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Zweiter Theil: Physiologie der Hautempfindungen und der Gemeingefühle, Erster Theil: Der Tastsinn und die Gemeingefühle

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{"created":"2022-01-31T14:06:48.289209+00:00","id":"lit19189","links":{},"metadata":{"alternative":"Handbuch der Physiologie. Band 3: Handbuch der Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Funke, O.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"In: Handbuch der Physiologie. Band 3: Handbuch der Physiologie der Sinnesorgane, edited by Ludimar Hermann, 287-414. Leipzig: F. C. W. Vogel","fulltext":[{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"PHYSIOLOGIE DER HAUTEMPFINDUNGEN\nUND\nDER GEMEINGEF\u00dcHLE\nVON\nweil. Prof. 0. FUNKE in Freiburg und Prof. E. HERING in Prag.","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"Der nachfolgende Abschnitt war Funke\u2019s letzte Arbeit. Am 16. August 1879 wurde er durch eine langwierige und qualvolle Krankheit den Seinen, der Wissenschaft und dem Kreise der Bearbeiter dieses Handbuches entrissen. Mit Aufbietung seiner letzten Kr\u00e4fte hatte er den von ihm \u00fcbernommenen Antheil des Werkes, f\u00fcr welches er ein warmes Interesse hatte, bis nahe zur Vollendung gef\u00f6rdert, und im Entw\u00fcrfe wirklich abgeschlossen.\nOtto Funke wurde am 27. October 1828 als Sohn eines hohen s\u00e4chsischen Beamten in Chemnitz geboren. Auf dem Zwickauer Gymnasium und der Dresdener Kreuzschule vorgebildet, studirte er von Ostern 1846 bis ebendahin 1851 in Leipzig Medicin und promovirte mit der bekannten Abhandlung : \u201ede sanguine venae lie-nalis\u201c. Zwei Jahre sp\u00e4ter habilitirte er sich in Leipzig f\u00fcr Anatomie und Physiologie, wurde 1854 zum Extraordinarius ernannt, und Ostern 1860 als ordentlicher Professor der Physiologie und Zoologie an Meissner\u2019s Stelle nach Freiburg berufen; fast zwanzig Jahre lang geh\u00f6rte er zu den Zierden der Freiburger Universit\u00e4t, deren Rectorat er zweimal bekleidete.\nFunke\u2019s zahlreiche Arbeiten, welche sich fast auf alle Gebiete der Physiologie erstreckten, ferner sein grosses Lehrbuch der Physiologie, welches in musterg\u00fcltiger Weise den physiologischen Lehrstoff zu beherrschen wusste, zu einer Zeit, wo derselbe in voller Umw\u00e4lzung begriffen war, sind unverg\u00e4ngliche Denkm\u00e4ler seines Geistes, seines Wissens und seiner Arbeitskraft. Seine W\u00e4rme und Energie, seine Vaterlandsliebe, seine Rednergabe f\u00fchrten ihn zu segensreichem Wirken weit \u00fcber den Bereich seiner Forscher- und Lehrerth\u00e4tigkeit hinaus; seine aufopfernde Wirksamkeit zur Zeit des letzten Krieges ist in weiten Kreisen in dankbarer Erinnerung. Seine hohe pers\u00f6nliche Liebensw\u00fcrdigkeit machte ihn zu einer Erscheinung, welche Jeder, der mit ihm in Ber\u00fchrung kam, lieb gewann. So hinterl\u00e4sst er nicht bloss in der Wissenschaft, sondern auch in vielen Herzen eine schmerzliche L\u00fccke.\nHerrn Professor Latschenberger, welcher die grosse G\u00fcte gehabt hat, den Schluss der Arbeit in Funke\u2019s Sinne und nach dessen hint erlassenem Entwurf zu Ende zu f\u00fchren, erlaube ich mir f\u00fcr diese F\u00f6rderung des Werkes bestens zu danken.\nL. H.","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"ERSTER THEIL.\nDER TASTSINN UND DIE GEMEINGEF\u00dcHLE.\nYON\nProf. 0. FUNKE in Freiburg.\nERSTES CAPITEL.\nDer Tastsinn im Allgemeinen und seine Beziehungen zu den Gemeingef\u00fchlen.\nI. Tast- und Gfemeingefiihle.\nUnter Tastsinn 1 verstehen wir das an die \u00e4ussere Haut und die Eing\u00e4nge der Schleimh\u00e4ute gebundene Verm\u00f6gen, auf mechanische oder thermische Reizung der in ihnen endigenden sensibeln Nerven zwei specifisch e Empfindungsqualit\u00e4ten, die Druck- und T emperaturempfindungen, zu erzeugen, welche von der Seele, unter Verkn\u00fcpfung mit mehr oder weniger genauen Vorstellungen von den gereizten Orten des Tastorgans, zu Wahrnehmungen \u00fcber bestimmte Qualit\u00e4ten und Zust\u00e4nde der reizenden \u00e4usseren Objecte, sowie \u00fcber deren r\u00e4umliche Verh\u00e4ltnisse verarbeitet werden. Die Auffassung der beiden genannten Empfindungsqualit\u00e4ten als specifisch verschiedene Seelenzust\u00e4nde hat zur Trennung des Tastsinns in einen Druck sinn und Temperatur sinn veranlasst. Die Berechtigung dieser Scheidung w\u00fcrde eine unzweifelhafte sein, wenn sich erweisen Hesse, dass trotz des gemeinschaftlichen Sitzes beider in der Haut als allgemeinem Sinnesorgan jeder derselben die Leistung eines besonderen nerv\u00f6sen Apparates mit specifisch verschiedenen peripheri-\n1 Als Hauptquellen der Lehre vom Tastsinn citiren wir vorl\u00e4ufig nur die classi-schen, bahnbrechenden Arbeiten E. H. Weber\u2019s : Annot. anat. et physiol, p. 44. Lip-siae 1834; Art. : d. Tastsinn u. d. Gemeingef\u00fchl in Wagner\u2019s Handw\u00f6rterb. d. Physiol. III. 2. Abth. S. 481. Braunschw. 1846; Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. 1847. S. 358. 1848. S. 226. 1852. S. 85.\nHandbuch der Physiologie. Bd. IHa.\n19","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"290\nFunke, Tastsinn etc. 1. Cap. Der Tastsinn im Allgemeinen.\nsehen Erregungsapparaten, einerseits f\u00fcr mechanische, andererseits f\u00fcr thermische Reize, mit specifisch verschiedenen centralen Empfindungsapparaten sei. Die principielle Nothwendigkeit der in Rede stehenden Sonderung wird dagegen hinf\u00e4llig, wenn festgestellt w\u00e4re, dass Druck- und Temperaturempfindungen nicht allein durch dieselben Sinnes-, Leitungs- und Empfindungsapparate vermittelt werden, sondern selbst nicht wesentlich verschieden, nur Modificationen einer identischen Grundempfindung w\u00e4ren. Wie die Entscheidung dieser Vorfragen auch ausfallen m\u00f6ge, vorl\u00e4ufig fordert schon die Verschiedenartigkeit der Erregungsbedingungen beider Empfindungsarten, die anscheinend absolute Heterogenit\u00e4t, mit welcher sie im ausgepr\u00e4gten Zustand vor das Bewusstsein treten, und die Verschiedenartigkeit der objectiven Verh\u00e4ltnisse, zu deren Erkenntniss die Seele sie verwertet, eine getrennte Behandlung des Druck- und Temperatursinnes. So ist auch in diesem Handbuch der Temperatursinn einem eigenen Artikel \u00fcberwiesen, w\u00e4hrend uns hier nur die Darstellung des Drucksinnes in Verbindung mit dem Orts- oder Raumsinn der Haut obliegt, eine Verbindung, welche h\u00e4ufig als Tastsinn im engeren Sinne bezeichnet wird, weil in der That die \u00fcberwiegende Mehrzahl der zuf\u00e4lligen Nachrichten sowohl, welche uns die Haut in ihrer wechselreichen Ber\u00fchrung mit Aussendingen \u00fcber dieselben bringt, als der wichtigsten absichtlichen Belehrungen, welche wir uns mit bewussten Tastoperationen \u00fcber \u00e4ussere Verh\u00e4ltnisse verschaffen, auf Druckempfindungen mit den unzertrennlich damit verbundenen r\u00e4umlichen Wahrnehmungen beruht. Den sp\u00e4teren schwierigen Er\u00f6rterungen \u00fcber die Entstehung der letzteren, insbesondere \u00fcber die Ab-gr\u00e4nzung des \u201e Physiologischenu vom \u201e Psychischen des Angeborenen vom Erworbenen des Raumsinns der Haut wollen wir nicht durch den Versuch einer einleitenden Definition vorgreifen.\nEinige haben geglaubt, neben den Druck- und Temperaturempfindungen und neben den unmittelbar vom gereizten Tastorgan ausgehenden Anregungen de - Seele, welche die Grundlagen der r\u00e4umlichen Vorstellungen bilden, noch weitere einfache Empfindungsarten als fundamentale urspr\u00fcngliche Leistungen des erregten Tastnervenapparates unterscheiden zu m\u00fcssen. So hat Meissner1 unter dem Namen \u201eeinfache Tastempfindung\u201c eine neben Druck- und Temperaturempfindung bei Ber\u00fchrung der Haut durch \u00e4ussere Objecte unabh\u00e4ngig einherlaufende Empfindungsqualit\u00e4t unterschieden, deren Inhalt die\n1 G-. Meissner, Beitr. z. Anat. u. Physiol, d. Haut. Leipzig 1853. Ztschr. f. rat. Med. N. F. IV. S. 260. 1854. Vergl. Funke, Schmidt\u2019s Jahrb. LXXIX. S. 341. 1853. LXXX1I. S. 287. 1854.","page":290},{"file":"p0291.txt","language":"de","ocr_de":"Angebliche Tastempfindungen. Tastsinn und Gemeingef\u00fchle.\n291\nWahrnehmung eines ber\u00fchrenden Objectes sein soll. So hat Vier-ordt1 im Anschluss an eine analoge von Exner2 f\u00fcr den Gesichtssinn aufgestellte Behauptung auch im Gebiete des Tastsinnes ein \u201eBewegungsgef\u00fchl\u201c unterschieden, d. h. ein ebenso unmittelbar und zwangsm\u00e4ssig wie Druck-, W\u00e4rme- oder K\u00e4ltegef\u00fchl durch die Reizung der Tastnerven unter gewissen Umst\u00e4nden ausgel\u00f6stes Gef\u00fchl, dessen Inhalt die Wahrnehmung der Bewegung des Tastobjectes sein soll. Es wird aus der speciellen Darstellung hervorgehen, dass und warum wir diese Unterscheidung, die Einweisung der sogenannten einfachen Tastempfindung und des Bewegungsgef\u00fchls in die Kategorie der unmittelbaren primitiven Sinnesth\u00e4tigkeiten, auf welche der Begriff \u201eEmpfindung\u201c eingeengt bleiben muss, entschieden als berechtigt nicht anerkennen k\u00f6nnen, dass wir dieselben vielmehr zu der Classe der unter der Bezeichnung \u201eVorstellungen\u201c abzugr\u00e4nzen-den secuncf\u00e4ren Acte der Sinnesth\u00e4tigkeit z\u00e4hlen, welche die Seele durch eine in den meisten F\u00e4llen sicher erst erlernte urtheilende Th\u00e4tigkeit an die prim\u00e4ren reinen Empfindungen, und zwar in vielen F\u00e4llen an gewisse Combinationen mehrerer gleichzeitiger Empfindungen ankn\u00fcpft.\nWenn die Abl\u00f6sung des Temperatursinnes auf der einen Seite eine Einschr\u00e4nkung des hier zu behandelnden Gebietes mit sich bringt, sind wir auf der anderen Seite veranlasst, \u00fcber seine engeren Gr\u00e4nzen hinauszugreifen. Ein wesentlicher Theil der Charakteristik der Tastempfindungen beruht auf der Feststellung ihrer unterscheidenden Merkmale gegen\u00fcber den sogenannten \u201eGemeingef\u00fchlen d. h. einer Reihe von Empfindungen, welche zwar an sich heterogen, aber durch die theilweise Identit\u00e4t der Erregungsherde und vielleicht sogar des vermittelnden nerv\u00f6sen Apparates, sowie durch die Identit\u00e4t oder nur graduelle Verschiedenheit der Erregungsbedingungen unter sich und mit den Tastempfindungen in verwandtschaftliche Beziehung gestellt werden. Die Charakteristik der letzteren erheischt daher eine eingehende vergleichende Analyse der Gemeingef\u00fchle, insbesondere ihres Hauptrepr\u00e4sentanten: der Schmerzempfindung. Bei der Durchf\u00fchrung derselben wird sich die Nothwendigkeit heraussteilen, aus dem Verband der Gemeingef\u00fchle eine speeifische Empfindungsart auszuscheiden, welcher jede Heimathsberechtigung in dieser untergeordneten Classe von Empfindungen fehlt, welche vielmehr durch die Art ihrer psychischen Verwerthung sich als eine \u00e4chte Sinnesempfindung sui generis ausweist, und als solche zuerst von\n1\tC. Vierordt, Ztschr. f. Biologie XII. S. 226. 1876.\n2\tS. Exner, Sitzgsber. d. Wiener Acad. 3. Abth. LXXII. S. 156. 1875.\n19*","page":291},{"file":"p0292.txt","language":"de","ocr_de":"292\nFunke, Tastsinn etc. 1. Cap. Der Tastsinn im Allgemeinen.\nE. H. Weber und nach seiner klaren Beweisf\u00fchrung von der Mehrzahl der Physiologen als Grundlage eines besonderen sechsten Sinnes angesprochen worden ist, d. i. die eigenth\u00fcmliche, die Th\u00e4tigkeit unserer willk\u00fcrlichen Muskeln begleitende Empfindung, das sogenannte \u201eMuskelgef\u00fchl\u201c, auf dessen Interpretationen die Leistungen des vielseitigen \u201eMuskelsinnes\u201c beruhen. Obwohl demnach diesem Sinn in Folge der specifischen \u201e Modalit\u00e4t \u201c (Helmholtz) seiner Empfindungen und des Besitzes eigener Apparate ein selbst\u00e4ndiges Gebiet zuerkannt werden muss, ist doch eine, wenn auch nur beil\u00e4ufige Besprechung und Zergliederung seiner Leistungen hier so wenig wie in der Lehre vom Gesichtssinn zu umgehen, weil zahlreiche Gesichts- und Tastwahrnehmungen lediglich unter seiner Mitwirkung zu Stande kommen, weil wir die Frage zu pr\u00fcfen haben, ob ihm bei der Erziehung des Raumsinnes der Haut eine wesentliche Rolle zuzusprechen sei.\nDie Physiologie fast gemeinhin unter dem Sammelnamen: \u201eGef\u00fchlsempfindungen\u201c alle diejenigen mannigfachen, unter sich nicht vergleichbaren und an sich, wie alle Empfindungen, nicht de-finirbaren Empfindungsarten zusammen, welche von allen \u00fcberhaupt \u201e empfindlichen \u201c Organen und Geweben des K\u00f6rpers ausser den peripherischen Eigenapparaten des Seh-, Geh\u00f6rs-, Geruchs- und Geschmacksnerven aus vermittelt werden, welche also nicht Gesichts-, Geh\u00f6rs-, Geruchs- oder Geschmacksempfindungen sind. Zu dieser negativen Kategorie rechnet man Schmerz-, Kitzel-, Schauder-, Wollust-, Hunger-, Durst-, Druck-, Temperatur-Empfindungen, ferner zwei Arten von Empfindungen, welche die Th\u00e4tigkeit der willk\u00fcrlichen Muskeln begleiten: das sogenannte Muskel- oder Anstrengungsgef\u00fchl im engeren Sinne, welches wir bereits vorl\u00e4ufig als specifische Sinnesempfindung bezeichnet haben, und das sogenannte Erm\u00fcdungsgef\u00fchl.\nEs fragt sich, wie weit diese Zusammenfassung auch durch irgend welche positive verwandtschaftliche Beziehungen der aufgez\u00e4hlten Empfindungen gerechtfertigt ist, da selbstverst\u00e4ndlich ihre Nichtidentit\u00e4t mit den Empfindungen der genannten \u00fcbrigen Sinne dieselbe nicht gen\u00fcgend begr\u00fcndet. In der That ist nun der Nachweis einer solchen positiven Gemeinschaft nicht mit Sicherheit und nicht f\u00fcr alle in Rede stehenden Gef\u00fchle zu f\u00fchren. Aus dem unbestreitbaren Satz, dass keine einzige Empfindungsqualit\u00e4t nach ob-jectiven, ihr selbst angeh\u00f6rigen Merkmalen in ihrem Wesen definirt werden kann, folgt von selbst, dass es auch nicht Gleichheit irgend welcher Eigenschaften aller sogenannten Gef\u00fchlsempfindungen selbst","page":292},{"file":"p0293.txt","language":"de","ocr_de":"Gef\u00fchle im Allgemeinen.\n295\nsein kann, auf welche sich ihre Coordination basiren l\u00e4sst. Durstund Wollust- oder Kitzel- und Erm\u00fcdungsgef\u00fchl stehen einander ebenso unvergleichbar gegen\u00fcber, wie Licht- und Tonempfindung, und wenn man behauptet, dass gewisse Paare der aufgez\u00e4hlten Gef\u00fchle, wie Kitzel- und Wollust- oder Kitzel- und Schaudergef\u00fchl in einem \u00e4hnlichen subjectiven Verwandtschaftsverh\u00e4ltniss zu einander zu stehen scheinen, wie zwei notorisch in ein und dasselbe Gebiet eines anderen Sinnes geh\u00f6rige Empfindungsqualit\u00e4tenpaare, z. B. zwei Lichtempfindungen verschiedener Farbe oder zwei Tonempfindungen verschiedener H\u00f6he, f\u00fcr welche uns auch jedes objective Verwandtschaftsmerkmal fehlt, so mangelt dieser Behauptung das Beweismittel, auf welches hin wir mit Recht z. B. zwei Tonempfindungen subjec-tiv als Modificationen einer identischen Empfindungsmodalit\u00e4t auffassen, d. i. die Wahrnehmbarkeit von Uebergangsempfindungen. Es scheint uns ja in der That bei st\u00e4tiger Zunahme der Schwingungszahl,. wie wir sie z. B. bei einer in Schwingung versetzten gespannten Saite durch st\u00e4tige Erh\u00f6hung der Spannung erzielen k\u00f6nnen, die Tonempfindung ganz allm\u00e4lig ohne Spr\u00fcnge die Qualit\u00e4t, welche wir als H\u00f6he bezeichnen, zu \u00e4ndern. Allerdings scheint uns auch das W\u00e4rmegef\u00fchl, welches bei Einwirkung einer h\u00f6heren Temperatur auf eine bestimmte Hautpartie entsteht, ganz successiv in Schmerzempfindung \u00fcberzugehen, wenn wir die einwirkende Temperatur st\u00e4tig wachsen lassen. Aber es fragt sich doch sehr, ob eine vollst\u00e4ndige Analogie zwischen diesem Uebergang und dem der Tonh\u00f6he besteht. Erstens findet letzterer in ganz gleicher Weise in der ganzen Breite der Empfindungsscala statt, w\u00e4hrend die Schwelle des Schmerzes nur in ein ganz bestimmtes engbegr\u00e4nztes Gebiet der W\u00e4rmeempfindungsscala f\u00e4llt. Zweitens ist der Uebergang der W\u00e4rmeempfindung in Schmerz bei der successiven Erw\u00e4rmung der Haut ebenso gut als durch die allm\u00e4lige Modification einer identischen Grundempfindung dadurch zu erkl\u00e4ren, dass bei einer bestimmten Reizst\u00e4rke der Schmerz, als eine neue Empfindungsmodalit\u00e4t, sich gewissermaassen neben der Temperaturempfindung einschleicht, und dieselbe im Bewusstsein \u00fcbert\u00e4ubt, oder auch, dass letztere \u00fcberhaupt bei den schmerzerweckenden Reizgraden nicht mehr zu Stande kommt. Drittens ist hervorzuheben, dass wir zwar in der ganzen Breite der Tonempfindungsscala Empfindungen verschiedener H\u00f6he, sobald sie nicht zu weit auseinanderliegen, oder unser \u201eGeh\u00f6r\u201c nicht durch Uebung sehr verfeinert ist, mit einander verwechseln k\u00f6nnen, nicht aber eine W\u00e4rmeempfindung mit einer Schmerzempfindung. Auf weitere, wenn auch nicht in ihrem eigenen Wesen begr\u00fcndete","page":293},{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"294\nFunke. Tastsinn etc. 1. Cap. Der Tastsinn im Allgemeinen.\nDifferenzen der beiden letzteren kommen wir alsbald zu sprechen. Ebenso soll an einer sp\u00e4teren Stelle die speciell f\u00fcr Druck- und Temperaturempfindungen auf Grund der M\u00f6glichkeit einer Verwechslung beider behauptete nahe Verwandtschaft n\u00e4her discutirt werden.\nDass man die Zusammengeh\u00f6rigkeit der Gef\u00fchlsempfindungen in eine Kategorie nicht darauf begr\u00fcnden kann, dass eine Reihe derselben durch einen und denselben reizenden \u00e4usseren Vorgang, wenn auch durch verschiedene Grade desselben hervorgerufen wird, z. B. Kitzel-, Schauder-, Wollust-, Druck- und Schmerzempfindung durch verschiedene Grade der Compression einer und derselben oder verschiedener Hautpartien, liegt auf der Hand. Wir m\u00fcssten sonst als Consequenz dieser Beweisf\u00fchrung anerkennen, dass auch Licht-und Geschmacksempfindungen nur Unterarten einer und derselben Modalit\u00e4t seien, weil beide durch den elektrischen Strom hervorgerufen werden k\u00f6nnen.\nAls gewichtigstes Argument f\u00fcr die in Frage stehende Zusammenfassung gilt allgemein die als thats\u00e4chlich begr\u00fcndet angenommene Vermittelung je mehrerer Gef\u00fchlsarten durch denselben nerv\u00f6sen Apparat, insbesondere die Annahme, dass eine Empfindungsart, d. i. der Schmerz, Gemeingut aller sensibeln Apparate sei, welche irgend ein oder mehrere der \u00fcbrigen Gef\u00fchle zu vermitteln im Stande sind. So nehmen die Meisten an, dass derselbe Apparat, aus denselben peripherischen Endvorrichtungen in der Haut, denselben leitenden Nervenfasern und denselben centralen Empfindungsapparaten bestehend, es sei, welcher bei m\u00e4ssiger Compression der Haut Druckempfindung (vielleicht auch Kitzel- und Schaudergef\u00fchl), bei Aende-rungen der Hautw\u00e4rme innerhalb gewisser Gr\u00e4nzen W\u00e4rme- und K\u00e4ltegef\u00fchl, und endlich bei Einwirkung hoher W\u00e4rme- und K\u00e4ltegrade oder starker Compression das Gemeingef\u00fchl des Schmerzes hervorbringe, dass dieselben sensibeln Fasern, welche bei m\u00e4ssiger Muskelth\u00e4tigkeit die als Grundlagen von SinneswTahrnehmungen ver-wertheten \u201e Muskelgef\u00fchle \u201c erzeugen, bei excessiver oder zu h\u00e4ufiger Muskelarbeit den Anstrengungs- oder Erm\u00fcdungsschmerz vermitteln, dass vielleicht auch Cardialgie und Hunger nur Leistungsmodifica-tionen des gleichen Magennervenapparates sind. Auch diesem Argument stehen gewisse gewichtige Bedenken in Betreff seiner that-s\u00e4chlichen Begr\u00fcndung und folglich seiner Beweiskraft f\u00fcr die vorliegende Frage gegen\u00fcber, selbst wenn wir von solchen Empfindungen wie Hunger und Durst, deren Erregungsweise noch ebenso unbekannt ist, wie ihr vermittelnder Nervenapparat, ganz absehen und uns nur an die in dieser Beziehung am besten studirten Hautgef\u00fchle halten.","page":294},{"file":"p0295.txt","language":"de","ocr_de":"Verschiedenheit des Apparates verschiedener Gef\u00fchle.\n295\nSind Druck-, W\u00e4rme-, K\u00e4lte- und Schmerzempfindung verschiedene Effecte eines identischen Nervenapparates, so ist diese Vielseitigkeit seiner Leistungen erkl\u00e4rlich, selbstverst\u00e4ndlich nur unter der Annahme, dass eine und dieselbe leitende Nervenfaser zu verschiedenen Modificationen des Erregungsvorganges, welche durch verschiedene Arten des peripherischen Anspruchs hervorgerufen in den Centralapparaten die verschiedenen Arten der Empfindung ausl\u00f6sen, bef\u00e4higt ist. Denn eine qualitativ unter allen Umst\u00e4nden identische Reizwelle kann in demselben Wirkungsapparat, welchem die Nervenfaser sie zutr\u00e4gt, doch unm\u00f6glich wesentlich verschiedene Effecte, sondern muss immer nur denselben Vorgang, in quantitativen Abstufungen je nach ihrer eigenen M\u00e4chtigkeit, erzeugen. Obwohl nun von vornherein die M\u00f6glichkeit, dass verschiedene Arten der Erregung existiren und gerade die sensibeln Hautnervenfasern dazu bef\u00e4higt sind', bei unserer Unkenntniss vom Wesen des Erregungsvorganges \u00fcberhaupt weder direct erwiesen noch absolut widerlegt werden kann, so sind es doch sehr gewichtige allgemeine Gr\u00fcnde, auf welche hin der entgegenstehende Lehrsatz, dass es nur eine einzige f\u00fcr s\u00e4mmtliche Nervenfasern identische Art der Erregungsbewegung gebe, mehr und mehr zum Axiom der allgemeinen Nerven-physiologie erhoben worden ist. Es ist hier nicht der Ort zu einer kritischen Abw\u00e4gung dieser Gr\u00fcnde, nur das m\u00f6chten wir hier besonders betonen, dass es gerade die Sinnesphysiologie ist, in welcher neuerdings dieser Lehrsatz bis zu den \u00e4ussersten Consequenzen ausgebaut, aber auch mit den plausibelsten thats\u00e4chlichen Belegen gest\u00fctzt worden ist. W\u00e4hrend man den Hautnerven zumuthet, durch verschiedene Erregungsmodificationen zwei so verschiedene Empfindungsmodalit\u00e4ten wie Druck- und Schmerzempfindung zu vermitteln, bringt man im Gebiete des Gesichts- und Geh\u00f6rssinnes nicht einmal die verschiedenen Qualit\u00e4ten derselben Modalit\u00e4t, d. i. die Lichtempfindungen verschiedener Farbe, die Tonempfindungen verschiedener H\u00f6he auf Rechnung verschiedener Erregungsvariet\u00e4ten derselben Opticus- und Acusticusfasern, sondern nimmt mindestens f\u00fcr eine Reihe von Grundqualit\u00e4ten eine entsprechende Anzahl nerv\u00f6ser Sonderapparate mit spezifischen Erregungs- und Wirkungsvorrichtungen an, wobei nat\u00fcrlich jeder Grund, den betreffenden Nervenfasern speci-fische Leitungsvorg\u00e4nge zuzuschreiben, wegf\u00e4llt. Im Gebiete des Lichtsinns statuirt die YouNG\u2019sche Hypothese f\u00fcr jeden Empfindungskreis der Netzhaut eine Trias von Apparaten, welche bei Gleichartigkeit ihrer Nervenfasern sich durch verschiedene Empfindlichkeit ihrer peripherischen Enden f\u00fcr Aetherwellen verschiedener Geschwin-","page":295},{"file":"p0296.txt","language":"de","ocr_de":"296\nFunke, Tastsinn etc. 1. Cap. Der Tastsinn im Allgemeinen.\ndigkeit und durch die verschiedene Farbe der Empfindung, welche die Erregung in ihren centralen Endzeilen ausl\u00f6st, unterscheiden, und danach in nicht correctem Ausdruck als roth-, gr\u00fcn- und violettempfindende Fasern bezeichnet werden. Dieser Hypothese ist allerdings von Hering k\u00fcrzlich eine neue gegen\u00fcbergestellt worden, welche zwar auch eine Anzahl verschiedener \u201eSehsubstanzen\u201c mit zugeh\u00f6rigen Leitungs- und Perceptionswerkzeugen f\u00fcr die Erzeugung verschiedener Farbenempfindungsqualit\u00e4ten in Anspruch nimmt, aber \u2014 was uns hier allein interessirt \u2014 insofern dem Satz von der Einartigkeit des Erregungsvorganges in den Nervenfasern derart widerspricht, als sie jeder Sehsubstanz je zwei antagonistische Qualit\u00e4ten der Reaction zuerkennt, von denen die eine durch einen \u201eDissimi-lationsprocess \u201c, die andere durch einen \u201e Assimilationsprocess \u201c im peripherischen Perceptionsapparat erzeugt wird, mithin nothwendiger-weise auch f\u00fcr die zu jeder Sehsubstanz geh\u00f6rigen leitenden Nervenfasern je zwei Modificationen des Erregungsvorganges annehmen muss. Erh\u00e4lt Hering Recht gegen Young, so w\u00fcrde freilich die Analogie zu Gunsten der Vorstellung, dass auch der Druck- Temperatur- und Schmerzempfindung verschiedene Modi der Erregung derselben Hautnervenfasern zu Grunde liegen, sprechen. Ganz entschieden gegen diese Vorstellung spricht aber die Analogie im Gebiete des Geh\u00f6rssinnes. Hier kann ein stichhaltiger Zweifel nicht aufkommen an der von Helmholtz auf die anatomisch-physikalische Analyse des CoRTi\u2019schen Organs begr\u00fcndeten Lehre, dass letzteres eine Claviatur von abgestimmten Resonatoren darstellt, deren jeder durch die seiner Schwingungszahl entsprechende Schallbewegung angesprochen eine besondere Nervenfaser erregt, welche ihrerseits \u2014 und zwar durch einen in allem identischen Erregungsvorgang einen gesonderten Empfindungsapparat, welcher gewissermaassen auf eine Empfindung von bestimmter H\u00f6he gestimmt ist, in Th\u00e4tigkeit setzt. Wie es sich bei den \u00fcbrigen Sinnen verh\u00e4lt, ob sich auch die verschiedenen Qualit\u00e4ten der Geruchs- und Geschmacksempfindungen auf verschiedene Sonderapparate vertheilen, ist vorl\u00e4ufig durchaus unentschieden; zu einer sicheren Antwort auf die in Betreff der Hautgef\u00fchle aufgeworfene Frage bietet mithin die Analogie keineswegs noch gen\u00fcgende Unterlagen. Es giebt aber noch ein Factum, welches wenigstens eine vollst\u00e4ndige Identit\u00e4t des Tastempfindungs- und des Schmerzempfindungsapparates der Haut sehr in Zweifel stellt, d. i. die That-sache, dass unter Umst\u00e4nden die Schmerzempfindlichkeit der Haut vollkommen aufgehoben sein kann, w\u00e4hrend ihre Tastempfindlichkeit ungeschw\u00e4cht oder sogar erh\u00f6ht fortbesteht und umgekehrt.","page":296},{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"Verschiedenheit des Apparates f\u00fcr Tastempfindungen und Schmerz. 297\nErsteres Verhalten, welches mit dem Namen \u201e Analgesie\u201c (Beau1) oder Analgie (Lotze2 3) bezeichnet worden ist, kommt beim Menschen nicht selten zur Beobachtung. Einmal tritt es regelm\u00e4ssig in gewissen Stadien der Aether- oder Chloroformnarkose ein, in denen die betreffenden Personen zwar noch jede Ber\u00fchrung ihrer Haut deutlich wahrnehmen, aber selbst bei den heftigsten Schmerzeingriffen durch keinerlei Zeichen eine Schmerzempfindung kundgeben. Zweitens ist die Analgesie eine nicht seltene Erscheinung bei gewissen krankhaften Zust\u00e4nden, bei denen allen jedoch keine pathologische Ver\u00e4nderung der Haut nachweisbar ist. So hat Beau dieselbe in vielen F\u00e4llen bei Bleikachexie beobachtet; am h\u00e4ufigsten zeigt sie sich bei pathologischen Zust\u00e4nden der Centralorgane des Nervensystems, insbesondere des R\u00fcckenmarks, ohne dass jedoch bisher ein constanter Zusammenhang mit bestimmten Formen und einem bestimmten Sitz der Erkrankung ermittelt w\u00e4re. Zu wichtigen Ergebnissen in letzterer Beziehung hat dagegen das physiologische Experiment gef\u00fchrt. Nach Schiff :i tritt bei Thieren Analgesie in den hinteren Extremit\u00e4ten ein, wenn man oberhalb des Ursprungs der Lendennerven die graue Substanz des R\u00fcckenmarks oder auch zugleich die weisse Substanz mit alleiniger Ausnahme der Hinterstr\u00e4nge quer durchschneidet. Solche Thiere beantworten die leiseste Ber\u00fchrung der hinteren Extremit\u00e4ten mit Reactionen z. B. Ohrenspitzen, welche von der vorderen K\u00f6rperh\u00e4lfte ausgehend die ungest\u00f6rte Leitung des Tasteindruckes zum Hirn beweisen, w\u00e4hrend sie eine bis zur Zerquetschung gesteigerte Compression der Haut ohne das mindeste Zeichen einer Schmerzempfindung ertragen. Umgekehrt sah Schiff bei alleiniger Durchschneidung der Hinterstr\u00e4nge oder des ganzen Marks mit Ausnahme einer aus grauer Substanz bestehenden Verbindungsbr\u00fccke die Schmerzempfindlichkeit nicht allein erhalten bleiben, sondern sogar erh\u00f6ht werden; ob dabei vollst\u00e4ndige tactile An\u00e4sthesie vorhanden war, l\u00e4sst sich aus den Versuchen nicht mit Bestimmtheit entscheiden. Indem wir in Betreff der n\u00e4heren Er\u00f6rterung dieser Thatsachen auf den Artikel \u201eR\u00fcckenmark\u201c verweisen, ziehen wir hier nur die auf unsere Frage bez\u00fcglichen Folgerungen. Offenbar kann nicht daran gedacht werden, die Analgesie aus einer Abstumpfung der Empfindlichkeit der peripherischen Enden eines f\u00fcr Tast- und Schmerzempfindung gemeinschaftlichen Nervenapparats f\u00fcr Schmerzreize zu erkl\u00e4ren; denn abgesehen von den\n1\tBeau, Arch. g\u00e9n. d. med. Janv. 184S. Froriep\u2019s neue Not. S. 135. April 1848.\n2\tLotze, Med. Psychologie. S. 250. Leipzig 1852.\n3\tSchiff, Lehrb. d. Physiol. I. S. 228. Lahr 1858.","page":297},{"file":"p0298.txt","language":"de","ocr_de":"298\nFunke, Tastsinn etc. 1. Cap. Der Tastsinn im Allgemeinen.\nThatsachen, welche ganz bestimmt auf eine centrale Quelle des Zustandes hinweisen, w\u00e4re es paradox, eine Abstumpfung f\u00fcr starke mechanische und thermische Reize, welche Schmerz erzeugen, anzunehmen und die Erregbarkeit desselben Apparats f\u00fcr schwache Reize gleicher Art fortbestehen oder sogar wachsen zu lassen. Ein analoges Raisonnement verbietet, die Erkl\u00e4rung in einer Herabsetzung der Reactionsf\u00e4higkeit eines gemeinschaftlichen centralen Ernpfin-dungsapparats f\u00fcr starke Erregungen, wie sie die Schmerzreize an der Peripherie ausl\u00f6sen, zu suchen. Ganz entschieden dr\u00e4ngen die Ergebnisse des physiologischen Experiments zu der Annahme, dass mindestens vom R\u00fcckenmark an eine Scheidung der Wege und Apparate f\u00fcr Tast- und Schmerzeindr\u00fccke stattfindet und zwar im Sinne der zuerst von Schiff aufgestellten Hypothese, nach welcher die Tasteindr\u00fccke durch die Fasern der weissen Hinterstr\u00e4nge die Schmerzeindr\u00fccke durch die graue (\u00e4sthesodische) Substanz den betreffenden Empfindungsapparaten zugeleitet werden. Ob nun die Scheidung erst im R\u00fcckenmark beginnt, oder bereits diesseits desselben im peripherischen Theil der Tast- und Schmerzwerkzeuge vorhanden ist, l\u00e4sst sich bis jetzt nicht entscheiden. Im ersteren Fall k\u00f6nnte man sich folgende Vorstellung machen. Eine und dieselbe Nervenfaser, welche von einem bestimmten Punkt der Haut entspringend, daselbst sowohl durch Tast- als durch Schmerzreize erregt werden kann, \u00fcber-giebt, als hintere Wurzelfaser die graue Substanz des R\u00fcckenmarks betretend, ihre Erregungen zun\u00e4chst einer Ganglienzelle, von welcher aus zwei Bahnen von verschiedenem Leitungswiderstand f\u00fcr die Fortpflanzung der Reizwellen sich abzweigen: eine von grossem Widerstand, d. i. diejenige, welche, zun\u00e4chst wenigstens in der grauen Substanz verbleibend, zu den Schmerzempfindungsapparaten f\u00fchrt, eine zweite von geringerem Widerstand, welche alsbald in die weisse Substanz \u00fcbertretend als L\u00e4ngsfaser eines Hinterstrangs zu den Tastempfindungsapparaten im Hirn f\u00fchrt. Dabei w\u00e4re leicht zu begreifen, dass die durch Tastreize erweckten schwachen Erregungen, ohne in die schlechtleitende Schmerzbahn einzubrechen, ungetheilt durch die Hinterstr\u00e4nge zu den Tastempfindungsapparaten abfl\u00f6ssen, die starken durch Schmerzreize erzeugten Erregungen dagegen, an der Theilungsstation der Bahnen sich theilend, zu einem kleineren oder gr\u00f6sseren Bruchtheil unter Ueberwindung des gr\u00f6sseren Widerstandes in die andere Bahn eintretend zu den Schmerzempfindungsapparaten vordr\u00e4ngen. Es hat, beil\u00e4ufig bemerkt, keine Schwierigkeiten, diese Vorstellung auch den Forderungen anzupassen, welche die Thatsachen der reflectorischen Th\u00e4tigkeit des R\u00fcckenmarks an","page":298},{"file":"p0299.txt","language":"de","ocr_de":"Verschiedenheit des Apparates f\u00fcr Tastempfindungen und Schmerz. 299\nseine Leitungs Verh\u00e4ltnisse stellen, deren Er\u00f6rterung uns jedoch zu weit vom Wege abf\u00fchren w\u00fcrde. Im zweiten Fall, d. h. bei der Annahme einer von der Peripherie bis zum Centrum durchgehenden Scheidung des Tast- und Schmerzapparates, muss vorausgesetzt werden, dass in jedem discreten Empfindungskreis der Haut je zwei (oder wenn auch eine Sonderung des Druck- und Temperatursinnesapparats angenommen wird, je drei) Nervenfasern gesondert, jede wahrscheinlich mit anderer Endvorrichtung, entspringen, und isolirt zum R\u00fcckenmark verlaufend, jede f\u00fcr sich in die ihr zugeh\u00f6rige weitere Bahn einm\u00fcnden. Allerdings liefert die anatomische Untersuchung der Haut vorl\u00e4ufig keine unzweideutige thats\u00e4chliche Best\u00e4tigung dieser Voraussetzung, aber noch weniger eine sichere Widerlegung. Mit grosser Wahrscheinlichkeit spricht zu Gunsten einer Scheidung des Hautnervenapparats in zwei functioned verschiedene Systeme der von den Histiologen allgemein angenommene Gegensatz mit freien Enden in den Epithelial\u00fcberzug der Haut hineinragender Nervenfasern und solcher, deren Enden mit besonderen Terminalapparaten, Tastzellen, Tastk\u00f6rperchen, Endkolben, Pacini-schen K\u00f6rperchen in Verbindung treten. Die weitere Deutung, dass erstere den durch die groben allgemeinen Reize zu erweckenden Schmerzempfindungen, letztere den durch die specifischen Tastreize hervorzurufenden Tastempfindungen dienen, ergiebt sich von selbst. Auf die Frage nach den functioneilen Verschiedenheiten der verschiedenen Arten der zweiten Endigungsweise und einer eventuellen Sonderung des Nervenapparats f\u00fcr Druck- und Temperaturempfindungen kommen wir unten zur\u00fcck.\nMit gleicher Bestimmtheit wie die Erscheinungen der Analgesie spricht f\u00fcr eine Sonderung der Tast- und Schmerzbahnen mindestens vom R\u00fcckenmark an eine sehr interessante neuere pathologische Beobachtung. Nachdem zuerst von Cruveilhier, sp\u00e4ter von Cyon, Topinard und Leyden 1 wiederholt bei Erkrankungen des R\u00fcckenmarks eine Verlangsamung der sensibeln Leitung im Allgemeinen oder der Schmerzleitung insbesondere beobachtet war, hat Osthoff1 2 in drei F\u00e4llen von Tabes dorsalis eine constante erhebliche Verschiedenheit der Zeiten, in denen nach einem und demselben Reiz die zugeh\u00f6rige Tast- und Schmerzempfindung eintraten, nachgewiesen. Wurden den betreffenden Personen Nadelstiche applicirt, so trat dies Ber\u00fchrungsgef\u00fchl momentan mit dem Stich, die Schmerzempfindung aber 1-\u20142\" sp\u00e4ter ein. Ein gleiches Verhalten hat k\u00fcrzlich B\u00e4umler in einem Fall constatirt. Osthoff, welcher die Differenzirung der beiden Leitungen erst in der grauen\n1\tLeyden, Klinik d. R\u00fcckenmarkskrankheiten.\n2\tOsthoff. Die Verlangsamung der Schmerzempfind, bei Tabes dorsalis. Diss. Erlangen 1874.","page":299},{"file":"p0300.txt","language":"de","ocr_de":"300\nFunke, Tastsinn etc. 1. Cap. Der Tastsinn im Allgemeinen.\nSubstanz des R\u00fcckenmarks eintreten und auf der Schmerzensbahn einen gr\u00f6sseren Widerstand durch die gr\u00f6ssere Anzahl der zu passirenden ana-stomosirenden Ganglienzellen bedingt sein l\u00e4sst, sucht den Grund der Verz\u00f6gerung der Schmerzleitung entweder in einer krankhaften Vermehrung dieser Widerst\u00e4nde in den Ganglienzellen, oder in einer durch degenerative Processe in der grauen Substanz herbeigef\u00fchrten N\u00f6thigung zu gr\u00f6sseren Umwegen f\u00fcr die Schmerzeindr\u00fccke. Beide Erkl\u00e4rungsmomente der Verz\u00f6gerung lassen sich ebenso gut mit der Annahme einer schon an der Peripherie beginnenden Scheidung beider Wege vereinbaren.\nM\u00f6glicherweise geh\u00f6rt hierher auch eine bekannte Erscheinung unter normalen Verh\u00e4ltnissen. St\u00f6sst man beim Gehen mit einer empfindlichen Zehe gegen einen Stein, so tritt der Schmerz regelm\u00e4ssig merklich sp\u00e4ter ein als die Tastempfindung, \u00fcberdauert aber auch letztere unter nachtr\u00e4glicher Steigerung meist lange Zeit. Die wahrscheinlichste Erkl\u00e4rung ist auch hier die, dass die an der Peripherie momentan eintretende Erregung unterwegs auf einen Widerstand st\u00f6sst, welchen sie erst durch Anstauung zu einer gewissen H\u00f6he \u00fcberwinden muss, um zu den Schmerzempfindungsapparaten zu gelangen. Die Ursache der Nachdauer des Schmerzes ist wohl in einem gewissen Beharrungsverm\u00f6gen der in letzteren ausgel\u00f6sten Ver\u00e4nderung, nicht in einer entsprechenden Verl\u00e4ngerung des Erregungszuflusses von der Peripherie her zu suchen.\nZu Gunsten der Identit\u00e4t des Tast- und Schmerzempfindungsapparats k\u00f6nnte man wohl noch anf\u00fchren, dass auch in einer anderen Sinnessph\u00e4re und zwar derjenigen des Gesichtssinnes zwei Empfindungsarten, von denen die eine als \u00e4chte Sinnesempfindung zu der anderen als Gemeingef\u00fchl in demselben Verh\u00e4ltniss steht, wie eine Tastempfindung zur Schmerzempfindung, nach allgemeiner Annahme durch denselben Nervenapparat vermittelt werden, insofern man dieselben Opticusfasern bei massiger Erregung Lichtempfindung, bei \u00fcberm\u00e4ssiger Blendungsgef\u00fchl in demselben Empfindungsapparat ausl\u00f6sen l\u00e4sst. Aber auch hier ist die Annahme der Identit\u00e4t nicht zweifellos erwiesen. Gegen dieselbe spricht die nicht selten beobachtete, zuerst von v. Walter hervorgehobene Thatsache, dass F\u00e4lle von Amaurose Vorkommen, in denen bei v\u00f6lligem Verlust des Lichtempfindungsverm\u00f6gens das schmerzhafte Blendungsgef\u00fchl und die daraus entspringende Photophobie sogar in erh\u00f6htem Maasse fort-bestehen. M\u00f6glicherweise sind noch zwei andere Empfindungsarten, welche ebenfalls sich als Sinnesempfindung und Gemeingef\u00fchl gegen\u00fcberstehen, das sogenannte Muskelgef\u00fchl und der Erm\u00fcdungsschmerz der Muskeln, Effecte der Th\u00e4tigkeit verschiedener nerv\u00f6ser Apparate.\nWenn aus den vorstehenden Betrachtungen sich ergiebt, dass ein zwingendes durchgreifendes Motiv f\u00fcr die \u00fcbliche Zusammen-","page":300},{"file":"p0301.txt","language":"de","ocr_de":"Objectiviriing der Tastempfindungen.\n301\nreihung aller oben aufgez\u00e4blten \u201eGef\u00fchle\u201c zu einem durch irgend welches wesentliches Gemeinmerkmal zusammengehaltenen Verband nicht sicher erwiesen ist, so ist anderseits eine Sichtung derselben in zwei durch ihre Entstehungsweise und ihre psychische Verwer-thung wesentlich verschiedene, zuerst durch E. H. Weber scharf charakterisirte Gruppen, in \u00e4chte Sinn es e mp fin dung en und sogenannte Ge mein ge f\u00fc hl e zweifellos begr\u00fcndet. Bekanntlich z\u00e4hlt man zu den Sinnesempfindungen nur diejenigen, welche von der Seele \u201eobjectivirt\u201c, d. h. auf Dinge einer dem empfindenden Ich gegen\u00fcbergestellten Aussenwelt bezogen werden, und zwar so unmittelbar, dass die Qualit\u00e4ten der Empfindung selbst, wie z. B. die Farbe einer Lichtempfindung als Qualit\u00e4ten der die Empfindung verursachenden Aussendinge aufgefasst werden. Als Gemeingef\u00fchle bezeichnet man dagegen diejenigen Empfindungen, welche von der Seele unter allen Umst\u00e4nden nur auf das empfindende Ich bezogen, lediglich als ver\u00e4nderte Zust\u00e4nde des Bewusstseins aufgefasst werden. Nach diesem Unterscheidungsprincip erweisen sich nur die Druck- und Temperaturempfindungen als Sinnesempfindungen, als Grundlagen des Tastsinnes, alle \u00fcbrigen genannten Gef\u00fchle, obenan der Schmerz, als Gemeingef\u00fchle. Nur erstere werden unmittelbar objectivirt, mit unaufl\u00f6slich gewordener Nothwendigkeit auf die das Tastorgan ber\u00fchrenden Aussendinge bezogen. Wird ein \u00e4usseres Object gegen unsere Haut bewegt, oder bewegen wir activ einen Theil des Tastorgans gegen ein solches, so steht nicht allein unmittelbar mit der eintretenden Ber\u00fchrung, scheinbar als prim\u00e4rer Inhalt der Empfindung, vor dem Bewusstsein die Vorstellung eines Aussendin-ges als Empfindungsursache, sondern wir tragen sogar die Qualit\u00e4t der Empfindung, den empfundenen Druck, die empfundene W\u00e4rme oder K\u00e4lte als Eigenschaften auf dieses Object \u00fcber, glauben, dass dieselben, in letzterem pr\u00e4existirend, unver\u00e4ndert von demselben auf unser Sensorium \u00fcberstr\u00f6men. Selbst wenn wir durch Ueberlegung oder wissenschaftliche Belehrung die Ueberzeugung gewonnen, dass diese Uebertragung ein grober Irrthum, dass die von dem \u201ewarmen\" K\u00f6rper auf unsere Haut \u00fcbergehenden W\u00e4rmevibrationen an sich keine mit der \u00fcberhaupt nicht definirbaren Qualit\u00e4t der Empfindungsw\u00e4rme irgend vergleichbare Eigenschaft haben, sind wir ausser Stande, uns von dem festgewurzelten Irrthum zu emancipiren, die subjective Empfindungsqualit\u00e4t von dem vorgestellten Object wieder loszul\u00f6sen. Wir begehen diesen Irrthum sogar und zwar mit der gleichen Unverbesserlichkeit, wenn das Object ein Theil unseres eigenen K\u00f6rpers ist ^ wenn wir mit einem Theil unseres Tastorgans einen","page":301},{"file":"p0302.txt","language":"de","ocr_de":"302\nFunke, Tastsinn etc. 1. Cap. Der Tastsinn im Allgemeinen.\nanderen mit gleicher Empfindlichkeit begabten Theil desselben ber\u00fchren, und somit zwei verm\u00f6ge des Raumsinnes auseinander zu haltende Tastempfindungen gleichzeitig dem Bewusstsein sich pr\u00e4-sentiren. Es kann dann eine wechselseitige Objectivirung beider Theile stattfinden; bei absichtlichen Tastoperationen dr\u00e4ngt sich im Bewusstsein die Objectivirung des betasteten Theils durch den activ tastenden in den Vordergrund. Es kann aber auch f\u00fcr die Bevorzugung der einen oder der anderen der beiden Doppelempfindungen ihre Qualit\u00e4t und Intensit\u00e4t bestimmend sein. Ber\u00fchrt ein Theil von gew\u00f6hnlicher K\u00f6rpertemperatur eine ungew\u00f6hnlich abgek\u00fchlte Haut-partie, so dominirt das ungew\u00f6hnliche K\u00e4ltegef\u00fchl ; die k\u00fchlere Hautpartie erscheint als Object mit der empfundenen K\u00e4lte als Eigenschaft und es bedarf einer besonderen Anstrengung der Aufmerksamkeit, um umgekehrt die Auffassung der normal temperirten Partie als relativ warmes Object hervortreten zu lassen. Dass Druck-und Temperaturempfindungen, wie alle \u00fcbrigen Sinnesempfindungen, gerade durch diese prompte, nicht erst durch eine bewusste psychische Operation vermittelte Objectivirung, durch diese fehlerhafte aber unfehlbare Verlegung der Empfindungsqualit\u00e4ten in die vorgestellten Empfindungsobjecte den Anforderungen gerecht werden, welche ihnen im Dienste des Sinnes, der als eine Sonde in die Aussenwelt einzudringen bestimmt ist, gestellt werden, dass sie nun durch diese unmittelbare Objectivirung der Seele so prompte und innerhalb weiter Grenzen zuverl\u00e4ssige Belehrung \u00fcber Zust\u00e4nde und Ver\u00e4nderungen der Aussendinge verschaffen, und sie dadurch in den Stand setzen, rasch und sicher auf die erkannten \u00e4usseren Verh\u00e4ltnisse zu reagiren, liegt auf der Hand.\nEntsteht ein Gemeingef\u00fchl, wird z. B. durch Ber\u00fchrung der Haut mit einem sehr heissen K\u00f6rper Schmerz erzeugt, oder derselbe durch krankhafte Zust\u00e4nde eines inneren Organs hervorgerufen, so bleibt derselbe unter allen Umst\u00e4nden subjectiv, wird von der Seele nur als ein ver\u00e4nderter Zustand des Bewusstseins aufgefasst. Wir kommen wohl auch unter Umst\u00e4nden zu der Erkenntniss eines \u00e4usseren Objectes als Ursache des Schmerzes, aber nicht durch eine unmittelbar mit diesem verschmolzene Vorstellung, sondern entweder durch die Beih\u00fclfe einer gleichzeitigen Tastempfindung oder auf anderweitigen Umwegen und niemals verlegen wir den Schmerz als Eigenschaft in das zuf\u00e4llig als Ursache erkannte Aussending, in den ber\u00fchrenden heissen K\u00f6rper, wie wir dem warmen K\u00f6rper die Empfindungsw\u00e4rme als Eigenschaft andichten. Wohl regt auch der Schmerz und andere Gemeingef\u00fchle die Seele zu Handlungen an,","page":302},{"file":"p0303.txt","language":"de","ocr_de":"Objectivirung der Tastempfindungen.\n303\nja derselbe l\u00f6st sogar zwangsm\u00e4ssig, ohne Zutlinn eines bewussten Willensactes, auf dem Wege des einfachen Reflexes gewisse Reactio-nen aus, welche den Charakter der Zweckm\u00e4ssigkeit in Betreff der Abwehr des schmerzhaften Eingriffs an sich tragen, allein es kann keine Rede davon sein, diesen durch Gemeingef\u00fchle angeregten beschr\u00e4nkten und einseitigen Verkehr unseres empfindenden Ichs mit der Aussenwelt in Parallele zu setzen mit den unmittelbaren vielseitigen, die Grundlage aller Willensth\u00e4tigkeit bildenden Beziehungen unserer Seele zur Aussenwelt, welche auf die Sinnesempfindungen basirt sind.\nEine Frage von h\u00f6chstem psychologischen wie physiologischen Interesse ist die nach den Ursachen und der Entstehung dieses wesentlichen Unterschiedes zwischen Sinnesempfindungen, in unserem Falle also zwischen Tastempfindungen und Gemeingef\u00fchlen. Wie kommen wir dazu, eine Druck- oder Temperaturempfindung auf ein \u00e4usseres Object zu beziehen? Was macht diese Beziehung zu einer unaufl\u00f6slichen? Warum verlegen wir nicht auch den Schmerz, zumal wenn er von denselben Organen aus, wie jene, hervorgerufen wird, in die Aussenwelt? Ist die Objectivirung der erstgenannten Empfindungen ein angeborenes, in einer fertig gegebenen Einrichtung des Seelenapparates zwangsm\u00e4ssig begr\u00fcndetes Verm\u00f6gen, oder ein auf Grund von Erfahrungen nach den Gesetzen des Denkens erworbenes? Welches sind in letzterem Fall die sicheren unvermeidlich jedem Individuum im Anfang des Lebens sich darbietenden Erfahrungswege, auf denen das Verm\u00f6gen erworben und so befestigt wird, dass der Erfahrungsschluss scheinbar mit der Empfindung selbst zusammenschmilzt? Angeboren oder erworben, das ist dieselbe Alternative, welche in verschiedener Fassung, aber \u00fcberall in fundamentaler Bedeutung der Sinnesphysiologie in verschiedenen Abschnitten ihres Gebietes entgegentritt, um deren Entscheidung neuerdings heftiger aber auch mit sch\u00e4rferen Waffen als zuvor der Kampf zweier extremen Theorien, welche als die nativistisehe und die empi-r is tische bezeichnet werden, sich kbspielt. Die Nativisten, deren eifrigster Vork\u00e4mpfer unter den Physiologen heutzutage E. Hering ist, fassen die bei allen Individuen mit gleicher Nothwendigkeit und Gesetzm\u00e4ssigkeit an die einfachen Empfindungen sich anschliessenden Vorstellungen durch welche dieselben sich zu Sinneswahrnehmungen gestalten, als physiologische, durch die Erregung des Sinnesnerven zwangsm\u00e4ssig mit der Empfindung ausgel\u00f6sten Th\u00e4tigkeits-\u00e4usserungen eines von Geburt an functionsf\u00e4higen Seelenmechanismus auf, dessen Leistungen h\u00f6chstens noch durch individuelle Uebung","page":303},{"file":"p0304.txt","language":"de","ocr_de":"304\nFunke. Tastsinn etc. 1. Cap. Der Tastsinn im Allgemeinen.