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{"created":"2022-01-31T14:18:52.767163+00:00","id":"lit19841","links":{},"metadata":{"contributors":[{"name":"Naegeli, Carl Wilhelm von","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"M\u00fcnchen, Leipzig","fulltext":[{"file":"a0002.txt","language":"de","ocr_de":"Mechanisch-physiologische\nTheorie der Abstammungslehre.\nVon\nC. v. N\u00e4geli.\nMit einem Anhang:\nli Die Sohranken der naturwiseensohaftliohen Erkenntnis^ 2. Kr\u00e4fte und Gestaltungen im moleoularen Gebiet\nglichen und Leijsig.\nDruck nnd Verlag von R. Oldenbourg.","page":0},{"file":"a0004.txt","language":"de","ocr_de":"General r\u00dfb 2\t*\nVorliegende Schrift verdankt ihre Entstehung dem Vortrag \u00fcber die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis\u00ab, den ich im Jahre 1877 bei der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerate\n* zu halten veranlasst war. Die in demselben entwickelte Ansicht,\n/\ndass unserer Vorstellung und unserem Wissen einzig und allein die . endlichen Erscheinungen, dagegen aber auch alle endlichen Er* ; scheinungen, sofern sie in den Bereich unserer ainnliehen Wahr-\\ uehmung fallen, zug\u00e4nglich seien, verlangte in verschiedener Be-- ziehung eine weitere AusfQhrung und Begr\u00fcndung.\n. E* musste gezeigt werden, wie sich diese Theorie f\u00fcr das Gebiet c der unendlichen Theilbarkeit gestaltet, und wie mit ihr die experimentellen Erfahrungen \u00fcber moleculare Kraftbegabung und Formbildung in U\u00dcbereinstimmung sich befinden. Es musste andrerseits dargethan werden, dass jene Theorie ebenfalls in dem Gebiet der gr\u00f6ssten uns bekannten Zusammensetzung, in den Abstaramuiigs-reihen der belebten, zum Th eil mit Gef\u00fchls- und Geistesleben begabten Organismen durchf\u00fchrbar ist Letzteres lag auch deswegen nahe, weil in der genannten Versammlung das Problem der Abstammungslehre im Vordergrund wissenschaftlicher Besprechung sich befand. Da hierbei dieses Problem und gewissermaasseu auch","page":0},{"file":"a0005.txt","language":"de","ocr_de":"IV\nVorwort.\nmein Vortrag den beiden jetzt noch so weit verbreiteten wissen* schaftlichen Richtungen, die wir mit dem Namen der objectivcn und der subjectiven Methode summarischer Erfahrung bezeichnen k\u00f6nnen, Gelegenheit gegeben hatten, jeder im Gegensatz zur andern, den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit in Forschung und Lelire vor dem gebildeten Publikum zu behaupten, so schien es angezeigt, diesen beiden Richtungen gegen\u00fcber die logische Alleinberechtigung der exacten Methode, wie sie sich in den mathematischen und physicalischcn Disciplinen bew\u00e4hrt hat, auch f\u00fcr die \u00fcbrigen Gebiete der Naturwissenschaften aufrecht zu erhalten. Die Schrift sollte daher ausser dem Vortrag \u00fcber die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss noch Abhandlungen \u00fcber die Mole-cularerscheinungen, \u00fcber die Abstammungslehre und \u00dcber die Forschung8- und Lehrmethode enthalten.\nBei der Ausf\u00fchrung nahm die Abhandlung \u00fcber die Abstammungslehre infolge der freieren Behandlung, welche sich unwillk\u00fcrlich aufdr\u00e4ngte, eine gr\u00f6ssere Ausdehnung an, als beabsichtigt war. Ich stellte sie, weil damit die Harmonie in Vergleich mit den \u00fcbrigen Abhandlungen gest\u00f6rt war, nunmehr voran und gab ihr, schon des genetischen Zusammenhanges wegen, als Anhang den Vortrag \u00fcber die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss und den bereits vor l\u00e4ngerer Zeit geschriebenen Aufsatz \u00fcber die Kr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet bei, indem ich die nur halbvollendete und weiter abliegende Abhandlung \u00fcber die Forschungs- und Lehrmethode wegliess. Die Beigabe der beiden Abhandlungen des Anhanges rechtfertigt sich \u00fcbrigens auch aus inneren Gr\u00fcnden, da die nat\u00fcrliche Abstammungslehre als unzweifelhafte Thatsache allein auf den allgemeinen Principien des Causal-gesetzes oder des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft und somit auf den Principien der naturwissenschaftlichen Erkenntniss beruht, und da ferner die genaue Ausf\u00fchrung an die spontane Entstehung","page":0},{"file":"a0006.txt","language":"de","ocr_de":"Vorwort.\nV\nder organischen Welt ans dem Unorganischen ankn\u00fcpfen muss, wof\u00fcr eine Einsicht in die molecularen Kr\u00e4fte und Gestaltungen als selbstverst\u00e4ndliche Voraussetzung erscheint.\nWus die Abstammungslehre betrifft, so ist dieselbe durch eine Reihe von Jahren, w\u00e4hrend derer l\u00e4ngere Krankheiten wiederholte Unterbrechungen verursachten, entstanden. Sie hat w\u00e4hrend dor Abfassung in verschiedenen Punkten eine Wandlung erfahren, indem nur die allgemeinen mechanischen Gesichtspunkte unverr\u00fcckt festgehalten wurden. Sie ist daher nicht in einem Zuge geschrieben, auch nicht nach einem festen, ins Einzelne gehenden Plane gearbeitet; man sieht ihr vielmehr das m\u00fchsame Werden an. Das anf\u00e4nglich wenig rmfangreiche Manuscript erhielt wiederholte Zus\u00e4tze, die nun mehrfach sich episodenhaft ausnehmen. Auch bleibt schliesslich, wie es bei einem so complicirten und schwierigen Problem wie der mechanisch-physiologischen Betrachtung der Abstammungslehre nicht anders m\u00f6glich ist, mancher Punkt zweifelhaft und gestattet verschiedene Erkl\u00e4rungen. Ich konnte es daher nicht als meine Aufgabe erachten, eine Umarbeitung behufs einer systematisch gegliederten Theorie zu versuchen, welche vielleicht durch ihre fertige Bestimmtheit sich leichter die allgemeinere Zustimmung erworben, aber wie jedes bloss durch formale Dialektik und nicht durch innere Nothwendigkeit abgeschlossene System dem wissenschaftlichen Fortschritt mehr Hemmung als F\u00f6rderung gew\u00e4hrt h\u00e4tte.\nEs lag nicht in meiner Absicht, alle Gebiete der Abstammungslehre zu besprechen, sondern ich ber\u00fchrte vorzugsweise nur diejenigen, welche \u00fcber die allgemeine Theorie Licht zu verbreiten im Stande sind. So sind die sonst vielfach behandelten Gebiete der geographischen Verbreitung, sowie des pal\u00e4ontologischen Vorkommens von mir fast g\u00e4nzlich vernachl\u00e4ssigt worden, weil die vorliegenden sicheren Thatsachen vielfacher Deutung f\u00e4hig sich erweisen, und weil sie viel eher ihre Erkl\u00e4rung von einer richtigen Theorie","page":0},{"file":"a0007.txt","language":"de","ocr_de":"VI\nVorwort.\nerwarten, als dass sie zur Begr\u00fcndung derselben in erheblichem Mausse beitragen k\u00f6nnten.\nDagegen schien es mir zweckm\u00e4ssig zu zeigen, wie sich die neue Theorie der Abstammung f\u00fcr das Pflanzenreich gestaltet. Bisher sind zur Begr\u00fcndung der Abstammungslehre fast ausschliesslich die Erscheinungen des Thierreiches verwertliet worden, woraus sich die naturgemftsse Folge ergab, dass die offen daliegende Anpassung an \u00e4ussere Verh\u00e4ltnisse in den Vordergrund trat, indem sie die verborgene gesetzm\u00e4ssige Entwicklungsgeschichte durch innere, in der kraftbegabten Substanz begr\u00fcndete Ursachen in den Hintergrund dr\u00e4ngte und \u00fcbersehen liess. Im Pflanzenreiche liegen die Verh\u00e4ltnisse gerade umgekelirt ; das Studium derselben ist daher besonders geeignet, die Abstammung der Organismen bez\u00fcglich ihrer urs\u00e4chlichen Bedeutung in das richtige Licht zu stellen.","page":0},{"file":"a0008.txt","language":"de","ocr_de":"Inhalt\nMechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre.\nBeite\nEinleitung........................................................ 8\nI. Idioplasm* als Tr\u00e4ger der erblichen Anlagen.....................31\nOffene and verborgene Merkmale. Anlagen...........................\u2014\nIdioplasm* and Ernfihrungsplasm*.................................26\nFonction and Stractar des Idioplasmas im allgemeinen ......\t80\nStructur anderer oiganisirter K\u00f6rper .\t 35\nDie spedfische Katar des Idioplasmas besteht in der Configuration des\nQuerschnitts von Str\u00e4ngen paralleler Micellreihen........... 87\nDie Anlagen sind im Idioplasma in ihre micellaren Componenten aufgel\u00f6st 43 Medianische Vorstellung bez\u00fcglich der spcdfischen Wirksamkeit des\nIdioplasmas..................................................46\nLocale Entstehung erblicher Anlagen und Mittheilung derselben durch\nden ganzen K\u00f6rper........................................... 58\nZahl und Gr\u00f6sse der Micelle im Idioplasma........................60\nPangenesis von Darwin........................................... 88\nFerigeneds von Hickel............................................74\nn. Urseugnng........................................................ 83\nDas Organische entsteht aus dem Unorganischen.....................\u2014\nDie spontan entstehenden Wesen sind nicht die niedersten der bekannten Organismen, sondern Probien.............................84\nBeziehungen zwischen der organischen und unorganischen Natur ...\t98\nm. Ursachen der Ver\u00e4nderung.........................................102\nDie Emfthrungsdnfl\u00fcsse bewirken vor\u00fcbergehende Ver\u00e4nderungen. .\t\u2014\nVerhalten der inneren Ursachen zur Ern\u00e4hrung....................106\nDie inneren Ursachen sind Molecularkr\u00e4fte und wirken als solche . 116 Entwicklung der \u00e4usseren Gestaltung und der inneren Structur des Idioplasmas.................................................119","page":0},{"file":"a0009.txt","language":"de","ocr_de":"vra\nInhalt.\nWirkung der Ver\u00e4nderungen des Idioplasmas auf seine Umgebung . . Das Idioplasma ver\u00e4ndert sich stetig, die Organismen meist sprungweise ^^ Wirkung der \u00e4usseren Einfl\u00fcsse im Gi\u201cgensatz in den inneren Ursachen Die \u00e4usserem Einfl\u00fcsse, welche erbliche Ver\u00e4nderungen hervorbringen,\nsind lang andauernde Reize.....................................\nDie Reise bewirken Reizbarkeit ...\t..........................\nDie Reise bewirken sichtbare Anpassungen : Kork, mechanische Gewebe, Winden und Klettern..............................\n+\nI-\nBlumenbl\u00e4tter, Honigdr\u00fcsen, klebriger Pollen....................\nFarl>e und Geruch der Bl\u00fcthen................................\nDimorphe und trimorphe Bl\u00fcthen..................................\nDas Bed\u00fcrfnis\u00ab wirkt als Reiz, ebenso die Sinnesempfindungen . . . Die Anpassungen sind die directe Folge der \u00c4usseren Einwirkungen (nicht\nder Auslese) \u2022.............................................\nWirkungen eines Reises von unbegrenzter und von begrenzter Dauer . Verschiedener Charakter der Anpassung im Pflanzen- und im Thierreich -Die Ver\u00e4nderung tritt suent im Idioplasma und ent nachher am Organismus auf.........................................................\nZusammenwirken der inneren und der \u00e4usseren ver\u00e4ndernden Einfl\u00fcsse\nIV. Anlagen und sichtbare Merkmale.......................................\nDie idioplasmatische Anlage muss einen gewissen Grad der Ausbildung erreichen, um entfaltungsf\u00e4hig zu werden (Vervollkommnungs- und\nAnpassungsanlagen)..............................................\nVerschiedene Arten der Entfaltuugsf\u00e4liigkeit und Ursachen der Entfaltung Der Entfaltungszustand ist die nothwendige Folge der Eigent\u00fcmlichkeit\nder i<liopla8matischen Anlagen .................................\nKur in den idioplasmatischen Anlagen ist das vollst\u00e4ndige Wesen der\nOrganismen enthalten..........................................\nVererlmngsantheil der beiden Eltern bei der gescldechtlichen Fortpflanzung Verhalten des Idioplasmas bei der Kreuzung bez\u00fcglich Vereinigung,\nH\u00e4ufung und Entfaltung der Anlagen...........................\nMolcculare Vorg\u00e4nge bei der Vereinigung des m\u00e4nnlichen und weiblichen\nIdioplasmas ............................................\nMaterielle Befruchtungstheurie....................\nDynamische Befruchtungstheorie..............................\nV. Variet\u00e4t. Rasse. Ern\u00e4hrungsmodification. \u2014 Vererbung und Ver\u00e4nderung ................................................\nDie Rasse ist das Product von abnormalen Eigenschaften und geh\u00f6rt\nder Domestication an...............................\nRasse und Variet\u00e4t........................................\nBeobachtungen und Culturresultate bei Hieradum...................\nUrsachen der Verschiedenheit von Rasse und Variet\u00e4t\nEntstehung der Variet\u00e4t..................................\nErn\u00e4hrungsmodification im Gegensatz zu Rasse und Variet\u00e4t Ern\u00e4hrungsmodification bei niederen Pilzen................\nSeile\n129\n132\n186\n189\n142\n144\n149\n158\n156\n162\n166\n168\n169\n171\n173\n183\n191\n196\n197\n198\n205\n215\n220\n228\n231\n284\n236\n245\n248\n259\n264\nVererbung . Ver\u00e4nderung\n272\n277","page":0},{"file":"a0010.txt","language":"de","ocr_de":"Inhalt.\nIX\nVI. Kritik \u00bb1er Darwinschen Theorie von der nat\u00fcrlichen\nZuchtwahl\t........................\nVerbleichung der Selectkmstheorie mit der Theorie von der diiecten\nBewirkung.......................................\nAufs\u00e4hlung der maassgebenden Gesichtspunkte ...\nAllgemeine Bedeutung der Theorie.........................\nSchlussfolgerung von der Rassenbildung auf die Varietitenbiblung\nWirkung \u00bb1er Verdr\u00e4ngung auf die Zuchtwahl...................\nWirkung der Ern\u00e4hningseinflflsse .\t..........\nMorphologische Merkmale...............................\nSystematischer Aufbau der gansen Reiche...............\nAnpassung \u00bb1er Bewohner eines Landes..................\nKeite\n284\n288\n290\n2?\u00bb7\n310\n316\n826\n330\n334\nVH. Phylogenetische Entwicklungsgeschichte des Pflanzen-\nreiches .............................................\nEntwicklungserscheinungen im probialen Reich...............\n1.\tWachsthum......................................\n2.\tZunahme der inneren Gliederung und der Function .\n8. Bildung der Mautschicht........................\n4.\tTheilung . .\n5.\tBildung der nichtplasmatischen Zellmembran\n6.\tTrennung der Zellen............................\n7.\tFreie Zellbildung....................\nEntwicklungsgesetze des Pflanzenreiches ....\nI. Vegetativwerden der Zelltheilung.....................\nH. Vegetativwerden der Sprossung.......................\nin. Vegetativwerden der freien Zellbildung...........\nIV.\tGewebebildung aus der Verzweigung....................\nZusammenfassung von I\u2014IV als Gesetz der Vereinigung .\nV.\tGesetz der Ampliation.................................\nVI.\tGesetz der Differenzirung ; r\u00e4umliche Difierenzirungen\nZeitliche Differenzirungen...................\nVH. Gesetz der Reduction....................\nZusammenfassung von V\u2014VII als Gesetz der Complication\nVIII. Gesetz der * Mprnnnng.........................\nZusammenwirken der verschiedenen phylogenetischen Processe\n388\n341\n342\n343 846 347 349 351 857 364\nQ\u00fci!\nOOO\n369\n378\n880\n882\n899\n405\n410\n411 420\nVm. Der Generationswechsel in phylogenetischer Beziehung\nOntogenetische Periode....................................\nGenerationswechsel bei einzelligen Pflanzen ..................\nGenerationswechsel bei vielzelligen Pflanzen..................\nBegriff des Pflanzenindividuums........................\nBedeutung dieses Begriffs f\u00fcr den Generationswechsel..........\nGenerationswechsel bei den Florideen..........................\nPhylogenetische Bedeutung des Generationswechsels.............\n426\n428\n432\n487\n444\n447\n449\nIX. Morphologie und Ry stematik als phylogenetische Wissenschaften ........................................\nDie systematischen (morphologischen) Merkmale k\u00f6nnen nur auf phylogenetischem Wege erkannt werden.....................","page":0},{"file":"a0011.txt","language":"de","ocr_de":"X\nInhalt\nZwischen den jetzigen Arten besteht in Wirklichkeit kein allgemeiner\ngenetischer Zusammenhang. Systematische Verwandtschaft . . 462 Abstammungslinie der Gef\u00e4sspflanzen von den Algen dnrch die Leber-\nmoose .........................................................\nPhylogenetische Entwicklung der systematischen Merkmale der Phanerogam\u00ab\u00ab\u00bb ......................................................... 479\nAufbau des Pfiansenstockes.....................................4&I\nGestaltung, Stellung und Verwachsung der\tPhyllome..............484\nAufbau der Blftthe...............................................\nEinseine Theile der Bl\u00fcthe.....................................509\nWelches ist die vollkommenste Pflansenfamilie?...................513\nX. Zusammenfassung....................................................\nDie Schranken der naturwissenschaftlichen\nErkenntniss.\nVorwort.................................................................\nEinleitung..............................................................\nBeschaffenheit und Bef\u00e4higung des erkennenden Ich.......................\nBeschaffenheit und Zug\u00e4nglichkeit der Natur.............................\nWesen des Erkennens...................................................\nKeine principielle \\ erschiedenheit zwischen unorganischer und organischer Natur..................................\nKeine principielle Verschiedenheit swischen unbeseelter und beseelter Natur\nZusltse.\t''\t'\n1.\tPhysische und metaphysische Atomistik...................\n2.\tV \u00bbendliche Abstufung in der Zusammensetsung und Organisation des Stoffes\n3.\tNaturphiloeophische Weltanschauungen. Entropie....................\n4.\tBedingungen f\u00fcr empirisches Wissen und Erkennen. Morphologische\nWissenschaften.................................\n5.\tAprioritat a) des Gravitationsgesetzes............................\nb)\tder Mathematik................................\nc)\tals allgemeines Prindp........................\n6.\tKraft. Stoff. Bewegung..................................\n7.\tQualit\u00e4t in der Natur.........................\n\u2014\u2014sh. Zur\u00fcckf\u00fchrung geistiger Vorg\u00e4nge auf stoffliche Bewegungen . . . . 9. Vergleichung der thierischen Affecte mit analogen unorganischen Erscheinungen .............................................\n665 560 566 570 578\n585\n590\n603\n612\n615\n622\n680\n633\n635\n657\n662\n666\n677\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\nElementarkr\u00e4fte. Theilchen der kleinsten Gr\u00f6ssenordnung ( A mere) . . . 683\n1.\tVertheilung der Elementarkr\u00e4fte auf die Amere................... 688\n2.\tAgglomeration und Dispersion der Amere.............................690\nGesammtmengen der verschiedenen Elementarkr\u00e4fte ; Scheidung in w\u00e4gbare und unw\u00e4gbare Massen...............................................\nGesammtmenge der Gravitationsanziehung und der A etherabstossung\nin den w\u00e4gbaren Massen................................................\nOrganisation der aus Ameren bestehenden w\u00e4gbaren und Aethermassen 701","page":0},{"file":"a0012.txt","language":"de","ocr_de":"Inhalt.\nXI\n3.\tElastic! t\u00e4t....................................\n4.\tSchwerkraft.................................\nIhr\" Wirkung ist die Diff\u00e9rons zwischen der Gravitationsanziehung und der Aetherabstossung.........................\nVergleichung ihrer Intensit\u00e4t mit derjenigen der Elementarkr\u00e4fte 6. W\u00e4rme...........................................\nAetherwttnne, deren Fortpflanzung und Uebertragung auf die w\u00e4gbaren \u00dftoffe....................................................\nBedeutung der Energie und der Masse im Gebiet der Amere '\n6.\tElektricit\u00e4t.................................\nElektrische Erregung........................\nElektrische Str\u00f6mung........................\nElektrodynamik.................................\n7.\tMagnetismus. Diamagnetisnms.....................\n5.\tGr\u00f6sse, Gestalt und Zugar ensetzung der Atome.......................\nBedeutungslosigkeit des \u00e0 .omgewichts...............................\nBetr\u00e4chtliche Grosse des Atomk\u00f6rpere im Verh\u00e4ltniss zum Atomvolumen\nZusammensetzung der Atome aus Particellen...........................\nAtomgrOsse bei den verschiedenen chemischen Elementen...............\n\u00ce\u00bb. Entstehung, Beschaffenheit und Ver\u00e4nderung der Atome\nVor\u00fcbergehende Ver\u00e4nderung der Atome durch Bewegung ihrer Theile Dauernde Ver\u00e4nderung der Atome. Positive und negative Entropie .\n30. Chemische Verwandtschaft. Adh\u00e4sion..........................\nUnzul\u00e4nglichkeit der elektrochemischen Theorie ....\nZusammenwirken der verschiedenen Elementarkr\u00e4fte....................\nWesen der chemischen S\u00e4ttigung......................................\nOpponirte, collaterale und dorsale Bindung ....\nBenetzung und Imbibition............................................\nCoh\u00e4sionserscheinungen .\n11. Isagitlt...............................................\n32. Zusammenfassung ...\nSeite\n709\n716\n723\n72\u00bb\n786\n788\n742\n747\n750\n755\n769\n761\n769\n771\n777\n779\n783\n786\n798\n798\n800\n804\n807\n810","page":0},{"file":"a0014.txt","language":"de","ocr_de":"Meteb-jhplopke Theorie\nder\nAbstammungs lehre\nv. N\u00fcgclI, Almummnngalchre.\n1","page":0},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung.\nWohl seit anderthalb Jahrzehnten bot sich den Physiologen ein wunderbares Schauspiel dar. Das schwierigste Problem ihrer eigenen Wissenschaft wurde mit wachsendem Eifer und Kraftaufwand von Nichtphysiologen in einer Fluth von Schriften puhlicistisch l\u00bbe-arlieitet. Die Entstehung der organischen Welt geh\u00f6rt zum innersten Heiligthum der Physiologie. Ihre Behandlung setzt ein richtiges Urtheil in den dunkelsten Gebieten voraus; dieselben betreffen das Verh\u00e4ltnis des Organischen zum Unorganischen, das Wesen des Lehens selbst, die Ern\u00e4hrung, das Wachsthum, die Fortpflanzung, die Vererbung, die Ver\u00e4nderung durch eine Reihe von Generationen, die Beziehungen zwischen den verschiedenen Organismen, zwischen ihnen und der Aussenwelt, zwischen den Theilen oder Organen des gleichen Organismus.\nWiewohl die Entstehung der organischen Welt theils wegen ihrer unvergleichlichen wissenschaftlichen Bedeutung, theils wegen des allgemeinen Interesses in den gebildeten Kreisen die Physiologen aufzumuntern geeignet war, so erschien ihnen dieses letzte und h\u00f6chste Problem doch so verwickelt und schwierig, dass sie nur etwa gelegentlich und bloss im allgemeinen dar\u00fcber sich auszusprechen wragten. Dieses Bedenken wurde von den Nichtphysiologen weniger schwer empfunden.\nDie Lehre von der Entstehung der organischen Welt ist zwar rein physiologischer Natur. Sie bedarf aber zu ihrer L\u00f6sung verschiedener Hi\u2019fswissenschaften : der Zoologie mit vergleichender Anatomie und Histologie, der morphologischen und systematischen Botanik, der Pal\u00e4ontologie und Geologie, der Anthropologie.","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nEinleitung.\nDaher f\u00fchlten Zoologen, Anatomen, Anthrnj>ologen, licschrciltondc Botaniker, Pal\u00e4ontologen den Beruf, sieh mit der Entstehungslehro zu besch\u00e4ftigen, und es war dies im h\u00f6chsten Grade verdienstlich, soweit die betreffende Wissenschaft ihrem Inhalte nach wirklich dabei he* theiligt ist. Da sich diese Besch\u00e4ftigung \u00abl\u00bbcr h\u00e4ufig nicht auf don oigenen Horizont lieschr\u00e4nkte, sondern in andere Horizonte \u00dcbergriff und zu einer Uebersicht und Beurtheilung des Ganzen sich verstiog, so vermengte sich mit dem Brauchbaren viel Unbrauchlares und Irrth\u00fcmlicho8. Denn, wenn auch Schlosser, Sp\u00e4ngler, Schreiner, Glaser, Maler, Dachdecker bei dem Bau eines Hauses unentliehrlich sind, folgt daraus nicht f\u00fcr jeden dersell)en die Bef\u00e4higung, den Plan zu entwerfen und den Bau zu f\u00fchren, oder auch nur Plan und Bau-f\u00fchrung zu kritisiren.\nDio Entstehungsichre der organischen Welt ber\u00fchrt auch die Philosophie und die Theologie an sehr empfindlichen Stellen, und sie intcressirt das grosse gebildete Publicum theils aus eben diesem Grunde, theils weil \u00ablie Eitelkeit der Menschen von jeher viel auf Abkunft und Verwandtschaft gehalten hat.\nDaher sahen wir denn auch Philosophen, Theologen und \u00fcber-dem Literaten aller Art und aller Abstufung sich der Frage bem\u00e4chtigen. Auch dies w\u00e4re ganz in der Ordnung, wenn jeder die sicheren Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung f\u00fcr sein Gebiet verwendet und dar\u00fcber in seinem Kreise aufkl\u00fcrenden und belehrenden Bericht erstattet h\u00e4tte, wenn nicht so mancher das Gebiet schwieriger physiologischer Probleme f\u00fcr einen freien Tummelplatz widersinniger Dialectik betrachtet h\u00e4tte. Denn wenn schon die Handwerker, die l\u00bbei einem Bau mithelfen, nicht im Stande sind, selber ein Haus zu bauen und die Construction zu beurtheilen, so sind gewiss diejenigen nicht eher dazu bef\u00e4higt, welche dasselbe, nachdem es fertig und verkleidet ist, bewohnen, oder welche den Inwohnern Besuche machen, oder durch irgend welche Gescli\u00e4fte in eine R\u00e4umlichkeit desselben gef\u00fchrt w?erden.\nSo treten denn beim Ueberblick der ganzen literarischen Bewegung, welche die Entstehung der Organismen zum Gegenstand hat, einige Erscheinungen hervor, welche theils f\u00fcr unsere Zeit, theils auch f\u00fcr unsere Nation bemerkenswerth sind. Die eine derselben, die ich bereits angedeutet habe, wiederholt sich freilich \u00fcberall, wo sich die allgemeine Thcilnahmc einer Frage zuwendet. Die Sicherheit","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung.\nft\nund Bestimmtheit des UrUieils nimmt su, sowie sich die Berechtigung dazu vermindert.\nWahrend die Physiologen mit der Besprechung der schwierigen physiologischen Fragen zur\u00fcckhielteu und die der Physiologie ntther stehenden Naturforscher sich noch einigerinaassen liehutsam \u00e4ussorton, wurden die Meinungen immer entschiedener, je weiter man sich von dem sicheren Boden entfernte, gleich als ob das Interesse f\u00fcr eine Sache die realen Kenntnisse und die formule Schulung des Urtheils ersetzen konnte.\nDem Physiologen wird dabei zu Muthe, wie etwa dem Physiker w\u00fcrde, wenn sich das grosse Publicum an der L\u00f6sung des Problems der mechanischen Elektricitatstheorie betheiligen wollte. Bekanntlich hat die Physik noch keine sichere Vorstellung \u00fcber dos Wesen der Elektricitat, und vermeidet es wom\u00f6glich, dar\u00fcber eine bestimmte Ansicht auszusprechen. Die Erfahrung, die wir jetzt mit der Lehp* von der Entstehung der Organismen machen, w\u00fcrde sich wietfer-holen, wenn aus irgend einem Grunde die Theilnahme an der Elektrieit\u00e4tslohre ebenso lebhaft erwachte. K\u00f6nnten die Fragen, ob der elektrische Strom eine eigene Substanz (ein Fluidum) oder eine Be-wegungsform der kleinsten Theilchen sei, ferner in welcher Weise sich diese Theilchen bewegen und in welchem Causolverli\u00e4ltniss die elektrischen Bewegungen zu andern Bewegungsformen stehen, \u2014 k\u00f6nnten diese Fragen dem Publicum soviel Interesse gewahren wie die Abstammung des Menschen und die Herkunft des Organischen, so d\u00fcrfte ohne Zweifel auch die Physik mit Erstaunen die Erfahrung machen, dass ihr dunkelstes Gebiet von den Verfertigern der Elektrisir-maschinell, von den Blitzableitermachern, von den Verk\u00e4ufern von Rheumatismusketten, von den Telegraphisten, schliesslich von den Aufgebern und Empf\u00e4ngern der Telegramme und nicht am wenigsten von den Literaten, welche bald bei elektrischem Licht ihr Feuilleton schreiben werden, mit steigender Bestimmtheit discutirt und entschieden w\u00fcrde.\nDas unlogische Verfahren ging soweit, dass die Probleme, welche die Entstehung der Organismen lietreffen, ohne die n\u00f6thigcn Kenntnisse und die erforderliche Bildung selbst bis ins Einzelne besprochen und als wissenschaftliches System dargestellt wurden, indem man, statt mit dem Lernen, mit dem Lehren lieginnen zu d\u00fcrfen meinte. Man kann das Docondo disciiuus doch gar zu fr\u00fch in Anwendung","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"G\nEinleitung.\nbringen wollen. Wenn es nicht im Charakter der Zeit im allgemeinen l\u00fcge, schon Ernte zu verlangen, ehe nur die Saat recht aufgegangen ist, und wenn nicht in manchen Gebieten dos Wissens eine wenig gr\u00fcndliche Speculation zur L\u00f6sung schwieriger Fragen f\u00fcr ausreichend erachtet w\u00fcrde, so w\u00e4re schwor ljegroiflich, wie selbst ernsthafte und in ihrom Fache ungesehene wissenschaftliche M\u00e4nner ihro Studien im Alphabet der Abstammungslehre in grossen Zeitungen und Zeitschriften l owio in oigonen B\u00fcchern niodorlegen und dem kundigen physiologischen Publicum zeigen mochten, welch langsame Fortschritte ihre Erkenntniss in dem neuen Gebiete machte, und wie sie selbst nach Jahren noch in den lxxlonkliclisten naturwissenschaftlichen Irrth\u00fcmern befangen blieben, die ein gr\u00fcndliches Studium von einigen Monaten zu beseitigen im Stando gewesen w\u00e4re.\nEine andere Erscheinung, welche mit der Lehre von der Entstehung der organischen Welt zu Tage getreten ist, betrifft fast ausschliesslich unsere Nation. Man h\u00e4tte erwarten k\u00f6nnen, dass nach der naturphilosophischon Periode, welche in Deutschland viele der tasten Kr\u00e4fte f\u00fcr den Fortschritt der Wissenschaft unbrauchbar machte, die Ern\u00fcchterung hinreichend gewesen w\u00e4re, um uns auf \u00ablern eigentlich naturwissenschaftlichen Felde vor philosophischer Sjjoculation zu bewahren. Wir machen aber dio Erfahrung, dass im grossen und ganzen die philosophische, philologische und \u00e4sthetische Bildung immer noch so sehr die Oberhand hat, dass eino gr\u00fcndliche und exacte Behandlung naturwissenschaftlicher Fragen nur auf enge Kreise beschr\u00e4nkt bleibt und dass auch ein gr\u00f6sseres Publicum sich mit Vorliebe von einer sogenannten idealen, {\u00bboetischen, speculativen Darstellung angezogen f\u00fchlt.\nW\u00e4hrend nun einerseits in Deutschland der von England kommende Anstoss auf dem Gebiet der Abstammungslehre die fruchttarste Wirkung \u00e4usserte, w\u00e4hrend eino Menge von Arbeiten in allen die allgemeine Frago ber\u00fchrenden Gobieten unternommen wurdo und eino F\u00fclle von werthvollen Erfahrungen im einzelnen f\u00fcr die Wissenschaft ergab, wurde andrerseits jene Lehre in ein dem strengen Forscher wenig anziohendes Gewand geh\u00fcllt. Die n\u00fcchterno, von dem praktischen gesunden Verst\u00e4nde :1er Engl\u00e4nder zougonde Darstellung Darwin\u2019s, namentlich in der ersten Ver\u00f6ffentlichung, wurdo in Deutschland, ohne Bereicherung des wissenschaftlichen Gehaltes,","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung.\n7\nins Phuntustisch-ph ilosophischo \u00fcbersetzt, <lie Lohre wunle dogmu-tisirt, systemutisirt, scheniutisirt und \u2014 um auch dus philologische Bed\u00fcrfnis\u00bb zu l>efriodigen \u2014 gr\u00e4cisirt.\nDie Abstuniniungslehre, soweit sie die eigentlich physiologischen Probleme und nicht Dinge betrifft, welche den einzelnen Hilfswissenschaften angeh\u00f6ron, wurde bisher gew\u00f6hnlich uls ganzes System behandelt Es ist dies aus zwei Gr\u00fcndon begreiflich. Einmal hatte die Darstellung nicht bloss die F\u00f6rderung der Wissenschaft, sondern auch die W\u00fcnsche eines gr\u00f6sseren Publicums im Auge, und in letzterer Beziehung war ein fertiges System Bed\u00fcrfnis\u00bb.\nFerner wurden, wie bereits erw\u00e4hnt, die Bearlieitungon nicht unter dem Einfluss der exacten physiologischen Methode, sondern vom Standpunkte der beschreibenden Naturgeschichte aus unternommen. Da die letztere die Beantwortung allgemeiner Fmgcn betreffend den Zusammenhang der Dinge nur durch erweiterte Induction und durch Analogieschl\u00fcsse zu Stande bringt und bloss zur Wahrscheinlichkeit, nicht zur Gewissheit gelangt, so ist es begreiflich, dass sie immer zum Ausbau des Systems dr\u00e4ngt, um jedes Einzelne im Zusammenh\u00e4nge mit dem Uehrigen und als Tlieil des Ganzen zu betrachten und zu pr\u00fcfen. Daher beurthcilt auch \u00ab1er beschreibende Naturkundige, der ein Abstammungssystem aufgestellt hat, eine neue Thutsache, die ihm von anderer Seite geboten wird, nicht sowohl nach den Beobachtungen, aus denen sie erschlossen wurde, sondern vor allem nach dem Verh\u00e4ltnis\u00bb, in welchem sie zu seinem System steht. Da er gewohnt ist, auf seinem Wege nur zur anfechtbaren Hypothese, nicht zum sicheren Gesetz zu kommen, so betrachtet er ulles, uueh das auf dem Wege genuuer Booliachtung und strenger Kritik gewonnene, nicht als Thutsache, sondern als Meinungssache. Dies war beispielsweise der Fall mit \u00bb1er Thutsache von der gemeinschaftlichen Entstehung der Pflanzen.''len und mit derjenigen von der Bedeutungslosigkeit der klimatischen und Er-n\u00e4hningseinfl\u00fcsse auf die Entstehung der Variet\u00e4ten, die ich lieide hinl\u00e4nglich begr\u00fcndet zu haben gluube '). und die ein uni befangener und gewissenhafter Beobachter leicht pr\u00fcfen und best\u00e4tigen kann.\n*) Ueber \u00ablen Einfluss \u00ab1er \u00e4usseren Verh\u00e4ltnisse auf \u00ablie Yari\u00abtatcnhil<luiiK an Pflanzenreiche. Hitsungsher. d. math-phys. Classe \u00abI. k. huyr. A end. d. Wiss *u M\u00fcnchen, 18. X\u00abiv. 18G5.\nDas gesellschaftliche Entstehen neuer Hpecies. Elbcinlusclhst 1. Fehr. |H?:t.","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nEinleitung.\nDieso Thatsachon f\u00fcgton alwr dom ganzen Mcinungsgoljfiudo dor Abstammungslehre, wie os jetzt besteht, den schwersten Schaden zu und konnten daher von demselben auch nicht ber\u00fccksichtigt werden, ohne sich selber aufzugobon. Sie wurden daher stillschweigend ad acta gelegt, \u2014 in gleicher Woise wie die neuon mikroskopischen und entwicklungsgoschichUiehon Thatsachon des dritten und vierten Decenniums unsere Jahrhunderts von einem bor\u00fchmton Naturphilosophei\u00bb, in dessen System sie nicht ]>asston, mit den Worten Iwseitigt wurdon: \u00bbDas kann ich nicht brauchen.\u00ab\nDie Physiologie, die Physik des Organischen, geht einen anderen Weg. Die Entstehung der Organismen ist, wie jetlos naturwissenschaftliche Gebiet, nach ihren Bestandteilen und Beziehungen ein unondliclies Feld. Die exacte Forschung sucht darin einzelne That-Sachen (Gesetze) festzustellon, wobei sie sich sowohl der Boolmchtuug des Einzelnen und der Induction als dor Deduction aus allgemeinen formalen oder realen Gesetzen bodient. Jede- Thatsache muss f\u00fcr sich lHjgr\u00fcndot werden und durchaus unabh\u00e4ngig von irgend welchen Meinungen soin ; dadurch erlangt sie eine unver\u00e4nderliche Best\u00e4ndigkeit, mag die Lehre als Ganzes noch so sehr Gestalt und Aussehen wechseln. Solche Thatsachon bilden einen Stock von sicheren Errungenschaften, die nicht mehr verloren gehen und die mit jeder neuen gr\u00fcndlichen Arbeit sich vermehren. An sie m\u00f6gen sich, von ihnen Itostimmt und begrenzt, dio Hyjiotl \u00bbesen. anlehnen, soweit es der Wissonstrieb verlangt; da diesellwn uns bloss Wahrscheinlichkeiten und M\u00f6glichkeiten geben, so bilden sie das verg\u00e4ngliche und ver\u00e4nderliche Gut der Lehre.\nVorliegende Abhandlung hat nicht den Zweck, die Abstammungs-lehro mit R\u00fccksicht auf ihren sicheren thats\u00e4chlichen Inhalt \u00fcbor-haupt zu besprechen. Sie will vorzugsweise bloss untersuche:?, ob und inwiefern in dem letzteren bereits mechanisch-physiologische Prin-cipien zur Anwendung zu gelangen verm\u00f6gen. Und da die Mechanik dos Organischen fast ausschliesslich auf molecularpliysiologischein Gebiete sich bewegt, so muss sie, soweit es m\u00f6glich ist, die Erscheinungen auf dieses Gebiet zur\u00fcckf\u00fchren.\nDie wissenschaftliche Betrachtung einos Dinges fragt zucret, wie es ist, und nachher warum es ist. Die Erkenntniss ist beendigt, wenn es als die nothwendige Folge bestimmter Ursachen","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung.\n9\n\u00abich nuchweiscn l\u00e4sst. Dieses urs\u00e4chliche Erkennen nennen wir im Gebiete des Stofflichen auch ein mechanistisches, weil jede nat\u00fcrliche Erscheinung durch Bewegungen zu Stande kommt und weil die Mechanik die Bewegungen bestimmt, welche unter dom Einfluss von Kr\u00e4ften erfolgen. Eine Naturwissenschaft n\u00e4hert sich daher um so mehr der Vollkommenheit, jemehr die mechanischen Principion in ihr Anwendung Anden.\nDie beschreibenden Naturwissenschaften k\u00f6nnen zwar, 1 besonders wenn sie sich der streng genetischen oder entwicklungsgeschichtlichen Methode lnxlienen und jeden Zustund mit dem ihm un-mittolbar vorausgehenden und mit dem unmittelliar nachfolgenden Zusammenhalten, eine grosse Vollst\u00e4ndigkeit im Iwol\u00bbachtenden oder messenden Erkennon erreichen. Aber dal\u00bbei mangelt ihnen immer noch die h\u00f6here Weihe des urs\u00e4chlichen Wissens, welches das Geschehen als ein noth wendiges erkennen soll. Wir m\u00fcssen es daher als ein l\u00bbcsonders befriedigendes Ereigniss begr\u00fcssen, wenn es gelingt, in eine bisher rein beschreil\u00bbende Wissenschaft ein mechanistisches Element einzuf\u00fchren und sie dadurch den cxactcn Wissenschaften zu n\u00e4hern.\nDie Abstammungslehre beruht, im Gegensatz zur Sch\u00f6pfungslehre, als allgemeine Wahrheit seitist auf dem allgemeinsten mechanischen Prineip, auf dem Causalgesetz oder dem Gesetz der Erhaltung von Kraft und Stoff. Die Entstehung der organischen Welt aus der unorganischen ist eine Gewissheit, sofern alles in der endlichen Welt nach Ursache und Wirkung zusammenh\u00e4ngt, und somit auf nat\u00fcrlichem Wege zu Stande kommt. Wie ferner jedes Zusammengesetzte auf nat\u00fcrlichem Wege urspr\u00fcnglich nur aus dem n\u00e4chst Einfacheren entstehen kann, so kann auch das zusammengesetzte Organische nur aus dem einfacheren Organischen hervorgehen, und dies um so gewisser, als alle zusammengesetzteren oder sogenannt h\u00f6heren Organismen in ihren ersten Entwicklungsstadien f\u00fcr sich allein nicht existenzf\u00e4hig sind, sondern einen m\u00fctterlichen die Ern\u00e4hrung besorgenden Organismus voraussetzen. Es verm\u00f6gen daher nur die allcreinfachsten und niedrigsten Organismen sich unmittelbar aus dem Unorganischen zu gestalten, und alle \u00fcbrigen m\u00fcssen in allm\u00e4hlicher Stufenfolge aus ihnen sich entwickeln.\nInnerhalb dieser allgemeinen Thatsache der nat\u00fcrlichen AIh stammung war fr\u00fcher aller Inhalt der Abstammungslehre hy|K>-","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nEinleitung.\nthotischer Natur, du selbstverst\u00e4ndlich f\u00fcr ein l\u00e4ngstvoigangoncs Geschehen dus l>eohachtcnde genetische Verfuhren unm\u00f6glich ist, und bloss durch Analogieschl\u00fcsse gr\u00f6ssere oder geringere Wahrscheinlichkeit begr\u00fcndet werden kann. In das Feld der Hyjwthesen hat Darwin ein mechanisches Prinzip eingef\u00fchrt, indem erzeigte, dass eine Reihe von Erscheinungen in den organischen Reichen die noth-wendige Folge einer bestimmten Ursache ist. Dieser That verdankt die Abstammungslehre den ungeheuren Aufschwung, don sie auf einmal nahm. Das Dar win\u2019sehe Princip ul>er ist folgendes:\nDa t>ei der starken Vermehrung, welche ullen Organismen von Natur eigent\u00fcmlich ist, fortw\u00e4hrend eine grosse Zahl von Individuen als Keime oder in sp\u00e4teren Entwicklungsstadien zu Grunde gehen muss, so bleiben nur diejenigen erhaben, welche in der Gesammt-heit ihrer Eigenschaften sich als die lebensf\u00e4higeren erweisen. Der jeweilige Bestand der organischen Reiche an Sippen1), der unter den gegclxmon \u00e4usseren Verh\u00e4ltnissen ein Gleichgewichtszustand ist, kann nur ge\u00e4ndert werden, wenn neue existenzf\u00e4higere Sippen in die Gesammtheit eintreten und durch teilweise oder g\u00e4nzliche Verdr\u00e4ngung bisheriger Sippen sich Raum schaffen. Jede einzelne Sippe kann nur durch eine allen Umst\u00e4nden angepasstero, eine individuelle Eigenschaft nur durch eine dem individuellen Tr\u00e4ger oder der Sippe n\u00fctzlichere ersetzt werden.\nDieses Princip erkl\u00e4rte, wenn einmal die nat\u00fcrliche Abstammung \u00ab1er Organismen aus einander feststand, im allgemeinen das Ver-h\u00e4ltniss der Sippen zu einander und die Gliederung der Reiche durch L\u00fcckenbildung, wie sie uns in der Natur entgegentritt. Darwin lH\u00eegn\u00fcgte sich aber nicht mit dieser Errungenschaft, die f\u00fcr iimner sein Verdienst bleiben wird; vielmehr glaubte er aus dem Princip der Verdr\u00e4ngung des weniger Bef\u00e4higten durch das Bef\u00e4higtere einen noch viel weiter gehenden Schluss ziehen zu k\u00f6nnen. Er glaubte darin das treilwnde Moment zu finden, welches die Entwicklungsreihen\n') Es mangelt in fier Wissenschaft ein Wort, welchen kure (Ihm , was ich fr\u00fcher \u00bbsystematische Einheit\u00ab genannt habe, ulao eine grosse rv \u00ab1er kleinere Zahl von verwandten OrynniHinen, U*eichnete. Mun gebraucht daf\u00fcr wohl \u00ablie Ausdr\u00fccke \u00bbForm\u00ab oder dirii|.