewusstsein tretenden Empfindungen einzelne gleichsam heraus zu greifen und festzuhalten, und wir nennen diesen, auf die Auswahl einzelner Empfindungen gerichteten Willen die Aufmerksamkeit. Die durch die Aufmerksamkeit beg\u00fcnstigte Empfindung gr\u00e4bt gleichsam tiefere Spuren und l\u00e4sst gr\u00f6ssere Geneigtheit zur Reproduction zur\u00fcck, als die nicht so deutlich und dauernd ins Bewusstsein gebrachte Empfindung. Wir k\u00f6nnen ferner willk\u00fcrlich das Auge zur Reproduction gewisser Empfindungen zwingen, indem wir es wieder demselben \u00e4usseren Reize aussetzen. Endlich verm\u00f6gen wir, eine wenn auch schwache und nur bei Einzelnen energischere Reproduction einer gehabten Empfindung nach Form und Qualit\u00e4t ohne Mith\u00fclfe des entsprechenden \u00e4usseren Reizes absichtlich herbeizuf\u00fchren ; diese nennen wir ein gewolltes Erinnerungsbild. Wenn die Empfindungen, welche dieses Erinnerungsbild zusammensetzen, nur schwache, gleichsam abgeblasste und d\u00e4mmerhafte sind, bezeichnet man sie gew\u00f6hnlich als willk\u00fcrliche Gesichts Vorstellungen; wenn sie sich aber bis zur vollen Kraft der sonst nur durch den \u00e4usseren Reiz aufgel\u00f6sten Empfindung entwickeln, heissen sie willk\u00fcrliche Phantasmen oder willk\u00fcrliche Hallucinationen. Dieselben k\u00f6nnen mehr oder weniger getreue Reproductionen, oder aber neue Combinationen fr\u00fcher stattgehabter Empfindungscomplexe sein.\nGanz dasselbe, wie die gewollten Erinnerungsbilder, sind dem Wesen wenn auch nicht der Veranlassung nach die unwillk\u00fcrlich ins Bewusstsein tretenden Erinnerungsbilder. Bestehen sie aus sehr schwachen Empfindungen, so heissen sie unwillk\u00fcrliche Gesichts-Vorstellungen; sind sie aber aus Empfindungen von derselben Deutlichkeit und Eindringlichkeit zusammengesetzt, welche den durch die Netzhautbilder erzeugten Empfindungen eigen ist, und sind sie nach Form und Qualit\u00e4t getreue Reproductionen fr\u00fcherer, durch Netzhautbilder erweckter Empfindungen, so nennt man sie nach Fechner B i 1 d e r des Sinnen g ed\u00e4chtnisses; treten sie krankhafter Weise, insbesondere im Delirium auf, so heissen sie, gleichviel ob sie getreue Reproductionen des fr\u00fcher Empfundenen sind oder aus neuen Combinationen fr\u00fcherer Empfindungen bestehen, unwillk\u00fcrliche Gesichts-Hallucinationen. Treten sie endlich im Schlafe auf, so nennt man sie Traumbilder. Eine scharfe Grenze zwischen diesen, hier in besondere Gruppen gebrachten und","page":566},{"file":"p0567.txt","language":"de","ocr_de":"Die Reproducte des Sehorgans.\n567\nmit besondern Namen bezeiehneten Erscheinungen l\u00e4sst sich nicht ziehen; vielmehr lassen sich allenthalben Ueberg\u00e4nge aufweisen, welche man je nach Belieben der einen oder der andern Gruppe zuweisen kann. Alle haben das Gemeinsame, dass sie aus mehr oder minder schwachen oder lebhaften Empfindungen zusammengesetzt sind, welche entweder nach Form und Anordnung fr\u00fcheren Anschauungsbildern entsprechen, oder neue Gruppirungen einzelner Bestandtheile fr\u00fcherer Anschauungsbilder darstellen.\nDie Thatsache, dass \u00fcberhaupt Reproductionen fr\u00fcherer Empfin-dungscomplexe ohne das entsprechende Netzhautbild m\u00f6glich sind, gibt uns den Beweis f\u00fcr die oben aufgestellte Behauptung, dass die Empfindungen oder vielmehr die ihnen entsprechenden psychophysischen Processe Spuren im nerv\u00f6sen Apparat zur\u00fccklassen, und dass der letztere durch den Process der Empfindung selbst eine wenn auch noch* so geringe nachdauernde Aenderung erleidet, welche sich durch eine erh\u00f6hte Disposition zur Wiederholung desselben Processes und somit auch der entsprechenden Empfindung verr\u00e4th. Den kr\u00e4ftigsten Anreiz zur Wiederholung eines und desselben Processes gibt nun offenbar die Wiederholung desselben Netzhautbildes. Aber das zweite Netzhautbild, welches dem ersten ganz gleich sein kann, bringt jetzt einen Apparat in Th\u00e4tigkeit, der schon nicht mehr genau derselbe ist, welchen das erste Netzhautbild vorfand; und w\u00e4re auch das zweite Mal die durch das Netzhautbild ausgel\u00f6ste Reaction des Nervenapparats nur \u00e4usserst wenig verst\u00e4rkt, und die Empfindung entsprechend nur um ein sehr Kleines lebhafter, so m\u00fcssten wir doch zugestehen, dass sie nicht mehr genau dieselbe ist, trotz der Gleichheit der Reize d. h. der Netzhautbilder. Gesetzten Falles nun, die Aufmerksamkeit hat sich beim erstmaligen Auftreten des durch ein bestimmtes Netzhautbild ausgel\u00f6sten Empfindungscomplexes nur gewissen Theilen desselben vorwiegend zugewandt, so werden bei der Wiederholung desselben diese Theile trotz der Gleichheit des Reizes st\u00e4rker reproducirt, und wenn sich dies hundertfach wiederholt, so wird die Ungleichheit der Energie, mit welcher die einzelnen Theile jenes Empfindungscomplexes ins Bewusstsein treten, immer gr\u00f6sser werden m\u00fcssen.\nEs ist nun nach dem jetzigen Stande unseres Wissens nicht zul\u00e4ssig, zu behaupten, dass beim erstmaligen wie beim letztmaligen Auftreten jenes Netzhautbildes genau dieselben reinen Empfindungen ausgel\u00f6st w\u00fcrden, dass sie aber das letzte Mal in Folge der Ein\u00fcbung oder Erfahrung etwas anders ausgelegt, zu einem etwas andern Anschauungsbilde verarbeitet w\u00fcrden wie das erste Mal. Denn","page":567},{"file":"p0568.txt","language":"de","ocr_de":"568 Hering, Physiol. Optik IV. 13. Cap. Der Einfluss der Erfahrungsmotive.\ngegeben ist uns nur einerseits das Netzhautbild und das ist beiden-falls dasselbe, und anderseits der ausgel\u00f6ste Empfindungscomplex, und der ist beide Male verschieden ; von einem Dritten, n\u00e4mlich einer zwischen Netzhautbild und Anschauungsbild als Wahrnehmung eingeschobenen reinen Empfindung wissen wir nichts. Wir k\u00f6nnen also, wenn wir jede Hypothese vermeiden wollen, nur sagen, dass der nerv\u00f6se Apparat auf denselben Reiz das letzte Mal anders reagirt als das erste Mal, und dass dem entsprechend auch der entsprechende Empfindungscomplex verschieden ist.\nEbenso unbewiesen ist die Annahme, dass die sogenannte reine Empfindung in der Netzhaut, das daraus gestaltete Anschauungsbild oder die Gesiehtsvorstellung im Gehirn erzeugt werde. Ist die psychophysische Substanz, an deren Ver\u00e4nderungen die bewussten Ph\u00e4nomene des Gesichtssinnes gekn\u00fcpft sind, auf das Gehirn beschr\u00e4nkt, so kann in der Netzhaut keine Empfindung erzeugt werden, sondern nur ein, unserm Bewusstsein g\u00e4nzlich entzogener Vorgang in der Nervensubstanz der Netzhaut, der nun seinerseits erst den entsprechenden psychophysischen Process im Gehirn ausl\u00f6st. Erstreckt sich aber die psychophysische Substanz bis in die Netzhaut hinein, so l\u00e4sst sich bis jetzt \u00fcber ihren An-theil an der Herstellung der Empfindung nichts sagen, weil sich mit dem psychophysischen Processe der Netzhaut unausbleiblich der des Gehirnes verbindet, und die Empfindung als das gemeinschaftliche Erzeugnis beider Organe, oder als einheitliches Correlat des auf Netzhaut und Hirn vertheilten Processes ins Bewusstsein tritt und sich nicht in einen der Netzhaut angeh\u00f6renden und einen dem Hirne zugeh\u00f6rigen Theil aufl\u00f6sen l\u00e4sst. Dass nach Verlust der Aug\u00e4pfel noch Gesichtsempfindungen Vorkommen, ist erwiesen, dass aber, so lange die Aug\u00e4pfel da sind, die Netzhaut nicht ein Theil der psychophysischen Substanz des Sehorgans sei, ist nicht erwiesen, wenn auch denkbar.\nAber nicht bloss bei Wiederholungen desselben Netzhautbildes macht sich die mit der Zahl der Wiederholungen gesteigerte Neigung zur Reproduction geltend, sondern auch bei Netzhautbildern, welche den fr\u00fcher oftmals aufgetretenen nur \u00e4hnlich sind. Aehnlichkeit besteht in theilweiser Gleichheit. Ein sp\u00e4teres, dem fr\u00fcheren \u00e4hnliches Netzhautbild wird also f\u00fcr diejenigen Theile, welche beiden Netz* hautbildern gemeinsam sind, gleichsam st\u00e4rkeren Anklang im Nervenapparat finden, als f\u00fcr die \u00fcbrigen Theile. Hierauf beruht es, dass die Reproduction meist eine elective ist; denn die st\u00e4rker anklingenden Theile des Netzhautbildes l\u00f6sen vergleichsweise kr\u00e4ftigere Empfindungen aus, als die \u00fcbrigen Theile. Dies kann dazu f\u00fchren, dass letztere ganz \u00fcbersehen und f\u00fcr die Anschauung gleichsam eliminirt werden. Ja es k\u00f6nnen sogar an Stelle dieser durch Election elimi-nirten Empfindungen ganz andere Empfindungen treten, die dem","page":568},{"file":"p0569.txt","language":"de","ocr_de":"Elective, eliminirende und erg\u00e4nzende Reproduction.\n569\n\u00e4usseren Reize nicht entsprechen. Ein Empfindungscomplex n\u00e4mlich, f\u00fcr welchen wegen h\u00e4ufiger Wiederholung des entsprechenden Netzhautbildes eine starke Neigung zur Reproduction im Nervenapparate besteht, wird leicht auch dann vollst\u00e4ndig reproducirt, wenn nicht das ganze Netzhautbild, sondern nur ein wesentlicher Theil desselben wiederkehrt. Diesenfalls treten also theilweise Empfindungen ein, welchen im Netzhautbilde kein zugeh\u00f6riger Reiz entspricht, sondern welche ihr Entstehen einzig und allein dem Re-productionsverm\u00f6gen des Nervenapparats verdanken. Dies ist die erg\u00e4nzende Reproduction.\nSo gen\u00fcgen einige wenige Punkte und unzusammenh\u00e4ngende Striche, um uns das Abbild eines menschlichen Gesichts erscheinen zu lassen, und wir bemerken ohne besonders darauf gerichtete Aufmerksamkeit nicht, dass wir dabei Manches sehen, was gar nicht auf dem Papier verzeichnet ist. Durchmustern wir freilich die Zeichnung aufmerksam, so finden wir, dass stellenweise die Umrisse fehlen, die wir anfangs thats\u00e4chlich sahen. Dieses wirkliche Sehen von etwas, dem im Netzhautbilde nichts entspricht, das vielmehr eine durch Reproduction entstandene Zuthat unseres Nervenapparates bildet, ist im Wesentlichen dasselbe, was man, wenn es krankhafter Weise sehr stark entwickelt auftritt, als SinneSillusion bezeichnet.\nEs ist dabei nicht zu vergessen, dass es sich hier um eine wirklich sinnliche, d. h. aus deutlichen Empfindungen bestehende Illusion handelt, nicht blos um eine Irrthumsillusion in Folge falschen Urtheils. Wenn ich eine ganz naturgetreu ausgef\u00fchrte Wachsfigur im ersten Augenblicke f\u00fcr einen wirklichen Menschen halte, so ist dies keine Sinnesillusion, sondern ein Irrthum. Wenn ich aber auf einem Oelgem\u00e4lde eine kleine menschliche Figur mit mancherlei Einzelheiten sehe, welchen letzteren bei genauerer Musterung in den wenigen Farbenklexen auf der Leinwand zum Theil gar nichts entspricht, so ist das Sehen dieser in Wirklichkeit nicht vorhandenen Einzelheiten eine Sinnesillusion. Da sich in den verschiedensten Netzhautbildern im Grunde immer wieder dieselben Einzelheiten, nur in verschiedener Zusammensetzung und Gruppirung, wiederholen, so sind solche auf erg\u00e4nzender Reproduction beruhende subjective Zuthaten etwas sehr Gew\u00f6hnliches.\nDie durch erg\u00e4nzende Reproduction hinzugekommenen Theile des Empfindungscomplexes beruhen aber ebenso wie dessen \u00fcbrige Theile, auf einer wenn auch mehr indirecten Reaction des Nervenapparates gegen das Netzhautbild und so lange sie da sind, k\u00f6nnen wir sie eben auch als Empfindungen bezeichnen, denn sie unterscheiden sich w\u00e4hrend ihres Bestehens in Nichts von den Empfindungen, welchen im Netzhautbilde ein wirklicher Reiz entspricht. Dagegen ist","page":569},{"file":"p0570.txt","language":"de","ocr_de":"570 Hering, Physiol. Optik IY. 13. Cap. Der Einfluss der Erfahrungsmotive.\nThatsache, dass sie h\u00e4ufig nicht best\u00e4ndig sind, und dass sich viele derselben durch strengere Aufmerksamkeit beseitigen lassen; aber es ist nicht erweislich, dass dies bei allen m\u00f6glich ist.