\nverfeinert werden und an Gel\u00e4ufigkeit gewinnen k\u00f6nnen, dessen Leistungsf\u00e4higkeit vielleicht durch successive Summirung des Gewinns der individuellen Hebung auf dem Wege der Vererbung erh\u00f6ht worden ist. Die Empiristen dagegen, welchen heutzutage Helmholtz als physiologischer F\u00fchrer voranschreitet, betrachten die fraglichen Vorstellungen als individuellen psychischen Erwerb, welcher erst allm\u00e4lig durch Anwendung des freien Denkverm\u00f6gens der Seele auf einen Kreis unvermeidlich von den ersten Lebenstagen an sich darbietender auff\u00e4lliger Erfahrungsthatsachen gewonnen wird, allerdings unter wesentlicher aber indirecter Mitwirkung gewisser angeborener physiologischer Einrichtungen. Es ist hier nicht der Ort zu einer allgemeinen kritisch-historischen Beleuchtung des Kampfes dieser beiden sich gegen\u00fcberstehenden Theorien in allen seinen Phasen. So unbestritten heutzutage die volle Competenz der Physiologie in dieser Frage feststeht, so erfordert doch ihre allgemeine Discussion eine gleichm\u00e4ssige Ber\u00fccksichtigung verschiedener Sinnessph\u00e4ren und geh\u00f6rt daher in einen Artikel \u00fcber Sinneswahrnehmungen \u00fcberhaupt, oder physiologische Psychologie.1 W\u00e4hrend wir aber in unserem auf den Tastsinn beschr\u00e4nkten Gebiete ein n\u00e4heres Eingehen auf den haupts\u00e4chlichen Angelpunkt des Streites bei der Er\u00f6rterung des Raumsinnes der Haut nicht abweisen k\u00f6nnen, d\u00fcrfen wir hier bei der Erkl\u00e4rung der Objectivirung der Tastempfindungen uns ohne Ber\u00fccksichtigung der Gegner auf den empiristischen Standpunkt stellen. Ist auch wiederholt versucht worden, die Beziehung von Empfindungen auf Aussendinge als ein vor aller Erfahrung gegebenes (\u201etranscendentalesu Kant) Verm\u00f6gen darzustellen, hat unter den Physiologen sich z. B. Meissner noch neuerdings durch die Annahme seiner \u201eeinfachen Tastempfindung\u201c auf den nativistischen Standpunkt gestellt, so stimmt doch jetzt zweifelsohne die grosse Mehrzahl aller Philosophen und Physiologen, darunter auch solche welche z. B. in Bezug auf die Raumanschauung am entschiedensten die nativistische Theorie vertreten, darin \u00fcberein, dass die Erkennt-' niss des Gegensatzes zwischen empfindendem Ich und Aussenwelt oder einem \u201e Ich \u201c und einem \u201e Nicht-Ich \u201c (Fichte) eine auf folgendem Erfahrungswege erworben ist.\nEine Grundbedingung der bez\u00fcglichen Erfahrung liegt in der activen willk\u00fcrlichen Beweglichkeit unserer Tastorgane und der Be-\n1 Wir verweisen auf die bez\u00fcglichen Er\u00f6rterungen in Lotze, Medicinische Psychologie. Leipzig 1852. Wundt, Grundz\u00fcge der physiol. Psychologie. Leipzig 1874. Helmholtz, Die Thatsachen in der Wahrnehmung. Rede geh. z. Stiftungsf. d. Berlin. Univ. Berlin 1879.","page":304},{"file":"p0305.txt","language":"de","ocr_de":"Objectivirung der Tastempfindungen.\n305\ngleitung jeder activen Bewegung derselben durch eine specifische Empfindung, welche zun\u00e4chst den bewegten Zustand \u00fcberhaupt der Buhe gegen\u00fcber dem Bewusstsein kennzeichnet in zweiter Instanz aber auch der Seele von Richtung und Gr\u00f6sse der ausgef\u00fchrten Bewegungen Kunde giebt. Definiren und durch ihre eigenen Merkmale charakterisiren lassen sich diese Empfindungen so wenig, wie irgend welche andere, aber Jeder kennt aus Erfahrung die constante Ver\u00e4nderung seines Bewusstseins, welche sich mit jeder willk\u00fcrlichen Lagever\u00e4nderung seiner beweglichen K\u00f6rpertheile durch Muskel-th\u00e4tigkeit, verkn\u00fcpft und auch ohne die Controlle des Gesichtssinnes unmittelbar die r\u00e4umliche Anschauung der Bewegung selbst und ihres Resultats, der neuen Lage der bewegten Theile, erzeugt. Gleichviel, ob diese Bewegungsempfindungen centralen Ursprungs, durch direct von den Erregungsst\u00e4tten der motorischen Nerven durch den Willen ausgehende Einwirkungen auf das Sensorium bedingt sind, (\u201eInnervationsgef\u00fchle\"), oder ob sie durch die den Willensbefehl vollziehenden Muskeln ausgel\u00f6ste Controllezeichen des Vollzugs sind, durch eine bei der Contraction derselben entstehende peripherische Erregung sensibler Nerven zu Stande kommen, gleichviel, ob und wieweit ihnen von Geburt an r\u00e4umliche Vorstellungen \u00fcber die ausgef\u00fchrte Bewegung anhaften, oder ob diese erst erlernte Auslegungen sind, f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der Objectivirung der Tastempfindung gen\u00fcgt die unbestrittene Thatsache, dass sich jede Bewegung der Tastorgane dem Bewusstsein durch eine irgend wie beschaffene Empfindung markirt und diese Marke f\u00fcr eine bestimmte Bewegung immer die gleiche, f\u00fcr jede verschiedene Bewegung aber eine verschiedene ist. Ein zweites Moment, welches die Entstehung objectiver Vorstellungen vermittelt, ist die Begabung unserer Tastorgane mit dem unten n\u00e4her zu er\u00f6rternden Raumsinn, verm\u00f6ge dessen wir den Ort an welchem dasselbe von einem Tastreiz getroffen wird, unterscheiden. Gleichviel, ob derselbe ein angeborenes Erbgut, oder ein erworbenes Verm\u00f6gen, eine erlernte Interpretation an sich nichtssagender Zeichen in r\u00e4umliche Vorstellungen ist, hier kommt wiederum nur die sichere Thatsache in Betracht, dass eine und dieselbe von dem gleichen Reiz erzeugte Druck- oder Temperaturempfindung von jedem verschiedenen Ort unserer Haut aus ein irgend wie verschiedenes Gepr\u00e4ge erh\u00e4lt. Die Erfahrungen, welche nun mit H\u00fclfe dieser beiden Momente zur Objectivirung f\u00fchren, k\u00f6nnen wir im Allgemeinen als die Erfahrungen von der Incongruenz der Tastempfindungen mit den Bewegungsempfindungen bezeichnen. Von den ersten Lebensstunden an f\u00fchrt das Kind, gleichviel durch welche Motive veran-\nHandhueh der Physiologie. Bd. lUa.\t20","page":305},{"file":"p0306.txt","language":"de","ocr_de":"306\nFunke, Tastsinn etc. 1. Cap. Der Tastsinn im Allgemeinen.\nlasst, in regellosem Wechsel die verschiedensten Bewegungen aus. Jede derselben tr\u00e4gt in das Bewusstsein ihre specifische Marke ein; die Wiederkehr derselben Marken bei zun\u00e4chst zuf\u00e4lliger Wiederholung derselben Bewegungen wird die Veranlassung, dass das Kind bestimmte Bewegungen absichtlich wiederholen lernt. Zu diesen Bewegungsempfindungen gesellen sich nun entweder Tastempfindungen verschiedener Art, Extensit\u00e4t und Intensit\u00e4t, oder keine, je nachdem durch die Bewegung ein Th eil des Tastorgans mit einem \u00e4usseren Object in Ber\u00fchrung gebracht wird, oder nicht. In ersterem Fall variirt die Tastempfindung erstens mit den bei seiner Einwirkung auf die Tastorgane in Betracht kommenden Qualit\u00e4ten des Objectes, seiner Gr\u00f6sse, Form, Schwere, Oberfl\u00e4chenbeschaffenheit, Coh\u00e4sion, Temperatur, zweitens mit dem gereizten Ort der Tastfl\u00e4che. Andererseits entstehen auch Tastempfindungen der verschiedensten Art bei v\u00f6lliger Buhe des K\u00f6rpers, also v\u00f6lliger Abwesenheit aller Bewegungsempfindungen, sobald \u00e4ussere Objecte verschiedener Qualit\u00e4t an einen oder den anderen Theil des Tastorgans heranbewegt, oder \u00fcber eine Reihe aneinander grenzender Endbezirke von Tastnerven hinbewegt werden. Dieser Mangel aller gesetzm\u00e4ssigen Beziehungen zwischen Muskelgef\u00fchlen und Tastempfindungen, der regellose Wechsel zwischen Zusammentreffen und Nichtzusammentreffen der letzteren mit ersteren, und der regellose Wechsel der Beschaffenheit der letzteren und ihrer vom gereizten Ort der Haut abh\u00e4ngigen Marken bei gleichen Bewegungsgef\u00fchlen oder auch totalem Mangel derselben, dr\u00e4ngt die mit angeborenem Denkverm\u00f6gen begabte Seele nothwendig sehr bald zu dem Schluss, dass die Ursachen der wechselnden Tastempfindungen nicht dem empfindenden, durch eine bewusste Anstrengung die Bewegungsgef\u00fchle erzeugenden \u201eIch\u201c angeh\u00f6ren k\u00f6nnen, sondern ausserhalb desselben liegen m\u00fcssen. Damit ist die Grundlage der Objectivirung gewonnen. Bei der unvermeidlichen H\u00e4ufigkeit der Wiederkehr der betreffenden Erfahrungen ist es begreiflich, dass jener Schluss alsbald gel\u00e4ufig werdend, schliesslich sich unbewusst vollzieht und unaufl\u00f6slich wird, begreiflich aber auch die weitere Folge, dass wir die Qualit\u00e4ten der Tastempfindung auf die vorgestellten urs\u00e4chlichen \u00e4usseren Objecte, welche ja ausschliesslich durch dieselben auf unsere Seele wirken, \u00fcbertragen, und sie alsbald f\u00fcr einfache Abdr\u00fccke pr\u00e4existirender Eigenschaften der Aussendinge halten. Ebenso ist ferner selbstverst\u00e4ndlich, dass \u00fcberhaupt unsere Vorstellung einer Aussenwelt, welche zun\u00e4chst nur als einfache Negation, als \u201eNicht-Ich\u201c zur Erkenntniss kommt, erst sp\u00e4ter und allm\u00e4lig mit der durch absichtliche Versuche gef\u00f6rderten Erziehung der Sinne,","page":306},{"file":"p0307.txt","language":"de","ocr_de":"Objectivirimg der Tastempfindungen.\n307\nmit der Aufspeicherung des empirischen Wahrnehmungsmaterials, mit der Verfeinerung seiner Interpretation durch Denkprocesse, mit der erlernten Inbeziehungsetzung der Aussagen verschiedener Sinne zueinander mehr und mehr ausgearbeitet wird, bis sie endlich zu jenem unendlich reichhaltigen Complex zahlloser, mit allen denkbaren Empfindungsqualit\u00e4ten ausgestatteter Einzelheiten von erkannten gesetzm\u00e4ssigen Beziehungen zu einander und zu unserem Ich, als welcher sie wirklich nach Absolvirung der angedeuteten Studien in unserer Anschauung sich darstellt, herangebildet ist.\nWie schon oben angedeutet wurde, lernen wir mit H\u00fclfe der Doppelempfindungen, welche bei wechselseitiger Ber\u00fchrung verschiedener Theile des Tastorgans untereinander entstehen, von den absolut \u00e4usseren Dingen als relativ \u00e4ussere eben diese uns selbst angeh origen Theile der Tastfl\u00e4che unterscheiden. Auf diese Weise kommen wir dazu, die Haut als Erregungsst\u00e4tte unserer Tastempfindungen zu erkennen, die letzteren zun\u00e4chst in sie zu verlegen und gewissermaassen \u00fcber diesen Zwischenpfeiler hinweg die Br\u00fccke der objectiven Vorstellungen in die Aussenwelt zu schlagen. Darauf beruht ein wesentlicher Unterschied des Tastsinns dem Gesichtssinn gegen\u00fcber. Weil wir nicht mit einem Theil der ebenfalls zu einer Fl\u00e4che ausgebreiteten, ebenfalls mit Raumsinn begabten empfindlichen Nervenendaus-breitung des Auges einen anderen Theil derselben betrachten, nicht der einen Netzhaut die andere als Object darbieten k\u00f6nnen, kommen wir nie dazu, unsere Lichtempfindungen zu ihr in Beziehung zu setzen, die Netzhaut als Station bei der Objectivirung der letzteren zu benutzen, sondern tragen diese unmittelbar in die Aussenwelt hinaus, selbst dann, wenn ein von einem Aussending ausgehender Lichtreiz gar nicht die Ursache der Empfindung ist, wenn wir wissend durch einen Druck unseres Fingers auf den Augapfel eine Lichterscheinung hervorrufen.\nW\u00e4hrend wir auf diese Weise mit der einen Hand die andere, mit der Zungenspitze die Z\u00e4hne betasten und als relativ \u00e4ussere Gegenst\u00e4nde wahrnehmen k\u00f6nnen, erhalten wir keine objectiven Vorstellungen bei zahlreichen regelm\u00e4ssig vor sich gehenden wechselseitigen Ber\u00fchrungen innerer Organe unseres K\u00f6rpers, obwohl dieselben empfindlich sind, und die Bewegungen wenigstens einestheils derselben von Muskelgef\u00fchlen begleitet sind. Wir f\u00fchlen z. B. nicht wie E. H. Weber hervorhebt, den Magen als Ber\u00fchrungsobject, w\u00e4hrend das Zwerchfell bei seiner inspiratorischen Abflachung gegen denselben dr\u00fcckt, auch dann nicht, wenn wir durch verschiedene Grade willk\u00fcrlicher, von entsprechenden verschiedenen Graden des","page":307},{"file":"p0308.txt","language":"de","ocr_de":"308\nFunke, Tastsinn etc. 1. Cap. Der Tastsinn im Allgemeinen.\nMuskelgef\u00fchls begleiteter Anstrengungen des Zwerchfells diesen Druck variiren. Das Ausbleiben objectiver Ber\u00fchrungsvorstellungen in diesem Fall hat einen doppelten Grund. Erstens fehlen dem Zwerchfell sowohl wie dem Magen von Haus aus Tasteinrichtungen, d. h., an den Enden ihrer sensiblen Nerven angebrachte, unten in ihrer Bedeutung n\u00e4her zu w\u00fcrdigende Vorrichtungen, welche dieselben f\u00fcr so geringf\u00fcgige Grade mechanischer Reizung, wie sie der bei den Bewegungen des Zwerchfells entstehende Druck darstellt, empf\u00e4nglich macht, wahrscheinlich aber auch an den centralen Enden dieser Nerven speci-fische Empfindungsapparate, in welchen ihre Erregung die specifische Druckempfindung ausl\u00f6sen k\u00f6nnte. Es entsteht \u00fcberhaupt keine dem Muskelgef\u00fchl parallel laufende Empfindung bei dieser Bewegung, oder nur indirect von den Tastnerven der Bauchhaut, welche mit dem Niedergang des Zwechfells eine wachsende Anspannung erleidet, vermittelte Empfindungen. Zwerchfell und Magen besitzen nur Nerven, welche durch die entsprechende Art von Reizen erregt, Schmerz hervorrufen k\u00f6nnen. Zweitens aber w\u00fcrden, selbst wenn die in Rede stehende Bewegung von Doppeldruckempfindungen begleitet w\u00e4re, wir doch nicht dazu kommen, den Magen als Tastobject des Zwerchfells oder umgekehrt aufzufassen, weil, wie E. H. Weber sich ausdr\u00fcckt, objective Vorstellungen nur da entstehen, \u201ewo die eigene Bewegung unserer Organe oder die Bewegung der zu empfindenden Objecte eine hinreichend bemerkbare Ab\u00e4nderung der Empfindung hervorbringt.\u201c Hier w\u00fcrde eben dieselbe, durch das gleiche Bewegungsgef\u00fchl charakterisirte Bewegung des Zwerchfells unab\u00e4nderlich von der in jeder Beziehung gleichen Druckempfindung gefolgt sein, letztere also als eine nothwendige subjective Begleiterscheinung des Anstrengungsgef\u00fchls dem Bewusstsein sich darstellen, der Seele jede Veranlassung fehlen, dieselbe auf eine von dem \u00e9mpfindenden Ich getrennte, \u00e4ussere Ursache zu beziehen.\nIst nun aber die er\u00f6rterte empiristische Theorie der Objectivirung die richtige, so kann man mit Recht die Frage stellen, ob nicht zu ihr in schroffem, ihre Geltung gef\u00e4hrdendem Widerspruch die That-sache steht, dass wir die von unserer Haut aus hervorgerufenen Schmerzempfindungen nicht objectiviren. Man k\u00f6nnte meinen, dass f\u00fcr diese dieselben Erfahrungsbedingungen vorliegen, welche nach jener Theorie zur Objectivirung von Druck- und Temperaturempfindungen nothwendig f\u00fchren : das regellos wechselnde Zusammentreffen oder Nichtzusammentreffen von Schmerzempfindungen mit bestimmten Bewegungsgef\u00fchlen, das Eintreten ersterer auch bei Abwesenheit der letzteren und endlich der ebenfalls in keiner Beziehung zu den Bewe-","page":308},{"file":"p0309.txt","language":"de","ocr_de":"Tast- und Gemeingef\u00fchlsreize.\n309\ngungsgefiihlen stehende Wechsel der Marken, welche notorisch auch dem Schmerz je nach dem gereizten Ort der Haut aufgepr\u00e4gt werden. Allein dieser Widerspruch l\u00e4sst sich unseres Erachtens l\u00f6sen 7 die Subjectivit\u00e4t der Hautschmerzempfindungen trotz der scheinbaren Objectivirungsbedingungen zwanglos erkl\u00e4ren. Erstens sind die betreffenden Erfahrungen in Betreff des Schmerzes viel zu selten und zuf\u00e4llig, um die Seele zu Reflexionen der Art, wie sie bei den h\u00e4ufigen unvermeidlichen Tastempfindungen sich aufdr\u00e4ngen anzuregen. Zweitens sind, wie E. H. Weber betont, die Schmerzempfindungen so heftig, dass sie \u201edas Begehrungsverm\u00f6gen der Seele anregen, die ruhige Reflexion aber verhindernw; sie sind auch so unangenehm, dass sie nicht zu experimentellen Studien \u00fcber ihre Abh\u00e4ngigkeit oder Nichtabh\u00e4ngigkeit von bestimmten durch bestimmte Bewegungsgef\u00fchle charakterisirten Bewegungen auffordern. Drittens ist die Qualit\u00e4t des von der Haut aus durch \u00e4ussere Objecte erweckten Schmerzes dieselbe, wie die des in ihr durch innere Ursachen oder in inneren Organen erzeugten Schmerzes, bei welchem letzteren \u00fcberhaupt alle Momente, welche die Objectivirung veranlassen k\u00f6nnten, fehlen. Endlich w\u00fcrde auch der Mangel genauer zeitlicher Con-gruenz zwischen Schmerzempfindung und Einwirkung des schmerzerregenden Objects, der Umstand, dass letztere von ersterer oft l\u00e4ngere Zeit \u00fcberdauert wird, die Sicherung des Schlusses auf \u00e4ussere Objecte beeintr\u00e4chtigen.\nII. Tast- und Gfemeingef\u00fchlsreize.\nEine weitere Charakteristik der Tastempfindungen als Sinnesempfindungen den Arten des Gemeingef\u00fchls gegen\u00fcber ist in ihrer Erregungsweise begr\u00fcndet. Druck- und Temperaturempfindungen werden wie alle \u00fcbrigen Sinnesempfindungen, durch \u00e4ussere Einwirkung erzeugt, welche nicht zu den unmittelbaren, jede Nervenfaser bei der Application auf irgend eine Stelle ihres Verlaufs erregenden Nervenreizen geh\u00f6ren, sondern zu solchen erst umgewandelt werden, nicht durch eine specifische Beschaffenheit der betreffenden Nervenfasern, sondern durch specifische, dem betreffenden Agens angepasste H\u00fclfseinrichtungen, Sinnesapparate, an ihren peripherischen Enden. Wie die Schwingungen des Aethers, welche von der Netzhaut des Auges aus die Lichtempfindung hervorrufen, an sich keine Nervenfaser erregen, auch nicht die Opticusfaser, welche sie erwiesener-maassen in der Retina selbst wirkungslos durchsetzen, sondern lediglich durch die Vermittelung der St\u00e4bchen und Zapfen in einen","page":309},{"file":"p0310.txt","language":"de","ocr_de":"310\nFunke, Tastsinn etc. 1. Cap. Der Tastsinn im Allgemeinen.\nNervenreiz, aller Wahrscheinlichkeit nach einen chemischen, umgesetzt werden, so sind auch die Tastreize zwar nicht ihrem Wesen nach, wohl aber dem Grade nach specifische. Druckempfindungen werden durch Druck auf die Haut, Temperaturempfindungen durch W\u00e4rmeentziehung oder -zufuhr zur Haut (E. H. Weber) oder durch Herstellung von Eigentemperaturen der Haut, welche \u00fcber oder unter einer gewissen Nullpunktstemperatur liegen (E. Hering), erzeugt. W\u00e4hrend nun Druckeinwirkungen ihrem Wesen nach in die Classe der allgemeinen mechanischen Nervenreize, Temperatureinwirkungen zu den thermischen Reizen geh\u00f6ren, sind doch die als normale Tastreize wirksamen niederen Grade beiderlei Einwirkungen unwirksam bei ihrer directen Application auf irgend welche Nervenfaser, auch die Tastnervenfaser, im Verlauf, w\u00e4hrend diejenigen Druck- und Temperaturgrade, welche unmittelbare Reize f\u00fcr alle Nerven sind, auf die Haut wirken, das Gemeingef\u00fchl des Schmerzes erwecken. So entsteht eine deutliche K\u00e4lteempfindung, wenn wir unsere Hand in Wasser von +10\" C. eintauchen, und wenn wir sie unmittelbar darauf in Wasser von +20\u00b0 \u00fcberf\u00fchren, zun\u00e4chst eine W\u00e4rmeempfindung, welche aber bald in K\u00e4ltegef\u00fchl sich verwandelt, w\u00e4hrend der blosgelegte motorische Nerv erst bei Temperaturen unter 0 und \u00fcber 44\u00b0 durch Muskelzuckungen Erregung beurkundet. Ebenso bleibt letzterer in Ruhe, wenn wir durch so geringe Belastungen, wie sie auf die Haut angebracht, deutliche Druckempfindungen hervorbringen, einen Druck auf ihn aus\u00fcben. Auf der Stirnhaut gen\u00fcgt bereits ein Gewicht von 2 Milligramm, eine Tastempfindung hervorzurufen, w\u00e4hrend der Muskelnerv Belastungen von mehreren Grammen vertr\u00e4gt, ja bei allm\u00e4liger Steigerung des Druckes bis zur Zerquetschung comprimirt werden kann, ohne in Erregung zu gerathen. E. H. Weber hat durch folgende Versuchsdata erwiesei\u00ef, dass auch bei den Tastnerven nur die peripherischen Enden in der Haut, nicht die Fasern im Verlauf f\u00fcr jene minimalen mechanischen und thermischen Reize empf\u00e4nglich sind. Injicirt man durch ein Klystier Wasser von + 6 bis 15\" R. in den Darm, so entsteht nur am After durch die Reizung der daselbst befindlichen Hautnervenenden eine deutliche K\u00e4lteempfindung, vom Innern des Darmes aus erzeugt dasselbe Wasser aber kein K\u00e4ltegef\u00fchl, obwohl es nothwendigerweise durch die d\u00fcnne Darmwand hindurch den in den St\u00e4mmen des Lumbal- und Sacralnerven verlaufenden Tastfasern betr\u00e4chtliche Mengen von W\u00e4rme entzieht. Das nach kalten Klystieren zuweilen nachtr\u00e4glich entstehende, in der Bauchwand localisirte K\u00e4ltegef\u00fchl erkl\u00e4rt Weber aus dem Vordringen der W\u00e4rmeentziehung bis zu den in","page":310},{"file":"p0311.txt","language":"de","ocr_de":"Tast- und Gemeingef\u00fchlsreize.\n311\nletzterer enthaltenen Nervenenden. Es m\u00fcssen also diese Enden entweder eine' wesentlich holpere Erregbarkeit, als ihre leitenden Fortsetzungen besitzen oder mit besonderen H\u00fclfsvorrichtungen ausger\u00fcstet sein, welche in irgend welcher Weise die Wirksamkeit der Reize erh\u00f6hen. Die Analogie der \u00fcbrigen Sinnesorgane l\u00e4sst das zweite Verhalten als das wahrscheinlichere betrachten. Am n\u00e4chsten liegt die Analogie des Geh\u00f6rorgans. Auch hier stellt der specifische Reiz, die Schallbewegung der ponderabeln Materie, einen mechanischen Vorgang dar, welchem es unter gew\u00f6hnlichen Verh\u00e4ltnissen, insbesondere bei seiner Fortpflanzung durch die Luft nur an der n\u00f6thigen Intensit\u00e4t gebricht, um eine Nervenfaser im Verlauf zu erregen, welcher dagegen f\u00fcr die Enden des H\u00f6rnerven durch die Vermittlung lebhaft mitschwingender mechanischer Tetanisirvorrich-tungen wirksam gemacht wird. Wir werden unten bei Er\u00f6rterung des Drucksinns die Frage n\u00e4her erw\u00e4gen, welcher Art die vorausgesetzten Sinneseinrichtungen an den Tastnervenenden sind und worin ihre die Erregung durch schwachen Druck vermittelnde Wirksamkeit besteht, ohne jedoch im Stande zu sein, eine befriedigende Antwort oder auch nur Vermuthung auszusprechen. Ebensowenig besitzen wir eine solche auf die gleichlautende Frage in Betreff der Wirksammachung der Temperaturreize. E. H. Weber hat ferner durch Experimente zu beweisen gesucht, dass, wenn eine Tastnervenfaser nicht von den Enden aus, sondern durch einen sie im Verlauf treffenden Reiz erregt wird, diese Erregung niemals eine der beiden specifischen Sinnesempfindungen, sondern ausnahmslos nur das Gemeingef\u00fchl des Schmerzes ausl\u00f6st. Die Thatsachen sind folgende: Taucht man die Spitze des Eibogens in eiskaltes Wasser oder irgend eine K\u00e4ltemischung, so entsteht zun\u00e4chst durch Erregung der in der eingetauchten Haut befindlichen Nervenenden K\u00e4ltegef\u00fchl, einige Zeit darauf aber, wenn die K\u00e4lte bis zu dem dicht unter der Haut verlaufenden Stamm des Ulnarnerven vorgedrungen ist, durch Reizung der in ihm zusammengebetteten sensibeln Fasern im Verlauf Schmerzempfindung, welche von der Seele in die Theile der Haut des Unterarms und der Hand, in welchen diese Fasern endigen, verlegt wird. Ebenso geht die Druckempfindung, welche bei Ber\u00fchrung der Elbogenhaut entsteht, in Schmerzempfindung, welche wiederum in den Endbezirk des Ulnarnerven localisirt wird, \u00fcber, sobald der Druck auf die Haut so hoch gesteigert wird, dass der darunter verlaufende Nervenstamm gereizt wird. Sind durch heftige Verbrennung die \u00e4usseren Hautschichten eines K\u00f6rpertheils mit den darin eingebetteten Nervenenden zerst\u00f6rt, so hat der betreffende Theil das Verm\u00f6gen verloren, W\u00e4rme","page":311},{"file":"p0312.txt","language":"de","ocr_de":"312\nFunke, Tastsinn etc. 1. Cap. Der Tastsinn im Allgemeinen.\nund K\u00e4lte zu unterscheiden; warme K\u00f6rper, welche von gesunder Haut aus deutliche W\u00e4rmeempfindung erzeugen, rufen von den verletzten Stellen aus Schmerz hervor. W\u00e4hrend in letzteren also der Temperatursinn verloren gegangen war, scheint in den von Weber untersuchten F\u00e4llen das Verm\u00f6gen, Druckempfindungen zu vermitteln, erhalten geblieben zu sein. Wenigstens geht aus Weber\u2019s Beschreibung hervor, dass die Patienten bei Ber\u00fchrung der Verbrennungsnarbe mit erw\u00e4rmten oder abgek\u00fchlten Spateln, noch die Ber\u00fchrung mit einem fremden K\u00f6rper wahrnahmen und nur nicht angeben konnten, ob er warm oder kalt sei. Die n\u00e4here Erkl\u00e4rung dieser That-sachen ist nicht unzweideutig, die Zweifel h\u00e4ngen mit der Frage, ob und wieweit der nerv\u00f6se Apparat f\u00fcr Tastempfindungen und Schmerzempfindungen identisch ist, zusammen. Existirt f\u00fcr beide nur ein durchweg gemeinschaftlicher Apparat, aus denselben Nervenfasern mit denselben centralen Empfindungsapparaten bestehend, dann bleibt nur eine Deutung m\u00f6glich, welche auf die zuerst angef\u00fchrten That-sachen angewendet dahin lautet, dass die hohen K\u00e4lte- und Druckgrade, welche, durch die Elbogenhaut den Stamm der Ulnarnerven erreichend, die in ihm verlaufenden Tastnervenfasern reizen, eine andere Modification der Erregung in ihnen hervorbringen, als die von ihren Hautenden durch m\u00e4ssige K\u00e4lte- und Druckgrade erzeugte, und diese besondere Modification der Erregung auch eine besondere Modification des Effects in den Empfindungsapparaten, d. i. Schmerz, bedingt. Auf die Bedenken, welche sich gegen die dieser Deutung zu Grunde liegende Voraussetzung erheben, haben wir schon oben aufmerksam gemacht. Es ist eben durchaus unwahrscheinlich, dass die Art des Erregungsvorganges und damit die Qualit\u00e4t des Effects sich mit dem Ort, an welchem eine und dieselbe Nervenfaser gereizt wird, \u00e4ndert. Es spricht f\u00fcr eine solche Annahme nicht eine einzige Analogie, wohl aber dagegen die Thatsache, dass die Sehnervenfasern im Opticusstamm durch allgemeine Reize erregt, wie dies bei Gelegenheit von Augenexstirpationen bei Durchschneidung desselben beobachtet wurde, dieselbe Empfindungsart, eine Lichterscheinung her-vorrufen, wie bei der Reizung ihrer Enden in der Retina durch Lichtwellen oder auch durch Druck oder Elektricit\u00e4t. Am ungezwungensten erkl\u00e4ren sich die in Rede stehenden Versuchsergebnisse, wenn wir die Existenz zweier v\u00f6llig getrennter Nervenapparate f\u00fcr Tast- und Schmerzempfindungen voraussetzen. Wir m\u00fcssten dann annehmen, dass die zu dem Ulnarnervenstamm vordringenden starken K\u00e4lte- oder Druckgrade sowohl die in ihm enthaltenen Tastfasern als die mit ihnen verlaufenden Gemeingef\u00fchlsfasern erregen, allein der von letz-","page":312},{"file":"p0313.txt","language":"de","ocr_de":"Tast- und Gemeingef\u00fchlsreize.\n313\nteren erzeugte Schmerz im Bewusstsein sich in den Vordergrund dr\u00e4ngt, die gleichzeitigen Tastempfindungen \u00fcbert\u00e4ubt. Stellte sich die dritte oben angedeutete M\u00f6glichkeit, eine erst im R\u00fcckenmark beginnende Scheidung der sensiblen Leitungswege, als begr\u00fcndet heraus, so w\u00fcrde die Erkl\u00e4rung, um die es sich hier handelt, dahin lauten, dass die starken Erregungswellen, welche K\u00e4lte oder Druck vom Stamm des Ulnaris aus erwecken, im R\u00fcckenmark vorzugsweise oder ausschliesslich den Weg durch die graue Substanz zu den Schmerzempfindungsapparaten einschlagen. Eine bestimmte Entscheidung l\u00e4sst sich zur Zeit nicht geben.\nGegen die allgemeine G\u00fcltigkeit des Satzes, dass Tastempfindungen durch die an sich nicht reizenden niederen Grade mechanischer und thermischer Einwirkungen, welche erst durch Sinnesapparate in Reize verwandelt werden m\u00fcssen, Gemeingef\u00fchle dagegen nur durch die allgem\u00e9inen directen Nervenreize erzeugt werden, l\u00e4sst sich die Thatsache einwenden, dass Kitzel-, Schauder- und Wollustgef\u00fchl gerade vorzugsweise durch die schw\u00e4chsten Grade mechanischer oder auch thermischer Hautreize veranlasst werden. So entsteht bekanntlich bei der leisesten Ber\u00fchrung der Lippengegend oder des Eingangs der Nasenh\u00f6hle, z. B. bei Bestreichen derselben mit einer Federfahne lebhaftes Kitzelgef\u00fchl. Ebenso wird durch leise Ber\u00fchrung der R\u00fcckenhaut besonders mit m\u00e4ssig kalten Gegenst\u00e4nden Schaudergef\u00fchl hervorgerufen, durch schwache mechanische Reizung der Haut der Genitalien Wollustgef\u00fchl. Allein in allen diesen F\u00e4llen stehen die Gemeingef\u00fchle nicht wie die Tastempfindungen in einer directen sondern in einer in directen Beziehung zu dem urs\u00e4chlichen Reiz. Sie sind nicht, wie letztere unmittelbare Effecte einer von den gereizten Nervenenden direct zu centralen Empfindungsapparaten geleiteten Erregung, sondern secund\u00e4re Folgen der prim\u00e4r durch solche Erregungen ausgel\u00f6sten Tastempfindungen, entstanden durch eine in den Centralorganen vor sich gehende Irradiation der Erregung von den prim\u00e4r in Th\u00e4tigkeit gesetzten Tastempfindungsapparaten aus. Diese Auffassung st\u00fctzt sich auf die Thatsachen, dass die fraglichen Gef\u00fchle neben gleichzeitigen Tastempfindungen entstehen, mit denselben aber nicht zeitlich zusammenfallen, sondern erstens merklich sp\u00e4ter als diese, oft erst, nachdem der Reiz vor\u00fcber ist, ein-treten und zweitens letztere verschieden lange Zeit \u00fcberdauern, ferner dass dieselben, insbesondere der Schauder, sich in der Regel allm\u00e4hlich mehr weniger weit auf Hautpartien, welche von dem Reiz gar nicht getroffen worden sind, ausbreiten also successive Empfindungsapparate angreifen, deren peripherischer Leitungsapparat gar","page":313},{"file":"p0314.txt","language":"de","ocr_de":"314\nFunke, Tastsinn etc. 1. Cap. Der Tastsinn im Allgemeinen.\nnicht in Th\u00e4tigkeit gesetzt worden ist. Ferner spricht gewichtig f\u00fcr die secund\u00e4re Entstehung, dass solche Gef\u00fchle auch als Begleiterscheinungen im Gefolge gewisser anderen Sinnessph\u00e4ren angeh\u00f6ri-ger Empfindungen auftreten. So entsteht hei vielen Personen ein lebhaftes in der Haut localisirtes, oft die ganze K\u00f6rperoberfl\u00e4che \u00fcberrieselndes Schaudergef\u00fchl in Begleitung hoher schriller Geh\u00f6rseindr\u00fccke, wie sie z. B. beim Kratzen eines Messers auf dem Teller oder eines Schieferstiftes auf der Tafel hervorgerufen werden, oder auch in Begleitung intensiver saurer Geschmackseindr\u00fccke; ja bei Manchen vermag schon die Vorstellung solcher Eindr\u00fccke Schaudergef\u00fchl zu erwecken. In allen diesen F\u00e4llen kann von einer directen Reizung von Nervenfasern, welche die Hautpartien, in denen das Gef\u00fchl localisirt wird, mit den betreffenden Empfindungsapparaten verbinden, keine Rede sein, bleibt also keine andere Erkl\u00e4rung, als durch centrale Ausstrahlung einer Erregung von den Geh\u00f6rs oder Geschmacksempfindungsapparaten aus auf die das Gemeingef\u00fchl vermittelnden. Endlich spricht zu Gunsten der in Rede stehenden Auffassung der Umstand, dass neben Kitzel und Schauder bei schwacher mechanischer oder thermischer Reizung der Haut noch andere unzweifelhafte Zeichen centraler Irradiation in Form von Reflexerscheinungen auftreten, so die unwillk\u00fcrlichen und durch den Willen schwer zu hemmenden Muskelzuckungen bei leiser Ber\u00fchrung \u201ekitzlicher\u201c Hautstellen, das Niesen auf Reizung der Nasenschleimhaut, die Sch\u00fcttelbewegungen und die Contractionen der Muskeln der Haarb\u00e4lge, welche das Schaudergef\u00fchl begleiten. Wie es kommt, dass gerade die schwachen Reizungen des Tastnervenapparats diese centralen Ausstrahlungen herbeif\u00fchren, w\u00e4hrend die Wirkung eines st\u00e4rkeren Drucks auf dieselbe Hautstelle, deren leise Ber\u00fchrung Kitzel oder Schauder erzeugt, sich auf die prim\u00e4re Tastempfindung\u2019 und die an diese ankrystallisirenden Vorstellungen beschr\u00e4nkt, ist eine vorl\u00e4ufig nicht zu beantwortende Frage.\nIII. Weitere Unterschiede zwischen Tastempfindungen und\nGemein gef\u00fcllten.\nSchliesslich heben wir noch einen praktisch sehr bedeutsamen Unterschied zwischen Tastempfindungen und Gemeingef\u00fchl hervor. W\u00e4hrend bei ersteren die Intensit\u00e4t der Empfindung in einer ver-h\u00e4ltnissm\u00e4ssig feingliedrigen Scala merklicher Abstufungen, nach einem bestimmten Gesetz mit der Verst\u00e4rkung des Reizes zunimmt, w\u00e4hrend ferner die Dauer der ersteren in strengster Weise durch","page":314},{"file":"p0315.txt","language":"de","ocr_de":"Weitere Unterschiede zwischen Tastempfindungen u. Gemeingef\u00fchlen. 315\ndie Dauer der reizenden Einwirkung bestimmt wird, treffen wir in beiden Beziehungen eine weit geringere Feinheit und gr\u00f6ssere Unregelm\u00e4ssigkeit bei den Gemeingef\u00fchlen. W\u00e4hrend, wie wir sehen werden, trotz der Unentschiedenheit des Kampfes, welcher sich neuerdings um die specielle Gestalt der Curve, welche die Intensit\u00e4t der Druckempfindungen als Function der Reizgr\u00f6ssen darstellt, erhoben hat, thats\u00e4chlich die Feinheit unseres Drucksinnes so gross ist, dass wir innerhalb weiter Grenzen ann\u00e4hernd genau Belehrungen \u00fcber die absoluten und relativen Gr\u00f6ssen der objectiven Druckeinwirkungen auf unser Tastorgan erhalten, sind wir nie im Stand, aus der Intensit\u00e4t der Schmerzempfindungen uns entsprechend genaue und zuverl\u00e4ssige Urtheile \u00fcber die St\u00e4rke der erregenden Ursachen zu bilden. Es w\u00e4chst im Allgemeinen wohl auch die St\u00e4rke des Schmerzes mit der Reizgr\u00f6sse, allein erstens ist, sobald erstere einen bestimmten Werth erreicht hat, eine Proportionalit\u00e4t des Wachsens beider nicht mehr nachweisbar, und zweitens ist \u00fcberhaupt das Auffassungsverm\u00f6gen der Scala f\u00fcr verschiedene Grade der Schmerzempfindung von Haus aus weit stumpfer und durch Uebung bei weitem weniger verfeinert, wie f\u00fcr verschiedene Grade der Druckempfindung. Dazu kommt noch, dass die Empf\u00e4nglichkeit f\u00fcr verschiedene Grade der schmerzerregenden Einwirkungen in viel weiteren Grenzen und weit unregelm\u00e4ssiger schwankt als die Empf\u00e4nglichkeit f\u00fcr Tasteindr\u00fccke, und zwar ebensowohl, soweit dieselbe in der Reizbarkeit der peripherischen Nervenapparate bedingt ist, \u2014 man denke an die enorm gesteigerte Schmerzempfindlichkeit entz\u00fcndeter Theile \u2014, als soweit sie von der Receptivit\u00e4t der centralen Empfindungsapparate und den ver\u00e4nderlichen Widerst\u00e4nden der Leitungsbahnen abh\u00e4ngt. Analoge Unterschiede zu Ungunsten der Schmerzempfindungen stellen sich in Betreff der zeitlichen Beziehungen beider Empfindungsarten zum Reiz heraus. W\u00e4hrend die Tastempfindung in allen Breiten der Intensit\u00e4t mit gleicher Promptheit in einem f\u00fcr die unmittelbare Wahrnehmung verschwindenden Zeitintervall nach Beginn der Reizung ein-tritt, und ebenso die letztere nur um unmerkliche, in engsten Grenzen schwankende Zeittheilchen \u00fcberdauert, liegt zwischen schmerzerregender Einwirkung und Beginn des Schmerzes oft ein \u00fcber mehrere Se-cunden ausgedehntes Intervall, und umfasst die Nachdauer des Schmerzes oft ausserordentlich lange Zeitr\u00e4ume. In Betreff des versp\u00e4teten Eintritts des Schmerzes verweisen wir auf die sorgf\u00e4ltigen Versuche E. H. Weber\u2019s, nach denen beim Eintauchen des Fingers in heisses Wasser das Intervall zwischen dem Moment des Eintauchens und dem Beginn des Schmerzes, d. h. dem Uebergang der W\u00e4rmeempfin-","page":315},{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316\nFunke, Tastsinn etc. 2. Cap. Der Drucksinn.\nd\u00fcng in Schmerz, um so gr\u00f6sser ausfiel, je niedriger die Temperatur des Wassers. So betrug das Intervall bei einer W\u00e4rme des Wassers von 70\u00b0 R. 11/2\u20142\", bei 55\u00b0 4\", bei 48\u00b0 12\", bei 44\u00b0 sogar 28\". Wir verweisen ferner auf die bereits oben (S. 299) angef\u00fchrten That-sachen einer unter krankhaften, aber auch normalen Verh\u00e4ltnissen zu beobachtenden Schmerzversp\u00e4tung und deren m\u00f6gliche Erkl\u00e4rungsmomente. F\u00fcr die lange Ueberdauer des Schmerzes sprechen zahlreiche bekannte Facta der t\u00e4glichen Erfahrung, z. B. die anhaltenden Verbrennungsschmerzen nach momentaner Ber\u00fchrung sehr heisser K\u00f6rper. Diese lange Dauer beruht indessen in der Mehrzahl der F\u00e4lle doch auf einer fortdauernden peripherischen Reizung durch secund\u00e4re Ver\u00e4nderungen, welche der urspr\u00fcngliche Reiz in dem die Nervenenden umgebenden Hautgewebe hervorgerufen. Theilweise erkl\u00e4rt sich dieselbe aber auch aus einem schon fr\u00fcher erw\u00e4hnten gewissen Beharrungsverm\u00f6gen der die Schmerzemplindung vermittelnden Centralapparate. W\u00e4hrend demnach die Tastempfindungen auch \u00fcber die zeitlichen Verh\u00e4ltnisse der \u00e4usseren Vorg\u00e4nge, welche sie hervorrufen und auf welche sie unmittelbar bezogen werden, der Seele zuverl\u00e4ssige Belehrungen verschaffen und so ihrer Aufgabe als Sinnesempfindungen gerecht werden, k\u00f6nnen die subjectiven Gemeingef\u00fchle nicht einmal mittelbar der Seele zu richtigen Urtheilen \u00fcber die zeitlichen Verh\u00e4ltnisse ihrer objectiven Ursachen verhelfen.\nZWEITES CAPITEL.\nDer Drucksinn.\nI. Drucksinn und Verschiedenheit des Apparates f\u00fcr Druck-und Temperatursinn.\nDie Grundlage des Drucksinnes bildet eine speeifische Art von Empfindungen, welche wir nach der Art ihrer erregenden Ursachen als Druckempfindungen bezeichnen, ohne durch diese Bezeichnung irgend etwas \u00fcber das Wesen der Empfindungen auszusagen, ohne \u00fcberhaupt dieses Wesen durch irgend ein der Empfindung selbst entlehntes Merkmal definiren zu k\u00f6nnen. Eine Druckempfindung entsteht, sobald die oberfl\u00e4chlichen, die Nervenendigungen enthaltenden Theile der Haut in gewissem Grade comprimirt oder auch ex-","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"Verschiedenheit des Apparates f\u00fcr Druck- und Temperatur sinn.\t317\npan dirt werden, sobald also entweder ein \u00e4usseres Object gegen einen Theil der ruhenden Tastfl\u00e4che heranbewegt wird, oder eine bewegte Tastfl\u00e4che auf ein \u00e4usseres Object trifft, wobei in beiden F\u00e4llen der Widerstand, welchen der ruhende Theil der Weiterbewegung des Bewegten nach erfolgter Ber\u00fchrung entgegensetzt, die Ursache einer Compression der Haut wird, oder auch sobald von aussen her auf irgend einen Theil der Tastfl\u00e4che ein Zug ausge\u00fcbt, mithin eine Dehnung derselben hervorgerufen wird. Die Grade der Compression und Expansion, welche die verschiedenen Grade der Druckempfindung erzeugen, liegen zu einem grossen Theil mindestens, unzweifelhaft unterhalb der Grenzwerthe mechanischer Einwirkungen, welche eine Nervenfaser bei directer Application in ihrem Verlauf in Erregung zu versetzen verm\u00f6gen. Sie erhalten dadurch die Bedeutung specifischer Sinnesreize und es liegt uns vor allen Dingen ob, die Art und die Wirkungsweise der specifischen H\u00fclfsvorrichtungen an den Enden der dem Drucksinn dienenden Nervenfasern, welche ihre Umgestaltung zu Beizen vermitteln, festzustellen.\nDiese Untersuchung f\u00fchrt uns nothwendig auf eine allgemeine bereits im Eingang des Artikels aufgeworfene Frage, welcher wir hier eine n\u00e4here Er\u00f6rterung widmen m\u00fcssen. Da bei jeder Ber\u00fchrung eines \u00e4usseren Objects, sobald dasselbe die Eigentemperatur der Haut \u00e4ndert, von denselben Theilen der letzteren, deren Compression die Druckempfindung erzeugt, eine zweite Empfindungsart, eine Temperaturempfindung, welche in der Regel deutlich geschieden neben der Druckempfindung vor das Bewusstsein tritt, hervorgerufen wird, m\u00fcssen wir zu entscheiden suchen, ob es dieselben oder verschiedene Sinnesapparate sind, welche die beiden Empfindungsarten vermitteln, und im Fall ersteres erweislich w\u00e4re, worauf die Verschiedenheit des Effectes je nach der mechanischen oder thermischen Ansprache des gemeinschaftlichen Apparats beruht.\nEine unbefangene subjective Beurtheilung ausgepr\u00e4gter Druck-und Temperaturempfindungen w\u00fcrde f\u00fcr sich gswiss niemals Veranlassung gegeben haben, die M\u00f6glichkeit zu erw\u00e4gen, ob sie nicht als Leistungsmodificationen eines identischen Sinnesapparates zu erkl\u00e4ren seien. Beide erscheinen gerade so different, so unvergleichbar, und demnach als verschiedene Empfindungsmodalit\u00e4ten, wie Licht- und Schallempfindungen. Was immer und immer wieder jene Erw\u00e4gung, herausgefordert und eine bejahende Beantwortung derselben sogar als wahrscheinlich hat erscheinen lassen, war in erster Reihe der durchaus negative Ausfall aller anatomischen Bestrebungen, einen Doppelapparat nachzuweisen und erst in zweiter Reihe gewisse, wie","page":317},{"file":"p0318.txt","language":"de","ocr_de":"318\nFunke, Tastsinn etc. 2. Cap. Der Drucksinn.\nwir sehen werden nicht ganz unzweideutige Ergebnisse subtilerer physiologischer Experimente \u00fcber die Beziehungen beider Empfindungsarten zu einander. Da beide, gleichzeitig oder getrennt, von jedem beliebigen kleinsten Hauttheilchen aus hervorgerufen werden k\u00f6nnen, geh\u00f6rt, wie bereits ausgesprochen wurde, zur vollen Berechtigung der Scheidung in zwei Sinne der Nachweis, dass von jedem Hauttheilchen je zwei isolirt zum Hirn laufende Nervenfasern mit gesonderten Enden entspringen, von denen das eine eine speci-fische Endvorrichtung f\u00fcr die thermische, das andere f\u00fcr die mechanische Reizung tr\u00e4gt. Dieser Nachweis ist allerdings bis heute durchaus nicht gef\u00fchrt, aber auch keineswegs ein sicherer Gegenbeweis erbracht.\nDa die Er\u00f6rterung anatomischer und histiologischer Details nicht im Plane dieses Handbuchs liegt oder nur soweit zul\u00e4ssig ist, als sie zum Verst\u00e4ndniss oder zur Sicherstellung physiologischer Lehren unentbehrlich sind, m\u00fcssen wir uns unter Hinweis auf die neuere liistiolo-gische Literatur auf wenige allgemeine Anmerkungen beschr\u00e4nken. Der von der Anatomie als sicher angenommene Gegensatz freier und mit Terminalapparaten verbundener Nervenenden in der Haut kann kaum eine andere Deutung als die oben ausgesprochene, dass erstere dem Gemei\u00fcgef\u00fchl, letztere den Tastempfindungen dienen, erfahren. Die Annahme, dass die einen f\u00fcr die Perception der Drucke, die anderen (nach Fr. Merkel die freien Enden) f\u00fcr die der Temperaturreize bestimmt seien, ist durchaus nicht zu rechtfertigen, da wir f\u00fcr beide Reize nothwendig die Vermittelung von H\u00fclfsvorrichtungen in gleicher Weise in Anspruch nehmen m\u00fcssen. Die Terminalapparate selbst zeigen nun zwar trotz der mehr und mehr sich herausstellenden Einheitlichkeit gewisser Grundprin-cipien ihrer Structur gewisse, zum Theil recht auffallende Verschiedenheiten, aber keine, welche mit einiger Wahrscheinlichkeit zu Gunsten einer Scheidung in Druck- und Temperatursinnsapparate sich auslegen lassen, und noch f\u00fcr keinen der Apparate hat sich aus seiner Structur eine zweifellose functionelle Beziehung zu einem oder dem anderen der beiden Sinnesreize ableiten lassen. Alle in letzterer Beziehung gemachten Versuche sind als verfehlte zu bezeichnen, z. B. der schon vom physikalischen Standpunkt aus \u00e4usserst bedenkliche Versuch Krause\u2019s l, aus der Structur der PAcmi\u2019schen K\u00f6rperchen den Beweis zu f\u00fchren, dass sie bestimmt seien, \u201e\u00e4ussere mechanische Einwirkungen in einen nach dem Inneren des K\u00f6rperchens hin successiv wachsenden Druck umzusetzen\u201c, demnach zum Drucksinn in Beziehung stehen. Selbstverst\u00e4ndlich k\u00f6nnen alle diejenigen Differenzen der Terminalapparate f\u00fcr unsere Frage gar nicht in Betracht kommen, welche nur localer Art sind, da die gleichm\u00e4ssige Verbreitung beider Sinne \u00fcber die ganze Haut einen entsprechend gleichm\u00e4ssigen Dualismus ihrer Werkzeuge an jedem Ort derselben erheischt. Es k\u00f6nnen daher weder Tastk\u00f6rperchen noch Pa-\n1 W. Krause, Ztschr. f. rat. Med. (3) XVII. S. 278.","page":318},{"file":"p0319.txt","language":"de","ocr_de":"Verschiedenheit des Apparates f\u00fcr Druck- und Temperatursinn. 319\nciNi\u2019sche K\u00f6rperchen etwa den Endkolben, oder einfachen Tastzellen gegen\u00fcber als die specifischen Apparate des einen oder des anderen Sinnes in Anspruch genommen werden. Gerade f\u00fcr diese auffallenden Differenzen rechtfertigen die neueren Untersuchungen mehr und mehr eine andere sehr einfache Deutung; die complicirteren Formen scheinen den einfachen gegen\u00fcber nur die Aufgabe von Multiplicatoren derselben Wirkung zu haben. So haben z. B. die Tastk\u00f6rperchen ihre anscheinende Specificit\u00e4t verloren, seitdem sich besonders durch die Untersuchungen von Fr. Merkel u. a. herausgestellt hat, dass sie nichts als Aggregate \u00fcber die ganze Haut verbreiteter Elementargebilde, der sogenannten Tastzellen sind, welche da an die Stelle der letzteren treten, wo eine feine Tastempfindlichkeit trotz ung\u00fcnstiger Verh\u00e4ltnisse f\u00fcr die Zuleitung des Reizes (dicke Epidermis, oder hornige Beschaffenheit ihrer Elemente) hergestellt werden soll. Die einen sind mehrfache, \u00fcber einander geschichtete, die anderen isolirte Zellen gleicher Art, welche zu den Nervenenden in die gleiche anatomische Beziehung treten, sei es nun, dass letztere in das Protoplasma der Zellen \u00fcbergehen (Merkel, Frey) oder sich zu Endplatten ausbreiten, welchen die Zellen nur an-liegen (A. Key und Retzius, Ranvier).1 2 3 Ob diese Zellen dem Druckoder Temperatursinn dienen, l\u00e4sst sich aus ihrer Structur nicht entziffern, obwohl ihr Vorkommen z. B. in der Wachshaut des Entenschnabels entschieden der ersteren Function das Wort spricht. Vielleicht sind auch die von Th. Eimer 2 in der Haut der Maulwurfsschnauze beschriebenen Tastkegel solche Complexe zahlreicher Tastzellen; vielleicht endigen auch die Nervenfasern, welche nach Sch\u00f6bl 3 die von ihm in der Flughaut der Flederm\u00e4use beschriebenen Terminalk\u00f6rperchen umspinnen, in den Zellen, die deren Kern zusammensetzen, wie anderw\u00e4rts in den Tastzellen. Wahrscheinlich sind es auch gewissermaassen nur quantitative durch locale Verh\u00e4ltnisse bedingte Differenzen, welche die PACiNi\u2019schen K\u00f6rperchen und die einfachen Endkolben unterscheiden.\nWenn demnach die Histiologie vorl\u00e4ufig der Annahme eines doppelten Sinnesapparates in der Haut nicht den mindesten Vorschub leistet, so begr\u00fcnden ihre negativen Ergebnisse doch auch keine sichere Widerlegung derselben. Es sind m\u00f6glicherweise sehr geringf\u00fcgige nicht in die Augen fallende Differenzen der Vorrichtungen, welche ein Nervenende einerseits f\u00fcr die den Druck fortpflanzenden Bewegungen der Hauttheil-chen, andererseits f\u00fcr die W\u00e4rmebewegungen in der Haut empf\u00e4nglich machen, Differenzen, welche sich ebenso noch der Beobachtung entziehen, wie die mit absoluter Sicherheit zu postulirenden Differenzen der centralen Ganglienzellen, welche die einen zu Entladungsapparaten der Willenskraft, die anderen zu Empfindungsapparaten, die einen zu Licht-, die anderen zu Tonempfindungsapparaten machen. Finden wir doch auch in\n1\tVergl. Fr. Merkel, Arch. f. microscop. Anat. XL S. 636. 1875, ebendas. XV. S. 415. 1878; Frey, Handb. d. Histol. u. Histochem. 5. Aufl. Leipzig 1878; Asper, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1876. S. 145 ; A. Key u. Retzius, Stud, in d. Anat. d. Ner-vensyst. 2. H\u00e4lfte. Stockholm 1876; Ranvier, Comptrend. 1877. 26. Nov., Centralbl. f. d. med. Wiss. 1878. S. 353.\n2\tTh. Eimer, Arch. f. microscop. Anat. VII. S. 181. 1871.\n3\tJ. Sch\u00f6bl, ebendas. S. 1.","page":319},{"file":"p0320.txt","language":"de","ocr_de":"320\nFunke, Tastsinn etc. 2. Cap. Der Drucksinn.\nanderen Sinnesspli\u00e4ren trotz anscheinend grosser Verschiedenheit der betreffenden Sinnesreize eine so weitgehende Uebereinstimmung der wesentlichen Verh\u00e4ltnisse der peripherischen Nervenendigung, dass wir die Histiologie vergeblich nach den Momenten fragen, welche den einen Endapparat f\u00fcr Schallbewegungen, den anderen f\u00fcr Riech- oder Geschmacksreize pr\u00e4destiniren. Es ist ebensogut denkbar, dass wir sp\u00e4ter einmal zwei Arten von Tastzellen, eine f\u00fcr Druck- und eine f\u00fcr W\u00e4rmereize eingerichtet, unterscheiden lernen, als dass das Mikroskop einmal an einem Theil der bisher f\u00fcr frei gehaltenen Nervenenden specifische W\u00e4rmeperceptionseinrichtungen entdeckt.