|a*\u00ab oder Hel bat \u00bbArt\u00ab; dieaellien wen len alter \u00ab\u00bbft r-wcideutitf un\u00abl f\u00fcr Ziisumincnsctaungen lliihrauehhur. Enter 8i|\u00bb|s> verstelle ich alao jede ayateiuatiache Einheit : Kasse, Variet\u00e4t, Art, Gattung, Ordnung, Classe.","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung.\n11\nder organischen Reiche von den niedrigsten und einfachsten zu \u00ablen vollkommensten und complicirteston Formen enijwrf\u00fchrto.\nDie liekannte, als \u00bbnat\u00fcrliche Zuchtwahl\u00ab bezeichnete Theorie, \u00ablie auf oinem kloinen und beschr\u00e4nkten Felde der Beobachtung un\u00abl Erfahrung gewachsen ist und dann durch Analogie auf grosse Verh\u00e4ltnisse \u00fcbertragen wurde, ist folgende. Die Rasse eines Haus-thieres ver\u00e4ndere sich nicht, wenn ungehinderte Kreuzung der Individuen statt habe. In einzelnen Thieren beginne zwar immer eine geringe Ver\u00e4nderung, aber durch Vermischung mit andern Individuen werde dieselbe mehr oder weniger aufgehoben und abgelenkt. W\u00fcrden dagegen durch \u00bb k\u00fcnstliche Zuchtwald\u00ab nur diejenigen Individuen mit einander gepaart, in denen die n\u00e4mliche Ver\u00e4nderung bemerkbar geworden, und w\u00fcrde dieses Verfahren in den folgenden Generationen wiederholt, so gehe die Ver\u00e4nderung ungehindert weiter und k\u00f6nne \u00fcberhaupt so woit gef\u00fchrt werden,\nals es die Natur der Dinge erlaube. Man erzeuge eine neue Rasse.\nDas n\u00e4mliche m\u00fcsse im nat\u00fcrlichen Zustande geschehen, wenn die Concurrenz und die gegenseitige Verdr\u00e4ngung eine \u00bbnat\u00fcrliche Zuchtwahl\u00ab treffe, indem alle Individuen, in denen eine f\u00fcr die Mitbewerbung n\u00fctzliche Eigenschaft nicht vorhanden odor in ge-ringerem Grade entwickelt sei, vernichtet und somit von der Paarung und Fortpflanzung ausgeschlossen werden. \u2014 Ich werde sp\u00e4ter einen besonderen Abschnitt der Besprechung dieser als Darwinismus bekannten Theorie widmen und bemerke liior vorl\u00e4ufig folgentles \u00fcl>er das Princip derselben.\nDie nat\u00fcrliche Zuchtwahl setzt, wie jede Theorie \u00fcber die Entwicklung der organischen Reiche, die individuelle Ver\u00e4nderung voraus. Letztere ist Thatsache, denn die h\u00f6heren Organismen k\u00f6nnen aus den niedrigsten, spontan entstandenen nur dadurch hervorgegangen sein, dass die Individuen in den auf einander folgenden Generationen sich ver\u00e4nderten.\nDie individuelle Ver\u00e4nderlichkeit kann nun aller in versehie-dener Weise aufgefasst werden und zwar sind zwei M\u00f6glichkeiten dcnkliur. Entweder hat sie eine ganz lieliebige, eine richtungslose Beschaffenheit, oder sie zeigt einen Ijcstimmtcn Charakter. In dieser Beziehung ist vor allem ein Punkt von Wichtigkeit, n\u00e4mlich ob die \\ er\u00e4nderung r\u00fccksichtlich der einfacheren und zusammengesetzteren","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nEinleitung.\nOrganisation \u00bbich indifferent verhalte oder nicht. Im einen Fall k\u00f6nnen die Generationsreihen ebenso wohl nach oben als nach unten, in\u00bb anderen Fall m\u00fcssen sie ausschliesslich oder vorzugsweise noch ol>en sich ausbilden.\nIch will die Ver\u00e4nderung nach olien zum Zusammengesetzteren als jxisitiv, diejenige nach unten zum Einfacheren als negutiv be-zeichnen. Wir k\u00f6nnen uns nun eine deutliche Vorstellung von beiden M\u00f6glichkeiten machen, wenn wir einen phylogenetischen Stumm durch eine unendliche Reihe von Generationen, ohne Einfluss der Zuchtwahl, sich entwickeln lassen. Unter diesen Voraussetzungen geben in dem ersten der genannten zwei F\u00e4lle bei einer unendlichen Menge von Ver\u00e4nderungen die positiven Schritte die gleiche Summe wie die negativen; die beiden Summen heben sich auf und der Stamm ist nach unendlicher Zeit genau so orgunisirt wie im Anfang. Im andern Falle werden bloss Schritte mit positiven Vorzeichen gemacht, oder dieselben \u00fcberwiegen nach Zahl und Gr\u00f6sse, so dass am Ende einer hinreichend langen Generutionen-reihe die positive Summe gr\u00f6sser ist als die negative; die Endglieder der Reihe haben also eine complicirtere oder h\u00f6here Organisation als die Anfangsglioder.\nDie lieliobige oder richtungslose Ver\u00e4nderung der Individuen w\u00e4re denkbar, wenn sie durch \u00e4ussere Einfl\u00fcsse (Nahrung, Teinjw rutur, Licht, Elektricit\u00e4t, Schwerkraft) bedingt w\u00fcrde. Denn da diese Ursachen offenbar in keine Stimmte Beziehung zu der mehr oder weniger zusammengesetzten Organisation sich bringen lassen, so m\u00fcssten sie bald einen i>ositiven, luild einen negativen Schritt bewirken. Wenn aber die Ursachen der Ver\u00e4nderung innere, in der Beschaffenheit der Substanz gelegen sind, so verh\u00e4lt sich die Sacho anders. Dann muss die bestimmte Organisation der Substanz einen maassgeljenden Einfluss auf ihre eigene Ver\u00e4nderung aus \u00fcben, und dieser Einfluss kann, da die Entwicklung zu unterst lieginnt, nur in der Richtung nach oben sich geltend machen.\nIch halie dies fr\u00fcher das Vervollkommnungsprincip genannt, unter \u00ablern Vollkommneren die zusammengesetztere Organisation verstehend. Minder Weitsichtige haben darin Mystik finden wollen. Es ist aller mechanischer Natur und stellt das Beharrungsgesetz im Gebiet der organischen Entwicklung dar. Sowie \u00ablie Ent-wicklungsbewogung einmal im Gange ist, so kann sie nicht stille stehen","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung.\n18\nund sie muss in ihrer Richtung boharron. Vervollkommnung in moinom Sinne ist also nichts anderes als dor Fortschritt zum complicirteron Rau und zu gr\u00f6sserer Theilung der Arboit und w\u00fcrdo, da man im allgemeinen genoigt ist, dem Worte mehr Rc-doutung zu gew\u00e4hren als dom ihm zu Grunde liegenden BcgrilT, vielleicht Ijosser durch das unverf\u00e4ngliche Wort Progression ersetzt.\nIndem ich mich des Wortes Vollkommenheit in der angcgelxmcn Bedeutung bediente, folgte ich dem fr\u00fcher allgemeinen Sprachgebrauch, nach welchem man von jeher niedere und h\u00f6here, unvollkommenere und vollkommenere Pflanzen und Thicrc unterschied. Zwar hat schon Schleiden, und zwar vor Darwin, bei seinem Yorsuche, die Botanik auf dem Wege der Negation neu zu gestalten, auch diesen Begriff als nichtig erkl\u00e4rt, indem er ihm nur bildlichen Werth zugesteht und behauptet, dass \u00bbdas Gleichniss umgekehrt sich elx>n so gut durchf\u00fchren liesse\u00ab, mit der Bemerkung, dass eine gesund entwickelte Conferve vollkommener sei als ein verkr\u00fcppelter Eichbaum. Nach dieser Meinung k\u00f6nnten also gesunde Infusorien und W\u00fcrmer sich einer gr\u00f6sseren Vollkommenheit r\u00fchmen als kranke Menschenkinder.\nDarwin, welcher bloss die mehr oder weniger gute Anpassung im Auge hatte, bezeichnte als das vollkommenere lediglich das, was im Kampfe um\u2019s Dasein sich besser bew\u00e4hrt. Dies ist abr offenbar nicht das einzige Kriterium, das bei der Vergleichung der Organismen in Anwendung kommen darf, und in der Darwin schen Einseitigkeit ist nicht das ganze Wesen der Dinge enthalten; vielmehr bleibt dabei die bessere H\u00e4lfte unber\u00fccksichtigt. Es gibt bez\u00fcglich der Vollkommenheit zwei verschiedene Kategorien, die wir scharf trennen m\u00fcssen:\n1.\tDie Organisationsvollkommenheit, charaktcrisirt durch <len zusammengesetztesten Bau und die durchgef\u00fchrtestc Thoilung der Verrichtungen.\n2.\tDie Anpassungsvollkommenheit, welche auf jeder Organi-sationsstufe sich wiederholt und welche in derjenigen, unter den jeweiligen \u00e4usseren Verh\u00e4ltnissen vorteilhaftesten, Ausbildung des Organismus besteht, die mit seiner Zusammensetzung im Bau und mit seiner Thoilung der Functionen vertr\u00e4glich ist.\nDie erstcre nannte ich schlechthin Vollkommenheit in Ermanglung eines anderen einfachen Ausdruckes, die letztere aber Anpassung,","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nEinleitung.\nund ich glaube damit die Begriffe nicht unrichtig ausgedr\u00fcckt zu haben. Das einzellige Spindelpfl\u00e4nzchen (Closterium) und der Schimmelpilz sind, jedes f\u00fcr seine Leben;-bedingungen, auf da\u00ab beste angepasste und gleichwohl viel unvollkommener gebaute Pflanzen als ein Apfelbaum oder eine Weinreta. Das Rfidertliier und der Blutegel stehen, obgleich f\u00fcr ihre Verh\u00e4ltnisse vortrefflich ausger\u00fcstet, doch weit hinter den Wirbelthieren zur\u00fcck. Andrerseits geh\u00f6rt der Walfisch der n\u00e4mlichen Organisations- oder Vollkommen-heitsstufe an, wie die \u00fcbrigen S\u00e4ugethiere, w\u00e4re aber f\u00fcr den Aufenthalt auf dem Lande das unpassendste Gesch\u00f6pf der Welt. Desgleichen haben die schmarotzenden Orchideen (Neottia, Limodorum) eine ebenso vollkommene Organisation (wenn die Vollkommenheit durch das Wesentliche und qualitativ Verschiedene bestimmt wird) wie die \u00fcbrigen Orchideen, die schmarotzenden Personaten (Oro-hanche, Lathr\u00e6a) sind ebenso vollkommen getaut, wie die nicht-schmarotzenden ; aber auf einem Gartenbeet mit den besten Nahrungsund klimatischen Verh\u00e4ltnissen k\u00f6nnen die Schmarotzer wegen mangelnder Anpassung an unorganische N\u00e4hrstoffe nicht leben.\nBer\u00fccksichtigen wir bloss Organisation und Artaitstheilung, also bloss die Merkmale der Vervollkommnung, und lassen wir die Anpassungen einstweilen ganz aus dem Spiele, so erhalten wir folgendes Bild von der Entwickelung der organischen Reiche. Aus dem Unorganischen entspringen die denkbar einfachsten, aus einem Plasmatropfen bestehenden Wesen. Dieselben k\u00f6nnen, wenn eine \\ Pr\u00e4mierung eintritt, nur solche von etwas complicirterem Bau erzeugen und in derselben Weise setzt sich die Bewegung in aufsteigender Reihe fort. Jeder Organismus ist aus einem weniger zusammengesetzten entstanden und erzeugt selber einen mehr zusammengesetzten.\nIst die Bewegung in irgend einem Punkte angelangt, so kann sie zwar, wie sie durch die ganze vorausgehende Reihe nach oben verlief, im allgemeinen auch nur in derselben Richtung sich fortsetzen. Aber sie kann, da das Zusammengesetztere mehr Com-binationen zul\u00e4sst als das Einfachere und da somit \u00fcber jeder einfacheren Gestaltung mehrere zusammengesetzte stehen, an jedem Punkte mehrere aufsteigende Richtungen einschlagen, somit auch an jedem Punkte in mehrere divergirend aufsteigende Bewegungen sich theilen. Die organischen Reiche bestehen daher aus vielen","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung.\t^\nbaumartig vorzweigten Reihen, die nach unten in gemeinechaftlichc Ausgangspunkte zusammenlaufen.\nDie Urzeugung und mit ihr der Beginn von aufsteigenden Reihen hat wie im Anf\u00e4nge, so auch sp\u00e4terhin jederzeit stattgefunden und findet auch jetzt noch statt. Die Reiche bestellen daher aus Organismen von jeder Organisationsstufe, deren ausgestorbene Reihen ihren Ausgangspunkt in den verschiedenen Eidjierioden bis herab zur j\u00fcngsten hatten.\nNach dem Vervollkommnungsprincip erbt das Kind (Individuum oder Stamm) als mechanische Notwendigkeit die Eigenschaften der Eltern, und da unter diesen Eigenschaften auch die Ver\u00e4nderung in der Richtung nach oben sich befindet, so erlangt es eine etwas vollkommenere, d. i. zusammengesetztere Organisation und erzeugt wie\u00abler mit mechanischer Notwendigkeit noch vollkommenere Nachkommen. Der niedrigste, uns aus Erfahrung bekannte, aus einem blossen Plasmatropfen bestehende Organismus ist aus einem noch einfacheren Wesen hervorgegangen, und er bringt mit mechanischer Notwendigkeit einen zweiten Organismus hervoi, der sich zu ihm verh\u00e4lt wie er selber zu dem ihn erzeugenden Wesen.\nDass die Ver\u00e4nderung bei der Variet\u00e4ten- und Artenbildung ein mechanisches Princip der Beharrung sei, und dass sie im allgemeinen von dem Einfacheren und Unvollkommeneren zu dem usammengesetzteren und Vollkommeneren fortschreite, halie ich \u00fcbrigens schon drei Jahre vor der ersten Ver\u00f6ffentlichung Darwin s ausgesprochen*). Ich f\u00fchre folgende zwei Stollen an:\n\u00bbDie Individuen vererben auf ihre Nachkommen die Neigung i nen \u00e4hnlich zu werden; die Nachkommen sind aller den Eltern nicht voHjconiinen gleich. Es muss also auch die Neigung zur Ver\u00e4nderung vererbt werden. Es muss, wenn alle Umst\u00e4nde g\u00fcnstig sind, eine Anlage durch eine Reihe von Generationen hindurch sich immer weiter ausbilden k\u00f6nnen, wie ein Capital, zu dem j\u00e4hrlich die Zinsen geschlagen weiden, sich vergr\u00f6ssert. Denn jede Generation erbt von der vorhergehenden nicht bloss die M\u00f6glichkeit,\n< as Capital zu realisiren, sondern auch die M\u00f6glichkeit, dem sei Um die Zinsen zuzuf\u00fcgen.\u00ab Ferner:\nvv, .\tl\u00f6*tent,ichen Vortra* ,Di\u00ab Individualit\u00e4t in \u00ab1er Natur\u00ab, der im\n.n\ty\u00ab*!\u00ab.","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung.\nll\u00ee\n\u00bbWio \u00fcliorhaupt koino nat\u00fcrliche Erscheinung, ho kann auch die Art nicht in vollkommener Ruhe talmiren. Gleichwie die Nachkommen des orsten Individuums von dem sollten otwas verschieden waren, so mussten auch dio Keime, dio sie erzeugten, in etwas von denen abweichen, aus denen sio sellier hervorgingen. Es musste die Ver\u00e4nderung perennirend werden ; und diese Ver\u00e4nderung kann nicht anders als zuletzt den Untergang der Art oder den Ueliorgang in eine andere horbeif\u00fchren.\u00ab Endlich:\n\u00bbWir m\u00fcssen uns also dio Verwandlung der Pflanzcnarten zugleich in der bestimmten Form einer Vervollkommnung, oincr h\u00f6heren Organisirung derselben denken. Eine Art, die sich in eine andere um\u00e4ndert, erscheint in ihr nicht bloss mit allen ihren Attributen, sondern f\u00fcgt noch ein neues Merkmal hinzu, und erlicht sich zu etwas H\u00f6horem. Die fr\u00fchore Art tritt also in der folgenden als vorletztes Entwicklungsstadium auf, \u00fclier das hinaus diese sich zum entwickelten Zustande erlicht. Eine Best\u00e4tigung von Seite der Erfahrung liegt in der Thatsache, dass manche vorweltliche Thiore den Jungen jetzt lebender Thioro \u00e4hnlich, wiewohl viel gr\u00f6sser waren u. s. w.\u00ab \u2014 Daliei wurde auf eine Analogie mit der Rasscnbildung hingowiesen, in der gleichfalls eino Steigerung in der Ver\u00e4nderung statt habe.\nDie Organismen unterscheiden sich nicht bloss darin von einander, dass die einen einfacher, die anderen complicirter organisirt sind, sondern auch darin, dass die auf gleicher Organisationsstufc stehenden in ihren Functionen und in ihrem Bau ungleich ausgebildct sind, was vorzugsweise mit der Verschiedenheit gowisser \u00e4usserer Verh\u00e4ltnisse zusammenh\u00e4ngt und daher als Anpassung bezeichnet wird. Dio Anpassung bewirkt auf jeder Organisationsstufe die f\u00fcr bestimmte Umgebungon vorteilhafteste Auspr\u00e4gung der durch dio inneren Ursachen erzeugten Haupttypen.\nF\u00fcr eine solche Ausbildung ist eine bewirkende Ursache erforderlich; ich werde sp\u00e4ter die Natur derselben besprechen. In manchen F\u00e4llen wird diese Ursache bis zur vollendeten Anpassung wirken m\u00fcssen. In anderen F\u00e4llen wild es gen\u00fcgen, dass unter ihrem Einfluss die Ver\u00e4nderung in einer bestimmten Richtung entschieden beginnt und sich zum fortbildungsf\u00e4higen Anf\u00e4nge gestaltet. Alsdann geht die Ausbildung mit mechanischer Notwendigkeit in der cingcschlagenen Richtung fort. Denn wenn verm\u00f6ge des","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"Kinleitung.\n17\ngeschaffenen Anfangos oino Cfonoration Nachkoininon erzeugt, die in einer Beziehung \u00fclwr sie selber hinausgehen, so m\u00fcssen nueli dem Beharrungsgesetz die Nachkommen dieser Nachkommen um einen weiteren Grad vor\u00e4ndeR sein, und die Ausbildung muss so weit gehen, als es die Natur der Verh\u00e4ltnisse erlaubt.\nWir h\u00fcben also als mechanische Ursachon f\u00fcr dio Entwicklung der organischen Reiche die Beharrung in der Vervollkommnung vom Einfacheren zun\u00bb Zusammengesetzteren und ferner (vorliel\u00bb\u00e4ltlich der sp\u00e4teren Er\u00f6rterung) die bestimmten Wirkungen der \u00e4usseren Einfl\u00fcsse auf die Anpassung. Wir k\u00f6nnen den Erfolg dieser mocha l\u00f6schen Prineipion mit demjenigen der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl in Darwins Sinne am besten vergleichen, wenn wir uns die (V\u00bbn-currenz und Verdr\u00e4ngung abwechselnd mangelnd und vorlianden denken.\nConcurrenz und Venlr\u00e4ngung h\u00e4tten f\u00fcr das Pflanzenreich ganz gemangelt, wenn von \u00bblen\u00bb Beginne dessellant die Erd\u00f6l\u00bborU\u00fcclio stets in dem Mmisse sich vorgr\u00fcssorto, als \u00bblie Individuen an Zahl zu nahmon, und wenn \u00bblas Thierreich nicht vorhanden war. Denn jeder Keim konnte nun, da er Nid\u00bbrung und Raum in hinreichender Menge vorfand, ungehindert sich entfalten. War unter \u00bblieser Vor\naussetzung die individuelle Ver\u00e4nderung richtungslos, so konnte \u00bblie Entwicklungsliewegung, da sie in (\u00bbositivon und negativen Schritten hin und her schwankte, nicht von \u00bb1er Stelle kommen und das Pflanzenreich blieb fortw\u00e4hrend in seiner Gesainmthoit auf \u00bb1er Stufe \u00bb1er ersten nackten o\u00abler mit Membran umh\u00fcllten Plasmatropfen. Nur \u00bbho Concurrenz mit Verdr\u00e4ngung ist, lx;i richtungsloser indivi\u00bblUeller Ver\u00e4mlorung, im Stande, die Organismen uuf eine h\u00f6here Stufe zu bnugon, indem diejenigen, welche einen Schritt nach olxii, mich einer complied Heren Organisation gemacht halicn, vor den amlern, die still stunden oiler einen Schritt im negativen Sinne zur\u00fccklcgten, im \\ ortheil sind und dieselben verdr\u00e4ngen. Die Concurrenz ist\nalso im Darwinschen Sinno zugleich Sipjien bihlond und Kinnen ~ scheiilend.\nWurdo aber unter obiger Voraussetzung einor ungeheimiiten Entwicklung aller Keime dio individuelle Ver\u00e4mlorung durch mechanische Principien bestimmt, sc bihleten sich alle Pflanzen formen, \u00bblie jetzt bestehen, und sie w\u00fcrden jetzt ebenso neben einander leben, wie es in Wirklichkeit \u00ab1er Fall ist. Alier es k\u00e4men unter\nv N\u00e4geli, Alm\u00fcuiiiminifslehre.\t^","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nEinleitung.\nihnen noch andere Pflunrcnfonnen in unendlicher Menge vor, n\u00e4mlich alle die Abk\u00f6mmlinge der verdr\u00e4ngten und uusgestorlioncii Reihen.\nTritt in dom Reiche der bestimmt gerichteten Vervollkommnung*-und Anpassungsver\u00e4nderung Concurrenz mit Verdr\u00e4ngung ein, so ist sie sippenscheidend und sippenumgrenzend, alwr nicht sippenhildend. Kein einziger phylogenetischer Stamm verdankt ihr das Dasein, aber die einzelnen St\u00e4mme treten durch Verdr\u00e4ngung der zwischen-liegenden deutlicher und charakteristischer hervor. Ohne Concurrenz w\u00e4re das Pflanzenreich wie der Nebel \u00ab1er Milchstrasse, durch sic ist es zum Firmament mit hellleuchtenden Sternen geworden.\nNoch 1 \u00bbessor k\u00f6nnen w*ir das Pflanzenreich einem grossen von der Basis an verzweigten Baume vergleichen, an welchem die Enden \u00bb1er Zweige die gleichzeitig lebenden Pflanzcnformen darstellen. Dieser Baum hat eine ungeheure Triebkraft, und er w\u00fcrde, wenn er sich ungehindert entwickeln k\u00f6nnte, ein unermosslichos Buschwerk von zahllosen verworrenen Verzweigungen sein. Die Verdr\u00e4ngung schneidet als G\u00e4rtijsr ihn fortw\u00e4hrend aus, nimmt ihm Zweige und Aoste und gibt ihm ein gegliedertes Aussehen mit deutlich unterscheidbaren Theilen. Kinder, die den G\u00e4rtner t\u00e4glich un der Arbeit sehen, k\u00f6nnten wohl meinen, dass or die Ursache soi, warum sich Aeste und Zweige bilden. Gleichwohl w\u00e4re dor Baum, ohne die ewigen Nergeleien des G\u00e4rtners, allein noch viel weiter gekommen, zwar nicht an H\u00f6he, wohl abor an Umfang, an Rcieli-thum und Mannigfaltigkeit dor Verzweigung.\nIn der Vervollkommnung (Progression) und Anpassung liegen die mechanischen Momente f\u00fcr die Bildung dos Formenreichthums, in der Concurrenz mit Verdr\u00e4ngung odor in dem eigentlichen Darwinismus nur das mechanische Moment f\u00fcr die Bildung der L\u00fccken in den beiden organischen Reichen. Zur Begr\u00fcndung der mechanischen Principien will ich die wichtigsten darauf bez\u00fcglichen Punkte der Alistammungs-lohre Ijosprechen, und da die Mechanik des organischen Lobons fast ausschliesslich nicht auf Massoubowogungon, sondern auf Bewegungen der kleinsten Thoilchen beruht, so muss ich mich demgem\u00e4ss vorzugsweise auf das molecularphysiologische Gebiet Ijogelion. Die Physiologie hat \u00fcbrigens um so eher Veranlassung, die L\u00f6sung des R\u00fcthseis auf diesem unsichtliarcn Gebiete zu unternehmen, als schon","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"Einleituu^.\n19\nzwei Mul der nftinliclio Weg von Nichtphysiologon, von Darwin und von Hilekel, versucht wurde.\nWenn es siel\u00bb um Dingo handelt, die sich der un mittel Wren Beobachtung entziehen, so besteht die Aufgalw der Wissensehuft darin, Hyptdlicsen zu finden, wolehe das Unliekannte erkl\u00e4ren und die mit keiner \u00bb1er bekannten Thatsachen in Widerspruch sind. Lassen sieh mehrere solcher Hypothesen aufstellen, so k\u00f6nnen die-sellxjn vorerst bloss nach ihrem Wahrschcinliehkcitsgmd mit einander verglichen werden, bis die Forschung neue Thutsuchcn aufdeckt, welche die eine oder andere unm\u00f6glich machen. Die Hypothese wird zur Gewissheit, wonn sic als die allein m\u00f6gliche und das Gcgcnthoil als unm\u00f6glich dargethan werden kann.\nEine moloculaqdiysiologische Hyj\u00bbothesc muss mit den Gesetzen und Thatsachen der Physik, der Chemio und dor Physiologie in Ueborcinstimmiing sein. Gl\u00fccklicherweise ist der Rahmen, in welchem sich die m\u00f6glichen Hypothesen dor Al>stammungslchrc Wwegen, ongo Wgrenzt. Im allgemeinen orweist sich nur oino einzige als m\u00f6glich, utimlich die, dass das Wesen der Organismen in \u00bb1er Beschaffenheit und Anordnung \u00ab1er kleinsten Thoilchcn derjenigen Substanz liestcho, welche dio Vererbung lioi \u00ab1er Fortpflanzung und \u00ablio sjHjeifische Entwicklung des Individuums bedingt. Diese IIvjh\u00bb-those \u00abnier vielmehr, da sio \u00ablie auf realem B\u00abxlen einzige M\u00f6glichkeit ist, \u00ablies\u00ab! allgemeine Thatsacho bihlot, wenn sie auch l>ei der Ausf\u00fchrung im besondern verschiwleno M\u00f6glichkeiten erlaubt, \u00ablie sichere Gnunllage, auf \u00ab1er sich hestimmte mechanische Vorstellungen gewinnen lassen. \u2014 Ich werde daher vorz\u00fcglich folgeiule Punkte \u00ab1er Ikweinlenzlehre Wsprechen :\nIbis Wesen der in \u00ab1er organisirten lebenden Substanz U*fin\u00abl-lichen unsichtbaren Anlagen f\u00fcr \u00ablie sichtltarcn Erscheinungen \u00ables ontwickolten Zustandes.\nDie Entstehung \u00ab1er organisirten lelxanlcn Substanz aus \u00ablen unorganischen Verbindungen.\nDie durch die Natur \u00ab1er organisirten Substanz bedingten inneren Ursachen dor phylogenotischen Verftmlenmg und der Einfluss der \u00e4usscron Ursachon auf diese Vorftndonmg.\nDie Entstohung un\u00abl Ausbildung der in \u00ab1er organisirten Sul\u00bb-stanz enthaltenen unsichtbaren Anlagen und \u00ableron Enthdtung zu siclitliuren Erscheinungen.\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nEinleitang.\nDio Ver\u00e4nderung dor organisirten Substanz, welche zur Rassen-\nbildung, und diejenige, welche zur Variet\u00e4ten- und ArtenbilduiiL' f\u00fchrt.\nDio irrth\u00fcmliche Folgerung von der Roesonhildung auf die Artenbildung in der Hypothese von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl.\nDie Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"Idioplasma als Tr\u00e4ger der erblichen Anlagen.\nDio Beurthoilimg und Vergleichung der Organismen gr\u00fcndet sich auf die Merkmale, die wir an ihnen wahrnehmen. Dio Beobachtung in dieser Beziehung hat immer gr\u00f6ssere Fortschritte gemacht; sie ist von der \u00e4usseren Gestalt zum Auflmu aus den Organen, zur Zusammensetzung aus Zellen, zu den Bestandtlieilen der Zellen, zur chemischen Zusammensetzung, \u2014 von der Formbildung und Zusammensetzung zur physiologischen Verrichtung, \u2014 von dom fertigen Zustand zu der Entwicklungsgeschichte desselben aus der ersten Zelle fortgeschritten. Damit hat die Erkenntniss der Organismen an Umfang und Sicherheit ungemein zugonomincn.\nDennoch sind uns noch viele Eigenschaften verborgen, und unter diesen l>efinden sich gerade die wichtigsten, vor allem die chemische und physikalische Beschaffenheit der kleinsten Thoilchon, ihre Zusammenordnung und die Kr\u00e4fte, mit denen sie aufeinander wirken. Trotz der grossen Fortschritte bleibt daher die Erkenntniss der Organismen immer noch sehr unvollst\u00e4ndig und oberfl\u00e4chlich.\nDie Vergleichung der Organismen unter einander leidet al>cr nicht bloss unter der mangelhaften Kenntniss, sondern \u00fcberdem unter dem Umstande, dass in Folge der ungleichen Organisation ein gemeinschaftliches Maass, das uns genau den Werth und damit den richtigen Unterschied angeben w\u00fcrde, mangelt. Wir k\u00f6nnen ljcispiclsweise den Pilz, das Farrenkraut, den Tannenl)aum und den Obstbauin nicht anders vorgloichon, als dadurch, dass bei der einen Pflanze ein Merkmal vorhanden ist, bei der andern nicht, und dass","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nI. liUojtluHiiia\n08 ,Kii dw \u00ab\u00bb\u00bbon dieso, bei der andern jene Beschaffenheit hat. Al>cr nirgends l\u00e4sst sich der Unterschied als Quantit\u00e4t und damit ids deutlich vorstelllmro Gr\u00f6sse ausdr\u00fceken. Daher ist alle systematische Unterscheidung und Sch\u00e4tzung mehr oder weniger willk\u00fcrlich und alle Folgerung, welche daraus f\u00fcr phylogenetische Theorien gezogen wird, hypothetisch.\nEs gibt indess einen Zustand, in welchem die Merkmale, deren genaue Vergleichung und Werthsch\u00e4tzung unm\u00f6glich ist, eli-minirt, und in welchom alle Organismen auf die gleiche Form uud Structur reducirt sind. Dies ist das erste, noch einzellige Ent-\\\\ i( klungsstadium ; im Eizustande gleichen sich alle Pflanzen und Thiere. Die Eizellen enthalten aber allo wesentlichen Merkmale ebenso gut wie der ausgcbildeto Organismus, und als Eizellen unterscheiden sieh die Organismon nicht minder von einander als im entwickelten Zustande, ln dem H\u00fchnerei ist die Si\u00bbecios ebenso vollst\u00e4ndig enthalten als im Huhn, und das H\u00fchnerei ist von dem Froschei elienso weit verschieden als das Huhn vom Frosch. Wenn uns dies anders erscheint, so r\u00fchrt es nur dalior, weil im Huhn und im Frosch viele Unterscheidungsmerkmale greifbar sind, w\u00e4hrend uns die unterscheidenden Eigenschaften in den Eiern verborgen bleiben. Enthielte das H\u00fchnerei nicht das ganze Wesen der Siiecies, so k\u00f6nnte sich aus demselben nicht immer mit der gleichen Bestimmtheit ein Huhn entwickeln.\nDie Eizust\u00fcnde sind dio kurzen Anfangsst\u00fccke der individuellen Entwicklungsgeschichten und als solche gowissermaasson mit kurzen St\u00fccken verschiedener krummer Linien zu vergleichen; die kurzen Linienabschnitte erscheinen uns alle gleich und nicht von der Geraden verschieden, obgleich in ihnen das Wesen und die mathematische Formel der verschiedenen krummen Linien elxmso scharf ausgesprochen ist, als wenn sie sich verl\u00e4ngert Indien und dann\nauch dem blossen Auge ihre charakteristische Verschiedenheit offenbaren.\nDie Eizellen w\u00e4ren also eigentlich die richtigen Vergleichsobjeeto ; sie w\u00fcrdon uns die Unterschiede alle in der n\u00e4mlichen Form, also messlmr angelien. Leider geh\u00f6ren ihre wesentlichen Eigenschaften zu den verborgenen Merkmalen; sie beruhen, wie diejenigen Merkmale des ausgebildeten Zustandes, welche vorborgen bleiben und als latent bezeichnet werden, in der Beschaffenheit der Substanz","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"23\nul\u00bb Tr\u00e4ger \u00ab1er erblichen AuUkm).\n\u00ab\nbez\u00fcglich ihrer Zusammensetzung aus don kleinste\u00bb Tlioilclte\u00bb. Alx;r es l>esteilt ein wesentlieher Unterschied zwischen der \u00abSubstanz des ausgebildeten Organismus, welche nicht das Verm\u00f6ge\u00bb einer weitergehenden Entwicklung besitzt, und der \u00abSubstanz des Eies, welcher dieses Verm\u00f6gen zukommt. Dadurch charakterisirt sich die letztere als Anlage, als Keim. In der Eizelle sind alle Eigenschaften des ausgebildeten Zustandes potentiell enthalten.\nInsofern hat die Anlage eine gewisse Analogie mit der potentiellen Energie oder der Spannkraft der unorganischen Materie. W\u00fchrend aber die \u00abSpannkraft, sowie sie ausgel\u00f6st wird, von selbst eine Bewegung hervorbringt, ertlieilt die Anlage der Entwicklungs-bowegung bloss ihre liestimmte Richtung, indess die Bewegung selbst durch den Umsatz der Nahrung unterhalten wird.\nDie Substanz, welche die Anlagen darstellt, ist Plasmasubstanz, bcstobt also aus den verschiedenen Moditicutionen der Albuminate, deren Molek\u00fcle zu krystallinis\u00ab heil Molok\u00fclgrupi*c\u00bb (Micellcn) vereinigt, in l\u00f6slicher und unl\u00f6slicher Form gemengt, eine meist hall*- , fl\u00fcssige schleimartige Masse bilden'). Al*er nur der kleinere Theil dieses Stereoplasmas der Organismen stellt wirkliche Anlagen dar.\nAus dem Anlageplasma geht immer eine bestimmte und eigent\u00fcmliche Entwicklungsbcwegung hervor, die zu einem gr\u00f6ssere\u00bb oder kleineren Zellencomplex f\u00fchrt, zu einer liestimmtc\u00bb Pflanze, zum bestimmten Blutt, zur Wurzel, zum Hiuir einer bestimmten 1 flnnzc. Insofern k\u00f6nnen wir es, um einen kurzen und liezeich-nenden Ausdruck zu haben, als Idioplasma von dein \u00fcbrigen Stereoplasnm unterscheiden.\nJede wahrnehmbare Eigenschaft ist als Anlage iin Idioplasma vorhanden, es gibt daher ebenso viele Arten von Idioplasma als es Gombinationen von Eigenschaften gibt. Jedes Individuum ist aus einem etwas anders gearteten Idioplasma hervorgegangen und in dem n\u00e4mlichen Individuum verdankt jedes Organ und jeder Organthoil seine Entstehung einer eigent\u00fcmlichen Modification oder eher einem eigent\u00fcmliche\u00bb Zustand dos Idioplasmas. Das Idioplasma, welches wenigstens in einer liestimmtc\u00bb Entwicklungs-\n*) Das l\u00f6sliche \u00bbPlasma\u00ab \u00ab1er Thierphysiologen un\u00abl \u00ablas unl\u00f6sliche \u25a0 Protoplasma\u00ab hi Iden beinahe immer eine Mischung, in welflicr die einzelnen Theilc nicht zu trennen sind. Ieli nenne sie Plasma, und untcrsclieiile, s\u00ab\u00bbf\u00ab\u00abm es notIti# wird, l\u00f6sliches und unl\u00f6sliches Plasmu oder Ilvgro- und Ktcrcoplaaiiui.","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nI. hlioplasma\np\u00e9riode durch alio Tlioilo dos Organismus verthoilt ist, hat also an jedem Punkto otwas aiidoro Eigenschaften, iiidom es beispielsweise lwdd oinon Ast, bald oino Bl\u00fctlio, eine Wurzel, oin gr\u00fciios Blatt, ein Blumenblatt, ein Staubgof\u00e4ss, oino Fruchtanlage, ein Ilaar, einen Stachel bildet.\nBtti der Fortpflanzung vererbt der Organismus die Gesammtheit seiner Eigenschaften als Idioplasma. In der Keimzelle sind die Merkmale aller Vorfahren als Anlagen oingeschlosson. Alx;r die verschiedenen Anlagen haben r\u00fccksichtlich der Aussicht auf Ent-faltung eino sehr ungleiche Bedeutung. W\u00e4hrend die einen stets und ausnahmslos zur Entwicklung gelangen, bleiben die andern unter Stimmten Verh\u00e4ltnissen unentwickelt, Beim Generationswechsel z. B. treten gewisse morphologische und physiologische Eigenschaften nur in bestimmten Generationen auf, w\u00e4hrend sie durch hundert folgende Generationen im Anlagezustand verharren. Es gibt Merkmale, die nur unter g\u00fcnstigen \u00e4ussoren Einfl\u00fcssen sich verwirklichen, und w\u00e4hrend der Zeit von Erd]\u00bberi\u00f6den latent bleiben, weil dieso Einfl\u00fcsso mangeln'). Manche Anlagen befinden sich gegenseitig im Zustande der Correlation \u00ab\u00bbder der Ausschliessung, so dass die Entfaltung der einen Anlage die der andern bald veranlasst, Imld verhindert.\nEs gibt nicht nur fertige Anlagen, die jederzeit f\u00e4hig sind sich zu entwickeln, sondern auch unfertige, entstehende und verschwindende Anlagen. Eine Anlage kann durch eine lteihe von Generationen an St\u00e4rke abnehmen und zuletzt so schwach werden, dass sie sich nicht mehr zu entfalten vermag. Umgekehrt kann sic-durch eino Reihe von Generationen an St\u00e4rke zunehmen und zuletzt so intensiv worden, dass sie entweder von selbst oder durch einen Ixjsonderen Anstoss von aussen in den manifesten Zustand \u00fcber-geht. Zu den Ursachen, wolche Anlagen von geringerer St\u00e4rke (noch im Entstehen oder schon im Verschwinden begriffene) zur Entwicklung veranlassen, geh\u00f6rt namentlich dio Kreuzung. Anlagen, die schon l\u00e4ngere Zeit latent geblieben sind, kommen \u00fclwr-liaupt leichter zur Entfaltung bei der Fortpflanzung durch Bofruch-\n) Ich nenne als Beispiel einige Alponhieracien, welche hei \u00ab1er Cultur in. (.arten an \u00ablen \u00abweiten (Hemmer-) Trieben jedes Jahres eine merkw\u00fcn\u00fcge Abweichung in \u00ab1er Verzweigung \u00abeigen. In \u00ablen Al,hui bihlen sich wegen \u00ab1er kurxen \\ egetationsseit nur Fr\u00fchjahrstriebe; \u00abUe 8\u00ab\u00bbm,nertHel>e kommen nie zur Entfaltung","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"25\nals Trttger der erblichen Anlagen.\ntuiig, wo zwei verschiedene individuelle Iilioplasmen sieh ver-liiischend den Keim bilden, als bei der ungeschlechtlichen Vermehrung.\nIch erinnere an diese Thatsachon, um die unendliche Mannigfaltigkeit in der Beschaffenheit des Idioplasmas klar vor Augen zu legen. Nicht nur gibt es, wenn \\wr bloss das Pflanzenreich in seinem jetzigen JBest\u00e4nde und hier wieder bloss die Eizellen ber\u00fccksichtigen, also die Anlugon f\u00fcr die Organe vernachl\u00e4ssigen, weit mehr als eine Million von verschiedenen Keimen f\u00fcr alle Sippen (Species und Variet\u00e4ten), sondern in jeder Sippe wieder Billionen von verschiedenen Keimen f\u00fcr alle jetzt lebenden und fr\u00fcheren Individuen. Diese unendliche Mannigfaltigkeit ist in winzigen Tr\u00f6pfchen von Idioplasma verwirklicht, welche durch das Mikroskop, durch chomischo und physikalischo Hilfsmittel nicht von einander zu unterscheiden sind. An der Keimanlage sellier ist nicht die Masse, sondern nur dio Beschaffenheit einer kleinen wirksamen Partie von Idioplasma das Entscheidende, denn die v\u00e4terliche und m\u00fctterliche Erbschaft ist ungef\u00e4hr gleich gross, obgleich der Vater zur lielruchteten Eizelle bloss den hundertsten oiler tausendsten TI teil lieigetragen hat.\nDie Beschaffenheit des Idioplasmas wird dmch seine molocularo Zusammensetzung bestimmt. Besonders muss die Zusammeiiordnimg \u00ab1er kleinsten Theilchon (Micelle) mit den eigenth\u00fcmliehen Bewegungen und Kr\u00e4ften, die dadurch bedingt sind, nuiassgeliend sein. Es ist ferner wahrscheinlich, dass einer reicheren morphologischen Gliederung und gr\u00f6sseren Arbeitsthoilung im entwickelten Zustande auch eine zusammengesetztere Anordnung der kleinsten Idioplasma-thoilchen, welche zu Schaaren niederer und h\u00f6herer Abteilungen zusammengestellt sind, entspricht, w\u00e4hrend die niedersten Organismen, die zeitlebens einfache Plasmatropfen bleiben, eines sehr wenig ausgebildeten, fast ungeordneten oiler vielmehr ganz einfach geordneten Idioplasmas bed\u00fcrfen. Um durch ein Bild moine Meinung anschaulicher zu machen, m\u00f6chte ich das einfach geordnete Idioplasma der niederen Organismen einer wenig disciplinirten Truppo vergleichen mit losem Verb\u00e4nde, wie sie im Mittelalter miter ihrem Feldhaupt-mann in den Kampf zog, \u2014 das complicirt geordnete Idioplasma dagegen einer regelm\u00e4ssigen Armee, in der die verschiedenen Olier-und Unterabtheilungen einem einheitlichen Plano folgen, soilass jode","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"2(i\nI. Miopluttma\nbis horuntor uuf \u00bbIon einzelnen Mann in ljcstimintcr Beziehung zu den \u00fcbrigen und zum Ganzen steht, selbstverst\u00e4ndlich mit dem Unterschiede, dass das einigende Band nicht in Ober- und Unterbofohls-liubern, sondern in den (anziehenden und ulwtossenden) Beziehungen der einzelnen Theilchen unter einander l>estoht.\nDas Idioplasma des Keimes w\u00e4re somit gleichsam das mikrokosmische Abbild \u00ables makrokosmischen (ausgewachsenen) Individuums; es w\u00e4re nach Moussgalx), als dieses aus Orgunen, Gewebs-systcmen und Hellen aufgebaut ist, aus Schaaren von Micellcn zusammengesetzt, welche zu h\u00f6heren Einheiten verschiedener Ordnungen verbunden sind und die Anlagen f\u00fcr jeno Zellen, Gewelw-s) sterne und Organe darstellen. Damit soll aber selbstverst\u00e4ndlich nicht gesagt sein, dass die Micelle des Idioplasinas etwa den Zellen dos ausgebildeten Organismus entsprechen und eine analoge Anordnung liesitzen. Diese l>oiden Anordnungen sind im Gcgentheil grundverschieden, wie ich sp\u00e4ter noch darthun werde.\nW enn ich die Eigenth\u00fcmlichkeit des Idioplasinas vorz\u00fcglich in \u00ablie /usainmcnordnung der kleinsten Theilchen verlege, so geschieht es, weil dieser jedenfalls eine wichtige, wahrscheinlich \u00ablie Hauptrolle zukommt, w\u00e4hrend wir \u00fclier \u00ablie chemische Verschiedenheit bei der jetzigen mangelhaften Erkcnntniss der Albuminate uns keine \u00ableidliche Vorstellung machen k\u00f6nnen. Die ungleiche Gestalt, Gr\u00f6sse un\u00abl Zusammenordnung \u00ablor Idioplasmamicelle ergibt allein schon zahllose Combinationen der wirksamen Kr\u00e4fte un\u00abl somit auch zahllose \\ erschiedonhciten in den dadurch liedingten chemischen und plastischen Vorg\u00e4ngen \u00ablor lebenden Substanz, welche ebenso viele Verschiedenheiten im Wachsthum, in der inneren Organisation, in \u00ab1er \u00e4usseren Gestaltung und in \u00ablen Verrichtungen verursachen. Diese Mannigfaltigkeit in der Constitution des Idioplasinas wird aber noch unendlich gesteigert durch den Umstand, dass jedes Micell auch eine verschiedene chemische Beschaffenheit halien kann. Jedenfalls muss eine weitgehende chemische Verschiedenheit vorhanden sein, ich werde dies noch besonders liesprechen.\nVor allem ist es wichtig, sich oinc Vorstellung \u00fcber \u00ablas Ver-h\u00e4ltniss zu bihlen, in welchem \u00ablos Idmplasnia zu den \u00fcbrigen Sul\u00bb-stauzen des Organismus steht, und da alle Bildungen von dein Plasmu (Protoplasma) ausgehen, so ist zun\u00e4chst die Frage, wie sich","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"27\n\u00ab1h Tr\u00fcgcr der erblichen Anlagen.\njenes zu diesem verhalte. Ich h\u00fcbe beide als verschieden ange-\u00abelKjn, woil mir dies der einfachste und nat\u00fcrlichste Weg scheint, um dio ungleichen Beziehungen der Plusmasulistunzen zu den erblichen Anlagen zu begreifen, wie sie bei der geschlechtlichen Fortpflanzung deutlich werden. An die l>efruchtcte und entwicklungsf\u00e4hige hi zelle hat die Mutter hundert- oder tausendmal mehr Plasmasubstanzen, in denselben aber keinen gr\u00f6sseren Autheil an erblichen higonschaften geliefert als der Vater. Wenn das unbefruchtete Ei ganz aus Idioplasma best\u00fcnde, so w\u00fcrde man nicht begreifen, warum es nicht entsprechend seiner Masse in dem Kinde wirksam w\u00e4re, warum dieses nicht immer in ganz \u00fcl\u00bberwiogondem Grade der Mutter \u00e4hnlich w\u00fcrde. Besteht die spezifische Eigent\u00fcmlichkeit des Idioplasmas in der Anordnung und Beschaffenheit der Micelle, so l\u00e4sst sich eine gleich grosse Erbschafts\u00fcbertragung nur denken, wenn in den bei der Befruchtung sich vereinigenden Substanzen gleichviel Idioplasma enthalten ist, und der \u00fcberwiegende Erbschaftsanteil, der ljuld von der Mutter, bald vom Vater herstammen soll, muss dadurch erkl\u00e4rt werden, dass bald in der unbefruchteten Eizelle, liald in den mit derselben sich vereinigenden Spermutozoiden eine gr\u00f6ssere Menge von Idioplasma sich befindet. Bestehen die Sjiermatozoidc bloss aus Idioplasma, so enthalten die nicht befruchteten Eizellen bis auf W.\u00fcl Promille nicht idioplasmatisches Stereoplasmu.\nEine andere Betrachtung f\u00fchrt zu dem n\u00e4mlichen Schluss. Wenn die Anordnung der Micelle die spezifischen Eigenschaften des Idioplasmas !