\nEbenso wie die Qualit\u00e4t der Gesichtsempfindungen wird die Form derselben und ihr Ort im Sehraum von dem Reproductionsverm\u00f6gen des Nervenapparates mit bestimmt. Beim Sehen mit nur einem Auge, wobei die Verschiedenheit der beiden Netzhautbilder die Anordnung der Sehdinge nach der Tiefendimension nicht mit bestimmen kann, ist die Vertheilung derselben nach der Tiefe sogar im Wesentlichen allein das Werk dieses Reproductionsverm\u00f6gens, also die Folge fr\u00fcherer Erfahrungen. Das undeutliche Netzhautbild einer nahe vor den Augen schwebenden Fliege kann im ersten Augenblicke das Bild eines grossen in der Ferne befindlichen Vogels zur Reproduction bringen, w\u00e4hrend im n\u00e4chsten Augenblicke schon das Bild einer kleinen Fliege entsteht, weil irgend eine Ver\u00e4nderung des Netzhautbildes oder ein Nebenumstand wie z. B. das Summen der Fliege die entsprechende Reproduction ausl\u00f6sen hilft.\nWenn eine gewisse Art der Localisation eines bestimmten Em-pfindungscomplexes dem Nervenapparate einmal zur anderen Natur geworden ist, so kann unser besseres Wissen, sowie Urtheil und Schluss meist nichts mehr daran \u00e4ndern. Wir haben schon oben bei Besprechung der Sehrichtung Beispiele daf\u00fcr anzuf\u00fchren gehabt. Es gibt gewisse Manieren, die Gesichtsempfindungen zu localisiren, welche nachweisbar auf Angew\u00f6hnung beruhen, weil sie eben nur bei denen sich finden, welchen diese Art der Angew\u00f6hnung durch ihren Beruf oder durch eine Anomalie ihres K\u00f6rpers, z. B. durch Ein\u00e4ugigkeit oder einen schiefen Hals geboten war. Man ist gleichwohl sp\u00e4ter nicht im Stande an der gewohnten Art der Localisirung, weil sie zu einem Zwange geworden ist, etwas zu \u00e4ndern, und zwar auch dann nicht, wenn man weiss, dass die Localisirung falsch ist.\nIn Wirklichkeit verschiedene Dinge k\u00f6nnen sehr \u00e4hnliche, manchmal nahezu gleiche Netzhautbilder geben, z. B. ein nach drei Dimensionen ausgedehnter Gegenstand und sein ebenes perspectivisches Bild. Solchenfalls h\u00e4ngt es oft von kleinen Zuf\u00e4lligkeiten, und insbesondere auch von unserem Willen ab, ob der eine oder der andere Empfindungscomplex ausgel\u00f6st wird. Hierbei kann nun wirklich durch Urtheile und Schl\u00fcsse bestimmend auf die Art der Empfindung, insbesondere auf ihre Form eingewirkt werden.\nMan kann ein Relief vertieft als die entsprechende Matrize sehen und umgekehrt; denn ein von links beleuchtetes Relief kann genau dasselbe Netzhautbild geben, wie seine von rechts beleuchtete Matrize.","page":570},{"file":"p0571.txt","language":"de","ocr_de":"Einfluss des Urtheils. Localisirtes Reproductionsverm\u00f6gen. 571\nBedenkt man dies aber, so wird man aus der Richtung des einfallenden Lichtes schliessen k\u00f6nnen, dass man ein Relief vor sich hat und die eintretende Vorstellung des Reliefs lenkt sofort die Th\u00e4tigkeit des Nervenapparats in die richtige Bahn, das Anschauungsbild des Reliefs wird pl\u00f6tzlich ausgel\u00f6st. Oder wir verschaffen uns durch den Tastsinn oder auf irgend welche andere Weise die Ueberzeugung von dem Vorhandensein des Reliefs.\nIn allen F\u00e4llen, wo das Netzhautbild derart ist, dass dem Nervenapparate zwei verschiedene Arten der Reaction sozusagen gleich oder nahezu gleich nahe liegen, muss es von kleinen Zuf\u00e4lligkeiten abh\u00e4ngen, ob die eine oder die andere Art der Reaction wirklich eintritt. Hier kann also auch unser auf anderweitem Wege gewonnenes Wissen entscheidend wirken und der richtigen Anschauung zum Siege verhelfen. Die blosse Vorstellung des Richtigen ist ja selbst schon eine schwache Reproduction, welche nun mit H\u00fclfe des zu ihr passenden Netzhautbildes sich zu deutlicher und lebhafter Empfindung entwickelt.\nBesteht aber nicht schon im Nervenapparat selbst eine Disposition zur Erzeugung desjenigen Anschauungsbildes, welches nach unserem Urtheile das der Wirklichkeit entsprechende ist, so kann auch unser besseres Wissen nicht den richtigen Empfindungscomplex heraufbeschw\u00f6ren ; wir wissen dann zwar, dass wir etwas der Wirklichkeit nicht Entsprechendes sehen, aber wir sehen es doch.\nDas reproductive Verm\u00f6gen des Sehorganes ist f\u00fcr die, den verschiedenen Stellen des Sehfeldes entsprechenden Einzeltheile desselben sehr verschiedenartig entwickelt. Nicht alle Theile der Sehsubstanz haben so zu sagen dieselbe Ausbildung, sondern der eine ist f\u00fcr Dies, der andere f\u00fcr Jenes besser abgerichtet. Kurz gesagt, das Reproductionsvermogen ist ein localisirtes. Man nehme die wohlgetroffene Photographie eines Menschen, verdecke sie bis auf das Gesicht, so dass ausser letzterem das Kopfhaar und die Kleidung h\u00f6chstens theilweise sichtbar sind, halte sie verkehrt und zeige sie so seinen besten Freunden : keiner wird das Bild sogleich erkennen, die meisten \u00fcberhaupt gar nicht. Zur schnellen und sicheren Reproduction eines uns wohlbekannten Gesichtes geh\u00f6rt eben auch, dass wir dieselbe von denjenigen Theilen der Sehsubstanz besorgen lassen, welche daf\u00fcr besonders erzogen sind. Man betrachte eine Landschaft, indem man mit nach unten gerichtetem Kopfe durch die gespreizten Beine sieht, oder man kehre das Bild der Landschaft, wie Helmholtz that, mittelst eines Reversionsprismas um, mache aber den Versuch nicht, wie Helmholtz, binocular, sondern nur mit einem","page":571},{"file":"p0572.txt","language":"de","ocr_de":"572 Hering, Physiol. Optik IY. 13. Cap. Der Einfluss der Erfahrungsmotive.\nAuge, und man wird die Landschaft v\u00f6llig ver\u00e4ndert finden. Alles Ferne scheint n\u00e4her ger\u00fcckt, die Ebene scheint nach der Ferne rasch anzusteigen, alle Farben sind energischer und das Ganze gleicht viel mehr einem Gem\u00e4lde, als dies beim gew\u00f6hnlichen Sehen mit einem Auge der Fall ist.\nDass wir \u00fcberhaupt die auf den oberen Theilen der Netzhaut liegenden Bilder mit Vorliebe n\u00e4her, die auf den untern befindlichen ferner localisiren, ist wohl ebenfalls nur die Folge der localisirten Gew\u00f6hnung.\nII. Einfluss der Erfahrungsmotive auf die allgemeinen\nr\u00e4umlichen Eigenschaften der Gesichtsempfindungen.\nDa die Netzhautbilder fl\u00e4chenhaft sind, hat man sich gew\u00f6hnt, anzunehmen, dass auch die Gesichtsempfindungen urspr\u00fcnglich nur nach zwei Dimensionen localisirt werden und dass erst sp\u00e4ter die dritte Dimension hinzutrete. Abgesehen davon, dass wir uns eine Fl\u00e4che ohne den Raum, welchen sie theilt, nicht vorstellen k\u00f6nnen, und dass also die Vorstellung des nach drei Dimensionen ausgedehnten Raumes die Vorbedingung f\u00fcr die Vorstellung der Fl\u00e4che ist, liegt auch darin, dass das Netzhautbild fl\u00e4chenhaft ist, keinerlei zureichender Grund f\u00fcr obige Annahme. Dieselbe hat zur weiteren Folge gehabt, dass man auch f\u00fcr den erwachsenen Menschen nur fl\u00e4chenhafte, wenngleich in verschiedener Entfernung liegende Gesichtsempfindungen annahm.\nHering 1 hat dagegen die Ansicht aufgestellt, dass die Gesichtsempfindung von Anfang an eine dreidimensionale oder raumhafte sei. Dem entspricht die Thatsache, dass auch der Erwachsene neben fl\u00e4chenhaften Gesichtsempfindungen fortw\u00e4hrend raumhafte hat. Man muss also betreffs der allgemeinen r\u00e4umlichen Eigenschaften der Empfindung raumhafte und fl\u00e4chenhafte, sowie bestimmt und unbestimmt begrenzte Empfindungen unterscheiden. Das Dunkel, welches man bei geschlossenem Auge vor sich sieht, ist z. Bv eine raumhafte Empfindung; man sieht nicht eine schwarze Fl\u00e4che, wie eine Wand, vor sich, sondern einen mit Dunkel erf\u00fcllten Raum, und selbst wenn es gelingt, diesen Dunkelraum als durch eine schwarze Wand begrenzt zu sehen, so bleibt doch vor dieser Wand immer noch ein Dunkles. Ganz dasselbe ist der Fall, wenn man sich offenen Auges in einem absolut dunklen Raume befindet. Diese Dunkelempfindung ist zu-\n1 Hering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie V. S. 186.","page":572},{"file":"p0573.txt","language":"de","ocr_de":"Raumhafte und fl\u00e4chenhafte Empfindung.\n573\ngleich unbestimmt begrenzt. Ein Beispiel f\u00fcr eine bestimmt begrenzte raumhafte Empfindung gibt jede in einem Glase gesehene farbige und klare Fl\u00fcssigkeit; man sieht das Gelb des Weines nicht bloss an der umschliessenden Fl\u00e4che des Glases, sondern die gelbe Empfindung f\u00fcllt das ganze Innere des Glases. Bei Tage sieht man den sogenannten leeren Raum zwischen sich und den Sehdingen ganz anders als bei Nacht. Die zunehmende Dunkelheit legt sich nicht bloss auf die Dinge, sondern auch zwischen uns und die Dinge, um sie endlich ganz zu verdecken und allein den Raum zu f\u00fcllen. Blicke ich in einen dunklen Kasten, so sehe ich denselben vom Dunkel erf\u00fcllt, und dasselbe wird nicht blos als dunkle Farbe der W\u00e4nde des Kastens gesehen. Eine schattige Ecke in einem sonst hellen Zimmer ist voll von einem Dunklen, welches nicht blos in den Grenzfl\u00e4chen der Ecke, sondern in dem von ihnen begrenzten Raum localisirt ist. Jede Empfindung ist da, wo ich sie habe, und habe ich sie zugleich an allen Punkten eines Raumst\u00fcckes, so ist sie eben eine raumhafte Empfindung. Ein W\u00fcrfel von durchsichtigem gr\u00fcnen Glase giebt uns eine raumhafte Empfindung, ein undurchsichtiger gr\u00fcn angestrichener W\u00fcrfel dagegen nur fl\u00e4chenhafte Empfindungen. Dass die sichtbaren Fl\u00e4chen des letzteren nicht in einer, sondern in verschiedenen Ebenen des Sehraumes erscheinen, \u00e4ndert nichts an der Thatsache, dass die gr\u00fcnen Empfindungen, aus welchen das Anschauungsbild dieses W\u00fcrfels besteht, nur fl\u00e4chenhaft sind.\nGesichtsempfindungen, die nicht entweder nach drei oder wenigstens nach zwei Dimensionen ausgedehnt w\u00e4ren, giebt es nicht; der kleinste, leuchtende oder dunkle Fleck und der feinste Strich haben noch mindestens Fl\u00e4che. Nur die Grenzlinie zweier fl\u00e4chenhaften Empfindungen ist eine lediglich nach einer Dimension ausgedehnte mathematische Linie, und nur der Punkt, wo zwei solche Grenzlinien zusammenstossen oder sich durehschneiden, ist ohne jede Ausdehnung.\nBedeckt man einen innen geschw\u00e4rzten, oben offenen Kasten mit einem weissen Carton, in welchen man ein mit zackigen R\u00e4ndern versehenes Loch geschnitten hat, so sind zwei F\u00e4lle m\u00f6glich: entweder man sieht ein Loch im Carton und hinter der Ebene des Loches einen dunklen Raum, oder man sieht auf dem weissen Carton einen schwarzen Fleck von der Form des Loches. Beidenfalls ist die Empfindung ganz verschieden. Im ersten Falle n\u00e4mlich ist die Empfindung des Dunkels eine raumhafte, nach der Tiefe ausgebreitete, im andern Falle ist die Empfindung des Schwarzen eine fl\u00e4chenhafte; das Dunkel ist dann gleichsam in eine Fl\u00e4che zusammengedr\u00e4ngt und erscheint als Fl\u00e4chenfarbe. Der Unterschied ist, wenn der Ver-","page":573},{"file":"p0574.txt","language":"de","ocr_de":"574 Hering, Physiol. Optik IY. 13. Cap. Der Einfluss der Erfahrnngsmotive.\nsuch gelingt, ein ganz auffallender. Ausserdem sieht man erstenfalls die Zacken des Randes als vorspringende Theile des weissen Cartons, letzternfalls als vorspringende Theile des schwarzen Fleckes. Da das Netzhautbild beidenfalls genau dasselbe ist, so beruht hier die r\u00e4umliche Verschiedenheit der ausgel\u00f6sten Empfindungen lediglich darauf, dass einmal die eine, ein andermal die andere Reproduction die Form der Empfindungen bestimmt.\nLassen wir auf eine Papierfl\u00e4che einen kleinen begrenzten Schatten fallen, so sehen wir denselben als ein Dunkles auf dem Papiere, aber nicht als graue Farbe ; wir sagen dementsprechend : der Schatten liegt auf dem Papiere. Ganz anders erscheint uns ein graugef\u00e4rbter Fleck; wir sagen dann, das Papier ist an dieser Stelle grau. Die Art, St\u00e4rke und Vertheilung des objectiven Lichtes k\u00f6nnen in beiden F\u00e4llen genau dieselben sein, es kommt nur darauf an, ob die Nebenumst\u00e4nde die eine oder andere Art der Reproduction beg\u00fcnstigen. Man kann den begrenzten Schatten leicht als graue Farbe des Papiers sehen, wenn man ihn mit einem dicken schwarzen Striche umgiebt, welcher das, was f\u00fcr den Schatten charakteristisch ist, n\u00e4mlich seine zarten Ueberg\u00e4nge in das Weiss des Papiers, vollst\u00e4ndig verdeckt. Dann sieht man in frappanter Weise das Papier grau gef\u00e4rbt. Dass dabei der Contrast nicht das Wesentliche ist, zeigt sich sofort, wenn man den schattenwerfenden K\u00f6rper ein wenig belegt, so dass seine R\u00e4nder \u00fcber den schwarzen Strich hinausfallen ; dann schwindet sofort die graue Farbe und man sieht wieder den Schatten. Ganz analoge Versuche kann man in noch \u00fcberraschenderer Weise mit kleinen St\u00fccken farbigen Glases machen, welche farbige Schatten werfen. Anfangs sieht man ein farbiges Dunkel auf dem Papiere, nach der Umrandung mit dem schwarzen Strich aber ein St\u00fcck farbiges Papier.