\nVon physiologischer Seite hat zuerst E. H. Weber f\u00fcr die Gemeinschaftlichkeit des Druck- und Temperatursinnesapparates gewisse von ihm beobachtete Interferenzerscheinungen beider Empfindungsapparate geltend gemacht. Er beobachtete, dass kalte auf der Haut ruh ende K\u00f6rper uns schwerer, warme leichter, als sie sollten, erscheinen, dass demnach \u201edie Empfindung der K\u00e4lte sich mit der Empfindung des Drucks zu summiren scheine, w\u00e4hrend die der W\u00e4rme sich nicht summire, vielleicht sogar wie ein negativer Druck wirke und also die gleichzeitige Empfindung des Drucks vermindere.\u201c Unbefangene Personen, denen man bei unterst\u00fctztem Kopf (zur Ausschliessung des Muskelsinnes) abwechselnd einen auf \u2014 4 bis 7\" C. abgek\u00fchlten oder zwei \u00fcbereinandergeschichtete auf + 37 bis 38\u00b0 C. erw\u00e4rmte Thaler auf die Stirnhaut legt, halten in der Regel beide Gewichte f\u00fcr gleich schwer, oder sogar den einen kalten Thaler f\u00fcr schwerer als die zwei warmen. Sp\u00e4ter hat Szabadf\u00f6ldi 1 eine Umkehr dieser Interferenz bei relativ hohen Temperaturen aus der Beobachtung erschlossen, dass eine kleine auf 50\u00b0 C. und dar\u00fcber erw\u00e4rmte Holzscheibe f\u00fcr schwerer taxirt werde, als eine gr\u00f6ssere nicht erw\u00e4rmte Scheibe beim Auflegen auf dieselbe Hautstelle. Es fragt sich: sind diese Thatsachen wirklich beweisend f\u00fcr die Identit\u00e4t des Druck- und Temperatursinnesapparats'? Meines Erachtens durchaus nicht; ihre Auslegung in diesem Sinne st\u00f6sst vielmehr auf sehr gewichtige Bedenken. Man m\u00fcsste sich vorstellen, dass bei gleichzeitiger Einwirkung von Temperatur- und Druckreizen auf den einheitlichen Nervenapparat ge-wissermaassen eine Mischerregung in den leitenden Nervenfasern hervorgerufen w\u00fcrde, welche im Hirn irgendwie in zwei Componenten, die eine Druck- und eine Temperaturempfindung vermittelten, zerlegt w\u00fcrde, und dass bei vereinter Einwirkung eines bestimmten Druckes mit sehr niedrigen oder sehr hohen Temperaturen diese resultirende Erregung der Art w\u00e4re, dass die eine Componente, die\n1 Szabadf\u00f6ldi, Molesch. Unters. IX. S. 631. 1865.","page":320},{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"Verschiedenheit des Apparates f\u00fcr Druck- und Temperatursinn. 321\nDruckempfindung* zu hoch, h\u00f6her als bei mittleren Temperaturreizen, ausfiele. Diese Erh\u00f6hung der einen Componente w\u00fcrde aber nicht auf Kosten der anderen erfolgen, da im WEBER\u2019schen Versuch nicht etwa die K\u00e4lteempfindung um so viel zu gering ausf\u00e4llt, als die Druckempfindung w\u00e4chst. Welche plausible Vorstellung k\u00f6nnte man sich von dem Hergang dieser verwickelten Superposition der Erregungen oder noch mehr von ihrer Zerlegung durch die Empfindungsapparate machen? Auf welche Thatsache oder welche Analogie k\u00f6nnte man sich st\u00fctzen? Man kann sich wohl denken, und Analogien daf\u00fcr auff\u00fchren, dass bei gleichzeitiger Einwirkung zweier Reize auf eine Nervenfaser eine Summirung der Wirkung eintritt, aber schwerlich erkl\u00e4ren, warum eine solche Verst\u00e4rkung der Erregung nur dem einen der beiden Effecte, in welche dieselbe angeblich aufgel\u00f6st wird, zu Gute k\u00e4me. Um zu zeigen, wie wenig glaubhaft '\u00fcberhaupt die Umsetzung einer einheitlichen Nervenerregung in eine im Bewusstsein deutlich geschiedene Doppelempfindung, erinnern wir nur daran, dass wir in anderen Sinnessph\u00e4ren sogar die zusammengesetzten Empfindungen, welche bei gesonderter Ausl\u00f6sung ihrer Componenten durch gesonderte Nervenleitungen entstehen, schwer oder nicht in ihre Componenten zu scheiden verm\u00f6gen, dass wir sehr schwer und unvollkommen eine Klangempfindung in die Partialt\u00f6ne zu sondern lernen, dass wir bei gleichzeitiger Reizung der Netzhaut durch verschiedene Lichtwellenarten trotz der Sonderung ihrer Einwirkungen durch die differenten YouNG\u2019schen Fasern oder HERiNG\u2019schen Sehsubstanzen eine Mischempfindung erhalten, die wir nicht in die Einzelfarben aufzul\u00f6sen im Stande sind. Meines Erachtens lassen sich die in Rede stehenden Interferenzerscheinungen weit einfacher mit der Annahme eines getrennten Apparats f\u00fcr beide Sinne vereinbaren. Entweder kann man an eine T\u00e4uschung des Urtheils, an eine irrige Taxirung der Empfindungsgr\u00f6ssen bei der Besch\u00e4ftigung der Aufmerksamkeit durch zwei gleichzeitige Empfindungen denken. Oder es ist m\u00f6glich, dass jene Temperaturgrade, bei welchen die Erscheinung auftritt, erh\u00f6hend auf die Perceptionsf\u00e4higkeit der Drucksinnesapparate in der Haut wirken, und somit einen Zuwachs in der erregenden Wirkung eines bestimmten Druckgrades erzielen. Eine sichere Entscheidung l\u00e4sst sich vorl\u00e4ufig nicht gewinnen.\nNicht viel besser steht es meines Erachtens mit der Sicherheit der von Wunderli 1 versuchten Beweisf\u00fchrung f\u00fcr die Identit\u00e4t des\n1 Wunderli, Experim. Beitr. z. Phys. d. Tastsinnes. Dissert. Z\u00fcrich 1860 und Molesch. Unters. VIL S. 393. 1860.\nHandbuch der Physiologie. Bd. IHa.\n21","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322\nFunke, Tastsinn etc. 2. Cap. Der Drucksinn.\nDruck- und Temperatursinnesapparates. Wunderli hat experimentell dargethan, dass unter gewissen Verh\u00e4ltnissen die durch schwache Druck- oder Temperatureinwirkungen erzeugten Empfindungen nicht mit Sicherheit unterschieden, ja geradezu verwechselt werden k\u00f6nnen. Er schliesst daraus, dass beide Empfindungen \u00fcberhaupt nicht specifisch von einander verschieden seien, folglich durch den n\u00e4mlichen Nervenapparat vermittelt werden, und dass ihre Differenzirung, wo sie eintrete, nicht auf wesentlichen Differenzen ihrer Qualit\u00e4t, sondern auf nebens\u00e4chlichen Momenten, welche er hypothetisch n\u00e4her zu bezeichnen suchtj beruhe.\nDie Thatsachen sind folgende : Wunderli bedeckte bei unbefangenen Personen, denen die Augen verbunden waren, in verschiedenen Regionen des K\u00f6rpers die Haut mit einem Papierbl\u00e4ttchen, in welchem sich eine kleine quadratische Oeffnung befand. Die durch diese Oeffnung freige-lassene Hautpartie wurde in beliebiger Abwechselung durch leise Ber\u00fchrung mit Baumwolle oder durch Ann\u00e4herung eines erw\u00e4rmten Metallst\u00e4bchens gereizt; bei jeder Reizung mussten die Personen angeben, ob sie eine Bertihrungs- oder W\u00e4rmeempfindung wahrnahmen. Es stellte sich heraus, dass, wenn die Versuche an der Haut der Handvola oder des Gesichts angestellt wurden, niemals eine T\u00e4uschung \u00fcber die Art der Reizung vorkam, dass dagegen bereits bei Versuchen am Handr\u00fccken zuweilen, bei Versuchen an der R\u00fcckenhaut sehr h\u00e4ufig Verwechselungen eintraten.\nIch kann in diesen Thatsachen eine Berechtigung zu dem von Wunderli gezogenen Schluss nicht finden. Sie beweisen meines Erachtens nur, dass es f\u00fcr Druckempfindung sowohl als f\u00fcr Temperaturempfindung einen unteren Grenzwerth der Intensit\u00e4t, eine Schwelle, giebt, unterhalb welcher eine deutliche Auspr\u00e4gung der Modalit\u00e4t im Bewusstsein wegf\u00e4llt. Da nun auch diese undeutlichen Empfindungen das zu ihrer Localisirung f\u00fchrende Gepr\u00e4ge erhalten, diese \u201eLocalzeichen\u201c (s. unten) aber erfahrungsgem\u00e4ss ausnahmslos in Begleitung der einen oder der anderen der beiden Empfindungsarten auftreten, ist die M\u00f6glichkeit einer Verwechselung begreiflich. Dass letztere leicht an der R\u00fcckenhaut wie an der Handvola eintritt, erkl\u00e4rt sich aus dem gr\u00f6sseren Reichthum der letzteren an Nervenenden. Da, wie wir zeigen werden, mit der Zahl der von einem bestimmten Reiz erregten Nervenfasern durch Summirung die Intensit\u00e4t der Empfindung w\u00e4chst, erreicht letztere an der Handvola bereits bei Reizung sehr kleiner Hautpartien den zur Ueberschreitung der bezeick-neten Schwelle erforderlichen Werth. Aehnliche Verwechselungen kommen vielleicht noch anderweitig vor. Es ist mir z. B. nach einigen Beobachtungen nicht unwahrscheinlich, dass auch die durch Einwirkung sehr schwacher Geschmacksreize auf die Zunge erweckten","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"Verschiedenheit des Apparates f\u00fcr Druck- und Temperatursinn. 323\nEmpfindungen f\u00e4lschlich f\u00fcr Tastempfindungen oder Gemeingef\u00fchle gehalten werden k\u00f6nnen. Gewiss w\u00fcrde Niemand daraus folgern wollen, dass Geschmacks- und Tastsinn auf der Zunge einen gemeinschaftlichen Apparat h\u00e4tten. Ebenso bedenklich, wie die eben kritisirte Schlussfolgerung erscheint mir Wunderli\u2019s Hypothese \u00fcber die Art der Momente, welche bei st\u00e4rkeren Reizen zur Differenzirung der im Wesen gleichen Druck- und Temperaturempfindungen f\u00fchren. Es sollen dieselben in quantitativen Verschiedenheiten der Vertheilung der einerseits durch Druck, anderseits durch W\u00e4rme oder K\u00e4lte in einer Hautpartie hervorgerufenen Erregung auf die in ihr endigenden einzelnen Nervenfasern bestehen. Jede mechanische wie jede thermische Einwirkung auf die Haut errege stets gleichzeitig eine Mehrzahl sensibler Fasern, jede Druck- und Temperaturempfindung bestehe demnach aus einer verschieden grossen Summe gleichartiger discreter Einzelempfindungen, welche verm\u00f6ge des Raumsinnes von der Seele unterschieden werden k\u00f6nnen. Die Art der Zusammensetzung dieser Summen soll nun in Betreff der Gr\u00f6ssen ihrer Elemente in der Art charakteristische Abweichungen bieten, als bei W\u00e4rmereizung im Innern des Reizbezirkes eine gleichm\u00e4ssige Erregung aller Nervenenden an den R\u00e4ndern desselben eine allm\u00e4hliche Abstufung der Erregungsst\u00e4rke stattfinde, bei Druckreizung dagegen diese Abstufung am Rande fehle, im Innern aber in Folge der Unebenheit der Haut stark erregte oberfl\u00e4chliche mit schwacherregten oder unerregten tiefergelegenen Nervenenden ab wechseln. Die erste Art der Mischung soll der Empfindungssumme das charakteristische Gepr\u00e4ge der Temperaturempfindung, die zweite dasjenige der Druckempfindung ertheilen! Je geringer die Anzahl der gleichzeitig getroffenen Nervenfasern, desto schw\u00e4cher falle die Charakteristik aus, daher die h\u00e4ufigen Verwechselungen an der R\u00fcckenhaut, welche nach Wunderli noch dadurch beg\u00fcnstigt werden sollen, dass die scharfe Begrenzung des Reizbezirks durch den Papierrand die Verschiedenheiten der r\u00e4umlichen Ausbreitung des Reizes am Rande desselben aufgehoben werden. Diese Erkl\u00e4rung ist durchaus unbefriedigend und mit den Thatsachen nicht vereinbar. Selbst wenn die angegebenen Differenzen der Vertheilung der Erregungsst\u00e4rke richtig sind, ist nicht einzusehen, wie dieselben zu einer Aenderung der Qualit\u00e4t der Empfindung f\u00fchren, wie sie etwas Anderes bewirken sollen, als eine entsprechend verschiedene Vertheilung der Empfindungsst\u00e4rken in der Mosaik, zu welcher verm\u00f6ge des Raumsinnes die Elemente der Summe in der Vorstellung nebeneinander gruppirt werden. Consequenter Weise m\u00fcsste man voraussetzen, dass auch\n21*","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"324\nFunke, Tastsinn etc. 2. Cap. Der Drucksinn.\ndie Qualit\u00e4t der Lichtempfindung sich \u00e4ndere, je nachdem in einem von Licht bestrahlten Netzhautbezirk eine gleichm\u00e4ssig oder un-gleichm\u00e4ssig vertheilte St\u00e4rke der Erregungen der einzelnen nebeneinander gebetteten Opticusenden vorhanden ist, was thats\u00e4clilich einfach zu widerlegen ist. Es ist ferner aus Wunderli\u2019s Hypothese in keiner Weise zu erkl\u00e4ren, wie es m\u00f6glich ist, dass wenn ein kalter oder warmer K\u00f6rper die Haut in einer gewissen Ausdehnung ber\u00fchrt, nebeneinander eine Druckempfindung, welche zu mehr weniger richtiger Vorstellung von seiner Schwere f\u00fchrt, und eine Temperaturempfindung, welche uns \u00fcber seine K\u00e4lte oder W\u00e4rme belehrt, entstehen, wie also die betreffende Summe von Einzelempfindungen gleichzeitig beide charakteristische Gepr\u00e4ge erhalten soll.\nWir glauben uns auf Grund der vorstehenden Er\u00f6rterungen zu dem Ausspruch berechtigt, dass nicht nur die Identit\u00e4t des Druck-und Temperatursinnesapparats nicht erwiesen ist, sondern im Gegen-theil eine vollst\u00e4ndige Sonderung der nerv\u00f6sen Werkzeuge f\u00fcr beide Sinne, von den Erregungsvorrichtungen in der Haut bis zu den centralen Empfindungsapparaten die gr\u00f6ssere Wahrscheinlichkeit f\u00fcr sich hat.\nUnsere n\u00e4chste Aufgabe besteht in der Untersuchung der Bedingungen, unter welchen eine Druckempfindung entsteht und des vermittelnden Vorgangs in der Haut, welche den \u00e4usseren Reiz in eine Nervenerregung umsetzt. Ein weiteres Eindringen in den physiologischen Process, dessen Anfangsglied die Ausl\u00f6sung der Erregung im peripherischen Nervenende, dessen n\u00e4chstes Endglied die subjective Druckempfindung darstellt, st\u00f6sst vorl\u00e4ufig noch auf un-\u00fcbersteigbare Hindernisse. Noch ist nicht einmal das Wesen des Leitungsvorganges in der Nervenfaser eruirt, noch ist absolut dunkel die Natur des \u201epsychophysischen\u201c Vorgangs in der c\u00e9ntralen Endstation und deren Verh\u00e4ltniss zu dem psychischen Effect.\nII. Das Zustandekommen der Druckempfinduiig und das Wesen der Reiz Wirkung.\nDamit bei der Ber\u00fchrung des Tastorganes durch ein \u00e4usseres Object eine Druckempfindung zu Stande komme, muss die Compression der Haut eine gewisse Minimalgr\u00f6sse \u00fcberschreiten. Wir k\u00f6nnen diesen Grenzwerth, die intensive Schwelle des Reizes (Fech-ner), bestimmen, indem wir feststellen, bis zu welcher Gr\u00f6sse wir einen auf eine Hautstelle ausge\u00fcbten, durch die Schwere eines aufgelegten Gewichts gemessenen Druck von Null aus anwachsen lassen","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"Bedingungen f\u00fcr das Zustandekommen einer Druckempfindung. 325\nm\u00fcssen, damit eben ein deutliches Ber\u00fchrungsgef\u00fchl eintritt. Die bisher allgemein g\u00fcltige Annahme, dass es auch einen oberen Grenzwerth des Reizes g\u00e4be, bei dessen Ueberschreitung derselbe aufh\u00f6re Druckempfindung zu erzeugen, statt deren eine Schmerzempfindung hervorrufe, d\u00fcrfte nach unserer in der Einleitung begr\u00fcndeten Anschauung dahin umzuformen seiu, dass bei dem Anwachsen des Drucks \u00fcber einen gewissen Maximalwerth neben der fortbestehenden Druckempfindung eine neue durch Erregung besonderer Nervenfasern vermittelte Empfindung, der Schmerz, entsteht, welche erstere im Bewusstsein \u00fcb ertaubt.\nDen unteren Schwellenwerth hat zuerst Kammler 1 durch eine grosse Reihe an sich und Anderen angestellter sorgf\u00e4ltiger Versuche f\u00fcr die verschiedenen Theile des Tastorgans bestimmt. Diese Versuche haben im Allgemeinen ergeben, dass die Empfindlichkeit der Haut f\u00fcr minimale Druckgr\u00f6ssen an verschiedenen Stellen sehr betr\u00e4chtliche Verschiedenheiten zeigt, diese Empfindlichkeitsscala aber auch bei verschiedenen Personen nicht ganz gleich ist. Das leichteste Gewicht, welches eine Tastempfindung erzeugt, betrug 0,002 Grm., dieselbe wurde von Kammler wahrgenommen an der Stirn, den Schl\u00e4fen, der Dorsalseite der Vorderarme und H\u00e4nde. F\u00fcr die Volarseite der Vorderarme lag die Reizschwelle bei 0,003 Grm., f\u00fcr Nase, Lippen, Kinn, Augenlider, Bauchhaut bei 0,005 Grm., f\u00fcr die Volarseite der Finger sogar bei 0,005 \u2014 0,015 Grm. Auf die N\u00e4gel der Finger und die Fersenhaut musste 1 Grm. aufgelegt werden, um ein Ber\u00fchrungsgef\u00fchl zu erwecken. Eine Vergleichung dieser Zahlen mit den unten f\u00fcr die Sch\u00e4rfe des Raumsinnes an verschiedenen Hautstellen aufzuf\u00fchrenden Maassen ergiebt, dass letztere mit der Empfindlichkeit durchaus nicht parallel l\u00e4uft, dass z. B. die Finger die Stirnhaut und weit mehr noch die Bauchhaut an Feinheit des Raumsinnes \u00fcbertreffen, an Empfindlichkeit aber den genannten Theilen mehr weniger nachstehen. Es m\u00fcssen daher die Momente, von denen die Gr\u00f6sse beider Eigenth\u00fcmlichkeiten des Tastorgans abh\u00e4ngt, verschieden sein. Einige der Umst\u00e4nde, welche den Grad der Empfindlichkeit bestimmen, lassen sich a priori bezeichnen und mit den Thatsachen vereinbaren. Die Empfindlichkeit wird um so gr\u00f6sser sein, je zahlreicher in einer Hautstelle von bestimmtem Umfang die Nervenenden, da mit der Zahl der gleichzeitig^erregten Fasern die Empfindungsintensit\u00e4t durch Summirung w\u00e4chst (s. unten), je d\u00fcnner die Epidermis, je geringer also die Schw\u00e4chung des Reizes\n1 O. Kammler, Exper. d. var. cutis region, minim, pond\u00e9r\u00e9 sentiendi virtute. Diss. Vratislav. 1858; Aubert u. Kammler, Molesch. Unters. V. S. 145. 1859.","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326\nFunke, Tastsinn etc. 2. Cap. Der Drucksinn.\ndurch die Leitung, ferner je gespannter die Haut, je dichter unter ihr sich kn\u00f6cherne Unterlagen befinden u. s. f.\nDas Versuchsverfahren von Rammler bestand darin, dass er sehr leichte Gewichte (aus Papier, Hollundermark) von gleich grosser Oberfl\u00e4che fertigte, und dieselben f\u00fcr sich oder noch durch aufgelegte Gewichte beschwert in allen Versuchen gleich langsam auf die zu pr\u00fcfende Hautstelle herabliess.\nNach einem anderen Princip hat Goltz 1 die Empfindlichkeit verschiedener Hautstellen experimentell gepr\u00fcft, und die gefundenen Werthe, welche von den KAMMLER\u2019sclien Resultaten wesentlich ab weichen, als Maasse f\u00fcr die \u201eFeinheit des Drucksinns\u201c aufgestellt. Goltz wurde zu seiner Untersuchung durch die Thatsache veranlasst, dass wir den Puls unserer Radial- oder Temporalarterien, welchen der tastende Finger deutlich wahrnimmt, nicht mit der \u00fcber der Arterie selbst gelegenen Armoder Stirnhaut f\u00fchlen. Die Vermuthung, dass dieser Unterschied sich daraus erkl\u00e4re, dass in ersterem Fall die Druckwirkung von aussen her durch die Epidermis, im zweiten Fall von innen her den Nervenenden zugeleitet werde, weist Goltz zur\u00fcck, und sucht die Begr\u00fcndung desselben in verschiedenen Graden der Empfindlichkeit der Fingerhaut gegen\u00fcber der Arm- und Stirnhaut, weil er sich \u00fcberzeugte, dass die Armhaut auch von aussen her auf sie wirkende Pulsschl\u00e4ge nicht wahrnimmt. Er kam daher auf den Gedanken, einen Maassstab f\u00fcr die Empfindlichkeit der verschiedenen Hautstellen dadurch zu gewinnen, dass er denselben einem mit Wasser prall gef\u00fcllten Kautschuckschlauch (in gleicher Ausdehnung) anlegte und die St\u00e4rke der in ihm durch Compression erzeugten Spannungswellen bestimmte, welche zur Wahrnehmung des k\u00fcnstlichen Pulses an jeder Hautstelle erforderlich war. Es ergaben sich dabei, im Gegensatz zu Kammler\u2019s Beobachtungen, f\u00fcr die verschiedenen Hautregionen ganz entsprechende Differenzen, wie sie dieselben in Betreff der Sch\u00e4rfe des Raumsinnes zeigen, mit der einzigen Ausnahme, dass die Druckempfindlichkeit der Zungenspitze geringer als die der Fingerspitzen erschien, w\u00e4hrend der Ranmsinn der ersteren den der letzteren an Sch\u00e4rfe tibertrifft. Ich glaube nicht, dass es statthaft ist, wie es gew\u00f6hnlich geschieht, die Beobachtungen von Goltz direct mit denen fon Rammler in Vergleich zu bringen und die Ergebnisse beider als widersprechende Antworten auf eine gleichlautende Frage aufzufassen. W\u00e4hrend Rammler nach unanfechtbarer Methode die intensive Reizschwelle bestimmt, misst Goltz die Empfindlichkeit verschiedener Hautstellen f\u00fcr Druckschwankungen, f\u00fcr die minimale Gr\u00f6sse des Zuwachses, welche der von dem aufgelegten Schlauch auf die Haut ausge\u00fcbte Druck durch die Pulswelle erfahren muss, um einen merklichen Empfindungszuwachs zu erzielen, demnach die Welle wahrnehmbar zu machen. Die von Goltz beantwortete Frage ist daher nicht die nach der absoluten Empfindlichkeit, sondern die nach der Unterschiedsempfindlichkeit, mit anderen Worten, wie Goltz selbst sich ausdr\u00fcckt, nach der Feinheit des Drucksinns in der Bedeutung, wie sie E. H. Weber auffasst und wie wir sie unten n\u00e4her\n1 F. Goltz, Centralbl. f. d. med. Wiss. S. 273. 1863.","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"Bedingungen f\u00fcr das Zustandekommen einer Druckempfindung.\n327\npr\u00fcfen werden. Goltz selbst hat daher seine Versuche mit Recht zu den von E. H; Weber \u00fcber die Feinheit des Drucksinns angestellten nicht zu den KAMMLER\u2019schen in Parallele gesetzt. Eine andere, hier nicht zu discutirende Frage ist, ob, in diesem Sinne angewendet, die Methode von Goltz frei von Bedenken ist.\nObwohl sich zur Zeit eine fest begr\u00fcndete physiologische Erkl\u00e4rung der Thatsache der Reizschwelle nicht geben l\u00e4sst, so liegen doch verschiedene vollberechtigte Erkl\u00e4rungsm\u00f6glichkeiten vor und ist Fechner\u2019s 1 Behauptung von der Unhaltbarkeit einer physiologischen Deutung der Reizschwelle entschieden zur\u00fcckzuweisen. Es ist sehr wohl denkbar, dass der \u00e4ussere Reiz eine bestimmte Minimalgr\u00f6sse erreichen muss, um den inneren Sinnesreiz auszul\u00f6sen, oder dass letzterer bis zu einem bestimmten Werth anwachsen muss, um die Nerven zu erregen, oder dass die Erregungswelle eine bestimmte H\u00f6he besitzen muss, um gewisse in den centralen Endapparaten, den Ganglienzellen gegebene Widerst\u00e4nde zu \u00fcberwinden, welche ihrer Umsetzung in den der Empfindung zu Grunde liegenden physischen Process entgegenstehen. Man k\u00f6nnte auch an eine Verzehrung lebendiger Kr\u00e4fte der Erregung auf dem Leitungswege denken, wenn dem nicht die gegentheilige PFL\u00fcGER\u2019sche Hypothese vom lawinenartigen Anschwellen der Erregung entgegenst\u00e4nde, eine Hypothese, die zwar wiederholt angegriffen, aber meines Erachtens auch durch die neueren Einwendungen Fleischl\u2019s nicht entscheidend widerlegt ist. Gar keinen zwingenden Grund kann ich in Fechner\u2019s Argumentation f\u00fcr die \u201epsychophysische\u201c Erkl\u00e4rung der Schwelle erblicken, welche aussagt, dass zwar jeder \u00fcber dem Nullpunkt liegende Reiz die zwischen ihm und der Empfindung liegenden Glieder des physiologischen Vorganges in einer seiner Gr\u00f6sse proportionalen St\u00e4rke hervorrufe, diese physischen Vorg\u00e4nge aber erst bei einer bestimmten Intensit\u00e4t den psychischen Process in seiner niedrigsten Gr\u00f6sse zu erwecken verm\u00f6gen. Andererseits kann ich auch Aubert, Preyer 2 u. A. nicht beipflichten, welche insofern die Thatsache der Reizschwelle \u00fcberhaupt anzweifeln, als sie auch bei Abwesenheit aller \u00e4usseren Reize eine continuirliche Erregung aller Sinnesapparate durch innere Reize, also auch eine continuirliche Kette dadurch erzeugter schwacher Empfindungen annehmen, so dass die durch den schw\u00e4chsten wahrnehmbaren \u00e4usseren Reiz erzeugte Empfindung\n1\tTh. Fechner, Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. 1864. S. 1; Elemente d. Psycho-physik. Th. II. S. 431. Leipzig,1860.\n2\tAubert. Physiol, der Netzhaut. S. 42. Breslau 1865. Preyer. Physiol. Abh. 1. Hft. S. 65. Vgl. G. E. M\u00fcller. Z. Grundlegung d. Psychophysik. S. 236. Berlin 1878.","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nFunke, Tastsinn etc. 2. Cap. Der Drucksinn.\neigentlich nur eine merkliche Verst\u00e4rkung der schon vorhandenen (subjectiven) Empfindung sei, die sogenannte Reizschwelle also nur eine Unterschiedschwelle (s. unten) darstelle. Ich kann mich bei der aufmerksamsten Pr\u00fcfung nicht von dem best\u00e4ndigen Vorhandensein von Druckempfindung ohne objective Ursache von allen Stellen meines Tastorganes aus \u00fcberzeugen.\nZur Aufstellung einer zweiten wesentlichen Bedingung f\u00fcr das Zustandekommen einer Druckempfindung ist Meissner 1 durch die n\u00e4here Verfolgung einer auffallenden Thatsache gelangt. Die leicht zu constatirende Thatsache ist die, dass wenn wir unsere Hand in eine Fl\u00fcssigkeit, Wasser oder Quecksilber von der Temperatur der Hand eintauchen, an keinem Theil der untergetauchten Tastfl\u00e4che eine Tastempfindung entsteht, obwohl der Druck der auf ihr lastenden Fl\u00fcssigkeitss\u00e4ule mehr weniger hoch \u00fcber der Reizschwelle liegt, sondern nur an der Grenzlinie zwischen der eingetauchten und der freien Hautpartie, und zwar auch da nur an der Volarseite der Hand deutlich, eine Druckempfindung auftritt. Wir f\u00fchlen die Ber\u00fchrung der Fl\u00fcssigkeit nur an diesem Berlihungsrand nicht mit den eingetauchten Theilen. Da andererseits feststeht, dass beim Anlegen der Haut an die Oberfl\u00e4che eines festen K\u00f6rpers in der ganzen Ausdehnung der ber\u00fchrenden Tastfl\u00e4che Druckempfindungen entstehen, muss ein wesentlicher Unterschied vorhanden sein einmal zwischen der Einwirkung fester und fl\u00fcssiger K\u00f6rper auf die Haut, zweitens zwischen der Einwirkung von Fl\u00fcssigkeiten auf die untergetauchte Fl\u00e4che und auf die bezeichnete Grenzlinie. Die Aufsuchung dieser Unterschiede f\u00fchrt uns nothwendig auf die Grundfrage nach dem Wesen der Reizwirkung, nach den Zust\u00e4nden oder Vorg\u00e4ngen in der gedr\u00fcckten Haut, welche die Erregung der sensiblen Nervenenden bewirken. Offenbar muss, sobald ein gewisser* Druck von aussen her auf eine Hautpartie ausge\u00fcbt wird, derselbe die einzelnen Hauttheilchen einander zu n\u00e4hern suchen und somit eine Vermehrung des Drucks, welchen sie wechselseitig auf einander aus\u00fcben, bedingen. Diese Spannungszunahme wird von dem Grade des \u00e4usseren Drucks abh\u00e4ngen und so lange fortbestehen, als letzterer einwirkt. Es fragt sich, ob dieser stetige neue Gleichgewichtszustand der Hauttheilchen als die unmittelbare Ursache einer anhaltenden Nervenerregung mithin einer anhaltenden Druckempfindung aufgefasst werden kann. Diese Auffassung wird ausgeschlossen durch das oberste Gesetz der allgemeinen Nervenphysiologie, nach welchem eine Ner-\n1 G. Meissner, Ztschr. f. rat. Med. (3) VIL S. 92.","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"Wesen der Reiz Wirkung.\n329\nvenerregung niemals durch einen statischen Zustand, sondern nur durch pl\u00f6tzliche, mit einer gewissen Geschwindigkeit ablaufende Ver\u00e4nderungen irgend welches Gleichgewichtszustandes im Nerven ausgel\u00f6st werden kann, eine scheinbar stetige anhaltende Erregung, ein Tetanus, daher nur durch einen intermittirenden Vorgang, eine Reihe rasch sich folgender einzelner Gleichgewichtsschwankungen zu Stande kommt. Mit diesem Gesetz sehen wir auch die Reizverh\u00e4ltnisse in anderen Sinnesgebieten, soweit sie eruirt oder plausibeln Hypothesen zug\u00e4nglich sind, in evidentem Einklang. Entweder besteht der \u00e4ussere Sinnesreiz selbst unzweifelhaft in einer periodischen Bewegung und es l\u00e4sst sich erweisen, dass er als solcher an die Nervenenden herantritt, oder es liegen gewichtige Gr\u00fcnde f\u00fcr die Annahme vor, dass im Sinnesorgane der \u00e4ussere Reiz in einen aus Bewegungen bestehenden inneren Sinnesreiz umgesetzt werde. Am klarsten stellt sich dieses Verhalten im Gebiete des Geh\u00f6rssinnes heraus, wo nicht allein der \u00e4ussere Reiz eine periodische Bewegung ist, sondern auch die seine Einwirkung auf die Nervenenden vermittelnden Vorrichtungen in Schnecke und Vorhof unzweideutig sich als mechanische Te-tanisirapparate ausweisen. F\u00fcr den Opticus bilden zwar die Schwingungen des Licht\u00e4thers nicht den directen Reiz; allein es befestigt sich mehr und mehr die Vermuthung, dass es chemische Molecular-bewegungen sind, durch deren Vermittlung sie erregend wirken. Ebenso sind es h\u00f6chstwahrscheinlich durch riechbare und schmeckbare Substanzen hervorgerufene chemische Bewegungen, welche die Erregung der Geruchs- und Geschmacksnervenfasern ausl\u00f6sen; f\u00fcr ersteren Nerven wird diese Annahme durch die interessanten Beobachtungen Wolff\u2019s 1 \u00fcber das Verhalten des Secrets der Dr\u00fcsen der Riechschleimhaut gegen Riechgase fast zur Gewissheit best\u00e4tigt. Endlich erinnern wir daran, dass auch der \u00e4ussere Reiz f\u00fcr den Temperatursinn, die W\u00e4rme eine Bewegung ist, und dass es Aenderungen der Intensit\u00e4t der W\u00e4rmevibrationen der Hauttheilchen sind, welche W\u00e4rme- und K\u00e4lteempfindungen erzeugen. Nach alledem d\u00fcrfen wir mit Sicherheit voraussetzen, dass auch f\u00fcr die Drucksinnsnerven durch die Compression der Haut geweckte Bewegungen irgend welcher Art den unmittelbaren inneren Sinnesreiz bilden. Diese Vorstellung hat zuerst Lotze1 2 zu begr\u00fcnden, und zugleich Art und Entstehung der hypothetischen Reizbewegungen n\u00e4her zu definiren versucht. Meissner hat Lotze\u2019s Anschauungen vollst\u00e4ndig adoptirt und weiter\n1\tO. J. B. Wolff, Die Mechanik d. Riechens. Samml. gemeinverst. wissensch. Yortr. Herausgeg. von Virchow u. Holtzendorff. XIII. Ser. Hft. 289. Berlin 1878.\n2\tLotze, Medic. Psychologie. S. 198. Leipzig 1852.","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330\nFunke, Tastsinn etc. 2. Cap. Der Drucksinn.\nausgef\u00fchrt. Die n\u00e4chste Folge einer Druckeinwirkung auf die Haut besteht zweifelsohne in einer successiven Verschiebung der dem Druck ausweichenden Hauttheilchen. K\u00e4men dieselben in der neuen Lage, in welche sie durch die Verschiebung gerathen, sofort wieder zur Ruhe, so k\u00f6nnte diese einmalige Bewegung, wenn sie das Nervenende erreicht, nur eine einfache momentan ablaufende Reizwelle also auch nur eine mit dem Beginn der Ber\u00fchrung zusammenfallende momentane Empfindung hervorrufen, vorausgesetzt, dass das Nervenende in irgend welcher Weise durch seinen speeifischen Endapparat f\u00fcr diese schwache mechanische Einwirkung empf\u00e4nglich gemacht ist. Um daher die mehr weniger lange Fortdauer der Druckempfindung erkl\u00e4ren zu k\u00f6nnen, nehmen Lotze und Meissner an, dass die Hauttheilchen unter der Einwirkung \u00e4usseren Drucks nicht sofort zur Ruhe kommen, sondern in anhaltende Bewegung, in regelm\u00e4ssige Oscillation en um eine Gleichgewichtslage gerathen und dass diese Oscillationen den inneren Sinnesreiz bilden, die Enden der Drucksinnesnerven tetanisiren. Gegen diese Hypothese erheben sich eine Anzahl schwer wiegender Bedenken, abgesehen davon, dass sie keine Erkl\u00e4rung daf\u00fcr giebt, wie diese schwachen, weit unter der Schwelle eines directen mechanischen Reizes liegenden Bewegungen wirksam gemacht werden. Man wendet vor Allem dagegen ein, dass die Haut in ihrer festweichen Beschaffenheit, ihrer Zusammensetzung aus den verschiedensten Gewebselementen von vornherein ausserordentlich ungeeignet zu regelm\u00e4ssigen Vibrationen erscheint, und dass, wenn solche in ihr durch einen einmaligen Impuls, wie die im Beginn der Ber\u00fchrung eintretende Verschiebung, zu Staude kommen, sie jedenfalls so rasch an lebendiger Kraft abnehmen und ausklingen m\u00fcssen, dass an eine zeitliche Deckung derselben mit der factischen Dauer der Ber\u00fchrungsempfindung nicht zu denken ist. Allerdings hat Meissner diesem Einwand zu begegnen gesucht, indem er die Vermuthung ausspricht, dass, wo wirklich eine l\u00e4ngere Dauer der Empfindung stattfinde, eine entsprechend lange Unterhaltung der Oscillationen durch wiederholte kleine Verschiebungen der Haut gegen das dr\u00fcckende Object, ja schon durch die regelm\u00e4ssig wiederkehrenden, von den Pulswellen in den Hautarterien herr\u00fchrenden Ver\u00e4nderungen des Compressionszustandes bewirkt werde. Wo solche Erneuerungsbedingungen der Oscillationen fehlen, vergehe auch die Empfindung mehr weniger rasch nach dem Beginn der Ber\u00fchrung trotz beliebig langer Fortdauer der letzteren. Allein auch diese Vertheidigung ist sehr bedenklich. Es ist nicht zu begreifen, dass so geringf\u00fcgige Aenderungen des Compressionszustandes, wie sie durch die Pulswel-","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"Wesen der Reizwirkung.\n331\nlen herbeigef\u00fchrt werden k\u00f6nnen, die fraglichen Oscillationen in derselben Intensit\u00e4t, wie sie die Verschiebung im Beginn der Compression erzeugt, gleichf\u00f6rmig unterhalten sollen. Sicher liegen diese Aenderungen f\u00fcr den bei weitem gr\u00f6ssten Theil der Haut weit unter der Reizschwelle, und selbst an solchen Stellen, wo sie durch die N\u00e4he einer gr\u00f6sseren Arterie unter der ber\u00fchrten Hautregion einen h\u00f6heren Werth erreichen, k\u00f6nnten sie doch nur periodische Verst\u00e4rkungen der Oscillationen, demnach entsprechende Intensit\u00e4tsschwankungen der Druckempfindung erzeugen. Legen wir z. B. auf eine Seite der Stirn, unter welcher kein gr\u00f6sserer Arterienast pulsirt, bei unterst\u00fctztem Kopf ein Gewicht, so besteht die Druckempfindung, wie man sich leicht \u00fcberzeugen kann so lange gleichf\u00f6rmig fort, dass meines Erachtens an eine entsprechend lange Fortdauer der durch die erste Verschiebung erzeugten Oscillationen ebensowenig zu denken ist, als an eine stetige Erneuerung derselben durch unmerkliche Pulsbewegungen. Ferner sollte man nach der in Rede stehenden Theorie mit Sicherheit erwarten, dass am Ende einer Ber\u00fchrung bei der Wegnahme eines dr\u00fcckenden Gewichts die R\u00fcckkehr der Haut-theilchen zu ihrer urspr\u00fcnglichen Gleichgewichtslage mit ebenso anhaltenden Vibrationen also einer langen Nachdauer der Empfindung einherginge, was durchaus nicht der Fall ist. Selbstverst\u00e4ndlich kann nicht etwa in diesem Sinne die lange Nachdauer der Ber\u00fchrungsvorstellung, welche entsteht, wenn man z. B. durch vor\u00fcbergehendes Aufdr\u00fccken eines Geldst\u00fcckes auf die Stirnhaut einen bleibenden langsam sich ausgleichenden Eindruck erzeugt hat, gedeutet werden, da hierbei wirklich ein Compressionszustand der Haut fortbesteht.\nWenn demnach die LoTZE-MEissNER\u2019sche Oscillationshypothese in der dargestellten Form schwerlich haltbar ist, so wird doch dadurch die Sicherheit der Voraussetzung, dass Bewegungen den inneren Sinnesreiz darstellen, nicht alterirt. Wir m\u00fcssen an der Vorstellung festhalten, dass die Compression der Haut, oder richtiger der Endapparate der Drucksinnesnerven (der Tastzellen?) in irgend welcher Weise und irgend welcher Form Bewegungen ausl\u00f6st, welche den Nerven erregen, dass diese Bewegungen an Ausgiebigkeit mit dem Grad der Compression wachsen, und dass ihre zeitliche Dauer der Compressionsdauer entspricht, sofern erstere nicht durch irgend welche Ersch\u00f6pfungsbedingungen verk\u00fcrzt wird.\nKehren wir jetzt zum Ausgangspunkt unserer Betrachtungen, der Frage nach den Unterschieden der Einwirkung fester und fl\u00fcssiger K\u00f6rper auf das Tastorgan und der daraus abzuleitenden wesentlichen Bedingung f\u00fcr die Entstehung von Druckempfindungen zur\u00fcck, so","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332\nFunke, Tastsinn etc. 2. Cap. Der Drucksinn.\nm\u00fcssen wir bei der Beurtkeilung der auf dieselbe von Meissner gegebenen Antwort, soweit dieselbe auf der Oscillationshypothese ruht, den gegen dieselbe vorgebrachten Bedenken Rechnung tragen. Der fragliche Unterschied besteht nach Meissner darin, dass eine Fl\u00fcssigkeit sich allen Punkten einer untergetauchten Hautfl\u00e4che gleich-massig anschmiegt, ein fester K\u00f6rper aber nur die vorragenden Erhabenheiten, die Leisten der Haut ber\u00fchrt, die dazwischenliegenden Th\u00e4ler frei l\u00e4sst. Die n\u00e4chste Folge davon ist, dass Fl\u00fcssigkeiten einen auf allen Punkten gleichen Druck auf die Tastfl\u00e4che aus\u00fcben, welchem die Hauttheilchen in einer zur Oberfl\u00e4che senkrechten Richtung auszuweichen streben, w\u00e4hrend bei der Ber\u00fchrung fester K\u00f6rper den Hauttheilchen ein seitliches Ausweichen gegen den auf die Leisten ausge\u00fcbten Druck nach den freien Th\u00e4lern gestattet ist, und ebenso an der Grenzlinie einer in Fl\u00fcssigkeit untergetauchten Fl\u00e4che eine solche seitliche Verschiebung m\u00f6glich ist. Dass nun wirklich diese Verschiedenheit der Richtung, in welcher der Druck sich fortpflanzt und die Hauttheilchen demselben aus weichen, die Ursache ist, dass in dem einen Fall eine Druckempfindung eintritt, im anderen nicht, beweist Meissner schlagend, indem er zeigt, dass auch bei festen K\u00f6rpern das Ber\u00fchrungsgef\u00fchl wegf\u00e4llt, sobald man auch f\u00fcr ihn die Bedingung einer allseitigen gleichm\u00e4ssigen Anschmiegung an die Haut herstellt. Meissner stellte einen genauen Abguss der Hautoberfl\u00e4che eines Fingers in Paraffin her und \u00fcberzeugte sich, dass bei Ber\u00fchrung des Abgusses mit der entsprechenden Tastfl\u00e4che die Ber\u00fchrungsempfindung sofort verschwindet, sowie eine genaue Einschmiegung des Hautreliefs in seine Gussform stattfindet, und dass in diesem Fall auch nicht durch Anpressung des letzteren an ersteres eine Druckempfindung hervorgerufen wird. Die weiteren Folgerungen Meissner\u2019s sind problematisch. Er glaubt, dass die verschiedene Richtung, in welcher die Theilchen bei der Ber\u00fchrung fester und fl\u00fcssiger K\u00f6rper ausweiehe, auch eine verschiedene Richtung der hypothetischen Oscil-lationen bedinge. Der gleichf\u00f6rmige, senkrecht gegen die Cutis gerichtete Druck einer Fl\u00fcssigkeit soll den Oscillationen dieselbe Richtung ertheilen, so dass sie die Tastk\u00f6rperchen parallel zu ihrer L\u00e4ngsachse durchsetzen, mithin die nach seiner Ansicht rechtwinklig zu dieser Achse laufenden Nervenenden rechtwinklig zu ihrer L\u00e4ngsachse treffen. Umgekehrt sollen die bei der Ber\u00fchrung fester K\u00f6rper seitlich ausweichenden Theilchen in Oscillationen, welche der Hautoberfl\u00e4che parallel gerichtet sind, gerathen, diese daher die Nervenenden in der Richtung ihrer L\u00e4ngsachse durchsetzen. Dieser Ver-","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"Intensit\u00e4t der Drnekempfindungen.\n333\nlauf der Ersch\u00fctterungen in den Nervenenden soll erregend wirken, die quere Richtung derselben dagegen nicht. Das Bedenkliche dieser MEisSNEE\u2019schen Erkl\u00e4rungen liegt nicht allein in der Unsicherheit der Oscillationshypothese, sondern auch in der zweifelhaften Richtigkeit der anatomischen Voraussetzung in Betreff des Verlaufs der Nervenenden und der Annahme einer directen Reizung dieser Faserenden durch die fraglichen Vibrationen der Hauttheilchen.\nIII. Intensit\u00e4t der Drnekempfindungen.\nDie Intensit\u00e4t der Druckempfindungen w\u00e4chst und sinkt in bestimmter gesetzm\u00e4ssiger Zeit mit der St\u00e4rke des Reizes, mit dem Grade der Compression der Haut, also mit der Schwere des Gewichtes, durch welche letztere hervorgebracht wird. Es stellt sich uns die Aufgabe, auf empirischem Wege dieses Gesetz der Beziehungen zwischen Reiz- und Empfindungsst\u00e4rke zu eruiren, seine Bedeutung zu er\u00f6rtern und seine physiologische Erkl\u00e4rung zu versuchen. Selbstverst\u00e4ndlich besitzt die Seele f\u00fcr den Drucksinn so wenig, wie f\u00fcr irgend welchen anderen Sinn, einen directen subjectiven Maassstab, welchen sie an eine Empfindung anlegen, an welchem sie die St\u00e4rke derselben ablesen k\u00f6nnte, um sich dieselbe als einen aus einer bestimmten Anzahl von Einheiten zusammengesetzten Werth vorzustellen und diesen mit der zugeh\u00f6rigen Gr\u00f6sse des \u00e4usseren Reizes zu vergleichen. Wir k\u00f6nnen niemals als Resultat einer directen Abw\u00e4gung unserer Empfindungen angeben, wie stark eine solche im gegebenen Fall, um welche Gr\u00f6sse sie st\u00e4rker oder schw\u00e4cher als eine andere gleichzeitige oder vorhergegangene Empfindung derselben Modalit\u00e4t und Qualit\u00e4t. Wir k\u00f6nnen daher auch nicht direct auf dem einfachen Wege, welcher zur Erkenntniss der Intensit\u00e4ts-beziehuugen zweier physischer Vorg\u00e4nge zu einander f\u00fchrt, zur Construction der Curve, welche die Gr\u00f6sse der Druckempfindungen auf die Gr\u00f6sse der Druckreize als Abscissenachse bezogen darstellt, gelangen, nicht direct die Best\u00e4tigung oder Widerlegung der von vornherein wahrscheinlichsten und teleologisch plausibelsten Voraussetzung, dass zwischen beiden Gr\u00f6ssen das Verh\u00e4ltniss einfacher directer Proportionalit\u00e4t bestehe, gewinnen. Wohl aber verm\u00f6gen wir, mit einer bis zu gewissen Grenzen gehenden Genauigkeit beurtheilen, ob zwei gleichzeitig oder nach einander auftretende Empfindungen derselben Qualit\u00e4t, gleich stark sind oder nicht, und welches in letzterem Fall die intensivere ist. Auf dieser Grundthatsache ruht das von E. H. Weber zuerst klar ausgesprochene und experimentell verwerthete","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334\nFunke, Tastsinn etc. 2. Cap. Der Drucksinn.\nPrincip einer Messung der Feinheit des Druck sinn es. Da diesem Sinn die Aufgabe gestellt ist, der Seele \u00fcber die relativen und mittelbar auch die absoluten Intensit\u00e4ten von der Aussenwelt auf uns einwirkender Kr\u00e4fte, wie der Schwerkraft, m\u00f6glichst richtige Vorstellungen zu verschaffen, um dieselben als diagnostische Marken objectiver Verh\u00e4ltnisse weiter zu verwerthen, vor allem auch danach die nothwendige Gr\u00f6sse der Gegenleistung der vom Organismus entwickelten Bewegungskr\u00e4fte zu bemessen, so liegt auf der Hand, dass die Feinheit der Leistungen des Drucksinnes von der Feinheit der Unterschiedsempfindlichkeit, d. h. von der Feinheit, bis zu welcher wir Verschiedenheiten objectiver Druckgr\u00f6ssen aus den bewusstwerdenden Intensit\u00e4tsdifferenzen der von ihnen erzeugten Druckempfindungen aufzufassen verm\u00f6gen, abh\u00e4ngt. Wir gewinnen daher ein Maass f\u00fcr die Feinheit des Drucksinnes, wenn wir die \u201eUnterschiedsschwelle\u201c (Fechner) d. h. die kleinsten eben merklichen Unterschiede der Reizgr\u00f6ssen bestimmen, mit anderen Worten, wenn wir empirisch nach weisen, umwieviel jede beliebige, z. B. durch ein beliebiges die Haut belastendes Gewicht repr\u00e4sentirte Reizgr\u00f6sse vermehrt oder vermindert werden muss, damit eine eben merkliche Verst\u00e4rkung oder Schw\u00e4chung der Druckempfindung ein-tritt. So einfach es scheint, die gestellte Aufgabe nach diesem Princip experimentell zu l\u00f6sen, so hat sich doch bei n\u00e4herer Ueberlegung und auf Grund von Erfahrungen herausgestellt, dass die Nothwendig-keit der Beseitigung gewisser Fehlerquellen einige Complicationen der Messungsmethoden bedingt. E. H. Weber selbst hat die wichtigsten, physiologisch h\u00f6chst interessanten Momente, welche die Resultate der Beobachtungen \u00fcber die kleinsten merklichen Druckunterschiede wesentlich beeinflussen, richtig erkannt und bei seinen grundlegenden Versuchen ber\u00fccksichtigt.\nIV. Feinheit des Drucksinns.\nVor allen Dingen hat Weber gezeigt, dass es bei einer Messung der Feinheit des Drucksinnes unerl\u00e4sslich ist, die Einmischung eines zweiten Sinnes, welcher durch denselben \u00e4usseren Reiz angesprochen der Seele Belehrungen \u00fcber seine Gr\u00f6sse verschafft, d. i. des Muskelsinnes, auszuschliessen. In der That stehen uns zwei Wege offen, welche entweder gesondert, je nach Umst\u00e4nden der eine oder der andere, oder auch gleichzeitig benutzt werden, um uns \u00fcber die Schwere eines Gewichtes zu unterrichten. Entweder taxiren wir dieselbe nach der Intensit\u00e4t der Druckempfindung, welche","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"Feinheit des Drucksinns.\n335\nes durch Compression einer Hautstelle erweckt, oder nach dem Anstrengungsgef\u00fchl, welches bei seiner Hebung die dabei th\u00e4tigen Muskeln uns verschaffen. Wir werden die Resultate, zu denen der zweite Weg f\u00fchrt, unten f\u00fcr sich besprechen, ihre Genauigkeit pr\u00fcfen und zu der Frage, wie sie zu Stande kommen, Stellung nehmen. Da aber von vornherein durchaus nicht ersichtlich ist, ob die Aussagen beider Sinne v\u00f6llig gleichlautend sind, ob nicht beim gleichzeitigen Gebrauch beider irgend welche Interferenz stattfindet, ist selbstverst\u00e4ndlich zur Beantwortung der hier vorliegenden Frage eine isolirte Pr\u00fcfung der Unterscheidungssch\u00e4rfe von Druckgr\u00f6sse durch Druckempfindungen geboten. Weber erzielte diese Isolation, indem er die zu vergleichenden Gewichte bei v\u00f6llig unterst\u00fctzter, auf einem Tisch ruhender Hand auf die Volar- oder Dorsalseite der beiden letzten Gliedern von zwei oder drei Fingern auflegte. Es bedarf kaum der Erw\u00e4hnung, dass bei derartigen Versuchen auch der Gesichtssinn auszuschalten ist, dass die betreffenden Personen nicht sehen d\u00fcrfen, in welchem Sinne und Maasse Ver\u00e4nderungen der durch den Drucksinn zu pr\u00fcfenden Gewichtsgr\u00f6sse vorgenommen werden, damit nicht die auf diesem Wege gewonnenen Kenntnisse von der Ver\u00e4nderung der Reizgr\u00f6sse irrth\u00fcmlich auf Rechnung des Drucksinnes gebracht werden.\nWeber hat ferner festgestellt, dass es am zweckm\u00e4ssigsten ist, die durch den Drucksinn zu vergleichenden Gewichte unmittelbar nach einander auf dieselbe Tastfl\u00e4che wirken zu lassen, dass bei diesem Verfahren sicherere und feinere Resultate gewonnen werden, als wenn wir die zu pr\u00fcfenden Gewichte gleichzeitig oder auch nach einander auf zwei verschiedene Tastfl\u00e4chen, z. B. symmetrische Stellen beider H\u00e4nde auflegen. Es ergiebt sich daraus, dass wir die Intensit\u00e4ten zweier gleichzeitiger Druckempfindungen, zwischen denen die Aufmerksamkeit sich theilen muss, weniger genau vergleichend zu beurtheilen verm\u00f6gen, als die Intensit\u00e4t einer reellen gegenw\u00e4rtigen Empfindung mit derjenigen des Erinnerungsbildes einer vergangenen Empfindung, dass aber auch bei zeitlich getrennten Empfindungen die Genauigkeit des Intensit\u00e4tsvergleiches gest\u00f6rt wird, wenn die Aufmerksamkeit der Seele ausser durch die Intensit\u00e4tsdifferenzen auch noch durch diejenigen Verschiedenheiten, welche zur Wahrnehmung des verschiedenen Orts der Einwirkung f\u00fchren, in Anspruch genommen wird, selbst wenn letztere sich auf den Unterschied von Rechts und Links reduciren. Sind die zur Pr\u00fcfung verwendeten verschiedenen Tastfl\u00e4chen noch dazu nicht symmetrische, geh\u00f6ren sie verschiedenen Hautregionen an, so kommen noch die","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"336\nFunke, Tastsinn etc. 2. Cap. Der Drucksinn.\nunten zu besprechenden factischen Differenzen der relativen Feinheit des Drucksinns derselben in Betracht. Weber hat aber auch gezeigt, dass bei der Vergleichung der Intensit\u00e4ten nacheinander folgender Empfindungen die Gr\u00f6sse des Zeitintervalls zwischen beiden von wesentlichem Einfluss auf die Genauigkeit des Resultats ist, dass mit der Zunahme desselben, und zwar bei verschiedenen Personen mit verschiedener Geschwindigkeit die Deutlichkeit und damit die Vergleichsf\u00e4higkeit des Erinnerungsbildes sich abschw\u00e4cht, so dass die Differenz zweier eben als verschieden erkennbaren Gewichte um so gr\u00f6sser sich herausstellt, je l\u00e4ngere Zeit zwischen dem Auflegen des einen und des anderen verstrichen. W\u00e4hrend bei Intervallen von 15\u201430 Sec. Weber noch Gewichte, die sich wie 29:30 verhielten, als verschieden schwer erkannte, war dies bei 60 \u201490 Sec. nur bei solchen m\u00f6glich, welche sich wie 4:5 verhielten. Es folgt daraus die Nothwendigkeit, bei Versuchsreihen ein gleiches Intervall einzuhalten.