>egr\u00fcndet, so muss das letztere eine ziemlich feste Substanz darstellen, in welcher die Micelle durch die in dem lebenden Organismus wirksamen Kr\u00e4fte keine Verschiebung erfahren, und in welcher der feste Zusammenhang bei der Vermehrung durcii Einlagerung neuer Micelle die bestimmte Anordnung zu sichern vermag. Das gew\u00f6hnliche Plasma dagegen ist, soviel wir von demsellien wissen, ein Gemenge von fl\u00fcssigem und festem Plasma (Hygro-plusma und Stereoplasma), wobei die beiden Modificationen leicht in einander \u00fcl\u00bbergehen und die Micelle oder Micellverb\u00fcnde der unl\u00f6slichen Modification, wie dies f\u00fcr das str\u00f6mende Plusmu nicht anders angenommen werden kann, sich mit grosser Leichtigkeit gegenseitig verschieben.\nDass aller das Idioplasma eine Substanz von ziemlich festem Gef\u00fcge sein muss und jedenfalls nicht gel\u00f6st sein kann, wird nicht","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nI. Idioplasma\nbloss durch die theoretische Erw\u00e4gung gefordert, sondern uucli durch die Erfuhrung lwst\u00e4tigt ; denn diese zeigt uns, dass die erblichen Eigenschaften nicht durch gel\u00f6ste Stoffe \u00fcbertragen werden. Ich verweise hier\u00fcber auf die sp\u00e4teren Er\u00f6rterungen lwtreffend dio Wirkungen der \u00e4usseren EinH\u00fcsso.\nWas die Unterscheidung \u00ables Idioplasmas von dem \u00fcbrigen Plasma lietrifft, so kann nicht bestritten werden, dass die Thatsachon eine doppelte Erkl\u00e4rung zulassen. Es ist n\u00e4mlich auch \u00ablie Annahme denkbar, dass das gesummte mehr oder weniger feste Plasma dor Tr\u00e4ger der erblichen Anlagen sei. Dann muss demseltan dio F\u00e4higkeit, Eigenschaften zu vererben, in ungleichem Grude zukommen. Wenn das m\u00e4nnliche Befruchtungsplasmu (im 8]>ermatozoi<l) bloss den hundertsten Theil der Masse von dom weiblichen Befruchtungsplasma (in der Eizelle oder im Keimbl\u00e4schen) betr\u00e4gt und trotzdem gleich viel erbliche Anlagen enth\u00e4lt, so l)esitzt das orstere in der Masseneinheit hundertmal mehr ideoplastische Kraft als das zweite.\nEs kommt nun praktisch auf \u00ablas N\u00e4mliche hinaus, ob ich sage, es sei eine gewisse Summe von i\u00ablioplastischen Eigenschaften oder es sei oine gewisse Menge Idioplasma durch eine gegebene Menge von Plasma verbreitet. Die letztere Ausdruckswoise hat den Vorzug der Anschaulichkeit, und erweist sich als viel brauchbarer f\u00fcr weitere Ausf\u00fchrungen der Theorie.\nDie Annahme eines liestimmten Idioplasmas bietet sich \u00fcbrigens um so ungesuchter dar, als es ljereits verschiedene durch ungleiche physikalische und physiologische Eigenschaften churaktorisirte M\u00abxli-ncationon von Plasma gibt. Wir unterscheiden nicht nur gel\u00f6stes (Ilygro-) und ungel\u00f6stes (Stereo ) Plasma, sondom in dem letzteren wieder hyalines (Hyalo-) und tr\u00fcl>es, oft k\u00f6rniges (Polio, K\u00f6rner-) Plasma. Ferner hat nur ein Thoil des Polioplasmas die F\u00e4higkeit, durch Chlorophylloinlagorung sich gr\u00fcn zu f\u00e4rlxm und aus Kohlon-s\u00e4uro und Wasser Zucker (Kohlenhydrate) zu bilden. Ebenso zeichnet sich ein Theil des Stereoplasmas in den Zellkernen und in kern-\u00e4hnlichen Plasmak\u00f6q>ern durch dio F\u00e4higkeit aus, gr\u00f6ssere Mengen von Farbstoff aufzunehmen.\nEs ist somit aus mehr als einom Grunde wahrscheinlich, dass von den Albuminatcn, welche \u00ablas Plasma des lel>en\u00ablon Organismus darstellen, nur oin sehr kleiner Theil Tr\u00e4ger dor erblichen Anlagen und als Idioplasma zu bezeichnen ist, w\u00e4hrend die \u00fcbrige Masse","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"als Tr\u00e4ger der erblichen Anlagen.\t2\u2018)\nals Ern\u00e4hrungsplasma betrachtet worden muss. Die Wirksamkeit dos Idioplasmas macht sich \u00fcborall geltend, wo ein erblicher Wachs-thiims- oder Umhildungsprocess vor sich geht; es darf daher seine Anwesenheit an diesen Stellen vorausgesetzt wer\u00abIon.\nWenn es im umgekehrten Falle eine Menge Stellen im Organismus gibt, wo das Plasma weder Wachsthum noch Umbildung hervorzubringon vermag, so kann die Ursache theils im relativen Mangel des Idioplasmas liegen, theils darin, dass dassellx? nicht die richtige Mischung mit dem Em\u00fchrungsplasma bildet. Die Annahme m\u00f6chte auch nahe zu liegon scheinen, dass in so vielen F\u00e4llen die zusammenh\u00e4ngenden Plasmamassen, welcho durch andere stickstoffhaltige oder stickstofflose Verbindungen (lcimgubende und elastische Substanzen in den thicrisclien, Cellulose in den pflanzlichen Ge-welnm) von einandor getrennt sind, auf allzu goringo Mengen vermindert worden seien, um ein ferneres Wachstlium m\u00f6glich zu machen, dass also die erforderliche Menge von Em\u00e4hrungsplasina f\u00fcr die Wachsthumsprocesse entscheide.\nAllein dieser Umstand darf nicht f\u00fcr oino allgemeine Theorie des Gestaltungsprocosses benutzt werden. Er kann vielleicht erkl\u00e4ren, warum gewisse Ern\u00e4hrungsvorg\u00e4nge, wie die Streckung und Verdickung der Zellmembran bei Pflanzen, aufh\u00f6ron. Aber die eigentlichen Wachsthumsprocesso, welche die eigent\u00fcmliche Gestalt und Struetur der Organe bedingen und vorzugsweise auf de. Zellbildung Ixiruhen, sind unabh\u00e4ngig davon. Denn es ist eine h\u00e4ufige, im Pflanzenreiche leicht zu beolmchtende Erscheinung, dass die Vermehrung der Zellen schon zu einer Zeit aufh\u00f6rt, wo sie noch ganz mit Plasma erf\u00fcllt sind, und ebenso dass von den zwei Tochterzellen einer Mutterzelle, obgleich beide gleiche Mengen von Plasma enthalten, die eine Zellen bildet, die andere nicht.\nEine Theorie, welche allen tats\u00e4chlichen Beobachtungen gen\u00fcgt, scheint nur die zu sein, dass in erster Linie die Beschaffenheit des Idioplasmas, in zweiter auch seine Menge und die Art, wie es mit dem Ern\u00e4hrungsplasma gemengt ist, f\u00fcr die Dauer und das Aufh\u00f6ren der Wachsthumsvorg\u00e4nge entscheidend seien, und dass in dem sich entwickelnden Organismus das Idioplasma in einer steten Wanderung nach den Bildungsst\u00e4tten begriffen sei.","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nT. Idioplasm*\nEs handelt sich uW nicht hloss um die Thatsachc, dass das Wachsthum zeitweise und stellenweise th\u00e4tig ist oder zur Ruhe kommt, sondern um die andere noch viel r\u00e4thsclhafterc Erscheinung dass das Wachsthumsverm\u00f6gcn nach Zeit und Ort der individuellen Entwicklungsgeschichte sich verttmlcrt. Beim Aufbau des Organs aus Zellen 1 \u00bbesitzen viele Zellen die F\u00e4higkeit in einer ganz 1\u00ab-stimmten Weise zu wachsen und in ganz bestimmter Weise sich in zu ei neue Zellen zu theilen, was hei den einfacher gebauten niederen Pflanzen oft so ausserordentlich deutlich zu lxjobaehten ist. Ferner bildet heim Aufbau des Pflanzenstockes der Stengel zuerst schuppen-f\u00f6rmige Niederhlntter, dann gr\u00fcne Laubbl\u00e4tter, dann kleinere oft bleiche oder bunte Hochbl\u00e4tter, und zuletzt in regelm\u00e4ssiger Folge die verschiedenen Bl\u00e4tter der Bl\u00fcthe, Kelch, Krone, Staubgef\u00e4sse und Stempel.\nVon den Billionen Zellen, welche einer Pflanze w\u00e4hrend ihrer ganzen Lclx3nsdauer angeboren, mangelt vielen die F\u00e4higkeit neue Zellen zu bilden, die andern erzeugen je nach Zeit und Ort verschiedenartige Oewelxjzellen oder Anfangszeilen f\u00fcr verschiedenartige Organe. Wenn wir diese Bildungszcllen nicht hloss mich ihrer n\u00e4chsten, sondern nach ihrer ganzen Nachkommenschaft beurtheilen, so i erh\u00e4lt sich jode anders, und joder kommt oin cigcnth tim lieber Bildungstrieh zu. Da dieser durch den ganzen Organismus sich ver\u00e4ndernde Bildungstrieh durch das Idioplasma lxxlingt wird, so stehen uns nur zwei Annahmen offen.\nEntweder ver\u00e4ndert sich das Idioplasma, sei es in materieller, sei es hloss in dynamischer Beziehung, w\u00e4hrend des individuellen Wachst!\u00bbumsj\u00bbroccsscs stetig, um am Schl\u00fcsse dessellxm lx;i der Bildung der Keime wieder zu der urspr\u00fcnglichen Beschaffenheit zur\u00fcckzukehren, die es in der Anfangszeile hatte, aus welcher das Individuum hervorgegangen ist.\nOder das Idioplasma Ixjh\u00e4lt die n\u00e4mliche Beschaffenheit und es wird das verschiedene Verm\u00f6gen ties Bildungstriebos durch die ver\u00e4nderten Umst\u00e4nde verursacht, welche mit dem Idioplasma Zusammenwirken, und welche von Zeit und Ort der individuellen Entwicklungsgeschichte ahh\u00e4ngen.\nDie eine und die andere dieser beiden Ursachen w\u00fcrde f\u00fcr sich allein wohl nicht ausreichon, um die normalen und abnormalen Verh\u00e4ltnisse, welche die Geschichte des Individuums darbieten kann,","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"31\nhIh Tr\u00e4ger \u00ab1er erblichen Anlagen.\nzu erkl\u00e4ren. Du alicr l>oi<le ohnehin vorhanden sein m\u00fcssen, so wird dio Erkl\u00e4rung durch ihr Zusammenwirken wesentlich erleichtert. Es ist \u00fclicrfl\u00fcssig auszuf\u00fchren, wie auf d\u00bbis Idioplasma fortw\u00e4hrend andere umgebende (dem Individuum angch\u00f6rige) Einfl\u00fcsse einwirken; denn jede Zelle, die w\u00e4chst und sich theilt, nimmt eine bestimmte mitogenetische Stelle ein, und liefindet sich unter einer eigent\u00fcmlichen Combination von voruusgegangenen Orgauisutionsverh\u00e4ltnissen.\nDuss ferner das Idioplasma in den verschiedenen Abschnitten der Ontogenie thats\u00e4chlich nicht ganz gleich ist, ergibt sich aus dem L mstandc, duss bei Arten mit Generationswechsel \u00ablie einzelligen Samen ungleicher Generationen sich zu ungleichen Individuen entwickeln, \u2014 ferner eltenso aus dem Umstande, dass bei Gef\u00e4sspflanzen und bei Moosen die von vegetativen Theilen sich abl\u00f6senden Zellen lieim Keimen sich etwas anders verhalten als die befruchteten Eizellen oder die Sporen, indem jene n\u00e4mlich die allerersten Stadion \u00ab1er Entwicklung \u00fcberspringen.\nDass das hlioplasma innerhalb des Indivi\u00abluums auch eine phylogenetische Umbildung erf\u00e4hrt, beweist uns die Thatsache, \u00ablass \u201cus einem Baume ausnahmsweise ein Zweig mit anderen Eigenschaften als die \u00fcbrigen Zweige, mit anders gestalteten Bl\u00e4ttern o\u00abler Bl\u00fcthen hervorw\u00e4chst, w\u2019obei die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse selbstverst\u00e4ndlich nicht in Betracht kommen k\u00f6nnen.\nDie Annahme, das Idioplasma ver\u00e4ndere sich w\u00e4hrend des in\u00abli-viduellcn Wachsthums innerhalb bestimmter Grenzen, ist aller \u00ableshalb leicht m\u00f6glich, weil es sich immer um ein Vielfaches vermehrt, und weil diese Vermehrung in den verschiedenen Stadien der indi-viduellcn Entwicklungsgeschichte ohne Zweifel in ungleicher Weise erfolgt, wie ich nachher auseinandersetzen werde.\nEs ist also jedenfalls das zweekm\u00e4ssigste, das Idioplasma verschiedener Zellen eines Individuums, wenn auch nur als Symbol, als verschieden zu bezeichnen, insofern es eigent\u00fcmliche Productions-f\u00e4higkeit liesitzt, und darunter auch alle die Umst\u00e4nde im Individuum zu liegreifen, die auf das liez\u00fcgliche Verhalten der Zellen Einfluss Italien. Die Wirksamkeit des also beeinflussten Idioplasmas ist nun nichts anderes als der Bildungstrich (Nisus formativus).\nNicht nur die Umst\u00e4nde innerhalb \u00ables Individuums halten Einfluss auf das Idioplasma. Dassellie kann auch durch \u00e4ussere Ursachen umgestimmt und zu einem ver\u00e4nderten Bildungstrieb","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\n1. Idioplasm\u00bb\nveranlasst werden. Dies wird uns durch eine Menge abnormaler Bildungen aufgcn\u00f6thigt, welche auf \u00e4ussere Eingriffe erfolgen, \u2014 sei es, diiss Insektenstiche in einem Gewel>o, das sich sonst nicht weiter ver\u00e4ndern w\u00fcrde, Wucherungen und Gallen erzeugen, oder dass verschiedene k\u00fcnstliche Maassregeln, welche eine St\u00f6rung in den normalen Lebonsvorg\u00e4ngen bewirken, zur Ruhe \u00bbjestimmte Zellen veranlassen, sich zu vermehren und eine Knos]>o oder eine Wurzel zu bilden. Der Einfluss der \u00e4usseren Umst\u00e4nde auf die Entscheidung, welche von den im Idioplasma enthaltenen Anlagen zur Entfaltung gelangen, zeigt sich namentlich auch in der bekannten Thatsaehe, dass es von der Ern\u00e4hrung abh\u00e4ngt, ob an gewissen B\u00e4umen sich Laub- oder Bl\u00fcthentriobo bilden, und dass manche Pflanzen in einem ihnen wenig g\u00fcnstigen Klima cs \u00fcberhaupt nicht zur Bl\u00fcthen-\nbildung bringen, sondern in der vegetativen Entwicklungssph\u00e4re gebannt bleiben.\nWenn es nun fcststeht, dass die Ver\u00e4nderungen, welche der Bildungstrieb in den auf einander folgenden Stadien der individuellen Entwicklungsgeschichte und an den verschiedenen Stellen des individuellen Organismus zeigt, durch nichts Anderes bedingt werden kann, als durch die auf einander folgenden Modificationcn im Idioplasma und durch die ebenfalls wechselnden Einfl\u00fcsse, unter denen dasselbe seine Anlagen zur Entfaltung bringt, so legen wir uns weiter die Frage vor, in welchen Vorg\u00e4ngen diese Modificationcn des Idioplasmas bestehen und wie wir uns die Einwirkung der umgebenden Umst\u00e4nde zu denken hallen? Dies f\u00fchrt uns dann auf\neine n\u00e4here Betrachtung der Constitution und dev Wirksamkeit des Idioplasmas.\nWas die Vorg\u00e4nge im Idioplasma betrifft, so ist zun\u00e4chst die Zunnlnne desselben w\u00e4hrend des Wachsthums ,u bor\u00fccksiehtigon. Wir lieobnebten, dass dio Substanz, aus welcher der Organismus I\u00ab. steht, von dom Anfangsstadium aus bis zum ausgowacl.sonon Zustande fortw\u00e4lirend sich vermehrt, dass diese Vermehrung, abgesehen von vielen einzelligen Wesen, sehr betr\u00e4chtlich ist (oft um mehr als das Bill,onentache) und dass alle wesentliche Ver\u00e4nderung in der morphologischen, inneren und \u00e4usseren Gestaltung nur durch Zunahme der Substanz und nicht etwa durch Umlagerung derselben bewirkt wird. Mit der Substanzzunaliine muss eine entsprechende Vermehrung des Idioplasmas in derselben verbunden sein; jode","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"als Trittfer \u00abUt erblichen Anlagen.\nM\nlteliobigo Zelle muss davon eine gewisse Monge enthalten, weil dadurch all\u00f4 ererbte Th\u00fctigkoit liedingt wird; und jodo Zolle, dio aus don Fortpflanzungsorgunen und Itci don Pflanzen auch aus vegetativen ( iowol>on froi wird, uni oin noues Individuum zu erzeugen, muss eine ann\u00e4hernd gleiche Monge von Idioplasma Itesitzon, wie die Zolle, aus der das elterliche Individuum hervorgegungen ist. Bei einzelligen Wosoll, dio Idoss zwei Kinder hinterlassen, vermehrt sich das Idio-plasma wilhrend der Lelieiisdaucr auf das Dopjielte, Itei allen anderen um so mehr, jo gr\u00f6sser und zusammengesetzter sie sind, und je mehr Keime sie hervorhringon, Itei manchen Organismen gewiss auf das Millionenfache.\nMit dieser Zunahme des Idioplasmas w\u00e4hrend der individuellen Entwicklungsgeschichte k\u00f6nnten wir seine verschiedene Wirksamkeit w\u00e4hrend dieser Periode in \\ erhindung hringen. In Folge seiner zwar hisdist kunstvollen, alter ungleichm\u00e4ssigen Constitution w\u00e4chst cs\nn\u00e4mlich nicht \u00fcltcrall und nicht immer gloiclnn\u00e4ssig fort; sondern es finden stets Bevorzugungen statt, sei es, dass die einen <irup|\u00bben \u00abnier Dimensionen in st\u00e4rkerem Maasse als die \u00fcbrigen, sei es, dass diesclltcn in activer Woiso zunehmen, iudess die \u00fchrigen nur passiv, soweit es der feste Zusammenhang verlangt, folgen1).\nWir k\u00f6nnten nun annchmen, \u00ablass immer die Anlagen derjenigen <1 nippen \u00absler Dimensionen, die sich am lebhaftesten oder in activer Weise vennehren, zur Entwicklung gelangen, w\u00e4hrend dio \u00fcbrigen latent hleilten, so \u00ablass also \u00ablie successive Entfaltung \u00ab1er Anlagtai in \u00ablern entstehen\u00ablen und wachscrnlcn Individuum \u00ablurch \u00ablen Wechsel in den Wuchsthumspmcessen des Idioplasmas liedingt w\u00fcrde. Dieser Wechsel alter wird mitlaxlingt \u00ablurch die umgeliendeu UmsUtmle, indem \u00ablas in den Zellen ltestimmtor Entwicklungsstadien eingeschhisscnc Idioplasma \u00ablie Entfaltung der \u00abliescr Situation entsprcch\u00ab*inl\u00ab*n Anlagen anregt.\nDie A erschiedoiihcit der Wnchsthumsproccssc im Idioplasma k\u00f6nnte allenfalls in folgen\u00ab 1er Weiset gedacht wonlen. Da dassellst eimt feste Anordnung darstellt, so lassen sich seine Thcilchcn (\u00ablie\n*) E\u00fci nrtiv\u00ab*s Wachst hum ist \u00ablnnn jregehen, wenn durch di\u00ab* MnUrulurkr\u00fcftc I'.inlataTtina v\u00ab\u00bbn kleinsten Thcilchcn statttindet und damit \u00ab*in ciiltnticiisttiii'iiilcr Itruck tllicrwund(>n wird, ein passives WacliHtiium dann, wtaui die Substanz au\u00ab einander \u00bbretwyen wird und wenn in Foljrc dieses Zaires neue Tlieilelien sieh einlairora.\nv N\u00fcfcli, AlixlHiniiiiiiiirKleluv\t<1","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\n1. IdinpUftina\nMicelle) nach mehreren \u00bbich kreuzenden Dimensionen in Reihen zerlegen, wolwi immer du\u00ab n\u00e4mlicho Theilchen Reihen der verschiedenen Dimensionen angeh\u00f6rt. Alle Zunahino dos Idioplasmas ist ein Wachsthum seiner Roihon und geschieht dadurch, dass dio Reihe durch Zutritt neuer Micollo zu den schon vorhandenen sich ver-l\u00e4ngeit. Diese Verl\u00e4ngerung kann durch gloichm\u00e4ssigo Zwischen-lagerung in allon Partien <ler Reihe oder durch ungleichm\u00e4ssige, stellenweise gesteigerte Zwischenlagerung oder auch durch Auflagerung an einem Endo erfolgen. Eine ganze zusammengeh\u00f6rende Gruppe von Idioplasma oder das gesammte Idioplasma aber kann durch Wachsthum der L\u00e4ngsrcihen allein oder dor nach der Breite gelagerten Querreihon oder dor nach der Dicke verlaufenden Reihen oder auch durch Wachsthum dor in irgend einer schiefen Richtung goordneten Reihen allein sich vermehren. Die verschiedenen Anlagen werden durch die in verschiedenen Dimensionen verlaufenden Micellarreihen dargestellt, und eine bestimmte Anlage entfaltet sich, wenn die betreffenden Roihen der bestimmten Dimension wachsen. Enthalten t>eispiolsweisc die L\u00e4ngsroihen im allgemeinen die Anlagen f\u00fcr die vegetativen, die damit sich kreuzenden Querreihen die Anlagen f\u00fcr die reproductiven Bildungen, so verl\u00e4ngern sich durch Einlagerung von Micellon in dor ersten Richtung nur die Vegetationsreihen, indoss die in der Querrichtung verlaufenden Reproductionsreihen bei diesom Waehsthumsprocess ihre L\u00e4nge behalten, aber in entsprechendem Maasse an Zahl zunehmon. Solange dieses Wachsthumsstadium des Idioplasmas andauert, w> .-den nur Laubtriebe horvorgebracht; schl\u00e4gt sp\u00e4ter an bestimmten Stellen das Wachsthum in die Roproductions-reihen des Idioplasmas um, so dass also die Einlagerung nur in der Querrichtung erfolgt, so bilden sich daselbst Bl\u00fcthontriebe.\nDie soeben entwickelte Hypothese des Wachsthums des Idioplasmas deutet den Wog an, auf dem ich anf\u00e4nglich die L\u00f6sung dos R\u00e4thsols versuchte. Ich habe aW bald gefunden, dass die Ausf\u00fchrung der Theorie im einzelnen, obgleich sie allerdings viele V orz\u00fcgo enth\u00e4lt, auf kaum \u00fcborsteiglmre Schwierigkeiten st\u00f6sst, und ich wurde veranlasst, sie als zweiten Versuch so weit zu \u00e4ndom, dass alle Anlagen durch die in der L\u00e4ngsrichtung verlaufenden Reihen dargostcllt werden. Ich erachtete jedoch f\u00fcr zweckm\u00e4ssig, \u2018le\u00bb ersten Versuch mitzutheilen, weil er am anschaulichsten zoigt! wie ich mir die Struetur des Idioplasmas bez\u00fcglich des Verhaltens","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"alH Tri\u00e0tfi*r tkir \u00bbrltlichon Anlafr<\u2018ii.\nil\u00f4\n<lor verschiedenen Dimensionen zu oinander denke. Eino gleichzeitige feste Anordnung in den Quorrichtungon ist f\u00fcr die ver\u00e4nderte Theorie elKMifalls noth wendig, weil die Anlagereihon sich in vielfacher F\u00fchlung mit einander lietindon m\u00fcsson, und weil dies nur durch den seitlichen Contact der L\u00e4ngsreihon m\u00f6glich ist, wobei die Micelle auch in Quorreihon, welche nach dor Breite und nach \u00ab1er Dicke verlaufen, zu liogcn kommen.\nEhe ich dio m\u00f6gliche Struktur des idioplasmatischen Systems weiter verfolge, will ich zun\u00e4chst darauf hinweisen, dass in einer solchen Theorie nicht etwas Noues enthalten ist, das erst in dio Physiologie eingef\u00fchrt worden soll. Sie ist im Gegentlieil nur einer Weits feststehenden analogen Structur andorer organisirter K\u00f6rper nachgohildet. Je\u00abler dioser K\u00f6rper besteht aus krystallinischen Miccllen (mikroskopisch unsichtliaren, aus einer gr\u00f6sseren oder kleineren Zahl von Molek\u00fclen Wtehondon Kryst\u00e4llchen, von denen je\u00ablos im imhibirten Zustande mit einer Wasserh\u00fclle umgobcn ist); aller jeder K\u00f6rper ist mit R\u00fccksicht auf seino Bestimmung, oder vielmehr mit R\u00fccksicht auf die l>ei seinor Entstehung maassgebondon Ursachen eigenth\u00fcmlich gelxaut.\nAm regel massigsten sind dio Micollo in den Krystalloidcn (krystall-\u00e4lmlichen K\u00f6rpern) der Albuminate angeordnet, und zwar ziemlich gonuu so wie die Molek\u00fcle oder Pleone (chemische Molek\u00fcl Verbindungen) in den Krystallcn, n\u00e4mlich in ebenen Micellschichten, dio sich nach drei oder mehr Richtungon kreuzen, und somit auch in geraden Micellroihen, dio nach drei oder mehr sich kreuzenden Richtungen orientirt sind. \u2014 In don Ainylodextrinschcilxdicn (Cylindro-krystalloidcn) liegen dio aus Amylodextrin liestchcndcn Micelle in concentrischon Schichten von der Form von Cylindcrm\u00e4ntcln und in dazu rechtwinkligen ebenen Schichten, also in radialen, von der Cylindoruxo mich dor Poriphorie ausstrahlendcn, zur Axc rechtwinkligen Reihen und in mit dor Axe parallelen Reihen.\nWas dio St\u00e4rkek\u00f6rner betrifft, so kann man in dcnsell>en im allgemeinen nur concentrische Micellschichten, die um den centralen oder cxcontrischon \u00bbKorn\u00ab vorlaufen, und radiale, von \u00abloin Kern strahlenf\u00f6rmig ausgehende Micellreihon unterscheiden; die Anordnung der Micellroihen in dor Fl\u00e4che \u00ab1er concentrischon Schichten ist unbekannt. \u2014 Die Membranen freier kugeliger Zellen (z. B. Chroococcus)\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"I. IriiopluMma\n3(5\nverhalten sich \u00e4hnlich wie Kugolsclialcn von sph\u00e4rischen St\u00fcrke-k\u00f6rnoro, und diejenigen, welche die Seitenfl\u00e4che freier cylindriHcher Zellen darstellen (z. B. Oscillaria, Spirogyra), \u00e4hnlich wie Cylinder* m\u00e4ntel von Cylindrokrystalloiden.\nIm \u00fcbrigen sind \\xs\\ don Pflanzenzellmemhranen, wie \u00abich aus Schichtung und Streifung ergibt, dio Micellsclliebten nach drei Dimensionen geordnet, von denen die eine, welche der Schichtung entspricht, mit der Membranfl\u00e4cho parallel l\u00e4uft, wahrend die zwei anderen, den Streifensystemen entsprechend, sich unter lieliebigen Winkeln kreuzen, zur Schichtung al \u00bber rechtwinklig stehen. Dem entsprechend gibt es auch drei Hauptsysteinc von Micellreihen, zwei sich recht- oder schiefwinklig kreuzend, mit den Streifen gleichgebcnd und in der Fl\u00e4che der Schichten vorlaufend, und ein dritte\u00bb die Ileiden ersten und somit die Schichten rechtwinklig durchsetzend. Dieser Bau ist an grossen cylindrischon Zellen (Mooreonferven, (\u2019baren), wo die einen Streifen meist der L\u00e4nge nach, die andern der Quere nach verlaufen, ausserordentlich deutlich.\nDie Anordnung der Mieellschichten in den Krystulloidcn und den Cylindrokrystalloiden ist ausserordentlich regelm\u00e4ssig. l\u00bbei den St\u00e4rkek\u00f6rnern und Zellmembranen mehr oder weniger unregelm\u00e4ssig, indem die sichtbaren Schichten sich hin und wieder in zwei und mehr Bl\u00e4tter sjadten. Dieser Erscheinung muss eine Verzweigung <ler Mieellschichten und Micellreihen entsprechen. Besonders wichtig als \\ ergloich mit dem Idioplasma sind die St\u00e4rkekftmer.\nDas Wachsthum der St\u00e4rkek\u00f6rncr findet genau so statt, wie* c*s die durch \u00ablie genannten Kr\u00e4fte bedingten Spannungen verlangen, die sich theoretisch aus den mechanischen Pr\u00e4missen ableiten lassen1). Tritt fr\u00fcher oder sp\u00e4ter eine Abweichung von der urspr\u00fcnglichen regelm\u00e4ssigen kugeligen Form und mathematisch concentriscben Anordnung auf, so wird, wenn nicht \u00e4ussere st\u00f6rende Einfl\u00fcsse sich geltend machen, die Abweichung immer gr\u00f6sser, die Unregelm\u00e4ssigkeit und damit die Complicirtheit der Configuration w\u00e4chst immer mehr. Dies steht elxmfalls in strenger Ucliereinstimmung mit \u00ablen mechn 1 uscllen Forderungen.\nDie Abweichungen der St\u00e4rkek\u00f6rner vom sph\u00e4rischen Bau sind verschiedener Art. Diese spezifischen Verschiedenheiten werden\n') Xitgeli, Die StUrkekorncr. 18T*8, S. 2*0.","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"uIh Tr\u00fcjrcr \u00ab1er urltliclicn Aiilupii.\n.\u2018J7\nbedingt durch die chemische Hesel lutTcnheit des Zellinhaltes. welche uul* diu Hesel mt\u00efcnheit, Gestalt und Zusammonlagerung der Micelle Einfluss uus\u00fcht. Es sind gleichsam die Anpassungen \u00ab1er St\u00e4rkek\u00f6rner, w\u00e4hrend die Ursache, welche die Abweichung vom sph\u00e4rischen Hau bewirkt, eine allgemeine ist und allen K\u00f6rnern xukommt.\nOie St\u00e4rkek\u00f6rner gelten uns ein Vorbild f\u00fcr das Idioplasma. Heides sind feste Micellsysteme, die frei im Zcllcuinhaltc (in der Zellfl\u00fcssigkeit oder im Imlbtl\u00fcssigen IMasma) liegen und durch Miccll-cinlagcruug wuchsen; in ltciden tritt der erste Schritt zur compli-cirtcren Anordnung mit mechanischer Notliweudigkeit ein, und f\u00fchrt eltenso nothwendig zu immer weiter gehenden Schritten in der steigenden Complication der Configuration des Systems. Hei den St\u00e4rkek\u00f6rnern alter halten wir es mit einer lickunntcn Anordnung zu thun, ltei der sich die mechanischen Hcdiugungcn der Einlagerung genau angelten lussen, w\u00e4hrend ltei dem idioplusmatischen System uns der Charakter der Configuration noch vcrltorgcn bleibt.\nWenn das Idioplasma so ltcsclmfTcn ist, wie ich mit Uiicksicht auf die Eigenschaften, die es nothwendig Itesitzcn muss, vermuthet halte, so kennen w\u2019ir seine Structur nur in der einen Dimension, n\u00e4mlich in derjenigen, in welcher sein ontogenetiselies Wachsthum stattfindet. Wie ich ltcrcits erw\u00e4hnte, kann cs im einzelnen Individuum auf das Zehntausendfache, seihst auf das Millionenfache zunehmen. Trotzdem lteh\u00e4lt es ltei geschlechtsloser Vermehrung der Individuen (durch Stecklinge, Knollen, Pfropfreiser u. s. w.) w\u00e4hrend einer ganzen Heilte von Generationen so genau seine Anordnung bis ins Einzelne, dass seihst die allcrlcichtesten individuellen Eigent\u00fcmlichkeiten, die sonst gar keinen Hestand halten, ohne die geringste Ver\u00e4nderung sich vorerlten. Ferner sind viele wildwachsende Pflanzen seit der Eiszeit auf den verseilietKmslen Standorten so gleich gehlielten, dass man sie nicht von cinanucr unterscheiden kann ; - \u2014 es ist dies eine Thatsache, auf \u00ablie ich sp\u00e4ter noch wiederholt zur\u00fcckkommen werde. Das Idioplasma dieser Ptlanzen muss w\u00e4hrend dieses langen Zeitraums fast in unltcgrcnztcm Matasse zugeitommen halten, ohne sich merkltar zu ver\u00e4ndern.\nDiese Erseheinung scheint keine andere Erkl\u00e4rung zuzulassen als die, dass das Idioplasma strengt* in parallelen Heilten von festem Zusammenhang geordnet ist, welche durch Einlagerung von Micellen","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nI. I\u00ablioi\u00bb)wmia\nwachsen und dubei fortw\u00e4hrend die gleiche Zusuinmenordnung Inhalten (Fig. 1, L\u00e4ngsschnitt durch eine Partie von ldioplusnm). Dadurch 1 \u00bbleibt die Configuration des Querschnittes unver\u00e4ndert und in dieser Configuration ist ja die specifische Beschaffenheit des Idio-plasmas enthalten. W\u00fcrden eine oder mohrero L\u00e4ngsreihen durch St\u00f6rungen im Wachsthum bei loserem Zusammenhang sich thcilen oder sich vereinigen, w\u00fcrde also die Zahl der L\u00e4ngsreihen beim Wachsthum zu- oder abnehmen, so w\u00e4re dadurch eine Aendorung in der Configuration des idioplasmatischen Systems und damit auch eine \\ er\u00e4nderung in den Merkmulen verursacht.\n\u25a1\u25a1\u25a1\u25a1\u25a1\n\u25a1\u25a1\u25a1no\n\u25a1\u25a1\u25a1n\n\u25a1\u25a1\u25a1n\nn\u00b0D00n\nGaoooi\nUgOOG\nnoooo\nOS\u00b0GQ\nFi\u00ab. 1\nDas Constantblcibcn der Merkmale durch eine Folge von (leno-rationen verlangt, dass die Micellreihen des Systems w\u00e4hrend des mitogenetischen Wachsthums ihren strengen Parallelismus liewahren Die Ver\u00e4nderung der Merkmale bei der phylogenetischen Entwickelung erfordert dagegen eine Vermehrung oder auch eine Umbildung der Micellreihen, ohne welche eine neue Anlage nicht in das idioplas-matische System sich einordnen kann.\nDie Art und Weise, wie wir uns die Fortbildung der Quorschnitts-eon figuration im Idioplasma vorzustellen haben, h\u00e4ngt wesentlich mit der Art dos Ungenwachsthums zusammen. W\u00fcrden die L\u00e4ngsreihen an dem einen (olieren) Ende wachsen, so k\u00f6nnte ihre Vermehrung als Verzweigung stattfinden (Fig. 2, wo \u00ab die neue Grupjw oder Anlage im Querschnitt gesehen darstellt). Diese Bildungsweise","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"uIh Tr\u00e4ger tier erblichen Anlagen.\n;v.\u00bb\nkommt al>er ohne Zweifel nicht vor, denn sie entspricht wenig der Vorstellung, welche wir uns von dem micclluren Wachsthum \u00fclier-haupt zu machen haben, und noch weniger den Eigenschaften, die wir im \u00fcbrigen dem Idioplusma zuschreibon m\u00fcssen, wie sich in der Folge noch ergeben wird.\nDas L\u00e4ngenwachsthum der Micellreihen geschieht h\u00f6chst wahrscheinlich \u00fcl>crull in der ganzen L\u00e4nge durch Zwischenlageruug neuer Micelle, also intcrcalar (Fig. 5, L\u00e4ngsschnitt; die neuen Micelle\n\u25a1 \u25a1 \u00fc 2\nBga gfi\n\u00fcq\u00fc\u00b0\nBqS\u00ae\n\u25a1\u25a1\u25a12\nCJOO CJG\u00fc\n\u25a1 OO CD OO\nCJOO ooo\nCJOO ooo\nm\nWk. 5\nFIk \u00ab\nBO^ B 0 BOI\n\u25a0\t90\nB B 0\nsi \u00fc 0\n\u25a0\t\u25a0 o\nn\n19 69 0\n\u00a33\nB\nB\ngl\nFIk 7.\nsind durch die leeren Rechtecke angedeutet). Die Zunahme und Ver\u00e4nderung des Querschnittes kann durch das Wachsthum einzelner Micelle, also durch Verst\u00e4rkung von L\u00e4ngsreihen oder durch Bildung neuer Micelle, also durch Einschaltung von L\u00e4ngsreihen","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nI. MiopluKinn\nerfolgen. Wenn die L\u00fciigsrcihon sich verst\u00e4rken, ho tritt mit der Zeit wahrscheinlich uneli eine Theilung \u00ablci-scllieii ein, indem siel, K'iin \u00dcingenwachsthum statt eine\u00ab gr\u00f6sseren Micella zwei kleinere einlagern (Fig. (>\u00ab). Im Anf\u00e4nge liestelit nun eine solche Reihe al>-wecliselnd aus ungleichen Elementen; da ulier die Uliigenziinahme w\u00e4hrend einer einzigen ontogenetischen Periode auf \u00ablas Vieltauson\u00ab!-faelie steigt, so k\u00f6nnte unter Umst\u00fcnden schon das n\u00e4chstfolgende Individuum an der Stelle der fr\u00fcheren verst\u00e4rkten Keilte diirchgehends eine Dopjielreihe liesitzen (Hg. i\\b zeigt das n\u00e4chste Stadium, welches auf a folgt).\nDoch wird die Verst\u00e4rkung der Ulngsreihen und ihre Tl.eilung nur selten (sler seihst gar nicht stattfinden, wenn die Ansicht, \u00ablie a h 1rs Anlass der Betrachtung \u00fclier die Zahl und Gr\u00f6sse \u00ab1er hlio-plasinainicelle \u00fcussern werde, \u00ablas\u00ab n\u00e4mlich die letzteren nur aus char geringen Zahl von Molek\u00fclen besahen, liegr\u00fcmlet ist. In diesem Falle kann die Zunahme \u00ables Querschnittes \u00ables Idi\u00ab,plasmas hloss durch Einschaltung neuer Reihen erfolgen, die \u00fcbrigens unter allen Umst\u00e4nden, auch wenn eine Verst\u00e4rkung \u00ab1er Reihen statt-IMilieu sollte, das Hauptmoment des Wachsthums in \u00ab1er Querrichtung ausmacht (Fig. 7, mit einer eingeschalteten Reihe). Wir k\u00f6nnen als\u00ab, \u00ablie Zunahme und Ver\u00e4mlerung \u00ables Querschnittes im allgemeinen als eine Vermehrung \u00ab1er \u00dcingsreihen betrachten, woliei \u00ablie neu ein gelagerten Reihen allein \u00absler mit \u00e4lteren Reihen vermischt die neue Anlage bilden (Fig. 3 und 4, \u00ab* die neue Anlage; \u00ablie neu ein-\ngelagcrten Reihen sind durch punktirte, die alten durch ausgezogene Linien angegelien).\t^\nIrimlet eine Umbildung der Micellreihen zur Erzeugung von neuen Anlagen statt, so m\u00fcssen die sich einlagernden Micelle eine etwas andere Natur liesitzen. Dann wird \u00ablie Reihe nach und nach ihren Charakter ver\u00e4ndern. Man kann in diesem FulL von einer Di Heren zi rung der Substanz des Idioplasmas sprechen, insofern in einem Complex urspr\u00fcnglich gleichartiger Reihen die einen sich s\u00ab, \u00ablie andern sich anders umbilden.\nMag die Bildung \u00ab1er neuen Anlagen \u00ablurch Einschaltung v\u00ab,n Micellreihen \u00absler durch Umbildung der schon vorhandenen erfolgen, so kann man dieselbe immerhin so langsam \u00absler so rasch als \u00ab-s erforderlich ist, sich verteilen, so \u00ablass als\u00ab, auch \u00abHe zeitlichen Bedingungen in jetler Hinsicht sicher gestellt sin\u00abl. __ Her","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"al\u00ab Triiger der erblichen Anlagen.\n41\neinfachste, ltei \u00ablen niedrigsten Organismen v\u00ab\u00bbrk<iinmen\u00able Bau t\\vn Blutplasmas hat \u00ablie geringste Zahl von \u00ablifferenton Reihen; Um* Zahl vermehrt sieh mit \u00ab1er complicirteren Einrichtung \u00ab1er h\u00f6heren Organismen immer mehr.\nDas Blutplasma besteht also eigentlich aus strangf\u00f6nnigen K\u00f6r|\u00bbern, welche wtthreml jeder \u00abMitogenetischen Periode mit dem Waehsthum \u00ables Individuums stetig sich verl\u00e4ngern. Ferner m\u00fcssen <\u00abie Idmplasmustr\u00fcnge, \u00abla alle erblichen Vorg\u00e4nge chemischer und plastischer Natur durch sie geregelt werden, \u00fclterall im Organismus, seihst an den verschiedenen Stellen jeder Zelle gegenw\u00e4rtig sein! und eltenso muss, wie sich ltei Betrachtung der phylogenetischen Ver\u00e4nderung ergelten winl, eine Communication zwischen \u00ablen in verschrienen Theilen eines Organismus befindlichen hlioplnsmapur-tien statt fimlen. Es ist daher eine kaum von der Hand zu weisende Annahme, \u00ablass das Idioplasma durch den ganzen Organismus als zusammenh\u00e4ngendes Netz ausgespannt sei; \u00ablassellte wird in den Zellen seihst je nuch der Beschaffenheit dersellten eine verschiedene (\u00abestait unnehmen, in den gr\u00f6sseren Pfianzenzellen alter gew\u00f6hnlich innerhalb \u00ab1er Membran die Olterfl\u00e4ehe \u00fcltcrziehcn, ferner auch h\u00e4ufig durch den Zellraum verlaufen und besonders auch im Kern ziisanunenge<lr\u00e4ngt sein ! Der in Pfianzenzellen so h\u00e4ufig vorkom-menden netzf\u00f6rmigen Anonlnung des Plasmas uml der netzf\u00f6rmigen Beschaffenheit \u00ab1er Kernsubstanz liegt wahrscheinlich das Idioplasma-netz zu Grunde.\nDieses Netz l\u00e4sst sich, wie ich vorl\u00e4ufig ltemerken will, in doppelter Art denken, entweder als ununterbrochene, netzf\u00f6rmig anastomosirende Str\u00e4nge, oiler als Strangst\u00fccke von liegrenzter fringe, die netzf\u00f6rmig zusammengeordnet sind. Im ersten Falle muss angenommen werden, dass zwischen den durch Ij\u00fcngenwachs-\u00abhum sich streckenden Str\u00e4ngen Verbindungsstr\u00fcnge gebildet werden, im zweiten Fall, dass die sich verl\u00e4ngernden Str\u00e4nge fortw\u00e4hrend sich theilen und neu anordnen.\nIch halte die strangf\u00f6rmige Natur \u00ables Idioplasmas aus dem Grunde angenommen, weil sie allein uns alle Erscheinungen, die wir von ihm kennen, zu erkl\u00e4ren vermag. Eine ganz andere lTelErlegung scheint zu dem n\u00e4mlichen Ziele zu f\u00fchren. Die Vermehrung \u00ab1er Zellen geschieht in \u00ab1er Hauptsache durch Theilung, indem \u00ablie an\u00ablern Vermehrungsarten, die im Laufe \u00ab1er Generationen mit \u00ab1er","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nI. MiopluHimt\nThoilung ubwecliseln, numerisch ganz zur\u00fcck treten. Jeder Zell-tlicilung geht eine Streckung vonuis, bei welcher das weichere Er-n\u00e4hrungsplasma sich lwliebig verschiebt, w\u00e4hrend die festeren Plusmnpurticn die Neigung lial\u00bben, sich fadenf\u00f6rmig zu verl\u00e4ngern. Bekanntlich beobachtet man dies besonders sch\u00f6n bei der Kem-theilung, wo die beiden auseinander r\u00fcckenden Kernli\u00e4lften durch eine Zahl von F\u00e4den verbunden sind.\nBei der Entstehung der Organismen trat bald ein Stadium ein, m welchem die als Idioplasma sich organisirende festere Substanz so viel Z\u00e4higkeit lrcsass, dass sie bei der Theilung eine verl\u00e4ngerte fadenf\u00f6rmige Gestalt annahm. Da nun diese Substanz bei den in verschiedenen Richtungen erfolgenden successiven Theilungen auch in den verschiedenen Richtungen fadenf\u00f6rmig ausgezogen wurde, so bildete sie sich nothwendig zu einem Netz von F\u00e4den aus. Anf\u00e4nglich war dieser Process vielleicht wirklich ein Ausziehen in F\u00e4den, verbunden mit Verschiebung der Idioplasmamicelle. Sp\u00e4ter, als das Idioplasma eine hinreichende Consistenz erlangt hatte, Instand die in der Theilungsrichtung eintretende Verl\u00e4ngerung bloss in einem normalen Wachsthum durch Einlagerung von Mi-\ncellen, und es ist m\u00f6glich, dass sie diesen Charakter schon von Anfang an hatte.\nDie oben angestcllte Betrachtung zeigt, dass ein Idioplasmanetz entstehen musste, wenn bloss die aus Beobachtung bekannten morphologischen Erscheinungen im Zellenlelnm ber\u00fccksichtigt werden. Sp\u00e4ter (in dein Abschnitte \u00fcber die Ursachen \u00ab1er Ver\u00e4nderung) werde ich zu zeigen suchen, dass auch die molecularphysiulogischen Vorg\u00e4nge allein schon ausreichen, um die Bildung eines Netzes h\u00f6chst wahrscheinlich zu machen.\nDie specifische Beschaffenheit des Idioplasmas wird durch die Configuration des Querschnittes der Str\u00e4nge ausgedr\u00fcckt, in welcher die ganze Ontogenie mit allen ihren Eigent\u00fcmlichkeiten als Anlage enthalten sein muss. Wir h\u00e4tten die L\u00f6sung des gr\u00f6ssten R\u00fcthseis der Abstammungslehre gewonnen, wenn wir jene Configuration zu erkennen verm\u00f6chten. Dies ist aber nicht m\u00f6glich ; man k\u00f6nnte vielleicht \u00ablen einen und andern Punkt durch dio Theorie befriedigend erledigen ; man k\u00f6nnte vielleicht selbst eine Gesnmmtanordnung ausdenken,\u2019 \u00ablie den wichtigsten Anforderungen ein Gen\u00fcge leistete. Allein ich w\u00fcrde dies f\u00fcr unn\u00fctz und unfruchtbar halten. Die Configuration","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"alu Tr\u00e4ger der erblichen Anlagen.\n43\n\u00ables idioplusnmtischen Systems ist koine geometrische, sondern eine phylogenetische Aufgabe. Die richtige Anordnung kann nur auf dem Wege erkannt und construirt werden, auf dem der Organismus dazu gelangt ist. Dazu m\u00fcssten wir vor allem die ganze Ahnen-reihe einer Sippe von dem primordialen Plasmatropfen aus, mit dem die organische Entwickelung begonnen hat, kennen. Wir sind alier noch weit entfernt von einer solchen Erkenntniss f\u00fcr irgend eine Pflanze oder f\u00fcr irgend ein Thier.\nWir m\u00fcssen daher auf den eigentlichen Kern der Sache vorerst gitnzlich verzichten, und uns mit einigen allgemeinen Beziehungen begn\u00fcgen, welche von einer bestimmten Anordnung in der Querricht\u00fcng der idioplasmatischen Str\u00e4nge g\u00e4nzlich unabh\u00e4ngig sind. Einer dieser Ihmkte, den ich bereits ber\u00fchrt habe, ist der feste Zusammenhang ihrer Micollreihen unter einander. Diese Annahme ist einmal noth-wendig, damit bei den ontogenetischen Wachstbumsprocessen einer sich nicht ver\u00e4ndernden Abstammungsreihe keine Micelle zwischen den Reihen sich bilden k\u00f6nnen, weil dadurch die Configuration des Querschnittes gef\u00e4hrdet w\u00fcrde. Sie ist ferner noth wendig, damit, wenn die einen Partien des Idioplasmas in activem Wachsthum begriffen sind, die \u00fcbrigen Partien durch die auftretenden Sjauinungeu zu einem entsprechenden passiven Wachsthum veranlasst werden, was ohne festen Zusammenhang nicht m\u00f6glich w\u00e4re. Es gibt aber noch einen dritten wichtigen Grund f\u00fcr die genannte Annahme: es m\u00fcssen n\u00e4mlich, wie ich bereits angedeutet habe, durch die in der Querrichtung verlaufenden Micellreihen der enge aneinander liegenden L\u00e4ngsreihen Leitungen hergestellt werden, welche die verschiedenen Anlagen unter einander in Verbindung setzen, wie sich aus folgender Betrachtung ergibt.