\nBegrenzte Lichter, die auf beschattete oder dunkelfarbige Fl\u00e4chen fallen, werden von uns im ersten Augenblicke oft f\u00fcr weissliche Flecken gehalten; ebenso erscheinen uns farbige Lichter, welche durch kleine farbig verglaste Oeffnungen auf den Fussboden oder die Wand eines m\u00e4ssig erleuchteten Raumes geworfen werden, bisweilen als farbige Flecke. Alle diese T\u00e4uschungen kann man k\u00fcnstlich und besonders durch die beschriebene Umrandung in viel zwingenderer Weise herbeif\u00fchren.\nSolche Lichter und Schatten haben also das Eigenth\u00fcmliche, dass sie als etwas der Fl\u00e4che Aufliegendes gesehen werden. Es tritt hier eine Art Spaltung der Empfindung ein. Gesetzt die Schatten oder Lichter fallen auf farbiges Papier, so sehen wir das Papier farbig","page":574},{"file":"p0575.txt","language":"de","ocr_de":"Schatten und Lichter. Das Leuchten.\n575\nund darauf oder davor ein Dunkles oder Helles. Oder es liegt ein blaues Liebt auf einer weissen Fl\u00e4che, so sehen wir ein Weissliches hinter einem aufliegenden blauen Hellen. Sobald aber die, den wirklichen Schatten oder Lichtern entsprechende Empfindung ganz in die Oberfl\u00e4che des Papiers zusammengedr\u00e4ngt wird, erscheint sie als Fl\u00e4chenfarbe.\nIn gr\u00f6sserem Maasstabe wiederholen sich die hier er\u00f6rterte11 Erscheinungen, wenn in einem sonst hellen Zimmer auf einen Theil der Dinge directes Sonnenlicht f\u00e4llt, oder die durch die Wolken brechende Sonne einzelne Stellen einer Landschaft heller beleuchtet ; ebenso wenn einzelne Theile eines hellen Zimmers beschattet sind oder \u00fcber eine sonnige Landschaft der begrenzte Schatten einer Wolke zieht. Denn die besonnten Stellen, welche uns mehr, oder die beschatteten Stellen, welche uns weniger Licht ins Auge senden, als durchschnittlich alles Uebrige, sehen wir dann nicht etwa als hellfarbige oder dunkelfarbige Dinge, sondern wir sehen das Licht und den Schatten auf und vor den Dingen liegen und dahinter die farbigen Fl\u00e4chen, deren Farbenton wir durch das Licht oder Schattige hindurch sehen.\nWird etwas heller empfunden als die reinweissen Dinge bei derselben Beleuchtung, und kann den gegebenen Umst\u00e4nden nach die gr\u00f6ssere Helle nidht als ein aufgeworfenes Licht aufgefasst werden, so sehen wir es leuchtend oder gl\u00e4nzend. Flammen und gl\u00fchende K\u00f6rper leuchten. Die leuchtende Empfindung hat ebenfalls etwas Raumhaftes im Vergleich zu den streng fl\u00e4chenhaften K\u00f6rperfarben. Ein gl\u00fchendes Eisen wird durch und durch leuchtend gesehen, ebenso eine Flamme. Bringen wir rothgl\u00fchendes Eisen an die Sonne, so kann es unter Umst\u00e4nden als ein K\u00f6rper mit rother Oberfl\u00e4chenfarbe erscheinen; dies ist unm\u00f6glich, wenn es heller ist, als die hellste Oberfl\u00e4chenfarbe der umliegenden Dinge. Dagegen kann umgekehrt ein gl\u00fchendes Eisen als selbstleuchtend gesehen werden, wenngleich es nicht heller ist, als eine reine weisse Oberfl\u00e4chenfarbe bei derselben Beleuchtung; dann ist aber die Empfindung raumhaft und das Roth des Eisens wird nicht blos an seiner Oberfl\u00e4che als Fl\u00e4chenfarbe gesehen, sondern es erstreckt sich in die Tiefe desselben.\nDen leuchtenden K\u00f6rpern stehen am n\u00e4chsten die metallisch-und die seidengl\u00e4nzenden. Auch hier handelt es sich um Empfindungen, die heller sind als reinweisse K\u00f6rperfarbe. Auf einer ganz gleichm\u00e4ssig metallisch - oder seidengl\u00e4nzenden Fl\u00e4che sehen wir nicht blos Fl\u00e4chenfarbe, sondern zugleich Licht als solches. Oleichm\u00e4ssig ausgebreiteter Glanz ist \u00fcbrigens bei spiegelnden Me-","page":575},{"file":"p0576.txt","language":"de","ocr_de":"576 Hering, Physiol. Optik IV. 13. Cap. Der Einfluss der Erfahrungsmotive.\ntallfl\u00e4chen selten, dagegen bei sogenannten mattgl\u00e4nzenden ganz gew\u00f6hnlich.\nVon dem Glanze, welcher lediglich auf der grossen Helligkeit der Empfindung beruht und welcher ebenso den selbstleuchtenden Dingen zukommt, als denen, welche sehr intensives zerstreutes Licht zur\u00fcckwerfen, ist der Glanz zu unterscheiden, welcher sich an unregelm\u00e4ssig oder unvollkommen spiegelnden Fl\u00e4chen zeigt. Bei der ersten Art des Glanzes handelt es sich, wenn sie sich ausschliesslich geltend macht, immer nur darum, dass auf einer Fl\u00e4che oder in einem K\u00f6rper gleichsam ein Ueberschuss von Licht gesehen wird, der als ein Helles f\u00fcr sich und daher nicht als K\u00f6rperfarbe aufgefasst wird; bei der letzteren Art des Glanzes kommt es darauf an, dass die durch unvollkommene Spiegelung entstehenden farbigen oder farblosen Lichter oder Dunkelheiten als von der Oberfl\u00e4chenfarbe gesondert gesehen werden. Auf einer gl\u00e4nzenden Fl\u00e4che wechseln dunkle und lichte Stellen mannigfaltig ab, wie dies auch auf einer nicht gl\u00e4nzenden Fl\u00e4che der Fall sein kann. Soll sich Glanz zeigen, so muss eine Spaltung der Empfindung eintreten, bei welcher ein Theil der Empfindung in die Fl\u00e4che als deren wesentliche Farbe, andere Theile aber als zuf\u00e4lliges auf oder vor der Fl\u00e4che liegendes oder aus der Tiefe des K\u00f6rpers kommendes Licht oder Dunkel gesehen werden.\nDie Sonderung der wesentlichen Farbe vom zuf\u00e4lligen Licht oder Dunkel wird ausserordentlich durch jede Bewegung des gl\u00e4nzenden Gegenstandes oder, wie gew\u00f6hnlich, durch Bewegungen unsers K\u00f6rpers beg\u00fcnstigt, denn die lichten und dunklen Stellen \u00e4ndern dabei ihren Platz und verschieben sich entweder auf der Fl\u00e4che oder werden hinter oder vor derselben localisirt. Durch das Binocularsehen und insbesondere auch durch Aenderung des Convergenzwinkels der Gesichtslinien wird jene Sonderung ebenfalls sehr erleichtert. Erstens n\u00e4mlich erf\u00e4hrt die eine Netzhaut an vielen Stellen eine ganz andere Lichtwirkung als die correspondirende Stelle der andern, so dass hier schon von vornherein durch den Wettstreit zwei Empfindungen gegeben sind und nicht erst gleichsam durch Spaltung erzeugt zu werden brauchen. Zweitens haben die unvollkommenen und nicht als eigentliche Spiegelbilder erkennbaren Reflexbilder je nach der Form der Fl\u00e4che ihren optischen Ort hinter oder vor der Fl\u00e4che und werden auf Grund der Disparation ihrer Netzhautbilder und der Con-vergenz\u00e4nderungen entsprechend localisirt, so dass hier eine r\u00e4umliche Sonderung des als K\u00f6rperfarbe gesehenen Theils der Empfindung von dem zuf\u00e4lligen Licht und Dunkel noch viel handgreiflicher ist, als in andern F\u00e4llen. Starke Contraste beg\u00fcnstigen sehr die Ent-","page":576},{"file":"p0577.txt","language":"de","ocr_de":"Der Glanz.\n577\nstehung des Glanzes, weil sie die hellen Stellen noch heller machen und oft \u00fcber die Helligkeit der hellsten K\u00f6rperfarben hinausr\u00fccken ; aber eine unerl\u00e4ssliche Bedingung bilden solche Contraste nicht.\nDie Maler imitiren das Leuchten und den Glanz dadurch, dass sie starke Lichter auf eine im Uebrigen dunkel gehaltene Umgebung aufsetzen. Auch sonst l\u00e4sst sich insbesondere der Glanz leicht experimentell auf nicht gl\u00e4nzenden Fl\u00e4chen herstell en. Man berusse z. B. eine grosse Glasplatte, lege sie auf eine weisse Unterlage und erzeuge auf ihr durch entsprechende Entfernung des Russes so gut als m\u00f6glich das Bild eines gl\u00e4nzenden Gegenstandes, oder stelle dasselbe als Negativ mit schwarzer Tusche her. Dieses Bild wird zun\u00e4chst nicht gl\u00e4nzen. Wenn man aber die Glasplatte als Fenster f\u00fcr einen kleinen Dunkelraum benutzt, hinter die Platte in passender Entfernung ein Licht stellt und die durchfallenden Strahlen auf einer weissen Fl\u00e4che auff\u00e4ngt, so kann man auf derselben ein gl\u00e4nzendes Bild des Gegenstandes erhalten.\nMan stelle eine unbelegte Spiegelplatte senkrecht auf den Tisch, lege hinter dieselbe ein St\u00fcck weisses oder farbiges Papier, und vor dieselbe ein kleines St\u00fcck andersfarbiges Papier; wenn nun das Spiegelbild des vordem Papiers nicht genau in die Fl\u00e4che des hintern Papiers f\u00e4llt, insbesondere wenn man die Spiegelplatte etwas bewegt, so erscheint die eine Fl\u00e4che gl\u00e4nzend, weil eine Spaltung der Empfindung derart eintritt, dass dieselbe theils in einer n\u00e4hern, theils in einer fernem Fl\u00e4che gesehen wird. Es ist, als w\u00e4re die jeweilige fernere Fl\u00e4che durch eine Spiegelung seitens der n\u00e4heren sichtbar geworden. Diese Methode, Glanz zu erzeugen, die auch bei ein\u00e4ugigem Sehen zum Ziele f\u00fchrt, ist von Wundt angegeben worden. Dove fand, dass wenn zwei an entsprechenden Stellen verschiedenfarbige oder verschieden helle Zeichnungen, wie z. B. Fig. 29 (S. 429) unter das Stereoskop gelegt werden, die Fl\u00e4chen der stereoskopischen Figur zu gl\u00e4nzen scheinen. Schwarz und Weiss geben dabei einen Glanz wie Graphit. Ueberhaupt tritt bei jedem Wettstreit der Sehfelder sehr leicht Glanz auf, weil eine wesentliche Bedingung desselben, n\u00e4mlich die Spaltung der Gesammtempfindung in zwei Theile hier von vornherein gegeben ist (vergl. das folg. Cap.).1\n1 Die ziemlich umfangreiche Literatur \u00fcber den Glanz siehe bei Helmholtz, Physiol. Optik S. 794.\nHandbuch der Physiologie. Bd. III.\n37","page":577},{"file":"p0578.txt","language":"de","ocr_de":"578 Hering. Physiol Optik IY. 13. Cap. Der Einfluss der Erfahrungsmotive.\nIII. Einfluss der Erfahrung auf Gestalt und Ort der Empfindungen.\nBefinden sich die gesehenen Aussendinge in grosser Entfernung, so entwerfen sie auf beiden, als eben oder sph\u00e4risch gedachten Netzh\u00e4uten geometrisch congruente Bilder, welche, wenn Parallelismus der Mittelschnitte und keine Netzhautincongruenz best\u00e4nde, zugleich durchaus correspondirend liegen w\u00fcrden. Bei Netzhautincongruenz ergibt sich zwar eine geringe quere Disparation f\u00fcr die Bilder fast aller Punkte, aber dieselbe ist derart, dass sie nur auf die Neigung derjenigen Ebene (oder vielleicht schwach gekr\u00fcmmten Fl\u00e4che) Einfluss nehmen k\u00f6nnte, in welcher auf Grund der Raumwerthe der Netzhautstellen alle fernen Objecte erscheinen w\u00fcrden, wenn keinerlei anderweitige Motive die Localisirung nach der Tiefe mit bestimmten. Derartige Motive ergeben sich aber sehr zahlreich aus der Erfahrung, und durch sie geschieht es, dass wir auch die fernen Aussenp unkte in verschiedener Entfernung sehen, wie es ihrer wirklichen Verkeilung im Raume einigermassen entspricht. Dieselben Motive helfen auch beim binocularen Nahesehen sehr wesentlich mit zur richtigen Localisirung und bestimmen dieselbe beim ein\u00e4ugigen Sehen fast ausschliesslich.\nDie Linear perspective. Die scheinbaren Ver\u00e4nderungen der Gestalt und gegenseitigen Lage der Objecte, welche aus der Art ihrer Projection auf die Netzhautfl\u00e4che resultiren, sind uns nach vielfacher Erfahrung bekannt, und so wird es m\u00f6glich, dass sehr verschieden gestaltete Netzhautbilder eines und desselben Objectes das mehr oder weniger deutlich in unserer Erinnerung liegende Bild seiner wirklichen Gestalt zur Reproduction bringen. Dabei gilt im Allgemeinen die Regel, dass die einzelnen Punkte des Sehdinges auf den durch das Netzhautbild ihnen angewiesenen Sehrichtungslinien bleiben und nur die Entfernung, in welcher sie auf diesen Linien des Sehraumes erscheinen, durch die Reproduction des Erinnerungsbildes bestimmt wird. Parallele horizontale Linien, welche, wie z. B. die Eisenbahnschienen, weit vor uns hinauslaufen, und deren Netzhautbilder sehr stark convergiren, scheinen uns, wenn wir ihren fernsten Punkt fixiren, zwar auch zu convergiren, aber doch nur sehr allm\u00e4hlich; entsprechend dieser Convergenz sehen wir ihr fernes Ende etwas h\u00f6her als das n\u00e4here. Analog verh\u00e4lt es sich mit allen anderen perspectivischen Verk\u00fcrzungen.