\nFerner hat Weber als Bedingung richtiger Resultate erkannt, dass die zu vergleichenden Gewichte mit gleich grosser Oberfl\u00e4che die Haut ber\u00fchren, da von zwei gleich grossen Gewichten dasjenige, welches auf eine gr\u00f6ssere Hautfl\u00e4che einwirkt also eine gr\u00f6ssere Anzahl von Nervenenden erregt, als das schwerere erscheint, analog wie die Temperatur eines warmen Wassers uns h\u00f6her erscheint, wenn wir die ganze Hand, als wenn wir nur einen Finger eintauch en, wie eine gegebene Helligkeit mit der r\u00e4umlichen Ausbreitung des Lichtreizes auf der Netzhaut zu wachsen scheint. Diese Thatsachen sind als Beweise angesehen worden, dass eine gewisse Summirung der Einzeleindr\u00fccke, welche die einzelnen von einem Reiz gleichzeitig getroffenen Nervenfasern erzeugen, im Sinne einer Steigerung der Intensit\u00e4t der Sammelempfindung stattfinde. Eine b\u00fcndige Erkl\u00e4rung der Thatsache und der Art, wie die Summirung zu Stande kommt, besitzen wir nicht. Es l\u00e4sst sich nicht entscheiden, ob die Erscheinung einen physiologischen Grund hat, ob in irgend welcher Weise der in einem einzelnen Empfindungsapparat in bestimmter Gr\u00f6sse erweckte Vorgang verst\u00e4rkend auf den durch den gleichen Reiz ausgel\u00f6sten Vorgang in einem benachbarten Apparat wirkt, oder ob es sich um eine Urtheilst\u00e4uschung handelt, um eine Verwechselung der gr\u00f6sseren Zahl der nicht deutlich gesondert vor das Bewusstsein tretenden Einzelempfindungen mit einer gr\u00f6sseren Intensit\u00e4t, auf deren Pr\u00fcfung die Aufmerksamkeit gerichtet ist.\nEndlich hat Weber erwiesen, dass die zu vergleichenden Gewichte die gleiche Temperatur haben m\u00fcssen, damit nicht durch","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"Feinheit des Drucksinns.\n337\ndie bereits oben (S. 320) ausf\u00fchrlich er\u00f6rterte sogenannte Interferenz von Druck- und Temperaturempfindungen Irrth\u00fcmer in der Beurthei-lung der Schwere entstehen.\nSelbst bei gewissenhafter Einhaltung aller dieser von Weber ermittelten Versuchsbedingungen wird die Gewinnung exacter Werthe f\u00fcr die Unterschiedsempfindlichkeit noch durch gewisse zuf\u00e4llige, experimentell nicht zu beseitigende Fehlerquellen erschwert. Das Vorhandensein derselben ergiebt sich aus den einfachen Thatsachen, dass unter sonst gleichen Umst\u00e4nden eine und dieselbe Reizdifferenz von derselben Person in verschiedenen Einzelversuchen verschieden aufgefasst wird, dass eine in einem Versuch als eben merklich con-statirte Differenz zweier Gewichte, in einem zweiten Versuch nicht merklich oder \u00fcbermerklich erscheint, dass an dieser Grenze zuweilen ein Irrthum in der Auffassung der Empfindungsintensit\u00e4ten sogar in dem Siilne auftritt, dass das schwerere Gewicht f\u00fcr das leichtere gehalten wird. Den Einfluss dieser Fehlerquellen hat man in verschiedener mehr weniger zuverl\u00e4ssiger Weise bei den einzelnen speciellen Bestimmungsmethoden des Unterschiedsschwellenwerthes zu eliminiren gesucht. Da uns zu einer ersch\u00f6pfenden Erl\u00e4uterung und Abw\u00e4gung der einzelnen Methoden hier der Raum fehlt, beschr\u00e4nken wir uns unter Verweisung auf die ausf\u00fchrlichen kritischen Beleuchtungen von Fechner und G. E. M\u00fcller 1 auf eine kurze Definition der bisher im Gebiete des Drucksinnes besonders verwendeten Methoden.\nDie von Weber selbst zuerst benutzte Methode, welche man als die \u201eMethode der eben merklichen Unterschiede\u201c bezeichnet, besteht darin, dass man ausgehend von zwei gleichen Gewichten, welche nach einander auf dieselbe Hautstelle aufgelegt selbstverst\u00e4ndlich keinen Empfindungsunterschied erzeugen, bei einer fortgesetzten Reihe in gleichen Intervallen erfolgender Vergleichsauflegungen das eine derselben successiv so lange erh\u00f6ht, bis eben ein merklicher Unterschied eintritt. Die Beseitigung der zuf\u00e4lligen Fehler sucht man durch eine \u00f6ftere Wiederholung der gleichen Versuchsreihe zu bewirken, indem man unter der Voraussetzung, dass die dabei nach der Plus- und Minusseite begangenen Fehler sich mehr oder weniger compensiren, aus den f\u00fcr den kleinsten merklichen Druckunterschied in den einzelnen Reihen erhaltenen Werthen das Mittel nimmt. M\u00fcller schl\u00e4gt vor, zur Vergr\u00f6sserung der Genauigkeit der Resultate, mit dieser Versuchsmethode eine zweite zu combiniren, deren Princip darin besteht, dass man von einem \u00fcbermerklichen Gewichtsunterschiede ausgehend, das eine der vergleichend aufgelegten Gewichte successiv so lange verkleinert, bis der Unterschied eben aufh\u00f6rt,\n1 Fechner, Elem. d. Psychophysik. I. S. 71 ; Gr. E. M\u00fcller, Zur Grundlehre d. Psychophysik. S. 11.\nHandbuch der Physiologie. Bd. lila.\n22","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nFunke, Tastsinn etc. 2. Cap. Der Drucksinn.\nmerklich zu sein. Als m\u00f6glichst genauer Unterschiedsschwellenwerth wird dann das Mittel aller nach der ersten Methode f\u00fcr den eben merklichen und nach der zweiten Methode f\u00fcr den eben unmerklichen Reizunterschied erhaltenen Werthe betrachtet. M\u00fcller bezeichnet die so combinirte Methode der eben merklichen und eben unmerklichen Unterschiede als die \u201eMethode der kleinsten Unterschiede\u201c.\nEine zweite, in vieler Beziehung den Vorzug verdienende Methode ist die zuerst von Fechner sorgf\u00e4ltig ausgearbeitete \u201eMethode der richtigen und falschen F\u00e4lle\u201c. Das Princip derselben besteht darin, dass man zwei Gewichte, deren Unterschied an der Grenze der Merklichkeit liegt, in einer gr\u00f6sseren Anzahl von Einzelversuchen vergleichend nach einander auf legt und nach jedem solchen Versuch notirt, ob eines der beiden Gewichte und welches derselben als das schwerere erscheint. Man erh\u00e4lt so drei Reihen von F\u00e4llen, von denen jede einen bestimmten Bruchtheil der Zahl der Gesammtf\u00e4lle bildet, eine Reihe\nzweite\nin welcher der Gewichtsunterschied richtig erkannt wird, eine in welcher derselbe falsch beurtheilt, das schwerere Gewicht\nf\u00fcr das leichtere gehalten wird, und eine dritte Reihe J, in ^enen es\nzweifelhaft erscheint, welches derselben das schwerere. Eine jedoch nicht v\u00f6llig correcte Vereinfachung wird erzielt, wenn man, wie dies von Fechner geschehen ist, die H\u00e4lfte der zweifelhaften F\u00e4lle zu den richtigen, die andere H\u00e4lfte zu den falschen F\u00e4llen rechnet. Durch eine mathematische Operation, zu deren umst\u00e4ndlicher Darlegung uns hier der Raum fehlt, berechnet sich aus den experimentell erhaltenen Werthen der drei Verh\u00e4ltnisse der den Versuchsbedingungen entsprechende Unterschiedsschwellenwerth, d. h. diejenige Druckdifferenz, welche bei Wegfall aller zuf\u00e4lligen Fehler und Beseitigung aller das Resultat variirenden \u00e4usseren Einfl\u00fcsse, eben merklich ist.\nEine dritte Methode, die \u201eMethode der mittleren Fehler\u201c, besteht darin, dass man versucht, einem gegebenen Gewicht ein zweites nach der Beurtheilung der beim vergleichungsweisen Auflegen beider erhaltenen Empfindungsintensit\u00e4ten gleich zu machen. Beim Nachw\u00e4gen des zweiten Gewichts bei hergestellter anscheinender Gleichheit, ergiebt sich die Gr\u00f6sse des begangenen Fehlers. Bei Wiederholung des Versuchs erh\u00e4lt man Fehler verschiedener Gr\u00f6sse, das Mittel dieser Fehler liefert ein Maass f\u00fcr die Unterschiedsempfindlichkeit unter den gegebenen Bedingungen.\nVon einer Er\u00f6rterung einer von Plateau1 begr\u00fcndeten, von Delboeuf2 zur Pr\u00fcfung der Unterschiedsempfindlichkeit im Gebiete der Lichtempfindungen benutzten, f\u00fcr den Drucksinn aber noch nicht verwendeten vierten Methode, der \u201eMethode der \u00fcbermerklichen Unterschiede\u201c m\u00fcssen wir hier absehen.\n1\tPlateau. Sur la mesure d. sensat. phys. Bull. d. l\u2019acad. de Belgique XXXIII.\np. 376. XXXIV. p. 250. 1872.\t\u201e\n2\tDelboeuf, M\u00e9m. couronn. Bull. d. l\u2019acad. de Belg. XXIII. 1873. XXVI. 1875.","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"Feinheit des Drucksinns.\n339\nDie Ergebnisse der nach diesen Methoden bisher ausgef\u00fchrten Bestimmungen der Unterschiedsempfindlichkeit im Gebiete des Drucksinnes sind folgende. E. H. Weber 1 beschr\u00e4nkte sich darauf, die kleinsten Gewichtsdifferenzen zu bestimmen, welche einmal bei Belastung der Haut mit Lothen, das andere Mal mit Unzen, mit H\u00fclfe des Drucksinns aufgefasst werden konnten, und fand in beiden F\u00e4llen dieselbe relative Differenz als Grenze der Unterschiedsempfindlichkeit. Dieselbe war in beiden F\u00e4llen, bei Benutzung der Volarseite der letzten Fingerglieder als Tastfl\u00e4che und successivem Auflegen der Gewichte auf dieselbe Stelle, erreicht, wenn sich die verglichenen Gewichte wie 29:30 verhielten ; es wurden im g\u00fcnstigsten Fall eben noch 14V2 Loth von 15 Loth und 1472 Unzen von 15 Unzen als verschieden schwer erkannt. Mit anderen Worten: wenn zur ebenmerklichen Verst\u00e4rkung der Empfindung, welche eine Belastung der Haut mit 1*4 V2 Loth erweckte, ein Reizzuwachs von V2 Loth erforderlich war, so zeigte sich, dass bei Belastung mit 14 V2 Unzen derselbe absolute Reizzuwachs von 72 Loth nicht zur merklichen Verst\u00e4rkung der Empfindung gen\u00fcgte, sondern zu diesem Zweck der urspr\u00fcngliche Reiz um dieselbe relative Gr\u00f6sse, also 72 Unze erh\u00f6ht werden musste. Eine solche Feinheit des Drucksinns, wie sie die Wahrnehmbarkeit eines Gewichtsunterschiedes von 730 repr\u00e4sentirt, wurde \u00fcbrigens nur bei einzelnen Versuchspersonen unter den g\u00fcnstigsten Bedingungen beobachtet, bei anderen Personen blieb sie mehr weniger betr\u00e4chtlich unter diesem Werth, ebenso, wenn die Vergleichsgewichte gleichzeitig auf symmetrische Taststellen aufgelegt wurden. Ebenso constatirte Weber nicht unerhebliche Verschiedenheiten der Feinheit des Drucksinnes an verschiedenen Stellen der Tastfl\u00e4che, welche im Allgemeinen den Differenzen der Feinheit des Raumsinnes derselben gleichsinnig, jedoch bei weitem geringer gefunden wurden.\nDie Differenzen der Feinheit des Drucksinnes verschiedener Hautstellen pr\u00fcfte Weber nach zwei Methoden. Entweder bestimmte er an jeder verschiedenen Hautstelle f\u00fcr sich durch successives Auflegen der Vergleichsgewichte die kleinste wahrnehmbare Gewichtsdifferenz. Oder es wurden den zu vergleichenden verschiedenen Hautstellen gleichzeitig verschiedene Gewichte aufgelegt, und festgestellt, bei welchen Gr\u00f6ssen des auf der einen oder der anderen liegenden Gewichts die Empfindung von der einen oder anderen st\u00e4rker oder von beiden gleich stark erschien. Es liegt auf der Hand, dass nur die erste Methode vergleichsf\u00e4hige Werthe der Unterschiedsempfindlichkeit verschiedener Stellen des Tastorganes liefern kann, die nach der zweiten Methode erhaltenen Resultate mit\n1 E. H. Weber, Annot. S. 81. Handw\u00f6rterb. d. Phys. III. 2. Abth. S. 547 u.559.\n22*","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340\nFunke, Tastsinn etc. 2. Cap. Der Drucksinn.\ndenen der ersteren eigentlich gar nicht zusammengestellt werden d\u00fcrfen. Weber vergleicht die Bestimmung der Feinheitsdifferenz des Drucksinns nach der zweiten Methode mit der Berechnung der L\u00e4ngenverschiedenheit der Arme einer ungleicharmigen Wage aus der Differenz der an derselben im Gleichgewicht erscheinenden Gewichte. Nach der ersten Methode fand Weber z. B., dass bei einer Person, welche mit den letzten Fingergliedern noch zwei Gewichte, welche sich wie 20 : 19^2 verhielten, als verschieden schwer erkannt, an der Mitte des Unterarms erst bei einem Verh\u00e4ltniss von 20 : 18,2 die Unterscheidung eintrat. Aus den Ergebnissen der zweiten Methode heben wir folgendes Beispiel hervor. Wurden in einer Keihe von Versuchen die Lippen jedesmal mit 4 Unzen, die Volarseite der letzten Fingerglieder gleichzeitig progressiv mit 4 bis 11 i/2 Unzen belastet, so erschien die Druckempfindung von Seiten der Lippen st\u00e4rker, so lange die Fingerbelastung unter 8 Unzen blieb; bei einer Fingerbelastung mit 8\u20149 Unzen erschien die Empfindung von beiden Theilen gleich stark, und erst \u00fcber dieser Grenze erreichte die Empfindung der Finger das Uebergewicht.\nZu erw\u00e4hnen ist noch, dass Weber bei den meisten Personen eine st\u00e4rkere Druckempfindung bei Belastung einer bestimmten Hautstelle der linken K\u00f6rperseite als bei Belastung der symmetrischen Stelle der rechten Seite beobachtete, w\u00e4hrend die Unterschiedsempfindlichkeit zweier gleichzeitig belasteter Hautstellen derselben Seite sich links nicht gr\u00f6sser als rechts ergab.\nWeber\u2019s Gesetz.\nDas wichtigste Ergebniss der W eber\u2019 s ch en Untersuchungen ist die von ihm gefundene Gleichheit der zur ebenmerklichen Verst\u00e4rkung einer Druckempfindung erforderlichen relativen Beizzuw\u00fcchse bei verschiedenen absoluten Reizgr\u00f6ssen. Weber selbst hat die Bedeutung dieses Befundes, welchen er trotz der Beschr\u00e4nkung seiner Versuche auf Unzen und Lothe f\u00fcr die ganze Scala der absoluten Druckgr\u00f6ssen als g\u00fcltig annimmt, wohl erkannt und auf die Analogien hingewiesen, welche derselbe in anderen Sinnesgebieten nach seinen Versuchen oder seiner Auffassung bekannter Thatsachen findet. Er selbst stellte fest, dass auch bei der Verwendung des Muskelsinnes zur Unterscheidung von Gewichtsgr\u00f6ssen dem ebenmerklichen Unterschied bei verschiedenen absoluten Gewichtsgr\u00f6ssen stets dasselbe Verh\u00e4ltniss der Gewichte entspreche; er constatirte eine Analogie im Gebiete der extensiven Wahrnehmungen, indem er nachwies, dass auch bei der Vergleichung der L\u00e4nge zweier Linien durch das Augenmaass dem kleinsten merklichen L\u00e4ngenunterschied immer die gleiche relative Differenz der wirklichen L\u00e4ngen entspreche und endlich glaubte Weber ein Analogon darin zu erkennen, dass auch der kleinsten wahrnehmbaren H\u00f6hendifferenz zweier T\u00f6ne bei allen absoluten Tonh\u00f6hen dasselbe Verh\u00e4ltniss der Schwingungszahlen ent-","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"Weber\u2019s Gesetz.\n341\nspreche. Allein erst nach Weber ist diesen seinen Fundamentalbeobachtungen, besonders seitdem Fechner auf denselben das Geb\u00e4ude seine Maassmethode der Empfindungen basirt hat, eine eingehende nach sch\u00e4rferen Methoden durchgef\u00fchrte, alle Sinnesgebiete umfassende Experimentalpr\u00fcfung gewidmet, die Frage nach ihrer Erkl\u00e4rung und Bedeutung eindringlich er\u00f6rtert, und das wesentliche Resultat derselben unter der Bezeichnung des \u201e Weber\u2019sch en Gesetzes\u201c genauer formulirt. Von diesen Fassungen f\u00fchren jedoch nur diejenigen den Namen Weber\u2019s mit Recht, welche sich streng an den thats\u00e4chlichen Inhalt seiner und aller auf gleicher Grundlage gemachten Beobachtungen halten und nicht weitergehende, selbst erst zu erweisende Interpretationen der bez\u00fcglichen Thatsachen einschlies-sen, wie zuerst von E. Hering 1 mit vollstem Recht hervorgehoben worden ist\u00bb In diesem Sinne ist entschieden der zuerst mit Weber\u2019s Namen belegten, von Fechner gegebenen Fassung, auf welche wir unten n\u00e4her eingehen werden, die Berechtigung zu diesem Titel abzusprechen. In diesem Sinne kann eine generelle Zusammenfassung der WEBER\u2019schen Befunde und ihrer Erweiterungen nur dahin lauten: dass zur ebenmerklichen Verst\u00e4rkung einer Empfindung, gleichviel durch welche Reizgr\u00f6sse sie hervor-gerufen worden ist, stets derselbe relative Zuwachs zu dieser Reizgr\u00f6sse erforderlich ist, oder: dass \u201eder wirkliche Unterschied zweier eben merklich verschieden erscheinenden Reiz grossen proportional mit den Reizgr\u00f6ssen w\u00e4chst\u201c (Hering) oder ganz allgemein gefasst : dass die relative Unters chiedsempfindlichkeit von der absoluten Reizst\u00e4rke unabh\u00e4ngig ist (G. E. M\u00fcller).\nWir haben zun\u00e4chst zu pr\u00fcfen, ob und in welchem Grad und Umfang dem WEBER\u2019schen Gesetz in dieser Fassung auf Grund der neueren sorgf\u00e4ltigen Untersuchungen eine G\u00fcltigkeit zuzuerkennen ist, speeiell, da von einer eingehenden Ber\u00fccksichtigung der \u00fcbrigen Sinnessph\u00e4ren hier nicht die Rede sein kann, ob und wieweit dasselbe im Gebiete des Drucksinns zu Recht besteht. Im Allgemeinen l\u00e4sst sich als Resum\u00e9 dieser Pr\u00fcfung aussprechen, dass der anf\u00e4ngliche Anschein einer bis auf kleine Einschr\u00e4nkungen durchgreifenden, alle Sinnesgebiete umfassenden Bew\u00e4hrung des Gesetzes einer gegenth eiligen weiter und weiter gehenden Reduction seiner G\u00fcltigkeit gewfichen ist, dass letztere nur noch in Bezug auf die Wahrneh-\n1 E. Hering, Zur Lehre von der Bez. zwischen Leib und Seele, ErsteMitth. Ueb. Fechner\u2019s psychophys. Ges. Sitzgsber. d. Wiener Acad. 3. Abth. LXXII. S. 310. 1875.","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342\nFunke, Tastsinn etc. 2. Cap. Der Drucksinn.\nmungen des Augenmaasses, insbesondere soweit dieselben durch Vermittlung des Muskelsinnes zu Stande kommen, vielleicht des Muskelsinnes \u00fcberhaupt und der Schallintensit\u00e4ten als mehr weniger streng erwiesen gelten kann, dass selbst in den beschr\u00e4nkten Territorien, welche dem Gesetz noch bleiben, sich obere und untere Grenzen der absoluten Reizgr\u00f6sse, bei welchen es sich bew\u00e4hrt, herausgestellt haben, und endlich, dass gerade im Gebiete des Drucksinnes, in welchem Weber seinen Grund gelegt, neuere Untersuchungen seine Geltung widerlegt oder mindestens sehr zweifelhaft gemacht haben.\nNachdem bereits Lotze 1 und Meissner 2 auf die Unzul\u00e4nglichkeit der auf nur zwei verschiedene absolute Reizst\u00e4rken beschr\u00e4nkten eigenen Versuche Weber\u2019s zur Begr\u00fcndung eines allgemeinen Gesetzes aufmerksam gemacht, und Zweifel ausgesprochen hatten, ob auch bei sehr geringen oder sehr hohen Belastungen der Haut z. B. mit 30 Gramm oder 30 Pfund fso Mehrgewicht die Unterschiedsschwelle des K\u00f6rpers darstellen, hat zuerst Dohrn 3 die Ung\u00fcltigkeit des WEBER\u2019schen Gesetzes f\u00fcr niedrige absolute Druckgrade experimentell erwiesen, und zugleich bei diesen Reizgr\u00f6ssen betr\u00e4chtlichere Differenzen der Unterschiedsempfindlichkeit verschiedener Hautstellen, als Weber bei h\u00f6heren Reizgr\u00f6ssen gefunden, constatirt. Er fand, dass bei Belastung der Haut mit 1 Gramm an der Volarseite der letzten Fingerglieder eine merkliche Verst\u00e4rkung der Empfindung erst bei einem Zuwachs von mindestens 0,2 Gramm, also V\u00f6 des urspr\u00fcnglichen Reizes eintrat, an der Volarseite der Handfl\u00e4che dieser Zuwachs bereits 0,66 Gramm betrug, am Vorderarm 1 Gramm \u00fcberstieg, also erst eine Verdoppelung der Reizgr\u00f6sse merklich wurde, am R\u00fccken sogar nahezu eine Vervierfachung (3,8 Gramm Zuwachs) einen merklichen Empfindungszuwachs erzielte. Bei einem 11j\u00e4hrigen Knaben fiel an allen Hautstellen der Unterschiedsschwellenwerth noch viel betr\u00e4chtlicher aus.\nDohrn stellte seine Versuche nach der Methode der ebenmerklichen Unterschiede in der Weise an, dass von den zwei Schalen einer Waage, die eine, mit einem Uebergewicht von 1 Grm. belastete, constant mittelst eines an ihrer Unterseite befestigten St\u00e4bchens gegen die zu pr\u00fcfende (unterst\u00fctzte) Hautstelle dr\u00fcckte, und nun die Belastung der anderen Schale successiv so lange vermehrt oder vermindert wurde, bis eben ein Empfindungsunterschied merklich wurde. Mit Recht ist diese Methode als zu scharfen Bestimmungen des \u00fcnterschiedsschwellenwerthes untauglich, ihre Hauptfehlerquelle in der nothwendig durch die Fortdauer der\n1\tLotze, Medic. Psychol. S. 208.\n2\tMeissner, Beitr. z. Anat. u. Physiol, d. Haut. S. 33. Leipz. 1853.\n3\tDohrn, Beitr. z. Druckempf. d. Haut. Ztschr. f. rat. Med. (3) X. S. 339. 1861.","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"Weber\u2019s Gesetz.\n343\nDruckempfindung w\u00e4hrend der ganzen Dauer der Reizver\u00e4nderung bedingten Erm\u00fcdung erkannt worden. Allein keinesfalls sind die hierdurch verursachten Fehler erheblich genug, um aus ihnen die kolossalen Abweichungen der DoHRN\u2019schen Befunde von den Forderungen des Weber\u2019-schen Gesetzes zu erkl\u00e4ren, und ist durch dieselben unzweifelhaft die Ung\u00fcltigkeit desselben f\u00fcr niedere Reizgr\u00f6ssen im Bereich des Drucksinnes erwiesen.\nEine ausserordentlich sorgsame, auf sechs verschiedene absolute Reizgr\u00f6ssen von 300\u20143000 Gramm ausgedehnte Pr\u00fcfung des Weber-schen Gesetzes bei der Unterscheidung von Gewichten hat Fechner 1 nach der Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle durchgef\u00fchrt. So bedeutungsvoll diese Untersuchung f\u00fcr die Frage nach der G\u00fcltigkeit des Gesetzes im Allgemeinen, so kommt sie doch streng genommen hier nicht in Betracht, weil bei derselben die Einmischung des Muskelsinnes nicht ausgeschlossen, demselben im Gegentheil die Hauptrolle zugewiesen war.\nDas Verfahren Fechner\u2019s war in K\u00fcrze folgendes. Die Gewichte waren dargestellt durch zwei Gef\u00e4sse, deren jedes durch variable Einlagsbelastungen in den verschiedenen Versuchsreihen auf ein \u201eHauptgewicht\u201c von 300, 500, 1000, 1500, 2000, 3000 Grm. gebracht wurde, und welche an einer mit der Hand zu umfassenden Holzrolle mit freiem Arm gehoben wurden. Bei jedem Einzel versuch wurde dem einen der beiden Gef\u00e4sse ein bestimmtes Zusatzgewicht, welches entweder 0,04 oder 0,08 des Hauptgewichts betrug, aufgelegt, und nun die beiden Gef\u00e4sse in immer gleichem Zeitintervall hintereinander mit immer gleicher Geschwindigkeit zu immer gleicher H\u00f6he, entweder das eine mit der rechten, das andere mit der linken Hand, oder beide mit derselben (rechten oder linken) Hand gehoben. Nach jeder Doppelhebung wurde das Ergebniss der Beurtheilung als richtiger, falscher oder zweifelhafter Fall eingetragen, und aus vielen Tausenden derartiger Einzelbeobachtungen der Unterschiedsschwellenwerth f\u00fcr jede der sechs verschiedenen Gr\u00f6ssen des Hauptgewichts berechnet.\nDie Ergebnisse dieser Versuche standen nicht in vollem Einklang mit dem WEBER\u2019schen Gesetz. Der Merklichkeitsgrad der gleichen relativen Reizzuw\u00fcchse war nicht, wie dasselbe fordert, bei allen absoluten Gr\u00f6ssen der Hauptgewichte derselbe, nahm beim Aufsteigen der Hauptgewichte von 300 zu 500 Gramm etwas ab, dann aber beim weiteren Wachsthum derselben stetig zu, um sich mehr und mehr der Gleichheit zu n\u00e4hern. W\u00e4hrend Fechner das anf\u00e4ngliche Absteigen der Merklichkeit nicht bestimmt zu erkl\u00e4ren weiss (dasselbe nur vermuthungsweise von einem bei niederen Druckgraden zur Geltung kommenden, bei h\u00f6heren dagegen verdeckten Einfluss\n1 Fechner, Elem. I. S. 93 u. 182.","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344\nFunke, Tastsinn etc. 2. Cap. Der Drucksinn.\nauf die Empfindlichkeit der Nervenendapparate ableitet), glaubt er die bei h\u00f6heren Druckgraden beobachteten Abweichungen vom Weber-schen Gesetz aus einer Nichtber\u00fccksichtigung des mit den Vergleichsgewichten gehobenen Armgewichts erkl\u00e4ren zu k\u00f6nnen. In der That l\u00e4sst sich leicht zeigen, dass, wenn man das constant bleibende Gewicht des Armes zu den variabeln Hauptgewichten hinzurechnet, das Verh\u00e4ltniss der nur den letzteren relativ gleich gemachten Zusatzgewichte zu dem Gesammtgewichte sich verkleinert, aber um so weniger, je gr\u00f6sser das Hauptgewicht, je weniger also die Vermehrung desselben durch das Armgewicht in Betracht kommt, dass demnach die beobachtete Zunahme der Merklichkeit und deren Ann\u00e4herung an die Gleichheit m\u00f6glicherweise lediglich durch die fac-tische aber immer geringer werdende Zunahme der Gewichtsdifferenz beim Steigen der Hauptgewichte bedingt sein k\u00f6nnte. Allein selbst wenn eine Ber\u00fccksichtigung des Armgewichts in diesem Sinne vollkommen gerechtfertigt, und eine dementsprechende Correctur in der Berechnung der Versuchsergebnisse oder in der Abmessung der Zusatzgewichte die gefundenen Werthe der Unterschiedsempfindlichkeit dem WEBER\u2019schen Gesetz genau entsprechend machte, so w\u00fcrde dadurch die G\u00fcltigkeit desselben, wie Fechner selbst anerkennt, doch eben nur f\u00fcr den Muskelsinn, nicht f\u00fcr den Drucksinn erwiesen sein, da selbstverst\u00e4ndlich auf die von den gehobenen Gewichten erzeugten Druckempfindungen das Armgewicht nicht in Betracht kommt,\nFechner selbst wirft die Frage auf, ob es zul\u00e4ssig sei, die Belastung des Armes durch sein eigenes Gewicht in derselben Weise, wie ein \u00e4usseres von ihm gehobenes Gewicht in Anschlag zu bringen, und macht darauf aufmerksam, dass bei einer Ber\u00fccksichtigung des Armgewichts zu bedenken sei, dass dasselbe an einem k\u00fcrzeren Hebelarm, als das von der Hand getragene Gewicht wirke. G. E. M\u00fcller 1 weist darauf hin, dass dieses Armgewicht bei kleinen und grossen Belastungen der Hand nicht in derselben Gr\u00f6sse in Rechnung gebracht werden d\u00fcrfe. Bei sehr kleinen Belastungen w\u00fcrde nur der Muskelsinn der Handmuskeln in Anspruch genommen, f\u00fcr diese also auch nur die Schwere der Hand in Betracht kommen, bei steigender Belastung w\u00fcrde zun\u00e4chst der Muskel-sinn gewisser Oberarmmuskeln und zuletzt erst derjenige der Schultermuskeln zur Taxirung der Gewichte verwendet werden und demgem\u00e4ss zun\u00e4chst einer Ber\u00fccksichtigung des Vorderarmgewichts und zuletzt des ganzen Armgewichts erfordern.\nDie neueste Pr\u00fcfung des WEBER\u2019schen Gesetzes im Bereich der Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Gewichte ist von Biedermann und L\u00f6wit 2 auf Veranlassung Hering\u2019s nach der Methode der ebenmerk-\n1\tG. E. M\u00fcller, Zur Grundl. d. Psychophys. S. 202.\n2\tE. Hering, Sitzgsber. d. Wiener Acad. 3. Abth. LXXII. S. 342. 1875.","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"Weber\u2019s Gesetz.\n345\nlichen Unterschiede ausgef\u00fchrt worden. Es zerfallen diese Versuche in drei Reihen. Bei der einen hier nicht in Betracht kommenden, wurde nach einem von Weber benutzten Verfahren, von welchem unten die Rede sein wird, ausschliesslich der Muskelsinn zur Vergleichung der Gewichte verwendet. Bei einer zweiten wurde umgekehrt nach Weber\u2019s Methode der Drucksinn von einer Einmischung des Muskelsinnes dadurch isolirt, dass die zu pr\u00fcfenden Gewichte in allen Versuchen aus einer gleichen minimalen H\u00f6he auf die unterst\u00fctzte Fingerfl\u00e4che herabfielen. Leider sind gerade von dieser Reihe die Ergebnisse nicht speciell mitgetheilt und nur angegeben, dass sie keine Uebereinstimmung mit dem WEBER\u2019schen Gesetz zeigten. Bei einer dritten Reihe wurden die Vergleichsgewichte auf eine Pappscheibe gelegt, welche mit Daumen und Zeigefinger an einem kleinen Holzgriff gehoben wurde, w\u00e4hrend der Arm frei ausgestreckt war. Die' Ergebnisse dieser Reihe sind in folgender Tabelle zusammengestellt, in welcher die erste Verticalreihe die jeweiligen Hauptgewichte, die zweite das bei jedem derselben zur ebenmerklichen Verst\u00e4rkung der Empfindung erforderliche Zusatzgewicht, die dritte die entsprechenden Verh\u00e4ltnisse der Zusatzgewichte zu den Hauptgewichten, mithin die Werthe f\u00fcr die Unterschiedsempfindlichkeit enth\u00e4lt.\n10 Grm.\t\t0,7\tGrm.\tVu\n50\t77\t1,7\t\u00bb\ty 29\n100\t77\t2,4\t\u00bb\t742\n200\t77\t3,6\t77\ty 56\n300\t77\t4,6\t77\t765\n400\t77\t5,2\t77\t777\n450\t77\t6,5\t77\t769\n500\t77\t25,5\t77\t720\nDie Tabelle lehrt, dass die Unterschiedsempfindlichkeit bei diesen Versuchen im Widerspruch mit dem WEBER\u2019schen Gesetz anfangs beim Anwachsen der absoluten Reizgr\u00f6sse von 10\u2014400 Grm. erheblich zunimmt, um dann bei weiterer Verst\u00e4rkung derselben rasch wieder abzunehmen (und zwar bei der letzten geringen Vermehrung des Hauptgewichts um 50 Grm. in kaum glaublichem Maasse). Es fragt sich nur, ob in diesen Versuchen wirklich der Drucksinn allein in Anspruch genommen war und somit durch die Ergebnisse der Beweis der Ung\u00fcltigkeit des WEBER\u2019schen Gesetzes in seinem Gebiete als erbracht angesehen werden darf. Hering f\u00fchrt f\u00fcr die ausschliessliche Th\u00e4tigkeit des Drucksinnes an, dass bei den betreffenden Versuchspersonen alle Aufmerksamkeit auf die an den Finger-","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"346\nFunke, Tastsinn etc. 2. Cap. Der Drucksinn.\nspitzen entstehenden Empfindungen gerichtet war, und dass, wenn man eine Einmischung des Muskelsinnes statuiren und in diesem Sinn nach Fechner durch Einrechnung des Armgewichts eine Cor-rectur zu Gunsten des Gesetzes vornehmen wollte, nur dann eine leidliche Uebereinstimmung mit letzterem erzielt wurde, wenn man das Armgewicht nur mit 100 Grm. in Rechnung br\u00e4chte, w\u00e4hrend es doch mindestens 1500 Grm. betr\u00e4gt. Indessen bietet die Concentration der Aufmerksamkeit auf die Fingerempfindungen keine gen\u00fcgende B\u00fcrgschaft daf\u00fcr, dass sich nicht unbewusst wenigstens die Empfindungen der bei der Hebung der Hand th\u00e4tigen Unterarmmuskeln an der Bildung des Urtheils betheiligt haben, und f\u00fcr diese dann das Gewicht der Hand unter Ber\u00fccksichtigung des k\u00fcrzeren Hebelarms, an welchem es wirkte, in Rechnung zu bringen sei. Giebt man dies zu, so d\u00fcrfte der zu den Hauptgewichten zu addi-rende Correctionszuwachs nicht allzuweit von 100 Grm. entfernt liegen.\nAus allen im Vorstehenden mitgetheilten Untersuchungen geht demnach entschieden hervor, dass sich die G\u00fcltigkeit des Weber-schen Gesetzes im Gebiete des Drucksinnes nicht nur nicht best\u00e4tigt hat, sondern \u00e4usserst unwahrscheinlich geworden ist, dass allerdings die Reizzuw\u00fcchse, welche zur eben merklichen Verst\u00e4rkung einer Druckempfindung nothwendig sind, mit den absoluten Druckgr\u00f6ssen wachsen aber nicht den letzteren proportional, d. h. eben nichtnach dem Weber-seben Gesetz. Zur sicheren Construction eines anderen an die Stelle des letzteren tretenden Gesetzes der Unterschiedsempfind-lichkeit reichen die vorliegenden Data noch nicht aus.\nDie Deutung des eben pr\u00e4cisirten Verhaltens der Unterschiedsempfindlichkeit, mit anderen Worten die Erkl\u00e4rung des WEBER\u2019schen Gesetzes oder des an seine Stelle zu setzenden Gesetzes, erscheint so lange wir uns streng an den Inhalt desselben halten, als eine ver-h\u00e4ltnissm\u00e4ssig einfache Aufgabe der Psychologie. Gehen wir von der theoretisch und teleologisch unstreitig wahrscheinlichsten und mit den Thatsachen der Sinneswahrnehmung am einfachsten zu vereinbarenden Voraussetzung aus, dass jede Empfindung bei successiver Steigerung des urs\u00e4chlichen Reizes jenseits der Reizschwelle stetig, dem Reiz proportional w\u00e4chst, so besagt das WEBER\u2019sche Gesetz oder sein Ersatzgesetz nichts Anderes, als dass das Auffassungsverm\u00f6gen der Seele f\u00fcr die Intensit\u00e4ts\u00e4nderungen des einfachen Empfindungsprocesses nicht von unbegrenzter Feinheit ist, dass dieselbe nicht jede beliebige kleinste Verst\u00e4rkung oder Schw\u00e4chung eines solchen zu unterscheiden vermag, sondern die Intensi-","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"Weber\u2019s Gesetz.\n347\nt\u00e4ts\u00e4nderungen, um deutlicli ins Bewusstsein zu treten, eine bestimmte endliche Gr\u00f6sse erreichen m\u00fcssen, welche um so betr\u00e4chtlicher ist, je gr\u00f6sser die Anfangsintensit\u00e4t der Empfindung, von welcher sie ausgehen. Diese Interpretation des Gesetzes fusst auf dem neuerdings mehr und mehr befestigten und meines Erachtens unabweis-lichen Lehrsatz der Psychologie, dass eine einfache Empfindung, das unmittelbare Resultat der Einwirkung einer Nervenerregung auf einen Empfindungsapparat, und die Vorstellung einer solchen Empfindung in bestimmter Qualit\u00e4t und Intensit\u00e4t zwei verschiedene Dinge sind, die Einf\u00fchrung einer Empfindung in das Bewusstsein ein besonderer^ nicht noth wendig an jede Empfindung sich ankn\u00fcpfender Act ist, mit anderen Worten auf der Scheidung unbewusster und bewusster Empfindungen. Eine ausf\u00fchrliche Rechtfertigung dieser Trennung kann hier nicht unsere Aufgabe sein. Sie leitet sich zwangsm\u00e4ssig aus der evidenten allt\u00e4glichsten Erfahrungstatsache ab, dass von den zahllosen \u00e4usseren und inneren Reizvorg\u00e4ngen, welche nachweisbar in buntester Mischung best\u00e4ndig gleichzeitig auf den gespannten Empfindungsapparat einwirken, immer nur ein kleiner Bruchtheil in eine mehr weniger deutliche bewusste Empfindung umgesetzt wird, und dass wir das Verm\u00f6gen besitzen, durch eine willk\u00fcrliche Anstrengung der Seele, die wir Aufmerksamkeit nennen, dem einen oder dem anderen Reizerfolg von dieser oder jener Modalit\u00e4t und Qualit\u00e4t, von jeder beliebigen Intensit\u00e4t den Eintritt ins Bewusstsein zu verschaffen, soweit sich nicht der eine oder der andere durch grosse Intensit\u00e4t oder andere Momente, welche ihm die Pr\u00e4ponde-ranz verschaffen, den Eintritt selbst erzwingt. Anzunehmen, dass die Beschr\u00e4nkung der Umsetzung in bewusste Empfindungen auf einen Theil der gleichzeitigen Reize darauf beruhe, dass immer, wo ein Theil dieser gleichzeitigen dem Hirn zufliessenden Erregungen \u00fcberhaupt wirksam werde, bereits in den ersten Endstationen der Sinnesnerven, den Ganglienzellen, in welchen sie endigen, Hemmungen vorhanden sind, welche beseitigt werden m\u00fcssen, um die Ausl\u00f6sung einer einfachen Empfindung zu erm\u00f6glichen, und dass die Wirkung der Aufmerksamkeit in der einseitigen Aufhebung dieser Widerst\u00e4nde bestehe, scheint mir physiologisch \u00e4usserst unwahrscheinlich, um so mehr, als die Aufmerksamkeit selbst den schw\u00e4chsten Erregungen wie sie z. B. den subjectiven Hautgef\u00fchlen zu Grunde liegen den Vorzug im Bewusstsein zu verschaffen und umgekehrt selbst sehr intensive Erregungen von dem Bewusstsein abzublenden vermag. Weit wahrscheinlicher ist es, dass es sich um Widerst\u00e4nde handelt, welche irgendwo auf den von den Empfindungsherden zu den Organen","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348\nFunke, Tastsinn etc. 2. Cap. Der Drucksinn.\nder bewussten Verarbeitung der Empfindungen f\u00fchrenden Wegen oder in letzteren selbst liegen, dass das Bewusstsein gewissermaassen zu eng ist, um alle Zufl\u00fcsse von den Empfindungsstationen gleichzeitig zu fassen, oder dass die ihnen zur Verarbeitung der Empfindung verf\u00fcgbare Kraftsumme zu gering ist, um alle gleichzeitig in Vorstellungen, Urtheile u. s. w. umzusetzen, dass daher, wenn durch eine physiologisch durchaus noch nicht definirbare Th\u00e4tigkeit der sogenannten Aufmerksamkeit der einen oder der anderen der concurri-renden Empfindung der Zugang zu den Werkst\u00e4tten des Bewusstseins erschlossen ist, er den \u00fcbrigen abgesperrt ist. Wie dem auch sein m\u00f6ge, sobald wir zugestehen, dass die bewusste Vorstellung von den Empfindungen, also auch die Beurtheilung ihrer Intensit\u00e4t ein besonderer secund\u00e4rer psychischer Act ist, k\u00f6nnen wir uns auch vorstellen, dass diese Beurtheilung in dem Sinne, wie wir es oben aus-sprachen und wie es dem Inhalt des Unterschiedsempfindlichkeitsgesetzes entspricht, unvollkommen ist. Das Bewusstsein besitzt ja keinen absoluten Maassstab, den es an die eintretenden Empfindungen anlegen, an denen es ihren absoluten Intensit\u00e4tswerth, die Zahl der sie zusammensetzenden Einheiten ablesen k\u00f6nnte, es beurtheilt zun\u00e4chst nur ob sich eine Empfindung st\u00e4rker oder schw\u00e4cher als die andere aufdr\u00e4ngt, ob dieser Unterschied gross oder klein, und diese Unterscheidung relativer Intensit\u00e4ten hat eben gewisse Grenzen, welche durch Uebung zwar verschoben aber nicht ganz beseitigt werden k\u00f6nnen. Weil aber diese Beurtheilung der Intensit\u00e4ten zun\u00e4chst nur eine relative nur eine Auffassung von Verh\u00e4ltnissen ist, erscheint es als selbstverst\u00e4ndlich, dass der wirkliche Unterschied zweier im Bewusstsein eben als verschieden erkannter Empfindungsintensit\u00e4ten mit den absoluten Intensit\u00e4ten, indirect also mit den absoluten Beizgr\u00f6ssen, denen sie proportional sind, w\u00e4chst, wenn auch nicht streng proportional, wie das Weber\u2019sehe Gesetz verlangt. Die eben er\u00f6rterte Unvollkommenheit der bewussten Auffassung der Gr\u00f6ssenwerthe psychischer Grundvorg\u00e4nge beschr\u00e4nkt sich auch keineswegs auf die Beurtheilung von Empfindungsst\u00e4rken, sondern kehrt bei allen analogen Th\u00e4tigkeiten des Bewusstseins wieder. Wir werden ihr wiederbegegnen im Gebiete der extensiven Wahrnehmungen beim Raumsinn der Haut, d. h. bei der Auffassung der Zahl- und Werthdifferenzen der irgendwie beschaffenen psychischen Zeichen (Localzeichen), welche, die Druck- oder Temperaturempfindungen begleitend, ihre r\u00e4umliche Auslegung vermitteln. Sie zeigt sich sehr evident in allen F\u00e4llen, wo es sich nicht um die Intensit\u00e4t eines Eindruckes, auch nicht um die Extensit\u00e4t d. h. die Zahl einer Reihe","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"Fechnek\u2019s Gesetz.\n349\ngleichzeitiger Eindr\u00fccke, sondern nm die Auffassung der Zahl einer Reihe hintereinanderfolgender Eindr\u00fccke handelt, wie folgendes Beispiel lehrt. Lassen wir einen schwingenden Hammer in regelm\u00e4ssigen, verschieden grossen Zeitintervallen auf eine Glocke auffallen, so dass wir sowohl mit dem Auge die Einzelbewegungen des Hammers, als mit dem Ohr die aufeinanderfolgenden T\u00f6ne gesondert wahrnehmen, so werden wir bei sehr langsamer Folge die in gegebener Zeit z. B. einer Secunde erfolgenden Schwingungen direct z\u00e4hlen und somit sehr genau das Zahlenverh\u00e4ltniss derselben in zwei aufeinander folgenden Reihen bestimmen k\u00f6nnen. Beschleunigen wir die Hammerbewegung, so kommen wir zu einem Punkt, wo wir zwar die einzelnen Excur-sionen eben nicht mehr direct z\u00e4hlen k\u00f6nnen, die Summe derselben in gegebener Zeit aber noch so genau taxiren, dass wir die Verschiedenheit der Geschwindigkeit ihrer Folge mit Sicherheit auffassen, wefm der Hammer z. B. einmal 10, das andere Mal 11 Schwingungen in der Secunde ausf\u00fchrt. Je mehr sich die Bewegung beschleunigt, desto gr\u00f6sser wird die wirkliche Differenz der eben noch als verschieden erkannten Summen von Schwingungen, und wenn sich z. B. herausstellte, dass wir bei 100 Schwingungen in der Secunde eine Zunahme der Geschwindigkeit erst bei einem Zuwachs von 10 Schwingungen erkennen, so w\u00e4re damit eine Best\u00e4tigung des WEBE\u00df\u2019schen Gesetzes f\u00fcr den \u201eZeitsinn\u201c geliefert.\nEs bedarf keines ausdr\u00fccklichen Zugest\u00e4ndnisses, dass die im Vorstehenden gegebene \u201epsychologische\u201c Erkl\u00e4rung des factischen Verhaltens der Unterschiedsempfindlichkeit keine ersch\u00f6pfende ist, dass dieselbe einer Uebersetzung in die exacte Sprache der Physiologie noch durchaus unzug\u00e4nglich ist.\nFecliner's Gesetz.\nFundamental verschieden von der er\u00f6rterten ist die Auslegung des WEBE\u00df\u2019schen Gesetzes, welche Fechner gegeben, und auf welche derselbe mit gr\u00f6sstem Scharfsinn und tadelloser Folgerichtigkeit weiterbauend sein epochemachendes \u201epsychophysisches Maassverfahren\u201c begr\u00fcndet hat, eine Auslegung, welche indes-\n1 Anmerkung der Redaction. Der Verfasser hat das psychophysische Gesetz einer ausf\u00fchrlichen Er\u00f6rterung unterworfen, obgleich dieser Gegenstand nach dem Programm in den zweiten Band verwiesen war, und auch daselbst behandelt ist. Als das Manuscript einging, war Funke schon in einem solchen Zustande, dass Verhandlungen unm\u00f6glich waren, und auf eigene Hand in einer mit so grosser Sorgfalt ausgef\u00fchrten Arbeit Ver\u00e4nderungen vorzunehmen, konnte ich mich weder w\u00e4hrend der Krankheit noch vollends nach dem Tode des Verfassers entschliessen. Dem Leser wird \u00fcbrigens die doppelte Behandlung eines so streitigen Gegenstandes nicht unwillkommen sein, zumal die beiden Bearbeiter in ihren Urtheilen von einander abweichen.","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"350\nFunke, Tastsinn etc. 2. Cap. Der Drucksinn.\nsen auf einer neuen, durchaus nicht unmittelbar mit den empirischen Unterlagen des Gesetzes gegebenen Voraussetzung ruht, und daher mit dieser Voraussetzung steht und fallt. Dieselbe besteht darin, dass Fechner die eben merklichen Zu w\u00fcchse, welche nach Weber die Empfindung bei allen verschiedenen absoluten Reizgr\u00f6ssen durch relativ gleiche .Reizzuw\u00fcchse erf\u00e4hrt, als gleich gross annimmt, in ihnen gleichgrosse elementare Einheiten des Empfindungsvorganges erblickt, dass er, um ein concretes Beispiel an-zufiihren, den Zuwachs, welchen die Druckempfindung erf\u00e4hrt, wenn wir die auf einer Hautstelle ruhende Last von 29 Gramm auf 30 Grm. erh\u00f6hen, f\u00fcr absolut gleich gross mit demjenigen Zuwachs erkl\u00e4rt, welcher bei der Zulage von 1 Pfund zu 29 Pfund Belastung entsteht. Auf Grund dieser Voraussetzung formulirt Fechner das Weber\u2019sehe Gesetz dahin, dass relativ gleich grossen Reiz-zu w\u00fcchsen absolut gleich grosse Empfin dungs zuw\u00fcchse entsprechen. Mit vollem Recht hat zuerst Hering hervorgehoben, dass dem so formulirten Gesetz die Bezeichnung als Weber-sches Gesetz nicht zukommt. W\u00e4hrend Weber einen Satz \u00fcber die Beziehungen zwischen Empfindungs- und Reizgr\u00f6sse \u00fcberhaupt nicht aufgestellt hat, und seine grundlegenden Beobachtungen an sich die Ableitung eines solchen \u00fcberhaupt nicht gestatteten, hat Fechner durch Zuh\u00fclfenahme der Pr\u00e4misse von der Gleichheit der eben merklichen Empfindungszuw\u00fcchse den Ausdruck seines Gesetzes, das wir zur Unterscheidung in der Folge als das FECHNER\u2019sche Gesetz bezeichnen werden, in die Thatsachen erst hineingelegt, dieselben zu beweisen f\u00fcr den Satz umgewandelt, dass die Empfindungen nicht in dem von uns vorausgesetzten Verh\u00e4ltnis der Proportionalit\u00e4t, sondern logarithmisch mit der Intensit\u00e4t des Reizes wachsen. Die Art und Weise, wie Fechner aus dieser veilneintlichen Beziehung zwischen Reiz- und Empfindungsgr\u00f6ssen seine Maassformel f\u00fcr die Berechnung der Empfindungsgr\u00f6ssen aus den zugeh\u00f6rigen Reizgr\u00f6ssen construit hat, m\u00fcssen wir hier als bekannt voraussetzen. Wir bemerken nur, dass das Princip derselben durch die weitgehenden Einschr\u00e4nkungen der G\u00fcltigkeit des WEBER\u2019schen Gesetzes nicht alterirt wird; wo dasselbe sich nicht bew\u00e4hrt, tritt an seine Stelle irgend welche andere, empirisch festzustellende, gesetzm\u00e4ssige Beziehung der ebenmerklichen Empfindungszuw\u00fcchse zum Wachsthum des Reizes. Es w\u00fcrde uns ferner weit \u00fcber die uns gestellten Grenzen hinausf\u00fchren, wollten wir uns auf eine ersch\u00f6pfende Analyse des FECHNER\u2019schen Gesetzes und Kritik der von ihm selbst und Anderen unternommenen Versuche, die in demselben ausgesprochene auffallende","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"Fechner\u2019s Gesetz.\n351\nBeziehung zwischen Reiz- und Empfindungsgr\u00f6ssen \u201epsychophysisch\u201c oder \u201ephysiologisch\u201c zu erkl\u00e4ren, einlassen.1 F\u00fcr uns handelt es sich vornehmlich darum, im Allgemeinen die Berechtigung des Fech-NEu\u2019schen Gesetzes und sein eventuelles Vorzugsrecht vor der von uns vertretenen Annahme der Proportionalit\u00e4t zwischen Reiz- und Empfindungsgr\u00f6ssen zu pr\u00fcfen, da selbstverst\u00e4ndlich die Erkenntniss der wahren Beziehung zwischen beiden f\u00fcr die Beurtheilung der Leistungen des Drucksinnes als Lehrer \u00fcber objective Gr\u00f6ssenverh\u00e4ltnisse von wesentlichster Bedeutung ist.\nEs ist vor allem hervorzuheben, dass f\u00fcr die Richtigkeit der Voraussetzung, dass alle eben merklichen Empfindungsunterschiede gleich gross seien, weder von Fechner noch von einem anderen Verteidiger seines Gesetzes irgend ein haltbarer Beweis erbracht worden ist. Wenn Fechner behauptet, diese gleiche Gr\u00f6sse sei ein directes W\u00e4hrnehmungsergebniss, die eben merklichen Unterschiede erschienen wirklich f\u00fcr die Empfindung gleich gross, so halte ich das f\u00fcr eine Selbstt\u00e4uschung, eine solche Beurtheilung \u00fcberhaupt f\u00fcr eine Unm\u00f6glichkeit. Wenn Wundt folgendermaassen raisonnirt: \u201eein solcher eben merklicher Intensit\u00e4tsunterschied ist ein psychischer Werth von constanter Gr\u00f6sse; denn w\u00e4re einer derselben gr\u00f6sser oder kleiner als ein anderer, so w\u00e4re er gr\u00f6sser oder kleiner als eben merklich, was ein Widerspruch ist\u201c, so ist dies nicht wie er behauptet ein absoluter Beweis f\u00fcr die gleiche Gr\u00f6sse der eben merklichen Unterschiede, sondern wie ihm bereits Brentano und M\u00fcller entgegengehalten haben, ein ung\u00fcltiger Zirkelschluss. Wenn M\u00fcller Hering gegen\u00fcber ausspricht, dass die Annahme gleicher Gr\u00f6sse gleich merklicher Empfindungszuw\u00fcchse a priori die einfachste und naheliegendste Voraussetzung sei, so kann ich das weder an sich zugestehen, noch w\u00fcnschen, dass die Wahrscheinlichkeit dieser Annahme in die Wage gelegt werden darf gegen\u00fcber der Wahrscheinlichkeit des proportionalen Wachsthums der Empfindungen mit den Reizen, auf welche Hering\u2019s Raisonnement gegen das Fechner\u2019scIic Gesetz sich st\u00fctzt. Meines Erachtens liegt im Gegentheil die gr\u00f6ssere aphoristische Wahrscheinlichkeit auf Seiten der Annahme, dass ein Empfindungszuwachs, um merklich zu werden, im Allgemeinen um so gr\u00f6sser sein muss, je intensiver die Empfindung bereits ist, wie,\n1 Wir verweisen in dieser Beziehung ausser auf die bereits citirten Arbeiten von Fechner, Hering, G. E. M\u00fcller noch auf folgende: Bernstein, Z. Theor. d. Fech-NER\u2019schen Ges., Arch. f. Anat. u. Phys. 1868. S. 388 und: Unters, \u00fcb. d. Erregungs-vorg. im Nerven- u. Muskelsyst. Heidelb. 1871 ; Wundt, Grundz. d. physiol. Psychologie S. 282; Brentano, Psychol, vom empir. Standp. S. 88. Leipzig 1874; Langer, Grundlagen d. Psychophys. Jena 1876.","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352\nFunke, Tastsinn etc. 2. Cap. Der Drucksinn.\num einen trivialen Vergleich anzustellen, der Zuwachs eines Groschens in der gef\u00fcllten B\u00f6rse des Reichen unmerklich verschwindet, w\u00e4hrend er im Beutel des Armen eine beachtenswerthe Fortune morale darstellt. Es wird doch, um nochmals auf das Beispiel von den Hammerschwingungen zur\u00fcckzukommen, gewiss Niemand behaupten wollen, dass wenn wir in einem Fall 10 von 11 Schwingungen in der Se-cunde, im andern 100 von 110 eben merklich unterscheiden, der Zuwachs des psychischen Processes, auf welchen sich die Beurteilung des Unterschiedes gr\u00fcndet, in beiden F\u00e4llen gleich gross sei, dass nicht das Plus von zehn Empfindungsst\u00f6ssen in der Secunde einen gr\u00f6sseren Zuwachs darstelle, als das Plus von einem.