\nObgleich wir durchaus nichts Positives \u00fclwr die Configuration des idioplasmatischen Systems wissen, nichts dar\u00fcIxt, welche Micell-anordnungen den einzelnen Anlagen entsprechen, so k\u00f6nnen wir d\u00abx*h sagen, wie die Anordnung in vorsefuedenen Beziehungen nicht sein kunn. So ist es nicht m\u00f6glich, \u00ablass jede Combination von Merkmalen durch eine besondere Micullgmpjto selbst\u00e4ndig vertreten sei. Es gibt, um ein Beispiel anzuf\u00fchren, Zellen von jeder Form und Gr\u00f6sse, mit dicker und d\u00fcnner, geschichteter und ungeschichteter, weicher und fester Membran, mit Spiralfasern \u00abnier jxtr\u00f6scr","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\nI. Idiojilusiua\nVerdickung (T\u00fcpfeln) oder ohne du\u00bb Eine und Andere, mit oder ohne Chlorophyll, mit oder ohne Fetttropfen, St\u00e4rkok\u00f6rnorn, Krystallen von \u00abixalsaurein Kalk, die wieder in verschiedenen Formen auftreten k\u00f6nnen u. s. w. Es gibt, um noch ein zwoitos Beispiel anzuf\u00fchren, Blatter von sehr verschiedener Gostalt, mit ungeteiltem oder verschiedenartig getheiltem Rand, mit ungeteilter oder verschiedenartig geteilter Fl\u00e4che, ohne oder mit verschiedenartigen Ncl>enl>lttttorn, mit verschiedenartig gestaltetem oder fehlendem Blattstiel, mit verschiedenartiger Verteilung der Nerven und Adern, mit wenigen oder vielen Zollschichten und verschiedenartiger Anordnung \u00ab1er Zellen, welche wieder in all \u00ablen vorhin aufgew\u00fchlten Verschiedenheiten vorhanden sein k\u00f6nnen.\nDie Zollen sowohl uls die Bl\u00e4tter gestatten eine fast unendliche Zahl von Combinationen r\u00fccksichtlich ihrer Zusammensetzung aus Theilon. Diese Combinationen sind zwar in dem einzelnen Individuum nur in begrenzter Zahl vorhanden ; allein in jeder folgenden Generation fallen dicsellxm wieder etwas anders aus, und es wiederholt sich wohl niemals ganz die n\u00e4mliche Combination der Thoile in einem Organ, auch nicht einmal in einer Zolle. Es ist also goradezu unm\u00f6glich, \u00ablass das Idioplasma alle denkbaren Combinationen gleichsam auf Lager halte; dazu h\u00e4tte der Querschnitt seiner Str\u00e4nge nicht Raum genug. Sondern es werden offenbar die Combinationen jowoilen aus den Elementen zusammengesetzt.\nWir m\u00fcssen uns also vorstellen, dass das Idioplasma die Anlagen f\u00fcr verschiedene Organe in \u00e4hnlicher Weise zur Entfaltung bringe, wie \u00ab1er Klavierspieler auf seinem Instrument \u00ablio auf einander folgenden Harmonien und Disharmonien eines Musikst\u00fcckes zum Ausdruck bringt. Dorsellx! schl\u00e4gt f\u00fcr jedes a und joden anderen Ton immer wieder die n\u00e4mlichen Saiten an. So sind die im Idioplasma neben oin-amler liegenden Gruppen von Micellreihen gleichsam Saiten, von denen jcsle eine andere elementare Erscheinung darstellt. Wird w\u00e4hrend \u00ab1er \u00abMitogenetischen Entwicklung in irgend einer Zelle Chlorophyll oder vielmehr das Chromogen dessellien gebildet, aus dem liei Einwirkung des Lichtes Chlorophyll entsteht, so setzt \u00ablas dort befindliche Idioplasma die Chlorophyllsaite in Th\u00e4tigkeit, und ebenso, wenn sich in einer Zelle spiralfusorige oder T\u00fcpfelvenlickungen der Membran bilden, \u00ablie Npiralfascr- oder die T\u00fcpfelsaite.","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"\u00bbI\u00ab Tr\u00e4ger \u00ab1er erhlu-lien Aniui'cn.\n45\nIch \u00bblenke mir also die Merkmale, Organe, Einrichtungen, Functionen, \u00ablie alle uns nur in sehr zusammengesetzter Form wahmehmltar siml, im Idioplusmu in ihre wirklichen Elemente zerlegt. Das Blutplasma bringt \u00bblann die sjtccifische Erscheinung, wie sie jedem Organismus oigonth\u00fcmlieh ist, durch die orfordorlicho Zusammensetzung jener Elemente zu Stande. Wenn ich al\u00bber lteispielsweis\u00bb; \u00bblie Bildung \u00bbles Chlorophylls, \u00bb1er Spimlfasorn und T\u00fcptel an <l\u00bb*r /ellwandung als Elemonte anf\u00fchrte, so ist \u00bblies nur geschehen, um an verst\u00e4ndliche Erscheinungen anzukn\u00fcpfen. Ich hin mir wohl Itewusst, \u00bblass \u00bblie sinnlichen Wahmehinungen nicht \u00bblas wirkliche Wesen \u00bb1er Dinge uns l>crichtcn, \u00bblass dieses, in seine letzten, uns den kl Mim l Elemente zerlegt, nur in Bewegungen und gegenseitigen Einwirkungen materieller Theilchon liesteht, \u00bblass daraus materielle Systeme mit cigcnth\u00fcmlichcm Gleichgewicht \u00bb1er Tlicilchcn liervor-g\u00b0hen, welches immer wieder gest\u00f6rt einem neuen Gleichgewicht in einem System mit thcilwcisc ver\u00e4nderten Theilchcn und anderer Configuration zustreht.\nIch k\u00f6nnte nun, \u00bb1er walimi Sachlage entsprechend, \u00bblie uns Indem inten Erscheinungen stets in ihre nmthmasslichen micellami, imdeciilami \u00bbsler atomistischen Elemente zerlegt, im Idioplasnm auf-treten lassen. Die Darstellung w\u00fcr\u00bble dadurch clienso s(*hlcp|M>u\u00bbl als pcilantisch. Ich versetzte daher in synilattischer Weise \u00bblie Erscheinungen, wie sie zu unserer Kcnntniss gelangen, als Elemente in \u00bblas Idioplasnm. Dieses Verfahren wer\u00bble ich auch in \u00bb1er ganzen folgenden Darstellung ltefolgen, worauf ich hier noch ausdr\u00fccklich aufmerksam mache, damit nicht etwa Missverst\u00e4ndnisse stattfinden und aus den angewendeten Symltolen Schl\u00fcsse gezogen wen len, \u00bblie ausserhalb meiner Intentionen liegen. F\u00fcr \u00bblie ganze Theorie hat ja <li\u00bb*scs abgek\u00fcrzte \\ erfuhren keinen Nachtheil ; \u00bbleim es ist gleichg\u00fcltig, oh ich Iteispielsweise in dem vorliegenden Falle sagt , \u00ablas Idioplasmu setze \u00bblie Chl\u00bbtr\u00abtphyllsaite un\u00bbl die Spimlfascrsaite in Th\u00fctigkeit, \u00bbh1\u00bbt es rege all\u00bb.* diejenigen Micellarroihen an, welche \u00ablen einzelnen mole-cularen \\rorgftngen, aus denen \u00ablie Chlontphyllhildung und \u00bblie Spindfuserbildung zusammengesetzt ist, entsprochen.\nl ehrigens ist es durchaus nicht n\u00f6thig anzunehmen, dass \u00bbdie molecularen Vorg\u00e4nge in \u00bblein Organismus auch von \u00bblern Idioplasnm besonders angeregt werden. In vielen F\u00fcllen wird sich dieses damuf","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"1. Idioplasm*\n40\nbeschr\u00e4nken, einzelne dorscll>en in Gang zu setzen, worauf daun eino ganze Reihe nothwendig daraus hervorgehender i*rocesse die Folge sein kann. Nur wenn erbliche Verschiedenheiten irgend welcher Art, m\u00f6gen sie auch noch so geringf\u00fcgig sein, auftreten, sind wir sicher, dass dieselben in der Configuration dos Idioplasmas vorgehildet sein m\u00fcssen.\nUm zu dom Thoma, das uns jetzt l>oschftftigt, zur\u00fcckzukehren, so m\u00fcssen also die L&ngsroihen des Idioplasmas, welche die verschiedenen Anlagen des Querschnittes \u00ablarstellen, unter einander in dynamischer Vorbindung stehen. Dies ist hei der dichten Zusammenordnung derselben leicht begreiflich, und um so anschaulicher, je mehr die Micolle dor Lttngsroihon auch als deutliche Qucrreilion auftreten, was wohl moistens dor Fall sein wird (Fig. 8; in dieser Figur treten die Querroihon weniger anschaulich hervor, als es in Wirklichkeit der Fall sein wird, weil in den Micollen das Maximum der denkbaren Ungloiehhoit dargostellt ist).\nFi*. 8.\nIn welcher Weiso nun dio Mittlioilung unter don Micellreihen erfolge, ist f\u00fcr dio Molecularphysiologio noch ein Gehoimniss, wio auch die Leitung durch dio Norvon ein Goheimniss ist. Es herrscht al>er offonhar einige Analogie zwischen der gegenseitigen Communication untor den Reihen des Idioplasmas und der Communication, welche durch die Nerven Substanz., namentlich des sympathischen","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"hIh Tri|n-r \u00bbU*r erblichen Anlu\u00bbren.\n47\nNerven, erftilgt. Die seitliche Leitung im I<lio|\u00bbl<iHinai lies teilt nur \u00abInriii, \u00ab ln ss \u00ablie Erregung, in \u00ab1er rich gewisse Orup|M\u00abn \u00ableswllnn lielinden, auf lrtixtimmtc lindere Reihen sieh fortpflunzt, s\u00abi dass \u00abli\u00ab*s<> \u00bbm degensatz zu allen \u00fcbrigen elx.nifall\u00ab aHiv werden, \u2014 ein Zustand, von dom ieli muddier sprechen werde.\nWenn ich das Idioplasma mit der Nervensuhstanz vergleiche, so soll damit keine n\u00e4here Beziehung, sondern nur eine ganz allgemeine Analogie angedcutet wenlen Ixziigli\u00ab h der Ixntungxfiihigkeit von dynamischen Einwirkungen. Wenn auch unter allen Pllunzcn-siilistanzen einzig das Idioplasma an \u00ablie Nervensuhstanz \u00ab1er Tliioro erinnert, so d\u00fcrfen wir doch keineswegs die Mioplasmastr\u00fcnge \u00ablie Nerv\u00ab\u00bbn der Pflanzon nennen, \u2014 und zwar schon deswegen nicht, weil \u00ablie Tliiere nelien \u00abIon Nerven \u00ablie hlinplusmuxtr\u00e4ngc lx*sitz\u00ab\u2018ii wie \u00abli\u00ab> Pflanzen. Beide Erscheinungen sind \u00fclicrhaupt nicht coonliuirte Begriffe; \u2014 wenlen ja dio Nerven, wie all\u00ab\u00ab anderen thieris\u00abdien Organe, lad \u00ab1er ontogenetischen Entwickelung erst \u00ablundi \u00ablie Th\u00e4tigkidt <l\u00ab*s Idioplasmas horvorgolmudit.\nWas nun diese Th\u00fctigkcit lietrifft, so w\u00e4re einmal \u00ablie allgemeine Frage von grossem Interesse, wie \u00ablas hlioplasma s\u00abdne Aufgal x*, liestinunte Erscheinungon in der Entwicklung \u00ablos Iixlividuums hervorzuhringen, orf\u00fcllon k\u00f6nne. Es erzeugt weicheres Ern\u00e4hruugs-plasma, oft in tausendfacher Meng\u00ab\u00ab, und mit Hilfe <l\u00ab\u00absscllKin liewirkt os die Bildung von nicht alhuminartigcm Baumaterial, von loim-gelienden, elastischen, hornartigen, celluloseartigen Substanz\u00ab\u00ab!! u. s. w., und es gibt diesem Baumaterial die gew\u00fcnschte plastische (lestait. Zu diesem Behufe m\u00fcssen diejenigen Micellgrupjicn des (piers(diniU\u00ab\u00ab.s (B\u00fcndel von L\u00e4ngsreihen), welche activ werden, in einen Zustaml ls'sonderer Errogung gerathen, der sie geeignet macht, \u00ab\u00abine \u00ab\u00abnt sprechende Wirkung auf die Umgehung auszu\u00fclien. I)ers\u00abdlx\u00ab ist nicht vor\u00fcbergehend, wie dio Erregung \u00ab1er sensiblen und motorischen Nerven, sondern er dauert l\u00e4ngere Zeit an, oft Tage, W<\u00bb<du\u00abn und Monate lang, und w\u00e4hrend dieser Zeit vennehrt sich \u00ablas in Wirksamkeit befindliche Idioplasma um das Vielfache.\n. Deshalb halie ich, um diesem Erregungszust\u00e4nde, bis <\u00abr allenfalls in anderer Woise sicli als sellist\u00e4ndige Erscheinung rc<\u2019hlfcrtig\u00ab\u00abn l\u00e4sst, einen greiflmren Ausdruck zu geben, angenommen, \u00ablass \u00ablie lietreffcndcn B\u00fcndel von Miccllreihen sich in activ\u00ab\u00abm L\u00e4ngcnwachxthum lK\u00abfinden, w\u00e4hrend das \u00fcbrige Idioplasma, dessen Anlagen latent bleilmi, bloss","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"4K\n1. MioplnHinu\nin jmssivor Weise iIuh Wachsthum mitmachon. I)al\u00bbci denke ieli mir liieht eigentlich, dans das Wachsthum der Micollreilien seihst die Entfaltung der entsprechenden Anlagen bedinge, sondern vielmehr, dass lieide Erscheinungen durch die gleiche Ursache horvorgohracht werden. Ausnahmsweise k\u00f6nnen die lieiden Folgen der Erregung auch einzeln sieh verwirklichen. Wenn alle Reihen des Idioplasmns sich in sehr schwacher Erregung liefinden, so kann dassollie allein Zunahmen, ohne irgend oino Wirkung auszu\u00fclien, wie dies wohl lici der Bildung der Keime vorkommt. Wenn dagegen nur ganz wenige Reihen in Erregung gerathen, so verm\u00f6gen diesellien nicht den ganzen Idioplasmastrang zum Wachsthum zu hringeu, wohl alier ihre s|\u00bbe-cifisehe Wirkung zu lieth\u00e4tigen, wie z. B. lieim Wachsthum der ( 'ellulosememhran \u00abIt\u00e9rer Pflanzen zellen, insofern dassellie eine erb liehe Ersehoinung ist.\nDie Wirkung, welche die in activent Wachsthum (resp. in dem liesondcren Erregungszust\u00e4nde) lictindlichcn Idioplasmagruppcn auf das umgebende Idioplasnm aus\u00fcben, kann auf \u00e4hnliche Weise erfolgen, wie die G\u00e4rungsbewegung von dem Plasma der Hafenz\u00f6llen auf das G\u00e4rmaterial (Zucker etc.) til\u00bbertragen wird1). Wenn die eiregten Reihen nicht unmittellmr an der Olierfl\u00e4che des Querschnittes liegen, so \u00fcbernimmt die zwischenliegende Substanz des Idioplasmns die Fortpflanzung. Es ist uueh m\u00f6glich, dass die Idioplasmustr\u00e4ngc, um leichter auf die Umgebung einwirken zu k\u00f6nnen, nicht einen rundlichen oder ovalen, sondern mit der Zunahme der Zahl der Anlagen einen mehr und mehr gelappten Querschnitt liesitzcn, wodurch die Olierfl\u00e4che stark vergr\u00f6ssort und die einzelnen Anlagen der Olier-H\u00e4che gen\u00e4hert werden.\nDie genaue Wiederholung l\u00bbei der Fortpflanzung eines mannigfaltig organisirten Wesens, wie es die meisten Pflanzen und Thierc sind, lieruht auf der strengen Regelm\u00e4ssigkeit, mit der die zur Entfaltung Ixjstimmten Anlagen w\u00e4hrend der individuellen Entwicklung einander abl\u00f6sen. Wenn die ganze ontogonetische Reihenfolge der-sellien durchlaufen ist, so gehen aus den Zellen der letzten Zellengeneration die Keime hervor: Sporen, Eizellen, Sjiermatozoide. Bei den meisten Pflanzen wiederholen sich viele Entwicklungsstadien eine liegrenztc oder unl\u00bbegrenzte Zahl von Malen und ziehen dann\n') N\u00e4geli, Theorie der G\u00e4rung. 1870.","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"uIh Trii^cr \u00abl\u00ab*r urhlidieii AiiIui'imi.\t^j|\nmidi die Wiederholung \u00ables ganzen Roste\u00ab der ontogenetischen Reihenfolge nach sieh.\nDie ineelmnischo Einrichtung, welche die ein liestimmtes Entwicklungsstadium erzeugende Erregung einer Zahl von i\u00ablioplas-niatischen Micellreihen mit Noth Wendigkeit in die Erregung der dem folgenden Entwicklungsstudium entsprechenden Reihen hiu\u00fcbcr-leitet, ist uns nun allerdings unbekannt wie die Natur der Erregung seihst. Wenn wir aber einstweilen das mit dersellieu gleichzeitig auftretende und wohl auch causal verkn\u00fcpfte active Wuchsthum an die Stolle der Erregung setzen, so kann uns folgende Betrachtung wenigstens ein Bild f\u00fcr die regelm\u00e4ssige Aufeinanderfolge in dem Anlagenchaos des Idioplusmas gew\u00e4hren.\n&ol\u00abild die mitogenetische Entwicklung beginnt, so werden \u00ablie das erste Entwicklungsstadium l>cwirkenden Micellreihen im Idio-plasma tl\u00e4itig. Das active Wachsthum dieser Reihen veranlasst zwar ein passives Wuchsthum der \u00fcbrigen Reihen, und eine Zunahme des ganzen Idioplasmas vielleicht auf ein Mehrfaches. A lier die beiden Wachsthumsintensit\u00e4ten sind ungleich, und die Folge davon ist eine steigende Spannung, welche nothwendig und je nach Zahl, Anordnung und Energie der active\u00bb Reihen, fr\u00fcher oder sjuiter die Fortdauer des Processes zur Unm\u00f6glichkeit macht. Actives Wuchsthum und Erregung gehen nun in Folge der Gleichgewichtsst\u00f6rung in die n\u00e4chste Anlagengrupjie, welche die als Reiz wirkende Spannung am st\u00e4rksten empfindet, \u00fcber, und dieser Wechsel wiederholt sieh, bis alle Anlagengruppen durchlaufen sind und \u00ablie onto-genetische Entwicklung mit dem Stadium der Fortpflanzung auch wieder bei dem urspr\u00fcnglichen Keimstadium anlangt.\nWenn das active Wachsthum oder die Erregung einer Anlagen-grupjic ein gleiches actives Wachsthum oder eine gleiche Erregung in \u00ab1er n\u00e4chstfolgenden Gruppe herbeigeftihrt hat, so kann \u00ablie ersten* Gruppe mit diesem Uoliergango zur Ruhe gelangen, oder sie kann nclien ihrem Nachfolger noch l\u00e4ngere o\u00abler k\u00fcrzere Zeit th\u00fctig bleilien. Ihre Erregung kann selbst eine unliegrenzte Dauer annehmen, wie \u00ablies l>ei \u00ab1er l^auhblnttsprossbildung vieler Pflanzen der Fall ist.\nUm die Erkl\u00e4rung des in Fnige stehenden R\u00fcthseis in der Abstammungslehre, n\u00e4mli\u00ab*h \u00ab1er regelm\u00e4ssigen Reihenfolge, mit \u00ab1er \u00ablie Anlagen sich entfalten, unserer Vorstellung n\u00e4her zu bringen, ist es auch f\u00f6rderlich, sieh an die fr\u00fchere Bemerkung zu erinnern,\nv. N\u00e4gel i, AlwiitiumiiUK\"U'hru.\t4","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50\nI. Idioplasm\u00bb\n<1uhs die Contigu ration des Idioplasmas melir eine phylogenetische, uls eino geometrische Aufgabe sei. Die Entfaltung \u00ab1er Anlagen luilt sich im Grossen und Ganzen an diese phylogenetische Ordnung. Indom der ontogcnetisch sich entwickelnde Organismus nach ein-\u00bbndor die Stadien durchl\u00e4uft, welche sein phylogenotischer Stamm durchlaufen hat, kommen die idioplasmatischen Anlagon in derjenigen Folge zur Verwirklichung, in der sie entstanden sind. Mit diesem wichtigen Umstande steht ferner der andere, vielleicht ni -lit minder bemerkonswertho in Vorbindung, dass chus Llioplnsnm Ihm \u00ab1er mitogenetischen Entwicklung sich successive in anderer morphologischer, theilweisc auch in anderor physiologischer Umgehung licfindct, und zwar jeweilen in derjenigen Umgehung, welche mit jener analog ist, in der die Anlage, die sich zun\u00e4chst entfalten soll, entstanden ist. Es ist aber seihst verst\u00e4ndlich, \u00ablass \u00ablie Beschaffenheit der umgolxmden Substanz nicht ohno Einfluss auf die Entfaltung \u00ab1er idioplasmatischen Anlagen soin kann.\nEin Beispiel wird diesen Gedanken n\u00e4her darlegen. Es gibt einfach gebaute hlatturtigo Florideen und Fucoideen, \u00ablie aus mchrcr\u00abMi Zellschichten liestehen. Dieselben sind phylogenetisch aus solchen Pflanzen hervorgegangen, die bei ebenfalls blattartiger Gestillt nur eino einzige Zellschicht hatten, und diese aus fadenf\u00f6rmigen Pflanzen, welche einfache Zcllrcihcn (geglitzerte F\u00e4den) waren. Ich will \u00ablies\u00ab? drei Stufen als einreihige, einschichtigo und mehrschichtige unterscheiden. Das Idioplosma der vorweltlichen einreihigen Stuf\u00ab! Iwrciehcrto sich durch eino Micollanordnung, welche den UeWgang aus den einreihigen Pflanzen in die einschichtigen verursachte ; und \u00ablas Idioplasma der vorweltlichen einschichtigen Stufe ver\u00e4nderte sich weiter in \u00ab1er Weise, dass der Ueliergang in \u00ablie mehrschichtige Stufe erfolgte. Bei der ontogcnctischen Entwicklung der jetzt leitenden mehrschichtigen Pflanzen bildet sich zuerst eino einfache Zellmhe, \u00abliese geht in eine einfache Zellschicht und die letztere schliesslich in den mehrschichtigen blutturtigen K\u00f6rper \u00fcber. Die idioplas-matischcn Anlagen entfalten sich also ontogcnetisch in der n\u00e4mlichen Ordnung, in \u00ab1er sie phylogenetisch entstanden sind; und je\u00ablo Anlage, \u00ablie sich zur Entfaltung anschickt, befimlct sich in derjenigen morphologischen Umgebung, in der sie urspr\u00fcnglich sich gcbihlet hat. In dem einreihigen Stailium \u00ab1er Ontogenie gelangt die Anlage der einfachen Zellschicht und in \u00ablern einschichtigen Stailium die","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"als Tri4r\u00bb>r \u00ab1er\tAnlii^cn\n\u00bbM\nAnlauf <U\u00efs mehrschichtigem K\u00f6rpore zur Entfaltung. Wilrdo, was nuturgcsetzlich ausgeschlossen ist, eine Unordnung in der mitogenetischen Iteilamfolgc ointroton und dio sp\u00e4ter entstandene Anlage sieh fr\u00fcher entfalten, so ginge die einfache Zellreihe durch Dickon-waehstimm zuerst in einen fadenfr>nuigen Zellk\u00f6rjier und di<*ser durch Breiten wachsthum in die hlattartige Form \u00fcl\u00bbor.\nUm ein anschauliches Bild von dem Wechsel in der Wirksamkeit des Idioplasmas l>ei complicirtcn Erscheinungen zu gel>eii, will ich noch einen concreten Fall herausgreifen. Die Blatthildung an einer lieliehigen Pflanze ver\u00e4ndert sieh stetig von dem ersten Nioder-hlatt his zum letzten Blatt der BlUthe, und zwar geschieht dies in einer f\u00fcr die Hippe genau liestinunten Weise. Wir k\u00f6nnen diesen Wechsel durch eine Curve darstellen, woliei die Ahscis.se den Stengel in Zcllgcncratinncn uusgcdr\u00fcckt \u00abxler die Zeit, welche er zu seiner Entwicklung laslarf, l>ezeichnet, die Ordinatcn aller den auf einander folgenden Blattern entsprochen. Die Ordinate ist hier ein zusammengesetzter Ausdruck, eine liestimmtc Com hi nation aller zur Blatthildung zusammenwirkenden Elemente. Jede Sippe hat ihre spoei-fisehe Curvo der Blatthildung. Jedes Individuum einer Sippe verwirklicht Ordinaten ihrer Curve; al>er f\u00fcr jedes Individuum ist \u00ablie Zahl un\u00abl die Lag\u00ab* \u00ab1er Ordinaten eine ander\u00ab*.\nDie Curve \u00ab1er Blatthildung ist also kein mathematischer Itegriff, soialern ein Syml>ol f\u00fcr \u00ablie Ccsammtheit vieler matlu*-nmtis\u00abher Curven, ind\u00ab*m jetles an der Blatthildung l>oth\u00ab*iligte Element seine lx*son<lere Curve hat. Es siial eine Menge von Liings-reihen \u00ables Idioplasmas in \u00ab1er Weise activ, \u00ablass in jeder \u00ablie Erregung zu einer ihr eigcnth\u00fcmltehen Zeit l>eginnt, dann in eigen-th\u00fcmlicher Weise an Intensit\u00e4t zu- mal ahnimmt mal schliesslich zu einer ihr eigenthiimlichcn Zeit erlischt. So ist also nach j\u00ab*\u00abl<\u2018m Zeitintervall \u00ablie Combination aller Ihm \u00ab1er Blatthildung th\u00fctigen Mteellreihen eine etwas andere, mal \u00abliese Comhinationen stellen \u00abli\u00ab* Ordinaten \u00ab1er Blattcurve dar.\nDie Blatthildung erfolgt alisatzweise; sie geh\u00f6rt zu denjenigen Kntwieklungsproeessen, welche nicht eontinuirlich, sondern peri\u00abslis\u00ab*li vor sich gehen, obgleich die entsprccheiulen Veritialerungen im hlioplasma eontinuirlich sind. Wenn in einem 1 \u00abstimmten Z\u00ab*it-moment, also aus einer bestimmten Ordinate, \u00ablie Bildung eines Blattes erfolgt, so ist die Curve erst nach einiger Zeit waster im Stande\n4*","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nI. Idioplaama\nein neues Blatt horvorzubringen. Wir k\u00f6nnten uns dies oinfacb in \u00ab1er Art vorstellen, dass das entstellende Blatt die verf\u00fcgbare N\u00e4hrsubstanz absorbirt, und dass erst nach einiger Zeit oder r\u00e4um-lieb aufgefasst in einiger Entfernung am Stengel wieder eine hinreichende Menge Substanz zur Bildung eines Blattes verf\u00fcglwr wird. Richtiger aber wird dio Vorstellung, wenn wir die Blattbildung mit der Zellthcilung am wachsenden Stengelscheitel in Verbindung bringen, so \u00ablass nur aus liestimmten Zellen Bl\u00e4tter entstehen k\u00f6nnen, wie ljeispiclsweise bei den Moosen aus jeder Segmentzolle des Stengels dit? erste Zelle f\u00fcr ein Blatt erzeugt wird.\nDie Blattbildung an einer Pflanze beginnt damit, dass eine \u00ab1er unendlich vielen Ordinaten der Blattcurve, deren Bestimmung von allen mitwirkenden Umst\u00fcnden abh\u00fcngt, sich als Blatt verwirklicht. Von dem Einfl\u00fcsse, den die Bildung des ersten Blattes weiter aus\u00fcbt, und von den \u00fcbrigen Verh\u00e4ltnissen der jeweiligen Entwicklungszust\u00e4nde h\u00e4ngt es dann ab, welche von\u2019den sp\u00e4teren Ordinaten sich als zweites Blatt verwirkliche, und so geht es fort bis zur Bil-dung des letzten Blattes. Es ist sonach liegreiflich, dass in jedem Individuum der n\u00e4mlichen Sippe die Reihe der Bl\u00e4tter, abgesehen von den Verschiedenheiten, die von den Ern\u00e4hrungseinfl\u00fcssen bedingt werden, einen etwas anderen Verlauf und ein etwas verschiedenes Aussehen zeigt, obgleich die zu Grunde liegenden idioplasmatischcn Eigent\u00fcmlichkeiten vollkommen identisch sind.\nIch habe in der vorstehenden Auseinandersetzung zeigen wollen, wie man sich allenfalls die ontogenetischo Entwicklungsfolge und die Folge der sie liedingenden Erregungen in den Idioplasmagruppen schon jetzt als einen regelm\u00e4ssigen und noth wendig verlaufenden Process vorstellen kann, ohne dass ich mit dieser Hypothese einer k\u00fcnftigen besseren \u2014 Opposition machen m\u00f6chte. Die genannten Erregungen, welche die Wirksamkeit des Idioplasmas in jedem Augenblick auf die chemischen und plastischen Vorg\u00e4nge seiner n\u00e4chsten Umgehung bedingen, sind aber selbstverst\u00e4ndlich nichts anderes als die Spannungs- und Bewegungszust\u00e4nde seiner Micelle, \u2014 und auf diese wirkt notwendig die Beschaffenheit der Umgebung ein. Es kann uns deswegen nicht \u00fcberraschen, dass das Idioplasma in einer Wurzel in anderer Weise beeinflusst ist als in einem Stengel oder in einem Blatt, und dass dasscllie an diesen drei verschiedenen Orten, obgleich materiell ganz dassellie, doch ungleiche Anlagen, wiewohl","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"al\u00bb Trttgor \u00ab1er erblieheu Anlagen.\n53\nin der gesetzlichen Reihenfolge, zur Entfuliung bringt. Wir Unreifen uucli, duss die Ern\u00e4hrungsursuchcn, allgemein genommen, ol\u00bbgleich sie, wie ich sj\u00fciter zeigen werde, das Idioplasma qualitativ nicht ver\u00e4ndern, doch auf die Entfaltung der Anlugen einwirken k\u00f6nnen, dass nach Quuntit\u00fct und Qualit\u00e4t der Nahrung einerseits Anlagen zur Entfaltung kommen, die sonst latent bleilien, andrerseits die Entwicklung von Anlagen, die normal eintreten sollte, verhindert wird.\nDas Idioplasmu l>ch\u00fclt, indem es sich vermehrt, \u00fclierall im Organismus seine speeifische Beschaffenheit und wechselt innerhalh dieses festen Rahmens bloss seine Spannungs- und Bewegungs-zust\u00e4ndo und durch dieselben die nach Zeit und Ort m\u00f6glichen Formen des Wachsthums und der Wirksamkeit. Daraus folgt, dass, wenn in irgend oinem mitogenetischen Entwicklungsstadium und an irgend einer Stelle des Organismus eine Zelle sich als Keim ahl\u00f6.st, diesellx) alle erblichen Anlagen des elterlichen Individuums enth\u00e4lt, und dass bloss nach den verschiedenen SjMinnungs- und Bewegungszust\u00e4nden, in denen sich das Idioplasmu befindet, die mitogenetische Entwicklung aus solchen Zellen in etwas ungleicher Weise beginnt.\nIm Keimstadium kehrt das Idioplasma nach der ganzen Reihe von Ver\u00e4nderungen seiner \u00bbSpannungs- und Bew\u2019egungszust\u00e4nde, die es w\u00e4hrend der individuellen Entwicklungsgeschichte durchgemacht hat, wieder zu seiner urspr\u00fcnglichen Beschaffenheit zur\u00fcck. Die R\u00fcckkehr w\u00e4re vollkommen genau, wenn die specifischen Eigenschaften absolut constant blieben, wenn nicht eine langsame phylogenetische Umbildung stattf\u00e4nde. Befindet sich alier die Genenitionenreihe eines Organismus, wie ich eingangs erw\u00e4hnte, in einem steten Fortschritt, so hat daran jedes einzelne Individuum seinen Theil, und das Idioplasma gelangt im Keimstadium nur nahezu, nicht ganz genau in den fr\u00fcheren Zustand. Die geringe Verschiedenheit zwischen den Keimen der Eltern und der Kinder gibt uns dits Maass f\u00fcr \u00ablie Umwandlung, welche das Idioplasma w\u00e4hrend der Dauer einer Generation erfahren hat.\nW\u00fcrde absolut keine Umwandlung stattfinden, so behielten die idioplasmatischen Micellreihen ihre urspr\u00fcngliche Zahl und Anordnung. Ist sio al\u00bber vorhanden, so wird da und dort eine Reihe verst\u00e4rkt oder eine neue Reihe eingeschoben oder der Zusammen-","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"54\nI. IdiopluHiiia\nl,,,n\u00ab ^ \" isser Roihen fester gef\u00fcgt, wodurch nidi die Configuruti\u00ab\u00bbn <le.s < Querschnittes etwas ver\u00e4ndert. Die cingcscholicno, die verst\u00e4rkte, die fester verbundene Reihe liedeutet die Weiterbildung einer ui gonneuen Anlage oder den Anfang einer neuen. Diese geringen Ver\u00e4nderungen im Idioplasma k\u00f6nnen lange Zeitr\u00e4ume fort\u00ab lauern, ohne dass deswegen die sichtbaren Merkmale irgend eine Modification erfahren.\nR\u00fccksichtlich der phylogenetischen Ver\u00e4nderungen des Idio-plasmus liegt nun eine wichtige Frage vor, n\u00fcmlich wie wir uns die Mittheilung der an liestimmtcn Stellen im Organismus neu gewonnenen Eigenschaften an das Idioplasm* der Keime zu denken halten. Die Ursachen dor Ver\u00e4nderung sind, wie wir s|tiltcr sehen werden, doppelter Art, es sind tlicils innere Ursachen, \u00abteils \u00e4ussere Einfl\u00fcsse. Die inneren Ursachen m\u00f6gen das Idioplasma \u00fcberall glcichm\u00fcssig treffen, da sie wesentlich in ihm sellier liegen; und es Itcsteht somit die M\u00f6glichkeit, dass das Idioplasma sich \u00fcltendl im Organismus in gleicher Weise umhilde.\nDie \u00f6usseron Einfl\u00fcsse dagegen werden in der Regel local auf \u00ablen Organismus einwirken, und sie m\u00fcssen, damit die Wirkung Inst\u00e4ndig und erblich werde, direct o\u00abler indirect eine Umbildung <h;s dort befindlichen Idioplasmas hervorbringen.\nWenn ein in eine kurze Spitze oder in ein Bl\u00e4ttchon ausgehendes Blatt sich in ein solches mit einer langen listigen Wickel-ranke, wie es bei Erbsen, Wicken, Linsen u. s. w. vorkommt, um-wandelt, so wird von den \u00e4usseren als Roiz wirkenden Einfl\u00fcssen, ausser der genannten localen Ver\u00e4nderung auch eine dersellten ont-sprechemle locale Ver\u00e4nderung des Idioplasmus hervorgebrncht. Die n\u00e4mliche Ver\u00e4nderung muss alter auch im Idioplasma des Itei \u00ab1er Fortpflanzung entstehoiulon Keimes stattfinden, sonst w\u00e4re die gewonnene Anpassung f\u00fcr die folgenden Generationen verloren. Sie muss also von dem Blatte aus dem unljofruchtcton Keimbl\u00e4schen otler dem Pollenkoni oder eher beiden zugleich mitgetheilt werden.\nh imlet eine Umwandlung in den Samonlapjten statt (die Cotyle-donen der einen Pflanzen bleiben unver\u00e4ndert unter der Erde, bei anderen Pflanzen erheben sich dieselben in Folgo starken Wachs-tlmms \u00e4lter die Erde, werden blattartig und gr\u00fcn), so muss die stattgefundene Umwandlung \u00ables Idioplasmas in den Stengel und","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"\u00ab1h Tr\u00fcjffr \u00abU*r crMulicn Anlagen.\n\nvon \u00bbln h\u00f6her un\u00abl h\u00f6her und zuletzt in \u00ablie Bl\u00fcthen \u00fclierliefert \\v\u00ab*r\u00bblen. An \u00ablieses Ziel gelangt sie, wenn die Pttunzen sjiat zur Frmhtbildung kommen, zuweilen erst viele Juhrc naelulem die Samcnlappen vorsehwuiulen sind.\n(\u2022eht eine crhliehe Umbildung in einem localen Theil einer Pflanze vor sieh, welehe sieh auf geschlechtslosem Wege fortpflanzt, so muss die Fortleitung \u00bb1er idioplnsniatisclien Umstimmung and\u00bb re Wege einsehlngen. In \u00bblern Falle, \u00ablass \u00ablie Vermehrung dureh untcr-inlisehe Knollen erfolgt, wie liei \u00ablen Karbiffeln, winl eine in \u00ablen HliUtern ointretemle Ver\u00e4nderung ahw\u00f6rts in die Wurzelregion, im Falle der Vermehrung dureh die gr\u00fcnen Bl\u00e4tter winl eine in den Wurzeln stattfindende Um\u00e4nderung aufw\u00e4rts in die Lauhhlattregion \u00fcl \u00bbermittelt. Da nun die ungesehleehtliehe Vermein ung in allen Theilen der Pflanze erfolgen kann und da sie auch nolien \u00ab1er ge-sehleehtliehen Fortpflanzung th\u00e4tig ist, so muss man wohl \u00ablen Schluss ziehen, dass, wenn \u00e4ussere Einfl\u00fcsse auf einen localen Theil einwirken und densellien dauernd umwandeln, von da \u00ablie Mittheilung an \u00ablas Idioplasma im ganzen Pflanzenstock stattlimle.\nDie Frage ist also: In welcher Weise vermag eine Ver\u00e4mlcnmg, \u00ablie \u00ablas Idioplasma an ein\u00f6r liehebigen Stelle des Organismus erf\u00e4hrt, die n\u00e4mliche Ver\u00fcmlerung im Idioplasma des \u00fcbrigen Organismus zu verursachen? F\u00fcr \u00ablas Pflanzenreich ist die Beantwortung <lies\u00ab\u00bbr Fnige mit nicht geringen Schwierigkeiten verhumlen. Sie wird u1\u00bber dadurch vereinfacht, \u00ablass \u00ablie M\u00ab\"\u00bbghchkeiten klar vorliegen. Es siml nur zwei: Entweder geschieht die Mittheilung der idinplastischcn Eigenschaften auf materiellem o\u00abler auf dynamischem Wege.\nIm ersteren Falle muss Substanz, in welcher \u00ablie neuen erblichen Eigenschaften enthalten sind, nach allen Theilen \u00ables Organismus wandern und durch Vermischung \u00fcberall eine entsprechende UmhiMung des Idioplasmas hervorbringen. Eine solche Substanz kann nicht gel\u00f6st sein; sie muss also sellier aus Idioplasma Ik>-stehen. Jener Forderung widerspricht nun \u00ab1er als allgemein g\u00fcltig angesehene Satz \u00ab1er Pflanzenphysiologie, dass von \u00ablen Zellen bloss gel\u00f6ste Stoffe aufgenommen und uusgcschkslun werden ; und \u00ablass unter \u00ablen gel\u00f6sten Stoffen sellier es nur \u00ablie Molecularl\u00f6sungen s\u00ab*ien, welche ungehindert durch die Membran gehen, w\u00e4hrend \u00ablie mi-eellaren (colloiden) L\u00f6sungen entweder gar nicht \u00ab\u00bbder in sehr 1k>-schr\u00e4nktcm Maasse \u00ablies zu thun verm\u00f6gen.","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"5G\nT. Miojtlaxnia\n!U\u2018i einer fr\u00fcheren Celcgonhoit lml>o ich gezeigt'), dass unter liest \"muten Umst\u00fcnden auch Micellarl\u00f6sungcn mit Ixiichtigkoit diosmiren und dass mit R\u00fccksicht auf diesen Umstand eine lie-stimnitti Structur \u00ab1er Pflanzenzclhnonihran anzunehmon ist. Ausser den gew\u00f6hnlichen Micollarinterstition m\u00fcssen n\u00e4mlich noch liesondero < anidchcn von solcher Weite, dass Eiweissmicelle mit dem n\u00f6thigon Wasser frei circuliron k\u00f6nnen, die Memhran durchsetzen, so dass die letztere, liei hinreichend starker Vorgr\u00f6ssorung von dor Fl\u00fcche W tr\u00e4chtet, das Aussehen oines feinen Hielies gow\u00fchren w\u00fcrde.\nSolche Can\u00fclchon, wie sie dio Diosmose von Alhuminaten 1 Kslarf, w\u00fcrden al\u00bber f\u00fcr den Transport von Idioplasma lango nicht ausreichen; denn da die Eigonth\u00fcmlichkoit des Idioplasmas in dor C\u2019onfiguration eines ganzen micell\u00f6scn Systems besteht, so m\u00fcssten gr\u00f6ssere Partien transjiortirt worden, und zwar, wenn meine Annahme von der strangf\u00f6rmigen Beschaffenheit gegr\u00fcndet ist, Strangst\u00fccke, \u00ablie sich abgel\u00f6st haben. F\u00fcr diesen Zwock m\u00fcsste jede Zelle noch einige gr\u00f6ssere Oeffnungen in der Memhran Witzen, \u2014 L\u00f6cher, welche sich zwar immer noch dor mikroskopischen Wahrnehmung entz\u00f6gen, die aber doch so weit w\u00e4ren, um die strangf\u00f6rmigen Idioplasmak\u00f6rpcr durchtreten zu lassen. Eine solche Annahme, wenn sie auch f\u00fcr die Lehre neu und ungewohnt ist, hat doch nichts Unwahrscheinliches, da die Siebr\u00f6hren nicht bloss in Folge der siebartigen Durchbrechungen ihrer Scheidew\u00e4nde ununterbrochene Can\u00e4le darstellen, welche durch die ganze Pflanze verlaufen, sondern auch an ihren Scitenw\u00fcnden durch feine Poren mit den angrenzenden /eilen in A erhindung stehen, und da solclio Poren von noch gr\u00f6sserer Feinheit zuweilen auch zwischen den \u00fcbrigen Parenchymzellen sich nachweisen lassen.\nW'ir k\u00f6nnten uns also eino Mittheilung der idioplastischen Eigenschaften auf materiellem Wege folgeildermuasson denken. Allo Zellen coinmuniciren durch sehr feine Poren unter einander und mit den n\u00e4chsten Siebr\u00f6hren, wobei die Poron nach den letzteren hin an Cr\u00fbsse zunehmen. Die Siebr\u00f6hren ul>cr, welche durch den ganzen Pflanzenstock ununterbrochene Can\u00e4le mit ziemlich grossen Durchbrechungen der Scheidew\u00e4nde darstellen, vermitteln den Austausch zwischen den verschiedensten und entlegensten Organen.\nl) Theorie der (\u00fcirung.\nAnmerkung l\u00bbetr. die Molek\u00fclvereinigungen.","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"alH Trtttfor der erblichen Anlagen.\n57\nIhunit wilrn auch die bis jetzt r\u00e4thselhafte Function der Sioh-r\u00f6liren aufgefumlen. 8ie sind dann die Samiuolstcllen f\u00fcr das Idio-plasma aus dein (Jewels); in ihnen mischt sich das Idioplasma der verschiedenen Regionen des Pflanzenstockes, und von ihnen aus verbreitet sich das gemischte Idioplasma nieder in die einzelnen <ie-weliezellcn. Was aller diese Mischung von verseiliislenartigem Idioplasma lietrifft, welche elienfalls als ein materieller Act aufzufassen wiiro, so verweise ich auf die Betrachtung, die ich in einem sp\u00e4teren Abschnitt \u00fclier die molccularcn Vorg\u00e4nge bei der mit der Befruchtung verbundenen Mischung des m\u00e4nnlichen und weiblichen Idioplasmas anstellen werde.\nKs ist aller auch noch die Frage zu er\u00f6rtern, oh die Mittheilung der in einem Organ entstandenen idiophistjschcn Figenschaften an die \u00fcbrigen Pflanzentlieilo nicht auf dynamischem Wege, also ohne Stoffwanderung erfolgen k\u00f6nne. In diesor~\u00dfoziehung gibt es zwei m\u00f6glich^ F\u00e4lle, je nachdem wir das I'Man zeuge weis* in der hergebrachten Weise aus geschlossenen Zellen zusammengesetzt annehmen, o<ler, wie ich es snclien als denkbaren Fall hingestellt luilie, die Zellh\u00f6hlungen in der Pflanze alle unter einander communicircn lassen.\nWenn nach gew\u00f6hnlicher Anschauung die Zellen wenigstens zum weitaus gr\u00f6ssten Theil geschlossene Blasen sind, so dass ihr Idioplasma durch (\u25a0ellulosew\u00e4nde getrennt ist, m\u00fcsste die dynamische Einwirkung wohl in folgender Weise gedacht werden. Jede eigen-th\u00fcmliche Anordnung von Micellen, besonders wenn eine oigenth\u00fcm-liehe chemische Beschaffenheit hinzukommt, hat ihre eigenartigen Bewegungszust\u00e4ndo lind ihre eigenartigen (anziohenden und als stoHsenden) Kr\u00e4fte, mit denen sie auf die n\u00e4chstliogende Substanz einwirkt. Wir k\u00f6nnten uns nun denken, dass \u00ablie idioplastischen Eigenschaften in dieser Weise von Zelle zu Zello durch die Membranen hindurch mitgethcilt w\u00fcrden und uns \u00ablaliei an die Fortpflanzung von molecularen und micellaren Schwingungszust\u00e4nden erinnern, welche von dem Plusma einer Hofenzello auf das ti\u00fcrmutcriul bis auf einige Entfernung erfolgt.\nDazu w\u00e4re einmal erforderlich, dass die Zellmembranen kein Ilindc miss f\u00fcr die Peliertragung von Bewegungszust\u00e4nden von Zelle zu Zello darlsHen. Ferner w\u00e4ro wohl zu lier\u00fccksichtigen, \u00ablass \u00ablie l\u2019eliertragung von Bewegungszust\u00e4nden nicht umnittelUir eine","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"58\nI. I'lioplilHIUU\nAnordnung zu ver\u00e4ndern im Stande ist, sondern nur insofern als die Vermehrung des Idioqdasmus unter dem Einfl\u00fcsse der fremden Bowegungszust\u00fchde eino andere und denselben analoge Form annimmt. Diese Theorie m\u00f6chte ich f\u00fcr ganz unwahrscheinlich halten, denn wenn auch dio imbibirtc Zollmembran gowisse Schwingungen fortzupflanzen vermag wie \\m dor (lilrung, so ist sie doch offener nicht dazu eingerichtet, die eomplicirten und (qualitativ verschiedenen idioplasmatischen \u00dfewegungszust\u00fcnde zu \u00fcl\u00bbormitteln, so wenig als ein Muskel oder eine Sehne als Element in dio Nervenleitung einzutreten vermag.\nWenn dagegen nach moinor Anschauung alle Pflanzenzellen unter einander durch feine Poren communiciren, so gestaltet sich dio dynamische Ueltertragung dor Idioplasimzust\u00fcnde viel nat\u00fcrlicher und annehmlmrer. Diese Poren enthalten dann ausser Ern\u00e4hrungsplasma ljcsonders auch Idioplasma, so dass das letztere durch den ganzen Pflunzenorganismus ein zusammenh\u00e4ngendes System bildet. Am einfachsten wird die Vorstellung von der dynamischen Mittheilung, wenn die Idioplasmastr\u00e4ngc ununterbrochen durch den ganzen Organismus verlaufen, in analoger Weise, wie dies mit den Nerven der Fall ist. Aller auch wenn das Idioplasma aus kurzen, an einander gereihten Strangst\u00fccken liesteht, st\u00f6sst die Mittheilung in die Feme auf keine erheblichen Schwierigkeiten. Dann sind innerhalb der Zelle die selbst\u00e4ndigen strangf\u00f6rmigen Idioplasmak\u00f6rper netzartig zusammengef\u00fcgt, und mit dem Inhalte der angrenzenden Zellen ist dieses Netz durch Ketten, welche die Porencan\u00fcle durchsetzten, verbunden. W7ie nun eine dynamische Leitung zwischen den Micellreihon des n\u00e4mlichen Idioplasma-k\u00f6rpers liesteht, welche dio zur Entfaltung der Anlage nothwendige Erregung mittheilt, so ist auch eine Fortleitung durch K\u00f6rper, welche sich lier\u00fchren, denkbar.\nAllerdings handelt es sich, liehufs Ueliertmgung einer local vorhandenen Anlage auf ein davon entferntes Idioplasma, nicht bloss darum, eine einzelne Erregung, sondern vielmehr eino Summe verschiedener Erregungen zu \u00fcWmittoln, welche einen (qualitativ bestimmten Vorgang zu veranlassen im Stunde ist. Wir k\u00f6nnen als Analogie an die Bewegung denken, welche die Sinneseindr\u00fccke und die Willens\u00e4usserungen in den Nerven fortpflanzt. Wenn die orga-msirteii Albuminate die mannigfaltigsten Wahrnehmungen fremder","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"al\u00ab Tr\u00fcgor der erblichen Anlagen.\tr^tj\nDintfi; in den feinsten Abstufungen zum Centrulorgan des Nervensystems leiten, daselbst ein genau \u00fclioroinstiinmemles Bild erzeugen mul in I<olgo davon entsprechende Bewegungen venudassen, so m\u00f6chte \u00ablie Annahme nicht forno liegen, dass die zum Idioplasma oiganisirten Li weissk\u00f6rper ein Bild ihrer eigenen localen Ver\u00fcn-derung nach anderen Stellen im Organismus f\u00fchren und dort eine mit dom Bilde \u00fcbereinstimmende Ver\u00e4nderung bewirken.