\nWir orientiren uns haupts\u00e4chlich auf Grund der horizontalen und verticalen Linien des Aussenraumes und der rechten Winkel, welche","page":578},{"file":"p0579.txt","language":"de","ocr_de":"Linearperspective.\n579\nvon beiden eingeschlossen werden. Diese Winkel bilden sich aber auf den Netzh\u00e4uten meist als stumpfe oder spitze ab, wobei der verticale Schenkel, wenn er fixirt wird, immer ann\u00e4hernd auf denselben Meridian der Netzhaut zu liegen kommt. Solche schiefwinklige Netzhautbilder reproduciren uns besonders leicht das Erinnerungsbild eines rechten Winkels. Dies hat zur Folge, dass der nicht verticale Schenkel des Winkels innerhalb der ihm zukommenden Sehrichtungsebene eine seiner wirklichen Lage wenigstens ann\u00e4hernd entsprechende scheinbare Lage annimmt. Die Neigung zum derartigen Sehen eines schiefen Winkels ist so stark, dass sie auch da sich geltend macht, wo sie der Wirklichkeit nicht entspricht. Betrachten wir ein\u00e4ugig oder mit fester binocularer Fixation den Mittelpunkt des Kreuzes a in Fig. 61, so scheint uns meist der schiefe Schenkel aus der Ebene des Papieres im einen oder andern Sinne verschoben ; etwas minder stark ist diese Verschiebung beim Kreuze b, am schw\u00e4chsten bei c, weil hier kein Schenkel des Kreuzes vertical oder horizontal ist.\nFertigt man solche Kreuze aus feinem Draht und h\u00e4lt sie parallel zur Frontalebene gegen einen gleichfarbigen Hintergrund, so ist die T\u00e4uschung eine noch st\u00e4rkere, weil ihr nicht das Anschauungsbild eines ebenen Papieres entgegenwirkt.\nv. Recklinghausen1, der zuerst den Einfluss der Linearperspective auf die Tiefenwahrnehmung etwas eingehender er\u00f6rterte, f\u00fchrt folgendes Beispiel an: \u201eBewegt man eine, an einer in der Medianebene des K\u00f6rpers befindlichen Geraden befestigte zweite Gerade um den Befestigungspunkt in der Ebene beider, so kann man, besonders bei der Betrachtung mit einem Auge, durch diese successive Ver\u00e4nderung der Winkel die bewegte Linie in schr\u00e4ger Richtung durch die Ebene hindurchwandern lassen. \u201c\nZeichnet man die Figur 62 auf Glas, oder fertigt sie aus Draht an und stellt sie parallel zur Frontalebene, Fi\u00a7-62-so treten leicht beide Leitern aus ihrer wirklichen Ebene scheinbar heraus; die eine scheint mit dem obern Ende nach vorw\u00e4rts oder\nFig. 61.\n1 v. Recklinghausen, Arch. f. Ophthalmologie V. (2) S. 164. 1859.\n37*","page":579},{"file":"p0580.txt","language":"de","ocr_de":"580 Hering, Physiol. Optik IY. 13. Cap. Der Einfluss der Erfahrungsmotive.\nr\u00fcckw\u00e4rts, die andere meist entgegengesetzt geneigt.1 2 Zeichnet man die Leitern mit sehr dicken Strichen vergr\u00f6ssert auf eine ebene Fl\u00e4che und erzeugt sich von ihnen ein gutes und vollst\u00e4ndiges Nachbild, so sieht man dasselbe.\nDie Figur ist ein Theil des fr\u00fcher erw\u00e4hnten Z\u00f6LLNE\u00df\u2019schen Musters, und Volk mann - war deshalb der Ansicht, dass die T\u00e4uschung bei diesem Muster ihren Grund darin hat, dass wir die Zeichnung der Leitern per-spectivisch auslegen, so dass sie nicht mehr parallel erscheinen. Will man das fr\u00fcher er\u00f6rterte Falschsehen schiefer Winkel und die daraus resultirenden T\u00e4uschungen aus diesem Gesichtspunkte erkl\u00e4ren, so muss man sagen, dass die durch perspectivische Auslegung entstandene Gewohnheit des Gr\u00f6ssersehens der spitzen und des Kleinersehens der stumpfen Winkel so grosse Macht habe, dass sie selbst dann zur Geltung komme, wenn die schiefen Winkel in der Ebene gesehen werden, in welcher sie sich wirklich, befinden.\nEinfache perspectivische Linearzeichnungen gestatten oft eine doppelte Auslegung, wie dies schon die eben erw\u00e4hnten Beispiele\nlehrten und wie es auch Figur 63 zeigt (Necker3), in welcher uns bald die eine, bald die andre Ecke vorn zu liegen scheint. Es h\u00e4ngt theils von der Willk\u00fcr, theils von der mehr oder minder grossen Wahrscheinlichkeit, oft auch von unberechenbaren Zuf\u00e4lligkeiten ab, welche Art des Sehens ein-tritt. Aus demselben Grunde ist es oft schwer, die wirkliche Stellung einer entfernten Wetterfahne zu erkennen, die sich schiefwinklig zur Stange auf unserer Netzhaut projicirt hat.\nEine ferne Windm\u00fchle, deren Fl\u00fcgelebene stark zur Frontalebene unseres Kopfes geneigt ist, sieht man in der D\u00e4mmerung bald nach der einen bald nach der andern Richtung sich drehen, je nachdem man die jeweilig n\u00e4heren Fl\u00fcgel auch als die n\u00e4heren sieht, oder der T\u00e4uschung verf\u00e4llt, dass sie die ferneren sind (Sinsteden4). Man kann diese T\u00e4uschung mit einem aus Dr\u00e4hten gebildeten und um seinen Mittelpunkt gedrehten Stern leicht herbeif\u00fchren, wenn man denselben ein\u00e4ugig und halb von der Seite betrachtet. Bei Illuminationen sieht man zuweilen rotirende mit kleinen Gasfl\u00e4mmchen besetzte Raumspiralen, welche aus der Ferne be-\n1\tHering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie I. S. 79.1861.\n2\tVolkmann, Physiol. Untersuch, im Gebiete d. Optik I. S. 163. 1863.\n3\tNecker, Annal, d. Physik u. Chemie XXVII. S. 502.\n4\tSinsteden, ebenda CXI. S. 336.1860.","page":580},{"file":"p0581.txt","language":"de","ocr_de":"Licht und Schatten. Luftperspective.\t58\u00ce\ntrachtet sich bald in der einen bald in der andern Richtung zu drehen scheinen.\nBei solchen T\u00e4uschungen zeigt sich \u00fcbrigens die merkw\u00fcrdige Tliat-sache, dass wenn man l\u00e4ngere Zeit die Bewegung in der einen Richtung gesehen hat, sie sich zwangsweise umkehrt, auch wenn man sich bem\u00fcht, die richtige Auslegung festzuhalten, und dass der Wechsel zwischen der einen und andern Richtung der scheinbaren Bewegung mit der Zeit immer h\u00e4ufiger wird.\nDie V e r t h e i 1 u n g von Licht und Schatten ist ein weiteres wichtiges Hiilfsmittel f\u00fcr die richtige Localisirung. Wir sehen, wie oben er\u00f6rtert wurde, den Schatten nicht als etwas der Fl\u00e4che Inh\u00e4rentes, sondern gleichsam gesondert auf der Fl\u00e4che. Je nachdem er hier und dort sozusagen d\u00fcnner oder dicker aufgelegt ist, l\u00e4sst er die Einzeltheile eines Reliefs vor- und zur\u00fccktreten. In so weit er sich als Schlagschatten zeigt, giebt er Aufschluss \u00fcber das Lagenverh\u00e4ltniss des beschatteten zum schattenwerfenden Gegenst\u00e4nde.\nEs wurde schon oben eine T\u00e4uschung erw\u00e4hnt, derzufolge wir bisweilen Erhabenes vertieft oder Vertieftes erhaben sehen. Bringt man in einer dem Beobachter nicht auff\u00e4lligen Weise einen Schirm zwischen eine Matrize und die Lichtquelle und beleuchtet die erstere durch einen Spiegel von der entgegengesetzten Seite, so sieht der Unbefangene die Matrize meist zuerst als Patrize. Oppel1 nannte eine derartige Vorrichtung Anaglyptoskop. Die Schrift jedes Petschaftes l\u00e4sst sich auch ohne solche Hiilfsmittel erhaben sehen oder \u201e invertiren wenn man sich das Erinnerungsbild der erhabenen Schrift zu reproduciren sucht. Gypsformen aber von menschlichen Gliedern, welche wir nicht in der Hohlform zu sehen gew\u00f6hnt sind, invertiren sich bei ein\u00e4ugigem Sehen ganz von selbst (Schr\u00f6der 2).\nDen Einfluss der Luftperspective hat besonders Helmholtz3 er\u00f6rtert. Die farbigen T\u00f6ne, welche vor den entfernten Theilen einer Landschaft liegen, dienen uns, soweit wir sie nicht als Fl\u00e4chenfarbe sehen, als H\u00fclfsmittel zu einer der Wirklichkeit besser entsprechenden Localisirung der entfernten Dinge. Die fernen Berge erscheinen bl\u00e4ulich, wir localisiren aber das Blau nicht in die Oberfl\u00e4che der Berge, sondern sehen es vor denselben im Raume und durch dasselbe hindurch die gr\u00fcnlichen Berge. Wird das Blau zu stark, so legt es sich zugleich deutlich als Farbe auf die Berge selbst.\n1\tOppel, Annal, d. Physik u. Chemie XCIX. S. 466. 1855.\n2\tSchr\u00f6der, ebenda CV. S. 298. 1858.\n3\tHelmholtz, Physiol. Optik S. 629 u. 724.","page":581},{"file":"p0582.txt","language":"de","ocr_de":"582 Hering, Physiol. Optik IV. 13. Cap. Der Einfluss der Erfahrungsmotive.\nHelmholtz hat die Lebhaftigkeit betont, mit welcher wir die sogenannten Luftt\u00f6ne der Landschaft sehen, wenn ihr Bild anders als gew\u00f6hnlich auf der Netzhaut liegt. Die farbige Empfindung dr\u00e4ngt sich dann, weil uns, wie oben er\u00f6rtert wurde, die ganze Landschaft mehr flach wie ein Bild erscheint, als Farbe in die Oberfl\u00e4che der Dinge zusammen und wird nicht mehr vor dieselbe als blosses farbiges Licht localisirt.\nDer Nebel wirkt \u00e4hnlich wie die Luftperspective. Man sieht den Nebel raumhaft und durch ihn hindurch die Dinge in gr\u00f6sserer Ferne und deshalb gr\u00f6sser. Die Gr\u00f6sse eines uns im Nebel begegnenden Menschen wird anfangs oft bedeutend \u00fcbersch\u00e4tzt.\nDie Tr\u00fcbung der Luft also, sei es, dass sie sich nur durch die sogenannten Luftt\u00f6ne oder durch wirklichen Nebel verr\u00e4th, l\u00e4sst uns die Dinge ferner und gr\u00f6sser erscheinen, und zwar wohl haupts\u00e4chlich deshalb, weil wir weniger Einzelheiten an ihnen erkennen als bei klarer Luft. Denn erstens wird eine mit vielen sichtbaren Einzelheiten bedeckte Fl\u00e4che \u00fcberhaupt gr\u00f6sser gesehen, wie schon S. 554 gezeigt wurde, zweitens aber wissen wir aus Erfahrung, dass ein und dasselbe Ding um so weniger von seinem Detail erkennen l\u00e4sst, je weiter es entfernt ist. Die Bewohner der Ebene sehen im Gebirge die fernen Dinge meist zu nahe, weil die Klarheit der Luft die Dinge mehr in ihrer wesentlichen Farbe zeigt und mehr Einzelheiten au denselben wahrnehmen l\u00e4sst, als die dunstige Luft der Ebene.1\nDinge, deren Sehgr\u00f6sse durch die Erfahrung gegeben ist, loca-lisiren wir auf Grund derselben um so entfernter, je kleiner das von ihnen entworfene Netzhautbild ist. Ist uns umgekehrt die Sehferne eines seiner Gr\u00f6sse nach unbekannten Dinges aus anderweiten Motiven gegeben, so sehen wir es um so gr\u00f6sser, je gr\u00f6sser diese Sehferne ist.\nZahlreiche Anhaltspunkte f\u00fcr die Unterscheidung des N\u00e4heren vom Ferneren liefert die partielle Deckung der fernen Dinge durch die n\u00e4heren, ebenso die Bewegung der Objecte und insbesondere die Bewegung unseres Kopfes oder K\u00f6rpers, bei welcher sich die Netzhautbilder und die Sehdinge in einer ganz gesetz-m\u00e4ssigen, vom gegenseitigen Tiefenabstande der Objecte abh\u00e4ngigen Weise gegen einander verschieben. Fixiren wir ein nahes Object und bewegen den Kopf seitw\u00e4rts, so zeigen die fernen Dinge eine Bewegung in demselben Sinne, fixiren wir ein fernes, so bewegen\n1 Ueber die verschiedene Sehgr\u00f6sse des Mondes und der Sonne, je nachdem sie am hohen Himmel oder \u00fcber dem Horizonte stehen, und \u00fcber die scheinbare Form des Himmelsgew\u00f6lbes vergl. insbesondere Helmholtz, Physiol. Optik S. 630.","page":582},{"file":"p0583.txt","language":"de","ocr_de":"Partielle Deckung. Bewegung der Selidinge.\n583\nsich die n\u00e4heren in entgegengesetztem Sinne als wie der Kopf. Diese Bewegungen der Sehdinge sehen wir als solche, beziehen sie abei gleichwohl nicht auf Bewegungen der Aussendinge. Sie geben uns ein gutes Mittel zur Localisirung nach der Tiefe, weil sie bei gleichschneller Bewegung des Kopfes um so gr\u00f6sser sind, je weiter das entsprechende Ding vor oder hinter dem eben fixirten Punkte liegt. Bei raschem Fahren auf der Eisenbahn sind diese Bewegungen der Sehdinge am auff\u00e4lligsten. Betrachtet man dabei immer nur das in m\u00e4ssiger Entfernung von der Bahn Gelegene, so scheinen die ferneren Dinge mit uns vorw\u00e4rts, die n\u00e4heren aber in der entgegengesetzten Richtung fortzueilen, und es entsteht dadurch der Anschein einer Drehung der ganzen Landschaft um den jeweilig betrachteten Punkt.\nAuch \u00fcber die absolute Entfernung der Dinge k\u00f6nnte uns die Kopfbewegung einigen Aufschluss geben. Die Bilder sehr ferner Dinge \u00e4ndern ihre Lage auf der Netzhaut fast gar nicht, wenn man den Kopf verschiebt; je n\u00e4her die Dinge sind, desto gr\u00f6sser und schneller ist die Verschiebung der Bilder, welche, in dem Maasse als sie entsteht, durch Augenbewegungen compensirt wird, wenn der Blick auf dem bez\u00fcglichen Dinge festgehalten wird. Die Art der Bildverschiebung und der compensirenden Augenbewegung ist also eine Function der Entfernung des fixirten Objectes und k\u00f6nnte daher ein Mittel zur entsprechenden Localisirung sein. Inwieweit dies der Fall, wurde bisher nicht untersucht.