\nIn \u00fcberzeugender Weise hat meines Daf\u00fcrhaltens E. Hering die Unhaltbarkeit des FECHNER\u2019schen Gesetzes aus seinen eigenen (Konsequenzen demonstrirt, gezeigt, dass die thats\u00e4chliche, wenigstens ann\u00e4hernd richtige Vorstellung, welche wir durch unsere Sinne von dem Verh\u00e4ltnis extensiver und intensiver Gr\u00f6ssen in der Aussen-welt erhalten, unm\u00f6glich bei einem logarithmischen sondern nur bei einem proportionalen Wachsthum der Empfindung mit den Reizgr\u00f6ssen gewonnen werden kann, dass wir nur durch ein proportionales Wachsthum beider direct in den Stand gesetzt werden, unseren willk\u00fcrlichen Kraftaufwand nach der Gr\u00f6sse der durch ihn zu \u00fcberwindenden \u00e4usseren Kr\u00e4fte richtig zu bemessen. Ich kann nicht zugeben, dass diese klaren Argumentationen Hering\u2019s durch die dagegen von Fechner und M\u00fcller erhobene Polemik ersch\u00fcttert oder gar widerlegt sind. Nach Hering ist es eine logische Consequenz des FECHNER\u2019schen Gesetzes, dass wenn man in einem Fall zu einer Belastung der Haut von 100 Grm. weitere 100 Grm. und in einem zweiten Fall zu einer Belastung von 1000 Grm. weitere 1000 Grm. hinzuf\u00fcge, in beiden F\u00e4llen der Zuwachs gleich gross- erscheinen m\u00fcsste, was thats\u00e4chlich keineswegs der Fall ist und zu der gr\u00f6bsten T\u00e4uschung \u00fcber \u00e4ussere Gewichtsverh\u00e4ltnisse f\u00fchren m\u00fcsste. Die Schlussfolgerung Hering\u2019s ist unanfechtbar. Denken wir uns einerseits der Last von 100 Grm. zun\u00e4chst soviel zugelegt, dass ein eben merklicher Empfindungszuwachs eine Vermehrung der Empfindungsgr\u00f6sse um eine elementare Einheit entst\u00fcnde, dann die Last wieder successiv soweit gesteigert, bis die zweite eben merkliche Verst\u00e4rkung der Empfindung eintr\u00e4te und so fort, so wird der Vermehrung der Belastung um 100 Grm. also um ihre urspr\u00fcngliche Gr\u00f6sse eine ganz bestimmte Anzahl solcher elementarer Empfindungs-zuw\u00fcchse, welche nach Fechner unter sich gleich gross sind, entsprechen. Verfahren wir nun andererseits genau ebenso bei einer","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"Fechner\u2019s Gesetz.\n353\nurspr\u00fcnglichen Belastung von 1000 Grm., so haben wir wiederum, wenn wir bei ihrer Verdoppelung angelangt sind, eine Anzahl elementarer Zuw\u00fcchse an die urspr\u00fcngliche Empfindung angebaut. Da nun nach dem WEBER\u2019schen Gesetz diese Anzahl genau so gross sein muss, wie im ersten Fall und nach dem FECHNER\u2019schen Gesetz diese einzelnen Zuw\u00fcchse nicht nur unter sich, sondern auch mit denen der ersten Reihe gleich gross sind, m\u00fcssen die 1000 Grm., welche wir den 1000 Grm. zulegen uns ebenso schwer erscheinen, wie die 100 Grm., welche wir den 100 Grm. zulegen; die 1000 Grm. Zulage erscheinen uns aber in Wirklichkeit weit schwerer als die 100 Grm. Zulage, folglich muss der der Beurtheilung ihrer Gr\u00f6sse zu Grunde liegende Empfindungszuwachs auch gr\u00f6sser sein, folglich k\u00f6nnen, wenn wir uns denselben in der beschriebenen Weise successiv auf-gebaut denken, die einzelnen Bausteine, d. i. die eben merklichen Empfindungszuw\u00fcchse, nicht gleich gross sein. M\u00fcller sucht dieses HERiNG\u2019sche Raisonnement folgendermaassen zu entkr\u00e4ften. Das FECHNER\u2019sche Gesetz besage nur, dass bei gleichen relativen Reiz-zuw\u00fcchsen die Empfindungszuw\u00fcchse gleich gross seien, aber nicht, dass uns die Reizzuw\u00fcchse, welche diese gleich grossen Empfindungszuw\u00fcchse bewirken, ebenfalls gleich gross erscheinen m\u00fcssten! Wir h\u00e4tten die vielf\u00e4ltige Erfahrung gemacht, dass ein Gewicht von bestimmter Schwere, wenn es zu anderen bereits vorhandenen Belastungen hinzugef\u00fcgt werde, einen um so weniger merklichen Zuwachs erzeuge, je gr\u00f6sser die letzteren bereits seien, und dass Gewichte, welche zu vorhandenen Lasten zugef\u00fcgt, gleich merkliche Empfindungszuw\u00fcchse bewirkten, um so gr\u00f6sser seien, je betr\u00e4chtlicher die vorhandene Last, und so lernten wir allm\u00e4hlich einen gleich merklichen Zuwachs der Empfindung auf einen um so gr\u00f6sseren Reizzuwachs zu beziehen, je betr\u00e4chtlicher die urspr\u00fcngliche Empfindungsintensit\u00e4t, zu welcher jener hinzukommt. Welche un\u00fcbersehbar langwierige und complicirte Erfahrungsschule m\u00fcssten wir durchmachen, ehe wir dahin k\u00e4men, nicht allein die unbedingt nat\u00fcrlichste, von selbst sich aufdr\u00e4ngende Vorstellung, dass gleichen Empfindungszu-w\u00fcchsen gleiche Reizzuw\u00fcchse entsprechen, \u00fcberhaupt L\u00fcgen zu strafen, sondern auch in der ganzen Breite der Intensit\u00e4tsscala der Empfindungen eine den objectiven Verh\u00e4ltnissen einigermaassen entsprechende Correctur jener Trugvorstellung mit einiger Sicherheit in jedem gegebenen Fall auszuf\u00fchren! Auf welchem Wege sollten wir \u00fcberhaupt zu diesem Erfahrungsschatz gelangen, da weder der Muskelsinn noch der Gesichtssinn, deren unmittelbare Aussagen ja nach Fechner in dem gleichen Widerspruch zu den objectiven Verh\u00e4lt-\nHandbuch der Physiologie. Bd. IHa.\t23","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354\nFunke, Tastsinn etc. 2. Cap. Der Drucksinn.\nnissen stehen, belehrend eintreten, die Aussage des Drucksinnes cor-rigiren k\u00f6nnten. Man sollte meinen, dass nur umfassende methodische Versuchsreihen mit bekannten Gewichten Aussicht b\u00f6ten, zu einer richtigen Beurtheilung objectiver Gewichtsverh\u00e4ltnisse trotz des FECHNER\u2019schen Gesetzes zu gelangen. Wie einfach und nat\u00fcrlich ergiebt sich dagegen eine solche, wenn wir die durch nichts erwiesene Voraussetzung, auf welche jenes Gesetz basirt ist, fallen lassen und an ihre Stelle die weit plausiblere Annahme der Proportionalit\u00e4t zwischen Empfindungs- und Reizgr\u00f6ssen setzen! Wir \u00fcbertragen dann einfach in derselben Weise wie wir die Qualit\u00e4ten der Empfindungen in die vorgestellten Empfindungsobjecte verlegen, die Intensit\u00e4ten derselben auf die objectiven Empfindungsursachen, das bewusstwerdende Verh\u00e4ltniss zweier Druckempfindungsintensit\u00e4ten auf das Ge-wichtsverh\u00e4ltniss der dr\u00fcckenden Objecte. Der Seele \u00fcberhaupt das Verm\u00f6gen abzusprechen, Unterschiede und Verh\u00e4ltnisse von Gewichtsempfindungen aufzufassen, erscheint mir schlechterdings unberechtigt. Eine solche Auffassung ist entschieden von Haus aus vorhanden, wenn auch in noch so unvollkommenem Maasse oder auch keine Rede davon ist, dass wir ohne Weiteres das aufgefasste Verh\u00e4ltniss zweier Empfindungsst\u00e4rken in Zahlen auszudr\u00fccken verm\u00f6chten. Ganz sicher sind wir ohne alle Erfahrungsh\u00fclfe im Stande, die Druckempfindungen, welche durch Belastung der Haut mit 100, 200, 500 und 1000 Grm. erzeugt werden, nicht allein in Bezug auf ihre Intensit\u00e4t in eine den Belastungen entsprechende Reihe zu ordnen, sondern auch zu erkennen, dass der Unterschied der Intensit\u00e4ten, welche zu 500 und 1000 Grm. geh\u00f6ren sehr viel gr\u00f6sser ist, als derjenigen, welche zu 200 und 500 Grm. geh\u00f6ren u. s. f. und dass ersterer Unterschied sich etwas aber wenig vergr\u00f6ssert, wenn wir 1100 statt 1000 Grm. mit 500 Grm. vergleichen, das ist aber eben eine Auffassung von Verh\u00e4ltnissen der Empfindungsst\u00e4rken.\nEbenso klar zeigt Hering, dass nur aus der Annahme der Proportionalit\u00e4t zwischen Gewichts- und Empfindungsgr\u00f6sse sich in ungezwungener Weise die Thatsache erkl\u00e4rt, dass wir den verschiedenen Gewichtsgr\u00f6ssen entsprechend den Kraftaufwand unserer Muskeln, durch welche wir dieselben \u00fcberwinden, welche wir z. B. verwenden m\u00fcssen, um ein Gewicht von 1000 Grm. ebensoweit zu werfen, wie 100 Grm., auch ohne umst\u00e4ndliche Uebung und Erfahrung ann\u00e4hernd richtig bemessen. W\u00fcchsen die Gewichtsempfindungen logarithmisch mit den Gewichten, so m\u00fcsste man zur Erkl\u00e4rung dieser Thatsache die \u00e4usserst unwahrscheinliche und unerweisliche H\u00fclfshypothese machen, dass dieses Missverh\u00e4ltniss dadurch compensirt w\u00fcrde, dass","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"Fechner\u2019s Gesetz.\n355\nzwischen der Gr\u00f6sse des Willensimpulses und der dadurch ausgel\u00f6sten Kraftentwicklung der Muskeln das umgekehrte logarithmische Verh\u00e4ltniss best\u00e4nde, d. h. dass letztere gleich den Zahlen wachse, wenn erstere nur gleich den Logarithmen zunehme. Sehr sp\u00e4t und schwer w\u00fcrden wir, wenn wir von dieser Hypothese Abstand nehmen, die richtige Kraftbemessung erlernen, sobald wir zuvor erst auf dem oben angedeuteten Erfahrungsweg die urspr\u00fcnglichen Trugangaben des Drucksinnes \u00fcber objective Gewichtsverh\u00e4ltnisse zu corri-giren lernen m\u00fcssten.\nDenjenigen, welche dem FECHNER\u2019schen Gesetz G\u00fcltigkeit zuerkennen, stellt sich die weitere schwierige Aufgabe, die darin ausgesprochene, an Analogien mindestens sehr arme logarithmische Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, Reiz und Empfindung zu erkl\u00e4ren, nachzuweisen, in welchem Glied der zwischen Reiz und Empfindung befindlichen Kette von Vorg\u00e4ngen dieselbe an die Stelle der proportionalen Beziehung tritt. Da wir diese Anerkennung nicht theilen, d\u00fcrfen wir uns auf eine gedr\u00e4ngte Skizze des heutigen Standpunktes dieser Frage beschr\u00e4nken.\nDie zwischen Reiz und Empfindung liegende vermittelnde Pro-cesskette gliedert sich in folgende Einzelvorg\u00e4nge; erstens in den durch den \u00e4usseren Reiz hervorgerufenen inneren Sinnesreiz, welcher von ersterem wesentlich verschieden sein kann, im Auge z. B. vermuthlich ein chemischer Vorgang, welcher die Licht\u00e4therbewegung erzeugt, ist, zweitens den durch diesen inneren Reiz geweckten \u00fcberall identischen Nervenerregungsvorgang, drittens den durch diesen wiederum ausgel\u00f6sten, seinem Wesen nach noch v\u00f6llig unbekannten, in jeder Sinnessph\u00e4re specifiseh verschiedenen physischen Process in den Endapparaten, den Ganglienzellen, in welchen die Sinnesnervenfasern endigen, welcher letztere Vorgang die unmittelbare Unterlage des psychischen Processes der Empfindung ist, und daher von Fechner mit dem Namen \u201epsychophysischer Process\u201c bezeichnet worden ist. Die Erkl\u00e4rungsversuche des Fechner-schen Gesetzes zerfallen, dieser Gliederung entsprechend, in zwei Gruppen, in physiologische, welche irgend einem der aufgez\u00e4hlten physischen Glieder eine logarithmische Abh\u00e4ngigkeit von seinem Vorg\u00e4nger zuerkennen und in psychophysische, welche zwischen diesen Gliedern Proportionalit\u00e4t voraussetzen und das logarithmische Verh\u00e4ltniss erst zwischen dem psychophysischen Endglied und dem psychischen Empfindungsvorgang statuiren. Der Begr\u00fcnder der letzteren Hypothese ist Fechner selbst, sein Gesetz im Sinne dieser Hypothese ausgesprochen, lautet daher dahin, dass die Empfindungs-\n23*","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356\nFunke, Tastsinn etc. 2. Cap. Der Drucksinn.\nst\u00e4rke in arithmetischer Progression w\u00e4chst, wenn die psychophysische Th\u00e4tigkeit in geometrischer Progression zunimmt, oder dass die Empfindlingsintensit\u00e4t logarithmisch mit der Intensit\u00e4t des psychophysischen Vorganges w\u00e4chst. Zu dieser Auffassung ist Fechner zun\u00e4chst auf dem Wege der Ausschliessung gelangt. Weil es ihm \u201eim Sinne der physikalischen und physiologischen Gesetze undenkbar ist\u201c, dass zwischen physischen Vorg\u00e4ngen, wie sie der Reiz und die physiologischen Glieder der Kette bis zum psychophysischen Process repr\u00e4sentiren, eine andere Beziehung als die der Proportionalit\u00e4t bestehe, sieht er sich gen\u00f6thigt, die von seinem Gesetz geforderte logarithmische Beziehung zwischen Leib und Seele, zwischen dem Endglied der physiologischen Kette und dem psychischen Process der Empfindung zu suchen, zwischen welchen ihm bei ihrer angeblich wesentlichen Verschiedenheit eine solche Beziehung sehr wohl denkbar erscheint. Mit Recht ist Fechner entgegengehalten worden, dass a priori eine Abweichung der Beziehung zwischen psychischem und psychophysischem Vorgang von der Proportionalit\u00e4t mindestens ebenso unwahrscheinlich ist, wie f\u00fcr die Beziehung der einzelnen physiologischen Glieder zu einander, da zwischen beiden ein ebenso unmittelbares Causalit\u00e4tsverh\u00e4ltniss besteht, wie zwischen jenen, abgesehen von d\u00ebr materialistischen Anschauung, welche psychophysischen und psychischen Process f\u00fcr identisch erkl\u00e4rt, abgesehen von Fechner\u2019s eigener Auffassung, nach welcher beide nur verschiedene Erscheinungsweisen desselben Wesens sind. Von den positiven Gr\u00fcnden, durch welche Fechner seine psychophysische Erkl\u00e4rung zu st\u00fctzen sucht, ist kein einziger beweiskr\u00e4ftig, so z. B. nicht die Thatsache der Reizschwelle, welche Fechner als eine noth wendige Forderung seiner Erkl\u00e4rung hinstellt, f\u00fcr welche er dagegen mit Unrecht, wie wir oben ge\u2019sehen haben, die M\u00f6glichkeit einer physiologischen Erkl\u00e4rung leugnet. Auf der anderen Seite ist es aber auch nicht gelungen, eine haltbare physiologische Erkl\u00e4rung des FECHNER\u2019schen Gesetzes an die Stelle der physiopsychischen zu setzen, das Bestehen der Proportionalit\u00e4t zwischen Reiz und Nervenerregung oder dieser und dem psychophysischen Process in den Ganglienzellen zu widerlegen, oder gar die logarithmische Abh\u00e4ngigkeit je zweier solcher Glieder von einander zu erweisen, oder nur wahrscheinlich zu machen. Solange wir kein brauchbares directes Maass f\u00fcr die St\u00e4rke der Nervenerregung und f\u00fcr den noch g\u00e4nzlich unnahbaren Vorgang in den Empfindungszellen haben, wird eine strenge Beweisf\u00fchrung f\u00fcr die eine oder die andere Art der Beziehung derselben zu einander \u00fcberhaupt unm\u00f6g-","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"Fechner\u2019s Gesetz.\n357\nlieh sein. Einen originellen und geistreichen Versuch, das Weber-sche Gesetz physiologisch zu erkl\u00e4ren, hat Bernstein gemacht. Allein die Pr\u00e4missen, auf welchen derselbe aufgebaut ist, sind so wenig thats\u00e4chlich begr\u00fcndet und in mehrfacher Beziehung so bedenklich, dass wir ihn als berechtigte Hypothese nicht anerkennen k\u00f6nnen, und darum von einer ausf\u00fchrlichen kritischen Er\u00f6rterung desselben hier absehen d\u00fcrfen.\nBernstein stellt sich den Centralapparat, welchem die einm\u00fcndenden sensiblen Nervenfasern die von ihnen geleitete Erregung zur Weiterleitung und Ausl\u00f6sung psychophysischer Th\u00e4tigkeit \u00fcbergeben, in Form eines in einer Fl\u00e4che angeordneten regelm\u00e4ssigen Systems untereinander ana-stomosirender Ganglienzellen vor. Jede solche Ganglienzelle setzt der Aufnahme und dem Durchgang der Erregung einen gewissen Widerstand entgegen, welcher \u00dcberboten werden muss, damit die Erregung \u00fcberhaupt in die Zelle -eintreten kann, woraus sich die Thatsache der Schwelle er-giebt, und welcher f\u00fcr jede den Schwellenwerth \u00fcbersteigende Erregung bei ihrem Durchgang einen gewissen Intensit\u00e4tsverlust bedingt. Dieser Verlust ist nach Bernstein in jedem Moment der Intensit\u00e4t der Erregung proportional. Derselbe soll die Quelle der Empfindung sein, d. h. der verschwindende Th eil der lebendigen Kraft der Erregung soll verwendet werden, in der Ganglienzelle aufgespeicherte Spannkr\u00e4fte in die entsprechende Summe der lebendigen Kr\u00e4fte, welche der psychophysischen Th\u00e4tigkeit zu Grunde liegen, umzusetzen. Tritt nun eine Erregung, welche z. B. ein Hautreiz in einer Tastnervenfaser erzeugt, und welche von ihr ohne Schw\u00e4chung in der urspr\u00fcnglichen, dem Reiz proportionalen Intensit\u00e4t bis zum Centrum geleitet wird, an das hypothetische Ganglienzellensystem heran, so wird dieselbe, wenn ihre Intensit\u00e4t den Schwellenwerth um eine bestimmte Gr\u00f6sse \u00fcberschreitet, nicht allein in die direct mit der Tastfaser verbundene Zelle eintreten, sondern auch, wenn der Verlust in derselben sie nicht unter den Schwellenwerth herabsetzt, in den die erste Zelle zun\u00e4chst umgebenden Zellenring durch die Anastomosen \u00fcbertreten, in demselben ebenfalls psychophysische Th\u00e4tigkeit ausl\u00f6send, und wenn sie dadurch noch nicht unter den Schwellenwerth gebracht ist, in einen zweiten concentrischen Zellenkreis u. s. f. Die zuerst von der Erregung betretene Ganglienzelle stellt demnach nach Bernstein das -Centrum eines Irradiationskreises dar, dessen Radius mithin die Zahl der von der Erregung unter Umsetzung in psychophysische Th\u00e4tigkeit durchlaufenen Ganglienzellen, von der urspr\u00fcnglichen Intensit\u00e4t der Erregung abh\u00e4ngt. Von der Gr\u00f6sse des Irradiationskreises, mit anderen Worten von der L\u00e4nge des im Centrum unter stetigem Verlust von der Erregung zur\u00fcckgelegten Weges, mithin von der Zahl der von ihr unter Ausl\u00f6sung psychophysischer Th\u00e4tigkeit passirten Ganglienzellen soll die Intensit\u00e4t der Empfindung abh\u00e4ngen. Unter den oben angedeuteten Voraussetzungen ergiebt sich daraus das von Fechner\u2019s Gesetz geforderte Verh\u00e4ltniss der Empfindungsst\u00e4rke zur Reizst\u00e4rke.\nDie Bedenken, welche dieser Theorie entgegenstehen, liegen zu Tage. Durchaus willk\u00fcrliche Annahmen sind: Die der Existenz eines so regel-","page":357},{"file":"p0358.txt","language":"de","ocr_de":"358\nFunke, Tastsinn etc. 2. Cap. Der Drucksinn.\nmassigen fl\u00e4chenhaft ausgebreiteten Zellennetzes, als centralen Erregungsreizes, die Annahme der Ausbreitung der Erregung in demselben nach Art eines Wellenringes, die Annahme eines (in den peripherischen Leitungswegen fehlenden) specifischen Widerstands auf diesem Wege, welcher zugleich die Ursache der Begrenzung der Ausbreitung der Erregung, und der Entstehung von Empfindung aus ihr nach Analogie der W\u00e4rmebildung durch Reibung ist, mithin auch die aus dem vorhergehenden abgeleitete Annahme, dass jede Empfindung sich aus einer Summe von Einheiten, welche von den in jeder einzelnen Ganglienzelle des Inundationsgebietes freigemachten Quoten psychophysischer Th\u00e4tigkeit gebildet werden, zusammensetzt. Es l\u00e4sst sich ferner zeigen, dass Bernstein\u2019s Theorie nicht mit allen physiologischen Thatsachen in Einklang zu bringen ist. So scheint mir dieselbe in einem, von ihrem Urheber nicht gel\u00f6sten Conflict mit den Thatsachen des Raumsinnes der Haut (s. unten) zu stehen. Man muss sich doch vorstellen, dass in das continuirliche Ganglienzellennetz sich in gewissen Abst\u00e4nden die von den verschiedenen Hautpunkten kommenden Leitungsfasern inseriren. W\u00e4chst nun mit der Intensit\u00e4t der Erregung einer bestimmten Faser das centrale Irradiationsgebiet derselben weiter und weiter, so wird doch ein Punkt kommen m\u00fcssen, wo dieselbe auch solche Zellen betritt, welche regelm\u00e4ssig dem Irradiationsgebiet der benachbarten Faser angeh\u00f6ren, ja selbst die Einm\u00fcndungszelle der letzteren. Die Folge dieses Einbruchs in fremdes Gebiet m\u00fcsste daher notli-wendig auch die Entstehung derselben Ortsvorstellung, welche die Erregung der benachbarten Faser regelm\u00e4ssig bedingt, sein; d. h. mit der wachsenden Intensit\u00e4t der Erregung einer Faser m\u00fcsste eine weiter und weiter gehende scheinbare r\u00e4umliche Irradiation der Empfindung neben der Zunahme ihrer St\u00e4rke einhergehen. Eine solche r\u00e4umliche Irradiation, welche alle objectiven Belehrungen des Drucksinnes tr\u00fcgerisch machen m\u00fcsste, findet aber bei D ruckempfindungen niemals statt, sondern nur bei Gemeingef\u00fchlen, f\u00fcr welche wir oben besondere Leitungs- und Empfindungswerkzeuge wahrscheinlich zu machen gesucht haben. Es findet eine solche mit Bernstein\u2019s Auffassung vereinbare Ausbreitung unter Umst\u00e4nden bei Steigerung der Intensit\u00e4t schmerzerregender Einwirkungen statt, aber auch hier nicht in so regelm\u00e4ssiger Weise und in so strenger Proportionalit\u00e4t zur St\u00e4rke des Reizes, wie man erwarten sollte. Es irradiiren aber auch besonders leicht das Kitzel- und Schaudergef\u00fchl, welche \u00fcberhaupt nur durch die schw\u00e4chsten Hautreize hervorgerufen werden, und bei denen von einem der Reizst\u00e4rke proportionalen Wachsthum des Ausbreitungsgebietes keine Rede ist. Ausserdem erscheint es \u00fcberhaupt nicht plausibel, dass von demselben Moment, dem Umfang des centralen Ausbreitungsgebietes der Erregung gleichzeitig die Intensit\u00e4t der Empfindung und die scheinbare r\u00e4umliche Ausdehnung des peripherischen Reizgebietes abh\u00e4ngen soll.\nIn K\u00fcrze wollen wir noch eines geistreichen Versuchs gedenken, welchen Lotze 1 neuerdings gemacht hat, die vermeintliche Thatsache des sprungweisen Wachsthums der Empfindungen trotz stetiger Zunahme der Reizst\u00e4rke physiologisch zu erkl\u00e4ren. Lotze verwerthet hierzu die-\n1 H. Lotze, Syst. d. Philos. II. Th. Metaphysik. S. 513. Leipzig 1879.","page":358},{"file":"p0359.txt","language":"de","ocr_de":"3. Cap. Der Muskelsinn. Muskel- u. Drucksinn.\n359\nselbe der Mechanik entlehnte Hypothese, welche meines Wissens zuerst Rosenthal in die Physiologie eingef\u00fchrt hat, zur Erkl\u00e4rung der Perio-dicit\u00e4t der Erregungsentladungen in gewisse Gruppen motorischer Nerven trotz stetiger Reizwirkung auf ihr Innervationscentrum, speciell zur Erkl\u00e4rung der rhythmisch unterbrochenen Innervation der inspiratorischen Nerven trotz stetiger Reizung des Athemcentrums. Rosenthal statuirt bekanntlich einen Widerstand, welcher der Entladung der stetig in den betreffenden Centralapparaten freigemachten Kr\u00e4fte durch eine in die motorischen Nerven abfliessenden Erregung entgegensteht und somit bedingt, dass die freigemachten Kr\u00e4fte sich immer erst zu einem gewissen Grade anstauen m\u00fcssen, ehe sie den Durchbruch erzwingen, w\u00e4hrend dieser Durchbruch jedesmal eine solche Ersch\u00f6pfung des Kraftspeichers bewirkt, dass der Widerstand wieder die Oberhand gewinnt, um erst durch eine neue Ansammlung auf\u2019s Neue \u00fcberwunden zu werden. In \u00e4hnlichem Sinne meint Lotze, \u201edass man einen Bau des Nerven so voraussetzen k\u00f6nne, dass von jedem erreichten Grade der Erregung an eine bestimmte Sammlung und Steigerung derselben n\u00f6thig ist, um eine Bewegung zu erzeugen, die von ihm als Reiz f\u00fcr die Entstehung einer neuen Empfindung abgegeben werden kann; diesen Anregungen w\u00fcrde dann die Empfindung proportional an Intensit\u00e4t zunehmen. \u201c Abgesehen davon, dass, wie Lotze selbst zugiebt, schwer auszudenken ist, wie eine solche Hemmungseinrichtung im Nerven realisirt sein soll, abgesehen davon, dass jeder Beweis f\u00fcr eine sprungweise Verst\u00e4rkung der einfachen Empfindung fehlt, die Thatsache der Unterschiedsschwelle sich unseres Erachtens weit ungezwungener aus der Unvollkommenheit des Auffassungsverm\u00f6gens f\u00fcr verschiedene Empfindungsintensit\u00e4ten erkl\u00e4rt (siehe oben), unterliegt Lotze\u2019s Hypothese an sich schwerem Bedenken. W\u00e4re sie begr\u00fcndet, so m\u00fcsste man nothwendig voraussetzen: erstens, dass bei einem ganz stetigen Anschwellen des Reizes die stossweise Verst\u00e4rkung der Empfindung sich im Bewusstsein geltend machte, zweitens, dass bei einer gewissen Langsamkeit des Anschwellens des Reizes sogar Unterbrechungen der Continuit\u00e4t der Empfindung eintr\u00e4ten, Pausen, welche den \u00fcber eine gewisse Grenze ausgedehnten Anstauungsperioden der Erregung entspr\u00e4chen. Beides tritt aber unter keinen Umst\u00e4nden ein.\nDRITTES CAPITEL.\nDer Muskelsinn.\nI. Muskelsinn und Drucksinn.\nWie bereits aus den vorstehenden Er\u00f6rterungen sich ergiebt, besitzt der Organismus f\u00fcr die Wahrnehmung und Messung derselben \u00e4usseren Einwirkungen, welche der Beurtheilung durch den Drucksinn unterliegen, noch einen zweiten Sinn in dem sogenannten \u201eMus-","page":359},{"file":"p0360.txt","language":"de","ocr_de":"360\nFunke, Tastsinn etc. 3. Cap. Der Muskelsinn.\nkelsinn\u201c, welcher in R\u00fccksicht auf die hier in Betracht kommenden Leistungen auch als \u201eKr a ft sinn\u201c (Weber) bezeichnet wird. Wir erhalten eine Vorstellung von der Schwere eines Gewichts ausser aus der Intensit\u00e4t der Druckempfindung, welche dasselbe durch Compression der Haut erzeugt, auch aus der Intensit\u00e4t einer specifischen Empfindung, welche die Anstrengung der beim Heben des Gewichts oder der Verhinderung seines Falles th\u00e4tigen Muskeln begleitet, und welche je nach der unten zu discutirenden Auffassung ihrer Entstehung Muskelgef\u00fchl, Anstrengungsgef\u00fchl, Bewegungsempfindung oder Innervationsgef\u00fchl benannt wird. Auch diese Empfindung ist selbstverst\u00e4ndlich wie die Druckempfindung urspr\u00fcnglich ein rein subjectiver psychischer Vorgang, dessen Objecti-virung, dessen Uebertragung auf gewisse zu ihm in Bezug stehende \u00e4ussere Verh\u00e4ltnisse, den Grad eines \u00e4usseren Widerstands, welchen die Muskeln bei ihrer Contraction \u00fcberwinden, die Schwere eines Gewichts, die lebendige Kraft einer bewegten Masse, welche wir durch Muskelaction zum Stillstand bringen, auf empirischem Wege gewonnen ist. Eine anderweitige objective Verwerthung der Muskelgef\u00fchle, ihre Beziehungen zu den r\u00e4umlichen Wahrnehmungen wird unten beim Raumsinn der Haut zur Sprache kommen. Durch diese Objectivirung werden die fraglichen Empfindungen zu \u00e4chten Sinnesempfindungen. Als solche stehen sie einer zweiten, ebenfalls durch die th\u00e4tigen Muskeln vermittelten Empfindung, dem subjectiv bleibenden in den Muskeln localisirten Gemeingef\u00fchl der Erm\u00fcdung oder des Muskelschmerzes, welches bei \u00fcbergrosser oder sein-anhaltender Anstrengung der Muskeln eintritt, gerade so gegen\u00fcber, wie eine Druckempfindung einem von der Haut aus erregten Schmerzgef\u00fchl.\nIm t\u00e4glichen Leben werden Drucksinn und Muskelsinn meistens gleichzeitig bei der L\u00f6sung ihrer gemeinschaftlichen Aufgaben beider verwendet, jedoch mit wechselnder Bevorzugung der Aussagen des einen oder des anderen. Wollen wir die Schwere eines Gewichts taxiren, so heben wir das mit der Hand erfasste Gewicht, und wiederholen diesen Process ein oder mehrere Mal zur Sicherung des Ur-theils, welchem ebensowohl die Gr\u00f6sse der Druckempfindung von den belasteten Hautpartien der Hand als die Intensit\u00e4t des Anstrengungsgef\u00fchls der hebenden Muskeln zu Grunde gelegt werden kann. Bei schwereren Lasten wenden wir unsere Aufmerksamkeit mehr weniger ausschliesslich den Aussagen des Muskelsinnes, welcher in diesem Fall mehr leistet, zu, bei kleineren Gewichten, welche gegen das Gewicht der mitzuhebenden K\u00f6rpertheile Hand, Arm zur\u00fcck-","page":360},{"file":"p0361.txt","language":"de","ocr_de":"Feinheit des Muskelsinnes.\n361\ntreten, verwerthen wir haupts\u00e4chlich die Druckempfindungen. Wie wir oben nachwiesen, sind bei einer grossen Anzahl der Gewichtsversuche, welche zur Pr\u00fcfung der Richtigkeit des WEBER\u2019schen (oder FECHNE\u00fc\u2019schen) Gesetzes angestellt worden sind, die Aussagen beider Sinne nicht in gen\u00fcgender Weise gesondert worden. W\u00e4hrend aber eine isolirte Pr\u00fcfung des Drucksinnes nach dem von Weber angegebenen Princip mit Sicherheit ausf\u00fchrbar ist, sind die zur v\u00f6lligen Ausschaltung des Drucksinnes bei der Pr\u00fcfung der Leistungen des Muskelsinnes verwendeten Methoden weniger unbedenklich. Weber legte die zu pr\u00fcfenden Gewichte in ein zusammengeschlagenes Tuch, dessen vereinigte Zipfel beim Heben mit der Hand umfasst wurden. Da hierbei die Handfl\u00e4che um so st\u00e4rker an das Tuch angepresst werden muss, je schwerer die Last, um das Herausgleiten zu verhindern, entsteht offenbar eine mit der Gr\u00f6sse des Gewichts wachsende Druckempfindung neben dem Muskelgef\u00fchl, wenn dieselbe auch bei der Bildung des Urtheils vernachl\u00e4ssigt wird, wie aus dem von Weber betonten Umstand hervorgeht, dass die Vorstellung von der Schwere des Gewichts nicht durch willk\u00fcrliche Verst\u00e4rkung des Druckes der Hand gegen das Tuch alterirt wird und aus einigen interessanten Beobachtungen Leyden\u2019s l, in denen er bei pathologischer Depression der Hautempfindlichkeit f\u00fcr Druck, die Unterschiedempfindlichkeit f\u00fcr gehobene Gewichte nicht herabgesetzt fand.\nII. Feinheit des Muskelsinnes.\nUm die Feinheit der Leistungen des Muskelsinnes festzustellen, verwendete Weber dasselbe Princip, nach welchem er die Feinheit des Drucksinnes mass, d. h. er bestimmte nach der Methode der eben merklichen Unterschiede, wie klein die Differenz zweier nacheinander auf die beschriebene Weise gehobener Gewichte gemacht werden konnte, ohne unmerklich zu werden. Er fand, dass im g\u00fcnstigsten Fall noch Gewichte f\u00fcr verschieden schwer erkannt wurden, welche sich wie 39:40 verhielten, und schliesst daraus, dass die Feinheit des Muskelsinnes weiter gehe, als die des Drucksinnes, bei welchem in seinen Versuchen die Grenze bei einem Verh\u00e4ltniss von 29 : 30 erreicht war. Durch gleichzeitige Verwendung beider Sinne konnte er keine weitergehende Feinheit der Unterscheidung erzielen.\nAus dem Umstand, dass Weber die Leistungsgrenze durch ein Zahlen verh\u00e4ltniss ohne Zusatz der absoluten Gewichtsgr\u00f6ssen ausdr\u00fcckt, folgt,\n1 Leyden, Arch. f. pathol. Anat. XLVII. S. 321.","page":361},{"file":"p0362.txt","language":"de","ocr_de":"362\nFunke, Tastsinn etc. 3. Cap. Der Muskelsinn.\ndass er auch f\u00fcr den Muskelsinn die G\u00fcltigkeit seines Gesetzes, nach welchem dem kleinsten merklichen Unterschied bei allen absoluten Gr\u00f6ssen der Reizst\u00e4rke derselbe relative Reizzuwachs entspricht, statuirt. Leider fehlt in Weber\u2019s eigenen Beobachtungen f\u00fcr diese Uebertragung des aus dem Verhalten des Drucksinnes abgeleiteten Gesetzes auf den Muskelsinn die Begr\u00fcndung, da er bei den hierher geh\u00f6rigen Versuchen die absolute Reizst\u00e4rke gar nicht variirte, sondern nur f\u00fcr das Gewicht von 7S Unzen den kleinsten eben merklichen Zuwachs bestimmte. Der Einzige der sp\u00e4teren Experimentatoren, welcher eine isolirte Pr\u00fcfung der Feinheit des Muskelsinns nach Weber\u2019s Methode und der G\u00fcltigkeit des Weber\u2019-sclien Gesetzes f\u00fcr denselben unternommen, Hering mit seinen Sch\u00fclern Biedermann und L\u00f6wit, ist dabei zu Resultaten gelangt, welche zu dem fraglichen Gesetz in schroffem Widerspruch stehen. Der kleinste eben unterscheidbare Gewichtszuwachs, welcher bei einem Hauptgewicht von 250 Grm. 1/21 (12 Grm.) betrug, sank bei der successiven Steigerung des Hauptgewichts bis zu 2500 Grm. allm\u00e4lig auf (in herunter, um dann bei der weiteren Erh\u00f6hung des letzteren auf 27 50 Grm. wieder auf 1/93 zu steigen. Es wuchs demnach die Unterschiedsempfindlichkeit mit der Vergr\u00f6sserung der absoluten Reizst\u00e4rke anfangs sehr betr\u00e4chtlich, und nahm sp\u00e4ter wieder ab.\nDie Meisten, welche \u00fcberhaupt mit Weber vom Muskel selbst aus hervorgerufene Empfindungen als die Grundlage des Muskelsinnes betrachten, haben sich auch seiner weiteren Annahme angeschlossen, dass diese Empfindungen nicht blos bei der activen Contraction der Muskeln, durch welche sie einen \u00e4usseren Widerstand, wie die Schwere eines Gewichtes \u00fcberwinden, sondern auch bei ihrer passiven Dehnung, z. B. durch den Zug eines Gewichtes, zu Stande kommen. Als Beweis daf\u00fcr f\u00fchrt Weber an, dass, wenn er den Arm schlaff \u00fcber eine Stuhllehne herabh\u00e4ngen liess, so dass er in der Achselh\u00f6hle unterst\u00fctzt war, und nun an demselben mittelst eines um die Handwurzel gekn\u00fcpften Tuches verschiedene Gewichte ziehen liess, er den Gewichtsunterschied wahrnehmen konnte. Weber selbst giebt zu, dass hierbei die Einmischung der von der Haut der Achselh\u00f6hle und der Handwurzel aus erzeugten, mit der Belastung wachsenden Druckempfindungen nicht ausgeschlossen war, glaubt aber doch, den Hauptantheil an der Unterscheidung den durch die Dehnung der Armmuskeln erweckten Empfindungen zuerkennen zu m\u00fcssen. Ich kann dieser Behauptung nicht beistimmen. Erstens ist der Umfang der (durch das Nachgeben in den Gelenken) m\u00f6glichen Dehnung der Muskeln ein sehr geringer, und schon bei geringen Belastungen seine Grenze erreicht. Zweitens habe ich mich durch einige directe Versuche \u00fcberzeugt, dass bei diesem Verfahren die Unterschiedsempfindlichkeit viel weniger fein ist, als bei Hebung der Gewichte, dass ein Unterschied, welcher bei schlaff h\u00e4ngendem Arm nicht erkannt wird, sofort bei der geringsten Energieentwicklung der Muskeln zur Hebung merklich wird. Es liegt meines Erachtens kein haltbarer Grund vor, unter den angegebenen Verh\u00e4ltnissen neben den bezeichneten Hautgef\u00fchlen noch eine weitere Quelle f\u00fcr die Beurtheilung der Gewichtsgr\u00f6ssen anzunehmen. Ob ein Muskel bei ungehemmter Dehnung durch Gewichte, welche an einem freien Ende desselben ziehen, zur Unterscheidung der letzteren","page":362},{"file":"p0363.txt","language":"de","ocr_de":"Theorien des Muskelsinnes.\n363\nbrauchbare, den Contraetionsgef\u00fchlen gleichartige Empfindungen auszul\u00f6sen vermag, ist begreiflicherweise nicht entschieden.\nObwohl die Physiologie des Muskelsinnes strenggenommen nicht in das Gebiet unserer Aufgabe geh\u00f6rt, und eine ersch\u00f6pfende Er\u00f6rterung derselben ohne gleichm\u00e4ssige Ber\u00fccksichtigung aller seiner man-nichfachen Leistungen, ganz besonders auch derjenigen, durch welche er an den Gesichtswahrnehmungen wesentlichen Theil nimmt, nicht m\u00f6glich ist, k\u00f6nnen wir uns doch einer kritischen Behandlung der viel discutirten Frage nach der Natur und Entstehung der Empfindungen, welche ihm zu Grunde liegen, nicht entziehen, schon darum nicht, weil ihm ein gesondertes Capitel in diesem Handbuch nicht angewiesen ist, und weil Einige versucht haben, die hier in Betracht kommenden Leistungen desselben auf eine versteckte Th\u00e4tigkeit des Tastsinns, zur\u00fcckzuf\u00fchren.\nIII. Theorien des Muskelsinnes.\nDrei wesentlich verschiedene Grundannahmen sind es, auf welche die einander gegen\u00fcberstehenden Erkl\u00e4rungsversuche der Aeusse-rungen des sogenannten Muskelsinnes basirt sind. Nach der einen zuerst von Che. Bell 1 bestimmt ausgesprochenen, von E. H. Weber weiter ausgef\u00fchrten Theorie beruhen dieselben auf der Th\u00e4tigkeit eines specifischen Sinnesnervenapparats. Eigenth\u00fcmliche im Innern der Muskeln endigende sensible Fasern sind es, welche an ihren specifischen Enden irgendwie bei der Contraction der Muskeln in einer der Energie und dem Umfang der Zusammenziehung proportionalen St\u00e4rke erregt, diese Erregung specifischen centralen Empfindungsapparaten zuleiten, in denen dieselbe eine specifische, ebensowenig wie eine andere Empfindungsmodalit\u00e4t definirbare Art von Empfindungen ausl\u00f6st, welche dann wie andere Sinnesempfindungen der weiteren psychischen Verarbeitung, der Verkn\u00fcpfung mit den verschiedenartigsten Vorstellungen, z. B. also der Vorstellung der vom Muskel entwickelten Kraft und der durch dieselbe \u00fcberwundenen \u00e4usseren Widerst\u00e4nde unterliegen. Nach einer zweiten Theorie sind \u201ecentrale Innervationsgef\u00fchle\u201c, d. h. die in ihrer Qualit\u00e4t und Intensit\u00e4t direct zum Bewusstsein gelangenden Willensimpulse, welche von den centralen Ursprungsapparaten der motorischen Nerven aus durch deren Erregung die Muskelth\u00e4tigkeit vermitteln, die Grundlagen des Muskelsinnes. Nach einer dritten Ansicht endlich beruhen die demsel-\n1 Chr. Bell, Phys. u. patbol. Unters, d. Nervensyst., \u00fcbers, von Romberg S. 185. 1832.","page":363},{"file":"p0364.txt","language":"de","ocr_de":"364\nFunke, Tastsinn etc. 3. Cap. Der Muskelsinn.\nben zugeschriebenen Wahrnehmungen \u00fcberhaupt nicht auf specifischen Empfindungen, sondern auf Interpretationen von Hautgef\u00fchlen, welche bei der Stellungs- und Formver\u00e4nderung der Glieder durch Muskel-contraction in gedehnten oder gedr\u00fcckten Hautpartien entstehen, oder auch durch Druck der Weichtheile auf Hautnervenfasern im Verlauf hervorgerufen werden sollen. Einige haben die letzten beiden Theorien combinirt, eine gleichzeitige Benutzung der Innervations- und Hautgef\u00fchle zur Bildung der in das Gebiet des Muskelsinnes verwiesenen Vorstellungen angenommen. Als entschiedene Gegner der BELL-WEBER\u2019schen Theorie sind besonders Schiff, Wundt, Bain und Hering 1 hervorgetreten, w\u00e4hrend sie selbst untereinander in der Erkl\u00e4rung des Muskelsinnes nicht vollst\u00e4ndig harmoniren. Wundt ist der Hauptvertreter der Innervationsgef\u00fchle, w\u00e4hrend Schiff den Hautgef\u00fchlen den Hauptantheil an den Leistungen des Muskelsinnes zuzuschreiben gesucht hat. Es liegt auf der Hand, dass die Ueber-tragung des physiologischen Begriffes eines Sinnes auf den Muskelsinn und seine Parallelstellung als besonderer sechster Sinn zu den \u00fcbrigen Sinnen strenggenommen nur dann gerechtfertigt ist, wenn sich die erste Erkl\u00e4rung als die richtige erweist, d. h. wenn specifische durch die peripherische Erregung centripetalleitender eigenth\u00fcmlicher Nervenfasern ausgel\u00f6ste Empfindungen seine Grundlage bilden. Selbst dann bleibt den \u00fcbrigen Sinnen gegen\u00fcber noch der Unterschied bestehen, dass nicht ein \u00e4usserer durch die peripherischen Endapparate der Sinnesnerven in einen Reiz umgewandelter Vorgang die Empfindungen verursacht, sondern allerdings eine Ver\u00e4nderung in den peripherischen Endorganen der betreffenden Nerven, welche aber ihrerseits den reizenden Anstoss nicht von aussen, sondern durch eine vom Centrum auf Veranlassung des Willens zugeleitete Erregung erh\u00e4lt.\nZur Begr\u00fcndung der ersten Theorie des Muskelsinnes ist selbstverst\u00e4ndlich der anatomisch-physiologische Nachweis der von ihr vorausgesetzten sensiblen Nerven der Muskeln erforderlich. Dieser Beweis ist von beiden Standpunkten aus schwer mit Sicherheit zu f\u00fchren. Es ist ebenso oft die Existenz der fraglichen Nerven ohne gen\u00fcgenden Grund geleugnet als behauptet worden. Fr\u00fcher ist gegen ihre Existenz h\u00e4ufig die Thatsache angef\u00fchrt worden, dass die Muskeln gegen mechanische, thermische, elektrische und chemische Reizung\nl Vgl. Schiff, Lehrbuch cl. Phys. I. S. 156. Lahr 1858\u201459; Wundt, Vorles. \u00fcb. d. Menschen u. Thierseele I. S. 222, Grundz. d. phys. Psychol. S. 316 u. 48$; Bain, The senses and the intellect. 2. ed. p. 87. Lond. 1864 ; Heking, Beitr. z. Phys. Hft. 1\u20145. S. 30. 316. Leipzig 1861\u201464.","page":364},{"file":"p0365.txt","language":"de","ocr_de":"Theorien des Muskelsinnes.\n365\nsich auffallend unempfindlich zeigen, weder durch Zeichen bewusster Schmerzempfindung noch durch einfache Reflexerscheinungen mit Sicherheit reagiren. Erstens sind aber solche Reactionen positiv beobachtet und eine einzige unzweideutige positive Beobachtung beweist mehr, als zahllose negative zusammen. Zweitens existirt eine Reihe bekannter physiologischer und pathologischer Erscheinungen, welche schlechterdings die Annahme sensibler Muskelnerven fordert. Das sind die Ermtidungsschmerzen und die oft sehr intensiven Schmerzen, welche unwillk\u00fcrliche unter krankhaften Verh\u00e4ltnissen auftretende Kr\u00e4mpfe der Muskeln z. B. die Wadenkr\u00e4mpfe bei Cholera, oder gewisse pathologische Ver\u00e4nderungen des Muskelgewebes begleiten. Jeder Versuch diese Schmerzen aus einer Reizung centraler Empfindungsapparate, welche mit den Muskeln nicht durch Nervenleiter verbunden sind zu erkl\u00e4ren, oder sie als Hautgef\u00fchle zu deuten, welche durch Druck der contrakirten Muskeln auf vor\u00fcberziehende Hautnerven hervorgerufen werden, ist durchaus unhaltbar. Der gewichtigste Gegengrund liegt in der unzweifelhaften Localisation dieser Empfindungen in den Muskeln. Es ist eine beim Raumsinn zu er\u00f6rternde Thatsache, dass sobald \u00fcberhaupt Empfindungen bei ihrer r\u00e4umlichen Auslegung auf Theile des K\u00f6rpers bezogen werden, der Ort, in welchen sie verlegt werden, der peripherische Endbezirk der gereizten Nerven ist. Und wenn auch diese Localisation bei Reizung im Innern des K\u00f6rpers endigender sensibler Fasern keine sehr genaue ist, so ist sie doch f\u00fcr die Hautnerven insofern eine untr\u00fcgliche, als jede Empfindung, die durch Reizung derselben, sei es an den Enden oder im Verlauf, erzeugt wird, unfehlbar in die Haut und mehr weniger pr\u00e4cis in den Endbezirk der betreffenden Fasern verlegt wird. Es ist also unstatthaft, da einmal die durch Vorg\u00e4nge in den Muskeln verursachten Schmerzen in diesen localisirt werden, ohne zwingenden Grund nach einem anderen Endigungsort der erregten Nerven, als eben in den Muskeln zu suchen, und ganz unm\u00f6glich, ihre Endigung in der Haut anzunehmen, da wir dann unfehlbar den Schmerz in die Haut verlegen, und zwar in die vielleicht weit von dem den Schmerz veranlassenden Muskel entfernte Haut, in welcher die zuf\u00e4llig an ihm vorbeilaufenden Nervenfasern endigen, wie wir den Schmerz, welcher bei Druck auf den Ulnarnerven am Ellbogen entsteht, in der Haut der Finger, in denen seine Fasern endigen, localisiren. Wie diese Muskelnerven bei den verschiedenen Entstehungsarten des Muskelschmerzes erregt werden, ob mechanisch, oder chemisch durch Zersetzungsprodukte, welche bei excessiver Th\u00e4tigkeit oder unter pathologischen Verh\u00e4ltnissen sich bilden und","page":365},{"file":"p0366.txt","language":"de","ocr_de":"366\nFunke, Tastsinn etc. 3. Cap. Der Muskelsinn.\nanh\u00e4ufen, ist unentschieden. Letztere Erregungsursache w\u00fcrde sehr plausibel die oft lange Nachdauer der Schmerzen erkl\u00e4ren, welche ebenfalls mit der Annahme einer Reizung von Hautnerven unvereinbar ist. Leider ist mit dieser thats\u00e4chlichen Begr\u00fcndung der Sensibilit\u00e4t der Muskeln f\u00fcr unsere Frage nichts Entscheidendes gewonnen. Die Muskelschmerzen sind Gemeingef\u00fchle und sind als solche von den fraglichen objectivirbaren Sinnesempfindungen der Muskeln ebenso streng zu scheiden, wie die Gemeingef\u00fchle der Haut von den Tastempfindungen. Nachdem wir aber (S. 297) nachgewiesen haben, dass die Identit\u00e4t des nerv\u00f6sen Apparats f\u00fcr beide Arten der Hautempfindungen mindestens zweifelhaft ist, da ferner feststeht, dass es noch andere innere Organe giebt, welche Gemeingef\u00fchle, aber keinerlei Sinnesempfindungen vermitteln, kann aus der Schmerzempfindlichkeit des Muskels nicht geschlossen werden, dass er auch sensible Fasern f\u00fcr den sechsten Sinn besitze, seien es dieselben, welche unter Umst\u00e4nden den Schmerz erwecken, seien es besondere. Von diesem Gesichtspunkte aus k\u00f6nnen wir auch den trefflichen Untersuchungen von C. Sachs l, durch welche die Existenz sensibler Muskelnerven zuerst sicher begr\u00fcndet worden ist, keine entscheidende Bedeutung f\u00fcr die Theorie des Muskelsinnes zuerkennen.\nNachdem bereits fr\u00fcher einige Anatomen (Reichert, K\u00f6lliker, Arndt, Odenius)2 in den Muskeln durch Art des Verlaufes und der Endigung vor den motorischen ausgezeichnete Nervenfasern gefunden und dieselben als sensible gedeutet hatten, hat Sachs nicht allein Verlauf und Endigung derselben in Terminalnetzen zwischen und auf den Muskelfasern n\u00e4her erforscht, sondern ihre sensible Natur durch den Nachweis ihrer Herkunft aus den sensiblen hinteren R\u00fcckenmarkswurzeln, nach deren Durchschneidung er sie degeneriren sah, sicher demonstrirt. Derselbe constatirte ferner, dass bei mit Strychnin vergifteten Fr\u00f6schen Reflexkr\u00e4mpfe hervorzurufen sind einmal durch Reizung des centralen Stumpfes eines Muskelnerven z. B. des kleinen St\u00e4mmchens, welches den M. Sartorius versorgt, zweitens durch elektrische oder chemische (Ammoniak) Reizung der Substanz eines isolirten Muskels selbst, welcher in Folge der Durchschneidung der vorderen Wurzeln nur noch durch die hinteren Wurzeln mit dem R\u00fcckenmark in Verbindung stand. Endlich gelang es ihm, unter dem Mikroskop durch partielle transversale Einschnitte in den Muskeln Faserabschnitte zu isoliren, welche an den von dem Nerven aus eingeleiteten Contractionen nicht Theil nahmen, aber unversehrte Nerven-\n1\tC. Sachs , Phys. u. anat. Unters, \u00fcber die sens. N. d. Musk. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1874. S. 175. 491 u. 645.\n2\tReichert, in s. Arch. f. Anat. u. Phys. 1851. S.29 ; K\u00f6lliker, Microsc. Anat. II. 1. Abth. S. 240, Ztschr. f. wiss. Zool. XII. S. 149; Odenius, Nord. Medic. Arkiv, red. af Axel Key. IV. No. 18. 1872. Vgl. ausserdem Tschirjew, Arch. f. Psychiatr. VIII Heft 3, Compt. rend. 22. Oct. 1878 und Arch. f. Anat. u. Physiol. (Physiol. Abth.) S. 78. 1879.","page":366},{"file":"p0367.txt","language":"de","ocr_de":"Theorien des Muskelsinnes.\n367\nfasern enthielten, welche er demnach als sensible auffasst. Alle diese interessanten Thatsachen beweisen eben nur, dass der Muskel mit den Nervencentren durch centripetalleitende Fasern in Verbindung steht, nicht aber, dass letztere ausser Gemeingef\u00fchl und Reflexen auch Sinnesempfindungen bei jeder durch Contraction eingeleiteten Erregung hervorbringen. Auch, die Reflexe, welche Sachs in Folge von Contractionen, die er durch Reizung des nervenfreien Endquerschnitts eines Sartorius mittelst Ammoniaks ausl\u00f6ste, auftreten sah, berechtigen nicht zu der von Sachs als unantastbar hingestellten Folgerung, dass die Contraction eines Muskels als solche empfunden werde.\nWir m\u00fcssen uns demnach nach anderen physiologischen und pathologischen Beweismitteln f\u00fcr die Endigung von Sinnesnerven in den Muskeln Umsehen, und deren Beweiskraft ebenso sorglich pr\u00fcfen, wie diejenige der f\u00fcr die gegen\u00fcberstehenden Theorien des Muskelsinnes und speciell des Kraftsinnes vorgebrachten Argumente.\nAus der subjectiven Beurtheilung der Qualit\u00e4t der Empfindungen, welche die willk\u00fcrlichen Muskelcontractionen begleiten, an sich l\u00e4sst sich ein sicherer Nachweis des Ortes ihrer Erregung nicht f\u00fchren. Allerdings erscheint auch mir die Empfindung, welche z. B. w\u00e4hrend der Hebung eines Gewichtes mit dem Arm entsteht, wesentlich verschieden von allen Empfindungen, welche sich durch irgendwelche Einwirkung auf die Haut irgendwelches Armtheiles erzeugen lassen ; allerdings glaube auch ich eine solche eigenth\u00fcmliche Empfindung, welche wie der Muskelschmerz in den Muskeln zu entstehen scheint, deutlich von gleichzeitigen bestimmt in der Haut localisirten, durch Compression, Dehnung, oder Faltung einzelner Partien derselben erweckten Gef\u00fchlen zu unterscheiden. Allein erstens bin ich ausser Stande, dieselbe an sich den Hautempfindungen gegen\u00fcber bestimmt zu charakterisiren, und es erscheint geradezu naiv, wenn Sachs eine solche Charakteristik versucht, indem er angiebt, er f\u00fchle neben den Hautempfindungen etwas \u201eSchwellendes, Zuckendes, Vibrirendes, Dr\u00f6hnendes\u201c. (Die letzteren Epitheta lassen fast daran denken, dass Sachs, dessen Beschreibung der bei Contraction des levator anguli oris auftretenden Empfindung gilt, ein fortgeleitetes Muskelger\u00e4usch wahrgenommen und f\u00fcr Muskelempfindung gehalten habe, was nach Hering\u2019s 1 neuesten Mittheilungen \u00fcber die Muskelger\u00e4usche des Auges nicht unm\u00f6glich erscheint.) Zweitens sagt die Empfindung an sich nichts dar\u00fcber aus, ob sie von den centralen Entladungsherden des Willens aus hervorgerufen und nur excentrisch localisirt sei, oder ob ihre Quellenstation in den Muskeln liege. Wer m\u00f6chte\nl E. Hering, Sitzgsber. d. Wiener Acad. 3. Abth. LXXIX. Febr. 1879.","page":367},{"file":"p0368.txt","language":"de","ocr_de":"368\nFunke, Tastsinn etc. 3. Cap. Der Muskelsinn.