\nDiese Theorie \u00ab1er dynamischen Mittheilung scheint mir die vorliegende Frage in der einfachsten Weise zu l\u00f6sen. Das Idio-plasma aller Zellen einer Pflanze Ijofindot sich in unmittelbarer gegenseitiger Ber\u00fchrung. Jede Ver\u00e4nderung, die es an irgend einer Stelle erf\u00fchrt, wird \u00fcberall wahrgenommen und in entsprechender Weise verwerthet. Wir m\u00fcssen sogar unnehmen, dass schon der lteiz, der local einwirkt, sofort \u00fcl>eru]l hin telegraphirt werde, und \u00fclierull die gleiche Wirkung halie; denn es findet eine stete Ausgleichung der idioplasmatischon Spunnungs- und Bewegungszust\u00e4nde statt. Diese fortw\u00e4hrende und allseitigo F\u00fchlung, welche das Idioplasma unterh\u00e4lt, erkl\u00e4rt den sonst uutfallenden Umstand, dass dus-soIIjc trotz der so ungleichartigen Ern\u00fchrungs- und Reizeinfl\u00fcsse, denen es in den verschiedenen Theilen eines Organismus ausgesetzt ist, doch sich \u00fcberall vollkommen gleich entwickelt und gleich \\ er\u00e4ndert, wie wir namentlich aus dem Umstande ersehen, dass die Zellen der Wurzel, des Stammes und des Blattes gunz diesellien 1 ndividuen hervorl >ri ngen.\nDus idioplusmatische System der Pflanzen, das auch die Thiere in der n\u00e4mlichen Weise liesitzen, w\u00e4re somit in manchen Beziehungen dem Nervensystem analog. Ls w\u00e4re, um mich so nus-zudr\u00fccken, ein System dynamischer Leitungen in einer einfacheren und mehr materiellen Sph\u00e4re, w\u00e4hrend die Nervensuhstanz ein solches Leitungssystem in einer complicirteren und mehr geistigen \u00bbSph\u00e4re darstellt. Ls ist selbst nicht unwahrscheinlich, \u00ablass zwischen 1 leiden ein phylogenetischer Zusammenhang liesteht, \u00ablass im Thier-leich die eine H\u00e4lfte des idioplasmatischen Systems nach und nach zum Nervensystem geworden ist.\nWelcho von den lieiden Theorien, \u00ablie ich lietreffeml \u00ablie iilio-plasmatische Leitung und Mittheilung entwickelt habe, \u00ablie richtige, \u00b0b \u00ab1er Vorgang ein materieller oder oin dynamischer sei, l\u00e4sst sich bei der noch so geringen Kenntniss \u00ables Idioplusmus nicht ent-","page":59},{"file":"p0060.txt","language":"de","ocr_de":"60\nI. Mioplanma\nscheiden. Insofern es sich um dus Pflanzenreich handelt, m\u00f6chte man vielleicht' eher gonoigt sein, eine materielle Communication an-zunehmen. Diese al>er befindet sich, wenn auch der Transport leicht verst\u00e4ndlich ist, doch liez\u00fcglich des Hauptpunktes, der noch nicht besprochen wurde, n\u00e4mlich bez\u00fcglich der Ausgleichung zwischen den ungleich ver\u00e4nderten Partien in entschiedenem Nachtheil. W\u00e4re das Idioplasnia eine halhfl\u00fcssige Sulwtanz mit beweglichen Micellen, so k\u00f6nnte allerdings leicht eine Vermischung stattfinden. Da dassellie aber aus einer ziemlich festen Vereinigung von Micellen bestehen muss, so ergeben sich f\u00fcr die gegenseitige Durchdringung die gr\u00f6ssten Schwierigkeiten.\nWir haben zwar bei der Befrachtung ebenfalls eine materielle Vereinigung von m\u00e4nnlichem und weiblichem Idioplasnia, und es l\u00e4sst sich dort der materielle Vorgang zur Noth his zur Nelien-einanderlagerung je einos Mi cells von m\u00e4nnlichem und eines solchen von weiblichem Ursprung durchf\u00fchren, wie ich sp\u00e4ter bei der Besprechung der Kreuzung und dor mit ihr verbundenen molccularon Vorg\u00e4nge zeigen werde. Dort wird die Annahme der materiellen Vermischung durch die quantitative Gleichheit der beiden geschlechtlichen Idioplasmen erleichtert, obgleich wahrscheinlicher Weise auch bei der Befruchtung der materielle Vorgang nicht mehr liedeutot, als dass das m\u00e4nnliche mit dem weiblichen Idioplasma zusammen kommt, worauf dann die gegenseitige Beeinflussung auf dynamischem Wege erfolgen d\u00fcrfte. Indem ich auf diose Auseinandersetzung verweise, schliesse ich mit der Bemerkung, dass, wenn auch das Idioplasnia in den Organismen wandern und sich materiell vermengen sollte, die Ausgleichung zwischen den verschiedenartig umgebildeten Partien doch wahrscheinlich auf dynamischem Wege geschehen wird.\nIch will schliesslich noch die Frage liesprechon, wie sich die Eigenschaften, die dem Idioplasma zugeschrielion wurden, zu dor Zahl und Gr\u00f6sse der Molek\u00fcle und Micelle verhalten. Es k\u00f6nnten vielleicht Zweifel sich erhellen, ob die m\u00e4nnlichon Elementarorgane, die theilweise zu den kleinsten mikroskopischen Objecten geh\u00f6ren, in ihrer Substanz so viele Idioplasmamicollo besitzen, wie es die Theorie voraussetzt. Denn eine grosse Menge von Anlagen verlangt eine sehr complicirte Anordnung und diese l\u00e4sst sich nur durch eine","page":60},{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"alfllTrUger der erblichen Anlagen.\nGl\ngrosso Mongo kloinstor Theilchon herstellen, \u2014 mul wenn ferner auch von sehr kloinon Sjiennutozoidon cino Mehrzahl zur Befruchtung verwendet wird, so muss doch jedes dersellien die (iosainmtlieit der Anlagon und somit auch eine vollst\u00e4ndige idioplasmatische Anordnung von Micellon enthalten.\nFr\u00fcher waren unsoro Vorstellungen \u00fcl>er die Gr\u00f6sse der Molek\u00fcle und Micolle hloss durch eine ol\u00bbere Grenze liestimmt; man wusste aus verschiedenen Thatsachon, dass sie ein gewissos Maass nicht erreichten; unterhalb dieses Maasses aller war der Hyjiothoso jede Kleinheit gestattet. In noucror Zeit wurde die absolute Gr\u00f6sse der Molck\u00fclo in versehiodoncr Weise direct l>estimmt. Namentlich verdanken wir der mechanischen Gastheorie die Berechnung, wie viel Gasmolok\u00fcle l>ei bestimmter Temperatur und unter bestimmtem Druck in einem Gasvolumen enthalten sind.\nAus der Zahl der Molek\u00fcle, die in einem liestimmtcn Gas-volumon sich befinden, und aus dem specifischen Gewicht dioses Gases berechnet sich das absolute Gewicht eines Molek\u00fcls und daraus das absolute Gewicht der Molek\u00fcle aller anderen bekannten Verbindungen. Aus dem absoluten Molcculargowicht und dem specifischen Gewicht eines fl\u00fcssigen oder festen K\u00f6rpers berechnet sich ferner der Raum, den ein Molek\u00fcl sammt seiner Wirkungssph\u00e4re in diesem K\u00f6rper einnimmt, oder das absolute Molecularvolumen.\nDa in 1 \"\" unter dem Drucke einer Atmosph\u00e4re und bei 0 Grad sich 21 Trillionen Gasmolek\u00fcle befinden, so wiegt beispielsweise ein Wassermolek\u00fcl den trillionsten Theil von 0,04\"**, und es nimmt dassellie im tropfbar fl\u00fcssigen Zustande den trillionsten Theil von 0,04\"\"\u201d (den millionsten Theil von 0,00004 r\",ik) ein. Fenier gehen auf die L\u00e4nge von 1\t3 Millionen und auf die dem Mikroskopikcr\nwohlljckannte L\u00e4nge von 1,,,,k *) 3000 Wassennolek\u00fcle.\nUm nun dio Zahl der Micelle zu bestimmen, die auf dem Querschnitt eines Idioplasmastranges von gegebener Gr\u00f6sse l>cfindlich sind, m\u00fcssten wir das Verh\u00e4ltnis von Substanz und Wasser, die Zahl der Eiweissmolek\u00fcle, die zu einem Micell zusammentreten, und die Gr\u00f6sse der Eiweissmolck\u00fcle kennen. Was den letzteren Punkt liotrifft, so ist die Chemie trotz aller Anstrengungen, dio sie in dieser Beziehung gemacht hat, noch zu keinem Resultat gelangt. Da jodoch\n') jnik \u2014 Mikromilliineter = 0,001mm.","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"<)2\nI. MioplaHiim\n\u00ablie L\u00f6sung \u00ab1er Chornischen Eiwoissfrago f\u00fcr die Function \u00ablos Idio-plasmas von entscheidender Bedeutung ist, so erlaulte ich mir l*o-z\u00fcglich dorsellxui einige Bemerkungen vom molocularphyxiolngischon Standpunkt aus.\nDie Alhuminate kommen, wie die St\u00e4rke und Cellulose, nur im l\u00f6sten Zustande und in Micollarl\u00f6sungen vor. letztere alter sind nur scheinharo L\u00f6sungen, weil die in der Fl\u00fcssigkeit vcrthcilten Micelle krystallinischc Zusammonh\u00e4ufungon von Molek\u00fclen sind. Die Micelle l\u00bbestehen ferner m\u00f6glicherweise nicht hloss aus den Molek\u00fclen einer und dersclltcn Vorhindung; es d\u00fcrften wohl mehrere Verbindungen in ihnen gemengt und auch andere, namentlich unorganische Stoffe gleichsam als Verunreinigungen mit in das kristallinische Micell eingetreten soin oder sich an seiner Oberfl\u00e4che lest angelageil halten. Endlich sind die Micelle von sehr ungleicher ( \u00bbrosse. Durch diese verschiedenen Umst\u00e4nde werden die mannigfaltigen physikalischen und chemischen Eigenschaften, namentlich auch \u00ablie verschiedenen Zersetzungsproduete bedingt. Es ist unm\u00f6glich eine chemisch reine Substanz herzustellen, weil die Albuminat-micelle in keinem Medium in ihre Molek\u00fcle zerfallen.\nIn den genannten Beziehungen verhalten sich \u00ablie Albuminate \u00e4hnlich wie die Cellulose, die allenfalls in einer unendlichen Zahl v\u00abm Altstufungen vorkommt. Das Cellulosemolek\u00fcl ist zwar \u00fclxu-all \u00ablas n\u00e4mliche; alter cs bildet Micelle von verschriener Fonn und Cr\u00fbsse und mit verschrienen organischen und unorganischen Anh\u00f6rungen, daher auch Substanzen mit verschiedenem Wassergehalt, von verschiedener H\u00e4rte und Elastieit\u00e4t, mit vers\u00ab-hiodoner Wi\u00abler-standsf\u00fchigkeit gegen chemische Mittel, welche von der L\u00f6slichkeit in Wasser bis zur Lnl\u00f6sliehkeit in Schwefels\u00e4ure variirt u. s. w.\nW\u00e4hremhlem \u00ablen verschiedenen Celluloseformen das n\u00e4mliche Cellulosemolek\u00fcl zu Crunde zu liegen scheint, m\u00abteilte ich es \u00ablagegen l\u00fcr \u00e4usserst wahrscheinlich halten, dass es verschriene Eiweissmolek\u00fcle gelte, \u00ablie \u00ablurch den ungleichen Wasserstoff- und Sauerstoff-gehalt und namentlich dadurch von einander abweichon, dass die eimui schwefelhaltig, die andern schwefelfrei sind. Nicht zwei Analysen von Albuminatcn sind gleich: \u00ab1er Stickstoffgehalt variirt von lft bis 17 \u00b0/o, der Schwefolgehalt von 0,1) bis 1,7 % und zwar in allen m\u00f6glichen Abstufungen; \u00fclterdem finden sich wechselnde Mengen v\u00abtn IMios|\u00bbh\u00f6r, Magnesia und Kalk.","page":62},{"file":"p0063.txt","language":"de","ocr_de":"aln Tr\u00e4ger clor erblichen Anlagen.\n03\n\nDiese Ergebnisse der chemischen Analyse erkl\u00e4ren sich in der einfachsten und befriedigendsten Weise, wenn wir itmichmen, dass die Micelle der Albuminate aus einom Gemenge von zwei oder mehreren verschiedenartigen Eiweissmolek\u00fclen, mit mehr oder weniger H und (), mit oder ohne S, lxistchen. In jodem Albuminat w\u00e4ren dio verschiedenartigen Eiweissmolek\u00fcle in eigent\u00fcmlichen Verh\u00e4ltnissen\ngemengt; in jedem w\u00e4ren ferner eigent\u00fcmliche Mengen von Phosphaten, von Magnesia- und Kalksalzen und vielleicht auch noch verseiliedono organische Verbindungen in untergeordneten Mengen enthalten.\nUnabh\u00e4ngig von der elicn liesprochenen Frage ist die lxitreffeiul die Grosso \u00ab1er Eiweissmolek\u00fcle. Die jetzige Chemie gibt densellK ii, um die verschiedenen Zersetzu ngspr\u00abk 1 nett; aus der chemischen Formel\nherleiten zu k\u00f6nnen, vermutungsweise eine sehr hohe Zusammensetzung. Die Formel soll zum mindesten (\u201972 II 10\u00f6 NI8 S022 enthalten; es wird seihst, liehufs Polymerisation, das Mehrfache dieses\nAusdruckes angenommen. Die Frage ist von hoher Bedeutung f\u00fcr \u00ablie Molecular]\u00bbhysiologie, welche in mehr als einer Beziehung die m\u00f6glichste Kleinheit des Eiweissmolek\u00fcls und der Alhuminatmicclle\nverlangt.\nF\u00fcr die Ern\u00e4lmingsphysiologio im Anschluss an \u00ablie G\u00e4rungsphysiologie sind kleine Molek\u00fcle und Micelle erw\u00fcnscht, weil die katalytische Wirkung der Albuminate, auf der wesentlich \u00ablie chemischen Lelienserscheiinnigen beruhen, von \u00ablen Schwingungen der Micelle, Molek\u00fcle und ihrer Tlioilc ahlaingt, und weil diese Schwingungen mit zunehmender Gr\u00f6sse \u00ab1er s\u00ab*hwingonden Systeme langsamer un\u00abl somit unwirksamer wonlcn.\nF\u00fcr die Physiologie des Idioplasmas ist \u00ablie Kleinheit \u00ab1er Micelle und somit auch der Eiwcissinolckiilc cine noth wendige ]k\u2018-\u00ablingung, weil eine grosse Mannigfaltigkeit und Complicirtheit \u00ab1er Anordnung auf einem l>es(>hr\u00e4nkten Baum nur durch eine grosse Zahl \u00ab1er Micelle erreichbar erscheint.\nDiesen Anforderungen \u00ab1er Physiologie w\u00fcrde am tasten \u00ablurch \u00ablie Annahme ein Gen\u00fcge geleistet, dass \u00ablie hypothetische Formel \u00abl\u00ab*r Chemiker mit 72 o\u00abler mehr Atomen Kohlenstoff nicht \u00ablas Imweissmolek\u00fcl, somlern oin aus mehreren Molek\u00fclen mit je 24 rxler 12 Atomen C krystallinisch getarntes Mieoll \u00ablarstello. Es k\u00f6nnten taispiclswcise die verschie\u00ablenartigcn Molek\u00fcle aus 12 C, 3 N mit \u00abxler","page":63},{"file":"p0064.txt","language":"de","ocr_de":"64\nI. Idioplasma\nohne S und aus ungleichen Mengen II und O zusammengesetzt sein. Die verschiedenen Zersetzungsproducto w\u00fcrden \u00abich durch Umlagerung der Atome bilden, wie dies auch beim Zucker und anderen organischen Verbindungen der Fall ist. \u2014 Solche Micelle mit 72 C wftron dio kleinsten In den plasmatischen Substanzen vorkommenden. Andere k\u00f6nnen immerhin, indem zahlreichere Atome sich zusammenlagern, jede betr\u00e4chtlichere Gr\u00f6sse besitzen. In dieser Beziehung werden sich die verschiedenen Plasmasubstanzen und ihre verschiedenen Zust\u00e4nde sehr ungleich verhalten.\nEbensowenig wie \u00fcber die Gr\u00f6sse der Plasmamicello wissen wir irgend etwas Bestimmtes \u00fcber die Menge des sie trennenden Wassers. Wir kennen zwar ann\u00e4hernd den Wassergehalt verschiedener plasmatischer Substanzen. AW das Wasser in denselben wird aus verschiedenen Gr\u00fcnden sehr ungleichartig vertheilt sein, besonders weil die Substanz der Micelle eine ungleiche chemische Zusammen-setzung und deswegen auch eino ungleich grosse Anziehung zu Wasser besitzt, und ferner weil die Micelle sehr h\u00e4ufig keine regelm\u00e4ssige Anordnung halxm.\nDas thierischo Sj>enna enth\u00e4lt 20 \u00b0,o Trockensubstanz, also 80 % Wasser. Die Idioplaamastr\u00e4nge sind aber m\u00f6glicher Weise ziemlich weniger wasserhaltig. Die regelm\u00e4ssige Anordnung ihrer Micelle und der feste Zusammenhang derselben sprechen f\u00fcr einen m\u00f6glichst hohen Substanzgehalt, den wir auch schon deswegen anzunehmen geneigt sind, um eino gr\u00f6ssere Zahl von Micellen f\u00fcr die Idioplasma-strange zu erhalten. Die geringste zul\u00e4ssige Wassermengedes imbibirten Zustandes ist aber wohl die, dass jedes Micoll mit einer einfachen Schicht von Wassormolok\u00fclon benetzt ist, so dass also zwischen je zwei Micellen, deren Gestalt, da sie in Reihen stehen, prismatisch ') zu denken ist, wenigstens zwei Schichten von Wassermolek\u00fclen sich befinden. Daneben m\u00fcssen dann aber noch weitere Can\u00e4lchen das Idioplasma durchziehen, wolehe den Eintritt der N\u00e4hrstoffe sowie auch den Austritt von Stoffen m\u00f6glich machen.\nUrner den gemachten Voraussetzungen k\u00f6nnen wir uns nun eine Vorstellung von den absoluten Dimensionen in der Structur des Idioplasmas machen. Ich gehe von dem materiellen System,\n') Die Gr\u00fcnde, warum die Miee\u00fce polyedrisch oder prismatisch \u00abein m\u00fcssen \u00abnd nicht rundlich oder cylindrisch \u00abei\u00bb k\u00f6nnen, hat\u00ab ich anderw\u00e4rts f\u00fcr die Starke angegeben ; sie gelten auch f\u00fcr das Idioplasma.","page":64},{"file":"p0065.txt","language":"de","ocr_de":"als Trttm*r \u00abl\u00ab<r erblichen Anlagen.\tjj\u00bb\nlMMtohond aus C 72 H 100 N18 S022, dm irmn gew\u00f6hnlich als das Eiweissmolek\u00fcl liezeiehnot, das ich nun utor vorl\u00e4ufig als da\u00ab kleinste Plasmamicoll betrachten will, aus. Das ah. >lutc (iowicht dessell*on lietr\u00e4gt den trillionsten Tlieil von 8,1)3-. Das specifische Gewicht des trockonon Eiweisses ist 1,344. Daraus folgt, dass 1\"\" des-Holkon nahezu 400 Trillionen, 1'\"ik nahezu 400 Millionen Micelle enth\u00e4lt.\nHieraus d\u00fcrfen wir al>or nicht olino weiteres das Volumen des Mi cells berechnen. Tn dein trockenen Eiweiss als einer organisirten Substanz m\u00fcssen sich n\u00e4mlich, wenn auch noch so kleine, leere Zwischenr\u00e4ume zwischen den Mieellcn liefmdcn. Das krystallisirto Eiweiss w\u00fcrde daher ein gr\u00f6sseres spccifisches Gewicht als 1,344 halien. Wir d\u00fcrfen dassell*) wohl auf 1,7 anschlagen. Aus diesem amendirten sj>ocifischen Gewicht lierechnet sich das Volumen des Micells mit 72 C zu 2,1 Trilliontel von lr\"m oder zu 0,0000000021 r\"ik.\nBez\u00fcglich der Gr\u00f6sse der strangf\u00f6rmigen Idioplasmak\u00f6rper, die uns unliekannt ist, l\u00e4sst sich bloss eine oliero Grenze feststellen. Dieselben m\u00fcssen jedenfalls so klein sein, dass sie mit unseren mikroskopischen Vergr\u00f6sserungen nicht gesehen werden k\u00f6nnen, wenn nicht etwa die F\u00e4den, die sich in Zellkernen durch F\u00e4rliemittcl sichtbar machen lassen, als Idioplasmastr\u00e4ngc in Anspruch zu nehmen sind. Uobrigens ist zu liemerken, dass die Idioplasmak\u00f6rper wohl immer von Ern\u00e4hrungsplasma eingeh\u00fcllt und, sofern sie durch Zellmembranen hindurchgehen, von Cellulose umgelxm sind, und \u00ablass sie sich somit l>ei einer Gr\u00f6sse, bei der sie in Wasser schon gesehen w\u00fcrden, immerhin noch der Beobachtung entziehen. Aus diesen Gr\u00fcnden kann ein Querschnitt von 0,1\u2018\"\u201c,k (Dm= 0,32\u201cik) noch als zul\u00e4ssig erachtet worden, stellt al\u00bber jedenfalls ein nicht \u00fclierschivit-hares Maximum dar. Auf diesem Querschnittsareal hat \u00ablie gr\u00f6sste Menge von prismatischen Micellen Platz, wenn diesellsm \u00fclierall bloss \u00ablurch zwei Schichten von Wassermolek\u00fclen getrennt sind.\nUnter \u00ablen lieidon genannten Voraussetzungen ist die folgende Tal Sille lierechnet. Die erste Vcrticaleolumno gibt \u00ablio Gr\u00f6sse \u00ab1er Micelle durch die Zahl \u00ab1er in ihnen enthaltenen Kohlenstoffatomc an, \u00ablie zweite die Menge solcher Micelle auf einem Areal von 0,1 ,,,mk in runden Zahlen, \u00ablie dritte die proeentisehe Wassermenge, welche \u00ablas Idioplasma unter der Voraussetzung enth\u00e4lt, \u00ablass \u00ablie f Micelle nicht l\u00e4nger als breit siml, ebenfalls in runden Zahlen.\nV. N\u00e4gel i, Abstainniungxk'hre.\t\u00df\nf","page":65},{"file":"p0066.txt","language":"de","ocr_de":"\t1. Mioplaama\t\nUrOwtu der Micelle\tMenge \u00ab1er Micelle auf 0,1\tWassergehalt des Idioplaamas \u2022/\u00ab\n720\t25000\t74\n2 720\t18700\t(Ui\n3 720\t15200\t02\n5-720\t12100\t57\n10 720\t8300\t49\n20-720\t5700\t42\n50-720\t3400\t34\n100-720\t2300\t28\nDie Mengen der Micelle auf der Querschnittsflftche eines Idio-plasmak\u00f6rpers, welche in der zweiten Columne enthalten sind, stellen, da in jeder Beziehung die g\u00fcnstigsten Bedingungon angenommen wurden, f\u00fcr dio angegebenen Micellgr\u00f6ssen Maxima dar, welche wohl nie erreicht werden. Zur Vergleichung will ich noch einige Zahlen beif\u00fcgen, die f\u00fcr den Fall, dass die prismatischen Micelle durch dio doppelte Wassonnenge (durch je 4 Wassermolek\u00fclschichten) getrennt sind, berechnet wurden.\nGr\u00f6sse der Micelle\tMenge der Micelle auf 0,11-ifc\tWassergehalt des Mioplasmas \u00b0'o\n72C\t13700\t89\n2-72C\t11000\t85\n5-720\t7800\t78\n20-720\t4100\t04\n100-72C\t1800\t47\nAus den beiden Tabellen ergibt sich, dass zwar nicht, wie man hiiufig f\u00fcr moleculare Verh\u00e4ltnisse sich irrtli\u00fcmlich vorstellt, eine unendliche Menge von materiellen Theilchen zur Verf\u00fcgung stehen, sondern dass gerade f\u00fcr die Substanz, in welcher alle Eigenschaften eines Individuums auf seine Kinder vererbt worden, die Anzahl jener Theilchen ziemlich enge Grenzen hat. Doch m\u00f6chte ich glauben, dass dio Menge dor Micelle, namentlich wenn dieselben kloiner (zu 72 C oder zu 2*72 C) angenommen worden d\u00fcrfen, f\u00fcr die Function, die sie zu erf\u00fcllen haben, ausreicht, auch wenn die","page":66},{"file":"p0067.txt","language":"de","ocr_de":"alu Tr\u00e4ger <lor erblichen Anlagen.\nb\u00bb\nstrangf\u00f6rmigen Idioplasmak\u00f6rper einen kleineren Querschnitt als 0,1tiositzon sollten *).\nSie roiclit aus unter den fr\u00fcher festgostellton Bedingungen, dass nicht dio zusammengesetzten Erscheinungen, wie wir sie an don Organismen wahmohmon, sondern die einfachen Elemente, aus denen sio sich zusammensotzen, als Anlagen im Idioplasma enthalten sind. W\u00e4hrend im ersteren Fallo das Idioplasma \u2019allerdings aus fast unondlich vielen Theilon bestehen m\u00fcsste, gon\u00fcgt im letzteren Fallo eine begrenzte Zahl, in gleicher Weise wie die Sprache aus einer begrenzten Menge von W\u00f6rtern, die Musik aus einer 1k>-grenzten Menge von T\u00f6nen zusammengesetzt ist.\nDie unendliche Mannigfaltigkeit in den Eigenschaften der Organismen kann im Anlagezustand um so leichter von einer begrenzten Zahl von Micellen dargestellt werden, als diese Micelle, wenn sie so gebaut sind, wie ich es angedeutet habe, auch bei geringer Gr\u00f6sse oinor grossen Mannigfaltigkeit in Gestalt und chemischer Beschaffenheit f\u00e4hig sind. Da aber die Micelle oder die Micollreihcn der Idioplasmak\u00f6rper f\u00fcr sich allein noch keine Anlagen sind, sondern nur durch ihre Zusammenordnung zu Gruppen, die durch ihre Configuration auf dom Querschnitt der K\u00f6rper sich charakterisiren, zu Anlagen werden, so ist f\u00fcr das Idioplasma eines reich differonzirten Organismus immerhin eine erhebliche Anzahl von Micellen noth-wendig ; \u2014 und damit komme ich auf die Constitution des Eiweissmolek\u00fcls zur\u00fcck.\nW\u00fcrde dasselbe entsprechend der Neigung der heutigen Chemie in Folge von Polymerisation 3 \u2022 72 C enthalten, so k\u00e4men auf \u00bblas gr\u00f6sste Querschnittsareal der Idioplasmak\u00f6rper von 0,1 und mit der kleinsten Wassermenge (2 Molek\u00fclschichten zwischen den Mi* cellcn) bloss etwa 6000 Micelle (zu 6 Molek\u00fclen) und auf \u00bblen Durchmesser kaum 80 Micelle (gegen 25000 Micelle auf dem Querschnitt uml 160 auf dem Durchmesser, wenn das Eiweissmolek\u00fcl bloss 12 C enth\u00e4lt). Unter ung\u00fcnstigeren Voraussetzungen (geringere Gr\u00f6sso und gr\u00f6sserer Wassergehalt der Idioplasmak\u00f6rper) w\u00fcrden diese Zahlen in entsprechenden Verh\u00e4ltnissen kleiner. Die ehen angegebenen numerischen Werthe motiviren ausreichend \u00bblas Bed\u00fcrfnis\n') Bei einem Quorwlinittsareal von 0,0fi,'\",ik (Dm = 0,\u00fc:iM\"k) w\u00fcrden \u00ablie Zahlen der zweiten Columne auf \u00ablie H\u00e4lfte redueirt.\n5*","page":67},{"file":"p0068.txt","language":"de","ocr_de":"68\nI. Idioplasma\nder Physiologie, das Idioplasmamicell und damit auch das Eiwoiss-niolek\u00fcl m\u00f6glichst klein anzunehmen.\nIch habe es oben wahrscheinlich zu machen gesucht, dass das Idioplasma entweder durch die ganze Pflanze wandert oder durch die ganze Pflanze in unmittelbarer Ber\u00fchrung sich befindet, und dass zu diesem Behufe alle Zellmembranen siebartig durchbrochen sein m\u00fcssen. Es frftgt sich noch, wie sich diese Annahme zu den eben besprochenen absoluten Maassen des Idioplasmas verh\u00e4lt. Wenn die Idioplasmak\u00f6rper den gr\u00f6ssten Querschnitt von 0,1erreichen, so m\u00fcssen die Oeffnungen in den Zellmembranen wohl 0,4 \",k Weite haben. Betr\u00e4gt der Querschnitt jener K\u00f6rper bloss 0,05M,,,ik, so gen\u00fcgt eine Weite der Oeffnungen von nahezu 0,3 In dieser Gr\u00f6sse bleiben sie unsichtbar, so lange sie mit Plasma erf\u00fcllt sind. Kommen, wie ich glaube, die Siebporen wirklich allgemein im Pflanzenreiche vor, so begreifen wir, dass dieselben in der Regel bloss in der n\u00e4chsten Umgebung der Siebr\u00f6hren, wo sie etwas gr\u00f6sser werden, zu sehen sind. Was dagegen die Diosmose der Eiweissmicello lx\u00eetrifft, so m\u00fcssen die f\u00fcr sie bestimmten Can\u00e4lchen in der Zellmembran kaum einen Durchmesser von 0,01 \"ik besitzen, um Micelle, die selbst bis zu 300 * 72 C enthalten, frei passiren zu'lassen.\nIn diesem Abschnitte habe ich versucht, eine Hypothese \u00fcber die materielle Natur der erblichen Anlagen aufzustellen, welche nach den jetzt bekannten molecularphysiologischen Thatsachen in jeder Beziehung als m\u00f6glich erscheint und, wie ich hoffe, als erster Schritt zur L\u00f6sung des R\u00e4thsels f\u00fchren kann. Die heutige wissenschaftliche Einsicht verlangt die unbedingte Annahme, dass die erblichen Anlagen in der physikalischen und chemischen Beschaffenheit der Albuminate begr\u00fcndet sein m\u00fcssen, also in der Zusammensetzung des einzelnen Micells aus den Molek\u00fclen und in der Zusammon-ordnung der gesammten Micelle zum Idioplasma. Wenn aber auch \u00fcW die Theorie im allgemeinen kein Zweifel bestehen kann, so ist r\u00fccksichtlich der bestimmten Anordnung und r\u00fccksichtlich der Frage, wie das Idioplasma seine Anlagen zur Entfaltung bringe, den Hypothesen noch ein weites Feld ge\u00f6ffnet. Ich lege daher auch dom Versuche, den ich gemacht habe, die unbestreitbar vorhandenen allgemeinen Eigenschaften des Idioplasmas in eine concreto Form zu bringen, keinen absoluten Werth bei. Die Vermuthung betreffend","page":68},{"file":"p0069.txt","language":"de","ocr_de":"alu Tr\u00e4ger \u00ab1er erblichen Anlagen.\tgi,\nsuinu Strangimtur, f\u00fcr welche bloss eine grosse Wahrscheinlichkeit Ijostoht, k\u00f6nnte ungogr\u00fcnilet soin; deswegen ist doch die Existons des Idioplusmus mit seiner Beschaffenlieit im allgomeinei. durch dio Thatsoehon sicher gestellt.\nIch halie die Tlieorie eingehender entwickelt und ihre Ausf\u00fchrbarkeit nuchgewiesen, weil in neuerer Zeit zwoi Versuche gemacht wurden, sich die erblichen Anlagen materiell vorstellbar zu machen, \u2014 Versuche, die allerdings nicht den Namen von Theorien verdienen, da sie nicht von physiologischen Thatsoehen, sondern von willk\u00fcrlichen und uiun\u00f6glichen Meinungen ausgehen. Sie werden auch von ihren Urheborn selbst bloss als \u00bbprovisorische Hypothesen\u00ab, also gleichsam als hypothetisch in der zweiten Potenz bezeichnet.\nEs sind die Pangenesis von Darwin und die Plastidulperigenesis von H\u00e4ckel.\nDarwin nimmt an, dass alle Zelleu oder auch Theile von Zellen w\u00e4hrend des erwachsenen Zustandes und ebenso alle Zellen w\u00e4hrend aller Entwicklungszust\u00e4nde des Organismus \u00bbkleine K\u00f6rnchen oder Atome abgeben, welche durch den ganzen K\u00f6rj>er frei circuliren, und welche, wenn sie mit geh\u00f6riger Nuhrung versorgt werden, durch Theilung sich vervielf\u00e4ltigen und sp\u00e4ter zu Zellen entwickelt werden k\u00f6nnen, gleich denen, von welchen sie ber\u00fchren\u00ab. Diese Keim, hen (xier Zellenkeimchen worden von den Eltern den Nachkommen \u00fclior-liofcrt und entwickeln sich meist in der unmittelbar folgenden Generation, k\u00f6nnen aber auch durch viele Generationen hindurch im schlummernden Zustande verharren. Ihre Entwicklung h\u00e4ngt ab von der Vereinigung mit anderen theilwoise entwickelteil Zollen oder Keimchon, welche ihnen in dom regelm\u00e4ssigen Verlauf des Wachsthums vorausgehen. Die Keimchen Italien in ihrem schlummernden Zustande eine gegenseitige Verwandtschaft zu einander und vereinigen sich zu Knospen oder Sexualorganen.\nl>asx diese mit den Worten ihres Autors wiedergegelnme Hypothese alle Erscheinungen der Vererbung vollst\u00e4ndig erkl\u00e4rt, ist sofort einleuchtend, auch ohne die von demselben angef\u00fchrten verschiedenartigen Beispiele. Da jeder auch noch so geringf\u00fcgige mul winzige Theil des Organismus, der eine liesondere Qualit\u00e4t oder Quantit\u00e4t darstollt, seine Keimchen uussondet, die sich vermehren, \u00fcberallhin verbreiten, w\u00e4hrend unliegrenzter Zeit im latenten Zustande verharren und unter g\u00fcnstigen Umst\u00fcnden den Theil, von","page":69},{"file":"p0070.txt","language":"de","ocr_de":"70\nI. Idiopbtama\ndem sio urspr\u00fcnglich herstumnien, wieder liervorbringen, so ist der don thats\u00e4chlichen Verh\u00e4ltnissen ontsprochendo Erfolg gesichert, wonn dio Keimchen um richtigen Ort, in der richtigen Weise und zur richtigen Zeit sich vereinigen und entwickeln.\nDie Hypothese erweist sich also, wie dies \u00fcbrigens bei dem so praktischen und gesunden Sinne ihres Urhebers nicht anders m\u00f6glich ist, mit R\u00fccksicht auf ihre Leistungsf\u00e4higkeit als untadelhaft, \u2014 und es ist bloss die Frage, ob die Eigenschaften, die don Keimchen zugeschrieben werden, von Seite der Physiologie als m\u00f6glich zugestanden werden. Darwin selbst geht auf diesen Punkt nicht ein, indem er sich bloss an allgemeine Analogien li\u00e4lt und sogar gelo gentlich gewisser Thateachen die Aeusserung thut, er wisse nicht, wie die Physiologen dieselben betrachten, nach der Pangenesis aber sei die Erkl\u00e4rung einfach und glatt.\nDie Beurtheilung der Hypothese kann einmal die theoretische Zul\u00e4ssigkeit und dann die praktische Ausf\u00fchrbarkeit derselben pr\u00fcfen, und in jeder Beziehung wieder verschiedene Punkte betrachten. Ich will nur je einen Punkt besprechen und zwar zun\u00e4chst die Ausf\u00fchrbarkeit in molecularphysiologischer Beziehung.\nWas die Beschaffenheit der Pangenesiskeimchen betrifft, welche \u00bbK\u00f6rnchen oder Atome\u00ab genannt und nicht weiter charakterisirt werdon, so k\u00f6nnen diesellien weder chemische Atome noch Molek\u00fcle sein, da Kohlenstoffatome und Eiweismolok\u00fcle selbstverst\u00e4ndlich die gleichen Eigenschaften haben, ob sie von dieser oder jener Zelle herstammen. Es k\u00f6nnen auch nicht oinzelne Micelle (kiystullinische Molek\u00fclgruppen) sein, denn, wenn diese auch als Gemenge von verschiedenen Albuminatmodificationen ungleiche Eigenschaften be-s\u00e4ssen, so w\u00fcrde ihnen doch die F\u00e4higkeit, sich zu vermehren und neue gleiche Micelle zu bilden, mangeln. Wir finden alle Bedingungen f\u00fcr die Beschaffenheit der Keimchen bloss in unl\u00f6slichen und festverbundenen Gruppen von Albuminatmicollen ; nur diese k\u00f6nnen verm\u00f6ge ihrer ungleichen Anordnung alle erforderlichen Eigenschaften annehmen und vermittelst Einlagerung von Micellen in beliebigem Maasse wachsen und durch Zerfallen sich vermehren. Die Pangenesiskeimchen m\u00fcssten also kleine Mengen von Idioplasma sein.\nNach der Pangenesis-Hypothese sollen von allen Zellen eines Organismus Keimchen abgegelien werden ; dieselben sollen sich ver-","page":70},{"file":"p0071.txt","language":"de","ocr_de":"ul\u00bb Tr\u00e4ger der erblichen Anlagen.\t-j\nvielf\u00e4ltigen, \u00fclwrall vorliunden sein und l*i der Fortpflanzung mit der Keimanlage sieh verbinden. Diese Annahme ist nothwondig; es kann nicht etwa eine Gattung von Zellen durch eine einzige Art von Keimehen, sondern jede einzelne Zelle muss durch ihre eigenartigen Keimehen vertreten sein, und zwar aus zwei Gr\u00fcnden, einmal weil jede Zelle besondere Eigenschaften enthalten kann und nach Zeit und Ort wirklich etwas Besonderes ist, ferner weil nur auf diesem Wege die gesetzm\u00e4ssige Folge der Zellen gesichert ist, denn \u00bbdie Entwicklung der Keimehen h\u00e4ngt ab von der Vereinigung mit anderen theilweise entwickelten Zellen oder Keimehen, welche ihnen in dem regelm\u00e4ssigen Verlauf des Wachsthums vorausgehen\u00ab. Jedes Keimehen ist also gleichsam orientirt und es vermag seine richtige Rolle in der individuellen Entwicklungsgeschichte eben dadurch zu spielen, dass es dann lebendig wird, wenn es nach der ihm innewohnenden Orientirung an die Reihe kommt.\nDieser Umstand erlaubt uns, einen Schluss auf das numerische Minimum der Keimehen in der Keimzelle eines bestimmten Organismus zu machen. Ich habe fr\u00fcher einmal die Zahl der Zellen eines grossen Lindenbaums berechnet und 2000 Billionen erhalten'). Da im Pflanzenreiche das Wachsthum durch Zelltheilung geschieht und mit einer Zelle beginnt, so betr\u00e4gt die Zahl der verschwundenen Zellen fr\u00fcherer Stadien genau die Zahl der jeweilen vorhandenen Zellen weniger 1. Der fragliche Lindenbaum musste also, wenn jede Zelle nur einerlei Keimehen erzeugte, 4000 Billionen verschiedener Keimehen enthalten und bei der Fortpflanzung mussten eben so viele sich in dem Keim vereinigen, ausser den noch viel zahlreicheren Keimehen, welche von fr\u00fcheren Individuen und von fr\u00fcheren Variet\u00e4ten herstammten. Vernachl\u00e4ssigen wir diese letzteren und halten wir uns an die Zahl von 4000 Billionen als ein Minimum.\nNun ist es sicher, dass in dem Befruchtungsstoff, welchen die Linde bei der Fortpflanzung verwendet und in welchem alle Anlagen enthalten sind, nur eine sehr beschr\u00e4nkte Zahl von Idioplasma-portionen (wie sie die Physiologie als Keimehen verlangen w\u00fcrde) und zwar kaum der billionste Theil jener Zahl Platz findet, \u2014 dass von den unzul\u00e4ssigen Micellen, selbst wenn man ihnen die denkbar kleinste Gr\u00f6sse gibt, kaum der hundert millionste Theil Raum h\u00e4tte.\nl) Die Individualit\u00e4t in der Natur. 1856.","page":71},{"file":"p0072.txt","language":"de","ocr_de":"72\nI. Mioplasma\nAngenommen n\u00e4mlich, die Koimclicn enthielten bloss 72 C, w\u00e4ren also die Eiweismolek\u00fcle dor Chemiker oder nach meiner Ansicht die kleinsten Micelle und bes\u00e4ssen somit die kleinste denkbare, aber f\u00fcr Uebertragung von Anlagen vollst\u00e4ndig untaugliche Form, so m\u00fcsste f\u00fcr das Minimum von 4000 Billionen Xcimchon das befruchtende Ende des Pollenschlauches hundertmilhoncnmal mehr Substanz enthalten, als es in Wirklichkeit der Fall ist.\nIn diesem Beispiel habe ich eine viel zu geringe Zahl von Keimclicn in Rechnung gebracht. Wird ihre Menge so hoch angenommen uls es die Darwinsche Theorie wirklich verlangt, so ergibt sich auch f\u00fcr kleinere Plianerogainen, dass ihre einzelligen Keime millionenmal gr\u00f6sser sein m\u00fcssten, um alle Keimchen bloss in der Form von Eiweissmolek\u00fclen oder kleinsten Micellen aufzunehmen. Hierdurch ist die Unm\u00f6glichkeit der Pangenesishypothcse mit R\u00fccksicht auf die numerischen und quantitativen Verh\u00e4ltnisse dargethan. Sic w\u00e4re nur ausf\u00fchrbar, wenn man den Keimchen nicht physische, sondern metaphysische Beschaffenheit, Gewichtslosigkeit und Aus-dehnuiigslosigkeit zuschreiben und damit die Frage auf ein f\u00fcr den Naturforscher undiscutirbares Gebiet hin\u00fcberschieben wollte.\nWas die theoretische Zul\u00e4ssigkeit der Pangonesishyjiothcso l*e-trifft, so gr\u00fcndet sich dieselbe auf die Annahme, dass die Zellen die Einheiten der organischen Natur scion. Diese Annahme von Schleiden und Schwann, die noch von manchen Morphologcn fcstgehalten wml, ist liier nicht nur im Princip unrichtig, sondern auch namentlich ,'\u00fcr die Physiologie unbrcuchliar. Die Zelle ist f\u00fcr den morphologischen Auflaiu eine sehr wichtige Einheit, aller nicht etwa allgemein die Einheit sciilochthin.\nUnter Einheit m\u00fcssen wir, physikalisch aufgefasst, ein System von materiellen Theilen verstehen. Es gibt demnach in der organischen Welt eine grosso Zahl von \u00fclwr- und untergeordneten Einheiten1): die Pflanzen- und Thierindividuon, \u2014 die Organe, \u2014 Gewebstheile, \u2014 Zellgriqqien (im Pflanzenreiche z. B. die Gcf\u00e4ssc und Siebr\u00f6hren), \u2014 \u00abHe Zellen, \u2014 Thoile von Zellen (Pflanzenzell-membrun, Plasmak\u00f6qxT, Plasmakrystalloide, Stitrkek\u00f6rner, Fottk\u00fcgel-\n') ich halx* dim* 1x4 allaei\u00dcKcr Wardijouijf der Tliataachon fast wllwt vendu ndlichc, alx*r immer noch nicht xu richtiger und allgemeinen* Anerkennung gelangte AiiNchairing ncIhhi 18M (HyateniatiMcIie Ueliemicht der Kmlicinungvn im l\u2019flanienreich) und lx.nundeni 18.% (Die Individualit\u00e4t in der Natur) auHgcHproehcn.","page":72},{"file":"p0073.txt","language":"de","ocr_de":"al\u00bb Tr\u00fcger der erblichen Anlagen.\n73\nehon u. s. w.), \u2014 die Micelle, \u2014 die Molek\u00fcle, \u2014 die Atome. Bald tritt die oine, buld die andere Einheit in morphologischer und physiologischer Beziehung charakteristischer und ausgepr\u00e4gter hervor. Somit ist kein Grund, warum hei oiner allgemeinen Theorie oine besondere Stufe der Gestaltung beg\u00fcnstigt sein sollte.\nDarwin verbindet aber mit dem Begriff der Einheit offenlmr noch den Nelxsnbegriff der inneren Gleichartigkeit, und er scheint duf\u00fcr zu halten, dass die Zellen als innerlich homogen ii* der Regel durch eine einzige Art von Keimchen hervorgebracbt werden k\u00f6nnen. Denn er sagt, wenn ein Protozoon aus einer homogenen Masse gebildet sei, so werde ein von irgend einer Partie desselben abgel\u00f6stes Keimchen das Gunze reproduciren. Wenn aber die obere und untere Fl\u00e4che in ihrer Textur von den centralen Thoilen abweichcn, so m\u00fcssen alle drei Theilc Keimchen abgelxm, welche vereinigt wieder das Ganze hervorbringen.\nNach der Meinung Darwins muss also jeder materiell verschiedene Tlicil einer Zelle seine besondern Keimchen erzeugen, um dereinst wieder in seiner Eigenartigkeit sieh verwirklichen zu k\u00f6nnen. Nun gibt es nicht nur viele PHunzenzellen, die aus einer grossen Menge schon durch das Mikroskop nachzuweisender verschiedener Thoile bestehen ; sondern es l\u00e4sst sich darthun, dass nicht zwei der kleinsten Plasmapartien, selbst nicht zwei Micelle einander ganz gleich sein k\u00f6nnen, und dass, um eine neue gleiche Zelle zu erzeugen, wenigstens jedes Micell durch seine Keimchen vertreten sein m\u00fcsste. So wird die Pangenesishypothese, welche nach allgemeinen morphologischen Vorstellungen ausgedacht und nicht physiologisch erwogen wurde, ad absurdum gef\u00fchrt, \u2014 ein Resultat, das allerdings der Nichtphysiologe unm\u00f6glich voraussehen konnte.\nWir bed\u00fcrfen, um die Erblichkeit zu ljegreifen, nicht f\u00fcr jede \u00ablurch Raum, Zeit und Beschaffenheit bedingte Verschiedenheit ein selbst\u00e4ndiges besonderes Symbol, sondern eine Sulistanz, welche durch die Zusuinmcnf\u00fcgung ihrer in beschr\u00e4nkter Zahl vorhandenen Elemente jede m\u00f6gliche Combination von Verschiedenheiten \u00ablarstellen und durch Permutation in oine andere Combination dersellsm \u00fcbergehen kann.\nDarwin hat viel M\u00fche und Scharfsinn duruuf verwendet zu zeigen, dass seine Ilyjjothese die mannigfaltigen Thatsaehen der Vererbung zu erkl\u00e4ren vermag, oder wenigstens nicht in Widerspruch","page":73},{"file":"p0074.txt","language":"de","ocr_de":"74\nI. Idioplasma\nmit denselben gerttth. Dies ist ihm nun \u00abich vollkommen gelungen*); deswegen wird aber die Hypothese um nichts sicherer. iX'iiii es steht nun voraus fest, dass, wenn eine Theorie das Allgemeine erkl\u00e4rt, sie auch alle Einzelheiten zu erkl\u00e4ren vermag, die jener Allgemeinheit untergeordnet sind.\nDer Pangenesis wurde von H\u00e4 ekel die Plastidulperi -gei.esis ontgegengestellt. Ich kann die letztere nicht unerw\u00e4hnt lassen, da sio sieh als \u00bbein Versuch zur mechanischen Erkl\u00e4rung der elementaren Eiitwickoluugsvorg\u00e4nge\u00ab eingef\u00fchrt hat und somit als in naher Beziehung zu dem Motiv dieser Abhandlung erscheint. Der Godankengang mit den eigenen Worten des Autors ist folgender :\n\u00bbDer ganze Weltprocess ist bodingt durch Gesetze dor Mechanik. Um in die Mochunik des biogenetischen Processes einzudringen, muss die licwirkende Ursache in der Bewegung der \u00bbPlastidule\u00ab*) (Plas-mamolek\u00fcle) gesucht werden. Vom h\u00f6chsten Gesichtspunkte aus betrachtet, verl\u00e4uft der biogenetische Process als eine periodische Bewegung, doren anschaulichstes Analogon das Bild einer verwickelten Wellenliewegung ist. Die phylogenotischo Ahnenreihe gloicl.t einer Wellenlinie, in welcher das individuelle Leben jeder einzelnen Person einer Welle entspricht, und der ganze Stammbaum erh\u00e4lt das Bild einer verzweigten Wellenbewegung. In gleicher Weise ist die Ontog\u00e9nie eine verzweigte Wellenbewegung, in welcher die \u00bbPlastiden\u00ab (Zellen) den einzelnen Wellon entsprechen, und da die \u00bbPlastide\u00ab das Product aus den activen Bewegungen ihrer constituirenden \u00bbPlastidule* ist, so muss auch dio unsichtbare Plastidulbewcgung eine verzwoigto Wcllonliewegung sein. Diese wahre und letzte causa officions des biogenetischen Processes nennen wir Perigenesis der Plastidulo oder die periodische Wellenbewegung der Lebenstheilclien.