\nHelmholtz1 hat auf die durch Kopfbewegung hervorgerufenen Scheinbewegungen aufmerksam gemacht, welche sich bei haploskopischen Versuchen zeigen. Legt man z. B. zwei gleiche M\u00fcnzen nebeneinander auf den Tisch und betrachtet sie haploskopisch mit parallelen Gesichtslinien, so bewegt sich ihr Bild bei Bewegung des Kopfes in entgegengesetztem Sinne ; haploskopirt man aber mit gekreuzten Gesichtslinien, so bewegt es sich in gleichem Sinne wie der Kopf. Dem entspricht, dass Manche das haploskopische Bild bei gekreuzten Gesichtslinien ferner, bei parallelen n\u00e4her sehen, als die in gew\u00f6hnlicher Weise betrachteten M\u00fcnzen. Nach der Lage des Blickpunktes w\u00e4re das Gegentheil zu erwarten (vergl. S. 431).\nNicht bloss auf die Localisirung des Kernpunktes und der Kernfl\u00e4che und auf die Anordnung der Sehdinge nach der Dimension der Tiefe wirken die Erfahrungsmotive ein, sondern auch die Lage der L\u00e4ngsmittelebene kann wesentlich mit durch sie bestimmt werden. Neigen wir den Kopf stark seitw\u00e4rts, so sehen wir, wenn wir die\n1 Helmholtz, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1878. S. 323.","page":583},{"file":"p0584.txt","language":"de","ocr_de":"584\nHering, Physiol. Optik IY. 14. Cap. Ueber Stereoskopie.\nErfahrungsmotive m\u00f6glichst ausschliessen, eine wirklich verticale Linie nicht vertical, sondern entgegengesetzt der Kopfneigung geneigt. (Aubert U) Wir untersch\u00e4tzen gleichsam bei dieser ungew\u00f6hnlichen Kopfhaltung, wie Aubert gezeigt hat, die Neigung des Kopfes, und die schwache entgegengesetzte Rollung der Augen (vergl. S. 507) kann diese Uebersch\u00e4tzung bei starken Kopfneigungen nicht com-pensiren. Blickt man durch eine R\u00f6hre nach einer gleichm\u00e4ssig gef\u00e4rbten Fl\u00e4che, l\u00e4sst einen Draht zwischen beiden bewegen und so lange drehen, bis er vertical scheint, so ergibt sich, dass er in Wirklichkeit stark seitw\u00e4rts geneigt ist. Unter gew\u00f6hnlichen Umst\u00e4nden aber localisiren wir gleichwohl auch bei jeder Neigung des Kopfes die Verticalen richtig, weil fast immer einige vorhanden sind, deren Lage wir bereits aus Erfahrung kennen.\nVIERZEHNTES CAPITEL.\nUeber Stereoskopie.\nWenn man genau dieselben Netzhautbilder, welche ein nach der Tiefe ausgedehntes Object oder ein mit verschieden entfernten Dingen erf\u00fcllter Gesichtsraum gibt, durch zwei (nach der S. 393 gegebenen Regel entworfene) Bilder erzeugen k\u00f6nnte, deren je eines vor ein Auge gestellt ist, so w\u00fcrden in beiden F\u00e4llen die Gesichtsempfindungen und ihre Anordnung im Sehraume dieselben sein m\u00fcssen. Dies wird angestrebt, aber freilich nie vollkommen erreicht mittels des von Wheatstone erfundenen Stereoskopes. Dasselbe ist nur eine besondere Art jener Vorrichtungen, welche wir (Cap. I und VI) als haploskopische bezeichnet haben. W\u00e4hrend die dort besprochenen Versuche nur die binoculare Verschmelzung correspondirender oder disparater Bilder bei ruhendem Blicke betrafen, gilt es beim Stereoskope dem bewegten Doppelauge durch die beiden Bilder genau dieselben Empfindungen zu erwecken, wie sie durch die entsprechenden wirklichen Objecte erzeugt werden m\u00fcssten.\nAngenommen die beiden Bilder sind nach der auf S. 393 angegebenen Regel angefertigt, was sich, abgesehen von der Farbe,\n1 Aubert, Physiol, ck Netzhaut S. 275.","page":584},{"file":"p0585.txt","language":"de","ocr_de":"M\u00e4ngel der Stereoskopie.\n585\nauf photographischem Wege mit ziemlicher Vollkommenheit erreichen Hesse, so w\u00e4re die n\u00e4chste Aufgabe, dieselben so vor den Augen aufzustellen, dass die Gesichtslinien bei Fixirung jedes beliebigen Doppelpunktes der Doppelzeichnung genau dieselbe Convergenz h\u00e4tten, wie bei Fixirung des entsprechenden Punktes des wirklichen Objectes. Dies ist mit hinreichender Genauigkeit m\u00f6glich. Dagegen l\u00e4sst sich die zweite Forderung nicht erf\u00fcllen, dass die Entfernung der einzelnen Doppelpunkte der Doppelzeichnung dem durch die jeweilige Convergenz bedingten Accommodationszustande der Augen eben so entsprechen solle, wie in der Wirklichkeit. Sollen die beiden Bilder nahe Objecte reproduciren, die sich irgend erheblich nach der Tiefe erstrecken, so erfordert die stereoskopische Betrachtung starke Aenderungen der Convergenz und bringt also auch starke Aenderungen der Accommodation mit sich, die zu der immer gleichen Entfernung ' der Bildpunkte nicht passt. Stellen aber die Zeichnungen ein fernes Object dar, so k\u00f6nnen sie eben so wenig wie das entsprechende wirkliche Object irgend erheblich disparate Bilder geben, und es ist also auch wenig oder keine Gelegenheit zu der auf Disparation der Bilder und Aenderung der Convergenz beruhenden Tiefenwahrnehmung gegeben ; es handelt sich dann im Wesentlichen nur um Haploskopie congruenter, nicht um Haploskopic disparater Bilder, und nur die letztere wird unter der eigentlichen Stereoskopie verstanden. W\u00e4hrend also die auf Haploskopie bei ruhendem Blicke berechnete Doppelzeichnung ihrem Zwecke, wie wir gesehen, ziemlich vollkommen entsprechen kann, ist dies bei den auf eigentliche Stereoskopie mit bewegtem Blicke berechneten Bildern nicht so vollkommen m\u00f6glich.\nDie gew\u00f6hnlichen Stereoskopenbilder w\u00fcrden \u00fcbrigens streng genommen nur f\u00fcr Augen passen, deren gegenseitiger Abstand un-verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig gr\u00f6sser w\u00e4re, als die wirkliche Augendistanz. Sie m\u00fcssten mit ganz unnat\u00fcrlich stark convergirenden Gesichtslinien betrachtet werden, wenn sie ein dem wirklichen Objecte geometrisch \u00e4hnliches Anschauungsbild erzeugen sollten, welches dann aber viel zu klein, weil viel zu nah sein w\u00fcrde. Werden aber die Bilder bei schw\u00e4cherer Convergenz betrachtet, und liegt das von ihnen erzeugte Anschauungsbild fern, so muss es insbesondere nach der Dimension der Tiefe verzerrt erscheinen.\nDas von Wheatstone construite Stereoskop, bekannt unter dem Namen des Spiegelstereoskop es, glich im Wesentlichen dem auf S. 393 beschriebenen Spiegelhaploskop ; nur waren die Spiegel und die Falze, in welche die Bilder eingeschoben wurden, fest mit","page":585},{"file":"p0586.txt","language":"de","ocr_de":"586\nHering, Physiol. Optik IY. 14. Cap. Ueber Stereoskopie.\nFig. 64 (nach Helmholtz)\neinander in einem Kasten verbunden. Eine Modification dieses fixen Stereoskops ist das auf S. 393 erw\u00e4hnte bewegliche Stereoskop Wheatstone\u2019s.\nAllgemein gebr\u00e4uchlich ist jetzt das BuEwSTER\u2019sche Stereoskop, welches in Fig. 64 schematisch dargestellt ist. Die beiden Zeichnungen m\u00fcssen hier freilich so klein sein, dass, wenn sie neben einander liegen, der Abstand zweier zu einander geh\u00f6rigen Punkte nicht wesentlich gr\u00f6sser ist, als die Augendistanz. Vor jedem Auge befindet sich ein Prisma, welches seine brechende Kante der Medianebene zuwendet. Jedes Prisma hat convexe Fl\u00e4chen und dient also zugleich als Sammellinse. Als Prisma soll es bewirken, dass trotz der beim Blicken in den Kasten unwillk\u00fcrlich eingehaltenen Convergenz der Gesichtslinien sich beide Bilder ann\u00e4hernd correspondirend abbilden k\u00f6nnen, wie wTenn die Gesichtslinien parallel st\u00e4nden ; als Linse hat es die Aufgabe, eine Correction der f\u00fcr die grosse N\u00e4he der Bilder nicht gen\u00fcgenden Accommodation herbeizuf\u00fchren. Verbesserungen dieser Einrichtung wurden dadurch erzielt, dass die Prismen in der Richtung nach dem Auge verschiebbar und zugleich drehbar gemacht wurden, wodurch die Correction der Blicklage und der Accommodation individuellen Verschiedenheiten angepasst werden kann, ferner dadurch, dass durch seitliche Verschiebung eines oder beider Prismen das Instrument sich f\u00fcr verschiedene Augendistanzen einrichten l\u00e4sst. Zu wissenschaftlichen Untersuchungen ist dieses Stereoskop nicht leicht brauchbar; man wird dann stets besser die beiden Zeichnungen mit freien Augen haploskopisch betrachten, h\u00f6chstens vor jedes Auge eine Linse zur Correction der Accommodation setzen. Heiaiholtz bringt vor die parallel gestellten Augen ein Linsensystem, in dessen Brennpunkt die Zeichnung liegt, so dass die Lichtstrahlen so ins Auge gehen, als k\u00e4men sie von sehr fernen Punkten.\nUm von fernen Objecten, welche, direct betrachtet, beiden Augen nahezu oder v\u00f6llig congruente Bilder geben und deshalb keine auf Disparation der Bilder beruhende Wahrnehmung ihres Reliefs und ihrer Anordnung nach der Tiefe erzeugen, gleichwohl disparate Bilder zu bekommen und so einen energischen k\u00f6rperlichen Eindruck zu erzielen, bedienen sich die Verfertiger der Stereoskopenbilder, wie","page":586},{"file":"p0587.txt","language":"de","ocr_de":"Stereoskopische Apparate. Telestereoskop.\n587\nerw\u00e4hnt, des Kunstgriffes, dass sie beide Bilder von zwei Standpunkten aufnehmen, welche viel weiter von einander abliegen, als die beiden Augen. Auf der Benutzung desselben Kunstgriffes beruht das von Helmholtz erfundene Telestereoskop.\nDasselbe ist in Fig. 65 schematisch dargestellt. Befinden sich den Augen / und r gegen\u00fcber zwei unter 45\u00b0 gegen einander geneigte kleine Vertikalspiegel und rechts und links davon je ein gr\u00f6sserer Spiegel, der dem kleinen Spiegel derselben Seite parallel ist und demselben die spiegelnde Fl\u00e4che zuwendet, so sind die Netzhautbilder der mittels doppelter Spiegelung gesehenen fernen Dinge so beschaffen, als ob die beiden Augen so weit auseinanderst\u00e4nden wie die Augen / und q in der Figur. Bei so grossem Abstande aber w\u00fcrden sie von den nicht allzu fernen Dingen incongruente Bilder erhalten, deren Disparation die Tiefenverh\u00e4ltnisse der Dinge wahrzunehmen gestattet. Je gr\u00f6sser der gegenseitige Abstand der beiden grossen Spiegel, an desto ferneren Dingen wird man deshalb Relief und Tiefanordnung wahrnehmen.\nLegt man zwei identische kleine Photographien einer Person oder einer Landschaft derart neben einander, dass sie sich bei ungef\u00e4hr parallelen Gesichtslinien haploskopisch verschmelzen lassen, so macht das Verschmelzungsbild den Eindruck gr\u00f6sserer Naturwahrheit, weil die Stellung der Gesichtslinien derjenigen besser entspricht, welche sie bei Betrachtung des wirklichen Objectes annehmen w\u00fcrden. Von einer einfachen Photographie kann man denselben nat\u00fcrlichen Eindruck erhalten, wenn man durch einen von Hirschberg 1 angegebenen Apparat daf\u00fcr sorgt, dass man die Photographie trotz ihrer N\u00e4he mit parallelen Gesichtslinien betrachten kann. Der Apparat besteht aus zwei Glasprismen mit parallelogrammatischem Querschnitt in der Anordnung, wie sie die Fig. 66 zeigt. Befindet sich in a das\n1 Hirschberg, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1876. S. 622.","page":587},{"file":"p0588.txt","language":"de","ocr_de":"588\nHering. Physiol. Optik 1Y. 14. Cap. Ueber Stereoskopie.\nObject, in / das linke und in r das rechte Auge, so trifft bei Parallelstellung jede Gesichtslinie auf das ihr gerade gegen\u00fcber in u gelegene, durch zweimalige Spiegelung entstandene und beiderseits ganz gleiche Bild des Objectes a.1\nDieser Apparat ist also gleichsam ein umgekehrtes Telestereoskop. Wie man sieht, haben in Fig. 66 die spiegelnden Fl\u00e4chen jeder Seite in der zur Frontalebene parallelen Richtung einen Abstand, welcher der halben Augendistanz gleich ist. Macht man diesen Abstand beiderseits kleiner, so kann man mit dem Apparate das Relief naher Dinge, welche, wie z. B. das Trommelfell, nicht beiden Augen zugleich zug\u00e4ngig sind, gleichwohl binocular, jedoch verflacht, wahrnehmen. Man denke sich das Relief in \u00f6, die Augen / und r aber weiter von einander abstehend, als auf der Zeichnung, so w\u00fcrde das Auge l das linke Spiegelbild a etwas von der linken, das rechte Auge das rechte Bild a etwas von der rechten Seite sehen, und beide Augen w\u00fcrden deshalb etwas disparate Netzhautbilder erhalten. Aber auch bei unver\u00e4ndertem Abstande der spiegelnden Fl\u00e4chen liesse sich durch Drehung z. B. einer oder beider \u00e4ussern Spiegelfl\u00e4chen eine leichte Verschiebung und Wendung des bez\u00fcglichen Spiegelbildes erzielen, so dass das linke Auge dasselbe von einer etwas andern Seite sehen w\u00fcrde als das rechte. Auf derartigen Einrichtungen beruhen die binocularen Augenspiegel (Giraud-Teulon, B\u00f6ttcher2) und Ohrenspiegel (B\u00f6ttcher2).