\nbehaupten, er besitze ein sicheres subjectives Unterscheidungsmerkmal der isolirten Einwirkung eines Willensimpulses auf sein Sen-sorium, d. h. eines reinen hypothetischen \u201eInnervationsgef\u00fchles\u201c? Dagegen liegt ein Argument von meines Erachtens schlagendem Werth gegen die Erkl\u00e4rung der Leistungen des Kraftsinnes aus Innervationsgef\u00fchlen in einer Thatsache, welche ohne in dieser Bedeutung gew\u00fcrdigt zu werden, von einem Gegner der BELL\u2019sehen Lehre constatirt worden ist. Bernhardt 1 untersuchte die Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Gewichte, welche durch Beugung eines Fusses oder Fingers mittelst einer \u00fcber eine Rolle laufenden Schnur gehoben wurden, einmal w\u00e4hrend die genauen Bewegungen durch den Willen, zweitens w\u00e4hrend sie durch locale Reizung der betreffenden Muskeln mit Inductionsstr\u00f6men hervorgebracht wurden und fand das Unterscheidungsverm\u00f6gen im zweiten Fall gleich gross oder nur unerheblich geringer als im ersten. Wenn demnach beim Wegfall jeder willk\u00fcrlichen Innervation die dem Kraftsinn zu Grunde liegenden Empfindungen und die damit verbundenen Vorstellungen unver\u00e4ndert auftreten, erscheint mir jede Betheiligung der angeblichen Innervationsgef\u00fchle unbedingt ausgeschlossen. In demselben Sinne scheint mir auch die Thatsache zu sprechen, dass ebenfalls ohne Zuthun des Willens ausgel\u00f6ste Reflexbewegungen sich auch mit mehr weniger genauen Vorstellungen von der entwickelten Muskelkraft, von der Gr\u00f6sse der \u00fcberwundenen Widerst\u00e4nde verbinden. Das Gewicht dieser Thatsachen erscheint mir weit gr\u00f6sser, als das Gegengewicht, welches man in dem allerdings auffallenden Umstand suchen k\u00f6nnte, dass der Muskelsinn ausschliesslich an die Action der willk\u00fcrlichen Muskeln gebunden ist, dass keinerlei Gef\u00fchl die Energie z. B. des Herzmuskels und mittelbar die Gr\u00f6sse seiner Leistung ver-r\u00e4th. Ich kann darin keine unausweichliche N\u00f6thigung zu dem Schluss, dass eben nur der Willensimpuls direct das Empfindungssubstrat des Muskelsinnes liefere, finden. Erstens ist es wohl m\u00f6glich, dass der Herzmuskel ausnahmsweise nicht mit Sinnesnerven ausgestattet ist. Zweitens ist denkbar, dass allerdings eine (unbewusste) Empfindung jede Systole begleitet, aber in Folge ihrer unver\u00e4nderlichen Regel- und Gleichm\u00e4ssigkeit, in Folge des Umstandes, dass weder der Wille noch wahrnehmbare \u00e4ussere Momente mittelbar ihre Intensit\u00e4t in bestimmter Abstufung variiren k\u00f6nnen, der Einf\u00fchrung ins Bewusstsein und weiterer psychischer Verarbeitung sich vollst\u00e4ndig entzieht.\n1 Bernhakdt, Arch. f. Psychiatrie III. S. 627.1872.","page":368},{"file":"p0369.txt","language":"de","ocr_de":"Theorien des Muskelsinnes.\n369\nDass die Aussagen des Muskelsinnes sich nicht auf die hypothetischen Innervationsgefiikle als alleinige Grundlage zur\u00fcckf\u00fchren lassen, ist auch auf anderen Wegen meines Erachtens unanfechtbar zu demonstriren, und auch ausdr\u00fccklich oder stillschweigend von den Gegnern eigent\u00fcmlicher Muskelgef\u00fchle anerkannt worden. Die Innervationsgef\u00fckle k\u00f6nnen der Seele eben nur kund thun, welches Maass von Willenskraft sie aufgewendet hat. Es muss aber doch notwendig irgend eine Controlle \u00fcber die Ausf\u00fchrung der Willensbefehle vorhanden sein; eine solche kann nur durch eine Empfindung gef\u00fchrt werden, an der peripherischen Wirkungsst\u00e4tte des Willens hervorgerufene, mit dem Grad des vom Willen erzielten Effectes Schritt haltende Empfindungen sind f\u00fcr diesen Zweck unentbehrlich. Beruhten die Wahrnehmungen des Kraftsinnes auf den Innervationsgef\u00fchlen allein, so m\u00fcsste der Amputirte sich nach wie vor alle die Wahrnehmungen produciren k\u00f6nnen, welche vorher mit der willk\u00fcrlichen verschiedenartigen und verschiedengradigen Innervation der Muskeln des fehlenden Gliedes verkn\u00fcpft waren. Es m\u00fcssten dann, wie Lotze 1 treffend bemerkt, wenn der Arm durch Druck auf seinen Nerven \u201e eingeschlafen\u201c ist, wegen Unterbrechung der Leitung in den gedr\u00fcckten Nervenpartien die Willensbefehle der Armmuskeln nicht mehr zugeleitet werden, trotz der Unbeweglichkeit des Armes, jede gewollte Bewegung dieselben Bewegungsgef\u00fchle und Vorstellungen veranlassen, wie die wirklich ausgef\u00fchrte Bewegung. Wenn jede peripherische Controlle des Willensvollzuges fehlte, wenn die ausgef\u00fchrten Bewegungen nicht durch charakteristische nach ihrer Energie und ihrem Umfang abgestufte Marken gekennzeichnet w\u00e4ren, so w\u00e4re \u00fcberhaupt nicht zu begreifen, wie der Wille erlernen k\u00f6nnte, den ihm unterthanen Bewegungsmechanismus in einer den mannickfacken Aufgaben desselben so genau angepassten Weise mit solcher Pr\u00e4-cision, wie es thats\u00e4chlich der Fall ist, zu gebrauchen. Daraus erkl\u00e4rt sich auch, dass in einem Gliede, dessen sensibler Verkehr mit den Centralorganen mittelst Durchschneidung der betreffenden hinteren R\u00fcckenmarkswurzeln vollst\u00e4ndig aufgehoben ist, wie Panizza, Schiff und Cl. Bernard 2 an Fr\u00f6schen gezeigt haben, die Erscheinungen eintreten, welche man als Zeichen des Verlustes des Muskelsinnes deutet und unter dem Namen \u201eAtaxie\u201c zusammenfasst. Trotz der vorausgegangenen Ein\u00fcbung des Willens im zweckm\u00e4ssigen Gebrauch der Muskeln des Gliedes, geht die Sicherheit seiner\n1\tLotze, Medicin. Psychol. S. 310.\n2\tPanizza. Ricerclie sperim. sopra i nervi, Pavia; Schief, Lehrb. cl. Physiol. S. 143; Cl. Bernard, Le\u00e7. s. 1. phys. etpathol. d. syst. nerv. p. 254. Paris 1858.\nHandbuch der Physiologie. Bd. lila.\t24","page":369},{"file":"p0370.txt","language":"de","ocr_de":"370\nFunke, Tastsinn etc. 3. Cap. Der Muskelsinn.\nHerrschaft \u00fcber dieselben, die richtige Coordination und Abstufung der Bewegungen des Gliedes verloren.\nEs kann daher nur in Frage kommen, in welcher Weise, durch welche Sinne die unerl\u00e4ssliche Controlle ausge\u00fcbt wird, ob, was von vornherein jedenfalls als das Einfachste und Zweckm\u00e4ssigste erscheint, durch den Muskeln selbst zu diesem Behuf verliehene, nothwendig durch ihre Th\u00e4tigkeit erregte sensible Nerven, wie die Vertreter eines specifischen Muskelsinnes behaupten, oder durch indirecte Nebenwirkungen der Muskelcontraction auf einen der bekannten f\u00fcnf Sinne, wie die Gegner darzuthun suchen. So schreibt Hering die Controlle \u00fcber den Vollzug der Willensimpulse f\u00fcr die Augenmuskeln ausschliesslich dem Raumsinn der Netzhaut zu; nicht Aenderungen in den g\u00e4nzlich von ihm in Abrede gestellten Spannungsgef\u00fchlen der Augenmuskeln, sondern lediglich die mit den Augenbewegungen verkn\u00fcpften Verschiebungen der Netzhautbilder sollen zur Erkenntniss der Aenderungen der Augenstellung verwendet werden. Indem ich unter Verzicht auf eine n\u00e4here Discussion \u00fcber die Auffassung wie \u00fcberhaupt auf die Er\u00f6rterung aller Beziehungen zwischen Muskel-und Gesichtssinn auf Hering\u2019s eigene Darstellung (Bd. Ill 1. dieses Handbuchs) verweise, bemerke ich nur, dass ich seiner Erkl\u00e4rung immer noch die Thatsache gegen\u00fcberstelle, dass wir auch bei geschlossenem Auge, also Ausschaltung der HERiNG\u2019schen Controllmit-tel, ziemlich genaue Vorstellungen von der Blickrichtung erhalten. F\u00fcr fast alle \u00fcbrigen Muskeln, insbesondere die der Extremit\u00e4ten, deren Th\u00e4tigkeit, wie leicht erweislich, ohne jede Ueberwachung durch den Gesichtssinn sich mit den genauesten Aeusserungen des Muskelsinnes verbindet, bleibt nat\u00fcrlich, wenn man ihnen die Selbst-controlle abspricht, nur der Tastsinn als Controllern' denkbar. Hautgef\u00fchle sind es daher, welche Einige, vor allen Schiff den specifischen Sinnesempfindungen der Muskeln ebenso wie ihren specifischen Gemeingef\u00fchlen zu substituiren gesucht haben, sei es dass sie Zerrungen, Compressionen der Haut bei den Form- und Lagever\u00e4nderun-gen der bewegten Glieder, oder Druck der contrahirten Muskeln auf Hautnerven als Ursachen der Hautgef\u00fchle annehmen, oder (R\u00e4uber [) die meist ausserhalb der Muskeln in der N\u00e4he der Gelenke aufgefundenen PAcmi\u2019scken K\u00f6rperchen als die mittelbaren Sinnesorgane der Muskeln in Anspruch nehmen.\nGegen diese Verwendung von Hautgef\u00fchlen im Dienste des Muskelsinnes und zwar zun\u00e4chst des Kraftsinnes lassen sich zun\u00e4chst\n1 R\u00e4uber, Vater\u2019sche K\u00f6rp. d. B\u00e4nder- u. Periostnerv. u. ihre Bez. z. sogen. Muskelsinn. Inaug.-Diss. M\u00fcnchen 1865.","page":370},{"file":"p0371.txt","language":"de","ocr_de":"Theorien des Muskelsinnes.\n371\nallgemeine Einw\u00e4nde auff\u00fchren, von denen ein Tlieil schon bei Er\u00f6rterung der Gemeingef\u00fchle der Muskeln zur Sprache gekommen ist. Es l\u00e4sst sich nicht einsehen, warum in diesem Fall nicht auch durch Hervorrufung der betreffenden Hautgef\u00fchle mittelst \u00e4usserer Reize die gleichen Vorstellungen des Muskelsinnes erzeugt werden k\u00f6nnen, oder wenn man dagegen sagen wollte, dass dazu die Combination bestimmter Hautgef\u00fchle mit bestimmten Innervationsgef\u00fchlen erforderlich sei, wie erstere die Controlle der letzteren aus\u00fcben sollen, wenn entweder ihre Entstehung durch \u00e4ussere Momente verhindert wird, oder wenn sie gleichzeitig durch \u00e4ussere Einwirkungen hervorgerufen die specitischen Empfindungen des Tastsinns und die an diese sich ankn\u00fcpfenden Vorstellungen vermitteln.\nDie Ergebnisse der physiologischen Versuche \u00fcber die fragliche Stelle der Hautgef\u00fchle sprechen entschieden eher gegen als f\u00fcr dieselbe, obwohl kein experimentum crucis darunter ist. Der Angabe Schiff\u2019s, dass das die energische Contraction der Masseteren begleitende Spannungsgef\u00fchl verschwinde, wenn man mittelst des Backenbarts die Backenhaut von den Muskeln abziehe, wird schwerlich Jemand irgend welche Beweiskraft f\u00fcr die Reduction der Muskelgef\u00fchle auf Hautgef\u00fchle zuerkennen. Weit gewichtiger spricht dagegen die Beobachtung Cl. Bernard\u2019s, dass Fr\u00f6sche die coordinirten Bewegungen des Springens, Schwimmens u. s. w. nach der Enth\u00e4utung ungest\u00f6rt ausf\u00fchren. Eine Entscheidung suchte Bernhardt dadurch zu gewinnen, dass er untersuchte, ob die Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr gehobene Gewichte, welche er, wie bereits mitgetheilt, bei localer elektrischer Reizung und willk\u00fcrlicher Innervation der hebenden Muskeln gleich fein fand, auch bestehen bliebe, wenn die Haut durch Aether oder Chloroform an\u00e4sthetisch gemacht w\u00fcrde. Die Versuche ergaben keine Herabsetzung der Feinheit des Kraftsinns; es war aber auch in keinem derselben gelungen die Haut vollst\u00e4ndig unempfindlich zu machen.\nAuch das pathologische Beobachtungsmaterial, welches man zur Entscheidung der Frage nach den Quellen des Muskelsinnes herangezogen hat, liefert meines Erachtens bei unbefangener Interpretation gewichtige Argumente zu Gunsten der Bell-WEBER\u2019schen Theorie und Entscheidungsgr\u00fcnde sowohl gegen die Zur\u00fcckf\u00fchrung der \u201eMuskelgef\u00fchle\u201c auf reine Innervationsgef\u00fchle als gegen ihre Identificirung mit Hautgef\u00fchlen. Sicher ist, dass eine Anzahl von F\u00e4llen beobachtet sind, in denen bei vollst\u00e4ndiger An\u00e4sthesie der Extremit\u00e4ten keinerlei St\u00f6rungen in dem willk\u00fcrlichen Gebrauch derselben sich zeigen, der Kraftsinn durchaus intact ist. Andererseits ist constatirt, dass h\u00e4ufig hochgradige Ataxie, d. h. also die auf Schw\u00e4chung oder L\u00e4hmung des Muskelsinnes gedeuteten Erscheinun-\n24*","page":371},{"file":"p0372.txt","language":"de","ocr_de":"372\nFunke, Tastsinn etc. 3. Cap. Der Muskelsinn.\ngen, sich zeigt, ohne dass eine Herabsetzung der Sensibilit\u00e4t der Haut, eine Schw\u00e4chung des Tastsinns nachweisbar ist. Zu einer kritischen Besprechung der einzelnen Beobachtungen fehlt uns hier der Raum, wir beschr\u00e4nken uns auf folgende Bemerkungen. Leyden, welcher im Allgemeinen die Existenz sensibler Nerven in den Muskeln und deren Betheiligung an den Leistungen des Muskelsinnes zugiebt, glaubt doch beweisen zu k\u00f6nnen, dass sie ebensowenig wie die Hautgef\u00fchle die alleinigen Vermittler des letzteren sind. Er fand bei einem Tabeskranken mit hochgradiger Ataxie und hochgradiger Herabsetzung der Hautempfindlichkeit die Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr gehobene Gewichte von normaler Feinheit. Da er nun bei diesem Patienten durch locale elektrische Reizung auch kein \u201eGef\u00fchl der Muskelspannung\u201c (ausser bei den st\u00e4rksten Contractionen) hervorrufen konnte, schliesst er, dass auch das Muskelgef\u00fchl vollst\u00e4ndig erloschen gewesen sei, mithin der erhaltene Kraftsinn nur als eine Function des \u201e Sensoriums \u201c, d. h. wohl der Innervationsgef\u00fchle, erkl\u00e4rlich sei. Abgesehen von der Frage, ob die Angaben solcher Patienten \u00fcber Vorhandensein oder Fehlen der \u00fcberhaupt so dumpfen und wenig charakteristischen Muskelgef\u00fchle, zumal wenn dieselben vor gleichzeitigen nicht v\u00f6llig unterdr\u00fcckten Hautschmerzen zu scheiden sind, v\u00f6llig zuverl\u00e4ssig sind, ist bei der notorischen geringen Erregbarkeit der sensiblen Muskelnerven f\u00fcr die allgemeinen \u00e4usseren Reize das Ausbleiben der Muskelgef\u00fchle bei directer Muskelreizung kein entscheidender Beweis f\u00fcr den totalen Verlust der Muskelempfindlichkeit. Von h\u00f6chstem Werth scheinen mir zwei von Ch. Bell und Maudsley beobachtete F\u00e4lle1. Die betreffenden Patienten, welche die Erscheinungen der Muskelsinnesl\u00e4hmung darboten, konnten mit der Hand oder dem Arm ergriffene Gegenst\u00e4nde nur festhalten, so lange sie die Augen darauf gerichtet hielten; bei Abwendung des Blicks Hessen sie dieselben fallen. Da in diesen F\u00e4llen sowohl die willk\u00fcrliche Innervation der betreffenden Muskeln ungest\u00f6rt, als der Tastsinn erhalten war, scheint mir kaum eine andere Erkl\u00e4rung der Thatsache denkbar als die aus einem Verlust spe-cifischer von den contrahirten Muskeln aus erweckter Empfindungen. Mit dem Wegfall derselben war die nat\u00fcrliche Controlle \u00fcber den richtigen Vollzug der vom Willen einzuleitenden, zum Halten erforderlichen Muskelactionen aufgehoben. Aus den hypothetischen Innervationsgef\u00fchlen allein erfuhr die Seele nichts \u00fcber deren Fortbestand; wohl aber trat der Gesichtssinn vicarirend f\u00fcr die Muskelgef\u00fchle ein, indem er die Erhaltung einer bestimmten, beim Ergreifen der Gegenst\u00e4nde angenommenen Form und Stellung der Glieder \u00fcberwachte. Dass der Tastsinn in diesen F\u00e4llen nicht einmal aush\u00fclfsweise, wie der Gesichtssinn, die Controlle \u00fcbernehmen, die Seele von dem Fortbestand der beim Erfassen der Gegenst\u00e4nde entstandenen Druckgef\u00fchle in gleicher Art und Intensit\u00e4t unterrichten und dadurch zur Unterhaltung der n\u00f6thigen motorischen Innervation veranlassen konnte, ist sehr auffallend, spricht aber gewiss entscheidend gegen die von Schiff u. A. ihm zugeschriebene normale und wesentliche Rolle bei den Aeusserungen des Muskelsinnes.\n1 Mir sind dieselben nur aus der Mittheilung von G. E. M\u00fcller, Zur Grundlegung d. Psychophys. S. 328, bekannt. M\u00fcller citirt: Mausdley, Phys. u. Pathol, d. Seele, Deutsch von B\u00f6hm. S. 1S3.","page":372},{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"Theorien des Muskelsinnes.\n373\nWundt findet ein Hauptargument f\u00fcr seine Auffassung, dass die Innervationsgef\u00fchle durch ihre wechselnde Intensit\u00e4t allein die Vorstellungen von der wechselnden St\u00e4rke der entwickelten Muskelkraft vermitteln, in der pathologischen Thatsache, dass bei beginnenden motorischen L\u00e4hmungen (sogenannter \u201e Parese \u201c), wo die Ausf\u00fchrung einer Bewegung von bestimmter Gr\u00f6sse und die Ueberwindung bestimmter Widerst\u00e4nde durch dieselbe eine gr\u00f6ssere Anstrengung als im Normalzustand erheischt, die Patienten das Gewicht ihrer Glieder oder einer mit denselben gehobenen Last f\u00fcr gr\u00f6sser halten, als es ist. Ich kann nicht einsehen, wie diese Urtheilst\u00e4uscliung die Nichtbetheiligung von Muskelgef\u00fchlen bei der Beurtheilung der entwickelten Muskelkraft beweisen soll. Im Normalzustand verkn\u00fcpft sich mit jedem Innervationsgef\u00fchl von bestimmter Art und bestimmtem Grade ein Muskelgef\u00fchl bestimmter Art und bestimmter Intensit\u00e4t, auf dem Wege der Erfahrung pr\u00e4gen sich dem Ged\u00e4chtniss die correspondirenden Arten und Intensit\u00e4ten beider Gef\u00fchle ein. In der Parese \u00e4ndert sich dieses Verh\u00e4ltniss in dem Sinne, dass die Intensit\u00e4t des zu ekiem bestimmten Innervationsgef\u00fchle geh\u00f6rigen Muskelgef\u00fchles abnimmt, oder zur Erzeugung eines Muskelgef\u00fchles bestimmter St\u00e4rke eine st\u00e4rkere Willensanstrengung erforderlich ist. Diese Aenderung ist es, welche sich zun\u00e4chst der Wahrnehmung der Patienten aufdr\u00e4ngt. Gleichzeitig erfahren sie aber auch durch die Aussagen des Gesichtssinnes und Tastsinnes, dass in gleichem Maasse wie das Muskelgef\u00fchl auch die durch diese Sinne wahrnehmbaren mit bestimmten Innervationsgef\u00fchlen verbundenen Ver\u00e4nderungen geringer ausfallen, dass die sichtbaren Stellungsver\u00e4nderungen der Glieder kleiner werden, dass die Verst\u00e4rkung der Druckempfindung in einem gegen ein \u00e4usseres Object oder einen anderen Theil des Tastorgans bewegten Gliede kleiner ausf\u00e4llt. Da nun erfahrungsgem\u00e4ss dieselben Aenderungen der durch Gesichtssinn und Tastsinn wahrnehmbaren Folgen einer bestimmten Willensanstrengung im Normalzustand auch ein treten, wenn der Bewegung der Glieder durch eine entgegenwirkende Belastung Widerstand geleistet wird, entsteht bei den Patienten die Trugvorstellung einer gr\u00f6sseren Schwere der Glieder, wobei allerdings die directen Aussagen der Muskelgef\u00fchle gewissermaassen L\u00fcgen gestraft werden.\nNach alledem stehe ich nicht an, unter allen Hypothesen, durch welche man die Leistungen des sogenannten Muskelsinnes und zwar zun\u00e4chst, soweit er als Kraftsinn fungirt, zu erkl\u00e4ren versucht hat, diejenige, welche dieselben aus der Th\u00e4tigkeit specifischer Sinnes-nerven der Muskeln ableitet, immer noch f\u00fcr die bestbegr\u00fcndete, mit den Thatsachen am besten vereinbare zu erkl\u00e4ren. Ein weiterer Ausbau der Hypothese, insbesondere die Beantwortung der Frage, in welcher Weise bei der Contraction der Muskeln die Erregung ihrer sensibeln Fasern zu Stande kommt, ist noch nicht m\u00f6glich. Vermuthungen, wie die von Brown-S\u00e9quard ausgesprochene, dass der Reiz in der negativen Schwankung des Muskelstromes gegeben sei, entbehren jedes Haltes. Ob vielleicht ein Product des chemi-","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"374\nFunkej Tastsinn etc. 4. Cap. Der Ortssinn der Haut.\nsehen Umsatzes im th\u00e4tigen Muskel seine Sinnesnerven erregt, wie von Einigen ein chemischer Reiz als Ursache seiner Gemeingef\u00fchle vermuthet wird, oder oh in irgend welcher Weise durch die Aende-rung der Form und Spannung der Muskelfasern eine mechanische Reizung vermittelt wird, muss vorl\u00e4ufig dahingestellt bleiben. In Bezug auf letztere Alternative ist zu bemerken, dass wir den reizenden Vorgang nicht einseitig in einer mit dem Umfang der Contraction proportional wachsenden Dehnung oder Compression der hypothetischen Empfindungsnervenenden suchen d\u00fcrfen. Liessen sich auf dieses Moment auch die auf die Wahrnehmung der Stellung unserer Glieder und die Gr\u00f6sse der mit ihnen ausgef\u00fchrten Bewegungen bez\u00fcglichen Leistungen des Muskelsinns, auf welche wir beim Ortssinn der Haut n\u00e4her eingehen werden, zur\u00fcckf\u00fchren, so doch nicht seine Leistungen als Kraftsinn, von denen bisher vornehmlich die Rede war. Da uns derselbe \u00fcber die relative Schwere zweier Gewichte auch dann belehrt, wenn wir dieselben durch Muskelcontractionen von gleichem Umfang zu gleichen H\u00f6hen erheben, m\u00fcssen die Intensit\u00e4tsdifferenzen der betreffenden Muskelgef\u00fchle von der Spannung und nicht vom Verk\u00fcrzungsgrad der hebenden Muskeln abh\u00e4ngen.\nVIERTES CAPITEL.\nPer Ortssinn der Haut,\nI. Der Ortssinn der Haut.\nUnter Ortssinn oder Raum sinn der Haut begreift man das Verm\u00f6gen, den durch Erregung der sensiblen Nerven der Haut erzeugten Empfindungen einen bestimmten Ort in dem r\u00e4umlichen Vorstellungsbild unserer K\u00f6rperoberfl\u00e4che anzuweisen und zwar, dieselben in den peripherischen Endbezirk der erregten Nervenfasern in der Haut zu verlegen. Die Uebereinstimmung des vorgestellten Orts der Empfindung mit dem reellen Ort der Endigung der betreffenden Nervenfaser zeigt eine weitgehende Genauigkeit bei den Druck-und Temperatur-, d. h. den Sinnesempfindungen, welche von der Haut aus hervorgerufen werden, sie ist eine weniger vollkommene","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"Ortssinn der Haut.\n375\nbei den Gemeingef\u00fchlen, insbesondere den Schmerzempfindungen. Dass indessen die Lokalisation der Schmerzen, welche durch Reizung von Hautnerven entstehen, nicht lediglich auf der Localisation der gleichzeitigen, bewusst oder unbewusst die Schmerzen begleitenden Tastempfindungen beruht, geht daraus hervor, dass auch die von inneren, \u00fcberhaupt keinen Tastsinn besitzenden Organen aus erzeugten Schmerzen sich mit Ortsvorstellungen verkn\u00fcpfen, wenn auch mit \u00e4usserst ungenauen.\nTrifft ein \u00e4usserer Reiz in m\u00f6glichst beschr\u00e4nkter Ausdehnung eine Stelle des Tastorgans, ber\u00fchrt z. B. eine Zirkelspitze einen beliebigen Hautpunkt, so tritt vor das Bewusstsein gleichzeitig mit einer Druck- und Temperaturempfindung von beliebiger Intensit\u00e4t und un-abl\u00f6slich von derselben die Vorstellung von dem gereizten Ort; die Tastempfindung selbst scheint uns in demselben zu liegen, wir empfinden, wie der vulg\u00e4re Ausdruck lautet, Druck, W\u00e4rme oder K\u00e4lte an einem bestimmten Hautpunkt, auch ohne dass uns der Gesichtssinn denselben als Ort der Ber\u00fchrung nachweist. Aendert sich der Ort der Ber\u00fchrung, wird die ber\u00fchrende Spitze in irgend welcher Richtung \u00fcber die ruhende Tastfl\u00e4che fortbewegt, oder durch die Th\u00e4tigkeit der Muskeln oder auch passive Bewegungen der Glieder die Tastfl\u00e4che \u00fcber dem ruhenden Object verschoben, so \u00e4ndert sich der Ort der Empfindung, wir erhalten eine stetige Reihenfolge verschieden localisirter Eindr\u00fccke, aus denen die Seele die Vorstellung von der r\u00e4umlichen Anordnung der successiv ber\u00fchrten Hautpunkte von der Richtung und Ausdehnung der Ber\u00fchrungsbahn combinirt. Treffen gleichzeitig zwei oder mehrere gesonderte punktf\u00f6rmige Eindr\u00fccke, deren Distanz \u00fcber einem gewissen unten festzustellenden Minimum liegt, die Haut, so entsteht eine entsprechende Anzahl gesonderter Einzelempflndungen, deren jede mit einer bestimmten von derjenigen der anderen verschiedenen Ortsvorstellungen verbunden ist, verm\u00f6ge deren die Seele neben der Zahl der Eindr\u00fccke auch die r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse der gereizten Hautpunkte, ihre Distanz, die Richtung der zwischen ihnen gedachten Verbindungslinien wahrnimmt. Trifft die Haut eine Summe gleichzeitiger continuirlich nebeneinander gelagerter Eindr\u00fccke, ber\u00fchrt ein Object mit einer gr\u00f6sseren oder kleineren beliebig geformten Fl\u00e4che die Haut, so combinirt die Seele aus den die Einzeleindr\u00fccke begleitenden Ortsvorstellungen die Wahrnehmung der Gr\u00f6sse und Gestalt der gereizten Hautfl\u00e4che. Da wir alle Tastempfindungen objectiviren, \u00fcbertragen wir auch die durch den Ortssinn erkannten r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse der gereizten Hauttheile auf die als Ursachen der Empfindungen vorgestellten","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":"376\nFunke, Tastsinn etc. 4. Cap. Der Ortssinn der Haut.\nAussendinge, \u00fcbersetzen sie in Vorstellungen von Abstand, Gr\u00f6sse, Gestalt derselben. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied des Raumsinnes der Haut gegen\u00fcber dem Raumsinn der Netzhaut. W\u00e4hrend wir die Tastempfindungen zun\u00e4chst im Sinnesorgan localisiren und erst von dieser Zwischenstation aus die Br\u00fccke zur Aussenwelt und ihren vorgestellten Inhalt schlagen, verlegen wir die durch Reizung der verschiedenen Netzhautpunkte erzeugten Lichteindr\u00fccke direct in die Aussenwelt, ordnen sie nach den ebenfalls unzertrennlich ihnen anhaftenden r\u00e4umlichen Vorstellungen nicht in die gereizte Netzhautfl\u00e4che, von deren Existenz und urs\u00e4chlichen Beziehungen zu den Lichtempfindungen wir \u00fcberhaupt keine directe sinnliche Kunde erhalten, sondern unmittelbar in einen vorgestellten \u00e4usseren Sehraum ein, construiren aus den Aussagen des Raumsinnes der Retina unmittelbar die Vorstellung der r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse der Sehobjecte.\nDie Localisirung der Tastempfindungen ist nicht gebunden an ihre Erzeugung durch \u00e4ussere Sinnesreize, sie tritt in gleicher Weise ein, wenn durch Einwirkung innerer Reize auf die Enden der Tastnerven in der Haut dieselben erregt werden. Das W\u00e4rmegef\u00fchl z. B., welches durch vermehrte Blutzufuhr zu einer beschr\u00e4nkten Hautprovinz hervorgerufen wird, localisiren wir ebenso in derselben, als ob es durch erh\u00f6hte W\u00e4rmezufuhr von aussen entstanden w\u00e4re. Die Localisirung der Hautempfindungen ist aber auch nicht an die Einwirkung eines \u00e4usseren oder inneren Reizes auf die Enden der sensibeln Hautnerven gebunden; auch die Empfindungen, welche durch zuf\u00e4llige oder absichtliche Reizung der Hautnervenfasern, im Verlauf erweckt werden, verkn\u00fcpfen sich ausnahmslos mit Ortsvorstellungen und zwar denselben, welche die Erregung der Enden der betreffenden Fasern ausl\u00f6st. Wir verlegen einen Eindruck, welcher bei Reizung einer beliebigen Hautnervenfaser an einem beliebigen Punkt ihres Verlaufes zwischen Haut und Centralorgan entsteht, irrth\u00fcmlich in den peripherischen Endbezirk der Faser. Trifft ein Stoss die Ellbogenhaut an der Stelle, wo unter ihr der Ulnarnerv \u00fcber den Knochen verl\u00e4uft, so entsteht neben der am Ort des Stosses empfundenen Druck- bez. Schmerzempfindung, welche in der gestossenen Haut ihren Ursprung hat, eine Schmerzempfindung in der Haut des Unterarms und der Ulnarseite der Hand; d. h. wir verlegen letztere (und wie wir oben S. 312 wahrscheinlich zu machen suchten, eine sie begleitende von ihr nur \u00fcbert\u00e4ubte Tastempfindung), welche durch die mechanische Reizung der im Stamm des Ulnarnerven an der bezeichneten Stelle verlaufenden Hautnervenfasern erzeugt wird,","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"Feinheit des Ortssinnes der Haut.\n377\nin die vom Reizort entfernten Hautstellen, in welchen dieselben endigen. Ebenso empfindet ein Amputirter, wenn durch irgend welche Momente die durchschnittenen Nervenst\u00e4mme im Wundstumpf gereizt werden, die erweckten Schmerzen in der Haut des fehlenden Gliedes. Ebenso beruht z. B. der bekannte in der Wangenhaut locali-sirte Gesichtsschmerz in der Regel auf einer Reizung des Infraorbitalnerven im Verlauf, sei es im Infraorbitalkanal oder h\u00f6her oben. Man fasst alle analogen Thatsachen als Erscheinungen des \u201eGesetzes der excentrischen Perception zusammen.\nII. Feinheit des Ortssinnes der Haut.\nDie F\u00e4higkeit der r\u00e4umlichen Unterscheidung der Tasteindr\u00fccke, mit anderen Worten die Feinheit des Ortssinnes der Haut ist keine unbegrenzte und an verschiedenen Theilen des Tastorgans erheblich verschieden. Die n\u00e4here Untersuchung der Grenzen und Differenzen derselben ist aus einem doppelten Grund von hoher Bedeutung, einmal weil von der Feinheit des Raumsinns die Leistungsf\u00e4higkeit des Tastsinnes in der Auffassung der r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse der seiner Pr\u00fcfung unterworfenen Aussendinge abh\u00e4ngt, zweitens weil die Erkl\u00e4rung derselben im innigsten Zusammenhang mit der Theorie des Raumsinnes \u00fcberhaupt steht. E. H. Weber 1 war der Erste, welcher nicht allein ein unanfechtbares Princip der Messung der Feinheit des Ortssinnes aufgestellt und nach demselben die Grenzen derselben f\u00fcr die verschiedenen Hautregionen bestimmt, sondern auch eine Erkl\u00e4rung des thats\u00e4chlichen Befundes gegeben hat, welche trotz mannigfacher Missverst\u00e4ndnisse und Anfechtungen heute noch unersch\u00fcttert feststeht und das Hauptfundament einer haltbaren Theorie des Raumsinnes darstellt.\nDas Maassprincip ist demjenigen analog, nach welchem Weber die Feinheit des Drucksinnes ermittelte. Wir messen die Feinheit des Ortssinnes indem wir bestimmen, wie klein die Distanz zweier gleichzeitig die Haut treffender punktf\u00f6rmiger Eindr\u00fccke gemacht werden kann, ohne dass ihre gesonderte Wahrnehmung auf h\u00f6rt, sie zu einem scheinbar einfachen Eindruck verschmelzen, mit anderen Worten, welches der minimale Abstand zweier Hautpunkte ist, deren Reizung noch deutlich verschiedene Ortsvorstellungen erweckt. In Anwendung der FECHNER\u2019schen Terminologie bezeichnet man diese Minimaldistanz kurz als \u201eRaumschwelle\u201c. Weber\u2019s Verfahren,\n1 E. H. Weber, Annot. anat. S. 149, Handw\u00f6rterb. d. Phys. III. 2. Abth. S. 524 ; Ber. d. s\u00e4cbs. Ges. d. Wiss. 1S52. S. 85.","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378\nFunke, Tastsinn etc. 4. Cap. Der Ortssinn cler Haut.\ndieselbe zu bestimmen, besteht darin, dass der Haut gleichzeitig die beiden abgestumpften Spitzen eines Zirkels leise aufgesetzt werden, und die Oeffnung des Zirkels solange verkleinert wird, bis die Versuchsperson (bei geschlossenen Augen) eben nicht mehr die Dupli-cit\u00e4t der Eindr\u00fccke wahrnimmt, sondern einen einfachen Eindruck, welcher jedoch im Beginn der Verschmelzung noch eine l\u00e4ngliche Gestalt zu haben scheint, mit erkennbarer der Richtung der Zirkelspitze entsprechender Richtung der L\u00e4ngsachse.\nDie Ausf\u00fchrung der Messungen nach diesem Princip kann nach denselben verschiedenen Methoden, welche wir bereits oben S. 337 kritisirt haben, erfolgen, nach der Methode der eben merklichen Unterschiede, welche Weber selbst verwendete, oder nach der Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle, welche besonders von den sp\u00e4teren Experimentatoren benutzt worden ist, und bei richtiger Berechnung der Resultate eine gr\u00f6ssere Genauigkeit der Messung giebt. 1\nEin zweites von Weber angegebenes Verfahren, die Feinheit des Raumsinnes zu messen, besteht darin, dass man die Versuchsperson an einer Hautstelle mit einer stumpfen Spitze ber\u00fchrt und ihr die Aufgabe stellt, durch Aufsetzen einer Sonde den Ort der Ber\u00fchrung anzuzeigen. Je stumpfer der Ortssinn, desto mehr differirt der angezeigte von dem ber\u00fchrten Ort; die aus vielen Einzelbeobachtungen gezogenen Mittel dieser Differenzen an den verschiedenen Hautstellen liefern ein Maass der Differenzen der Feinheit ihres Ortssinnes. Dieses Verfahren ist bei weitem umst\u00e4ndlicher und in Folge mehrfacher Umst\u00e4nde weniger zuverl\u00e4ssig als das erste.\nWeber fand bei seinen \u00fcber den ganzen K\u00f6rper ausgedehnten Bestimmungen \u00fcberraschend grosse Differenzen der Feinheit des Ortssinnes verschiedener Regionen; es verhielten sich die, niedrigsten zu den h\u00f6chsten beobachteten Wertken etwa wie 1:60. Den feinsten Ortssinn fand er an der Zungenspitze n\u00e4chstdem an der Haut der Volarseite der letzten Fingerglieder, den stumpfesten an der R\u00fcckenhaut. W\u00e4hrend an der Zungenspitze ein doppelter Eindruck noch bei einem Abstand der Zirkelspitzen von V2 an den bezeichneten Theilen der Fingerhaut bei einem Abstand von 1 wahrgenommen wurde, geh\u00f6rte an der R\u00fcckenhaut zur Erzeugung eines doppelten Eindrucks ein Abstand von 30\"'. Im Allgemeinen fand er die Feinheit des Ortssinnes proportional dem Grade, in welchem die verschiedenen Theile des Tastorgans durch ihre Lage, Umfang und Vielseitigkeit der Beweglichkeit durch willk\u00fcrliche Muskelaction zu activen Tastoperationen bef\u00e4higt sind und dementsprechend factisch verwendet werden. Die Details der WEBER\u2019schen Messungsresultate ergeben\n1 Vgl. G. E. M\u00fcller, Arch. f. d. ges. Physiol. XIX. S. 191. 1879.","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"Feinheit des Ortssinnes der Haut.\n379\nsich aus folgender von ihm selbst gegebenen tabellarischen Ueber-sicht, in welcher die zu den einzelnen Hautstellen geh\u00f6rigen Zahlen die die Raumschwelle repr\u00e4sentirende Distanz der Zirkelspitzen in Par. Linien ausdr\u00fccken, die Hautstellen nach der abnehmenden Feinheit des Ortssinnes geordnet sind.\ndei\nZungenspitze......................\nVolarseite des letzten Fingerglieds Rother Theil der Lippen ....\nVolarseite des zweiten Fingerglieds Dorsalseite des dritten Fingerglieds\nNasenspitze.......................\nVolarseite der Cap. ossinm metacarpi Mittellinie des Zungenriickens 1 Zoll hinter Zungenrand 1 Zoll hinter der Spitze Nicht rother Theil der Lippen Metacarpus des Daumens .\t.\nPlantarseite des letzten Zehenglieds R\u00fcckenseite des zweiten Fingerglieds\nBacken ...........................\nAeussere Oberti\u00e4che des Augenlids Mitte des harten Gaumens .\t.\t.\nHaut \u00fcber dem vorderen Theil des Jochbeins Plantarseite des Mittelfussknochens der grossen Dorsalseite des ersten Fingerglieds Dorsalseite der Cap. ossium metacarpi Innere Oberfl\u00e4che der Lippen .\nHaut \u00fcber dem hinteren Theil des Jochbeins Unterer Theil der Stirn .\nHinterer Theil der Ferse Behaarter unterer Theil des R\u00fccken der Hand .\t.\t.\nHals unter der Kinnlade .\nScheitel.................\nKniescheibe und Umgebung\nKreuzbein................\nHaut \u00fcber den Glut\u00e4en\nUnterarm.................\nUnterschenkel ....\nFussr\u00fccken in der N\u00e4he der\nBrustbein................\nNackenhaut...............\nR\u00fcckenhaut \u00fcber den 5 oberen Brustwirbeln \u201e in der Lenden- und unteren Brust \u201e\tan der Mitte des Halses . .\n\u201e\t\u201e\t\u00bb n \u00bb R\u00fcckens . .\nMitte des Oberarms und Oberschenkels .\t.\nHinterhaupt\nZehen\nSpitz\nZehe\nAn Armen und Beinen fand Weber eine gr\u00f6ssere Feinheit des\negent\nV-\n1\n2\n2\n3\n3\n3\n4 4 4\n4\n5 5 5\n5\n6 7 7\n7\n8 9\n10\n10\n10\n12\n14\n15\n15\n16 18 18 18 18 18 20 24 24 24 30 30 30","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380\nFunke, Tastsinn etc. 4. Cap. Der Ortssinn der Haut.\nOrtssinnes in der Querrichtung, als in der L\u00e4ngsrichtung ; die Zirkelspitzen mussten, um eine Doppelempfindung zu erzeugen, erheblich weiter von einander entfernt werden, wenn sie parallel der L\u00e4ngsachse der Glieder, als wenn sie rechtwinklig zu derselben aufgesetzt wurden.\nWeber machte ferner folgende, f\u00fcr die Theorie bedeutsamen Beobachtungen, welche beweisen, dass zu der reellen Gr\u00f6sse der kleinsten wahrnehmbaren Distanz die vorgestellte Gr\u00f6sse einer gegebenen gr\u00f6sseren Distanz zweier Eindr\u00fccke im bestimmten umgekehrten Verh\u00e4ltniss steht. Setzt man die Zirkelspitzen in einer Distanz von 3/4 Zoll senkrecht \u00fcbereinander auf die Wangenhaut dicht vor dem Ohr, so entsteht die Vorstellung einer nur einfachen Ber\u00fchrung. Bewegt man sodann (selbstverst\u00e4ndlich bei unbefangenen Personen, welche weder sehen noch wissen wie gross die Zirkel\u00f6ffnung) die Zirkelspitzen bei unge\u00e4nderter Distanz in steter Ber\u00fchrung mit der Haut quer \u00fcber das Gesicht gegen die Mitte, so dass schliesslich die eine einen Punkt \u00fcber der Mitte der Oberlippe, die andere einen solchen \u00fcber der Unterlippe ber\u00fchrt, so scheint sich w\u00e4hrend der Bewegung der einfache Eindruck in einen doppelten zu spalten, und die beiden Eindr\u00fccke successiv weiter auseinander zu weichen, die Zirkelspitzen also scheinbar divergirende Bahnen zu beschreiben. Setzt man die Bewegung in gleicher Weise nach der anderen Seite fort, bis die Zirkelspitzen vor dem anderen Ohr anlangen, so scheint ihre Distanz sich wieder allm\u00e4lig zu verringern, bis endlich der Doppeleindruck wieder zu einem einfachen verschmilzt. Bei dieser Bewegung gehen die Spitzen von Stellen stumpfen Ortssinnes zu solchen von successiv feinerem Ortssinn \u00fcber, und gleiten jenseits der Mittellinie ebenso allm\u00e4lig \u00fcber Stellen von abnehmender Feinheit des Ortssinnes hinweg, woraus sich \u2018die oben ausgesprochene n\u00e4chste Deutung der Thatsache ergiebt. Dieselbe T\u00e4uschung kehrt an anderen Stellen des Tastorganes, welche gleiche Bedingungen darbieten, wieder; z. B. so scheinen die Zirkelspitzen, wenn wir sie quer in einer Distanz von 5'\" auf der Volarseite einer Fingerspite aufsetzen, und allm\u00e4lig gegen die Handwurzel verschieben, sich einander zu n\u00e4hern und endlich zu einer einfachen Spitze zu vereinigen.\nVon den nach Weber von anderen Experimentatoren ausgef\u00fchrten Bestimmungen der Feinheit des Ortssinnes stellen wir diejenigen Resultate kurz zusammen, welche als Argumente in der folgenden theoretischen Er\u00f6rterung von Belang sind.\nZun\u00e4chst erw\u00e4hnen wir eine Angabe Valentin\u2019s, nach welcher","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"Feinheit des Ortssinnes der Haut.\n381\ndieselben Hautstellen bei verschiedenen Personen sehr verschiedene (bis um das Vierfache differirende) Werthe der Kaumschwelle ergeben, w\u00e4hrend die relativen Werthe derselben f\u00fcr verschiedene Hautstellen ann\u00e4hernd gleich sich heraussteilen.\nVon h\u00f6chstem Interesse ist der von Volkmann 1 gelieferte Nachweis einer betr\u00e4chtlichen Verfeinerung des Ortssinnes durch Uebung. Nachdem bereits fr\u00fcher f\u00fcr einen solchen Einfluss der Uebung die Thatsache geltend gemacht war (Czermak1 2), dass Blinde, welche in Folge des Wegfalls des Kaumsinnes der Augen f\u00fcr die Wahrnehmung r\u00e4umlicher Verh\u00e4ltnisse ausschliesslich auf die Verwendung des Ortssinnes der Haut (in Verbindung mit dem Muskelsinn) angewiesen sind, einen so hohen Grad der Feinheit desselben erreichen, dass sie z. B. mit der tastenden Fingerspitze das Gepr\u00e4ge einer M\u00fcnze zu erkennen im Stande sind, ferner die Thatsache, I dass auch bei Sehenden, welche ihr Beruf zu einer regelm\u00e4ssigen Anwendung des Ortssinnes der Tastorgane n\u00f6thigt, derselbe sich aussergew\u00f6hnlich verfeinert, sodass z. B. ge\u00fcbte Schriftsetzer mit Leichtigkeit die Buchstabenform der Lettern durch ihn erkennen, hat Volkmann zuerst durch methodische Versuche, Gr\u00f6sse und Gang dieses Erfolgs der Uebung festgestellt. Wurde bei einer Person an 6 verschiedenen Hautstellen unmittelbar nacheinander der Werth der Raumschwelle bestimmt, und diese Versuchsreihe ohne Pausen (mit f alternirender Reihenfolge der Hautstellen) \u00f6fters wiederholt, so zeigte sich constant bei jeder neuen Reihe eine Verkleinerung jenes Werthes f\u00fcr jede Hautstelle, welche f\u00fcr eine Hautstelle unter Umst\u00e4nden im Verlauf von 7 Reihen also innerhalb weniger Stunden bis zur H\u00e4lfte der urspr\u00fcnglichen Gr\u00f6sse ging. Der Fortschritt war im Anfang ein langsamer, beschleunigte sich im Laufe der Uebung, um sich dann wieder bis zum Stillstand zu verlangsamen; an vorher schon durch den t\u00e4glichen Gebrauch ge\u00fcbten Hautstellen war der Erfolg von Anfang an ein - rascherer. Die durch einmalige Uebungsreihen erzielte Verfeinerung war jedoch keine bleibende, jede Pause der Nicht\u00fcbung erh\u00f6hte die Gr\u00f6sse der Raumschwelle wieder, um so mehr, je l\u00e4nger ihre Dauer ; nach monatelangen Pausen zeigte sich der Ortssinn wieder auf seinen urspr\u00fcnglichen Grad der Feinheit reducirt.\nEin \u00fcberraschendes Resultat der Beobachtungen Volkmann\u2019s ist, dass der Erfolg der an einer bestimmten Hautstelle einer Seite vorgenommenen Uebung auch der nicht direct ge\u00fcbten symmetrischen Hautstelle der an-\n1\tVolkmann, Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. 1858.\n2\tCzermak, Sitzgsber. d. Wiener Acad. 2. Abth. XVII. S.563; Molescb.Unters. I. S. 188-.","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382\nFunke, Tastsinn etc. 4. Cap. Der Ortssinn der Haut.\nderen Seite zu Gute kommt. Betrug z. B. zu Anfang einer Uebungs-periode die kleinste wahrnehmbare Distanz an einer linken Fingerspitze 0,75'\" und an der entsprechenden rechten Spitze 0,85'\", und wurde dieselbe durch eine ausschliessliche Uebung des linken Fingers auf 0,45\"' herabgesetzt, so zeigte sie sich auch am rechten Finger auf 0,4\"' gesunken. Diese Thatsache, deren n\u00e4chste Deutung sich auf die von vornherein \u00e4usserst wahrscheinliche nahe Verwandtschaft der die r\u00e4umliche Unterscheidung bedingenden Momente an symmetrischen Hautstellen gr\u00fcndet, findet ein interessantes Analogon in einer entsprechenden Mit\u00fcbung symmetrischer Muskeln, auf welche E. H. Weber aufmerksam gemacht hat. So ist z. B. die Uebung der rechten Handmuskeln, welche die Schreibbewegungen ausf\u00fchren, den correspondirenden Muskeln der linken Hand soweit zu Gute gekommen, dass dieselbe ziemlich correkt mit der rechten Hand mitzuschreiben vermag, aber nur in symmetrischen (von rechts nach links) nicht in congruenten Bewegungen.\nF\u00fcr die Erkl\u00e4rung der Differenzen des Ortssinnes schien es mir w\u00fcn-schenswerth zu pr\u00fcfen, wie weit eine Verfeinerung desselben durch Uebung auch an solchen Hautstellen, an welchen die Raumschwelle die h\u00f6chsten Werthe zeigt, und welche durch ihre Lage und Unbeweglichkeit von einer Uebung im t\u00e4glichen Gebrauch ausgeschlossen sind, zu erzielen sei. Ich habe daher an einer Person l\u00e4ngere Zeit hindurch t\u00e4gliche Uebuugs-reihen an der Haut des R\u00fcckens zwischen den Schulterbl\u00e4ttern und in der Lendengegend angestellt. Der Erfolg war ein weit geringerer und langsamerer als an den von Volkmann untersuchten Stellen. Im Laufe einer Reihe zeigte sich oft gar keine sichere oder nur eine sehr geringe Herabsetzung des Raumschwellenwerthes, und erst nach einem Monate zeigte sich derselbe um etwa ein Viertheil vermindert. Da ich die Versuche abzubrechen gen\u00f6thigt war, konnte ich nicht bestimmen, bei welchem Minimalwerth der Uebungserfolg seine Grenze erreichte. Dabei best\u00e4tigte sich die Beobachtung Weber\u2019s, dass in der Mittellinie des Rumpfes der Ortssinn nicht feiner, als in den seitlichen Partien derselben Region ist, d. h. dass die Mittellinie nicht eine scharfe Grenze rechts- und linksseitiger Ortsvorstellungen bildet, wie man bei der notorischen scharfen Sonderung der rechts- und linksseitigen Tastnervenbahnen erwarten sollte. Wurde z. B. beim Aufsetzen der Zirkelspitzen in einer Distanz von 20'\" rechts oder links von einem der unteren Brustwirbel ein einfacher Eindruck wahrgenommen, so entstand ein solcher auch, wenn die Spitzen bei gleicher Distanz symmetrisch zur Mittellinie aufgesetzt wurden. Der einfache Eindruck wurde in diesem Fall in der Mitte localisirt, um nach rechts oder links verlegt zu werden, sobald die Zirkelspitzen soweit nach rechts oder links verschoben wurden, dass der gr\u00f6ssere Theil ihrer Distanz auf die eine oder andere Seite des Rumpfes fiel.\nAusserordentlich sorgf\u00e4ltige umfassende Bestimmungen hat Vier-ordt mit seinen Sch\u00fclern Kottenkamp und Ullrich, Paulus, Riecker und Hartmann1 angestellt, um die gesetzm\u00e4ssige Abh\u00e4n-\n1 C. Vierordt, Arch. f. d. ges. Physiol. IL S. 297. 1869, Ztschr. f. Biologie VI. S. 53. 1870 ; Kottenkamp u. Ullrich, ebendas. S. 37 ; Paulus, ebendas. VIL S. 237.","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"Feinheit des Ortssinnes der Haut.\n383\ngigkeit der successiven Abstufung der Feinheit des Ortssinnes innerhalb bestimmter Abschnitte des Tastorgans von einem Moment, dessen Beziehung zum Raumsinn sich bereits aus den fr\u00fcheren von Weber und Valentin ermittelten Werth en zu ergeben schien, sicher zu erweisen. Nach Vierordt ist die relative Feinheit des Ortssinnes eines bestimmten Hautpunktes eines K\u00f6rpertheils im Verh\u00e4ltniss zum Ortssinn der \u00fcbrigen Punkte desselben Theils eine Function seiner Beweglichkeit, h\u00e4ngt ab von der relativen Gr\u00f6sse der Excursionen, welche er bei den Bewegungen des betreffenden Theils um die zugeh\u00f6rige Achse ausf\u00fchrt, w\u00e4chst also proportional mit seinem Abstand von der Drehachse. Dieses Ab-h\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltniss gestaltet sich einfach bei K\u00f6rpertheilen, welche immer als Ganzes um eine bestimmte Achse bewegt werden; es com-plicirt sich dagegen bei K\u00f6rpertheilen, welche einmal als Ganzes bewegt werden, zugleich aber aus Unterabtheilungen bestehen, von denen jede f\u00fcr sich um eine besondere Achse bewegt wird. Es complicirt sich ferner bei Theilen, welche in verschiedenem Sinne um verschiedene Achsen drehbar sind. In ersterem Fall wirkt auf den Feinheitswerth des Ortssinnes eines Hautpunktes ebensowohl sein Abstand von der Hauptachse des ganzen Gliedes als von der Specialachse der Abtheilung, welcher er angeh\u00f6rt, bestimmend ein; mit anderen Worten: es zeigt sich einmal eine successive Zunahme der Feinheit des Ortssinnes von der Hauptachse bis zum davon entferntesten Punkt des gesummten Gliedes, zweitens zeigt sich aber auch an jeder Abtheilung f\u00fcr sich ein dem Gesetz entsprechendes Wachsthum der Feinheit von der Sonderachse derselben bis zu ihrem entgegengesetzten Ende. Im zweiten Fall tritt eine Interferenz der verschiedenen Bewegungseinfl\u00fcsse auf den Ortssinn eines bestimmten Hautpunkts ein; die Feinheit desselben wird eine resultirende aus den Einzelwerthen, welche von den verschiedenen Bewegungen f\u00fcr sich bedingt sein w\u00fcrden. W\u00fcrde z. B. ein Glied ebenso oft und in ebenso grossen Excursionen um sein oberes wie um sein unteres Ende gedreht, so w\u00fcrde die eine Bewegung eine Zunahme der Feinheit des Ortssinnes von oben nach unten, die andere eine ebenso grosse von unten nach oben bedingen; beide Einfl\u00fcsse m\u00fcssten sich zu Null compen-siren, die Feinheit des Ortssinnes demnach in der ganzen L\u00e4nge des Gliedes gleich gross sein. In der That stimmen nun die factischen Abstufungen des Ortssinnes der einzelnen K\u00f6rperregionen, wie sie sich aus den Bestimmungen von Vierordt und seinen Sch\u00fclern ergeben,\n1871; Riecker, ebendas. IX. S. 95. 