\u00ab\nDiese ganze scheinbare Analyse der Lebenserscheinungon beruht darauf, dass die verschiedenen Stufen derselben in das n\u00e4mliche Bild gebracht werden, welches in der Form einige mechanische\n') Wenn H\u00e4ekel liehauptet, dass die Pangenesis-Hypothese mit den Er fahrungen Ober Differenzirung, Arbeitsteilung, (ienerationenfolge unvereinbar sei ho \u00abe hei nt dem deutschen Naturphilosophen der rothe Faden in den n\u00fcchternen Auseinandersetzungen des praktischen Engl\u00e4nders entgangen zu sein.\n2 ;I>laHti<,ulc (Plassonmolek\u00fcle) = Plasinodule (ProtoplasmamolekOle) + Cucco-dule (CoccoplasmamolekUle).\u00ab\ti","page":74},{"file":"p0075.txt","language":"de","ocr_de":"75\nalu Tr\u00fcgor der erblichen Anlugen.\nAnkl\u00fcngo hut, dessen Berechtigung al>er mehr als fraglich ist. VVoim \u00ablio individuelle Erscheinung (Art, Individuum, Zelle, Molek\u00fcl) einer Welle verglichen wird, so ist dieses einigende Band die Welle der Poeten, nicht die der Physiker. Die Individuen einer Ahnenreihe beispeilswoise sind nach Zeit und Stoff scharf von einander geschieden; jedes )>esteht bis auf einen meistens minimalen Theil aus anderer Matorie. Die nach einander durch ein Medium verlaufenden Wellen der Physiker dagegen werden durch die n\u00e4mliche Materie bewirkt und entsprechen bloss verschiedenen Schwingungs-xust\u00e4ndon der gleichen und nicht von der Stelle r\u00fcckenden materiellen rheilchen. Eine Analogie zwischen den l>eiden Erscheinungen, welche \u00fcber den ausseren Anschein hinausginge und f\u00fcr mehr als eine dichterische Vergleichung benutzbar w\u00e4re, liestoht in keiner Weise. Wenn ferner deswegen, weil die Ahnenreihe sich verzweigt, auch \\on einer verzweigten Wellenbewegung gesprochen wird, so entfernt sich das Gleichniss der Perigenesis-IIypothese vollends von dem physikalischen Boden, indem die Physik wohl von einer Kreuzung der Wellen, aber nichts von einer Verzweigung derselben im Sinne jener Hypothese weiss.\nDie verzweigte Wellenbewegung der % Plastidule < (Molek\u00fcle) wird bloss durch einen Schluss vom Ganzen auf den Theil vermutlich Weil die Entwickelung der \u00bbPlastido\u00ab (Zelle) das Product aus den PI ustid ul be wegungen ist, so sollen diese nach der Meinung des Autors den n\u00e4mlichen Charakter besitzen wie die Lebensliowegungeii der Plastiden, Personen, Arten u. s. w. Nun kommt es wohl ausnahmsweise vor, dass der Theil die Bewegung des Ganzen hat. In der Kegel besteht aber zwischen beiden eine Verschiedenheit, indem ja die Bewegung des Ganzen in dor Summe der Bewegungen seiner 1 heile besteht. So haben auch die Wassermolek\u00fcle ganz andere Bewegungen, als sie die ganze wellenbewegte Wasserfl\u00e4che zeigt, und die Bewegung des Wassertropfens ist g\u00e4nzlich verschieden von den Bewegungen seiner Molek\u00fcle.\nDer Irrthum, der in dem Schl\u00fcsse vom Ganzen auf den Theil liegt, wird noch bedeutender, da die Perigenesis-Hypothese Bewegung und materielle Beschaffenheit in causale Beziehung zu einander bringt. Die Folge duvon ist, dass das Molek\u00fcl nicht bloss die Be-wegung, sondern auch das ganze Wesen des Organismus in sich vereinigen soll. Wenn der Autor beispielsweise sagt, dass liei den","page":75},{"file":"p0076.txt","language":"de","ocr_de":"76\nI. Idioplaaina\nMonoron \u00bbjedos Thoilchen alles leisten k\u00f6nne, was das Ganze leistet <, und somit \u00bbjedes Molek\u00fcl in physiologischer oder physikalisch-ehemischor Beziehung gleich dem ganzen K\u00f6r]>cr sei\u00ab, so ist \u00ablies eine f\u00fcr die ganze Nuturunsclmuung verh\u00e4ngnisvolle Behauptung, die nur einer ausschliesslich morphologischen Betrachtung als m\u00f6glich Vorkommen kann, vor jeder etwas eingehenderen physiologischen Analyse aber sich als nichtig erweist. Plasmamolek\u00fcl und Plasmamasse k\u00f6nnen r\u00fccksichtlich der Gestaltung und der Verrichtung gar nicht mit einander verglichen werden; sie sind noch viel mehr von einander verschieden, als ein Eisenmolek\u00fcl und ein complicirter, aus eisernen R\u00e4dern und Federn l)estehender Mechanismus. Ich worde auf diesen Punkt bei der Urzeugung n\u00e4her eintreten.\nIndem die Perigenesis-Hyix>these mit der Ver\u00e4nderung der Organismen in der phylogenetischen Reihe in entsprechendem Maassc die Wellenbewegung und die Zusammensetzung der Plostidule sich ver\u00e4ndern l\u00e4sst, so gewinnt sie eine von den jetzigen chemischen Vorstellungen wesentlich abweichende Anschauung von den Albuminaten. Nach ihrer Annahme m\u00fcssen in allen verschiedenen Pflanzen und rhieren auch ungleiche Albuminatmolek\u00fcle, also ungleiche Albuminat-Verbindungen, Vorkommen, und namentlich k\u00f6nnte bei niederen und h\u00f6heren I flanzen oder Thieren nicht die gleiche Verbindung die Plustidulc bilden. Im Gegens\u00e4tze biozu weisen alle Erfahrungen der Chemie entschieden darauf hin, dass die grosso Mannigfaltigkeit in den Albuminaten durch Gemenge weniger Verbindungen l>ewirkt wird.\nBetrachten wir nun die Rolle, welche die Molek\u00fcle nach der Perigenesis - Hypothese \u00fcbernehmen sollen, um den Lebensprocess der Organismen hervorzubringen, so f\u00e4llt uns zun\u00e4chst der Mangel an Uelieroinstimmung zwischen den Pr\u00e4missen und den Folgerungen auf. Weil die Entwickelungsl\u00bbowegung der St\u00e4mme, Classen, Ordnungen, Familien, Gattungen, Arten, Individuen und Zellen dio verzweigte Wellenbewegung sei, m\u00fcsse auch dem Theilchen dos letzten lheils, dem Molek\u00fcl, die gleiche Form der Bewegung zukommen. Diese besteht nun, wie in Wort und Zeichnung ausgef\u00fchrt wird, darin, dass ein in Wellenbewegung 1 Kindliches organisches Individuum w\u00e4chst und sich dann durch Verzweigung der Wellonljowogung in zwei oder mehrere neue Individuen theilt. Man erwartet also, dass die \u00bbverzweigte Wellenbewegung des Mole-","page":76},{"file":"p0077.txt","language":"de","ocr_de":"al\u00bb Trilger der erblichen Anlagen.\t-j\nk\u00fcln\u00ab ebenfalls durch Wachsthum und Theilung sich \u00e4ussere. Dies w\u00fcrde die Consequonz verlangen und der Lohre einen logischen d\u00e9liait golien, w\u00e4hrend eine anders geartete verzweigte Wellenbewegung des Molek\u00fcls keinen Daseinsgrund hat.\t*\nDer Autor gluubt al>er in diesem Punkte der Chemie eine Concession machen zu m\u00fcssen. Die Plastidule der Perigenosis sind Einzelmolek\u00fcle, welche nicht wachsen und sich nicht vervielf\u00e4ltigen. \u00bbSic k\u00f6nnen bloss ihre individuelle Plastidulliewcgung auf die launch 1 wirten Plastidule \u00fcbertragen und durch Assimilation in ihrer unmittelbaren Umgebung neue Pastidule von dersellien Bcschaffen-' ^,e*t bilden, ... sic k\u00f6nnen fernor ihre atomistischc Zusammensetzung infolge \u00e4usserer Einfl\u00fcsse sehr leicht \u00e4ndern und damit auch ihre Plastidulbewcgung. . . . Indem die schwingende Molecularliewegung \u00ab1er P lastidule sich als Vererbung \u00fcbertr\u00e4gt, gestaltet sie sich zu einer verzweigten Wellenbewegung.\u00ab So steht also die verzweigte Wellenbewegung der Molek\u00fclo, die aus dor Bewegung der Individuen h\u00f6herer Grade abgeleitet wunle, in keinem noth wendigen Zusammenhang mit ihren Pr\u00e4missen; sie steht vielmehr im Gegensatz zu denselben und verdiente daher auch einen neuon griechischen Namen.\nDiese Inconsequenz, durch die freilich die ganze vorausgehende Deduction des Autors hinf\u00e4llig wird, lassen wir uns aber gerne gefallen; denn damit sind wir aus dem Dunkel der nicht vorstellbaren Ideen von verwickoltcn und verzweigten Wollenliewegungen, die den Zellen und Personen zukonnnen sollen, in das klare Licht der thats\u00e4chlichen Begriffe getreten. Die Schwingungen der Molek\u00fcle, wenn anders darunter die bekannte physikalischo Erscheinung verstanden wird, bieten eine sichere Grundlago f\u00fcr eine naturwissenschaftliche Hypothese. Hier also erwarten wir, dass der \u00bbVersuch zur mechanischen Erkl\u00e4rung der elementaren Entwickelnngsvorg\u00e4nge. lieginnon werde. Aller dieser Versuch w\u2019iril nicht unternommen; die angef\u00fchrten Worte sind das Einzige, was zur besagten Erkl\u00e4rung lx)igobraeht wird.\nDa dor Urhelier dor Perigenesis-Hypothesc nicht zu zeigen versucht, wio aus den Schwingungen der Molek\u00fcle die Erscheinungen des organischen Lelwms zu Stunde konnnon, da also die M\u00f6glichkeit, dass es geschehe, immer noch vorausgesetzt w\u2019erden k\u00f6nnte, will ich kurz zeigen, dass diese M\u00f6glichkeit nicht besteht.","page":77},{"file":"p0078.txt","language":"de","ocr_de":"78\nI. Idioplosma\nDer Autor nimmt an, dass die Plastfdul\u00eb (Molok\u00fclo) vereinzelt Reion, und er meint, dass jedes wahrscheinlich von einer Wasserh\u00fcllo umgeben werde. Dadurch w\u00fcrde wohl Raum f\u00fcr seine biogenetischen Schwingungen und f\u00fcr die Erzeugung neuer Molek\u00fcle zwischen den schon vorhandenen geschaflfon. Eine solche Annahme ist a!>cr unm\u00f6glich, wie ich schon vor 22 Jahren f\u00fcr St\u00e4rkek\u00f6rner und Pflanzonzellmembranen nachgewiesen habe, und wie sich aus analogen Gr\u00fcnden auch f\u00fcr die \u00fcbrigen micell\u00f6sen Substanzen ergibt. Die Molek\u00fcle der jetzigen Chemie, wie sie auch der Autor annimmt, sind in den organisirten K\u00f6rpern nicht vereinzelt, sondern zu kry-stallini8chen, das polarisirte Licht doppeltbrechenden, auch f\u00fcr das Mikroskop unsichtl>ar kleinen Micellen vereinigt'). In den letzteren spielen die Molek\u00fcle die gleiche Rolle wie in den sichtbaren Kiy-stallen. Die n\u00e4chsten Elemente der organisirten Substanzen sind also nicht die Molek\u00fcle, sondern die festen aus mehreren oder vielen Molek\u00fclen bestehenden Micelle. Diese letzteren sind von dem Imbibitionswasser umsp\u00fclt; unter ihrem Einfl\u00fcsse geschehen die Lebcnsprocesse der organisirten K\u00f6rper, namentlich auch das Wachsthum durch Einlagerung neuer Micelle.\nW\u00e4re aber auch die Micellarconstitution nicht vorhanden und w\u00e4ren wirklich, wie der Autor annimmt, die vereinzelten Molek\u00fcle die constituirenden Elemente der organisirten Substanz, so k\u00f6nnten sie doch unm\u00f6glich in der von der Perigonesis-Hyj>othese yorgo-schlagenen Weise die Organisation erkl\u00e4ren, wie sich aus einer Analyse der Molecularbewegungen ergibt. Die Physik kennt fortschreitende, drehende und schwingende Bewegungen dos ganzen Molek\u00fcls, und andere sind \u00fcberhaupt nicht denkbar. Die Perigenesis-Hypothese nun kn\u00fcpft an die Schwingungen an, und gewiss w\u00e4ron die fortschreitenden und drehenden Bewegungen noch weniger brauchbare Elemente.\nDie verschiedene Wirkung der Plastidule, welche Infusorium oder S\u00e4ugethier, Alge oder Phanerogamenpflanze hervorbringt, muss also nach der genannten Hypothese in der Verschiedenheit ihrer Schwingungen begr\u00fcndet sein; und diese besteht bekanntlich bloss\n*) Ich nannte die Micelle damals in Uebereinstimmung mit den Thier-Physiologen, welche die kleinsten Theilchcn als Molekeln liezeiclineten, Molek\u00fcle bestehend aus einer gr\u00f6sseren Zahl von (zusammengesetzten) Atomen der damaligen \u00absler Molek\u00fclen der jetzigen Chemie.","page":78},{"file":"p0079.txt","language":"de","ocr_de":"al\u00bb Tr\u00e4ger der erblichen Anlagen.\n71\u00bb\nin der ungleichen Schwingungsdauer und der ungleichen Schwingungsintensit\u00e4t (Schwingungsweite). Es unterliegt keinem Zweifel, duss wie l)oi der Farben- und Tonerzeugung die Schwingungsdauer die Qualit\u00e4t, die Schwingungsintensit\u00e4t die St\u00e4rke der Wirkung bedingen m\u00fcsste; es m\u00fcssten beispielsweise die niederen Organismen eine l\u00e4ngere, die h\u00f6heren eine k\u00fcrzere Schwingungsdauer der Molek\u00fcle besitzen, sodass sie sich wie tiefe und hohe T\u00f6ne zu einander verhalten w\u00fcrden. Nun wird niemand verkennen, dass eine solche Vorstellung ganz unhaltbar w\u00e4re ; denn niedere und h\u00f6here Organismen verhalten sich zu einander wie Einfaches und Zusammengesetztes, was mit der Schwingungsdaucr, mit T\u00f6nen und Farlxm nicht der Fall ist; und ferner gibt es l>ei den Organismen stets mehrere oder viele, die der gleichen Stufe der Zusammensetzung angeh\u00f6ren und also, obgleich unter einander verschieden, doch der n\u00e4mlichen Schwingungsdauer ihrer Plastidule entsprechen w\u00fcrden.\nOffenbar verbindet al>er die Perigenesis-Hyj>othese, wenn sie von \u00bbschwingenden Molecularbewegungen\u00ab als der bewirkenden Ursache der Organisation spricht, damit eine ganz andere Meinung als die Physik. Denn sie schreibt denselben verschiedene mechanisch unm\u00f6gliche Eigenschaften zu. Die Plastidule sollen Molek\u00fcle ganz l)csonderer Art sein; ihnen kommen active Bewegungen zu, die sie \u00fcbertragen k\u00f6nnen, w\u00e4hrend den \u00fcbrigen Substanzmolek\u00fclen nur jMissivo Bewegungen zugestanden werden, welche die Schwingungen der Plastidule nicht beeinflussen; die letzteren \u00e4ndern ferner ihre Molecularschwingungen, wenn sich die Atome in ihrem Innern umlagern.\nNach mechanischen Principien k\u00f6nnen Verschiebungen des Schwerpunktes eines materiellen Systems (Molek\u00fcls), somit auch Schwingungen oder Schwingungs\u00e4nderungen des Systems nur durch \u00e4ussere, nicht durch innere Kr\u00e4fte, nur durch Druck oder Zug, der von aussen wirkt, nicht durch Co^figurations\u00e4nderungen oder Umlagerungen im Innern erfolgen, turner werden, wenn K\u00f6rper mit ungleichen Schwingungen auf einander einwirken, nicht etwa die Schwingungen des einen (activen) auf den andern (passiven) K\u00f6rper \u00fct)ertragen; sondern beide sind mechanisch gleich berechtigt, beide sind in gleichem Maasse activ und passiv und beide ver\u00e4ndern ihre Schwingungen. Es m\u00fcssen also nach mechanischen Gesetzen nicht nur die Schwingungsintonsit\u00e4t, sondern auch die Schwingungsdauer","page":79},{"file":"p0080.txt","language":"de","ocr_de":"80\nI. I<lio]\u00bbliiHina\neines Plastiduls ver\u00e4ndert worden, sowie die Wasscrmengc, die Menge und Natur der darin gel\u00f6sten Verbindungen, die Anordnung und Beschaffenheit der \u00fcbrigen Molek\u00fclo in seiner Umgebung sich \u00e4ndert, weil, um mich bildlich auszudr\u00fccken, durch alle diese Momente die Unge des Molek\u00fclpendols ver\u00e4ndert wird. Im Widerspruche mit dieser Thatsache muss die Perigenesis-Hypothese eine specifischc Schwingungsdaucr der Plastidule annchmon.\nDiese Hypothese legt also ihren Molecularschwingungcn nicht die liekanntcn physischen, sondern neue unphysikalische Eigenschalten l>ei, und sie h\u00e4tte dies in vermehrtem Maassc thun m\u00fcssen, wenn sic, statt auf einige allgemeine Andeutungen sich zu beschr\u00e4nken] es versucht h\u00e4tte, aus den Molecularschwingungcn der Plastidule die verschiedenen Eigenschaften der Organismen wirklich zu construiren. Wird sie ja schon, um sich die Vererbung zurecht zu legen, veranlasst, den Plastidulen ein Ged\u00e4chtniss zu ertheilon; die Molek\u00fcle sollen ihre Erfahrungen nicht vergessen, daher es ihnen denn auch nicht schwer lallen kann, wieder das zu thun, was sie fr\u00fcher o\u00abler was ihre Vorfahren gethan halben.\nDie Perigencsis-Hypothese macht sich in allen St\u00fccken frei von den engen hessein der exacten Wissenschaft. Sie schreibt ihren Molek\u00fclen andere Eigenschaften zu als die Physik und Chemie. Wenn sie verlangt, dass \u00bbjede zusammengesetzte und verwickelte Erscheinung nur durch Aufl\u00f6sung in ihre einzelnen Bes\u00fcu.dtheile und genaueste analytische Untersuchung dieser letzteren zum Verst\u00e4ndnis\u00ab gebracht und erkl\u00e4rt werde; deswegen m\u00fcssen wir noth-wendig auch in der mechanischen Entwicklungstheorie bis in die letzten Elementarvorg\u00e4nge eindringen\u00ab; \u2014 so glaubt sie diese Aui-galx) dadurch erf\u00fcllen zu k\u00f6nnen, dass sie mit jeder Eigenschaft des zusammengesetzten Organismus (Ged\u00e4chtniss etc.) schon die einfachsten Bestandtheile dessellxm (die Molek\u00fcle) ausstattet. W\u00e4hrend die strenge Wissenschaft eine mechanische Erkl\u00e4rung erst dann als gegelxm erachtet, wenn eine Erscheinung als die nothwendige Folge ljestimmter Ursachen nachgewiesen wird, versteht die Perigenesis-Hypothcse unter mechanischer Erkl\u00e4rung schon die blosse Hindeutung, dass etwas auf mechanischem Wege geschehen k\u00f6nnte. So sagt sie: \u00bbdass der biogenetische Process eine verzweigte Wellen-lxiwegung darstellt, wird wohl allgemein zugegelxm werden; da wir nun akr die ^wirkende Ursache dieser h\u00f6chst zusammengesetzten","page":80},{"file":"p0081.txt","language":"de","ocr_de":"\u00bb1h Tr\u00e4ger dor er'\u00bbliehen Anlagen.\tg|\nWel lente wegung nur in der molecularon Plastidultewegung finden k\u00f6nnen, so m\u00fcssen wir auch die letztere als eine Undulation auffassen\u00ab ; \u2014 und damit soll die mechanische Erkl\u00e4rung geleistet sein.\nDie Plastidulperigcnesis ist ein Product der Naturphilosophie und als solches so gut wie jedes andere aus der gleichen Quelle erflosseno Product. Ihr Fehler wie bei jeder naturphilosophischen Lehre ist der, dass sie ihre Ahnungen ais Thatsachen ausgibt und f\u00fcr diesell>en unpassende naturwissenschaftliche Bezeichnungen braucht und in unberechtigter Weise naturwissenschaftliche Bedeutung in Anspruch nimmt.\nIch habe den Hypothesen der Pangenesis und \u00ab1er Plastidul-perigenesis eine einl\u00e4sslichere Besprechung gewidmet, weil durch dieselbe am testen die Noth Wendigkeit der Idioplasmatheorie sich herausstellt. Wenn ein grosser, in zahlreiche Tlieile gegliederter und mit zusammengesetzten Functionen begabter Organismus tei der Fortpflanzung seine ganze Eigenth\u00fcmlichkeit vermittels einer winzigen Partie scheinbar homogener Substanz vererbt, so sind daf\u00fcr \u00fcter-haupt nur zweierlei Erkl\u00e4rungen m\u00f6glich.\nEntweder sind die kleinsten Theilchen der Keimsubstanz i:i Folge tesomlerer und \u00fcbernat\u00fcrlicher Begabung die individuellen Tr\u00e4ger der Eigenschaften des Ganzen und dadurch im Stunde diese Eigenschaften wieder ins Leben zu rufen, \u2014 oder die kleinsten Theilchen sind gew\u00f6hnliche Molek\u00fcle, die bloss mit ihren nat\u00fcrlichen Kr\u00e4ften und Bewegungen ausgestattet sind und \u00ablie einen speciflsehen Organismus nur dadurch hervorzuhringen verm\u00f6gen, dass sie der Entwicklung desselben durch ihre tesondere Zusammenordnung mit Nothwendigkeit eine eigent\u00fcmliche Bahn anweisen.\nOie erstcrc Erkl\u00e4rung ist die Folge morphologischer und naturphilosophischer Anschauung. Sie personifieirt wie die Pungencsis-Ilypothese jede einzelne Theileigenschaft in tesonderen mystischen Keimchen, oder wie die Perigenesis-Hypothesc complicirte Functionen in den durch tesondere mystische Bewegungen (und Kr\u00e4fte) ausgezeichneten Molek\u00fclen. Das eine mul das andere f\u00fchrt logisch zu metaphysischen Voraussetzungen.\nV Nagel i. Atehtntiinintrwlehiii","page":81},{"file":"p0082.txt","language":"de","ocr_de":"h Wiopl\u00e2smii uIm Tnljrer der erblichen Aiilniron.\nDio zweite. Erkl\u00e4rung sucht auf dem Boden dor nat\u00fcrlichen Dinge die Entwicklung organisch zu gestalten. Die Idiophwma-Tlioorio macht keinen Anspruch darauf, eine mechanische Erkl\u00e4rung zu guten, denn dazu fehlen noch alle Anhaltspunkte; wohl alicr gestattet sie die einzig m\u00f6gliche Vorstellung, wie die Vererbung und die phylogenetische Ver\u00e4nderung auf nat\u00fcrlichem, somit auf mechanischem Wege erfolgen kann.","page":82},{"file":"p0083.txt","language":"de","ocr_de":"II.\nUrzeugung.\nDie Entstellung des Organischen aus dem Unorganischen ist, in erster Linie nicht eine Frage der Erfahrung und des Ex|>crimonts, sondern eine aus dem Gosotze der Erhaltung von Kraft und Stoff folgende Thatsache. Wenn in der materiellen Welt alles in urs\u00e4chlichem Zusammenh\u00e4nge steht, wenn alle Erscheinungen auf nat\u00fcrlichem Wege vor sich gehen, so m\u00fcssen auch die Organismen, die aus den n\u00e4mlichen Stoffen sieh aulhauen und schliesslich wieder in diesellien Stoffo zerfallen, aus denen die unorganische Natur besteht, in ihren Uranf\u00e4ngen aus unorganischen Verbindungen entspringen. Die Urzeugung leugnen heisst das Wunder verk\u00fcnden.\nSowie die Abk\u00fchlung der fr\u00fcher feurig-heissen Erd\u00f6l \u00bberfl\u00e4cht* his zu der das Lcl>cn gestattenden Temperatur fortgeschritten war, entstanden die ersten Organismen an den die n\u00f6thigen Bedingungen enthaltenden Stellen; und auch sp\u00e4ter und jetzt noch muss Urzeugung \u00fclicrall stattfinden, wo die Verh\u00e4ltnisse die n\u00e4mlichen sind, wie in der Urzeit. Die dagegen vorgebrachten Beoliachtungen und \\ ersuche, welche das Nichteintreten der Urzeugung' ergalten, ln;weisen nichts, da sie nur f\u00fcr liestimmto Annahmen g\u00fcltig sind, f\u00fcr welche die Theorie seihst schon das freiwillige Entstehen als unm\u00f6glich behaupten muss.\nMan hat die Nothwendigkeit der Annahme, dass die ersten Organismen auf der abgek\u00fchlten Erde sich gebildet Indien, durch den Einwurf zur\u00fcckweisen wollen, dass diesellien m\u00f6glicherweise von andern Weltk\u00f6rpcrn hergeflogen kamen. Sie konnten die Reise auf Meteorsteinen machen, und es ist nicht undenkbar, dass in der","page":83},{"file":"p0084.txt","language":"de","ocr_de":"84\nII. Urzeugung.\nVertiefung eines gr\u00f6sseren solchen K\u00f6rpers die Temperatur beim Durcheilen der Erdatmosph\u00e4re nicht so hoch stiege, um die darin Iteiindlichcn Lebewesen oder deren Keime zu zerst\u00f6ren, da dieselben einer trockenen Hitze von ziemlich mehr als 100 (iraden widerstehen. Damit wurde aber, meiner Ansicht nach, nicht die Hauptseh wicrigkcit beseitigt.\nDio grosse Gefahr, welche Organismen auf einer Wanderung von einem Weltk\u00f6rper auf den andern bedroht, l>esteht wohl nicht in extremen Temperaturen, seihst nicht in der grossen K\u00e4lte des Weltraumes, obgleich wir \u00fcber die Wirkung der letzteren nichts wissen, sondern in dem vollst\u00e4ndigen Austrocknen, wovor sie im luftleeren Raume nicht bewahrt bleiben k\u00f6nnen. Die widerstandsf\u00e4higsten Organismen, die wir kennen, die Spaltpilze, welche die leuchte Siedhitze ertragen, gehen durch l\u00e4ngeres scharfes Austrocknen zu Grunde, und ich bin \u00fcberzeugt, dass selbst ihre Sporen nach einem nicht sehr langen Aufenthalt in dem Vacuum des Weltraumes, wo sie ihren Wassergehalt vollst\u00e4ndig verlieren w\u00fcrden, leblos auf \u00ab1er Erde anlangten. Es ist daher, wenn cs nicht noch andere, mit anderen Eigenschaften l>egabte, niedere Organismen, als die uns bekannten, gibt, keine Hoffnung, dass ein Wcltk\u00f6rper den andern mit organischem Leben l>esame, aber auch keine Gefahr, dass einer den anderen mit den (in Spaltpilzen bestehenden) Keimen seiner Infectionskrankheiten anstecke.\nSollte aljer gleichwohl die organische Welt unserer Erde aus dem Weltr\u00e4ume eingewandert sein, so w\u00e4re damit die Nothwendigkcit der Annahme einer spontanen Entstehung nicht beseitigt, sondern nur in andere Zeiten und R\u00e4ume verlegt. Die Frage aber, ob das organische lieben von Ewigkeit her von der unorganischen Natur gesondert sein konnte, ist wie etwa diejenige \u00fcber die Ewigkeit des Kohlenstoffs transcendenter Natur und daher nicht besprechbar. Was wir sicher wissen, \u2014 dass das Unorganische in den Organismen zu organischer Substanz wird und dass die organische Substanz wieder vollst\u00e4ndig in unorganische Verbindungen sich zur\u00fcckverwandelt, \u2014 gen\u00fcgt, um verm\u00f6ge des Causalgesctzes die spontane Entstehung der organischen Natur aus der unorganischen abzuleiten.\nMit H\u00fclfe dessen, was uns \u00fcber das Leben und die Entwicke-lungsgesetzc der Organismen lx\u00bbkannt ist, k\u00f6nnen wir die Urzeugung auf gewisse Formen ljcschr\u00e4nkcn, indem wir darthun, dass sie bei","page":84},{"file":"p0085.txt","language":"de","ocr_de":"II. Unsi'UKunp-\n*5\n\u00ablcu \u00fcbrigen unm\u00f6glich ist. Zu den physiologischen Bedingungen \u00abi li\u00f6rt, duss \u00ab1er entstehende Organismus existenzf\u00e4hig sei, d. h. dass er von der ihm dargelx>tenen unorganischen Nahrung lelxm k\u00f6nne. Da nur die gr\u00fcnen Pflanzen diese Bedingung erf\u00fcllen, da \u00ablie Pilze und die Tliiere von den unver\u00e4nderten oder sich zersetzenden Stoffen leben, welche jene gebildet haben, so hulje ich fr\u00fcher angenommen, die sjxmtan entstehenden Wesen m\u00fcssten Chlorophyll oder einen Acmandten Farbstoff enthalten, um Kohlens\u00e4ure und Ammoniak als Nahrung verwenden zu k\u00f6nnen *). Die Erfahrungen, welche sei klein \u00fcW Ern\u00e4hrung der niederen Pilze von mir*) und Anderen gemacht wurden und welche zeigten, dass f\u00fcr dieselben eine einfachere Stickstoffkohlenstoffverbindung oder Ammoniak mit einer organischen S\u00e4ure ausreicht, haben jono Meinung ersch\u00fcttert. Es kann also auch ein farbloser Organismus, wenn er diese Stoffe dauernd vorfand, die organische Welt begonnen Italien.\nEine andere sowohl physiologische als morphologische Bedingung l\u00fcr die Urzeugung ist die, dass das entstehende Wesen sich nicht in einem Zustande befindet, welcher die vorhergehende Th\u00e4tigkeit eines anderen leitenden Wesens voraussetzt. Es k\u00f6nnen daher keine mehrzelligen Organismen als solche urspr\u00fcnglich entstehen, denn diese entwickeln sich naturgem\u00e4ss aus einzelligen Keimen. Auch diese einzelligen Koime mehrzelliger Wesen k\u00f6nnen sich nicht sjiontan bilden, denn sie sind von ihren Eltern mit organischen N\u00e4hrstoffen ausgestattet, und ferner sind sie mit R\u00fccksicht auf eine lxreits du'chgef\u00fchrte, wenn auch noch wenig weit reichende Arlieits-thcilung angelegt. Aus dem n\u00e4mlichen Grunde ist auch die grosse Mehrzahl dor zeitlebens im einzelligen Zustande verharrenden Organismen von der Urzeugung auszuschliessen.\nWir k\u00f6nnen \u00fcberhaupt als Bedingung aussprechen, dass \u00abhu\u00bb spontan entstehende Wesen noch vollkommen einfach und ohne Differenzirung sei, dass keinerlei Theilung der Verrichtungen bestehe, dass es nicht verschiedene Zust\u00e4nde durchlaufe, dass also in seinem Idioplasmu noch keine Anlagen vorhanden seien, denn diese sind\n') Kiitstclmujr mul Ihvriff dur naturhistorisulu-u Art. IH\u00e4ft.\n*) hrnillirui\u00bb; \u00ab1er iiu-dorun l\u2019ilxu durch Kohlcnsteff- und Stickstnffvurliindunm\u201c\u00bb (I iiturHuchungun \u00e4lter niwlor\u00ab l\u2019ilw \u00bbuh dum ptlunruniihysiol\u00ab fischen Institut in M\u00fcnchen. 1882)","page":85},{"file":"p0086.txt","language":"de","ocr_de":"86\nII. Urzeugung.\ndiw Product physiologischer und morphologischer Gliederung, somit das Ergehn iss vorausgehender Arteit.\nWenn ich von diesem Gesichtspunkte aus die Frage aufwerfe, welche Formen der organischen Reiche durch Urzeugung entstehen k\u00f6nnen, so ergibt sich die Antwort, dass keiner der bekannten Organismen dazu f\u00e4hig sein m\u00f6chte. Oie niedersten Pflanzen (Chroo-coceaceen und Schizomyceten) sind schon wegen der Zellmembran, welche den Plasmainhalt umh\u00fcllt, lange nicht einfach genug. Und' was die Moneren betrifft, deren spontune Entstehung von H\u00e4ckel als gewiss angenommen wird, so scheint mir, wie ich sp\u00e4ter zeigen werde, doren geringe Gr\u00f6sse und ausgebildete Bewegung auf einen l\u00e4ngeren vorausgehenden phylogenetischen Entwickelungsprocess hinzudeuten, aligesehen davon, dass dieselten sicher nicht allein, d. 1\u00bb. ohne die Zersetzungsproducte anderer Organismen, leben k\u00f6nnen.\nOie Wesen, die einer spontanen Entstehung f\u00e4hig sind, kennen wir also noch nicht. Sie m\u00fcssen eine noch einfachere Beschaffenheit haben, als die niedrigsten Organismen, welche uns das Mikro-skop zeigt; darin liegt zugleich auch der Grund, dass sie noch nicht ontdeckt sind. Je einfacher die Organismen, um so kleiner sind sie auch. Da nun die Gr\u00f6sse der bekannten niedrigsten Pflanzen und Tliicre schon an der Grenze der Sichtbarkeit sich befindet und da es so kleine Sjialtpilze gibt, dass sie kaum gesehen und bloss durch ihre zersetzenden Wirkungen sicher erkannt werden, so k\u00f6nnen, wenn es noch einfachere Wesen gibt, dieselben unter der mikroskopisch erkennbaren Gr\u00f6sse sich befinden.\nF\u00fcr derartige Wesen haben alle Versuche \u00fcber Urzeugung keine Beweiskraft. Diese Versuche bestehen immer darin, dass man eine g\u00e4rungs- und f\u00e4ulnissf\u00e4liige Fl\u00fcssigkeit durch Erhitzen von allen lotenden Keimen tefreit, und dann zeigt, dass bei hinreichendem Verschluss keine Zersetzung eintritt. Es ist damit nur bewiesen, dass unter den angewendeten Verh\u00e4ltnissen keine Pilze entstehen! w\u00e4hrend die Bildung von nicht zersetzenden organischen Wesen! die eine geringere \u00ab1er selbst ebenso tetr\u00e4chtliche Gr\u00f6sse haben als die kleinsten Spultpilze, sowie die Bildung von ziemlich grossen,\nalier noch mikroskopischen primordialen Plasmamassen immerhin m\u00f6glich w\u00e4re.\nDa das durch Urzeugung entstehende Woson vollkommen einfach sein muss, so kann es nur ein Tr\u00f6pfchen von homogenem","page":86},{"file":"p0087.txt","language":"de","ocr_de":"U. UnenguiiK.\n87\nPlasma soin, dun bloss aus Albuiniiiaton ohne Beimengung von anderen organischen Verbindungen als den N\u00e4hrstoffen, ohne aussen* hornihildung und ohne innere Gliederung l>estoht und durch \u00ablie unorganischen oder einfachen organischen Vorhindungen, aus denen cs sollet entstanden ist, sich vorgr\u00f6ssert und em\u00fchrt.\nDie Urzeugung setzt also die s)K>ntane Bildung von Alhuininaten voraus. Das Problem, Eiweiss auf synthetischem Wege darzustclleu, ist zwar dor organischen Chemie noch nicht gelungen. Dieser Mangel ist aller um so liegreiflicher, als die k\u00fcnstliche Zusammensetzung der organischen Verbindungen \u00fcberhaupt noch eine so junge Wissenschaft ist und diejenige des so rttthselliaften Eiweissmolek\u00fcls von noch unbekannter Atomformel jedenfalls die schwierigste sein wird.\nWas aber die Entstehung in freier Natur lietrifft, so gibt es keinen Grund, warum dieselbe als unm\u00f6glich oder auch nur als unwahrscheinlich zu bezeichnen w\u00e4re. Der Einwurf, dass spontane Eiwcissbildung nicht beotiaehtet sei, h\u00e4tte nur einigen Werth, wenn zugleich wahrscheinlich gemacht w\u00e4re, dass ihr Vorhandensein nicht verborgen bleiben k\u00f6nnte \u2014 was aber, da aus verschiedenen Gr\u00fcnden eine Beschr\u00e4nkung auf mikroskopische Mengen sehr nahe liegt, nicht zutrifft. Wahrscheinlich geschieht sie nicht in einer freien Wassermasse, sondern in der benetzten oberfl\u00e4chlichen Schicht einer fein por\u00f6sen Substanz (Lehm, Sand), wo die Molecularkr\u00e4fte der festen, fl\u00fcssigen und gasf\u00f6rmigen K\u00f6rper Zusammenwirken. Wie sehr die Fl\u00e4chenkr\u00e4fte eines in sehr feiner Verkeilung befindlichen festen K\u00f6rpers die chemische Umsetzung bef\u00f6rdern k\u00f6nnen, ist ja durch die Beispiele von Platinschwamm und Kohle bekannt. Wahrscheinlich wird ferner die spontane Eiweissbildung durch einen 1)cstiinmtcn W\u00e4rmegrad beg\u00fcnstigt, so dass sie in der Urzeit nach der Abk\u00fchlung der Ei doberfl\u00e4che auf Brutw\u00e4mie an zahlreichen Stellen, in unserer /eit aller wohl noch da und dort in w\u00e4rmeren Klimaten, sowie in \u00ab1er w\u00e4rmeren Jahreszeit k\u00e4lterer Gebiete geschehen kann.\nF\u00fcr die Art und Weise, wie sich Eiweiss spontan bilden k\u00f6nnte, gibt uns seine Entstehung in den Pflanzen aus einfachen Stickstoff-kohlcnstoffverbindungen und aus Verbindungen von Ammoniak mit organischen S\u00e4uren einigen Aufschluss. Der eine oder andere Weg ist denkbar ; in jedem F all wird kohlen saures Ammoniak der Ausgangspunkt der spontanen Bildung sein und einerseits durch Harnstoff","page":87},{"file":"p0088.txt","language":"de","ocr_de":"88\nIL Uraeogunf.\noder cyansaures Ammoniak und weiterhin durch stickstoffhaltige Verbindungen wie Asparagin u. s. w.t anderseits durch weinsaures Ammoniak u. s. w. su eiweissartigen K\u00f6rpern hin\u00fcberf\u00fchren, wie dies auch bei der Ern\u00e4hrung der Pilse der Fall ist\nWenn nun irgendwo Albuminate spontan entstehen, so ist damit von seihet auch AVachsthum und Fortpflansung, also Urseugung gegeben. Das Wachsthum besteht darin, dass swischen den vorhandenen Eiweissmicellen neue sich bilden, und diese Bildung muss unter dem Einfluss der bereits vorhandenen um so eher fortdauern, als de schon ohne diesen Einfluss begonnen hat Die Fortpflansung aber geschieht dadurch, dass die Plasmamasse in.Folge ihres Anwachsens fr\u00fcher oder sp\u00e4ter sum Zerfallen in swei oder mehrere Massen veranlasst wird.\nEine solche Plasmamasse kann der Anfang einer Reihe sein, die su einem Organismus f\u00fchrt Sie selber verdient noch kaum den Namen eines Organismus, denn Wachsthum und Fortpflansung sind noch nicht innerlich geordnet. Die urspr\u00fcnglich entstandenen Eiweiss-micelle haben eine durchaus ungeordnete oder eine von den \u00c4usseren Einfl\u00fcssen bedingte Anlagerung, und die an&nglich swischen dieselben eingelagerten verhalten sich im wesentlichen ebenso. Auch hat die Plasmamasse noch keine bestimmte Gestalt und Gr\u00fcsse und ihr Zerfallen in kleinere Massen hAngt von sufAlligen \u00c4usseren Um-st\u00c4nden ab.\nWachsthum und Fortpflansung gewinnen aber nach und durch innere Verh\u00e4ltnisse mehr Bestimmtheit Da die Zunahme der Substans durch Einlagerung von Micellen unter der moleculAren Einwirkung der bereits vorhandenen geschieht, so muss mit der Zeit wenn auch vielleicht sehr langsam, ein bes\u00fcglicher Einfluss auf ihm gegenseitige Stellung sich geltend machen. Die urspr\u00fcngliche regellose oder von Ausseren UmstAnden bewirkte Anlagerung muss suletst in eine geordnete und Moss von der Natur der Eiweissmicelle bedingte \u00fcbergehen. Und dieses geordnete Wachsthum muss auch beim Zerfallen der sich vergr\u00fcssernden Massen maassgebend mithelfen, also auch eine geordnete Fortpflansung sur Folge haben.\nBezeichnen wir erst diesen Zustand als den eigentlichen, durch Urseugung entstandenen Organismus und die vorausgehenden Zustande als die Einleitung dazu, so gibt es schon eine Mehrsahl von verschiedenartigen spontan gebildeten Organismen. Denn die Bildung","page":88},{"file":"p0089.txt","language":"de","ocr_de":"H. Uneugung.\tgg\nder einleitenden Zust\u00e4nde geschieht unter sehr ungleichen physika-liachen und chemischen Verh\u00e4ltnissen. Ber\u00fccksichtigen wir bloss die leisteten, so ist schon eine last unendliche denkbar, einerseits weil verschiedene unorganische Verbindungen in verschiedenen Combinat!onen in die Plusmamsssen eintreten und auf die sich gestaltende Anordnung ihrer Micelle Rinfln^ aus\u00fcben, anderseits weil die eiweisserseugenden Verbindungen verschiedener Art sein k\u00f6nnen und dieser Umstand sich ebenfalls geltend machen wird. Wir wissen \u00abwar, dass die Em\u00e4hrungseinflOsse die h\u00f6heren Organismen w\u00e4hrend sehr langen Zeitr\u00e4umen nicht bemerkbar xu ver\u00e4ndern verm\u00f6gen, dass sie also keine Macht auf das Idioplasma haben. Aber dieses Idioplasma ist durch erdperiodenlange Ausbildung festgeordnet und zwar mit R\u00fccksicht auf diese verschiedenen Einfl\u00fcsse, w\u00e4hrend in der einleitenden Periode dar Uneugung die bestimmte Ordnung erst gesucht und daher auch von allem mit bestimmt wird, was die molecul\u00e4ren Anziehungen und Bewegungen modificirt. Die organischen Reiche nehmen also ihren Ursprung nicht mit einem einzigen bestimmten Organismus sondern mit vielen, die aber noch wenig von einander abweicben.\nDie Eigenschaften der organisirten Substanz werden bedingt durch die Zusammenordnung der Mioelle und durch die physikalischchemischen Vorg\u00e4nge zwischen denselben. Beide Momente haben Einfluss auf einander. Mit einer ver\u00e4nderten Anordnung der Micelle werden auch die wirksamen Molecularkr\u00e4fte, von denen die chemischen und physikalischen Processe abh\u00e4ngen, andere, und durch die ver\u00e4nderten chemischen und physikalischen Processe wird wiederum die fernere Einlagerung der Micelle, also das Wachsthum und die Structur modificirt. Diese beiden Bedingungen \u00e4ndern sich stetig von dem Beginne des ersten Wesens mit noch ungeordneten Micellen an und f\u00fchren durch eine Reihe von Zust\u00e4nden der einleitenden Periode zu den niedrigsten und einfachsten der uns bekannten Organismen; sie wirken in diesen fort und veranlassen deren Weiterbildung zu h\u00f6heren und complicirteren Organismen.\nDie im vorstehenden entwickelte Ansicht von der Urzeugung weicht von der jetzt herrschenden, namentlich durch H\u00e4ckel vertretenen, wesentlich ab. H\u00e4ckel betrachtet seine Moneren als die einfachst denkbaren Organismen, noch ohne alle nMjpw>n\u00abining( so dass jedes Molek\u00fcl in physiologischer Beziehung gleich dem Ganzen","page":89},{"file":"p0090.txt","language":"de","ocr_de":"90\nII. Urmugui\u00ab.\nsoi. Ich mOchte dagegen die Behauptung aufstellen, und ich glaube boi den Physiologen wohl allgemeine Zustimmung su finden, dass von der Bildung des Eiweissmolek\u00fcls (oder \u00bbPlastidulsc) bis sur Organisation des Moners, welche beiden Vorg\u00e4nge nach Hftckel zusammenfallen, der Abstand in qualitativer Beziehung nicht geringer sondern eher grosser ist als zwischen dem Moner und dem S\u00e4ugethier, wenn auch die phylogenetische Entwicklung dort rascher und in viel weniger Stufen durchlaufen wird als hier. Alle Eigenschaften des S\u00e4ugethieres sind im Moner wenigstens als Andeutungen schon vorhanden, w\u00e4hrend die Eigenschaften des Moners aus dem Eiweiss-moiek\u00fcl erst neu geschaffen werden m\u00fcssen.\nIn der einleitenden Periode, welche zwischen der unorganischen Natur und den uns bekannten niedrigsten Organismen sich befindet, haben wir zwei Stufen zu unterscheiden. Die erste Stufe besteht in der Synthese der Eiweissverbindungen und in der Organisation derselben zu Micellen, mit welcher die primordiale Plasmamasse gegeben ist Die zweite Stufe besteht in der Fortbildung der primordialen Plasmamasse bis zu den uns bekannten einfachsten Organismen. Die Wesen dieser zweiten Stufe.will ich, um einen kurzem Ausdruck zu haben, als Probien bezeichnen, da sie den aus Erfahrung be-kannten Anf\u00e4ngen des Lebens vorausgehen. Eigentlich sind sie selber die ersten Lebewesen, somit Protobien, ein Ausdruck, den ich nicht gebrauchen kann, da der Name Protisten bereits von einer Gruppe sp\u00e4ter auf tretender und h\u00f6her orgauisirter Wesen in Anspruch genommen ist\nWas die erste Stufe der einleitenden Periode betrifft, so werde ich sp\u00e4ter von derselben sprechen und versuchen, die physiologischen Probleme, welche sich an dieselbe kn\u00fcpfen, einigermassen aufzukl\u00e4ren. Vorher will ich, im Anschluss an das Vorhergehende, das Verh\u00e4ltnis zwischen dem Wesen der zweiten Stufe und den eigentlichen Organismen betrachten. In dieser Beziehung mangeln die Anhaltspunkte durchaus nicht, um wenigstens im allgemeinen die Unterschiede zwischen der primordialen Plasmamasse und den niedrigsten bekannten Organismen, den Moneren, Schizomyceten und Chrooooocaceen feststellen zu k\u00f6nnen. Welche von diesen drei Gruppen als die unterste und einfachste in Anspruch zu nehmen sei, l\u00e4sst sich bei der unvollkommenen Kenntniss derselben nicht entscheiden; aber jede derselben hat sich schon sehr weit von dem primordialen, noch vollkommen undifferenzirten Plasma entfernt.","page":90},{"file":"p0091.txt","language":"de","ocr_de":"n. Urzeugung.\n91\nIch will nicht ausf\u00fchren, dass in den bekannten Organismen die Substanz in Ilautschicht und innere Masse geschieden, find dass sie wenigstens aus zwei Formen von Plasma, aus Idioplasma und \u00cbrn\u00e2hrungsplasma bestehen muss, noch auch, dass die Cellulose-membran der niedrigsten Pflanzen schon auf eine gewisse Organisation des Inhaltes hinweist. Dagegen will ich, indem ich mich bloss an die als so einfach erkl\u00e4rten Moneren lialte, auf zwei Erscheinungen hinweisen, welche den grossen Abstand derselben von der primordialen Plasmamasse jedem physiologischen Veret\u00e4ndniss dartliun m\u00fcssen, n\u00e4mlich auf die bestimmte Gr\u00f6sse und Form und auf die Bewegung.\n\u00bbWenn eine einfachste Plastide, ein homogenes Moner, bis zu einer gewissen Gr\u00f6sse herangewachsen ist, so zerteilt der structuring Plassonk\u00f6rper bei fortdauerndem Wachsthum in zwei gleiche H\u00e4lften, weil die Coh\u00e4sion der Plastidule nicht mehr ausreicht, um die ganze Masse zusammenzuhalten.