\nVertauscht man im Stereoskop die beiden Bilder oder bringt man dieselben ohne Apparat mit gekreuzten Gesichtslinien zur Deckung, so erh\u00e4lt beidenfalls jedes Auge das f\u00fcrs andere Auge bestimmte Netzhautbild, so dass jede gekreuzte Disparation in eine ungekreuzte, jede ungekreuzte in eine gekreuzte verwandelt und dadurch die scheinbare Anordnung des Gesehenen nach der Tiefe umgekehrt wird. Ein Relief erscheint dann wie die Matrize desselben, ein Kegel als Hohlkegel, ein durchsichtiges Polyeder derart, dass die hintere Fl\u00e4che\n1\tDie Zeichnung ist so entworfen, als bef\u00e4nde sich zwischen den beiden spiegelnden Fl\u00e4chen nicht Glas, sondern Luft.\n2\tB\u00f6ttcher, Arch. f. Ophthalmologie XX. (2) S. 182. 1874.","page":588},{"file":"p0589.txt","language":"de","ocr_de":"Pseudoskop. Stereoskopie durch Disjunction.\n589\ndesselben nach vorn gekehrt ist u. s. w. Stellen die Zeichnungen Objecte dar, die keine solche Invertirung gestatten, weil die Verkeilung von Licht und Schatten, die theilweise Deckung des hinter einander Gelegenen und andere Momente die der Wirklichkeit entsprechende Localisirung fordern, so entsteht ein eigent\u00fcmlicher Kampf zwischen den beiden Arten der Localisirung, wobei einzelne St\u00fccke des Bildes nach den Gesetzen der einen, andere nach den Gesetzen der anderen Art gesehen werden (Panum 1 2).\nAuch wirkliche Objecte kann man in einer nach der Richtung der Tiefe umgekehrten Form und Anordnung sehen, wenn man vor jedes Auge ein rechtwinkliges Prisma (Reversionsprisma) so stellt, dass seine Kanten senkrecht und die Hypotenusenfl\u00e4che der Medianebene parallel liegt. Dann sieht jedes Auge ein Spiegelbild der Dinge, so dass ebenfalls Rechts und Links vertauscht ist. Wheatstone nennt einen derartigen Apparat das Pseudoskop.\nMan kann sich ferner auch von beliebigen planen Objecten stereoskopische Anschauungen verschaffen, wenn man durch irgend welches optische H\u00fclfsmittel die Correspondenz seiner beiden Netzhautbilder in entsprechender Weise st\u00f6rt. H\u00e4lt man bei binocularem Sehen vor ein Auge ein Prisma, so erscheinen gerade Linien auf einem Papiere, besonders die der Kante des Prisma parallelen, nach der Tiefe gekr\u00fcmmt (Ruete). Das mit dem Prisma bewaffnete Auge sieht diese Linien in der Ebene des Papiers gekr\u00fcmmt und durch Combination dieses krummen Bildes mit dem geraden des anderen Auges entsteht der stereoskopische Effect.\nVerschiebt man eines der Netzhautbilder eines planen Objectes nach oben oder unten, was durch leichten Fingerdruck auf den Augapfel oder besser mittels eines Prismas geschieht, dessen brechende Kante horizontal liegt, so erh\u00e4lt man ebenfalls, wie Listing 2 gezeigt hat, bisweilen \u00fcberraschende stereoskopische Eindr\u00fccke, falls n\u00e4mlich die l\u00e4ngs-disparaten Netzhautbilder eben so gut die quer-disparaten Bilder eines nach der Dimension der Tiefe ausgedehnten Objectes sein k\u00f6nnten. Freilich geh\u00f6rt dazu, dass die durch solche Disjunction, wie es Listing nennt, bewirkte Disparation der Bilder nicht wieder durch einseitige Hebung oder Senkung des einen Auges ausgeglichen werde. Beistehende Figur 67 ist besonders geeignet, die Stereoskopie durch blosse Bilderverschiebung zu erl\u00e4utern. Betrachtet man sie, w\u00e4hrend man vor das eine\n1\tPanum, Physiol. Unters, \u00fcber d. Sehen mit zwei Augen. Kiel 1858.\n2\tListing, G\u00f6ttinger Nachrichten 1869. Nr. 21. S. 431.","page":589},{"file":"p0590.txt","language":"de","ocr_de":"590\nHering, Physiol. Optik IY. 14. Cap. Ueber Stereoskopie.\nAuge ein Prisma mit horizontaler Kante h\u00e4lt, oder aber durch eine Brille, deren eines Glas man etwas nach oben, das andere nach unten verschoben hat, so dass die in Bezug auf das Auge nicht mehr centrirten Gl\u00e4ser beiderseits im entgegengesetzten Sinne als Prismen wirken, so erscheinen die beiden geschl\u00e4ngelten Linien als Raumspiralen.\nFertigt man sich dieselbe Figur doppelt an, betrachtet die Doppelfigur haploskopisch bind verschiebt dann die eine Figur nach oben oder unten, so ergiebt sich derselbe Effect.\nZeichnet man auf die Papierfl\u00e4che ein nahezu rechtwinkliges Kreuz, dessen einer Schenkel quer, der andere der Medianebene nicht ganz parallel liegt und h\u00e4lt vor das eine Auge ein Reversionsprisma, so scheint, wenn die quere Linie einfach gesehen wird, die andere zur Papierfl\u00e4che geneigt und parallel der Medianebene. Denn dieselbe erscheint dem unbewaffneten Auge in entgegengesetztem Sinne geneigt als dem anderen Auge, welches das Spiegelbild empf\u00e4ngt. Jede ein wenig unsymmetrische Projection einer einfachen symmetrischen Figur giebt auf diese Weise einen stereoskopischen Eindruck (Helmholtz).\nSchaltet man hinter das Objectivsystem eines Mikroskopes einen Prismenapparat ein, welcher analog wirkt, wie der in Fig. 66 dargestellte, so wird jeder aus dem untergelegten Pr\u00e4parate austretende Strahlkegel in zwei H\u00e4lften gespalten, welche verschiedene Wege einschlagen und jeder f\u00fcr sich durch je ein Ocular einem der beiden Augen zugeleitet werden k\u00f6nnen. Da den verschiedenen Strahlkegeln Objectpunkte entsprechen, welche in verschiedener Tiefe des Pr\u00e4parates liegen, so kann sich das Auge nicht gleichzeitig f\u00fcr alle Strahlkegel accominodiren, sondern nur f\u00fcr eine Gesammtheit solcher, deren zugeh\u00f6rige Objectpunkte ann\u00e4hernd in einer und derselben Ebene liegen. Bilden sich diese Punkte in beiden Augen corre-spondirend ab, so geben alle ferneren und alle n\u00e4heren Punkte nicht correspondirend liegende Zerstreuungskreise, weil die Strahlkegel zu d\u00fcnn sind, um die ganze Pupille auszuf\u00fcllen, und das eine Auge nur die rechte, das andere nur die linke H\u00e4lfte jedes Strahlkegels und also auch des Zerstreuungskreises empf\u00e4ngt. Die Disparation dieser sehr kleinen Zerstreuungskreise bedingt das N\u00e4her- und Fernerseben der zugeh\u00f6rigen Punkte im Vergleich mit denen, f\u00fcr welche das Auge eben accommodirt ist.\nIn solcher Weise kommt, wie Helmholtz gezeigt hat, die stereoskopische Wirkung der binocularen Mikroskope zu Stande. In Na-chet\u2019s binocularem Mikroskope wird \u00fcbrigens nur die eine H\u00e4lfte","page":590},{"file":"p0591.txt","language":"de","ocr_de":"Binoculares Mikroskop.\n591\njedes Strahlkegels vom urspr\u00fcnglichen Wege durch Prismen abgelenkt, w\u00e4hrend die andere ihren directen Weg fortsetzt.\nUeber noch andere Vorrichtungen und Apparate zur Erzielung stereoskopischer Eindr\u00fccke vergl. Helmholtz, Physiol. Optik S. 685.\nF\u00dcNFZEHNTES CAPITEL.\nUeber binoculare Farbenmischung und binocularen Contrast.\nEs bleibt uns \u00fcbrig, einige Gesichtsempfindungen zu besprechen deren Entstehung das Zusammenwirken beider Augen ganz besonders zur Voraussetzung hat. Obwohl jede Gesichtsempfindung nicht blos von der einen, sondern immer, wenn auch oft in kaum merklicher Weise, zugleich von der andern H\u00e4lfte des Sehorganes mit bestimmt wird, so hat man sich doch gew\u00f6hnt, die hier zu er\u00f6rternden That-sachen der Empfindung von der Besprechung der \u00fcbrigen abzusondern. Wir folgen also hier nur einem Gebrauche , nicht einer aus der Natur des Gegenstandes sich ergebenden Forderung.\nI. lieber binoculare Farbenmischung.\nSchon bei Er\u00f6rterung des Wettstreites der Conturen wurden beil\u00e4ufig die Erscheinungen erw\u00e4hnt, welche sich zeigen, wenn zwei correspondirende Netzhauttheile in verschiedenerWeise bestrahlt werden. Wir fanden, dass dabei bald die von der einen, bald die von der andern Netzhaut ausgel\u00f6ste Empfindung deutlicher ins Sehfeld trat, bald aber auch die resultirende Empfindung einer Mischfarbe.\nDas Entstehen einer resultirenden Empfindung oder die M\u00f6glichkeit der binocularen Farbenmischung ist von den Einen ebenso entschieden bestritten, als von den Andern behauptet worden.1 Der Widerspruch erkl\u00e4rt sich, ganz abgesehen von der Verschieden-\n1 Die reiche Literatur dieser Frage findet sich verzeichnet bei Fechner, Ueber einige Verh\u00e4ltnisse des binocularen Sehens. Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. VII. 1 SCO ; Aubert, Physiol, d. Netzhaut S. 299.1865 ; Helmholtz, Physiol. Optik S. 791 ; W. v. Bezold, Annal, d. Physik u. Chemie. Jubelband 1874. S. 585.","page":591},{"file":"p0592.txt","language":"de","ocr_de":"592 Hering, Physiol. Optik IV. 15. Cap. Ueber binoculare Farbenmischung etc.\nheit der individuellen Disposition, einerseits aus der Verschiedenheit der Bedingungen, unter welchen beobachtet wurde, anderseits daraus, dass man unter binocularer Farbenmischung nicht immer dasselbe verstand und an diese Mischung sehr verschiedene Anforderungen stellte.\nLegt man, unter sogleich weiter zu er\u00f6rternden Bedingungen, zwei rothe {a\u2018 a Fig. 68) und zwei blaue (\u00a3, b\u2018) Quadrate von gleicher Gr\u00f6sse und ungef\u00e4hr gleicher Helligkeit und sehr geringer S\u00e4ttigung in gleichen Abst\u00e4nden neben einander, richtet ein Auge auf a, das andere auf b, so decken sich ihre Bilder im Sehfelde. Daneben erscheinen nach links noch zwei rothe, nach rechts zwei blaue Quadrate; die \u00e4ussersten, a und \u00df\u2018 sind unoculare Halbbilder, die beiden andern a\u2018a, \u00df\u00df\u2018 binoculare und durch Deckung zweier gleichfarbiger Bilder entstanden. Hier interessiren uns nur die drei mittlen Bilder,\na\tci\tb\tb\noc oc 'oc cc/3 \u00df \u00df' \u00df '\nFig. 68.\nwelche s\u00e4mmtlich binocular sind.\tman die Farbe des\nmittlen Quadrates mit derjenigen des blauen oder des rothen Nachbarquadrates, so sieht man, dass sie weder der einen, noch der andern ganz gleich ist ; meist ist sie auch nicht stetig, * sondern wird bald r\u00f6ther, bald blauer, ohne jemals so blau oder so roth zu werden, wie die Farbe der seitlichen Quadrate. Kurz man sieht stets eine Mischfarbe aus Roth und Blau, die bald mehr in das eine, bald mehr in das andere sticht, bald beiden gleich nahe steht und dann ein mittles Rothblau (Violett) ist. Je l\u00e4nger man hinblickt, desto stetiger pflegt die Mischung zu werden und desto bequemer kann man die Mischfarbe mit den beiden Nachbarfarben vergleichen und sich von den Verschiedenheiten \u00fcberzeugen. Ebenso kann man dann einen l\u00e4ngeren Streifen eines wirklich blau-rothen Papiers quer oberhalb oder unterhalb der Quadrate zum Vergleiche hinlegen, auch wohl zuf\u00e4llig eines treffen, welches der Mischfarbe vor\u00fcbergehend gleich erscheint.","page":592},{"file":"p0593.txt","language":"de","ocr_de":"Bedingungen der binocularen Farbenmischung.\n593\nDer Versuch gelingt am besten bei einer sehr massigen Helligkeit und wenig ges\u00e4ttigten Farben. Die Quadrate m\u00fcssen durchaus eben sein, weshalb man die farbigen Papiere zweckm\u00e4ssig auf eine Glastafel klebt. Die Farbe muss ganz gleichartig sein und darf keinen Fleck und kein erkennbares Korn haben, auch d\u00fcrfen die Farben nicht gl\u00e4nzen. Endlich m\u00fcssen die Netzhautbilder m\u00f6glichst congruent sein. Da sich letzteres schwer erreichen l\u00e4sst und jeder nicht genau correspondirend abgebildete Contur den Versuch st\u00f6rt, ist es zweckm\u00e4ssig, daf\u00fcr zu sorgen, dass die Augen nicht f\u00fcr die Entfernung der Quadrate accommodirt sind, daher der Emmetrope und Hyperm\u00e9trope besser mit parallelen, der Myope besser mit gekreuzten Gesichtslinien beobachtet. Ueberdies kann man auch passende Linsen benutzen, um die Sch\u00e4rfe der Bilder unm\u00f6glich zu machen.