1873, X. S. 177. 1874; Hartmann, ebendas. XI. S. 79. 1875.","page":383},{"file":"p0384.txt","language":"de","ocr_de":"334\nFunke, Tastsinn etc. 4. Cap. Der Ortssinn der Haut.\nziemlich gut zu diesem Gesetz, lassen sich nach den er\u00f6rterten Gesichtspunkten ohne Zwang aus den thats\u00e4chlichen Bewegungsverh\u00e4ltnissen derselben ableiten. Nur in der N\u00e4he der Gelenke zeigen sich unbedeutende Spr\u00fcnge in den Ver\u00e4nderungen der Feinheit des Ortssinnes, welche aus anderen Momenten erkl\u00e4rt werden m\u00fcssen. Um die sehr verschiedene Geschwindigkeit, mit welcher an verschiedenen Gliedern oder verschiedenen Abtheilungen eines Gliedes die Feinheit des Ortssinnes mit gleichen Abst\u00e4nden von den Drehachsen zunimmt, erkl\u00e4ren zu k\u00f6nnen, ist es nothwendig, ausser der Excursionsweite der einzelnen Hautpunkte bei bestimmten Bewegungen auch der Geschwindigkeit und der H\u00e4ufigkeit mit welcher diese Bewegungen bei dem regelm\u00e4ssigen Gebrauch der Glieder ausgef\u00fchrt werden, einen bestimmenden Einfluss zuzuerkennen.\nOhne uns hier schon auf eine n\u00e4here Deutung des Vierordt-schen Gesetzes einzulassen, bemerken wir nur, dass es naheliegt, das Moment, welches dem darin ausgesprochenen Einfluss der Beweglichkeit zu Grunde liegt, in der Uebung zu suchen, die Verfeinerung des Ortssinnes mit der an Umfang und H\u00e4ufigkeit zunehmenden Betheiligung der Hautpunkte an den activen Bewegungen der K\u00f6rpertheile theils auf die Erfolge individueller Uebung, theils auf einen durch Vererbung aufgespeicherten Gewinn der Uebung fortlaufender Generationen zur\u00fcckzuf\u00fchren.\nZur n\u00e4heren Beleuchtung des Gesetzes und als Belege seiner Bew\u00e4hrung stellen wir kurz die wichtigsten Ergebnisse der von Vierordt und seinen Sch\u00fclern ausgef\u00fchrten Bestimmungen zusammen.\nAm Arme ergab sich, seiner Drehung als Ganzes im Schultergelenk entsprechend, eine ununterbrochene Zunahme der Feinheit des Ortssinnes vom Acromion bis zu den Fingerspitzen, aber mit sehr verschiedener Geschwindigkeit in den einzelnen Abtheilungen. Setzt man den am Acromion gefundenen Ortssinneswerth = 100, so w\u00e4chst er bis zur Volarseite der Fingerspitze bis auf 2582. Das Wachsthum ist ein sehr geringes am Oberarm (auf 151), rascher am Unterarm (auf 272), noch rascher an der Hand (auf 659), und am raschesten an den Fingern (auf 2582 am 2.\u20145. Finger, auf 2417 am Daumen). Betrachtet man nach Vierordt die vergleichbaren Werthe an jeder einzelnen Abtheilung als Summen zweier Gr\u00f6ssen, einer constanten unmittelbar an der Gelenkachse rein hervortretenden und einer dazu sich addirenden variabeln Gr\u00f6sse, welche den Abst\u00e4nden von der Gelenkachse proportional ist, so ergiebt sich in Betreff der letzteren Gr\u00f6ssen, dass in gleichen Abst\u00e4nden von den betreffenden Achsen sich die Feinheitszuwiichse an Oberam, Unterarm, Hand und Fingern wie 1 : 3,5 : 29 : 160 verhalten. Auch an den Fingern selbst ist die Geschwindigkeit des Wachsthums an den einzelnen Phalangen nicht gleich gross, am gr\u00f6ssten an der dritten. Die Momente, aus welchen sich diese Verschiedenheiten erkl\u00e4ren, ergeben sich von selbst aus den","page":384},{"file":"p0385.txt","language":"de","ocr_de":"Feinheit des Ortssinnes der Haut.\n385\noben er\u00f6rterten Gesichtspunkten. Die gr\u00f6ssere Feinheit des Ortssinnes in der Querrichtung gegen\u00fcber der L\u00e4ngsrichtung, welche bereits Weber constatirt hatte, best\u00e4tigte sich ; die Unterschiede waren auffallender fcan der Dorsalseite als an der Volarseite. Nach Vierordt\u2019s Gesetz steht zu erwarten, dass auch die verschiedene Beweglichkeit der einzelnen Hautpunkte bei den Rotationen der einzelnen Armabtheilungen um L\u00e4ngsachsen von Einfluss auf den Ortssinn ist, dass demnach in gleichen Abst\u00e4nden von den Gelenken die verschiedenen Punkte der Peripherie einer Abtheilung je nach ihren gr\u00f6sseren oder kleineren Excursionen Differenzen des Ortssinneswerthes zeigen werden. Von Vierordt und seinen Sch\u00fclern ist diese auf das Gesetz begr\u00fcndete Voraussetzung nicht ber\u00fccksichtigt worden. M\u00f6glicherweise sind im Sinne derselben die Verschiedenheiten der Ortssinneswerthe zu deuten, welche Klug1 auf gleichen H\u00f6hen der einzelnen Abtheilungen an der Radial- und Ulnarseite und der Mitte der Volar- und Dorsalseite fand, z. B. die gr\u00f6ssere Feinheit des Ortsinnes in der Gegend des Handgelenks an der Radialseite als an der Ulnarseite.\nAn den unteren Extremit\u00e4ten ergaben die Bestimmungen von Paulus und Riecker im Allgemeinen eine Zunahme der Feinheit des Ortssinnes vom H\u00fcftgelenk gegen die Zehenspitzen zu, jedoch mit dem Unterschied, dass dieselbe erstens nicht so betr\u00e4chtlich wie am Arm sich ergab (nur von 100 auf 850) und zweitens, dass sie keine stetige ist. Erstere Abweichung erkl\u00e4rt sich aus dem geringeren Umfang, der geringeren Geschwindigkeit und H\u00e4ufigkeit der Bewegungen der Beine und ihrer Abtheilungen (vor allen der Zehen); aber auch die zweite ist im Einklang mit dem Gesetz. W\u00e4hrend am Oberschenkel die Feinheit des Ortssinnes stetig wenn auch langsam (nur in der N\u00e4he des Kniees etwas rascher) vom H\u00fcftgelenk gegen das Kniegelenk ansteigt, proportional den Abst\u00e4nden von der Achse der h\u00e4ufigsten Oberschenkelbewegungen (d. h. Streckung und Beugung, Ab- und Adduction) im H\u00fcftgelenk, w\u00e4hrend ebenso am Fussr\u00fccken und den Zehen die Ortsempfindlichkeit stetig mit dem Abstand von den oberen Gelenkenden stieg, am raschesten an Zehen, fand Paulus am Unterschenkel in der Richtung von oben nach unten anfangs ein Sinken der Ortsempfindlichkeit bis gegen die Mitte, und von da an wieder ein Ansteigen bis auf den am Knie gefundenen Werth, Riecker dagegen im ganzen Verlauf des Unterschenkels nahezu dieselbe Feinheit des Ortssinnes. Nehmen wir letzteres Verhalten als das normale an, so erkl\u00e4rt sich dasselbe aus der oben besprochenen Compensation zweier entgegengesetzter, nahezu gleich grosser Bewegungseinfl\u00fcsse. Bei allen Beugungs- und Streckungsbewegungen des Unterschenkels im Kniegelenk gegen den fixirten Oberschenkel nimmt die Gr\u00f6sse der Excursion der einzelnen Theile vom Knie nach dem Fussgelenk zu, fordert also nach dem Gesetz Zunahme der Ortsempfindlichkeit in der gleichen Richtung. Bei allen Bewegungen dagegen, bei welchen der Unterschenkel um die Achse des Fussgelenks oder eine durch die Basen der Zehen gehende Achse rotirt, wie dies regelm\u00e4ssig beim Gehen geschieht, w\u00e4hrend der Rumpf durch eine solche Drehung des st\u00fctzenden Beines vorw\u00e4rts bewegt wird, nehmen umgekehrt die Excursionen der Unterschenkeltheile von\n1 F. Klug, Arch. f. Physiol, von E. du Bois-Reymond, S. 275. 1877. Handbuch der Physiologie. Bd. lila.\t25","page":385},{"file":"p0386.txt","language":"de","ocr_de":"386\nFunke, Tastsinn etc. 4. Cap. Der Ortssinn der Haut.\nunten nach oben zu und bedingen demnach an sich eine vom Fuss gegen das Knie hin wachsende Verfeinerung des Ortssinnes. Aus der Compensation dieser beiden entgegengesetzten Einfl\u00fcsse muss bei gleicher M\u00e4chtigkeit derselben Gleichheit der Feinheit des Ortssinnes in der ganzen L\u00e4nge des Unterschenkels resultiren.\nAm Kopf gestalten sich in Folge der Mannigfaltigkeit seiner selbst\u00e4ndigen und mit anderen K\u00f6rperabschnitten gemeinsamen Bewegungen und der entsprechenden grossen Zahl der verschieden gerichteten zum Theil sehr weit von einander entfernten Achsen die Verh\u00e4ltnisse, welche im Sinne des ViERORDT\u2019schen Gesetzes in Betracht kommen, ausserordentlich complicirt, die Einfl\u00fcsse der verschiedenen Bewegungen auf die Feinheit des Raumsinnes eines bestimmten Punktes der Kopfhaut so verschieden gross und so mannigfach interferirend, dass die strenge Ableitung der factischen Werthe des Ortssinnes der Kopfhaut aus dem Gesetz zu einem sehr verwickelten Problem wird. Wir erinnern nur daran, dass der Kopf nicht allein selbst\u00e4ndig um horizontale an der Basis des Hinterhaupts oder in der Halswirbels\u00e4ule gelegene Achsen gebeugt und gestreckt, und um eine durch den Zahnfortsatz des zweiten Halswirbels gehende Verticalachse gedreht, sondern auch zugleich mit dem Rumpf gegen die Beine, oder mit dem ganzen K\u00f6rper gegen die F\u00fcsse in verschiedenen Richtungen und Umfang bewegt wird. Trotzdem hat Riecker die Bew\u00e4hrung des Gesetzes auch f\u00fcr die Kopfhaut im Allgemeinen de-monstrirt, die geringen Unterschiede der Feinheit des Ortssinnes an allen nicht selbstbeweglichen Kopftheilen (die h\u00f6chsten und die niedrigsten Werthe verhalten sich nur wie 1 : 1,6) aus der Compensation der verschiedenen Bewegungseinfl\u00fcsse erkl\u00e4rt. So folgt z. B. aus dem Gesetz die stetige Zunahme der Ortsempfindlichkeit der Wangenhaut vom Ohr gegen die Lippen hin, wie sie in dem oben beschriebenen WEBER\u2019schen Versuch sich zeigt. Ebenso erkl\u00e4ren sich aus dem Gesetz die gr\u00f6sseren Differenzen, welche die f\u00fcr sich beweglichen Theile, wie Lippen und Zunge zeigen; es kommt rein zur Erscheinung in der schon von Weber constatirten stetigen raschen Abstumpfung des Ortssinnes der Zunge von der Spitze gegen die Basis hin. In Betreff der Details dieser Verh\u00e4ltnisse wie auch derjenigen, welche den Ortssinn der Rumpfhaut und seine Beziehungen zum ViERORDT\u2019schen Gesetz betreffen, m\u00fcssen wir auf die citirten Specialarbeiten verweisen.\nAus den Beobachtungen, welche \u00fcber Ver\u00e4nderungen der Feinheit des Ortssinnes einer bestimmten Hautstelle unter dem Einfluss verschiedener Bedingungen (ausser dem bereits besprochenen Uebungseinfluss) gemacht worden sind, heben wir folgende hervor.\nLichtenfels1 2 fand betr\u00e4chtliche Abstumpfung des Ortssinnes in Folge der Einwirkung narkotischer Gifte auf die Centralorgane, so beim Erwachen aus der Chloroformnarkose, nach Einnahme von Alkohol, Morphium oder Atropin.\nBrown-S\u00e9quard 2 fand in einem Fall, in welchem eine betr\u00e4chtliche Hyper\u00e4sthesie der Fusshaut f\u00fcr die Schmerzenseindr\u00fccke wie f\u00fcr Tem-\n1\tLichtenfels, Sitzgsber. d. Wiener Acad. 2. Abth. XVI. S. 3.\n2\tBrown-SRquard, Journ. d. Physiol. I. p. 344. 1858.","page":386},{"file":"p0387.txt","language":"de","ocr_de":"Theorie des Ortssinnes der Haut.\n387\nperaturreize vorhanden war, eine enorme Verfeinerung des Raumsinnes, eine Herabsetzung des Ranmschwellenwerthes, welchen er im Normalzustand zu 24\u201428 Mm. annimmt auf 5 Mm.\nSuslowa 1 beobachtete Herabsetzung der Ortsempfindlichkeit, wenn die zwischen den Zirkelspitzen befindliche Hautpartie durch Inductions-str\u00f6me oder durch leichte mechanische Reize (Bestreichen mit einem Pinsel) gereizt wurde. Bei Durchleitung constanter Str\u00f6me durch die Haut zeigt sich der Raumsinn in der Umgebung der Kathode erh\u00f6ht, an der Anode herabgesetzt. Ferner beobachtete sie Verfeinerung des Ortssinnes, wenn die Haut in indifferente Fl\u00fcssigkeiten (Wasser, Oel) von der Temperatur der Haut eingetaucht wurde.\nAlsberg1 2 fand sowohl bei Hyper\u00e4mie als bei An\u00e4mie der Haut Verminderung der Feinheit ihres Raumsinnes.\nIII. Theorie des Ortssinnes der Haut.\nSoweit die Thatsachen, und nun zu ihrer Erkl\u00e4rung, zur Beantwortung der Fragen: Wie kommt \u00fcberhaupt eine Raumvorstellung zu Stande, welche mit unfehlbarer Nothwendigkeit an jede durch Reizung einer Tastnervenfaser erzeugte Druck- oder Temperaturempfindung sich anschliessend, der Seele die Kenntniss vom gereizten Ort verschafft? Welches sind die Bedingungen der Verschiedenheiten dieser Raumvorstellungen, auf denen die Unterscheidung der verschiedenen Reizorte, die Erkenntniss ihrer relativen Lage und Entfernungen beruht, deren Gesammtheit dem r\u00e4umlichen Vorstellungsbild unserer Leibesoberfl\u00e4che zu Grunde liegt? Welches sind die Momente, von denen die factische Verschiedenheit der Feinheit der Unterscheidung der Reizorte an verschiedenen Hautstellen abh\u00e4ngt? Es liegt auf der Hand, dass diese Fragen Probleme enthalten, deren L\u00f6sung durchaus nicht ausschliessliche Aufgabe der Physiologie des Tastsinnes ist, sondern auf welche eine einheitliche, in ihren Grundz\u00fcgen f\u00fcr alle Sinne, in deren Gebiet r\u00e4umliche Wahrnehmungen auftreten, g\u00fcltige Antwort zu suchen ist, dass der Ursprung der Raumvorstellungen, welche sich mit den Lichtempfindungen ' associiren, auf dieselben Grundprincipien zur\u00fcckgef\u00fchrt werden muss, welche f\u00fcr den Raumsinn des Tastorganes gelten, wenn auch die Art der Reali-sirung dieser Principien in verschiedenen Sinnessph\u00e4ren eine verschiedene ist. Der Raumsinn der Haut und derjenige der Netzhaut sind daher nur zwei verschiedene Aeusserungsarten eines allgemeinen Raumsinnes. Wenn daher eine allgemeine Raumsinneslehre ihre thats\u00e4chlichen Unterlagen sowohl, als das Material ihrer Argumen-\n1\tN. Suslowa, Ztschr. f. rat. Med. (3) XVII. S. 155. 1863.\n2\tAlsberg, Unters, \u00fcber den Raum- u. Temperatursinn. Inaug.-Diss. Marburg 1863; Centralbl. f. d. med. Wiss. 1864. S. 66.","page":387},{"file":"p0388.txt","language":"de","ocr_de":"338\nFunke, Tastsinn etc. 4. Cap. Der Ortssinn der Haut.\ntationen gleickm\u00e4ssig in den verschiedenen Sondergebieten der spe-ciellen Sinne, welche r\u00e4umliche Wahrnehmungen liefern, aufzusuchen hat, muss andererseits die specielle Theorie des Ortssinnes der Haut nothwendig auf den allgemeinen Principien aufgebaut, und kann eine eingehende kritische Er\u00f6rterung derselben um so weniger bei ihrer Darstellung umgangen werden, als dieses ihr Fundament durchaus nicht sicher festgestellt ist, sondern von Seiten der Philosophie wie der Physiologie die widersprechendsten Gestaltungen erhalten hat, die sich heute noch in unentschiedenem Kampfe schroff gegenttber-stehen. Wir k\u00f6nnen uns demnach trotz der uns gebotenen K\u00fcrze der Forderung solcher Ausblicke in die allgemeine Raumsinneslehre unm\u00f6glich entziehen, obwohl wir dabei Gefahr laufen, Er\u00f6rterungen, die nothwendig bereits in der Lehre vom Raumsinn des Auges Platz gefunden haben, zu wiederholen, m\u00f6glicherweise sogar im Conflict mit den dort vertretenen Anschauungen.\nEinen festen Ausgangspunkt der Theorie des Raumsinnes der Haut (wie des Auges) bietet meines Erachtens eine von E. H. Weber zun\u00e4chst zur Erkl\u00e4rung der endlichen Begrenzung der Feinheit des Ortssinnes und ihre thats\u00e4chlichen Verschiedenheiten an verschiedenen Stellen des Tastorgans aufgestellte Hypothese, d. i. die Hypothese von anatomisch gegebenen \u201eEmpfindungskreisen\u201c, eine Hypothese, welche, von Weber folgerichtig aus unbestreitbaren Pr\u00e4missen abgeleitet und mit den Tliatsachen in vollen Einklang gebracht, trotzdem von verschiedenen Seiten zum Theil auf Grund von Missverst\u00e4ndnissen bek\u00e4mpft und verworfen worden ist, welche aber nach meiner festen Ueberzeugung heute noch unersch\u00fcttert feststeht und von keiner Seite durch eine besser begr\u00fcndete hat ersetzt werden k\u00f6nnen. Der unanfechtbare Vordersatz, von welchem Weber ausgeht, lautet, dass eine und dieselbe Nervenfaser, wenn sie gleichzeitig von mehreren gesonderten Reizen von verschiedenen Orten aus in Erregung versetzt wird, unter allen Umst\u00e4nden nur eine in jeder Beziehung einfache Empfindung, nicht mehrere gleichzeitige discrete Empfindungen, an welche sich verschiedene Orts Vorstellungen ankn\u00fcpfen k\u00f6nnen, hervorzubringen vermag, gerade so, wie ein und derselbe Telegraphendraht nicht zwei oder mehrere Str\u00f6me, welche ihm gleichzeitig zugef\u00fchrt werden, gesondert zu leiten und in gesonderte Depeschen umsetzen kann. Allerdings hat Volkmann wiederholt gegen die G\u00fcltigkeit dieses Satzes Einsprache erhoben und aus dem thats\u00e4chlichen Verhalten des Raumsinnes der Netzhaut den Beweis zu f\u00fchren gesucht, dass in einer Nervenfaser mehrere gleichzeitige Erregungen gesondert nebeneinander herzulaufen verm\u00f6gen,","page":388},{"file":"p0389.txt","language":"de","ocr_de":"Theorie des Ortssinnes der Haut.\n389\nallein ich glaube, alle seine angeblichen Beweise sind so gr\u00fcndlich und schlagend als irrig widerlegt, dass wir von einer Verth eidigung des WEBEn\u2019schen Vordersatzes gegen dieselben absehen d\u00fcrfen. Aus diesem Satz folgt, dass eine Hautprovinz, welche ihre Empfindlichkeit einer einzigen in ihrem Rayon mit einfachen oder mehrfachen Enden endigenden Nervenfaser verdankt, niemals zwei gleichzeitige in ihren Bereich auftreffende Eindr\u00fccke zur gesonderten Wahrnehmung mit Beziehung auf zwei gesonderte Reizorte bringen kann, sondern stets zu einem einfachen Eindruck mit einfacher Ortsvorstellung verschmelzen muss. Eine solche als Endgebiet je einer Tastnervenfaser anatomisch defini rte Hau tab t h eilung nennt Weber einen Empfindungskreis, und betrachtet daher die gesammte Hautoberfl\u00e4che als eine continuirliche Mosaik solcher stehender Empfindungskreise von verschiedenem Durchmesser je nach dem Umfang des jeder Nervenfaser zugewiesenen Weichbildes, von kleinerem Durchmesser daher an nervenreichen Hautpartien, als an solchen, welche sp\u00e4rlicher, in gr\u00f6sseren Abst\u00e4nden von Nervenfasern beschickt werden. Diese anatomische Gliederung des Tastorgans bildet die Grundlage einer entsprechenden psychischen Gliederung der von ihm vermittelten Raum Vorstellung in einzelne Elemente; mit den Grenzen der anatomischen Zerkl\u00fcftung sind die letzten m\u00f6glichen Grenzen der r\u00e4umlichen Sonderung fest gegeben. Jeder anatomische Empfindungskreis repr\u00e4sentirt ein physiologisches Element f\u00fcr den Raumsinn; jedem derselben entspricht je eines der kleinsten, nicht weiter theilbaren Raum Vorstellungselemente, welche in ihrer Gesammtheit, wiederum nach Art einer Mosaik, das Raumvorstellungsbild unserer Tastoberfl\u00e4che zusammensetzen. Mit anderen Worten: Alle Druck- und Temperaturempfindungen, welche durch irgend welche Reizung der Haut innerhalb des Rayons eines Empfindungskreises, also durch Reizung einer bestimmten Nervenfaser erzeugt werden, verkn\u00fcpfen sich im Senso-rium mit einer ganz bestimmten Ortsvorstellung von bestimmtem \u2014 wie wir es einstweilen kurz ausdr\u00fccken wollen \u2014 Raumwerth, welcher genau derselbe ist, mag der Reiz in der Mitte oder irgend wie am Rande den Empfindungskreis treffen, mag er seinen ganzen Umfang oder nur einen Theil desselben einnehmen, mag er einfach oder in eine beliebige Anzahl getrennter, verschiedene einzelne Punkte des Kreises treffender Einzelreize gespalten sein. Die Ortsvorstellung, welche zu jedem einzelnen Empfindungskreis geh\u00f6rt, ist verschieden von derjenigen, die zu jedem beliebigen anderen Empfindungskreis geh\u00f6rt. Wir stellen dieses Yerh\u00e4ltniss zwischen Ortsvorstellungen und","page":389},{"file":"p0390.txt","language":"de","ocr_de":"390\nFunke, Tastsinn etc. 4. Cap. Der Ortssinn der Haut.\nden anatomischen Elementen der Hautmosaik einstweilen als sichere Thatsache hin und verschieben auf sp\u00e4tere Er\u00f6rterungen die schwierige Frage, wie die Verkn\u00fcpfung einer bestimmten Ortsvorstellung mit den von einem bestimmten Empfindungskreis aus erweckten Tastempfindungen zu Stande kommt und welche Momente die Verschiedenheiten der Raumwerthe die zu verschiedenen Empfindungskreisen geh\u00f6ren, bedingen. In letzterer Beziehung bemerken wir nur, dass die Gesammtheit der verschiedenen elementaren Ortsvorstellungen ein regelm\u00e4ssig abgestuftes System bilden muss, dass die Differenzen ihrer Raumwerthe insofern in einer ganz bestimmten Relation zu den r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnissen der Hautmosaik stehen m\u00fcssen, als die Differenz der ersteren in quantitativer Beziehung um so betr\u00e4chtlicher sein muss, je weiter von einander entfernt die Felder der Hautmosaik, zu denen sie geh\u00f6ren, die Ortsvorstellung eines Empfindungskreises die gr\u00f6sste Aehnlichkeit mit derjenigen eines unmittelbar angrenzenden Nachbars zeigen, in einem mit der Distanz proportional wachsenden Grade aber sich von den Ortsvorstellungen der in einer bestimmten Richtung weiter und weiter entfernten Empfindungskreise unterscheiden muss, als ferner auch in qualitativer Beziehung die Differenzen anderer Art sein m\u00fcssen zwischen den Ortsvorstellungen zweier Empfindungskreise von bestimmter Distanz je nachdem die Verbindungslinie derselben in der Queroder L\u00e4ngsrichtung des K\u00f6rpers liegt. Nur so l\u00e4sst sich die weitgehende Congruenz der vorgestellten Orte der Empfindung mit den wirklichen Reizorten erkl\u00e4ren.\nUnter diesen Voraussetzungen nun lassen sich nach Weber\u2019s Theorie die thats\u00e4chlichen Verh\u00e4ltnisse des Ortssinnes der Haut vollst\u00e4ndig und zwanglos in folgender Weise deuten. Selbstverst\u00e4ndlich werden je zwei oder mehrere gleichzeitige Eindr\u00fccke, welche innerhalb eines und desselben Kreises auftreffen zu einem einfachen verschmolzen, welchen die Seele in das jenem Kreise entsprechende Feldchen der Vorstellungsmosaik der Hautfl\u00e4che eintr\u00e4gt. Treffen zwei gleichzeitige Eindr\u00fccke verschiedene Empfindungskreise, so werden allerdings jedesmal zwei gesonderte Erregungen dem Hirn zu-fliessen und daselbst auch ihre verschiedenen Ortsmarken aufgepr\u00e4gt erhalten, eine Unterscheidung und r\u00e4umliche Auseinanderhaltung der beiden Eindr\u00fccke wird aber nur dann eintreten, wenn die Seele die Differenz der begleitenden Raumwerthe zu erkennen vermag, also entweder die Differenz eine hinreichend grosse ist, um sich der Wahrnehmung aufzudr\u00e4ngen, oder das Auffassungsverm\u00f6gen der Seele auch f\u00fcr geringe Differenzen durch Uebung hinreichend verfeinert ist. Treffen","page":390},{"file":"p0391.txt","language":"de","ocr_de":"Theorie des Ortssinnes der Haut.\n391\nzwei Eindr\u00fccke zwei benachbarte Empfindungskreise, so wird vielleicht nirgends oder h\u00f6chstens an der Fingerspitze des Blinden, bei welchem durch Uebung das Auffassungsverm\u00f6gen f\u00fcr die Differenzen der Raumwerthe bis zur \u00e4ussersten Grenze versch\u00e4rft ist, eine Doppelempfindung ins Bewusstsein treten. An den meisten Hautstellen und bei gew\u00f6hnlichem Ausbildungsgrad des Auffassungsverm\u00f6gens dagegen wird eine Spaltung in eine Doppelempfindung erst eintre-ten, wenn die getroffenen Empfindungskreise, durch eine kleinere oder gr\u00f6ssere Anzahl nicht ber\u00fchrter von einander getrennt, soweit auseinanderliegen, dass die Differenz der zugeh\u00f6rigen Raumwerthe eine mehr weniger hoch \u00fcber dem Minimum gelegene Gr\u00f6sse erreicht, welche dann den Schwellenwerth f\u00fcr das Auffassungsverm\u00f6gen darstellt. Mit der an dieser Schwelle eintretenden Duplicit\u00e4t der Empfindung ist aber zun\u00e4chst noch nicht die Sonderung in zwei getrennte Eilidr\u00fccke, die Wahrnehmung einer L\u00fccke zwischen ihnen gegeben. Die eben eintretende Merklichkeit der Differenz der den Sondereindr\u00fccken anhaftenden Raumwerthe wird die Seele zun\u00e4chst nur veranlassen, die betreffenden Eindr\u00fccke nebeneinanderzusetzen, zwTei unmittelbar aneinanderstossende Felder der Vorstellungsmosaik mit ihnen auszuf\u00fcllen, mithin eine Verbreiterung (oder Verl\u00e4ngerung) des einfachen Eindrucks wahrzunehmen. Damit eine Aufl\u00f6sung in zwei getrennte Eindr\u00fccke, die Wahrnehmung einer L\u00fccke, einer Distanz zwischen ihnen eintrete, m\u00fcssen die Reizorte noch weiter aus-einanderr\u00fccken, noch eine gr\u00f6ssere Anzahl nicht ber\u00fchrter Empfindungskreise zwischen die ber\u00fchrten eingeschaltet werden. Weber selbst hat diese Bedingung der Distanzwahrnehmung folgendermaassen formulirt : \u201e damit zwei gleichzeitig auf die Haut gemachte Eindr\u00fccke \u00f6rtlich als zwei in einem gewissen Abstand von einander liegende Eindr\u00fccke unterschieden werden k\u00f6nnen, scheint erforderlich zu sein, dass die Eindr\u00fccke nicht nur auf zwei verschiedene Empfindungskreise gemacht werden, sondern auch, dass zwischen diesen noch ein Empfindungskreis, oder mehrere Empfindungskreise liegen, auf welche kein Eindruck gemacht wird.11 Wir m\u00f6chten die Bedingung genauer pr\u00e4cisirt durch den Satz ausdr\u00fccken, dass die Zahl der zwischen den ber\u00fchrten liegenden freien Empfindungskreise in jedem Fall so gross werden muss, dass nicht allein die Differenz der Raumwerthe der ber\u00fchrten Kreise die zur Erkennung noth wendige Gr\u00f6sse erreicht, sondern dass auch zwischen denselben auffassbare, den Zwischenkreisen zugeh\u00f6rige Zwischenstufen der Raumwerthe liegen, welche, der Seele als Glieder der successiv abgestuften Reihe bekannt, von ihr vermisst werden k\u00f6nnen und so das Motiv","page":391},{"file":"p0392.txt","language":"de","ocr_de":"392\nFunke, Tastsinn etc. 4. Cap. Der Ortssinn der Haut.\nzur Leerlassung eines oder mehrerer Vorstellungsfelder zwischen den ausgef\u00fcllten bilden. Nur in den seltenen F\u00e4llen, wo die Seele gelernt hat, die minimale Differenz der Raumwerth e zweier aneinandergrenzender Emptindungskreise aufzufassen, kann ein freier Kreis zur Wahrnehmung einer L\u00fccke gen\u00fcgen, in allen anderen F\u00e4llen, unter gew\u00f6hnlichen Verh\u00e4ltnissen auf der ganzen Hautoberfl\u00e4che, sind dazu mehrere erforderlich, an manchen Stellen, wie der durch Lage und Unbeweglichkeit von jeder activen Uebung ausgeschlossenen R\u00fcckenhaut, eine sehr grosse Anzahl. Wie einfach erkl\u00e4rt diese Anschauung die Verfeinerung des Ortssinnes durch Uebung! Es ist dieselbe ein Analogon der in allen Sinnesgebieten bew\u00e4hrten Verfeinerung des Auffassungsverm\u00f6gens f\u00fcr Qualit\u00e4tsdifferenzen z. B. Farbenn\u00fcancen, Tonh\u00f6hen, durch Uebung. Wie bei dem Musiker sich das Unterscheidungsverm\u00f6gen von Tonh\u00f6hen bis zu einer ebenfalls durch anatomische Verh\u00e4ltnisse abgesteckten Grenze, d. h. bis zu derjenigen H\u00f6hendifferenz, welche dem Stimmungsunterschied zweier benachbarter CoRTi\u2019scher Z\u00e4hne entspricht, versch\u00e4rfen kann, so kann hier das Auffassungsverm\u00f6gen bis zu dem durch die anatomische Abgrenzung der Empfindungskreise gegebenen Extrem, d. i. bis zum Erkennen des Raumwerthsunterschiedes zweier benachbarter Kreise verfeinert werden. Daraus erkl\u00e4rt sich nicht allein die Verfeinerung des Ortssinnes an einer bestimmten Hautprovinz durch Uebung, wie sie aus Volkmann\u2019s Versuchen sich ergiebt, sondern auch die gr\u00f6ssere Feinheit an allen Theilen, welche durch Lage und Beweglichkeit zu activen Tastoperationen am geeignetsten sind und zu solchen am h\u00e4ufigsten gebraucht werden; daraus erkl\u00e4rt sich auch die in Vier-ordt\u2019s Gesetz ausgedr\u00fcckte Zunahme der Feinheit der verschiedenen Hautpunkte eines Gliedes mit dem Abstand von der Drehungsachse, d. i. mit dem Umfang der Excursionen, welche ein Pu\u00fckt bei den Bewegungen* des Gliedes ausf\u00fchrt, denn, je beweglicher ein Theil, desto mehr ist ihm Gelegenheit zur Ber\u00fchrung mit Aussendingen (oder anderen Theilen des Tastorgans), und somit der Seele Veranlassung gegeben, ihre Aufmerksamkeit den von ihm ausgehenden Ortsvorstellungen und deren successiven Ver\u00e4nderungen bei der Wanderung der Eindr\u00fccke auf der bewegten Fl\u00e4che zuzuwenden.\nAus vorstehender Er\u00f6rterung ergiebt sich die wichtige Folgerung, dass die kleinste wahrnehmbare D istanz durchaus nicht ein directes Maass f\u00fcr den Durchmesser der Empfindungskreise ist. Allerdings kann man auch das durch die kleinste wahrnehmbare Distanz umschriebene Hautgebiet als eine elementare Gr\u00f6sse, als eine physiologische Einheit f\u00fcr den Raumsinn auffassen","page":392},{"file":"p0393.txt","language":"de","ocr_de":"Theorie des Ortsinnes der Haut.\n393\nund mit dem an sich sehr unbestimmten Ausdruck eines Empfindungskreises bezeichnen. Dann muss man aber diesen Begriff eines physiologischen Empfindungskreises streng von demjenigen eines anatomischen Empfindungskreises, wie ihn Weber definirt hat, auseinanderhalten und darf beide nicht schlechthin iden-tificiren. Beide stellen nur in dem seltenen Fall identische Gr\u00f6ssen dar, wo thats\u00e4chlich ein freier anatomischer Empfindungskreis zwischen zwei ber\u00fchrten zur Wahrnehmung einer L\u00fccke gen\u00fcgt, in der Regel umfasst ein physiologischer Empfindungskreis mehrere, oft sehr viele anatomische, und es ist daher durchaus unstatthaft aus dem betr\u00e4chtlichen Durchmesser des physiologischen Empfindungskreises an Gegenden stumpfen Ortssinnes ohne Weiteres auf einen entsprechenden Umfang des anatomischen Empfindungskreises zu schliessen, am R\u00fccken etwa dem Versorgungsgebiet einer Nervenfaser einen Durchmesser von SO'\" zu vindiciren. W\u00e4re letzteres der Fall, so w\u00fcrden wir wahrscheinlich am R\u00fccken die Ber\u00fchrung mit einer Zirkelspitze nicht als einen punktf\u00f6rmigen Eindruck empfinden, sondern als den Eindruck einer kleinen Scheibe, d. h. wir w\u00fcrden ein dem Durchmesser des Kreises entsprechend grosses Feldchen der Vorstellungsmosaik damit ausf\u00fcllen, was nicht der Fall ist. Die Differenzen der Feinheit des Ortssinnes, wie sie sich empirisch aus den kleinsten wahrnehmbaren Distanzen der Zirkelspitzen ergeben, beruhen nur zum geringsten Theil auf Differenzen der Gr\u00f6sse, mehr weniger ausschliesslich auf Differenzen der Zahl der anatomischen Empfindungskreise, welche in je einem physiologischen aufgehen. Diese Zahl wird durch psychische Verh\u00e4ltnisse, durch die wandelbare Sch\u00e4rfe des Auffassungsverm\u00f6gens der Seele in der er\u00f6rterten Weise bestimmt; Verschiedenheiten dieses Verm\u00f6gens aber k\u00f6nnen theils durch verschiedene Grade der Uebung, theils auch durch verschiedene Feinheit der Abstufung der Raumwerthe von Empfindungskreis zu Empfindungskreis bedingt sein. Die physiologischen Empfindungskreise sind demnach variable z. B. durch Uebung ver\u00e4nderliche Gr\u00f6ssen, die anatomischen dagegen absolut unver\u00e4nderliche, physisch gegebene Gr\u00f6ssen. Auf einer Verwechselung oder f\u00e4lschlichen Identificirung beider Begriffe beruhen die meisten Angriffe, welche gegen Weber\u2019s Lehre gef\u00fchrt worden sind, und Weber selbst hat denselben gewissermaassen Vorschub geleistet, indem er selbst beide nicht immer streng genug auseinander gehalten hat. Er selbst *, obwohl er sich ausdr\u00fccklich dagegen verwahrt,\n1 Yergl. bes. Weber\u2019s eigene Vertheidigung seiner Lehre in dem Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. 1852. S. 85.","page":393},{"file":"p0394.txt","language":"de","ocr_de":"394\nFunke, Tastsinn etc. 4. Cap. Der Ortssinn der Haut.\ndass er das Einfacliftililen zweier Eindr\u00fccke als sicheres Kriterium der Versorgung der beiden getroffenen Punkte durch dieselbe Nervenfaser betrachte, obwohl er ausdr\u00fccklich ausspricht, dass zur Wahrnehmung einer Distanz wahrscheinlich mehrere freie Empfindungskreise erforderlich seien, betrachtet doch immer die kleinste wahrnehmbare Distanz als ein Maass wenigstens der relativen Gr\u00f6sse der anatomischen Empfindungskreise und sucht damit den der Feinheit des Ortssinnes entsprechenden Grad des Nervenreichthums verschiedener Hautprovinzen in Einklang zu bringen. Er schliesst ferner aus der Thatsache, dass an den Armen die Minimaldistanz in der Querrichtung kleiner als in der L\u00e4ngsrichtung gefunden wird, auf eine l\u00e4ngliche Gestalt der Empfindungskreise, obwohl die Thatsache ebensogut darauf beruhen kann, dass vielleicht in Folge langsamerer Zunahme der Raumwerthe der einzelnen Reize in der L\u00e4ngsrichtung als in der Querrichtung in ersterer eine gr\u00f6ssere Anzahl freier Zwischenkreise zur Wahrnehmung einer L\u00fccke erforderlich ist, als in letzterer.\nDie weiteren Consequenzen, welche Weber aus seiner klaren Lehre von den Empfindungskreisen \u00fcber die Wahrnehmung von Gr\u00f6ssen und Formen mittelst des Ortssinnes der Haut ableitet, sind folgende: Zur Beurtheilung der Gr\u00f6sse einer Distanz zweier Eindr\u00fccke, welche \u00fcber der Raumschwelle liegt, gelangt die Seele durch eine ungef\u00e4hre Sch\u00e4tzung der Zahl freier Empfindung skr eise, welche zwischen den ber\u00fchrten liegen; w\u00e4hrend daher in einer bestimmten Hautprovinz die vorgestellte Gr\u00f6sse der Zunahme der reellen Distanz der Eindr\u00fccke proportional w\u00e4chst, ist f\u00fcr eine bestimmte Distanz in verschiedenen Hautprovinzen der Maassstab ein verschiedener, entsprechend der verschiedenen Gr\u00f6sse der Einheiten, d. i. der Durchmesser der einzelnen Empfinchingskreise. Diese Einheiten sind auch hier meines Erachtens nicht die anatomischen, sondern die physiologischen Empfindungskreise, d. i. die kleinsten wahrnehmbaren Distanzeinheiten, durch deren Aneinanderreihung die zu messende Distanz entstanden gedacht werden kann. Viele bestreiten dieses Princip der Distanzenmessung, bestreiten, dass dabei die freien Empfindungskreise \u00fcberhaupt ber\u00fccksichtigt oder gar gez\u00e4hlt werden und nehmen an, dass die Beurtheilung der Gr\u00f6sse einer Distanz lediglich auf der Beurtheilung der Verschiedenheit der Raumwerthe, welche den ber\u00fchrten Kreisen zugeh\u00f6ren, demnach der Verschiedenheit der Orte, welche den Eindr\u00fccken angewiesen werden beruhe. Ich halte jedoch die Weber\u2019sehe Auffassung, nicht blos weil sie eine nothwendige Consequenz seiner Erkl\u00e4rung des","page":394},{"file":"p0395.txt","language":"de","ocr_de":"Theorie des Ortssinnes der Haut.\n395\nZustandekommens einer L\u00fcckenwahrnehmung \u00fcberhaupt ist, f\u00fcr die richtigere und zwar, weil uns aus ihr sich die thats\u00e4chlichen enormen Differenzen der Gr\u00f6ssenbeurtheilung einer gegebenen Distanz an verschiedenen Hautstellen, welche Differenzen den Differenzen der extensiven Unterschiedsempfindlichkeit genau proportional sind, ungezwungen erkl\u00e4ren, w\u00e4hrend sie zu den Forderungen der gegen\u00fcbergestellten Anschauung in schroffem Widerspruch stehen. Dies wird sich klarer aus der Betrachtung eines speciellen Falles ergeben. Setzen wir die Zirkelspitzen 3/4 Zoll von einander entfernt vor dem Ohr auf und bewegen sie bei unge\u00e4nderter Distanz quer \u00fcber das Gesicht, so spaltet sich, wie oben beschrieben, der anfangs einfache Eindruck in zwei Sondereindr\u00fccke, welche weiter und weiter auseinander zu weichen scheinen. Die Erkl\u00e4rung nach Weber\u2019s Princip lautet: weil sich auf diesem Wege mehr und mehr der kleiner und kleiner werdenden physiologischen Empfindungskreise zwischen die ber\u00fchrten Punkte einschalten und diese wachsende Zahl der vermissten Zwischenglieder der Aufmerksamkeit der Seele sich aufdr\u00e4ngt und das Urtheil bestimmt. Die gegen\u00fcberstehende Auffassung m\u00fcsste behaupten, dass auf den verschiedenen Stellen des Weges die Orte, in welche nach den Raumwerthen der ber\u00fchrten Empfindungskreise die Eindr\u00fccke eingetragen werden, in dem Maasse, als die scheinbare Distanz w\u00e4chst, weiter und weiter auseinanderr\u00fcck en. Das ist aber an sich widersinnig, weil bei einem so groben Missverh\u00e4ltnis zwischen der vorgestellten und wirklichen Lage der Reizorte \u00fcberhaupt unbegreiflich w\u00e4re, wie die Seele jemals zu einem un verzerrten Vorstellungsbild der Tastfl\u00e4che gelangen k\u00f6nnte. Es ist aber auch thats\u00e4chlich nicht begr\u00fcndet; denn wenn wir an den verschiedenen Stellen des Weges die Zirkelspitzen einzeln nacheinander auf die betreffenden Punkte aufsetzen, so verbinden sich die Einzeleindr\u00fccke mit Ortsvorstellungen, welche durchaus nicht so verschieden distant erscheinen, wie bei gleichzeitiger Ber\u00fchrung; ja wir nehmen dann selbst am Ohr eine Verschiedenheit des Ortes der einzelnen Ber\u00fchrungen wahr. Das scheinbare Auseinanderweichen der Zirkelspitzen in dem beschriebenen Versuch ist daher eine Urtheilst\u00e4uschung, welche dadurch zu Stande kommt, dass die richtige Localisirung der Sondereindr\u00fccke nach den Raumwerthen der ber\u00fchrten Kreise durch die einseitige Aufmerksamkeit auf die Zahl der vermissten Zwischenstufen L\u00fcgen gestraft wird.\nWie die Sch\u00e4tzung der Distanzen, so beruht nach Weber auch die Beurtheilung der L\u00e4nge einer Reihe continuirlich an einander grenzender Eindr\u00fccke, also z. B. der L\u00e4nge eines der Haut ange-","page":395},{"file":"p0396.txt","language":"de","ocr_de":"396\nFunke, Tastsinn etc. 4. Cap. Der Ortssinn der Haut.\ndr\u00fcckten St\u00e4bchens auf einer ungef\u00e4hren Taxation der Summe der ber\u00fchrten Empfindungskreise. Ebenso einfach erkl\u00e4rt sich ferner aus Weber\u2019s Lehre die Wahrnehmung der Form eines ber\u00fchrten Abschnittes der Tastfl\u00e4che und mittelbar des ber\u00fchrenden \u00e4usseren Objects. Die Seele ordnet die Einzeleindr\u00fccke, welche von den verschiedenen gleichzeitig ber\u00fchrten Empfindungskreisen herr\u00fchren, nach ihren Raumwerthen in die entsprechenden Felder der Vorstellungsmosaik ein, wie der Mosaikarbeiter durch entsprechende r\u00e4umliche Anordnung seiner Sternchen die r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse der Einzeltheile, in welche er sich je nach der Gr\u00f6sse seiner Elemente eine zu copirende Figur zerlegt, wiedergiebt, oder die Stickerin eine solche durch Ausf\u00fcllung der entsprechend gelagerten Maschen des Stramins reconstruct. Dabei ist selbstverst\u00e4ndlich der Seele wie dem Mosaikarbeiter f\u00fcr die erkennbare Darstellung von Formen und die Wiedergabe r\u00e4umlicher Details mit der gegebenen endlichen Gr\u00f6sse der Elemente, aus denen die Raumbilder zusammenzusetzen sind, eine bestimmte Grenze gesetzt. Wie der Mosaikarbeiter mit einem Steinchen keinen Kreis hersteilen kann, aber auch nicht mit zwei, drei oder vier Steinchen, in einem Raum, der nur f\u00fcr vier solche Steinchen Platz hat, daher \u00fcberhaupt die Form eines Kreises nicht wiederzugeben vermag, so geht es auch der Seele bei ihrem musivischen Verfahren. Handelt es sich z. B. darum, den kreisf\u00f6rmigen Querschnitt einer cylindrischen R\u00f6hre durch den Ortssinn der Haut als solchen zu erkennen und von dem dreieckigen Querschnitt einer prismatischen R\u00f6hre zu unterscheiden, so wird dies absolut unm\u00f6glich sein, wenn der Durchmesser der R\u00f6hre kleiner ist, als derjenige eines Empfindungskreises der Hautstelle, auf welche der Querschnitt zur L\u00f6sung der Aufgabe aufgesetzt wird. Es kann dann nur ein einfacher Eindruck, an welchem jede feinere r\u00e4umliche Unterscheidung unm\u00f6glich ist, entstehen. Es gen\u00fcgt aber auch dazu noch nicht ein R\u00f6hrendurchmesser, welcher dem doppelten Durchmesser eines Empfindungskreises gleich kommt. Die Erkennung der Form wird erst dann m\u00f6glich, wenn der Querschnitt der R\u00f6hre so gross, oder der Durchmesser der Empfindungskreise so klein ist, dass der Rand der R\u00f6hre eine in erkennbarer Kreisform gelegene Reihe von Empfindungskreisen deckt und diese mindestens einen freien, dem Lumen der R\u00f6hre entsprechenden Empfindungskreis einschliesst. Daher wird der Querschnitt der R\u00f6hre um so betr\u00e4chtlicher sein m\u00fcssen, je stumpfer der Ortssinn der pr\u00fcfenden Hautstelle. In der That fand Weber, bei direct in diesem Sinne angestellten Versuchen, dass, w\u00e4hrend die Zungenspitze die Kreisform bereits bei einem Durch-","page":396},{"file":"p0397.txt","language":"de","ocr_de":"Theorie des Ortssinnes der Haut.\n397\nmesser der R\u00f6hre von 1,5deutlich erkannte, an der Bauchhaut dazu ein Durchmesser von 33/4 Zoll erforderlich war.\nZur Erkennung von Formen mittelst des Ortssinnes der Haut ist es nicht erforderlich, dass die entsprechende Reihe von Eindr\u00fccken gleichzeitig auf die Haut wirkt. Wir erkennen solche, z. B. die Figur eines Buchstaben, auch, wenn dieselben auf der Haut beschrieben, d. h. suc-cessiv nach einander die in der Richtung der Figur aneinander grenzenden Empfindungskreise ber\u00fchrt werden, die Seele also den im Moment der Ber\u00fchrung erhaltenen reellen Eindruck an einen vorhergegangenen, in der Erinnerung festgehaltenen anreiht. Auch hier ist nat\u00fcrlich Bedingung, dass wir den Buchstaben so gross auf die Haut schreiben, dass die Reihe der getroffenen Mosaikfelderchen die Form des Buchstaben kenntlich darstellt. Dabei machte Weber eine h\u00f6chst auffallende Beobachtung, welche zeigt, dass in gewissem Sinne eine Accomodation der durch die Haut vermittelten r\u00e4umlichen Wahrnehmungen an die weit vollkommneren und durch die H\u00e4ufigkeit ihrer Wiederkehr weit vertrauteren r\u00e4umlichen Wahrnehmungen, welche uns der Gesichtssinn \u00fcber die gleichen Objecte verschafft, stattfindet. Damit ein Buchstabe durch den Ortssinn leicht erkennbar ist, muss er in solcher Lage auf der Haut beschrieben werden, wie wir ihn wirklich auf die betreffende Stelle schreiben m\u00fcssen, wenn er von dem Auge der Versuchsperson gelesen, demselben in der gew\u00f6hnlichen richtigen Lage erscheinen soll. Ein L muss demnach auf der Stirn aufrecht aber verkehrt, d. h. mit der Winkel\u00f6ffnung nach links gerichtet, als ob es von den Augen durch die durchsichtige Stirnhaut gelesen werden sollte, auf der Bauchhaut, umgekehrt d. h. auf dem Kopf stehend, aber mit rechts gerichteter Apertur, auf dem Kreuz endlich zugleich verkehrt und umgekehrt geschrieben werden.\nEine Frage von hohem Interesse ist die, ob das f\u00fcr die Intensit\u00e4ts-Unterschiedsempfindlichkeit im Gebiete des Drucksinnes von Weber aus seinen Beobachtungen abgeleitete \u201e WebeR\u2019sche Gesetz\u201c welches wir oben weitl\u00e4ufig er\u00f6rtert haben, sich auch f\u00fcr die extensiven Wahrnehmungen des Ortssinnes der Haut best\u00e4tigt, mit anderen Worten, ob, um mittelst desselben zwei Linien d. h. zwei Reihen continuirlicher gleichzeitiger Tasteindr\u00fccke eben als verschieden lang zu erkennen, der wirkliche L\u00e4ngenunterschied der beiden Linien bei allen absoluten L\u00e4ngen derselben die gleiche relative Gr\u00f6sse darstellen muss. Auf einen concreten Fall angewendet und in die Sprache der WEBER\u2019schen Lehre von den Empfindungskreisen \u00fcbersetzt, lautet die Frage folgendermaassen : Haben wir der Haut an einer Stelle, an welcher der Durchmesser der Empfindungskreise 1'\" betr\u00e4gt, ein St\u00e4bchen von 10'\" L\u00e4nge aufgelegt und gefunden, dass wir dasselbe gerade um 1 '\" verl\u00e4ngern m\u00fcssen, um einen eben-merklichen L\u00e4ngenunterschied wahrzunehmen, m\u00fcssen wir ein St\u00e4bchen von 100'\" L\u00e4nge um 10'\" d. i. um dieselbe relative Gr\u00f6sse","page":397},{"file":"p0398.txt","language":"de","ocr_de":"398\nFunke, Tastsinn etc. 4. Cap. Der Ortssinn der Haut.\nverl\u00e4ngern, damit wiederum die L\u00e4ngenzunahme ebenmerklich wird? Entspricht demnach die extensive Unterschiedsschwelle wie die intensive stets demselben relativen Reizzuwachs, hier also demselben relativen Zuwachs der Zahl der getroffenen Empfindungskreise? Auf Grund der oben von uns vertretenen Auffassung des Weber\u2019sch en Gesetze\u00ab ist diese Analogie von vornherein im h\u00f6chsten Grade wahrscheinlich, wie wir bereits S. 348 auseinandergesetzt haben. Der sichere experimentelle Nachweis der G\u00fcltigkeit des Gesetzes f\u00fcr den Ortssinn der Haut st\u00f6sst jedoch auf grosse Schwierigkeiten, deren wesentlichste darin besteht, dass der Umfang der Hautstellen, in denen die Einheiten d. h. die Empfindungskreise die gleiche Gr\u00f6sse haben, ein zu geringer ist, um die absoluten L\u00e4ngen der zu vergleichenden Ber\u00fchrungslinien hinreichend variiren zu k\u00f6nnen. Greift aber, um zu unserem Beispiel zur\u00fcckzukehren, die Linie von 100\"' L\u00e4nge in Hautgebiete \u00fcber, in denen der Durchmesser der Empfindungskreise zweimal oder dreimal gr\u00f6sser wird, als in dem von der Linie von 10'\" eingenommenen Gebiet, so muss sich selbstverst\u00e4ndlich auch der extensive Unterschiedsschwellenwerth \u00e4ndern.\nDaraus erkl\u00e4rt sich, dass die Ergebnisse der directen Bestimmungen wie Fechner 1 gezeigt hat, mit den Forderungen des Gesetzes nicht v\u00f6llig im Einklang stehen. Wir d\u00fcrfen somit von einer wiederholten Discussion der Bedeutung und Erkl\u00e4rung des Gesetzes in Bezug auf den Ortssinn der Haut absehen und auf die Darstellung der Lehre vom Augenmaass, bei welchem eine genauere Pr\u00fcfung seiner G\u00fcltigkeit f\u00fcr extensive Wahrnehmungen m\u00f6glich ist, verweisen.\nObgleich eine Widerlegung der gegen Weber\u2019s Lehre erhobenen Einw\u00e4nde im Wesentlichen bereits in der vorstehenden Er\u00f6rterung derselben enthalten ist, m\u00fcssen wir doch einzelnen Angriffen und'Versuchen, sie durch andere Hypothesen zu ersetzen, eine kurze Specialkritik widmen. Zu den Angriffen, welche heutzutage keiner besonderen Widerlegung mehr bed\u00fcrfen, geh\u00f6ren diejenigen, welche auf einem groben Missverst\u00e4ndnis, auf einem Uebersehen der von Weber f\u00fcr das Entstehen von Doppelempfindungen aufgestellten Bedingung freier Empfindungskreise zwischen den ber\u00fchrten beruhen. Dahin geh\u00f6rt der Versuch K\u00f6lliker\u2019s 1 2 3, Weber\u2019s Lehre dadurch ad absurdum zu f\u00fchren, dass er aus ihr die Versorgung der gesammten Hautoberfl\u00e4che mit einer einzigen Nervenfaser ableiten zu k\u00f6nnen meinte. Auch Lotze\u2019s 3 Polemik, in ihrer urspr\u00fcnglichen Fassung mindestens, liegt dieser Fehler zu Grunde, indem er folgender-maassen raisonnirt: Stellen wir uns drei aneinandergrenzende Empfin-\n1\tFechner, Psychophys. I. S. 235.\n2\tK\u00f6lliker, Arch. f. microscop. Anat. II. 1. Abth. S. 43.\n3\tLotze, Medicin. Psycholog. S. 402.","page":398},{"file":"p0399.txt","language":"de","ocr_de":"Theorie des Ortssinnes der Haut.\n399\ndungskreise unter der Formel {ci -f- b -j- c) + e + f) (ff H\u201c ^\t0?\nworin die einzelnen Buchstaben die nebeneinander liegenden Punkte der durch Klammern abgegrenzten Kreise darstellen, vor, so m\u00fcsste nach Weber die gleichzeitige Ber\u00fchrung von a und c, die vielleicht einen Zoll auseinander liegen, einen einfachen Eindruck erzeugen, weil sie demselben Kreis angeh\u00f6ren, die Ber\u00fchrung von c und d aber, welche unmittelbar aneinander grenzen, einen doppelten, weil sie verschiedenen Kreisen angeh\u00f6ren, was nicht der Fall ist. Die Widerlegung liegt auf der Hand; nach Weber entsteht im g\u00fcnstigsten Fall bei Ber\u00fchrung von c und g} ein doppelter Eindruck.