\u00ab Ich f\u00fchre diese Worte H\u00e4ckels an, weil sie zugleich die Veranlassung des Irrthums andeuten, warum er die Moneren trotz bestimmter und geringer Gr\u00f6sse *ln einfach und structurlos erkl\u00e4rt. Derselbe ist offenbar der Ansicht, dass ein structurloser K\u00f6rper wegen der geringeren Coh\u00e4sion der kleinsten Theilchen bei einer bestimmten Gr\u00f6sse zerfalle, w\u00e4hrend ein organi-sirter K\u00f6rper noch Widerstand leisten k\u00f6nne, womit allerdings die That8ache \u00fcbereinstimmt, dass die meisten h\u00f6her organisirten K\u00f6rper auch eine viel betr\u00e4chtlichere Gr\u00f6sse besitzen als die Moneren. Indessen verh\u00e4lt es sich doch in der That auf den allerersten Stufen der Organisation gerade umgekehrt\nEine vollkommen structurlose Masse kann, eben wegen der mangelnden Organisation, nur durch \u00e4ussere Ursachen zerfallen. Structurlos ist Wasser oder eine L\u00f6sung; nehmen wir die Gr\u00f6sse eines kleinen Monere vor der Theilung su 20\"\u201c Durchmesser an, so bleibt ein Tropfen Wasser oder ein Tropfen Eiweissl\u00f6sung, welcher H Millionen mal mehr Masse enth\u00e4lt als jenes Moner, selbst in der Luft noch vollkommen coh\u00e4rent'); und doch ist die Coh\u00e4sion des Monere als unl\u00f6slicher Substanz gewiss betr\u00e4chtlich gr\u00f6sser als die des Wassere oder der Eiweissl\u00f6sung. Verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig grosse Tropfen dieser Fl\u00fcssigkeiten sind vor dem Zerfallen gesch\u00fctzt, weil ihre\n*) Die gr\u00f6ssten Moneren werden von Wsasertropfen im Volumen um das 8U0fache abertroffen.","page":91},{"file":"p0092.txt","language":"de","ocr_de":"92\nH. Urseagung.\nCoh\u00e4sionskraft gr\u00f6sser ist als die entgegenwirkenden \u00e4usseren Kr\u00e4fte (Luftstr\u00f6mungen, Schwerkraft).\nEine structurloee Plasmamasse muss aber in ruhigem Wasser wepn des geringen Unterschiedes im specifischen Gewicht noch weit mehr vor dem Zerfallen gesichert sein als ein Fl\u00fcssigkeitstropfen in der Luftj es ist \u00fcberhaupt gar kein Grund vorhanden, warum sie entgegen dem Beharrungsverm\u00f6gen sich in St\u00fccke theilen sollte. So verh\u00e4lt es sich auch mit dem ersten Stadium der Probien; die primordiale Plasmamasse w\u00e4chst zu unbestimmter Gr\u00f6sse an. Da sie aber etwas schwerer ist als Wasser, so bildet sie einen Ueberzug auf dem Grunde. 8ie befindet sich also in einem \u00e4hnlichen Zustande, wie man ihn im Bathybius gefunden zu haben glaubte; nur w\u00fcrde\ndieser in anderen Eigenschaften \u00fcber das Primordialplasma hinausgehen.\nDamit eine Plasmamasse zerfalle, m\u00fcssen, um mich so auszudr\u00fccken, die centrifugalen Kr\u00e4fte organisirt sein. Es ist unn\u00f6thig, auf die Art und Weise dieser Organisation einzugehen, die nmn gfch \u00fcbrigens, bei dem Vorhandensein von verschiedenen M\u00f6glichkeiten der mechanischen Wirkung, auch verschieden denken kann. So viel bleibt gewiss, dass die Organisation um so weiter fortgeschritten und um so bestimmter sein muss, je kleiner die individuellen Massen werden, da zugleich mit der Gr\u00f6ssenabnahme die Widerstandskraft gegen das Zerfallen zunimmt. Wir sind daher zu der Annahme gen\u00f6thigt, dass das Moner, das zu den kleinsten mikroskopischen Objecten geh\u00f6rt, schon eine ziemlich ausgesprochene Structur d. h. eine bestimmte Anordnung der Micelle wenigstens stellenweise erlangt habe.\nAus der eben angestellten Betrachtung erhalten wir folgende Vorstellung von der Ver\u00e4nderung in den Ur\u00fcssenverh\u00e4ltnissen der Individuen w\u00e4hrend der Entwicklungsgeschichte der ganzen Reiche, i We Primordialen Plasmamassen erlangen eine betr\u00e4chtliche aber ganz | unbestimmte Gr\u00f6sse, weil ihr Zerfallen von zu&lligen \u00e4usseren Ursachen abh\u00e4ngt. Du\u00bb Abk\u00f6mmlinge werden mit der beginnenden und zunehmenden inneren Organisation, weil dieselbe immer mehr die Theilung zu beherrschen und die Cohfision zu \u00fcberwinden vermag, nach und nach kleiner bis zu einem Minimum Von hier an nimmt die Gr\u00f6sse der Individuen wieder stetig zu, weil die wachsende Organisation auch eine stets gr\u00f6ssere Menge Substanz verlangt.","page":92},{"file":"p0093.txt","language":"de","ocr_de":"II. Uraeogung.\n98\nDie einfachsten bekannten Pflanzen und Thiere sind auch die kleinsten; das Minimum der individuellen Gr\u00f6sse d\u00fcrfte aber noch innerhalb des ihnen vorausgehenden Reiches der Probien sich befinden. Es versteht sich, dass die Ver\u00e4nderung der Gr\u00f6sse, wie ich sie geschildert habe, nur im Grossen und Ganzen g\u00fcltig ist, und dass im Einzelnen durch besondere Ursachen viele Ausnahmen von der Regel bedingt werden.\nEine andere ausgezeichnete Eigenschaft, durch die sich das Moner gegen\u00fcber dem primordialen Probium auszeichnot, beruht in seiner Bewegung. Die structurloee Plasmamasse, deren Theilchen ungeordnet, d. h. nach allen Seiten unterschiedslos orientirt sind, kann nur regungslos sein. Mag die Bewegung der Moneren zu Stande kommen, wie sie will, immerhin muss sie ihren Sitz in den kleinsten Theilchen haben und diese k\u00f6nnen nur bei einer bestimmten Orientirung eine bemerkbare Wirkung aus\u00fcben. Ein einzelnes Theilchen vermag nur eine ftusserst geringe Kraft zu entwickeln, und wenn die Theilchen nach verschiedenen Seiten gerichtet sind, so heben sich ihre Wirkungen um so sicherer auf, je gr\u00f6sser ihre Zahl ist\nUm einen Begriff von der Menge der Plasmatheilchen zu geben, die ein Moner zusammensetzt, bemerke ich, dass ein grosses Individuum von 0,6M Durchmesser, wenn die Trockensubstanz bloss zu 10 angesetzt wird, \u00fcber 6000 Billionen Eiweissmolek\u00fcle der jetzigen Chemie (zu 72 C angenommen) und also jedenfalls \u00fcber 100 Billionen Micelle enth\u00e4lt. Bei den allerkleinsten Moneren bel\u00e4uft sich die Zahl dor Micelle in die Millionen. \u2014 Man wird daher unschwer einsehen, dass eine Plasmamasse von gleicher Gr\u00f6sse und gleichem Gewicht, wenn dieselbe structurlos ist und aus ungeordneten Theilchen besteht, der Ortsbewegung und der periodischen Gestalts\u00e4nderung (Contractilit\u00e4t) durchaus ermangelt Auch das kleinste und leichteste sich bewegende Moner muss in der taktischen Anordnung seiner Theilchen schon sehr weit fortgeschritten sein und somit eine lange Ahnenreihe hinter sich haben.\nIn der bisherigen Darstellung habe ich die Urzeugung vorz\u00fcglich mit R\u00fccksicht auf die aus derselben hervorgehenden Organismen betrachtet und gezeigt, dass diese, soweit sie uns bekannt sind, ohne","page":93},{"file":"p0094.txt","language":"de","ocr_de":"94\nII. Uneagung.\nAusnahme verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig schon sehr zusammengesetzt sind und aus viel einfacheren, uns noch unbekannten Anf\u00e4ngen abgeleitet werden m\u00fcssen. Eine andere Aufgabe der Physiologie ist es, diese einfachsten Anf\u00e4nge des Organischen mit der unorganischen Natur zu vergleichen und die Beziehungen zwischen beiden feeizustellen. Aus dieser Untersuchung muss vorz\u00fcglich der Unterschied zwischen unorganisirten und organisirten, ferner zwischen todten und lebenden K\u00f6rpern sich ergeben.\nZu diesem Ende m\u00fcssen wir zuerst einen Blick auf die Gestaltung des Unorganisirten werfen. 'Es kann sich hier nur um feste Gebilde handeln, da der fl\u00fcssige und der gasf\u00f6rmige Zustand, in welchen die Molek\u00fcle getrennt sind und sich durch \u00abm\u00abwier bewegen, keine individuelle Gestaltung der Massen erlauben. Die Ursachen der Ortsbewegungen und gegenseitigen Verschiebungen der Molek\u00fcle im fl\u00fcssigen Zustande sind die W\u00e4rme oder ein L\u00f6sungsmittel. Werden diese Ursachen beseitigt, so legen sich die Molek\u00fcle zu festen Massen an einander. Dieselben sind krystallisirt, wenn die Molecularkr&fte bei der Bildung ungest\u00f6rt wirken k\u00f6nnen; amorph, wenn dabei Storungen eintreten.\nDie ungest\u00f6rte Wirksamkeit der Molecularkr&fte bei der Kry stallisation besteht darin, dass die Molek\u00fcle, indem ihre Bewegungen zur Ruhe gelangen, sich so neben einander anlagem, wie es die st\u00e4rksten Anziehungen verlangen. Der Kiystall beginnt mit einer Gruppe von einigen wenigen Molek\u00fclen; alle folgenden, die hinzutreten, orientiren sich, indem sie die Ortsbewegung verlieren, entr sprechend ihren dynamischen Beziehungen zu den bereits angelagerten Molek\u00fclon. Da nun alle Molek\u00fcle einer Verbindung einander gleich sind, so muss auch die Orientirung, die sie annehmen, stets die n\u00e4mliche bleiben, und der Kry stall muss nach verschiedenen Richtungen des Raumes aus parallelen Schichten und Reihen von Molek\u00fclen bestehen. Es ist daher begreiflich, dass er auch \u00e4usserlich gew\u00f6hnlich von ebenen Fl\u00e4chen und geraden Kanten begrenzt ist.\nDie Krystallmolek\u00fcle lagern sich so nahe aneinander, als es das Gleichgewicht zwischen den gegenseitigen anziehenden und abstossen-den Kr\u00e4ften verlangt. Man bezeichnet dies bildlich als unmittelbare Ber\u00fchrung, da ihre Wirkungssph\u00e4ren aneinander stossen. Es k\u00f6nnen daher in einen fertigen Krystall keine Molek\u00fcle eindringen; derselbe ist f\u00fcr Fl\u00fcssigkeiten und Gase undurchdringlich.","page":94},{"file":"p0095.txt","language":"de","ocr_de":"n. Uneognng.\n95\nDas Wesen des Krystalls, welches in der regelm\u00e4ssigen Anordnung seiner Molek\u00fcle besteht, wird bloss durch die diesen Molek\u00fclen eigonth\u00fcmlichen Kr\u00e4fte bedingt, und ist innerhalb bestimmter Grenzen unabh\u00e4ngig von den \u00e4usseren Einfl\u00fcsson (Temperatur, L\u00f6sungsmittel, Concentration der L\u00f6sung u. s. w.). Die letzteren spielen \u00fcbrigens immer auch eine Rolle bei der Krystallisation, indem sie derselben, soweit es die inneren Kr\u00e4fte erlauben, zu verschiedenartigem Au* druck verhelfen. Sie bedingen die Gr\u00f6sse und die Gestalt der Ain^nen Kry stalle, ferner den Umstand, ob dieselben einzeln auftreten oder mit einander verwachsen, und ob eine feetwerdende Substanz wenige grosse oder viele kleine Krystalle bilde. Geht das Festwerden der Substanz bei hinreichend grosser Beweglichkeit der Molek\u00fcle langsam von Statten, so k\u00f6nnen sich dieselben alle zu einem einzigen Krystalle vereinigen.\nDie chemische Natur einer Substanz, insofern dieselbe l\u00f6slich oder schmelzbar ist, macht keinen Unterschied r\u00fccksichtlich des Zustandekommens der Krystallisation. Die complicirten Kohlenstoffverbindungen (S\u00e4uren, Zucker, Fette etc.) verhalten sich wie die unorganischen Verbindungen und die Elemente. \u2014 Bisweilen legen sich die Molek\u00fcle verschiedener Verbindungen zun\u00e4chst zu Molek\u00fclgruppen (Pleonen1) aneinander. Besonders h\u00e4ufig ist dies bei den sog. Hydraten der Fall, indem Substanzmolek\u00fcle mit Wassermolek\u00fclen Hydropleone bilden. Die Pleone krystallisiren genau so wie die einzelnen Molek\u00fcle.\nJeder krystallartige K\u00f6rper muss vor seiner Bildung sich im fl\u00fcssigen (geschmolzenen oder gel\u00f6sten) Zustande befunden haben. Dies gilt auch von dem Diamant, obgleich der Kohlenstoff gegen\u00fcber den bis jetzt angewendeten Mitteln sich als unschmelzbar nnri unl\u00f6slich erwiesen hat \u2014 Es gibt einige complicate kohlenstoffhaltige Verbindungen, die weder molecular l\u00f6slich noch schmelzbar sind, und von denen man auch nicht vermuthen kann, dass man sie je in diesen Zustand wird versetzen k\u00f6nnen, da sie durch die energischeren L\u00f6sung8- und Schmelzungsmittel zersetzt werden. Zu denselben geh\u00f6ren die Kohlenhydrate mit Ausnahme der Zuckeraiten, die Albuminate, die leimgebenden, elastischen und hornartigen, die muskel- und nervenbildenden Substanzen. Alle diese Verbindungen\n') Theorie der Oftrang. Anmerkung betr. die MotekOlvereinignngen.","page":95},{"file":"p0096.txt","language":"de","ocr_de":"96\nII. UiMogung.\nentstehen leicht aus einfacheren, in Wasser l\u00f6slichen Verbindungen und haben selber eine sehr grosse Verwandtschaft zu Wasser, obgleich sie sich unter keinen Umstanden in w\u00e4ssrigen Fl\u00fcssigkeiten molecular vertheilen lassen.\nAus den Eigenschaften der genannten Verbindungen, \u00ablass sie leicht in w\u00e4ssrigen Losungen sich bilden und zu denselben eine grosse Anziehung besitzen, aber darin molecular unl\u00f6slich sind, geht ein neuer Zustand hervor, welcher als der organisirte, imbibitions-f\u00e4hige oder micell\u00f6se bekannt ist. Um den Vorgang anschaulich zu machen, will ich den ersten Anfang eines St\u00e4rkekorns schildern.\nDie St\u00e4rke entsteht in einer Zellfl\u00fcssigkeit, welche Zucker enth\u00e4lt Von den St\u00e4rkemolek\u00fclen, die sich zuerst bilden, legen sich immer diejenigen, die unmittelbar beisammen liegen, wegen ihrer Unl\u00f6slichkeit an einander an und bilden einen winzigen Krystall-anfang, ein kleines Micell. Da die St\u00e4rke wie der Zucker, aus dem sie entstanden ist, das Wasser energisch anzieht, so umgibt sich jedes Micell mit einer verdichteten H\u00fclle von Wassermolek\u00fclen. Wenn ein St\u00e4rkemolek\u00fcl sich nicht in unmittelbarer N\u00e4he von anderen Molek\u00fclen bildet, an die es sich krystallinisch anlegen kann, so stellt es, indem es von einer Wasserh\u00fclle umschlossen wird, ein einmolek\u00fcliges Micell dar.\nUeber die Wasserh\u00fclle hinaus ist die Anziehung des Micells zur St\u00e4rkesubstanz gr\u00f6sser als zu Wasser; deswegen treten immer einige zun\u00e4chst neben einander entstandene Micelle zusammen und bilden ein festes System, den Anfang eines St\u00e4rkekoms. Die Micelle mit ihren Wasserh\u00fcllen verhalten sich bez\u00fcglich des Gleichgewichte in diesem System analog wie die Molek\u00fcle mit ihren Aethersph\u00e4ren in einem KrystaU oder in einem Micell. Die St\u00e4rkek\u00f6mer sind mit Wasser durchdrungen (imbibirt), indem die Micelle durch Wasserschichten von bestimmter M\u00e4chtigkeit getrennt werden.\nSowie Anf\u00e4nge von St\u00e4rkek\u00f6mem vorhanden sind, geht die St\u00e4rkebildung in ihrem Innern leichter von Statten als bis auf eine gewisse Entfernung von ihrer Oberfl\u00e4che in der umgebenden Zellfl\u00fcssigkeit. Die mittels des Irabibitionswassers fortw\u00e4hrend eindringenden Zuckermolek\u00fcle werden unter dem Einfluss der Molecular-kr\u00e4fte in St\u00e4rkemolek\u00fcle \u00fcbergef\u00fchrt. Dabei kann zweierlei geschehen entweder legen sich die neugebildeten St\u00e4rkemolek\u00fcle an die vor-","page":96},{"file":"p0097.txt","language":"de","ocr_de":"II. Uneognng.\t97\nhandenen Micelle an und vergr\u00f6\u00dfern dieselben, oder eie bilden Anf\u00e4nge von neuen Micellen.\nOb das eine oder andere geschehe, h\u00e4ngt von verschiedenen Umst\u00e4nden ob, wie z. B. von den Bewegungen im Imbibitionswasser, vorz\u00fcglich aber von der Stelle, wo das St\u00e4rkemolek\u00fcl sich bildet Da wo zwei parallele Micellfl\u00e4chen mit ihren Wasserh\u00fcllen an einander stossen, ist kein Raum f\u00fcr eine Neubildung, db ebenfalls ihrer Wasserh\u00fclle bed\u00fcrfte. In den Ecken dagegen, wo wischen 3 oder 4 Micellen ein gr\u00f6sserer Zwischenraum sich befindet, legen sich die entstehenden St\u00e4rkemolek\u00fcle leichter zu einem neuen Miceil zusammen, als dass sie zu den entfernteren Micellober* hin-wandern. Tm allgemeinen kann man vielleicht sagen, dass die St\u00e4rkemolek\u00fcle, die in den Wasserh\u00fcllen der Micelle selbst entstehen, die Micelle vergr\u00f6esern, dass diejenigen dagegen, die ausserhalb der Wasserh\u00fcllen (reap, zwischen denselben) sich bilden, neue Micelle erzeugen. Ferner d\u00fcrfen wir annehmen, dass die grossen Micelle ihre Wasserh\u00fcllen energischer anziehen als die kleinen, dass daher die kleinen Micelle eine st\u00e4rkere Neigung haben, durch Anlagerung neuer Molek\u00fcle zu wachsen, als die grossen, und dass besonders die einmolek\u00fcligen Micelle bald in mehrmolek\u00fclige \u00fcbergehen. Diese Bildungsweise macht die ungeheure Kleinheit und die ungeheure Anzahl der Micelle erkl\u00e4rlich.\nAehnlich wie die St\u00e4rkek\u00f6rner verhalten sich die \u00fcbrigen organi-sirten Substanzen, und wie ich besonders hervorhebe, es gilt, was ich von der Entstehung der St\u00e4rkek\u00f6mer gesagt habe, Punkt f\u00fcr Punkt f\u00fcr die Urzeugung der Plasmamassen. Mag die w\u00e4ssrige L\u00f6sung, in welcher die urspr\u00fcngliche Eiweissbildung vor sich geht, wie immer beschaffen sein, mag die Synthese des Eiweissmolek\u00fcls so oder anders erfolgen und das Molek\u00fcl selbst eine beliebige Zusammensetzung haben, \u2014 es werden die (unl\u00f6slichen) Molek\u00fcle stets sich sofort zu Micellen vereinigen und die Micelle in Menge neben einander entstehen. Jedes Mioeil ist mit einer Wasserh\u00fclle umgeben und viele Micelle stellen zusammen eine mit der w\u00e4ssrigen L\u00f6sung imbibirte kleine Plasmamasse dar, innerhalb welcher die Eiweiss-bildung unter dem Einfluss der daselbst wirksamen Molecularkr\u00e4fte leichter erfolgt als ausserhalb derselben. Die Plasmamasse w\u00e4chst durch Vergr\u00f6sserung ihrer Micelle, vorz\u00fcglich aber durch Einschaltung neuer Micelle zwischen den vorhandenen.\nT. Ktgcll, Atetuunangalehfe.\n7","page":97},{"file":"p0098.txt","language":"de","ocr_de":"98\nU. Ursengong.\nWie das eigentliche Wesen der Krystalle nur durch die Be- -schaffenheit ihrer Molek\u00fcle bestimmt wird, so h\u00e4ngt auch die Entstehung und das Wachsthum der organisirten Substanzen im wesen t-' liehen von den Molecularkr\u00e4ften ab, welche die Vereinigung der Molek\u00fcle zu Micellen und die Zusammenlagerung der Micelle bewirken. Die Urzeugung der Plasmamassen und ihr weiteres Wachsthum ist das Product der dem Eiweissmolek\u00fcl anhaftenden Eigenschaften. Die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse verhalten sich den organisirten Substanzen gegen\u00fcber noch viel ohnm\u00e4chtiger als gegen\u00fcber den Kry stallen, weil bei jenen das Wachsthum in ihrem Innern, bei diesen aber an der Aussenfl\u00e4che stattfindet. So muss die~Gestalt und mehr noch die Structur der frei im Wasser befindlichen primordialen Plasma-mas8en und ihrer n\u00e4chsten Abk\u00f6mmlinge von den \u00e4usseren Umst\u00e4nden ziemlich unabh\u00e4ngig sein, sofern dieselben nicht so grosse Dimensionen erreichen, dass das gr\u00f6ssere specifische Gewicht (im Vergleich mit Wasser) und die Str\u00f6mungen im Wasser die \u00e4ussere Form der weichen Massen zu modificiren verm\u00f6gen.\nUnter Umst\u00e4nden lassen sich die organisirten Substanzen in ihre einzelnen Micelle trennen, welche dann mit der Fl\u00fcssigkeit eine micellare L\u00f6sung darstellen und sich darin wie L\u00f6sungsmolek\u00fcle verhalten, nur mit dem Unterschiede, dass sie wegen ihrer betr\u00e4chtlicheren Gr\u00f6sse mit einer entsprechend geringeren Beweglichkeit begabt sind. Diese L\u00f6sungsmicelle h\u00e4ngen sich leicht in Ketten und andere Verb\u00e4nde zusammen, oder bilden Krystalloide, oder es geht die ganze L\u00f6sung, wenn sie conceutrirter ist, in einen festen Zustand von verschiedener Structur \u00fcber.\nDas Zerfallen einer organisirten Substanz in eine Micellarl\u00f6sung findet dann statt, wenn die Verwandtschaft der Micelle zur Fl\u00fcssigkeit und die Bewegungsursachen so sehr zunehmen, dass die Adh\u00e4sion der Micelle unter einander \u00fcberwunden wird. Sind diese Verh\u00e4ltnisse schon bei der Entstehung der Micelle vorhanden, so bildet sich kein fester organisirter K\u00f6rper, sondern eine Micellarl\u00f6sung, die aber nachher zu einer mehr oder weniger festen Substanz sich umbilden kann. Dies gilt namentlich f\u00fcr die phrma-tischen Substanzen, welche in allen Uebergangsstufen von der vollkommenen Micellarl\u00f6sung bis zum festen K\u00f6rper erzeugt werden.\nDie Albuminatmicelle vereinigen sich unter den verschiedensten Ums* und in der mannigfaltigsten Weise. Sie stellen bald","page":98},{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"II. Urzeugung.\n99\nein gam fl\u00fcssiges, bald ein halbfl\u00fcssiges Plasma, bald ziemlich feste mit Wasser durchdrungene Substanzen dar, deren Micelle bald leicht bald sehr schwer sich wieder loetrennen. So sind die Biweissmicelle einer unendlich verschiedenen Gruppirung und zudem einer grossen Best\u00e4ndigkeit r\u00fccksichtlich der einen Anordnungen und einer grossen Ver\u00e4nderlichkeit bez\u00fcglich anderer Anordnungen f\u00e4hig, und sie besitzen somit, wenn wir noch die leichte und vielfache chemische Umsetzung der Albuminate hinzuf\u00fcgen, alle die Eigenschaften, welche das Plasma f\u00fcr seine mannigfaltigen Aufgaben bef\u00e4higen.\nDie physiologischen Bedingungen der Urzeugung bestehen, wie aus der ganzen bisherigen Betrachtung sich ergibt, darin, dass Eiweiss in einer w\u00e4ssrigen Losung unter Umst\u00e4nden sich bilde, welche die Vereinigung der Micelle zu einem nicht allzu weichen Plasma gestatten, und dass in der L\u00f6sung die M\u00f6glichkeit der Eiweissbildung dauernd gegeben sei, um das Wachsthum des Plasmas zu unterhalten. Treffen diese Voraussetzungen ein, so muss jedes Mal Urzeugung stattfinden.\nWenn man die Bedingungen der Plasmabildung erw\u00e4gt, so erkl\u00e4rt sich das scheinbar gr\u00f6sste R\u00e4thsel, warum in den unz\u00e4hligen F\u00e4llen, in denen Eiweiss unter den verschiedensten Umst\u00e4nden sich in einer w\u00e4ssrigen Fl\u00fcssigkeit befindet, doch nie Organismen zu Stande kommen. Die theoretische Meinung, die ich fr\u00fcher ebenfalls theilte, dass bei Anwesenheit von Eiweiss oder wenigstens von lebendem Eiweiss unter \u00fcbrigens g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden Urzeugung m\u00f6glich sei, ist deshalb unrichtig, weil das Eiweiss nicht in molecularer L\u00f6sung, sondern nur in Form von Micellen vorkommt Die Eiweiss-micelle aber, mit denen wir Versuche anstellen, haben sich in irgend welchen Organen gebildet, und k\u00f6nnen sich nicht so zusammenordnen, wie es n\u00f6thig w\u00e4re, um den wachsthumsf\u00e4higen Keim eines Organismus darzustellen. Nehmen wir selbst den g\u00fcnstigsten Fall an, es verwandle sich ein Keim selbst in eine Micellarl\u00f6sung, so w\u00e4ren zwar alle Bausteine in der n\u00f6thigen Form und Beschaffenheit gegeben, aber sie k\u00f6nnten sich nicht wieder zum Keime reconstruiren. Die Micelle w\u00fcrden sich ebensowenig in die richtige Anordnung zusammenfinden, als die pulverai\u00fcgen Tr\u00fcmmer eines Krystalls, die in einer Fl\u00fcssigkeit von gleichem specifischem Gewicht suspendirt w\u00e4ren, wieder zu einem Krystall zusammentreten k\u00f6nnten.\n7*","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"100\nQ. Uneogtxng.\nAuch Peptonl\u00f6sungen sind unf\u00e4hig, Urzeugung einzuleiten. M\u00f6gen dieselben irgend eine chemische Constitution besitzen, jedenfalls sind es nicht die Molecularl\u00f6sungen der Albuminate. M\u00ab\u00bb kann die letzteren wohl in Peptone spalten; aber dieser Vorgang hat sicher mehr Analogie mit der Spaltung der St\u00e4rke in de* micellar gel\u00f6ste Dextrin, als mit der Spaltung des Dextrins in den molecular gel\u00f6sten Zucker. Die Peptonl\u00f6sungen krystallisiren ebensowenig als die Dextrinl\u00f6sungen. Wenn auch eine Synthese des Dextrins aus Zucker im Bereiche der M\u00f6glichkeit liegt, so erscheint I dagegen die UeberfQhrung des Dextrins in Stftrke und ebenso des I Poptons in Eiweiss als unm\u00f6glich wegen der micellaren Beschaffenheit der Dextrin- und Peptonl\u00f6sungen.\nDie Urzeugung setzt also nicht das Vorhandensein einer ei weissartigen Substanz, sondern die Eiweissbildung voraus. Denn nur wenn das Eiweiss entsteht, k\u00f6nnen die Micelle zu einer ihren Mole-cularkr\u00e4ften entsprechenden Configuration zusammentreten und nur durch fortgesetzte Eiweissbildung k\u00f6nnen sie beim Wachsthum diesen Charakter bewahren.\n[\tAus dem gleichen Grunde ist es unm\u00f6glich, irgend etwas Orga-\nWirtes auf k\u00fcnstlichem Wege darzustellen. Denn alle Organisationen and unter dem Einfluss von micellaren Verh\u00e4ltnissen und mole-- - cularen Kr\u00e4ften entstanden, welche bloss in dem betreffenden Organismus vorhanden sind und sich nicht nachahmen lassen.\nDie n\u00e4mliche Betrachtung gibt uns, wie ich glaube, auch Aufschluss \u00fcber den sonst so r\u00e4thselhaften Unterschied zwischen dem lebenden und todten Zustand einer organisirten Substanz. Man kann das lebende Plasma durch sch\u00e4dliche Einwirkungen verschiedener Art und oft sehr geringer Intensit\u00e4t t\u00f6dten, ohne dass die mikroskopische Untersuchung die kleinste Ver\u00e4nderung an demselben wahrnimmt. Um die merkw\u00fcrdige Erscheinung des Lebens zu erkl\u00e4ren, ist man bis auf das Molek\u00fcl zur\u00fcckgegangen und hat von lebendem und todtem Eiweissmolek\u00fcl gesprochen. Eine solche Aufstellung braucht kaum widerlegt zu werden; denn das Molek\u00fcl ist weder todt noch lebendig; es wirkt immer mit den Kr\u00e4ften seiner Atome und beh\u00e4lt seine Eigent\u00fcmlichkeit, bis die gesteigerten Eingriffe seine Zersetzung oder Umsetzung verursachen. Auch dem Micell k\u00f6nnen wir keine specifische Lebensf\u00e4higkeit zuschreiben. Als feste Vereinigung von Molek\u00fclen bewahrt es entweder seine","page":100},{"file":"p0101.txt","language":"de","ocr_de":"II Uneugong.\n101\nBeschaffenheit, oder es zerfellt unter zerst\u00f6renden Einfl\u00fcssen in St\u00fccke, wohl auch in die einzelnen Molek\u00fcle, gerade so wie ein Krystall.\nAnders verh\u00e4lt es sich mit einer ZnaammAiumlnnng yon Mi* cellen; dieselbe kann durch leichte Verschiebungen ihrer Theile so ver\u00e4ndert werden, dass, obgleich das Aussehen das n\u00e4mliche bleibt, doch die Functionen eine St\u00f6rung erfahren. Wenn auf eine lebende Plasmamasse nachtheilige Einfl\u00fcsse einwirken, so wird die Zusammenordnung der Micelle entweder nur wenig, gleichsam nur innerhalb ihrer Elasticit\u00e4tsgrenzen, verschoben und kann, wenn die Einfl\u00fcsse aufh\u00f6ren, wieder hergestellt werden; in diesem Falle tritt ein vor\u00fcbergehender krankhafter oder scheintodter Zustand ein. Oder die Verschiebung ist so bedeutend, dass sie nicht wieder r\u00fcckg\u00e4ngig gemacht werden kann; dann ist der Tod die Folge derselben. Es versteht sich, dass, um den Tod des Organismus oder eines Organs herbeizuf\u00fchren, nicht alle Micellaranordnungen, sondern nur diejenigen, von denen die normalen Functionen der \u00fcbrigen abh\u00e4ngen, gest\u00f6rt werden m\u00fcssen.\nDas Leben einer Plasmamasse beruht also darin, dass die eigen-th\u00fcmhche Configuration ihrer Structur unangetastet bleibe, und zwar kommt es dabei sicher nur auf die Configuration des idio-plasmatischen Systems an. Erleidet dasselbe eine dauernde Dislocation seiner Theile, so kann es nicht mehr in der normalen Weise auf das Ern\u00e4hrungsplasma einwirken und sich selber vermehren; als nothwendige Folge tritt der Tod ein.","page":101},{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"m.\nUrsachen der Ver\u00e4nderung.\nDie Ursache der Variet\u00e4tenbildung wird von den Systematikern gew\u00f6hnlieh den \u00e4ussem Einfl\u00fcssen des Klimas und der Nahrung, die Ursache der Rassen- und Speciesbildung von der Darwinschen Schule nach Willk\u00fcr, Bed\u00fcrfnis oder Wahrscheinlichkeit l*ild denselben bald inneren Dispositionen und Anst\u00f6ssen zugeschrieben. Nach meinen fr\u00fcheren Untersuchungen musste ich die unmittelbare Wirkung der \u00e4usseren gegen\u00fcber den inneren Ursachen f\u00fcr unmerk-lieh gering halten'). Ich will hier zun\u00e4chst bloss von den klimatischen und Em\u00e4hrung8einfl\u00fcs8en sprechen, die man so h\u00e4ufig im Munde f\u00fchrt und als die Ursachen der Ver\u00e4nderung bezeichnet, ohne sich dar\u00fcber Rechenschaft zu geben, ob . und welche bestimmte Wirkung einer bestimmten Ursache entsprechen k\u00f6nnte. Sp\u00e4ter werde ich unter den \u00e4usseren Einfl\u00fcssen eine Classe von solchen ausscheiden, welche nach meiner Ansicht mit Nothwendigkeit Anpassungsver\u00e4nderungen hervorbringen.\nIn erster Linie ist also hervorzuheben, dass es zweierlei Arten der Ver\u00e4nderung gibt, deren stete Vermengung die vielfachen unrichtigen Urthoile veranlasst Die eine ist vor\u00fcbergehend und w\u00e4hrt nur so lange als die Ursache anli\u00e4lt; die andere ist dauernd und bleibt, nachdem die Ursache aufgeh\u00f6rt zu wirken. Nur die\nletztere ist der Vererbung f\u00e4hig und kommt bei der Abstammung in Betracht.\nDie \u00e4usseren klimatischen und Nahrungseinfl\u00fcsse bewirken als unmittelbare Folge nur vor\u00fcbergehende Ver\u00e4nderungen. Reichliche\n') Sitzung\u00fcber. d. k. bayr. Akad. d. Wim. 18. Nov. 1885.","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"HL Unwehen der Ver\u00e4nderung.\tjQ3\nNahrung kann fett machen, Nahrungsentziehung f\u00fchrt die fr\u00fchere Magerkeit wieder herbei; ein warmer Sommer macht eine Pflanze aromatischer oder ihre Fr\u00fcchte s\u00fcsser, ein darauf folgendes kaltes Jahr bringt Bl\u00e4tter mit weniger Geruch und saure Fr\u00fcchte hervor. Von zwei ganz gleichen Samen erzeugt der eine auf ged\u00fcngtem Humusboden einen grossen, stark verzweigten, vielbl\u00fcthigen Stock mit ansehnlichen Bl\u00e4ttern, der andere auf Sandboden einen kurzen, unverzweigten, einbl\u00fcthigen Stengel mit kleinen Bl\u00e4ttern; die Samen aber der einen oder anderen Pflanze verhalten sich ganz gleich; sie haben von der Ungleichheit ihrer Eltern gar nichts geerbt\nDie \u00e4usseren Ursachen verm\u00f6gen die Eigenschaften, welche sie in dieser Weise unmittelbar hervorbringen, auch nicht dauernd zu machen, wenn sie durch noch so viele Generationen eingewirkt haben. Alpenpflanzen, von denen man annehmen muss, dm\u00bb\u00bb sie von jeher (wenigstens seit der Eiszeit) unter den n\u00e4mlichen Verh\u00e4ltnissen gelebt und die charakteristischen Eigenschaften der Hochgebirgspflanzen besessen haben, verlieren diese Eigenschaften bei der Verpflanzung in die Ebene vollst\u00e4ndig schon im ersten Sommer, wobei es gleichg\u00fcltig ist, ob man sie aus Samen oder ausgegrabenen Stocken erzieht. Statt des fr\u00fcheren gedrungenen unverzweigten Wuchses und der geringen Zahl von Organen sind sie nun in die H\u00f6he geschossen, stark verzweigt und mit zahlreichen Bl\u00e4ttern und Bl\u00fcthen versehen ; und sie behalten die neu erlangten Eigenschaften, so lange sie in der Ebene leben, ohne dass eine neue Ver\u00e4nderung an ihnen bemerkbar w\u00fcrde1). Auch andere Merkmale, welche die Pflanzen durch die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse auf verschiedenen Standorten (im feuchten Schatten, an trockenen sonnigen H\u00e4ngen, auf ungleicher geologischer Unterlage) gewinnen, gehen unter ge\u00e4nderten Einfl\u00fcssen sogleich verloren.\nDiese vor\u00fcbergehenden Eigenschaften bilden die Merkmale der Standortsmodificationen. Dass sie keine Best\u00e4ndigkeit haben, ist \u00fcbrigens begreiflich, weil sie nicht in neuen besonderen Er-\n*) Auf die Frage Darwin's, wer k\u00f6nne behaupten, dass die Zwergpflanxen der Alpen nicht in einigen Fallen auf wenigstens einige Generationen vererbt werden? antworte ich, dass dies niemand geringerer behauptet als der Versuch selbst, welcher selgt, dass nur diejenigen Alpenpflanzen in der Ebene ihre Zwerghaftigkeit beibehalten und oft noch steigern, welche daselbst nicht gedeihen und in Folge mangelhafter Ern\u00e4hrung wieder aussterben. Es gibt bis jetst aber keine solchen, die in der Ebene anf\u00e4nglich klein sind und nachher gr\u00f6sser werden.","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104\nHL Ursachen dar Verftndsrm*.\nscheinungen, sondern nur darin bestehen, dass die n&mliohen Erscheinungen, durch die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse in ungleichem Maaase unterst\u00fctzt, dem entsprechend auch in \u00abngbiohw\tAuftreten,\ndass die n\u00e4mlichen chemischen und Gestaltungsprocesse hier nur wahrend kurzer Zeit und wenig intensiv, dort mit grosserer Energie und wahrend l\u00e4ngerer Zeit Anhalten. \u2014 Die von den ausseren Ur-sachen bewirkten Ver\u00e4nderungen sind den Ver\u00e4nderungen vergleichbar, welche elastische K\u00f6rper innerhalb der Elastidtatsgrenze erleiden; wenn die Spannungen n<\u00abh so oft sich wiederholen oder noch\nlange andanem, lassen sie den K\u00f6rper schliesslich doch unver\u00e4ndert\nSehen wir aus den mitgethe\u00fcten Thatsachen, dass Erscheinungen, welche durch \u00e4ussere Ursachen unmittelbar hervorgebracht werden, nicht best\u00e4ndig sind, so gibt es eine andere Reihe von Erfahrungen, welche uns zeigen, dass ungleiche \u00e4ussere Ern&hrungseinfl\u00fcsee neben diesen unbest\u00e4ndigen auch keine best\u00e4ndigen und oft \u00fcberhaupt keine Ver\u00e4nderungen bewirken. Es gibt Pflanzen, welche seit der Eiszeit an verschiedenen Orten der Erdoberfl\u00e4che und unter sehr verschiedenen Verh\u00e4ltnissen gelebt haben und trotzdem ganz gleich sind, woraus wir schliessen m\u00fcssen, dass dieselben durch die Em\u00e4hrungs-einfl\u00fcsse nicht ver\u00e4ndert wurden. Es k\u00f6nnten hierf\u00fcr viele Beispiele angef\u00fchrt werden; ich will die beiden Alpenrosen unserer Gebirge erw\u00e4hnen, weil es bekanntere Pflanzen sind und weil sich eine pflanzengeographische Theorie an sie kn\u00fcpft\nVon den beiden Arten kommt die eine (Rhododendron ferru-gineum) vorzugsweise auf Urgebirgen und \u00fcberhaupt auf kaUrm-m^ Unterlage, die andere (Rh. hirsutum) auf kalkreichem Boden vor. Man hat die Verschiedenheiten von diesem ungleichen Vorkommen abgeleitet und es w\u00e4re daher denkbar, dass ein langer Aufenthalt unter den einen oder anderen Verh\u00e4ltnissen eine Ver\u00e4nderung bewirken m\u00f6chte. Nun l\u00e4sst sich aber von der rostigen Alpenrose nachweisen, dass sie seit der Eiszeit einerseits auf feuchter Granit-und Gneisunterlage in der N\u00e4he der Gletscher, ebenso auf kalkarmem Boden an den oberitalienischen Seen unter gn\u00abrtanmihamnon und in der N\u00e4he der Weinreben und Feigen, dann aber andrerseits auch auf trockenen sonnigen Kalkfelsen in den Apenninen und auf dem Jura gelebt hat. Trotz dieser langdauer\u00f9den ungleichen Ern\u00e4hrung, welche, wie man meinen sollte, die empfindlichste Seite","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"DI. Ursachen der Verftadenu\u00ab.\t105\nder Pflanze ber\u00fchrte, ist nicht die geringste Ver\u00e4nderung bemerkbar geworden1).\nMan konnte aber r\u00fccksichtlich dieser Pflanzen sowie vieler anderer den Einwurf erheben, dass dieselben nicht im Zustande der Ver\u00e4nderlichkeit sich befinden, vielleicht \u00fcberhaupt verftnderungs-unf\u00e4hig geworden seien. Ich will daher, obgleich diese Theorie nicht ohne weiteres annehmbar ist, noch als Beispiel diejenige Gattung anf\u00fchren, welche unter allen Pflanzen die gr\u00f6sste Ver\u00e4nderlichkeit der Formen zeigt Einzelne Variet\u00e4ten der Gattung Habichtskraut (Hieracium) haben seit der Eiszeit in der alpinen Region der Alpen, der Karpathen, des hohen Nordens, in der Ebene, auf verschiedener geologischer Unterlage gewohnt und sind ganz gleich geblieben, obgleich die von ihnen nach verschiedenen Seiten ausgehenden gleitenden Ueberg\u00e4nge zu andern Formen auf eine geringe Best\u00e4ndigkeit hindeuten mochten.\nEine besondere Kategorie von Beispielen, welche uns das n\u00e4mliche Ergebniss liefern, finden wir in den Schmarotzergewachsen. Ausser einigen Arten von Orobanche und von parasitischen Pilzen ist besonders die Mistel (Viscum) zu nennen, welche aus Gegenden, wo sie von jeher auf Birken, und aus solchen, wo sie auf Apfelb\u00e4umen gelebt hat, ganz gleich aussieht; und wenn die auf Coni-feren vorkommenden Mistelpflanzen in geringen Merkmalen abweichen, so ist es noch sehr fraglich, ob diese Merkmale nicht beim Verpflanzen auf Birken und auf Obstb\u00e4ume sich sofort verlieren und somit als nicht best\u00e4ndig erweisen w\u00fcrden.\nEs ist \u00fcberhaupt eine ganz allgemeine Erscheinung, dass einerseits ganz die gleichen Variet\u00e4ten auf verschiedenen Standorten und unter sehr ungleichen \u00e4usseren Einfl\u00fcssen, andrerseits zwei oder mehrere noch so wenig verschiedene Variet\u00e4ten beisammen auf dem gleichen Standort, also unter gleichen \u00e4usseren Umst\u00e4nden getroffen werden. Daraus liegt der Schluss nahe, dass die unmittelbar wirkenden \u00e4usseren Ursachen in keiner Beziehung zu den best\u00e4ndigen und erblichen Variet\u00e4tsmerkmalen stehen, dass die Ern\u00e4hrungsursachen diese Merkmale weder hervorbringen noch anstilgen k\u00f6nnen. Die viel selteneren F\u00e4lle, wo auf andern Localit\u00e4ten andere Variet\u00e4ten auftreten, beweisen nichts, weil dieses Vorkommen durch die Con-currenz und die gegenseitige Verdr\u00e4ngung geregelt wird.\n*) Sitsungsber. d. k. bayr. Akad. d. WIm. 18. Nov. 1866.","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106\nIIL Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nWir k\u00f6nnen die Frage noch von einem andern Gesichtspunkt aus betrachten. Wenn die Ern\u00e4hrungsursachen, wie ee so h\u00e4ufig dargestellt wird, in bemerkenswerther Weise auf die Organismen einwirken, so muss sich nachweisen lassen, welche Wirkung einer bestimmten Ursache zukommt; es m\u00fcssen bei den Gew\u00e4chsen gewisse Merkmale einem wannen oder kalten, einem trockenen oder feuchten Klima, einem kalkreichen oder kalkarmen, einem viel oder wenig Kieselerde enthaltenden Boden entsprechen. Man hat in der That solche Wirkungen finden wollen, man hat beispielsweise wollige und flockige Behaarungen aus trockenen warmen Standorten, Mangel an Haaren sowie dr\u00fcsige Behaarung aus feuchten und schattigen Wohnpl&tzen abgeleitet Das mag bei gewissen Arten zutreffen, bei andern aber ist gerade dmi Gegentheil der Fall; selbst die gleichen Arten verhalten sich in verschiedenen Gegenden ungleich.\nMit den Formen der so ver\u00e4nderlichen Gattung Hieracium k\u00f6nnte man sowohl die eben angef\u00fchrte als auch die gegenteilige Regel begr\u00fcnden. In S\u00fcddeutschland (M\u00fcnchen), um nur ein Beispiel anzuf\u00fchren, macht man vielfach die Beobachtung, dass von den mit Hieracium silvaticum (murorum) verwandten Formen die dr\u00fcsigen Variet\u00e4ten im Waldschatten, die dr\u00fcsenlosen mit reichlicheren Haaren und Flocken versehenen Variet\u00e4ten dagegen an trockenen sonnigen Abh\u00e4ngen wachsen. Die euganeischen H\u00fcgel in der N\u00e4he von Padua geh\u00f6ren zu den trockensten und heissesten Localit\u00e4ten, wo die betreffenden Hieracien noch wachsen k\u00f6nnen; ich habe dort nur Variet\u00e4ten mit reichlichen Dr\u00fcsen, ohne Haare und mit wenig Flocken gefunden1).\nSo verh\u00e4lt es sich mit allen Eigenschaften, welche man den \u00e4usseren Ursachen zuschreibt Wenn man in dieser Beziehung eine Entdeckung gemacht zu haben glaubt, so kann man sicher sein, in anderen F\u00e4llen das Gegentheil zu finden. Man macht mit den\n\u2018) Dle Scheidung der verschiedenen Variet\u00e4ten nach den Standorten in 8\u00fcd-deutschland r\u00fchrt von der Concnrrens her, welche die gegenseitige Verdr\u00e4ngung bewirkt. Wenn auf den euganeischen Bergen drOaenkwe Variet\u00e4ten verk\u00e4men, so h\u00e4tten sie die dr\u00fcsigen entweder gans verdr\u00e4ngt oder auf einige feuchte und schattige Stellen eingeschr\u00e4nkt. \u2014 Eine Menge anderer F\u00e4lle seigt in gans gleicher Weise, dass die Em\u00e4hrungsursachen keine unmittelbare Wirkung auf die Behaarung aus\u00fcben, wohl aber suweilen durch Verdr\u00e4ngung bestimmter Formen den Schein einer solchen Wirkung hervorbringen.","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"HL Ursachen der Ver\u00e4nderung.\n107\nEinfl\u00fcssen der Aussenwelt auf die Organismen die n\u00e4mliche Erfahrung wie mit den Wetterregeln ; sobald man die Sache kritisch und statistisch verfolgt, so ergeben sich ebenso viele Ausnahmen als Best\u00e4tigungsf\u00e4lle f\u00fcr jede Regel\nWenn die klimatischen und Ern&hrungsursachen auf die Ver\u00e4nderung der Individuen und somit auf die Varietfttenbildung Ein. flues h\u00e4tten, so m\u00fcssten die Pflanzen von bestimmten ausgezeichneten Standorten einen \u00fcbereinstimmenden Charakter r\u00fccksichtlich ihr*\u2019* Variet\u00e4tsmerkmale zeigen, und es m\u00fcssten die Floren eines ausgezeichneten Klimas in ihren Arten und Grattungen etwas Gemeinsames in sich tragen. Das Pflanzenreich widerspricht in allen Beziehungen einer solchen Voraussetzung.