\nLegt man auf tiefschwarzen, nicht gl\u00e4nzenden Sammet zwei weisse Quadrate, h\u00e4lt vor das eine Auge ein rothes, vor das andere ein blaues Glas, und fixirt mit dem einen Auge das eine, mit dem anderen das andere Quadrat, so sieht man drei Quadrate. Das mittle Quadrat entsteht durch binoculare Deckung eines rothen und eines\nblauen Bildes, die beiden seitlichen sind unoculare Bilder und tragen die Farbe des Glases. Auch hier sieht man, falls beide Gl\u00e4ser ann\u00e4hernd gleich helle Bilder liefern^ das mittle Quadrat in einer wechselnden Mischfarbe, aber nie so roth oder so blau, wie die Nebenquadrate. Es sind hier dieselben Vorsichten zu gebrauchen, wie beim vorigen Versuche und \u00fcberdies muss daf\u00fcr gesorgt werden, dass die Gl\u00e4ser ganz rein und gleichartig sind und von solcher Dicke, dass sie ann\u00e4hernd gleichhelle Bilder geben.\nDer letzt beschriebene Versuch hat den Mangel, dass die zur Farbenvergleichung benutzten Nebenquadrate nur unoculare Halbbilder sind und daher leicht ihre Helligkeit wechseln, wenn ein Wettstreit mit dem, von correspondirender Stelle des andern Auges gesehenen schwarzen Grunde eintritt. Dieser Uebelstand l\u00e4sst sich dadurch beseitigen, dass man in einem passenden Rahmen ein rothes und ein blaues Glas neben einander legt, so dass sie sich mit ihren abgeschliffenen R\u00e4ndern dicht ber\u00fchren. Diesen Rahmen (pp Fig. 69) bringt man zwischen die Augen und den schwarzen Grund, auf welchem drei weisse Quadrate neben einander liegen. Befindet sich dabei die\nHandbuch der Physiologie. Bd. III.\t38\nFig. 69.","page":593},{"file":"p0594.txt","language":"de","ocr_de":"594 Hering, Physiol. Optik IV. 15. Cap. Ueber binoculare Farbenmischung etc.\nGrenzlinie des rothen und blauen Glases in der Medianebene und hat der Rahmen die passende Entfernung von den Augen, so wird das mittle Quadrat b von dem einen Auge durch das rothe, von dem andern durch das blaue Glas gesehen, das eine seitliche Quadrat wird von beiden Augen durch das blaue, das andere von beiden durch das rothe Glas gesehen. Man erh\u00e4lt so drei binoculare Bilder und kann die Mischfarbe des mittlen mit der Farbe der seitlichen vergleichen. Diese Methode eignet sich besonders f\u00fcr solche, welche ihre Augenstellung noch nicht vollst\u00e4ndig in der Gewalt haben.\nBei diesem Versuche ist darauf zu achten, dass die Gl\u00e4ser kein reflectirendes Licht ins Auge schicken, was durch einen oder mehrere passend angebrachte schwarze Schirme und passende Stellung des Kopfes leicht vermieden wird. F\u00fcr den Anfang thut man gut, schwache Beleuchtung oder dicke Gl\u00e4ser zu w\u00e4hlen. Hat man die n\u00f6thige Uebung in der einen oder andern Methode, so kann man zu st\u00e4rkerer Beleuchtung und satteren Farben \u00fcbergehn. Man kann dabei jede Farbe mit solchen gleichhellen Farben (einschliesslich des Grau) mischen, welche nicht der Gegenfarbe (Complement\u00e4rfarbe) nahe stehen. Jedem, der ein normales Augenpaar hat, wird es auf diese Weise gelingen, binoculare, nicht gl\u00e4nzende und nur langsam oder gar nicht mehr wechselnde Mischfarben zu sehen. Der Ton der jeweiligen Mischfarbe geh\u00f6rt dabei immer dem Theile des Farbencir-kels an, welcher zwischen den T\u00f6nen der beiden gemischten Farben liegt. Je ges\u00e4ttigter die Farben sind, desto leichter tritt Wettstreit und Glanz hervor. Sind die Farben ungleich hell, so \u00e4hnelt die Mischfarbe im Allgemeinen mehr der helleren Farbe; aber selbst bei ziemlich grosser Helligkeitsdifferenz beh\u00e4lt sie einen mehr oder weniger deutlichen Stich in die dunkle Farbe. Mit wachsendem \u2018Unterschiede der beiden Helligkeiten tritt der Wettstreit der beiden Farben und der Glanz immer st\u00e4rker hervor. Aber erst bei sehr grosser Helligkeitsdifferenz kommt es vor, dass das Mittelquadrat vor\u00fcbergehend ganz die gleiche Farbe zeigt, wie das hellere Nachbarquadrat. Benutzt man zum Versuche schwarze und weisse Quadrate auf grauem Grunde, so bekommt man den lebhaftesten Wettstreit und die Erscheinung des Glanzes, und wohl nie ein ruhiges Grau. Gegenfarben geben auch bei gleicher Helligkeit viel schwerer eine ruhige Mischfarbe, als andere Farbenpaare. Sind sie jedoch sehr wenig ges\u00e4ttigt, d. h. stark mit Weiss oder Grau versetzt oder sehr dunkel, d. h. stark mit Schwarz versetzt, so bekommt man unter Umst\u00e4nden eine ganz neutrale Resultante. Soll dieselbe weiss sein, so muss man sehr helle,","page":594},{"file":"p0595.txt","language":"de","ocr_de":"Hindernisse der binocularen Farbenmischung.\n595\nwenig ges\u00e4ttigte Pigmente, z. B. das vielverbreitete durchgef\u00e4rbte Briefpapier, w\u00e4hlen und die Quadrate auf schwarzen Grund legen; das resultirende Weiss kann man dann mit einem daneben gelegten Weiss vergleichen. Ebenso kann man ein ruhiges neutrales Grau erhalten, wenn man wenig ges\u00e4ttigte Gegenfarben auf weissem Grunde benutzt.\nDas Wichtigste bei allen Versuchen \u00fcber binoculare Farbenmischung ist die m\u00f6glichste Beseitigung aller Conturen, Punkte oder irgendwelcher anderen Ungleichartigkeiten der farbigen Fl\u00e4che. Jeder Contur oder dergl. verhilft, wie wir im Cap. IV gesehen haben, der anliegenden Farbe des Grundes zum Siege im gemeinsamen Sehfeld. Am leichtesten vereiteln deshalb den Erfolg solche Conturen oder Ungleichartigkeiten, welche sich entweder nur auf der einen Netzhaut oder auf beiden nicht correspondirend abbilden. Denn diesen-falls dominirt an der entsprechenden Stelle des haploskopischen Bildes die eine oder andere Farbe, und von diesen Stellen verbreitet sie sich leicht \u00fcber gr\u00f6ssere Theile- der Fl\u00e4chen. Eine ruhige gleichartige Mischfarbe ist dann unm\u00f6glich. Aus alledem erkl\u00e4rt sich, dass Manche bei ihren Versuchen nicht zum Ziele kamen.\nAuf einen besonderen Umstand, der die genaue Correspondenz der Bilder vereiteln kann, hat v. Bezold hingewiesen. Handelt es sich um die binoculare Vereinigung von Farben, die im Spektrum weit auseinander liegen, denen also Strahlen von erheblich verschiedener Brechbarkeit entsprechen, so ist es f\u00fcr Jemand, der Augen von gleichem Refractions-verm\u00f6gen besitzt, unm\u00f6glich, die R\u00e4nder zweier haploskopisch zu vereinigenden Fl\u00e4chen beiderseits gleich scharf zu sehn ; die Augen accom-modiren sich dann entweder f\u00fcr die eine oder f\u00fcr die andere Strahlenart. Das eine Auge empf\u00e4ngt also ein Bild mit scharfen, das andere ein solches mit verwaschenen Conturen, und das erste Bild ist dann im Vortheil.\nEin Contur, welcher sich auf beiden Netzh\u00e4uten scharf und correspondirend abbildet, schadet weniger, erh\u00f6ht aber sozusagen die Spannung zwischen den anliegenden Empfindungen beider Augen, und giebt deshalb leicht Wettstreit oder Glanz. Deshalb ist es zweckm\u00e4ssig, die Conturen durch mangelhafte Accommodation zu verwischen.\nSucht man die Conturen dadurch zu vermeiden, dass man z. B. eine grosse unbegrenzte und ganz gleichartige Fl\u00e4che betrachtet, w\u00e4hrend vor beide Augen verschiedenfarbige Gl\u00e4ser gehalten werden, so treten andere grosse Uebelst\u00e4nde auf. Erstens n\u00e4mlich kann dann in den seitlichen, nur unocularen Theilen des Sehfeldes die eine Farbe ungest\u00f6rt von der andern sich geltend machen, und zweitens werden die nicht correspon-direnden Ungleichartigkeiten der Erregbarkeit der beiden Netzh\u00e4ute viel st\u00f6render, als auf einer kleinen Fl\u00e4che. Denn durch die Erregbarkeitsverschiedenheiten zweier correspondirender Netzhautpartien entsteht stellenweise eine Pr\u00e4valenz der einen Farbe \u00fcber die andere in \u00e4hnlicher\n38*","page":595},{"file":"p0596.txt","language":"de","ocr_de":"596 Hering. Physiol. Optik IY. 15. Cap. Ueber binoculare Farbenmischung etc.\nWeise wie durch objective Ungleichartigkeiten der beiden zu verschmelzenden Fl\u00e4chen.\nWenn \u00fcber das thats\u00e4chliche Vorkommen der binocularen Farbenmischung kein Zweifel mehr sein kann, so erhebt sich die weitere Frage, inwiefern die Ergebnisse dieser Mischungsmethode denen analog sind, welche man durch Mischung verschiedenartigen Lichtes auf einer und derselben Netzhautstelle erh\u00e4lt. In dieser Beziehung f\u00e4llt zun\u00e4chst ein wesentlicher Unterschied auf. Hat man durch haplosko-pische Betrachtung zweier farbigen Fl\u00e4chen eine Mischfarbe erhalten und l\u00e4sst dann genau dieselben farbigen Lichtmengen auf eine und dieselbe Netzhautstelle fallen, so ergibt sich eine ungleich hellere oder weisslichere Mischfarbe. L\u00e4sst man dagegen von jeder der beiden farbigen Lichtmengen nur die H\u00e4lfte auf eine und dieselbe Netzhautstelle wirken, so ist die Helligkeit oder Weisslichkeit der resul-tirenden Farbenempfindung gleicher Ordnung, wie die aus der binocularen Mischung sich ergebende Empfindung. Bringt man also die beiden Farben zu gleichen H\u00e4lften auf den Farbenkreisel oder mischt man die Farben mit dem Doppelspath, so erh\u00e4lt man eine Resulti-rende, welche sich in Betreff der Helligkeit wenigstens nicht auffallend von der durch binoculare Mischung erhaltenen Empfindung unterscheidet. Hieraus folgt schon ein h\u00f6chst wesentlicher Unterschied der binocularen Farbenmischung von der unocularen, gleichviel ob letztere nur in einem Auge oder in beiden zugleich auf cor-respondirenden Stellen vorgenommen wird. Bei der unocularen Mischung handelt es sich um eine Art Summirung oder Superposition der Reize, und die resultirende Empfindung ist stets bedeutend heller als jede der beiden Empfindungen, welche nur durch die eine Com-ponente des Lichtgemisches erzeugt werden. Mischt man aber die beiden Farben binocular, so ist die resultirende Mischfarbe nur ungef\u00e4hr gleich hell, wie die Einzelfarbe.\nDiese Thatsachen gen\u00fcgen schon, um selbst in den F\u00e4llen, wo die binoculare Mischung vollkommen gelingt, dieselbe der unocularen nicht gleichzustellen. Es ist, als ob beim Binocularsehen beide Netzh\u00e4ute sich im gemeinsamen Sehfelde gleichsam nur mit einem Bruch-theile der ihnen zugeh\u00f6rigen Empfindung geltend machen k\u00f6nnten, und zwar so, dass diese Bruchtheile sich immer zu 1 erg\u00e4nzen. Hering 1 nannte dies den Satz vom complement\u00e4ren Antheil der beiden Netzh\u00e4ute am Sehfelde. Diesem Satze ordnen sich nicht nur die Thatsachen des Wettstreits unter, sondern auch die der unocu-\nHering. Beitr. z. Physiol. \u00a7 121. 1864.","page":596},{"file":"p0597.txt","language":"de","ocr_de":"Helligkeit der binocularen Mischempfindung.\n597\nlaren Farbenmischung ; endlich noch einige Thatsachen, die man wohl auch als paradoxe bezeichnet hat.\nMan sieht im Allgemeinen die Dinge mit beiden Augen nicht heller, als mit einem. Ist n\u00e4mlich das eine Auge geschlossen oder ganz verdunkelt, so hat es fast gar keinen Antheil an dem gemeinsamen Mittelst\u00fccke des Sehfeldes. Sind beide Augen ge\u00f6ffnet, sa particip\u00e2t jedes Auge gleichsam nur mit der H\u00e4lfte seiner Empfindung am Sehfelde, so dass das Ergehniss dasselbe ist, wie wenn das eine Auge ganz unbetheiligt ist. Findet ein Wettstreit statt z. B. zwischen dem Schwarz des einen und dem Weiss des andern Auges, so sieht man bald reines Schwarz, bald reines Weiss, je nachdem eben die eine oder die andere Netzhaut vollst\u00e4ndig dominirt, oder man sieht ein gl\u00e4nzendes Grau, welches bald heller bald dunkler ist, bald dem Weissen gleich nahe steht wie dem Schwarzen, aber man sieht doch' nie das volle Weiss und das volle Schwarz zugleich an derselben Stelle des Sehfeldes. Man kann es leicht so einrichten, dass im binocularen Sehraum eine im einen Auge abgebildete weisse Fl\u00e4che vor oder hinter einer vom andern Auge gesehenen schwarzen erscheint. Dann verschwindet einmal die eine, dann wieder die andere, und dazwischen sieht man beide zugleich, aber die eine gleichsam durch die andere hindurch, wie durch ein Glas oder einen Schleier. Aber auch diesenfalls kann man durchaus nicht sagen, dass man eine reinweisse und eine reinschwarze Fl\u00e4che hinter einander sehe, obwohl hierf\u00fcr wegen der r\u00e4umlichen Sonderung der beiden Fl\u00e4chen gewiss die g\u00fcnstigsten Bedingungen vorliegen, die man sich denken kann. Vielmehr ist das Weiss der einen Fl\u00e4che immer durch das Schwarz der andern beeintr\u00e4chtigt und gleichsam abgeschw\u00e4cht, weil eben jede Netzhaut ihre Empfindung nur theil-weise geltend machen kann.