\nHieran reiht sich ein anderer, ebenfalls besonders von Lotze erhobener Einwand, bei welchem zwar das Dazwischenliegen freier Empfindungskreise als Bedingung der Sonderung von Eindr\u00fccken anerkannt, aber nicht ber\u00fccksichtigt ist, dass diese freien Felder in der Hegel in der Mehrzahl, an vielen Stellen in der Vielzahl vorhanden sein m\u00fcssen. Dieser Einwand lautet folgendermaassen : Die Ber\u00fchrung von c und g in obigem Schema erzeugt nach Weber einen doppelten, die Ber\u00fchrung von b und f dagegen, welche ebensoweit distant sind, oder sogar von a und /, welche weiter von einander abstehen als c und g, nur einen einfachen Eindruck, weil sie benachbarten Kreisen angeh\u00f6ren. Eine und dieselbe Distanz w\u00fcrde also je nach dem Auftreffen der Zirkelspitze einmal einen doppelten, ein anderes Mal einen einfachen Eindruck erzeugen, die kleinste wahrnehmbare Distanz demnach eine zwischen c g und a g schwankende Gr\u00f6sse darstellen, w\u00e4hrend sie nach Lotze tliats\u00e4chlich constant ist. Auch dieser Einwand ist durchaus hinf\u00e4llig. Erstens wird die Schwankung der kleinsten wahrnehmbaren Distanz, welche sich allerdings aus Weber\u2019s Theorie als nothwendig ergiebt, kleiner und kleiner, wenn statt einem zwei oder mehrere freie Kreise zur Sonderung der Eindr\u00fccke erforderlich sind, wie es factisch immer mit Ausnahme der oben bezeichneten extremen F\u00e4lle der Fall ist, und wird sehr bald so klein sein, dass sie der Beobachtung beim Versuch sich entzieht. Zweitens ist die von Lotze behauptete Constanz der Raumschwelle thats\u00e4chlich nicht begr\u00fcndet. Der h\u00e4ufige Wechsel \u201efalscher und richtiger F\u00e4lle\u201c, welcher bei einer gr\u00f6sseren Anzahl hintereinander an derselben Hautstelle ausgef\u00fchrter Bestimmungen an der Grenze der Wahrnehmbarkeit der Duplicit\u00e4t sich zeigt, beruht zum Theil wohl auf Unsicherheiten der Auffassung, zum Theil aber gewiss auch auf dem Wechsel der Lage der Eindr\u00fccke in dem oben bezeichneten Sinn.\nLotze hat ferner als unvertr\u00e4glich mit Weber\u2019s Theorie die That-sache bezeichnet, dass an Stellen stumpfen Ortssinns, an welchen z. B. zwei gleichzeitige Eindr\u00fccke einen Zoll von einander entfernt sein m\u00fcssen, um gesondert zu werden, doch innerhalb eines Rayons von einem Zoll Durchmesser erstens die Lagenver\u00e4nderung eines einfachen Eindrucks, die Verschiebung einer Zirkelspitze, wahrgenommen werde, zweitens zwei nacheinander auf verschiedene Punkte des Rayons treffende Eindr\u00fccke r\u00e4umlich gesondert werden, wie besonders von Czermak 1 her-\n1 Czermak, Sitzgsber. d. Wiener Acad. 2. Abth. XVII. S. 563 ; Molesch. Unters. I. S. 188.","page":399},{"file":"p0400.txt","language":"de","ocr_de":"400\nFunke, Tastsinn etc. 4. Cap. Der Ortssinn der Haut.\nvorgehoben worden ist. Beide Thatsachen sind sehr wohl mit Weber\u2019s Lehre in Einklang zu bringen, sobald man von der Anschauung ausgeht, dass jener Rayon von 1 Zoll Durchmesser nicht ein anatomischer, sondern ein physiologischer Empfindungskreis ist, welcher eine gr\u00f6ssere Anzahl anatomischer Mosaikelemente mit gesonderten Nervenfasern und differenten Raumwertken einscliliesst. Sind nun auch diese Raumwerthe innerhalb dieses Bezirks so wenig different oder die Seele in ihrer Auffassung so wenig ge\u00fcbt, dass ihre Verschiedenheiten nicht aufgefasst werden, wenn zwei derselben gleichzeitig vor das Bewusstsein treten, so kann doch eine solche Unterscheidung m\u00f6glich werden, wenn sie nacheinander, jeder f\u00fcr sich die ungetheilte Aufmerksamkeit geniessend , einwirken, ganz aus demselben Grunde als auch Intensit\u00e4ts- und Qualit\u00e4tsdifferenzen von Empfindungen, wie oben beim Drucksinn nachgewiesen wurde, weit feiner unterschieden werden, wenn sie nacheinander als wenn sie gleichzeitig dem Bewusstsein sich pr\u00e4sentiren. Uebri-gens ist, wie ich mich \u00fcberzeugt habe, innerhalb eines solchen physiologischen Empfindungskreises die Wahrnehmung der Richtung, in welcher ein Eindruck hin und her verschoben wird, eine sehr unvollkommene und unsichere, und beruht bei kleineren Verschiebungen die Vorstellung der Bewegung wohl mehr auf der Wahrnehmung kleiner Intensit\u00e4tsdifferenzen der successiven Eindr\u00fccke als auf einer Auffassung der Ver\u00e4nderung ihrer Raumwerthe.\nMan hat ferner eingewendet, dass an den Gegenden stumpfsten Ortssinnes, wie der R\u00fcckenhaut, doch jeder punktf\u00f6rmige Eindruck in einer entsprechend minimalen Ausdehnung localisirt, nicht als Ber\u00fchrung des ganzen umfangreichen (physiologischen) Empfindungskreises empfunden werde. Die Erkl\u00e4rung dieser Thatsache in Weber\u2019s Sinn lautet, wie bereits oben besprochen wurde: weil an solchen Stellen der physiologische Empfindungskreis aus sehr zahlreichen anatomischen Kreisen zusammengesetzt ist, die Localisirung des punktf\u00f6rmigen Eindrucks aber lediglich auf Grund des Raumwerths, welcher dem ber\u00fchrten anatomischen Element zugeh\u00f6rt, geschieht.\nDie Unterscheidung physiologischer und anatomischer Empfindungskreise beseitigt auch ohne Weiteres den anfangs h\u00e4ufig erhobenen anatomischen Einwand, dass die Differenzen des Nervenreichtlmms verschiedener Hautprovinzen bei weitem nicht den Differenzen der Durchmesser ihrer Empfindungskreise proportional seien, die R\u00fcckenhaut z. B. nicht dreissigmal weniger Nervenfasern f\u00fcr einen bestimmten Bezirk erhalte, als die Haut der Fingerspitzen. Die Thatsache ist richtig, aber ihre Beweiskraft gegen Weber nichtig. Stellte sich z. B. heraus, dass die Versorgung der R\u00fcckenhaut mit einzelnen Nervenfasern etwa nur dreimal sp\u00e4rlicher als die der Fingerhaut sei, so w\u00fcrde dies beweisen, dass der Durchmesser der anatomischen Empfindungskreise an ersterer allerdings nur etwa dreimal gr\u00f6sser als an letzterer; dass dabei die kleinste wahrnehmbare Distanz, d. i. der Durchmesser des physiologischen Empfindungskreises an ersterer aber nicht drei-, sondern dreissigmal gr\u00f6sser als an letzterer sich ergiebt, w\u00e4re daraus zu erkl\u00e4ren, dass die Zahl der zur Auffassung einer L\u00fccke erforderlichen freien Kreise zwischen den ber\u00fchrten am R\u00fccken zehnmal gr\u00f6sser ist, als an der Fingerspitze.","page":400},{"file":"p0401.txt","language":"de","ocr_de":"Hypothese von Meissner und Czermak.\n401\nWenn sich somit alle speziellen Einw\u00e4nde gegen Weber\u2019s Theorie so leicht entkr\u00e4ften lassen, so ist mir immer die vielseitige hartn\u00e4ckige Opposition gegen dieselbe um so weniger verst\u00e4ndlich gewesen, als diese Opposition sich fast ausschliesslich gegen ihre Anwendung auf den Raum-sinn der Haut, nicht aber auf den Raumsinn der Netzhaut gewendet hat. Allerdings ist diese Einseitigkeit leicht erkl\u00e4rlich. H\u00e4tten wir in der Haut einen so evidenten Ausdruck der von der Theorie geforderten mu-siven Zerkl\u00fcftung in den sichtbaren Structurverh\u00e4ltnissen, wie in der St\u00e4bchen- und Zapfenschicht der Retina, liesse sich bei der Haut mit solcher Sch\u00e4rfe durch Messung die Uebereinstimmung der kleinstm\u00f6glichen, r\u00e4umlich zu sondernden Wahrnehmungselemente mit den Durchmessern der Elemente der anatomischen Mosaik ad oculos demonstriren, wie am gelben Fleck der Netzhaut, so w\u00fcrden viele Bedenken, die man im Gebiete des Ortssinnes der Haut k\u00fcnstlich grossgezogen hat, gar nicht aufgekommen und mancher gek\u00fcnstelte, schon in seinen Grundlagen haltlose Versuch, Weber\u2019s auf unanfechtbarem Vordersatz ruhender anatomischer Hypothese \u00e7ine andere zu substituiren, unterblieben sein. Dass aber der Raumsinn des Auges auf einer wesentlich anderen Grundlage beruhe, als derjenige der Haut, wird Niemand im Ernst vertreten wollen. Von einer eingehenden Kritik der Gegenhypothesen d\u00fcrfen wir absehen, einmal, weil wir einzelne derselben erst bei den folgenden Auseinandersetzungen ber\u00fchren k\u00f6nnen, zweitens, weil wir alle diejenigen heutzutage \u00fcberhaupt nicht mehr f\u00fcr discussionswerth halten, welche auf der Annahme beruhen, oder stillschweigend die M\u00f6glichkeit involviren, dass eine und dieselbe Nervenfaser gleichzeitig mehrere, r\u00e4umlich sonderbare Eindr\u00fccke vermitteln kann. An diesem Cardinalfehler kranken z. B. xlie Hypothesen von Meissner 1 wie von Czermak. Beide nehmen als sensible Elemente der Haut mehr weniger dicht gedr\u00e4ngt stehende \u201e sensible Punkte\u201c an, von denen jeder einem Nervenende seine Empfindlichkeit verdankt. Aus Aggregaten solcher Punkte, ohne dass dabei in Betracht kommt, ob ihre Nervenenden denselben oder verschiedenen Nervenfasern angeboren, l\u00e4sst Meissner die den WEBER\u2019schen Empfindungskreisen \u00e4quivalenten elementaren Hautbezirke bestehen, und zwar soll das Maassgebende f\u00fcr die Abgrenzung der letzteren eine bestimmte Zahl von sensibeln Punkten sein, so dass jene Bezirke um so kleiner, der Ortssinn um so feiner ist, je dichter gedr\u00e4ngt die sensibeln Punkte aneinander liegen. Abgesehn davon, dass gegen diese Hypothese weit berechtigter als gegen die We-BER\u2019sche der oben besprochene anatomische Einwand mutatis mutandis erhoben werden kann \u2014 dass n\u00e4mlich an der R\u00fcckenhaut die Nervenenden nicht dreissigmal weiter auseinander liegen als an der Fingerspitze \u2014 steht ihr Hauptprincip vollkommen haltlos und unbegr\u00fcndet da. Wie eine bestimmte Zahl erregter Nervenenden das Moment zur Bildung einer bestimmten Ortsvorstellung, welche f\u00fcr jeden verschiedenen Hautbezirk eine verschiedene ist, abgeben soll, ist mir absolut unausdenkbar. Czermak schreibt sogar jedem einzelnen sensibeln Punkt, also jedem einzelnen Nervenende, die F\u00e4higkeit zu, der von ihm aus erregten Empfindung einen bestimmten Raumwerth (Localzeichen, s. unten) zu ertheilen, also\n1 Meissner, Beitr. z. Anat. u. Physiol, d. Haut. S. 44. Leipzig 1853.\nHandbuch der Physiologie. Bd. lila.\t26","page":401},{"file":"p0402.txt","language":"de","ocr_de":"402\nFunke, Tastsinn etc. 4. Cap. Der Ortssinn der Haut.\nein Element der Vorstellungsmosaik zu repr\u00e4sentiren, was jedoch praktisch nicht in Betracht komme, da jeder, auch der beschr\u00e4nkteste Reiz, immer gleichzeitig eine Anzahl sensibler Punkte errege, einen \u201e physikalischen Zerstreuungskreis bilde, und die Unterschiede der Raumwerthe benachbarter Punkte viel zu gering seien, um aufgefasst zu werden. Als Empfindungskreis bezeichnet Czermak denjenigen Hautbezirk, innerhalb dessen wegen dieser Unmerklichkeit der Raumwerthsdifferenzen differente Raumvorstellungen nicht entstehen k\u00f6nnen; damit eine Sonderung zweier Eindr\u00fccke eintrete, m\u00fcsse das Gebiet eines solchen Empfindungskreises zwischen den ber\u00fchrten Punkten liegen. Es ist klar, dass Czermak\u2019s Empfindungskreise nichts Anderes sind, als was wir als physiologische Empfindungskreise in Weber\u2019s Sinn definirt haben, welche ebenfalls in dem Sinne, wie Czermak den seinigen zuschreibt, interferiren, d. h. sich theilweise decken, insofern zwei benachbarte eine Anzahl sensibler Elemente, seien es sensible Punkte, oder anatomische Empfindungskreise Weber\u2019s, gemeinsam haben.\nNachdem wir somit die WEBER\u2019sche Lehre von den Empfindungskreisen, als anatomischen Substraten des Raumsinnes der Haut, als vollkommen begr\u00fcndet in ihr Recht eingesetzt zu haben glauben, m\u00fcssen wir dieselbe auch der Er\u00f6rterung der weiteren allgemeinen Fragen nach dem Zustandekommen der Raumvorstellungen zu Grunde legen, diese Fragen selbst in ihrem Sinne formuliren. Dieselben lauten daher: Wie entsteht die specifische Ortsvorstellung, welche die von jedem einzelnen Empfindungskreis aus erzeugte Druck- oder Temperatur- (oder Schmerz-) Empfindung unzertrennlich begleitet? Welches sind die Momente, welche die Differenzen dieser Ortsvorstellungen bei der Einwirkung eines identischen Reizes auf verschiedene .Empfindungskreise, also bei der Erregung der verschiedenen gesonderten Nervenfasern, welche sie mit dem Centrum verbinden, bestimmen? Wir betreten mit diesen Endfragen der Raumsinnestheorie jenes ausserordentlich difficile, unsichere Territorium, auf welchem insbesondere seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts Philosophie und Physiologie, zum Theil ohne richtige F\u00fchlung mit einander, Gegens\u00e4tze der verschiedensten Art, zu den widersprechendsten Hypothesen geformt, in einen bis auf den heutigen Tag noch unentschiedenen Kampf gef\u00fchrt haben. Wenn unter diesen Gegens\u00e4tzen derjenige, welcher nach Helmholtz1 als derjenige der empiristi-\u2022schen und n at i vis tisch en Anschauung bezeichnet wird, bis auf\n1 Die ausf\u00fchrlichste vergleichende Darstellung und sorgf\u00e4ltigste Kritik aller \u00fcber den Ursprung der Raumvorstellungen aufgestellten Theorien giebt C. Stumpf, Ueb. d. psychol. Urspr. d. Raumvorst Leipzig 1873. Vgl. ausserdem Lotze, medicin. Psychol. S. 325 und: System d. Philos II Th. Metaphysik S. 193 u. 543. Wundt, Grundz. d. physiol. Psycholog. S. 470. Helmholtz, Handb. d. phys. Optik. 3. Abschn. S. 427. 796. Leipzig 1867 ; Die Thatsache in d. Wahrnehmung. Rede etc. Berlin 1879.","page":402},{"file":"p0403.txt","language":"de","ocr_de":"Empiristische u. nativistische Theorie.\n403\nden heutigen Tag die Hauptrolle gespielt hat, so ist nicht zu vergessen, dass sowohl die Nativisten \u00fcber das, was sie als die angeborene Grundlage der Raumanschauung betrachten, als die Empiristen \u00fcber den Weg, auf welchem, und die Mittel, durch welche die Raumanschauung empirisch erworben wird, unter sich in unvermitteltem Widerspruch stehen. Da eine ersch\u00f6pfende historischkritische Darstellung aller hierher geh\u00f6rigen Hypothesen und Theorien die Grenzen unserer Aufgabe weit \u00fcberschreiten w\u00fcrde, wollen wiles versuchen, auf dem Wege des kritischen Raisonnements die unhaltbaren von den haltbaren Grundprincipien zu scheiden und so aus der bunten Mischung des historischen Materials die Elemente zu iso-liren, welche nach unserer Ueberzeugung als solide Bausteine einer allen Thatsachen gerechten, unanfechtbaren k\u00fcnftigen Raumsinnestheorie verwendbar sind.\nObenan steht folgender unumst\u00f6ssliche Grundsatz, welcher, so selbstverst\u00e4ndlich er erscheint, doch nicht bei allen Theorien in geb\u00fchrender Weise ber\u00fccksichtigt worden ist: Damit zwei Eindr\u00fccke, welche ein und derselbe, qualitativ und quantitativ identisch \u00e4ussere Reiz, wie z. B. der gleiche von einer Zirkelspitze auf die Haut ausge\u00fcbte Druck, von zwei verschiedenen Empfindungskreisen aus erzeugt, von der Seele auf zwei verschiedene Orte bezogen werden k\u00f6nnen, muss der physiologische Effect, welchen der Reiz von dem einen Kreis ausl\u00f6st, in irgend welchem Glied der Kette von Vorg\u00e4ngen, aus welchen er besteht, in irgend welcher Weise verschieden sein von dem, welchen er von dem anderen Empfindungskreis aus hervorruft. W\u00e4ren die physiologischen Wirkungen des Reizes bis hinauf zu dem psychophysischen Vorgang in der Endstation der Tastnervenfaser in beiden F\u00e4llen absolut identisch, so m\u00fcsste auch der aus dem letzteren resultirende psychische Process, welcher sich aus einer Druckempfindung und einer damit unabl\u00f6slich verbundenen Ortsvorstellung zusammensetzt, absolut derselbe sein. Damit der eine Bestandtheil des psychischen Erfolgs, die Ortsvorstellung, in beiden F\u00e4llen eine verschiedene werden kann \u2014 gleichviel in welchem Verh\u00e4ltniss sie zur Druckempfindung steht, gleichviel ob sie eine angeborene oder erlernte Seelenth\u00e4tigkeit ob sie eine unmittelbare oder mittelbare Reaction auf die zufliessende Nervenerregung darstellt \u2014 muss eine Veranlassung zur Bildung der verschiedenen Ortsvorstellungen der Seele in irgend welcher Differenz der physischen Folgen des Reizes gegeben sein, und diese Veranlassung muss eine zwingende und f\u00fcr jeden einzelnen Empfindungskreis eine constante sein. Es ist ein entschiedenes Verdienst von Lotze, diesen Fundamentalsatz zuerst mit vollem\n26*","page":403},{"file":"p0404.txt","language":"de","ocr_de":"404\tFunke. Tastsinn etc. 4. Cap. Der Ortssinn der Haut.\nNachdruck hervorgehoben und f\u00fcr die hypothetischen, von dem Ort der Reizung abh\u00e4ngigen und zu seiner Erkenntniss f\u00fchrenden Verschiedenheiten des physiologischen Reizerfolgs den allgemeinen Ausdruck: \u201eLocalzeichen\u201c eingef\u00fchrt zu haben. Sobald man darunter nichts weiter versteht, als was wir eben er\u00f6rtert haben, sobald man zun\u00e4chst von jeder n\u00e4heren Interpretation desselben, von jeder Hypothese \u00fcber die Art der darunter zu verstehenden Differenzen und die Art ihrer Wirkung auf die Seele absieht, ist der Begriff Localzeichen ein durchaus wohlbegr\u00fcndeter, unanfechtbarer. Wir wollen im Folgenden seine Begr\u00fcndung noch etwas weiter ausf\u00fchren, und unter Zur\u00fcckweisung falscher Auffassungen seiner richtigen' Auslegung-n\u00e4her zu treten suchen.\nEine absolut unhaltbare Vorstellung ist die, dass der Ort, an welchem ein Sinnesorgan von einem Reiz getroffen wird, an sich die Ursache der Wahrnehmung dieses Ortes und seiner Unterscheidung von anderen Reizorten sei. Es ist dies ebenso undenkbar, als es die Behauptung w\u00e4re, dass zur Erkenntniss der Herkunft einer telegraphischen Depesche aus der Station N die einfache Thatsache, dass der vermittelnde Draht in N entspringt, gen\u00fcge. Eine solche Vorstellung, die sich immer und immer wieder einmal in die Sinnesphysiologie eingeschlichen hat, fusst auf der naiven Voraussetzung, dass die Seele eine Art von Spiegel sei, in welchem sich die peripherischen Sinnesorgane mit ihren r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnissen und denjenigen der auf ihnen hergestellten Abdr\u00fccke der Aussenwelt direct spiegelten, oder als ob sie hinter dem \u00e4usseren Sinnesorgan noch ein zweites inneres bes\u00e4sse, von welchem sie direct die r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse des ersteren und der dasselbe treffenden Reize ablesen k\u00f6nnte, eine Voraussetzung, welche abgesehen von ihrer Unvertr\u00e4glichkeit mit dem Wesen der Seele an die Stelle eines zu l\u00f6senden R\u00e4thsels ein neues einf\u00fchrt. Auf einer solchen Voraussetzung beruhen aber z. B. alle \u00e4lteren Versuche, das Aufrechtsehen aus einer von der Seele vorgenommenen Umkehrung des verkehrten Netzhautbildes zu erkl\u00e4ren, als ob die Seele jemals eine directe Kenntniss von der Existenz des letzteren und seinen verkehrten r\u00e4umlichen Anordnungen erhielte! Die r\u00e4umliche Ausbreitung des Tastorgans wie der Netzhaut als eine Mosaik gesonderter Nervenendigungen ist allerdings eine unerl\u00e4ssliche Bedingung f\u00fcr die M\u00f6glichkeit der r\u00e4umlichen Sonderung der Eindr\u00fccke in der Vorstellung, aber niemals selbst Gegenstand directer Wahrnehmung f\u00fcr die Seele. Die r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse des Netzhautbildes oder die Tastabdr\u00fccke eines \u00e4usseren Objects auf der Haut werden ja selbstverst\u00e4ndlich mit ihrer","page":404},{"file":"p0405.txt","language":"de","ocr_de":"Die Localzeichen.\n405\nUmsetzung in eine Reihe von Nervenerregungen, welche im Sinnes-nervenstamm nebeneinander dem Hirn zufliessen, als solche vernichtet, geradeso wie in einem unterseeischen Kabel, welches z. B. die Leitungsdr\u00e4hte von zehn beliebig \u00fcber das Festland zerstreuten Stationen zusammenfasst, die neben einander herlaufenden elektrischen Str\u00f6me nichts mehr von der r\u00e4umlichen Lage ihrer Aufgabestationen an sich tragen. Die r\u00e4umliche Wahrnehmung beruht darauf, dass die Seele die auf dem Wege zu ihr vernichteten r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse, welche in dem Netzhautbild oder dem Tastabdruck repr\u00e4sentirt waren, in der Vorstellung von Grund aus neu construirt. Damit sie diese Operation ausf\u00fchren k\u00f6nne, gen\u00fcgt es nicht, dass ihr die an der Peripherie gesonderten r\u00e4umlichen Elemente, die auf die einzelnen Empfindungskreise treffenden Eindr\u00fccke, durch separate Nervenleitungen gesondert zugefjihrt werden. Das w\u00fcrde wohl die Veranlassung zum Auseinanderhalten zweier Eindr\u00fccke aber noch nicht zu ihrer r\u00e4umlichen Ordnung geben, wie wir ja auch zwei durch separate Acusticusfasern in der Seele erzeugte Tonempfindungen auseinanderhalten, ohne sie jedoch in eine r\u00e4umliche Beziehung zu einander zu setzen. Eine zweite Conditio sine qua non f\u00fcr den r\u00e4umlichen Aufbau der Separateindr\u00fccke ist die, dass letztere irgendwelche, irgendwo und irgendwie ihnen aufgepr\u00e4gte Marken, das sind eben die sogenannten Localzeichen, an 'sich tragen, deren Art und Werth die Seele bestimmt, den einzelnen Eindr\u00fccken diesen oder jenen Platz in dem Neubau der r\u00e4umlichen Anschauung anzuweisen. Es verh\u00e4lt sich, um noch ein treffendes Beispiel von Lotze zu citiren, wie bei dem Umr\u00e4umen einer Bibliothek oder einer Sammlung in ein anderes Local. Auch hier wird die urspr\u00fcngliche r\u00e4umliche Anordnung im alten Local beim Transport vollst\u00e4ndig zerst\u00f6rt, und werden zur Wiederherstellung derselben im neuen Local die den B\u00fcchern oder Exemplaren der Sammlung aufgeklebten Nummern oder anderweitigen Ordnungszeichen benutzt.\nEs bedarf kaum einer ausdr\u00fccklichen Er\u00f6rterung, dass ebensowenig wie der peripherische Ort, an welchem eine Seh- oder Tastfaser gereizt wird, der Ort der centralen Station, welcher die Nervenerregung zur Umsetzung in einen psychischen Vorgang \u00fcbergeben wird, an sich der Seele zur Bildung einer Ortsvorstellung verhelfen kann. Eine in diesem Sinne aufgestellte Hypothese ruht auf denselben Grundirrth\u00fcmern, welche wir f\u00fcr die vorher besprochene zur\u00fcckgewiesen haben; sie versetzt dieselben gewissermaassen nur um eine Station n\u00e4her an den Herd der psychischen Action heran. Wunderbarer Weise scheint selbst Weber derselben nicht ganz fern-","page":405},{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"406\nFunke, Tastsinn etc. 4. Cap. Der Ortssinn der Haut.\ngestanden zu haben, indem er einmal, wo er von der Einteilung des Sinnesorganes in Empfindungskreise als Bedingung des Ortssinnes spricht, hinzuf\u00fcgt: \u201eZugleich darf man vermuten, dass die von jenen Abteilungen ausgehenden Nervenf\u00e4den in einer \u00e4hnlichen Ordnung im Gehirn, als in dem empfindlichen Organ neben einander liegen.\u201c Allerdings sprechen f\u00fcr eine solche der Lagerung der Empfindungskreise correspondirende Anordnung der Ganglienzellen, in welche sich die Tast- oder Sehfasern inseriren einige Umst\u00e4nde, wie die Thatsache, dass bei der h\u00e4ufig vorkommenden centralen Irradiation von Empfindungen (Schmerz, Schauder) bei beschr\u00e4nktem peripherischen Reiz die scheinbar nacheinander ergriffenen Orte in derselben Ordnung sich folgen, wie sie factisch an der Peripherie liegen, dass ferner bei partiellen Bluterg\u00fcssen ins Gehirn eine partielle sensible L\u00e4hmung immer nebeneinander liegende Partien der Haut ergreift. Allein selbst wenn eine solche Anordnung im Hirn anatomisch sicher erwiesen w\u00e4re, w\u00fcrde sie doch zur Erkl\u00e4rung des Ortssinnes absolut unverwertkbar sein. Die Seele kommt \u00fcberhaupt niemals zur Kenntniss von bestimmten Apparaten des Hirns als Vermittler der Empfindlings Vorg\u00e4nge, sowenig als sie je etwas von den gereizten Netzhautpunkten erf\u00e4hrt, geschweige, dass von ihr die r\u00e4umliche Anordnung jener Apparate jemals wahrgenommen w\u00fcrde. Was f\u00fcr die Seele da sein soll, muss, wie Lotze treffend bemerkt, auf sie wirken; soll also der Ankunftsort der Sinnesdepesche im Hirn ihr bekannt werden, so muss derselbe auf sie wirken. Daraus folgt, dass selbst wenn eine Bekanntschaft der Seele mit diesem Ort thats\u00e4chlich w\u00e4re, wir doch wieder fragen m\u00fcssten, durch welche Zeichen er sich ihr verr\u00e4th, und damit w\u00e4ren wir wieder soweit, wie vorher.\nWir h\u00e4tten uns vielleicht selbst diese kurze Zur\u00fcckweisung ersparen k\u00f6nnen, wenn nicht gerade in allerneuester Zeit die j\u00fcngste Hypothese vom Ursprung der Ortsvorstellungen in einem gewissen Sinne wiederum die Irrlehre von der unmittelbaren Wahrnahme des Ortes einer nerv\u00f6sen Th\u00e4tigkeit zu rehabilitiren versuchte. Es ist dies folgende von Stricker 1 aufgestellte Hypothese. Nach Stricker ist das Bewusstsein nicht ausschliesslich an die Th\u00e4tigkeit der Ganglienzellen des Hirnes gebunden, sondern es kommt dasselbe auch allen vom K\u00f6rper der Ganglienzellen ausstrahlenden Ausl\u00e4ufern zu, und zwar sowohl denjenigen, welche die verschiedenen Zellen und Zellengruppen des Hirnes unter einander verbinden \u2014 woraus allein die Einheitlichkeit des Bewusstseins erkl\u00e4rlich werden soll \u2014 als denjenigen, welche als Nervenfasern sich bis an die\n1 Stricker, Sitzgsber. d. Wiener Acad. 3. Abth. LXXVI. S. 283. 1877 ; Studien \u00fcberdas Bewusstsein. Wien 1879.","page":406},{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"Steicker\u2019s Hypothese.\n407\nPeripherie des K\u00f6rpers ausstrecken. Beide Arten von Ausl\u00e4ufern func-tioniren demnach psychisch wie die Ganglienzellen; das Bewusstsein; das \u201eIch\u201c reicht so weit; als die F\u00fclilnerven reichen; letztere sind vorgeschobene Wohnsitze der Seele. In Folge dieser Allgegenwart des Bewusstseins soll nun der Ort; an welchem im ganzen Verlauf eines aus Nervenfaser und Ganglienzelle zusammengesetzten Gef\u00fchlsapparates etwas geschieht; unmittelbar zur Wahrnehmung kommen. Es soll daher, wenn ein Tastreiz das Ende einer Hautnervenfaser erregt, erstens auf diese Weise unmittelbar eine Ortsvorstellung von dem peripheren Reizort entstehen, zweitens eine im Kopf, dem Sitz der centralen Ganglienzelle, localisirte Ortsvorstellung; drittens soll aber auch unter krankhaften Verh\u00e4ltnissen, \u201ewenn die Vorg\u00e4nge im Nerven selbst besonders lebhaft werden\u201c, der ganze Verlauf der Nervenfaser direct zur Wahrnehmung gelangen. W\u00e4hrend Stricker in diesem Sinne die Bildung der Ortsvorstellung als einen zwangsm\u00e4ssig die Erregung des Sinnesapparates begleitenden, angeborenen Vorgang betrachtet, setzt er der Ortsvorstellung die Raum Vorstellung, d. h. die Wahrnehmung der Ausdehnung der Orte, als etwas Verschiedenes als einen secund\u00e4ren Akt gegen\u00fcber, welcher erst auf dem Wege der Erfahrung mit H\u00fclfe des Muskelsinnes erlernt werden soll. Wir kommen auf diesen Punkt unten zur\u00fcck, bemerken jedoch im Voraus, dass wir diese Unterscheidung als durchaus unhaltbar zur\u00fcckweisen m\u00fcssen.\nIch zweifle sehr, dass diese Anschauung Stricker\u2019s, welche ohne jeden n\u00e4heren Beweis die bestbegr\u00fcndeten S\u00e4tze der Nervenphysiologie \u00fcber den Haufen wirft, sich einen einzigen Anh\u00e4nger erwerben wird. Wir k\u00f6nnen es uns daher ersparen, ihre evidenten Blossen n\u00e4her zu beleuchten und ihre Unm\u00f6glichkeit aus den ungeheuerlichen Consequenzen, zu denen sie f\u00fchrt, zu demonstriren. Es sind nicht einmal die Erscheinungen, welche Stricker aus der Ausbreitung des Bewusstseins \u00fcber den ganzen nerv\u00f6sen Sinnesapparat erkl\u00e4ren will und als Beweise f\u00fcr dieselbe ausgiebt, thats\u00e4chlich begr\u00fcndet. Ich l\u00e4ugne mit aller Bestimmtheit, dass bei der Erzeugung eines Tasteindruckes neben der entschiedenen, an der Peripherie localisirten Ortsvorstellung eine v orstellung von einem Ort im Centrum entstehe; trotzdem ich weiss, dass in meinem Kopfe bei jeder Tastempfindung etwas vor sich geht, merke ich bei der gr\u00f6ssten Aufmerksamkeit nichts von einer solchen Kopfvorstellung, kann es nicht einmal zu der Einbildung einer solchen bringen. Wenn sich Stricker zum Beweis der von Alters her feststehenden Anerkennung dieser Vorstellung und der darauf heruhenden Kenntniss vom Sitze des Bewusstseins im Kopfe auf den Mythus vom Ursprung der Minerva aus dem Haupt des Zeus beruft, so ist diesem \u00e4usserst zweideutigen Argumente die historische Thatsache gegen\u00fcberzustellen, dass die Mehrzahl der alten griechischen Philosophen ausser Demokrit den Sitz der Seele nicht im Hirn, sondern im Herzen suchte! Ich l\u00e4ugne ferner, dass jemals bei einem Kranken die Wahrnehmung des Nervenverlaufes durch directe Localisation der Schmerzen sicher constatirt sei, oder, wenn es der Fall, dies etwas f\u00fcr Stricker beweise. Soviel mir bekannt, treten solche anscheinend im Verlaufe eines Nervenstammes sich ausbreitende Schmerzen besonders bei Erkrankung der Nervencentra als Folgen centraler Reizung,","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"408\nFunke, Tastsinn etc. 4. Cap. Der Ortssinn der Haut.\nalso ohne dass dabei in den peripheren Nervenst\u00e4mmen \u00fcberhaupt etwas vor sich geht, auf. In der Regel entspricht ferner ihre Ausbreitung nicht dem Verlauf des Nervenstamm es, sondern dem peripherischen Endbezirk irgend eines Astes. Wenn aber auch einmal bei Entz\u00fcndung eines Nervenstammes Schmerzen eintreten, welche genau seinen Verlauf ein-halten, so ist es wahrscheinlicher, dass sie durch Reizung sensibler Nervenenden in der unmittelbaren Umgebung des Stammes entstehen und demgem\u00e4ss localisirt werden, als dass sie durch Reizung der im Stamme verlaufenden Fasern erzeugt, von einem diesem Stamme innewohnenden Bewusstsein direct in dessen Verlauf verlegt werden. W\u00e4re Steicker\u2019s Anschauung begr\u00fcndet, so m\u00fcsste nothwendig auch bei jeder intensiven peripherischen Erregung der Verlauf der gereizten Fasern zur Wahrnehmung gelangen, was niemals der Fall ist.\nWir halten ferner folgenden allgemeinen Satz f\u00fcr begr\u00fcndet: die Quelle der Localzeichen liegt nicht an der Peripherie, sondern im Centrum. Sie liegt nicht in einer am peripherischen Ende jeder Sinnesnervenfaser gegebenen, f\u00fcr jeden Empfindungskreis verschiedenen Einrichtung, welche bewirkte, dass ein und derselbe Reiz in jeder verschiedenen Nervenfaser der von ihm erzeugten Erregung einen irgend wie verschiedenen Charakter aufpr\u00e4gt. Gegen eine solche Annahme spricht entscheidend die oben besprochene That-sache der excentrischen Perception, d. h. die Loealisirung auch derjenigen Empfindungen in dem peripherischen Endbezirk der Faser, welche durch deren Reizung im Verlauf erzeugt worden. Man k\u00f6nnte ferner \u2014 und damit w\u00e4re die eben genannte Thatsache in Einklang zu bringen \u2014 die Ursache der Localzeichen in Differenzen irgend welcher Eigenschaft der zu den verschiedenen Empfindungskreisen geh\u00f6rigen Nervenfasern und daraus resultirenden Differenzen des Er-regungsprocesses, welchen ein und derselbe Reiz hervorruft, suchen. Allein zu dieser Annahme, welche dem wohlbegr\u00fcndeten Lehrsatz von der Identit\u00e4t aller Nervenfasern und der Identit\u00e4t des Erregungsvorganges in allen denselben widerstreitet, w\u00fcrde man sich nur ent-schliessen, wenn eine zwingende N\u00f6thigung vorhanden w\u00e4re. Das ist aber durchaus nicht der Fall, indem die Annahme weit n\u00e4her liegt und plausibler erscheint, dass die Quelle der Localzeichen in den Ganglienzellen liegt, denen die Nervenfasern ihre Erregung zur Umsetzung \u00fcbergeben, d. h. dass es Differenzen der Einrichtungen dieser Empfangsstationen sind, welche die irgendwie beschaffenen Abweichungen des Effectes der ankommenden Erregungen bedingen, welche der Seele als Zeichen f\u00fcr die Bildung der Ortsvorstellung dienen.\nEin weiterer Satz welchen wir aufstellen zu m\u00fcssen glauben ist folgender: Jedem Sinn, welcher r\u00e4umliche Wahrnehmungen ver-","page":408},{"file":"p0409.txt","language":"de","ocr_de":"Associationstheorie.\n409\nmittelt, kommt ein eigenes System von Localzeichen zu, deren Entstehung irgendwie in dem physiologischen Hergang der Th\u00e4tig-keit des betreffenden Sinnesapparates begr\u00fcndet ist. Die gereizte Tastnervenfaser erzeugt in den centralen Werkst\u00e4tten des Tastsinnes, die gereizte Opticusfaser in den Werkst\u00e4tten des Gesichtssinnes die specifischen Zeichen, welche einerseits mit der Druck- und Temperaturempfindung, andererseits mit der Farbenempfindung combinirt, jede in ihrer Sph\u00e4re die Localisirung der betreffenden Empfindungen vermitteln. Wir haben diesen Satz, welcher eigentlich schon in den vorhergehenden Er\u00f6rterungen begr\u00fcndet ist, besonders formulirt als Negation einer bestimmten entgegenstehenden Theorie, welche die Bildung von Raumvorstellungen als ausschliessliches Privilegium einem einzigen Sinne zuweisen will, die r\u00e4umlichen Wahrnehmungen der \u00fcbrigen nur einer Association ihrer specifischen Empfindungen mit den r\u00e4umlichen Aussagen des ersteren zuschreibt. Es ist die besonders von Al. Bain 1 ausgebildete sogenannte Associationstheorie, und der Sinn, welchem sie ausschliesslich die Bildung von Raumvorstellungen als Inhalt zuerkennt, der Muskelsinn. Obwohl diese Theorie durch einen Kreis von Thatsachen, aus denen unzweifelhaft hervorgeht, dass Gesichts- und Tastsinn auch ohne jede Beih\u00fclfe des Muskelsinnes r\u00e4umliche Wahrnehmungen vermitteln k\u00f6nnen, entscheidend widerlegt ist, m\u00fcssen wir ihr doch eine n\u00e4here Er\u00f6rterung widmen, besonders weil sie uns die Gelegenheit giebt, die Leistungen des Muskelsinnes an sich als Raumsinn und seine Beziehungen zum Tastsinn zu besprechen.\nWir haben bereits oben die Thatsache hingestellt, dass alle ac-tiven durch die Th\u00e4tigkeit der willk\u00fcrlichen Muskeln hervorgebrachten Bewegungen unserer Glieder von Empfindungen begleitet sind, welche die Bewegung der Ruhe gegen\u00fcber charakterisiren und an welche sich r\u00e4umliche Vorstellungen von Art, Richtung und Gr\u00f6sse der ausgef\u00fchrten Bewegungen, von der durch dieselbe herbeigef\u00fchrten Form, Lage und gegenseitigen Abstand der bewegten Theile ankn\u00fcpfen. Erheben wir einen Arm oder drehen wir ihn in horizontaler Ebene, so erhalten wir eine genaue Vorstellung von der H\u00f6he zu welcher wir ihn erhoben, von dem Winkel, um welchen wir ihn gedreht, von der neuen Lage, welche er am Ende der Bewegung einnimmt. Beschreiben wir mit der Fingerspitze eine Bahn im \u00e4usseren Raum, so steht vor dem Bewusstsein die Vorstellung von der L\u00e4nge und Richtung der Bahn, ob sie geradlinig oder kreisf\u00f6rmig\n1 Al. Bain, The Senses and the Intellect. London 1864.","page":409},{"file":"p0410.txt","language":"de","ocr_de":"410\nFunke, Tastsinn etc. 4. Cap. Der Ortssinn der Haut.\nu. s. w., welches der Durchmesser des beschriebenen Kreises; drehen wir den Augapfel um irgend eine Achse, so wissen wir, in welcher Richtung wir ihn gedreht, welches die neue Richtung, welche die Blicklinie einnimmt. 1\nAlle diese Vorstellungen verdanken wir den Muskelempfindungen. Sie unterscheiden sich zun\u00e4chst untereinander hinsichtlich ihrer Intensit\u00e4t und ihrer Dauer. Die Intensit\u00e4t der Muskelempfindung belehrt uns \u00fcber den der Muskelcontraction entgegenstehenden Widerstand, giebt uns also den Begriff der bei der Contraction aufgewandten Kraft; ja wir bezeichnen mit Kraft geradezu die Intensit\u00e4t unseres Muskelgef\u00fchles. Ebenso giebt uns die Dauer der Muskelempfindung, wie die einer jeden anderen Empfindung, den Begriff der Zeit. Ferner scheidet man die Muskelempfindungen in Zugempfindungen, Gef\u00fchle der constant bleibenden Contraction, Spannung des Muskels, und in Bewegungsempfindungen, Gef\u00fchle der Ver\u00e4nderung des Con-tractionszustandes. Die Dauer der Bewegungsempfindung giebt uns, so lange sie allein ist, wie die jeder Muskelempfindung die Vorstellung der Zeit. Sobald sich gewisse andere Vorstellungen (gewisse Tast- und Gesichtsvorstellungen) mit ihr associiren, so wird sie nach Bain in das prim\u00e4re Element der Raumvorstellung umgewandelt. Nach ihm bezeichnet Raum oder Ausdehnung die Dauer eines Bewegungsgef\u00fchls, Muskelgef\u00fchls. Die weiteren Einzelheiten der Definition, welche durch die Ber\u00fccksichtigung der Geschwindigkeit der Bewegung nothwendig sind, wollen wir \u00fcbergehen. Die Muskelgef\u00fchle sind in den meisten F\u00e4llen von Tastgef\u00fchlen begleitet, wenn wir z. B. mit der Hand \u00fcber den Tisch fahren oder wenn wir, mit der Feder in der Hand, schreiben. Dadurch werden die Grenzpunkte der Bewegung deutlicher markirt, der Anfang und das Ende des Contractionsgef\u00fchles durch das Auftreten und Verschwinden der Tastgef\u00fchle ; ferner ist die Reihe der Tastgef\u00fchle ein unterst\u00fctzendes Kriterium f\u00fcr die Dauer des Muskelgef\u00fchles. Die das Muskelgef\u00fchl begleitenden Tastempfindungen k\u00f6nnen w\u00e4hrend der Dauer desselben unge\u00e4ndert bleiben; wenn wir mit der Hand ein Messer ergreifen und in der Luft herumfahren, so wird die Muskelempfindung von einer unge\u00e4ndert bleibenden Ber\u00fchrungsempfindung w\u00e4hrend der ganzen Dauer begleitet, es entsteht nur eine Zeitvorstellung gerade so, als ob das Muskelgef\u00fchl nicht von einer Tastempfindung begleitet\n1 Bis hierher reichte Funke\u2019s Ausarbeitung. Der Rest ist, zum Theil nach hinterlassenen Notizen, von Herrn Professor Dr. Latschenberger verfasst, dessen grosse G\u00fcte es erm\u00f6glichte, die Arbeit im Sinne Funke\u2019s zum Abschluss zu bringen.\nDie Redaction.","page":410},{"file":"p0411.txt","language":"de","ocr_de":"Funke\u2019s Theorie.\n411\nw\u00e4re. Es k\u00f6nnen aber die das Muskelgef\u00fchl begleitenden Tastge-f\u00fcble w\u00e4hrend der Dauer des ersteren sich best\u00e4ndig \u00e4ndern und dabei eine feste Reihe bilden. Wenn wir mit der Hand \u00fcber den Tisch streichen, so werden die Muskelgef\u00fchle von sich best\u00e4ndig \u00e4ndernden Tastgef\u00fchlen begleitet, die eine feste Reihe bilden. Diese kehrt sich um, wenn die Bewegung umgekehrt wird, sie wiederholt sich, wenn die Bewegung wiederholt wird ; dadurch wird die Eigenschaft der Permanenz, der Festigkeit der Anordnung, der Coexistenz, also die Eigenschaften des Raumes erzeugt. Die Dauer des Bewegungsgef\u00fchles ist durch die feste Reihe der Tastempfindungen zur Raumvorstellung selbst geworden. In ganz derselben Weise wird die Dauer des Muskelgef\u00fchles der Bulbusmuskeln durch \u00e4hnliche feste Reihen von Gesichtsempfindungen zur Raumvorstellung umgewandelt. Nach Bain ist der Raum ein Empfindungscomplex, an dessen Bildung sich zweierlei Componenten betheiligen, einerseits Bewegungsempfindungen, andererseits mit den vorher beschriebenen Eigenschaften ausgestattete feste Reihen von Tastempfindungen, bez\u00fcglich Gesichtsempfindungen.\nStumpf stellt zwei Gruppen von F\u00e4llen auf, durch die er in ganz klarer Weise die Theorie Bain\u2019s widerlegt. 1) Es giebt F\u00e4lle, wo alle von Bain bezeichneten Momente vorhanden sind und doch nicht Raum vorgestellt wird. Wenn wir nach vor- und r\u00fcckw\u00e4rts wiederholt eine Skala singen, so haben wir eine Muskelempfindung der Kehlkopfmuskeln, begleitet von einer mit den von Bain geforderten Eigenschaften ausgestatteten Reihe von Tonempfindungen, und doch entsteht keine Raumvorstellung. 2) Es giebt F\u00e4lle, wo nicht alle diese Momente vorhanden sind und wir doch Raumvorstellungen haben. Nehmen wir zwei Scheiben, von denen die eine einen Durchmesser von einem Zoll, die andere von zwei Zoll besitzt und die sich durch sonst nichts unterscheiden, weder durch das Material noch durch Gewicht, Temperatur u. s. w., und lassen wir sie uns bei geschlossenen Augen und vollst\u00e4ndiger Ruhe der K\u00f6rpermuskeln nach einander auf irgend eine Hautabtheilung durch gleiche Zeiten auf-legen, so unterscheiden wir scharf die gr\u00f6ssere von der kleineren. Wir haben also in diesem Falle ganz richtige Raumvorstellungen, obwohl jede Muskelempfindung fehlt. Es handelt sich hier um keine Association von Muskelgef\u00fchlen aus irgend welchem anderen Sinne etc. Denn diese Association verschiedener richtiger Muskelgef\u00fchle setzt ein entsprechendes Motiv d. i. entsprechend verschiedene Tastempfindungen voraus; es unterscheiden sich die Scheiben nur durch ihre Ausdehnung, durch den Raum, den sie auf der Hautfl\u00e4che einneh-","page":411},{"file":"p0412.txt","language":"de","ocr_de":"412\nFunke, Tastsinn etc. 4. Cap. Der Ortssinn der Haut.\nmen, und es setzt deshalb eine solche Association schon voraus, dass der Tastsinn allein schon die verschiedene Ausdehnung wahrnimmt. Wenn wir das Gesichtsfeld durch den Funken einer Leidenerflasche momentan erleuchten, so unterscheiden wir die Dimensionen der momentan beleuchteten Gegenst\u00e4nde; wir bekommen also Raum Vorstellungen, obwohl die Zeit, w\u00e4hrend welcher die Gegenst\u00e4nde gesehen werden, so kurz ist, dass die Augenmuskeln keine Contrac-tionen ausf\u00fchren k\u00f6nnen, das Auge w\u00e4hrend des Sehens absolut ruhig ist und somit alle Bewegungsgef\u00fchle fehlen. Wir haben also festgestellt, dass dem Tastsinn und dem Gesichtssinn selbst\u00e4ndige Raumvorstellungen zukommen, die sie nicht dem Muskelsinn verdanken; sie besitzen also jeder ein eigenes System von Localzeichen.\nResumiren wir die Ergebnisse unserer kritischen Sichtung des historischen Materials, so lassen sie sich zur folgenden allen That-sachen gerechten Theorie zusammenf\u00fcgen. Der Ausgangspunkt ist Weber\u2019s Theorie von den Empfindungskreisen, deren Grundlage der Satz ist, dass eine Nervenfaser nur eine in jeder Beziehung einfache nie discrete Empfindung veranlasst, wenn durch einen Reiz in ihrem Endigungsgebiet ein Eindruck hervorgerufen wird. Die von einer Nervenfaser durch eine oder mehrere Endigungen versorgte Hautabtheilung ist ein \u201e anatomischer Empfindungskreis Die ganze Hautoberfl\u00e4che ist also eine aus solchen anatomischen Empfindungskreisen zusammengesetzte continuirliche Mosaik. Jeder anatomische Empfindungskreis ist ein physiologisches Element des Raumsinnes, dem ein kleinstes Vorstellungselement entspricht, das sich mit der Erregung der entsprechenden Nervenfaser verbindet. Diese Vorstellungselemente setzen abermals eine der Hautmosaik congruente Mosaik, das Vorstellungsbild der Tastfl\u00e4che zusammen. Jedem Vorstellungselement kommt ein bestimmter \u201eRaumwerth\u201c zu, der einem Empfindungskreis entspricht und der sich von denen aller \u00fcbrigen unterscheidet. Die Differenzen der Raumwerthe sind um so betr\u00e4chtlicher je weiter die zugeh\u00f6rigen Felder der Hautmosaik auseinanderliegen. Werden zwei Tastreize auf denselben Emptindungskreis ausge\u00fcbt, so werden sie zu einer einfachen Empfindung verschmolzen. Wenn beide Reize verschiedene Empfindungskreise treffen, so werden sie nur dann unterschieden, wenn die Seele die Differenzen der beiden Raumwerthe erkennt. Werden zwei benachbarte Empfindungskreise getroffen, so wird h\u00f6chstens an der Fingerspitze des Blinden die Differenz erkannt, in jedem anderen Fall aber m\u00fcssen die getroffenen Kreise weiter auseinander liegen, durch mehr oder weniger nicht ber\u00fchrte getrennt sein. Diese kleinste erkannte Differenz ist der","page":412},{"file":"p0413.txt","language":"de","ocr_de":"Funke\u2019s Theorie.\n413\nSchwellenwerth des Auffassungsverm\u00f6gens. Wenn diese Schwelle erreicht wird, so ordnet die Seele die Eindr\u00fccke nebeneinander, der einfache Eindruck wird verbreitert oder verl\u00e4ngert. Damit beide von einander getrennt werden, damit eine L\u00fccke zwischen beiden empfunden werde, m\u00fcssen zwischen den Raumwerthen der beiden ber\u00fchrten Kreise noch auffassbare, den Zwischenkreisen angeh\u00f6rige Zwischenstufen der Raumwerthe liegen, die von der Seele vermisst, deren entsprechende Vorstellungsfelder also leer gelassen werden. Im seltensten Fall gen\u00fcgt ein leerer Kreis zwischen den ber\u00fchrten zur Wahrnehmung einer L\u00fccke, sonst aber sind viele dazu nothwendig. Daraus erkl\u00e4rt sich die Verfeinerung des Ortssinnes durch Uebung; sie ist das Analogon der Verfeinerung des Auffassungsverm\u00f6gens f\u00fcr Qualit\u00e4tsdifferenzen z. B. f\u00fcr F\u00e4rbenn\u00fcancen, Tonh\u00f6hen durch Uebung. Die kleinste wahrnehmbare Distanz \u2014 der Durchmesser des \u00abphysiologischen Empfindungskreises\u201c \u2014 ist kein Maass f\u00fcr den Durchmesser des anatomischen Empfindungskreises. Nur im seltensten Fall, wenn ein freier Empfindungskreis zwischen den beiden ber\u00fchrten zur Wahrnehmung einer L\u00fccke gen\u00fcgt, sind beide identische Gr\u00f6ssen, in allen andern F\u00e4llen umfasst ein physiologischer mehrere, oft viele anatomische Empfindungskreise. Die Gr\u00f6sse eines physiologischen h\u00e4ngt weniger von der Gr\u00f6sse der ihn zusammensetzenden anatomischen Empfindungskreise als wesentlich von der Zahl derselben ab. Diese h\u00e4ngt von der Sch\u00e4rfe des Auffassungsverm\u00f6gens der Seele ab, welche bedingt wird einerseits von der Feinheit der Abstufung der Raumwerthe, andererseits von den verschiedenen Graden der Uebung. Die anatomischen Empfindungskreise sind absolut unver\u00e4nderliche, physisch gegebene Gr\u00f6ssen ; die physiologischen dagegen sind durch Uebung variable Gr\u00f6ssen. Die Seele beurtheilt die Gr\u00f6sse der Distanz zweier Eindr\u00fccke durch die ungef\u00e4hre Sch\u00e4tzung der Zahl freier, zwischen den beiden ber\u00fchrten liegender physiologischer Empfindungskreise. Ganz in derselben Weise beurtheilt sie die L\u00e4nge einer Reihe continuirlich aneinander grenzender Eindr\u00fccke. Zur Wahrnehmung der Form der ber\u00fchrten Tastfl\u00e4che- gelangt die Seele durch die Einordnung der den gleichzeitig oder nacheinander auf die Haut wirkenden Eindr\u00fccken entsprechenden Raumwerthe in die entsprechenden Felder der Vorstellungsmosaik. Der Seele ist also f\u00fcr die Erkennung der Formen ebenfalls durch die Gr\u00f6sse der Elemente, der physiologischen Empfindungskreise eine Grenze gesteckt. H\u00f6chst wahrscheinlich gilt f\u00fcr die extensiven Wahrnehmungen des Ortssinnes ebenso Weber\u2019s Gesetz wie f\u00fcr die intensiven des Drucksinnes. Es entspricht demnach die extensive Unterschieds-","page":413},{"file":"p0414.txt","language":"de","ocr_de":"414\nFunke, Tastsinn etc. 4. Cap. Der Ortssinn der Haut.\nschwelle demselben relativen Zuwachs der Zahl der getroffenen Empfindungskreise. Die durch zwei qualitativ und quantitativ identische Reize hervorgerufenen Eindr\u00fccke l\u00f6sen von verschiedenen Empfindungskreisen aus entsprechend verschiedene physiologische Effecte aus. Diese vom Reizort abh\u00e4ngigen Verschiedenheiten des physiologischen d. i. physischen (Lotze) Reizerfolges nennt man \u201e Localzeichen \u201c (Lotze). Die Quelle der Localzeichen liegt nicht an der Peripherie, ferner nicht in den leitenden Nervenfasern, sondern im Centrum. Die Localzeichen, die Differenzen der ankommenden Erregungen werden bedingt durch entsprechende Differenzen der Empfangsstationen, also wahrscheinlich der Ganglienzellen. Dem Tastsinn kommt wie jedem Sinn, der r\u00e4umliche Wahrnehmungen vermittelt, ein eigenes System von Localzeichen zu, die sich nur mit den speeifischen Empfindungen des Tastsinnes combiniren.","page":414}],"identifier":"lit19189","issued":"1880","language":"de","pages":"287-414","startpages":"287","title":"Zweiter Theil: Physiologie der Hautempfindungen und der Gemeingef\u00fchle, Erster Theil: Der Tastsinn und die Gemeingef\u00fchle","type":"Book Section","volume":"3"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:06:48.289215+00:00"}

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