\nFechner (1. c.) zeigte, dass vollst\u00e4ndige Verdunkelung eines bis zu gewissem Grade schon verdunkelten Auges bei unverdunkeltem andern Auge eine Erhellung des gemeinsamen Sehfeldes bewirkt, obwohl jetzt auf beide Netzh\u00e4ute zusammen weniger Licht f\u00e4llt, als zuvor. Er blickte z. B. gegen den Himmel oder eine weisse Th\u00fcre und hielt vor das eine Auge ein graues Glas, welches diesem Auge Alles bis zu einem gewissen Grade verdunkelte. Schloss oder verdunkelte er nun dieses Auge vollst\u00e4ndig, so wurde das Sehfeld heller, obgleich jetzt nur noch in ein Auge Licht fiel. So lange das eine Auge noch offen war, hatte es noch Antheil am gemeinsamen Sehfelde und lieferte einen Theil seiner relativ dunklen Empfindungen zur Herstellung der aus den Empfindungen beider Augen","page":597},{"file":"p0598.txt","language":"de","ocr_de":"598 Hering, Physiol. Optik IV. 15. Cap. Ueber binoculare Farbenmischung etc.\nresultirenden Mischempfindungen; wurde das Auge aber ganz verdunkelt, so sank sein Antheil am gemeinsamen Sehfelde fast auf Null herab, daher sich das letztere aufhellen musste. Analog konnte Fechner, wenn er in das anfangs ganz verdunkelte Auge wieder etwas Licht fallen liess, die Helligkeit des gemeinsamen Sehfeldes abnehmen sehen. Das pl\u00f6tzlich etwas beleuchtete Auge machte sich dabei wieder mit seiner dunklen Empfindung im Sehfelde geltend.\nDer Satz vom complement\u00e4ren Antheile der Netzh\u00e4ute oder der Empfindungen am Sehraume kann nur ein zusammenfassender Ausdruck f\u00fcr die bekannten Tliatsachen sein. Auf eine wirkliche Erkl\u00e4rung derselben, wie sie sich aus Hering\u2019s Theorie der Gesichtsempfindungen und dem von ihm aufgestellten psychophysischen Grundgesetze geben liesse, kann hier nicht eingegangen werden, weil weder jene Theorie noch dieses Gesetz in den bez\u00fcglichen Capiteln dieses Handbuches er\u00f6rtert werden konnte.\nAbgesehen von der Helligkeit gilt es auch, die binocular gewonnene Mischfarbe mit der durch unoculare Mischung erhaltenen in Betreff des Farbentones zu vergleichen. Bei der Herstellung der unocularen Mischfarbe kann man sich entweder des Farbenkreisels bedienen, welcher mit jeder der beiden Farben zur H\u00e4lfte bedeckt wird, oder mit Helmholtz des Doppelspathes, welcher ebenfalls nur die halben Lichtquantit\u00e4ten der beiden Farben mischt. Man thut dann gut, ein farbiges Papier herzustellen, dessen Farbe der gefundenen Mischfarbe genau gleicht. Bringt man einen langen Streifen dieses Papiers in der oben beschriebenen Weise oberhalb oder unterhalb der haploskopisch verschmolzenen Quadrate an, so kann man die binoculare Mischfarbe mit der unocularen direct vergleichen. Man findet dann fast immer eine deutliche Verschiedenheit des Tones, g\u00fcnstigen Falls aber gelingt es vor\u00fcbergehend einen Ton der binocularen Mischfarbe zu finden, welcher der unocularen Mischfarbe genau gleicht ; denn die erstere ist ja selten ganz stetig und spielt meistens abwechselnd mehr in die eine oder die andere Componente. Stellt man sich aber eine gr\u00f6ssere Anzahl der Uebergangst\u00f6ne von der einen zur andern Farbe mittels farbiger Papiere dar, so kann man unter Umst\u00e4nden, wo die Herstellung einer stetigeren, binocularen Mischfarbe mit Sicherheit gelingt, auch den entsprechenden Farbenton unter jenen Papieren finden. Es ist dies aber keineswegs nothwendig derselbe, welchen man erh\u00e4lt, wenn man die beiden Farben unocular zu gleichen Theilen mischt. Dass es Jemand gelungen sei, durch binoculare Mischung von Gegenfarben (Complement\u00e4rfarben) genau","page":598},{"file":"p0599.txt","language":"de","ocr_de":"Farbenton der binocularen Mischempfindung.\n599\ndasselbe Gran zu erbalten, wie durch unoculare Mischung zu gleichen Theilen, finden wir nirgends angegeben.\nHelmholtz hat die M\u00f6glichkeit einer binocularen Farbenmischung \u00fcberhaupt bezweifelt und f\u00fcr seine Augen sogar entschieden bestritten. Es hatte dies seinen Grund offenbar darin, dass er erstens nicht f\u00fcr die Ausschliessung aller irgend entbehrlichen Conturen und Ungleichartigkeiten sorgte, und dass er zweitens die Forderung stellte, die binoculare Mischfarbe solle durchaus derjenigen gleichen, welche man durch unoculare Mischung zu gleichen H\u00e4lften bekommt, was schon theoretisch nur als ein besonderer Fall erscheinen muss. Helmholtz beschreibt folgenden Versuch: \u201eMan legt zwei blaue und zwei rothe quadratische Felder wie die eines Schachbretts zusammen, so dass z. B. das rechte obere und linke untere blau, das linke obere und rechte untere roth sind. Dann bringt man vor jedes Auge ein doppelbrechendes achroma-tisirtes Kalkspatliprisma in derjenigen Stellung, dass es \u00fcber einander liegende Doppelbilder giebt. Indem die Doppelbilder der farbigen Felder sich theilweis \u00fcber einander schieben, entsteht f\u00fcr jedes Auge l\u00e4ngs der horizontalen Trennungslinie der farbigen Felder ein aus Roth und Blau monocular gemischter, also rosarother Streifen. Jetzt blickt man mit parallelen Gesichtslinien nach den Feldern hin, so dass ihre Bilder sich binocular \u00dcbereinanderschieben. Dann hat man oben rechtes Blau und linkes Roth sich deckend, in der Mitte Rosaroth mit Rosaroth, unten rechtes Roth mit linkem Blau. Unter diesen Umst\u00e4nden ist es f\u00fcr meine Augen ganz deutlich, dass in der binocularen Combination von Blau und Roth keine Spur von dem Rosenroth, wie es der mittlere Streifen zeigt, enthalten ist, sondern nur die beiden einzelnen Farben getrennt. \u201c\nEine kleine Modification des Versuches f\u00fchrt jedoch auch hier bisweilen zum Ziele. Man lege die Quadrate nicht dicht neben einander, sondern so, dass ein Streifen des Grundes sie trennt, ferner mache man sie so klein, dass sich die unteren mit den oberen genau decken, und nicht bloss in einander greifen, wenn man sie durch den Doppelspath betrachtet. Ueber das obere rothe Quadrat lege man noch ein gleich grosses rothes, \u00fcber das obere blaue noch ein gleiches blaues. Dann sieht man mittels des Spathes 8 Quadrate. Die beiden oberen und die beiden unteren Quadrate kommen nicht in Betracht, denn es sind nur Halbbilder. Die zweituntersten erscheinen in der unocularen Mischfarbe, von den zweitobersten ist das eine blau, das andere roth. Bringt man beide Quadrati^ihen binocular zur Deckung, so sieht man drei L\u00e4ngsreihen, deren mittlere binocular ist und uns hier allein interessirt. In dieser Reihe zeigt das zweite Quadrat von oben die binoculare, das n\u00e4chstuntere aber die unoculare Mischfarbe. Sind die zu mischenden Farben nicht zu hell und nicht zu ges\u00e4ttigt, so gleicht bisweilen die unoculare Mischfarbe der binocularen in Betreff des Tones vollkommen. Immerhin ist dies, wie sich nach dem oben Gesagten von selbst versteht, nur ein besonders gl\u00fccklicher Fall.\nHelmholtz hat, da er als unoculare Mischfarbe von \u201eRoth\u201c und Blau ein helles Rosa fand, offenbar mit hellen Farben und wahrschein-","page":599},{"file":"p0600.txt","language":"de","ocr_de":"600 Hering, Physiol. Optik IY. 15. Cap. Ueber binoculare Farbenmischung etc.\nlieh sogar auf schwarzem Grunde gearbeitet, wodurch er Wettstreit und Glanz beg\u00fcnstigt hat.\nII. Ueber binocularen Contrast.\nMan lege auf eine schwarze Fl\u00e4che einen weissen Streifen, spalte letzteren durch Schielen in ein Doppelbild und bringe vor das rechte Auge ein blaues, vor das linke ein graues Glas, so wird man das Bild des rechten Auges blau, das Bild des linken Auges aber gelblich sehen, und zwar am sichersten dann, wenn der Streifen durch das graue Glas gesehen gleich hell erscheint, wie durch das blaue. Um die ins linke Auge fallende Lichtmenge passend zu schw\u00e4chen, kann man sich statt des grauen Glases auch eines steifen Papiers mit einem kleinen Loche bedienen, welches man dicht vor das linke Auge bringt.\nDas Gelb des linken Bildes ist eine Contrastempfindung ; denn so lange der Streifen nur mit dem linken Auge betrachtet wird, erscheint er grau, sobald aber das rechte Auge ge\u00f6ffnet und seine Netzhaut blau bestrahlt wird, f\u00e4rbt er sich gelb. Diese Art des Contrastes kann also nur beim binocularen Sehen entstehen. Gleichg\u00fcltig ist es nat\u00fcrlich, vor welches Auge man das farbige Glas bringt. Ebenso kann man statt des blauen irgend ein anders gef\u00e4rbtes Glas benutzen, immer f\u00e4rbt sich das Bild des anderen Auges mit der Gegenfarbe (Complement\u00e4rfarbe).\nLegt man einen schwarzen Streifen auf weissen Grund und verf\u00e4hrt im Uebrigen ganz ebenso, wie beim vorigen Versuche, so erscheint das Bild des rechten Auges ums\u00e4umt von einem blauen, das des linken von einem gelblichen Randscheine, der Grund aber erscheint im Allgemeinen weisslichblau, und seine Farbe ist dein Wettstreite unterworfen, wird also bald weisslicher, bald blauer.\nDer deutlich blaue Saum des rechts\u00e4ugigen Bildes ist dadurch bedingt, dass die Conturen des Streifens dem ihnen anliegenden Blau zur Pr\u00e4valenz im Sehfelde verhelfen, wie dies im IV. Capitel er\u00f6rtert worden ist. Aus demselben Grunde entsteht der Randschein des links\u00e4ugigen Bildes, welcher, wenn nicht der Contrast da w\u00e4re, lediglich weiss sein m\u00fcsste, durch letzteren aber gelblich gef\u00e4rbt wird. Auch bei diesem Versuch kann man Gl\u00e4ser von beliebig anderer Farbe mit analogem Erfolge benutzen.\nDer binoculare Contrast bietet ein gutes Mittel, um selbst kleine Verschiedenheiten in der sogenannten Stimmung beider Augen zu entdecken. Hat man ein Auge einige Zeit geschlossen und dadurch seine Empfindlichkeit gesteigert, und man spaltet dann das Bild eines","page":600},{"file":"p0601.txt","language":"de","ocr_de":"Binocularer Contrast.\n601\ngrauen Streifen auf schwarzem Grunde zu einem Doppelbild, so erscheint das Bild des vorher geschlossenen Auges auffallend heller und meist unterscheiden sich auch beide Bilder durch ihre Farbe. Stellt man z. B. den Versuch bei k\u00fcnstlicher Beleuchtung an, in welcher die gelben Strahlen \u00fcberwiegen, so erscheint das Bild des zuvor geschlossenen Auges gelblich, das des offen gebliebenen Auges bl\u00e4ulich. Man kann sich auf diese Weise \u00fcberzeugen, dass auch das Tageslicht fast immer farbig ist, jedoch verschieden je nach dem Stande der Sonne und je nach der Art der Bew\u00f6lkung des Himmels. Blickt man mit einem Auge kurze Zeit durch ein farbiges Glas nach 1 hellen Objecten und stellt den obigen Versuch an, so spielt das Bild , dieses Auges in die Gegenfarbe des Glases, das des anderen Auges aber in die Farbe des Glases selbst.\nAusser durch die Pupille empfangen die Netzh\u00e4ute auch etwas I Licht durch die Sklera. Die Quantit\u00e4t dieses Lichtes ist verschieden je nach der Stellung, welche man zur Lichtquelle hat. Ist unser Kopf durch ein Fenster oder eine andere Lichtquelle seitlich beleuchtet, so empf\u00e4ngt das eine Auge mehr Licht durch die Sklera \\ als das andere; die Folge ist nicht nur eine verschiedene Helligkeit und F\u00e4rbung der beiden Netzhautbilder eines und desselben Aussen-dinges, sondern auch weiterhin eine verschiedene Stimmung beider Augen. Erzeugt man sich unter solchen Umst\u00e4nden das Doppelbild f eines hellen Streifens auf dunklem Grunde, so erscheinen seine beiden Bilder verschieden hell und verschieden gef\u00e4rbt.\nDie meisten in das Gebiet der binocularen Contrasterscheinungen geh\u00f6rigen Thatsachen hat Fechner beigebracht, einzelne Beobachtungen \u00a3 finden sich schon bei Br\u00fccke, Meyer und Panum. Fechner sieht im binocularen Contrast die Folge einer Wechselwirkung der Netzh\u00e4ute auf einander; Helmholtz erkl\u00e4rt ihn, wie alle Contraste, psychologisch. Die Literatur des binocularen Contrastes siehe bei Fechner1 und Helmholtz2.\n1\tFechner, Ueber einige Verh\u00e4ltnisse des binocularen Sehens. Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. VII. 1860.\n2\tHelmholtz, Physiol. Optik S. 794.","page":601}],"identifier":"lit19184","issued":"1879","language":"de","pages":"343-601","startpages":"343","title":"Erster Theil: Physiologie des Gesichtssinns, Vierter Theil: Der Raumsinn und die Bewegungen des Auges","type":"Book Section","volume":"3"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:05:22.482353+00:00"}