\nDie Pflanzengeographen schildern zwar die Physiognomien der verschiedenen Vegetationsgebiete. Aber das Auff\u00e4llige und Unterscheidende besteht nicht etwa in \u00fcbereinstimmenden Merkmalen der Gew\u00e4chse, sondern in dem zuf\u00e4lligen Vorhandensein von grossen baumartigen und massenhaft vertretenen kleineren Pflanzen. Der Charakter einer Vegetation wird nicht dadurch bedingt, dass die \u00e4usseren Verh\u00e4ltnisse den Pflanzen (abgesehen von den Standorts-modificationen) einen besondern Charakter aufpr\u00e4gten, sondern dadurch, dass die Vegetation von bestimmten vorweltlichen Floren abstammt, und ferner dadurch, dass die Concurrenz nur bestimmten Pflanzen und zwar solchen von sehr verschiedenem Gepr\u00e4ge ein genau bemessenes Vorkommen gestattet.\nSchliessen wir aus allen den angef\u00fchrten Beobachtungen nicht mehr als sie wirklich beweisen, so steht Folgendes fest. Alle uns aus Erfahrung bekannten bedeutenden Ver\u00e4nderungen, welche die \u00e4usseren (klimatischen und Em\u00e4hrungs-) Einfl\u00fcsse auf die Organismen aus\u00fcben, treten sogleich in ihrer ganzen St\u00e4rke auf; sie dauern ferner nur solange als die Einwirkung w\u00e4hrt, und gehen schliesslich ganz verloren, indem sie nichts Bleibendes hinterlassen; dies ist selbst dann der Fall, wenn die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse seit der Eiszeit ununterbrochen in gleichem Sinne th\u00e4tig waren. Von irgend einer erblichen Eigenschaft oder von irgend einer Sippe (Rasse, Variet\u00e4t, Species), welche den Em\u00e4hrungsursachen ihr Entstehen verdankten, wissen wir nichts.\nDamit m\u00f6chte ich indess nur die landl\u00e4ufigen unmotivirten Meinungen, betreffend die unmittelbare und ersichtliche Wirkung","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108\nm. Ursachen der Verftndenxnf.\nvon Nahrung und Klima, sur\u00fcckweisen. Die Behauptung liegt mir ferne, dose die \u00e4usseren Ursachen f\u00fcr die Ver\u00e4nderung gleichg\u00fcltig seien und dass sie nicht in irgend einer Weise dabei eine Rollo. \u00fcbernehmen.\nZun\u00e4chst ist, nachdem wir uns die Frage gestellt haben, was die Erfahrung \u00fcber die Wirkung der \u00e4usseren Ursachen ergibt, die Gegenfrage su pr\u00fcfen: Was wissen wir aus Erfahrung \u00fcber die Ver\u00e4nderung durch innere Ursachen? ln dieser Beziehung muss sogleich einger\u00e4umt werden, dass Beobachtung und Versuch ebenso wenig die Entstehung einer Species oder auch nur einer Variet\u00e4t aus inneren Ursachen darthun. An der organischen Welt hu\u00bb* sich ja seit der Eiszeit und sogar seit noch viel l\u00e4ngerer Zeit eine be-merkenswerte Ver\u00e4nderung nicht darthun. Selbst manche Variet\u00e4ten sind nachweisbar in dieser ganzen Periode die n\u00e4mlichen geblieben; und wenn sich, was nicht bezweifelt werden kann, Variet\u00e4ten gebildet haben, so lassen sich die Ursachen ihrer Entstehung auf \u00bbmpiriyhfm Wege nicht nachweisen.\nDie dauernden und erblichen Eigenschaften, von deren Bildung wir empirisch etwas wissen, geh\u00f6ren alle der individuellen Ver\u00e4nderung im Culturzustande und der Rassenbildung an und h\u00e4ngen meistens mit der Kreuzung zusammen. Dieselben r\u00fchren s\u00e4mmtlich, soweit etwas Sicheres dar\u00fcber bekannt ist, von inneren und nie von \u00e4usseren Ursachen her; sie sind immer das Product der Vererbung und stammen von den Eltern oder fr\u00fcheren Vorfahren her.\nWir erkennen dies bestimmt daraus, dass unter den gleichen \u00e4usseren Umst\u00e4nden die Individuen sich ungleich verhalten, auf dem n\u00e4mlichen Gartenbeet von den S\u00e4mlingen einer Mutterpflanze die einen unver\u00e4ndert bleiben, die andern verschiedene Ver\u00e4nderungen zeigen. Die Erdbeere mit einz\u00e4hligen (statt dreiz\u00e4hligen) Bl\u00e4ttern erschien bei einer Aussaat im vorigen Jahrhundert unter vielen anderen S\u00e4mlingen. Aus den zehn Kernen einer Birne erhielt van Mons ebenso viele verschiedene Bimsorten. Die zahlreichen Rassen der Nutz- und Zierpflanzen sind fast alle durch Aussaat und zwar unter den n\u00e4mlichen \u00e4usseren Einfl\u00fcssen entstanden.\nBesonders deutlich aber tritt die ausschliessliche Wirkung der inneren Ursachen dann hervor, wenn an demselben Pflanzenstock die Aeste sich ungleich verhalten. An einem Rosskastanienbaume","page":108},{"file":"p0109.txt","language":"de","ocr_de":"HL Ursachen dar Ver\u00e4nderung.\tjqq\nin Genf trug ein Zweig gef\u00fcllte Bl\u00fcthen; von diesem Zweige stammen durch Vermehrung vermittelst Pfropfreisern die \u00fcber Europa verbreiteten gef\u00fcllten Kastanienbftume. Im botanischen Garten in M\u00fcnchen steht eine Buche mit schmalen geschlitzten Bl\u00e4ttern; ein Ast derselben hat die gew\u00f6hnlichen breiten ungetheilten Platter. Es sind viele solcher Beispiele bekannt; manche Ziergew&chse wurden auf diese Weise gewonnen. Der Vorgang lasst sich nur so erkl\u00e4ren, dass die Zelle oder Zellgruppe, aus welcher der anders geartete Zweig hervorgeht, durch innere Ursachen eigent\u00fcmlich modificirt wird.\nDie Eigenschaften, welche dauernd sind und sich somit vererben, sind in dem Idioplasma enthalten, welches sie von den Eltern auf die Kinder \u00fcbertr\u00e4gt Eine Ursache, welche die Organismen bleibend ver\u00e4ndert, muss das Idioplasma umbilden. Wie ohnm\u00e4chtig in dieser Beziehung die Ern\u00e4hrung, der wirksamste unter den \u00e4usseren Einfl\u00fcssen, gegen\u00fcber den inneren Ursachen ist, ergibt sich am \u00fcberzeugendsten aus den Erscheinungen bei der Fortpflanzung. Auf den Gegensatz zwischen Vererbung und Ern\u00e4hrung hpfo ich schon im Jahre 1856 hingewiesen (\u00bbdie Individualit\u00e4t in der Nature), indem ich sagte, dass nur die erste Keimanlage durch feste (arganisirte) Substanz der Eltern erzeugt werde, und dass dieselbe fortan gem\u00e4ss ihrer Organisation selbst\u00e4ndig und ungest\u00f6rt durch die von der Mutter empfangene, gel\u00f6ste (nicht organisirte) Nahrung sich entwickle.\nBei den Menschen erben die Kinder im allgemeinen gleichviel vom Vater wie von der Mutter. Nach den uns zug\u00e4nglichen Merkmalen zu schliessen, scheinen sie bald von der einen, bald von der andern Seite mehr empfangen zu haben, und sie gleichen in jedem einzelnen Merkmal bald dem Vater, bald der Mutter. Da aber viele Eigenschaften latent bleiben und die wesentliche Erbschaft in der Beschaffenheit des Idioplasmas beruht, so ist eine ziemlich gleiche Betheiligung von v\u00e4terlicher und m\u00fctterlicher Seite im h\u00f6chsten Grade wahrscheinlich. Um jedoch jeder Meinung zu gen\u00fcgen, so w\u00e4hlen wir f\u00fcr unsere Betrachtung ein Kind, welches sowohl in der Jugend als im Alter ganz besonders dem Vater \u00e4hnlich ist, und das von der Mutter nur wenig bekommen zu haben scheint. Jedermann wird in diesem Falle das v\u00e4terliche Erbe dem m\u00fctterlichen mindestens gleich gross, wenn nicht \u00fcberlegen erachten. An die Substanz aber, aus welcher dieses Kind bei der Geburt oder, wenn es von der Mutter gestillt wird, einige Zeit nach der Geburt besteht, hat der","page":109},{"file":"p0110.txt","language":"de","ocr_de":"HO\nID. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nVater nur etwa den hundertbillionsten Theil, die Mutter alles Uebrige geliefert.\nWenn irgend ein Factum Aufschluss \u00fcber das Verhftltniss der inneren Ursachen sur Ern\u00e4hrung zu geben vermag, so ist es dieses. \u2022 H\u00e4tte die Ern\u00e4hrung einen bemerkbaren Einfluss, so m\u00fcsste sie ihn hier beth\u00e4tigen; sie m\u00fcsste sich am wirksamsten in den ersten Stadien des individuellen Lebens erweisen, in welchen sich das Idioplasma stark vermehrt und in welchen sich die in ihm ent, haltenen Anlagen entfalten. Wenn die Mutter aus ihrer eigenen Substanz den Keim auf das Hundertbillionenfache vermehren kann, ohne dem Kind dadurch das geringste Plus von ihren Eigenschaften mitzutl)eilen, wie soll dann die Ern\u00e4hrung sp\u00e4terhin, wenn der Organismus aus dem bildsamen Jugendzustand in den gefestigten erwachsenen Zustand \u00fcbergegangen ist, noch irgend welche erhebliche Wirkung vollbringen k\u00f6nnen?\nWir d\u00fcrfen daher mit gr\u00f6sster Gewissheit behaupten, dn*a die Ern\u00e4hrung, vorausgesetzt dass sie ausreichend ist, in jedem Zustande ziemlich indifferent sich verh\u00e4lt, dass der Vegetarianer bez\u00fcglich aller dauernden Eigenschaften ebenso gesichert ist, wie derjenige, der sich ausschliesslich von Fleisch n\u00e4hrt, und dass auch die Meinung von der vererbenden Wirkung der Ammenmilch nicht mehfcist als ein Ammenm\u00e4hrchen.\nDie n\u00e4mliche Schlussfolgerung, wie f\u00fcr den Menschen, gilt f\u00fcr die geschlechtliche Fortpflanzung aller Organismen. Die Mutter \u00fcbernimmt die ausschliessliche Ern\u00e4hrung in den ersten Lebensstadien entweder unmittelbar, wie bei den S\u00e4ugethieren und den Embryopflanzen (Phanerogamen), oder mittelbar, indem sie den Keim mit Reservenahrung ausstattet, wie bei den eierlegenden Thieren und den Sporenpflanzen. Der aus dem Ei ausschl\u00fcpfende Vogel ist seiner Substanz nach ebensowohl ein Erzeugniss der Mutter, wie das lebendig geborene Kalb. Gleichwohl zeigt sich, wenn ausgepr\u00e4gte individuelle Merkmale bei Thieren und Pflanzen vorhanden sind (wie z. B. ungleiche Farbe oder in einzelnen F\u00e4llen auch ungleiche Behaarung), die v\u00e4terliche und m\u00fctterliche Erbschaft als Durch-schnittsergebni8s ziemlich gleichgross.\nBesonders deu\u00fcich tritt die Regel der gleichen Vererbung bei der Kreuzung verschiedener Sippen (Rassen, Variet\u00e4ten, Arten) hervor. Und gerade hier sollte man, wenn die Ern\u00e4hrung gegen\u00fcber","page":110},{"file":"p0111.txt","language":"de","ocr_de":"m. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\tj j j\n\u00ablen inneren Ursachen etwas vermochte, einen \u00fcberwiegenden Einfluss der Mutter erwarten, weil bei der Kreuzung zwei verschieden geartete Idioplasmen zusammentreten, weil in Folge des daraus hervorgehenden Conflictes das vereinigte Idioplasma f\u00fcr anderweitige Einfl\u00fcsse empf\u00e4nglicher sein muss, und weil es wohl begreiflich w\u00e4re, dass die m\u00fctterliche Ern\u00e4hrung ihrem eigenen Idioplasma den Vorrang sicherte. In der That beweisen ja alle Erfahrungen, dass durch die Kreuzung die Variabilit\u00e4t in den folgenden Generationen gesteigert wird; aber von einem Ueberwiegen der m\u00fctterlichen Erbschaft in fr\u00fcheren oder sp\u00e4teren Generationen tritt nirgends die geringste Spur hervor.\nDie Vererbung bei der geschlechtlichen Fortpflanzung l\u00e4sst nur die eine Erkl\u00e4rung zu, dass die Anlagen bloss durch feste (unl\u00f6sliche), nicht durch gel\u00f6ste Stoffe \u00fcbertragen werden. Bei dem Befruchtungsact vereinigt sich das v\u00e4terliche mit dem m\u00fctterlichen Idioplasma zur idioplasmatischen Anlage des Kindes, wobei die beiderseitigen Antheile quantitativ wohl ziemlich gleich sein und der Ueberschuss der m\u00fctterlicherseits gelieferten Substanz aus indifferentem Em\u00e4hrungsplasma bestehen d\u00fcrfte. Alles, was von diesem Augenblicke an die Mutter zur Ern\u00e4hrung der Keimanlage und des Embryos beitr\u00e4gt, tritt in gel\u00f6ster Form in dieselben \u00abin,\nDass aber die gel\u00f6sten Stoffe sich indifferent verhalten und dm\u00bb\u00ab sie nicht Tr\u00e4ger von bestimmten Eigenschaften sein k\u00f6nnen, geht noth wendig aus dem Umstande hervor, dass das Idioplasma seine Eigenschaften der Anordnung fester Theilchen verdankt und dass die eintretenden gel\u00f6sten Substanzen sich unter dem Einflnaa der bereits vorhandenen festen Theilchen einordnen. Es ist daher f\u00fcr die eigenartige Entwicklung vollkommen gleichg\u00fcltig, woher das Eiweiss, durch welches das Kind w\u00e4chst, stamme, ob von der Mutter, von der Amme, von der Kuhmilch oder vom Kindermehl, wiewohl diese Nahrungsmittel wegen ihrer Mischung mehr oder weniger zu-tr\u00e4glich sein k\u00f6nnen. Wir begreifen daher auch, warum die verschiedenartige Ern\u00e4hrung keinen Einfluss auf die individuelle Ver\u00e4nderung und die Sippenbildung aus\u00fcbt, warum das Pfropfreis auf seiner Unterlage fast immer unver\u00e4ndert bleibt, und warum der Schmarotzer nichts von seinem Ern\u00e4hrer annimmt. Wir k\u00f6nnen andrerseits den Schluss ziehen, dass bei der Befruchtung immer (ungel\u00f6ste) Idioplasmen sich vereinigen und dass der befruchtende","page":111},{"file":"p0112.txt","language":"de","ocr_de":"112\nm. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nStoff niemals in der indifferenten Form der L\u00f6sung (wie so oft f\u00fcr die phanerogamischen Pflanzen angenommen wurde) oindringen kann.\nWenn icli bis jetzt von inneren Ursachen gesprochen habe, so war es in der Meinung, dass etwas Inneres vorhanden sei, ohne welches eine bestimmte Ver\u00e4nderung nicht erfolgen w\u00fcrde. Auch die Darwinsche Schule spricht, wohl in gleichem Sinne, hin und wieder von inneren Ursachen. Ein Gegner der Abstammungslehre entgegnet\u00ab hierauf, die inneren Ursachen seien logisch erschlichen. Ich will zun\u00e4chst nicht im Namen der Logik, sondern mit einem Beispiel antworten und an dasselbe die weiteren Bemerkungen \u00fcber die Wirkung der inneren Ursachen ankn\u00fcpfen.\nDer Inhalt des H\u00fchnereis verwandelt sich im Br\u00fctkasten innerhalb drei Wochen in ein K\u00fcchlein. Was ist die Ursache dieser Ver\u00e4nderung? Gewiss nicht die W\u00e4rme, obgleich dieselbe eine nothwendige Bedingung ist, wie jeder chemische Process nur innerhalb gewisser Temperaturgrenzen stattfindet Ein paar Grade mehr oder weniger als Br\u00fctw\u00e4rme w\u00fcrden die Entwicklung des Keims verhindern; der Inhalt des zerschlagenen Eies aber w\u00fcrde bei Br\u00fctw\u00e4rme in F\u00e4ulniss \u00fcbergehen und bei h\u00f6herer Temperatur im besten Fall zum Eierkuchen werden. Ob w\u00e4hrend der Br\u00fctzeit von dem Ei etwas W\u00e4rme aufgenommen oder abgegeben wird, ist f\u00fcr die Beurteilung der Ursachen gleichg\u00fcltig. Das K\u00fcchlein, das bereit ist, aus der Schale auszuschl\u00fcpfen, wird nahezu die n\u00e4mliche Ver-brennungsw\u00e4rme geben wie der Inhalt des unbebr\u00fcteten Eies; eine nennenswerte Vermehrung oder Verminderung der Kraftsumme hat w\u00e4hrend der Entwicklung nicht stattgefunden.\nNiemand wird bestreiten wollen, dass im Ei der ganze Um-wandlungsprocess durch innere Ursachen erfolgt Derselbe beginnt, wenn die Br\u00fctw\u00e4rme die Keimanlage erreicht, und dann folgen die Entwicklungsstadien regelm\u00e4ssig auf einander, indem jedsa mit mechanischer Notwendigkeit aus dem n\u00e4chst fr\u00fcheren hervorgeht Wenn aber innerhalb der Eischale durch innere Ursachen aus einem I lasmatr\u00f6pfchen sich ein Vogel entwickeln kann, warum sollten nicht in ganz analogen Entwicklungsprocessen innere Ursachen aus einem Urplasmatr\u00f6pfchen durch eine Reihe von Organismen ebenfalls ein organisirtes Wesen zu Stande bringen k\u00f6nnen?","page":112},{"file":"p0113.txt","language":"de","ocr_de":"III. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\tj jg\nAllerdings besteht ein Unterschied zwischen beiden F&llen; das 1 lusnmtr\u00fcpfchen des Lies stammt von einem Vogel und enth\u00e4lt all\u00ab dauernden Eigenschaften desselben als Anlagen; das Urplasma-tr\u00f6pfchen dagegen besitzt noch gar keine Anlagen, sondern nur die F\u00e4higkeit, solche zu erlangen. Dieser Unterschied macht aber f\u00fcr die Logik oder vielmehr f\u00fcr die Mechanik, welche hier im Spiele ist, nichts aus. Das Hauptgewicht beruht darin, dass in der Keimanlage eine eigent\u00fcmliche Beschaffenheit der Substanz gegeben ist, welche uurch Einlagerung neuer Substanz w\u00e4chst und sich dabei ver\u00e4ndert, und dass eine Ver\u00e4nderung die andere mit Notwendigkeit abl\u00f6st, bis der Vogel fertig ist. In dem Urplasmatr\u00f6pfchen des ersten Wesens ist ebenfalls eine bestimmte, nur viel einfachere Beschaffenheit der Substanz vorhanden, welche dadurch, dass sie sich ver\u00e4ndert, fernere Ver\u00e4nderungen bedingt und somit notwendig r.nm Ausgangspunkt einer ganzen Rete von verschiedenen Organisationen wird.\nUm ein Bild zu gebrauchen, so ist die letztgenannte oder die phylogenetische Ver\u00e4nderungsbewegung in einer Abetammungslinie zu vergleichen der Fortpflanzung eines Lichtstrahles, w\u00e4hrend die ontogenetischen Ver\u00e4nderungsbewegungen der Individuen denSchwin-gungen der einzelnen Aetertheilchen entsprechen. Der Unterschied ist der, dass der Lichtstrahl auf seinem Wege und ebenso seine Elemente, die Aetherschwingungen, die n\u00e4mlichen bleiben, dass dagegen die phylogenetische Bewegung in einer steten Ver\u00e4nderung nach einem bestimmten Ziele besteht, und dass in entsprechendem Maasse auch die Tr\u00e4ger derselben, die Individuen, sich ver\u00e4ndern.\nWenn der Anh\u00e4nger der unver\u00e4nderlichen Arten die Ver\u00e4nderung in jeder Organisationsstufe auf einen bestimmten Kreis beschr\u00e4nkt, so ist dies eine Glaubenssache und wenig \u00fcbereinstimmend mit der Logik. Denn wenn einmal Ver\u00e4nderung innerhalb der Species besteht (was unbestritten ist), so kann nach mechanischen Principien, wenn der Zustand a den Zustand b hervorbrachte, der Zustand b nicht abermals den Zustand 6 oder gar a hervorbringen, sondern nur einen folgenden Zustand der Reihe, also c, und so weiter ins Unendliche. Es muss daher von dem Idioplasma eines Organismus zu dem seines Kindes ein gewisser Fortschritt stattfinden; es kann die individuelle Entwicklung mit dem Keim, den sie bildet, nicht genau auf den n\u00e4mlichen Punkt zur\u00fcckkehren, von dem sie selber ausgegangen ist. W\u00fcrde dies einmal geschehen, so m\u00fcsste gem\u00e4ss\nT. N\u00e4geli, AbaUmmungtlehre.\ta","page":113},{"file":"p0114.txt","language":"de","ocr_de":"114\nm. Ursachen dar Vsrtadsnug.\n\u00ablern Tr\u00e4gheitsgesetze die Entwicklungsbewegung immer wieder auf denselben Punkt \u00aburttckgehen, und eine Ver\u00e4nderung w\u00abre euch innerhalb der Species unm\u00f6glich.\nIm Ei bildet \u00abich der Embryo an\u00ab, indem er die Masse auf nimmt und \u00abssimilirt. Dirne liefert ihm Stoff und Kraft, aber das eigentliche Agens, welche\u00ab die Bewegung veranlasst und ihr die specifische Sichtung ertheUt, ist die Keim.al.y. ihren aufeinanderfolgenden ZusUtnden. Ebern\u00bb verhalt es \u00abich mit dem pflanzlichen und thierischen Embryo, der \u00abich im Mutterleib ent-wickelt, und mH dem einzelligen Pflanzenkeim, der auf feuchter Erde keimt und wachst, nur dass erstamr die Lebensbedingungen aus der Mutter, letzterer aus der unorganischen Natur h~i.h<\nBei aUen Organisa\u00fconsvertaderungen ist das Idioplasma das Maassgebende, wahrend ihm die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse, besonders in der Nahrung, den Stof! und die Kraft liefern. Die Wirkung des Idio-plasmas wird nicht ver\u00e4ndert, mag die Nahrung sammt den \u00fcbrigen Umstanden so oder anders beschaffen son, wie eine Maschine im\u00bb., die gleiche Arbeit verrichtet, ob sie durch Wasser, Wind oder n.mpr durch ein fallendes Gewicht, eine gespannte Feder oder durch thiensche Kraft in Bewegung gesetzt wird. Das Idioplasma lenkt die complicirte Entwicklungsmaschine j es ist zugleich ihr kunstvoll construirtes R\u00e4derwerk.\nDas Charakteristische in der Entwicklung der Organismen tritt uns noch deutlicher entgegen, wenn wir sie mit dem Wachsthum es Krystalls vergleichen. Der letztere vergr\u00f6\u00dfert sich in der Mutterlauge nach den seiner Substanz eigenth\u00fcmlichen Krystallisations-gceetzeii (vgl. S. W); die bereits im festen Zustande angelagerten kleinsten Theilchen ziehen die gleichartigen Molek\u00fcle der Losung an und veranlassen deren Anlagerung \u00fcbereinstimmend mit der bereits bestehenden Ordnung. In analoger Weise wird durch die bereits vorhandene Anordnung der Idioplasmamicelle die eigenartige Einlagerung der aus der N\u00e4hrfl\u00fcssigkeit sich neubildenden Micelle bedingt, ^sr Unterschied ist nur der, dass beim Krystall wegen dessen Undurchdringlichkeit die Molek\u00fcle an der Oberfl\u00e4che sich anlagern, m dem von der N\u00e4hrfl\u00fcssigkeit durchdrungenen Idio-plasma aber die Molek\u00fcle theil, zur VergrOeserung der schon vorhandenen, besonders aber zur Bildung von neuen MiceUen verwendet werden, welche zwischen jene sich einordnen.","page":114},{"file":"p0115.txt","language":"de","ocr_de":"HI. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\tj\nBei einer Anlagerung der Molek\u00fcle auf der Oberfl\u00e4che des Krystalls ist eine vollkommen gleichbleibende Stellung derselben m\u00f6glich und nothwendig; bei einer Einlagerung von Micellen oder krystallinischen Molek\u00fclgruppen aber, die ihrer Natur nach, wm die verschiedenen Krystalle in der n\u00e4mlichen Mutterlauge, ungleich gross und ungleich gestaltet und \u00fcbeidem auch chemisch ungleich beschaffen sind, ist die Beibehaltung einer vollkommen gleichen Anordnung unm\u00f6glich, und es muss daher sowohl bei der Entwicklung des Individuums als bei der Entwicklung der St\u00e4mme das sich vermehrende Idioplasma, wenn auch noch so wenig, doch stetig seine Beschaffenheit ver\u00e4ndern.\nBeim Wachsthum des Krystalls besteht die Beharrung darin, dass die neu angelagerte Substanz vollkommen die n\u00e4mliche Be-schaffenheit hat wie die schon vorhandene, indem die letzten Schichten an der Oberfl\u00e4che genau den ersten Schichten im Innern entsprechen. Die Ursache davon ist die strenge Regelm\u00e4ssigkeit in der Anordnung der kleinsten Theilchen (Molek\u00fcle), welche eine gleiche strenge Regelm\u00e4ssigkeit in den neu sich ansetzenden Schichten bedingt. Beim Wachsthum des Idioplasmas besteht die Beharrung in einer steten Ver\u00e4nderung. Die Bedingung daf\u00fcr, dass auch hier die wachsende Substanz die gleichen Eigenschaften behielte, w\u00e4re eine vollkommen regelm\u00e4ssige Anordnung der kleinsten Theilchen (Micelle), in welcher die neuen Micelle mit gleicher Regelm\u00e4ssigkeit sich einordnen k\u00f6nnten ; und diese regelm\u00e4ssige Anordnung w\u00e4re nur dadurch zu erf\u00fcllen, dass die Micelle unter sich gleiche Qr\u00f6sse, Gestalt und chemische Beschaffenheit h\u00e4tten, dass sie wie die Molek\u00fcle eines Krystalls nach drei Richtungen des Raumes in parallelen Schichten gelagert w\u00e4ren und dass die Einlagerung der neuen Mioelle auf allen Punkten in gleicher Weise erfolgte. Thats\u00e4chlich ist diese Bedingung nirgends erf\u00fcllt, mit Ausschluss der Protelnkrystalloide, die aber nicht zum Idioplasma geh\u00f6ren.\nDas Plasma, aus dem sich die Zellen gestalten und die Organismen hervorgehen, besteht aus ungleichartigen und nicht geometrisch zusammengeordneten Micellen. Da die Einlagerung der neuen Micelle zwischen die schon vorhandenen durch die Natur und Anordnung der letzteren bedingt wird, so kann aus einer nicht geometrischen Configuration bloss wieder eine nicht geometrische aber ungleiche Configuration hervorgehen, auf welche abermals eine","page":115},{"file":"p0116.txt","language":"de","ocr_de":"116\nHl. Ursachen dar Verladern\u00ab.\nander\u00ab Zusammenordnung folgen muss. W\u00e4hrend also die mechanische Beharrung beim Wachsthum des Krystalls das Ausbleiben einer Ver\u00e4nderung bedingt, so verursacht sie beim Wachsthura des Idioplasmas dessen stete Ver\u00e4nderung.\nDie Lagerung der Micelle in dem durch (Jraeugung entstandenen primordialen Plasma ist ganx ungeordnet, wie dieselben eben durch die \u00e4usseren Umst\u00e4nde zuf\u00e4llig zusammenkamen. Mit dem Wachsthum durch Einlagerung von Micellen beginnt die Ver\u00e4nderung durch innere Ursachen. Die Micelle ordnen sich in Gruppen, deren Configuration mehr und mehr durch ihre eigene Natur bedingt ist und die nothwendig zu immer grosseren, aus zahlreicheren und mannigfaltiger geordneten Schaaren bestehenden Micellgruppen fahren m\u00fcssen. Dies ist die Vervollkommnung oder die Steigerung der Zusammensetzung im Idioplasma durch innere Ursachen.\nVerschiedene \u00e4ussere Verh\u00e4ltnisse haben Einfluss auf die Gr\u00f6sse, Gestalt und die Verwachsungen der Kry stalle, indesa das Wesend liehe, die eigenartige Anordnung der kleinsten Theilchen, immer dieselbe bleibt bei der n\u00e4mlichen Substanz. Ebenso muss das eigent\u00fcmliche Verhalten des Idioplasmas in gewissen wesentlichen Eigenschaften, n\u00e4mlich in den Grundz\u00fcgen der Organisation von seiner eigenen Beschaffenheit vorgezeichnet sein, w\u00e4hrend sie in andern Beziehungen durch die \u00e4usseren Ursachen modificiert wird. Ich werde nachher von der Wirkung der letzteren sprechen.\nWie aus dem Vorstehenden sich ergibt, sind die inneren Ursachen, welche die stete Ver\u00e4nderung des Idioplasmas und zwar im Sinne einer mannigfaltigeren Gliederung desselben und dem entsprechend auch die stete Ver\u00e4nderung der Organismen im Sinne einer zusammengesetzteren Organisation und Function bedingen, nichts anderes aIs die der Substanz anhaftenden Molecularkr\u00e4fte! Diese inneren Ursachen, die von den Anh\u00e4ngern der Abstammungslehre im Sinne Darwin\u2019s und auch von den Gegnern derselben aU unlogisch und als mystisch missachtet und verspottet wurden, beruhen auf jenen unscheinbaren aber unwiderstehlichen Wirkungen der kleinsten Theilchen, welche von der morphologischen und der naturphilosophischen Anschauung in Descendenzsachen zwar im Allgemeinen als dunkles Mysterium anerkannt, sonst aber von ihr so","page":116},{"file":"p0117.txt","language":"de","ocr_de":"117\nm. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\ngut wie f\u00fcr nichts gehalten werden, und die gleichwohl in so sicht barer und f\u00fchlbarer Weise die Welt regieren.\nWir k\u00f6nnen uns die Wirkungen der inneren Ursachen am besten deutlich machen, wenn wir f\u00fcr einen Augenblick annehmen, dass die \u00e4usseren Ursachen, welche erbliche Ver\u00e4nderungen bedingen, gar nicht existiren. Dann w\u00fcrde das spontan Plasma bloss in indifferenter Weise ern\u00e4hrt, indem die Aussenwelt ihm nur die chemischen Verbindungen lieferte, aus denen es die neuen Eiweissmicelle f\u00fcr sein Wachsthum erzeugte.\nUnter dieser Voraussetzung geht, sowie auf der unorganischen Unterlage sich etwas primordiales Plasma gebildet hat, die Bildung der Micelle im Innern desselben unter dem Einfluss seiner Molecular-kr\u00e4fte leichter von Statten als ausserhalb. Es h\u00f6rt daher die Substanzbildung in der n\u00e4chsten Umgebung der bereits vorhandenen Massen ganz auf, indem die eindringende N\u00e4hrl\u00f6sung schon bei einer geringeren Concentration Eiweiss bildet, als sie es ohne den Einfluss der Micelle ausserhalb zu thun vermag.\nFerner, da die urspr\u00fcngliche Lagerung der Micelle in der spontan entstehenden Substanz ungeordnet ist, und da die von nun an im Innern der Substanz sich bildenden Micelle sich so einlagern, wie es die Molecularkr\u00e4fte der vorhandenen Micelle verlangen, so \u00e4ndert sich nothwendig die Anordnung, und die ver\u00e4nderte Anordnung bedingt auch wieder eine Ver\u00e4nderung der Molecularkr\u00e4fte, welche eine abermalige Modification in der Anlagerung verursachen u. s. f. So erzeugt in nicht endender Folge die neue Configuration der Theilchen neue Combinationen von Kr\u00e4ften, und die neuen Kr\u00e4fte-Combinationen wieder eine neue Configuration der Theilchen. \u2014 Aber nicht nur die Zusammenordnung der Micelle wird stetig ge\u00e4ndert, sondern auch ihre Beschaffenheit Denn die unter dem Einfluss anderer Molecularkr\u00e4fte rieh bildenden Micelle m\u00fcssen nothwendig in den Mengenverh\u00e4ltnissen und in der Iagerung ihrer Bestandteile (Eiweissmolek\u00fcle und fremdartige organische und unorganische Verbindungen) und somit auch in ihrer Gr\u00f6sse und Gestalt etwas anders au8fallen.\nDies Alles m\u00fcsste erfolgen, auch wenn die \u00e4usseren Einwirkungen keine dauernden und erblichen Ver\u00e4nderungen hervorbr\u00e4chten. Die wachsende organische Substanz, in der fortw\u00e4hrend die ver\u00e4nderte Wirkung zur Ursache einer neuen Wirkung wird, stell*; also nicht","page":117},{"file":"p0118.txt","language":"de","ocr_de":"118\nHI. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nbloes ein perpetuum mobile dar, insofern der Substanz ohne Ende Kraft und Stoff von aussen geboten wird, sondern auch durch innere Ursachen ein perpetuum variabile. Durch die inneren Ursachen ver\u00e4ndert sich die Substanz der Abk\u00f6mmlinge der Ur-wesen best\u00e4ndig, auch wenn die Generationenreihe eine unendliche Dauer erreichte.\nDiese Behauptung steht nun im Widerspruch mit den herrschenden Ansichten. Gew\u00f6hnlich wird gelehrt, dass ein Organismus bloes unter dem Einfluss von \u00e4usseren Ursachen sich ver\u00e4ndern k\u00f6nne, und wenn innere Ursachen angenommen oder zugegeben werden, so denkt man sich unter denselben lediglich latente Anlagen, die zur Entfaltung gelangen, also gleichsam Spannungen, die in Bewegung \u00fcbergehen, welche aber fr\u00fcher durch \u00e4ussere Ursachen erzeugt wurden. Damit meint man wohl ein eminent mechanisches Princip ausgesprochen zu haben.\nEs ist aber durchaus keine Forderung der Mechanik, ein System von Stoffen und Kr\u00e4ften nur durch \u00e4ussere Einwirkung ver\u00e4ndert werde. Vielmehr kann sich die Configuration materiellen Systems im allgemeinen stets durch die Wirkung seiner Theile auf einander umwandeln, und bloss die Lage des ganzen Systems oder mit anderen Worten die Lage seines Massencentrums vermag nicht durch innere Kr\u00e4fte verschoben zu werden.\nUnter den in der Natur stattfindenden Processen gibt es einerseits solche, welche in irgend einer Weise kreisf\u00f6rmig verlaufen, so dass das materielle System schliesslich wieder in seinen Anfangszustand zur\u00fcckkehrt, und andrerseits solche, welche die Natur mit Vorliebe in einer bestimmten Richtung erfolgen l\u00e4sst und bei denen ein K\u00f6rper sich nicht in den Anfangszustand zur\u00fcckverwandeln indem, wenn wir die beg\u00fcnstigte Richtung als positiv bezeichnen, die positiven Schritte der Ver\u00e4nderung entweder gr\u00f6sser oder h\u00e4ufiger sind, als die negativen. Im ersten Falle bleibt ein materielles System w\u00e4hrend unbestimmter Zeit im allgemeinen gleich ; im zweiten Falle verwandelt es sich stetig in -der n\u00e4mlichen Weise und sein Verwandlungsinhalt nimmt immm mehr zu.\nIm grossen und ganzen ist die Tendenz zu einer bestimmten Ver\u00e4nderung als zweites Gesetz der mechanischen W\u00e4rmetheorie oder als Gesetz der Entropie von Clausius begr\u00fcndet worden. Das unserer Erfahrung zug\u00e4ngliche Weltall wandelt sich unaufh\u00f6rlich","page":118},{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":"in. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\n119\nin dem n\u00e4mlichen Sinne um und strebt, w\u00e4hrend es strenge dem Gesetz von der Constant der Energie unterworfen bleibt, einem Maximum der Entropie zu.\nBei der Entwicklung der organischen Reiche herrschen ebenfalls die beiden Gesetze der Energie und der Entropie. Die Constanz der Energie regelt die Beziehungen der Organismen zur Aussenwelt, das Gesetz der Entropie weist der phylogenetischen Entwicklung eine bestimmte Richtung an. Die spontane Entstehung der allereinfachsten Wesen aus den Eiweissverbindungen und ihr Fortschritt zu etwas weniger einfachen Wesen zeigt uns, dass unter gewissen Bedingungen die Albuminate die Neigung haben, aus dem ungeordneten Zustand in den einfacher geordneten und aus diesem in complicirtere Zust\u00e4nde \u00fcberzugehen. Es vermehrt sich also in den Abstammungsreihen der Organismen der Verwandlungsinhalt odor die Entropie. Der Umstand, dass die Organismen von aussen Kraft und Stoff aufnehmen, geh\u00fcrt zu den Bedingungen der Erhaltung der Energie und \u00e4ndert nichts an der Bedeutung der entropischen Bewegung. Der andere Umstand, dass auch \u00e4ussere Ursachen als ein zweites Moment auf die Verwandlung der Organismen einwirken, beeintr\u00e4chtigt ebensowenig jene Bedeutung, indem es bloss den Verwandlungsinhalt in den einzelnen Abstammungsreihen modificirt und ihm ein gewisses Gepr\u00e4ge aufdr\u00fcckt\nDas Gesetz der Entropie bew\u00e4hrt sich im Weltall und im organischen Mikrokosmus in der n\u00e4mlichen Weise. W\u00e4hrend die Energie constant bleibt, ver\u00e4ndert sich die Anordnung der materiellen Theil-chen und die Form ihrer Bewegungen stetig nach einem bestimmten Ziele hin. Es besteht zwischen den beiden mit einander verglichenen Systemen nur der Unterschied, dass das unserer Erfahrung bekannte Weltall als abgeschlossen gedacht wird, die phylogenetischen Reihen aber in ihren Ontogenien mit der Aussenwelt in einem ununterbrochenen Kraft- und Stoffwechsel stehen und im allgemeinen ebensoviel von aussen aufnehmen als sie nach aussen abgeben.\nFragen wir uns nun, worin denn eigentlich die entropische Vor\u00e4nderung in den Abstammungsreihen bestehe, so k\u00f6nnen wir uns mit Hilfe der Thatsachen, welche uns die Morphologie und Physiologie der organisirten Substanzen darbietet, folgende Vorstellung davon machen. \u2014 Das aus der unorganischen Unterlage liorvor-","page":119},{"file":"p0120.txt","language":"de","ocr_de":"120\nUI. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\ngehende primordiale Plasma ist homogen und seine Mioelle sind durchaus ungeordnet, also nach allen m\u00f6glichen Richtungen orientirt. Die Einlagerung der neuen Micelle muss, da dieselbe durch die Molecularkr\u00e4fte bedingt wird und diese Kr\u00e4fte an den verschiedenen Punkten ungleich combinirt sind, auch an den verschiedenen Punkten einen ungleichen Charakter annehmen.\nAn den einen Stellen n\u00e4mlich stimmen die sich einlagernden Micelle in ihrer Orientirung mehr oder weniger \u00fcberein; an den dazwischenliegenden Stellen dagegen behalten sie ihre ungeordnete und widersprechende Onentirung. Jene Stellen sind nothwendig die dichteren, diese die wasserreicheren; denn die \u00fcbereinstimmende Lagerung der Micelle gestattet eine st\u00e4rkere Wirkung ihrer Molecular-anziehungen und verursacht daher ein engeres Aneinanderschliessen. Dieser Gegensatz von dichteren und weicheren Partien tritt um so entschiedener auf, als die urspr\u00fcnglichen Plasmamassen sicher schon, gleich ihren sp\u00e4teren Nachkommen, den einzelligen Pflanzen, die Neigung haben, Wasser aufzunehmen, welches sich in den Partien mit den ungeordneten Micellen ansammelt\nEs ist ferner eine mechanische Nothwendigkeit, dass die dichteren oder die wasserreicheren Stellen oder beide unter einander Zusammenh\u00e4ngen und eine netzartige Anordnung annehmen. Wir sehen daher \u00e4hnliche netzartige Anordnungen immer entstehen, wenn eine miceU\u00f6se Substanz w\u00e4chst. Das anf\u00e4nglich homogene Plasma m der Zellh\u00f6hlung und in den Zellkernen wird schaumig und netzartig; ebenso gew\u00e4hren die Schichten der Zellmembranen, von der Fl\u00e4che betrachtet, bei hinreichend starker Vergr\u00f6sserung ein netzartiges Aussehen ; und auf eine noch feinere und daher unsichtbare netzartige Structur m\u00fcssen wir auch in den Schichten der St\u00e4rke-k\u00f6mer schliessen.\nDas primordiale Plasma w\u00fcrde schon in seinen n\u00e4chsten Ab-k\u00f6mmlingen, wenn man es hinreichend vergr\u00f6ssert ansehen k\u00f6nnte, einen netzartigen Bau zeigen, bestehend aus einem Balkenwerk von J dichterer Masse und einer dazwischen liegenden wasserreichen halb-I itesigen Substanz. Jenes ist das Idioplasma, diese das Ern\u00e4hrungs-plasma. Das erste Auftreten des Idioplasmas zeigt also im allgemeinen die n\u00e4mliche Anordnung, die ich aus den Eigenschaften, welche man demselben nach seiner Function h\u00f6chst wahrscheinlich zuschreiben muss, f\u00fcr die Organismen \u00fcberhaupt abgeleitet habe (S. 41). Aber","page":120},{"file":"p0121.txt","language":"de","ocr_de":"121\nIII. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nwenn auch die beiden Anordnungen sich \u00e4usserlich gleichen, so k\u00f6nnen sie doch einen verschiedenen Charakter haben, und\u2019wir d\u00fcrfen die sp\u00e4tere nicht ohne weiteres als aus der ersteren folgend betrachten.\nF\u00fcr die Beurtheilung des Vorganges, wie das primordiale Idio-plasma des probialen Reiches sich in dasjenige der Pflanzen und Thiere umwandelt, stehen uns keine entscheidenden Analogien zu Gebote. Alle organisirten Substanzen, deren Entwicklungsgeschichte wir beobachten k\u00f6nnen, geh\u00f6ren den Ontogenien an und gehen mit den Individuen zu Grunde. Sie sind immer Neubildungen und von verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig sehr kurzer Dauer. Das Idioplasma ist der einzige K\u00f6rper, der durch alle Ontogenien sich fortsetzt und eine unbegrenzte Dauer hat; denn das Idioplasma des letzten und h\u00f6chst entwickelten Organismus ist das stetig fortgewachsene Idioplasma des ersten probialen Wesens. Kein organischer Elementark\u00f6rper gibt uns also in seinem Verhalten ein Vorbild daf\u00fcr, wie die phylogenetische Ausbildung des Idioplasmas erfolgen muss; er kann uns aber ebensowenig irgend eine Annahme verbieten. Die L\u00f6sung dieser Frage wird immer nur auf theoretischem Wege m\u00f6glich sein. Bei der noch so mangelhaften Kenntmss der Molecularkrftfte lassen sich vorerst nur einige allgemeine Gesichtspunkte feststellen.\nDie \u00fcbereinstimmende Orientirung der Idioplasmomicelle und mit ihr die Dichtigkeit des Idioplasmas nimmt, wie sie begonnen hat, nach und nach zu bis zu einem Maximum. In gleichem Maasse vermindert sich das Wachsthum durch Einlagerung. Es ist n\u00e4mlich eine aus der Natur der Micellarstructur nothwendig sich ergebende Folge, dass unter \u00fcbrigens gleichen Umst\u00e4nden neue Micelle um so schwieriger zwischen den schon vorhandenen sich bilden, je gedr\u00e4ngter diese beisammen liegen. Daher muss das Ern\u00e4hrungsplasma von Anfang an st\u00e4rker wachsen als das dichtere und geordnetere Idioplasma, und die Ungleichheit im Wachsthum muss mit der Ausbildung des letzteren sich steigern. Durch das st\u00e4rkere Wachsthum des Em\u00e4hrungsplasmas wird aber Druck und Zug auf du\u00ab netzf\u00f6rmige Idioplasma ausge\u00fcbt. Diese mechanische Action muss dazu bei-tr\u00fcgen, dass die Balken des Netzes st\u00e4rker in die L\u00e4nge wachsen als in die Dicke, und dass, wenn das Maximum der Dichtigkeit erreicht ist, die Micelleinlagerung fast ausschliesslich f\u00fcr das L\u00e4ngenwachsthum derselben verwendet wird.","page":121},{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"122\nni. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nWir k\u00f6nnten also oh no Anstand annohmen, dass dim ontogene-ti8che Wachsthum des Idioplasmas lediglich durch die mechanische Einwirkung der Substanzzunahme bei der individuellen Entwicklung erfolge und daher mit der letzteren gleichen 8chritt halte. Damit wftre das erforderliche Maass des idioplasmatischen Wachsthums in genauester Weise erf\u00fcllt Gleichwohl ist es m\u00f6glich, dass die mechanische Action nur einen gewissen Anstoss gibt und in dieser indirecten Weise das Maass bestimmt, dass es aber im wesentlichen innere Kl\u00fcfte sind, welche das ontogenetische Wachsthum des Idioplasmas bedingen. Der Gegensatz zwischen dem fast ausschliesslichen onto-genetischen L\u00e4ngenwachsthum und dem fast verschwindend geringen phylogenetischen Dickenwachsthum h\u00e4ngt dann ohne Zweifel mit dem Umstand zusammen, dass in der Querrichtung die Micelle fest Zusammenschl\u00fcssen, w\u00e4hrend sie in der L\u00e4ngsrichtung durch gr\u00f6ssere wassergef\u00fcllte Zwischenr\u00e4ume getrennt sind. Wir beobachten auch bei anderen ontogenetischen Erscheinungen zuweilen ein \u00fcberwiegendes und bestimmt bemessenes oder selbst ein ausschliessliches Wachsthum in einer gewissen Richtung. So besitzen beispielsweise manche Zellmembranen bloss Fl\u00e4chenwachsthum durch Micelleinlagerung (ohne Dickenwachsthum), einige selbst (z. B. Spirogyra) bloss L\u00e4ngenwachsthum (ohne Breiten- und Dickenwachsthum). Auch bei diesen Zellmembranen ist mechanische Einwirkung durch den Druck der Zellfl\u00fcssigkeit mit im Spiele; aber sie ist nicht allein maassgebend, wie sich aus dem Umstande ergibt, dass das Wachsthum in den beiden Richtungen der Fl\u00e4che ein ungleiches Maass einh\u00e4lt, und in der einen zuweilen ganz mangelt. Das Dickenwachsthum der Zell meinbranen aber ist, \u00e4hnlich wie dasjenige der Idioplasmastr\u00e4nge, eine von der mechanischen Action und von dem Fl\u00e4chenwachsthum unabh\u00e4ngige Erscheinung.\nEs w\u00e4re nicht unm\u00f6glich, dass das Netz, als welches sich das Idioplasma urspr\u00fcnglich ausscheidet, unmittelbar zu dem sp\u00e4tem Netz von Idioplasmastr\u00e4ngen sich ausbildete. Wahrscheinlicher ist es, dass die Entwicklungsgeschichte vorher durch analoge Zwischenbildungen hindurchgeht. Im ersten Stadium mag n\u00e4mlich das Idioplasma noch wenig dichter als das Ern\u00e4hrungsplasma sein und selbst\u00e4ndig in allen Richtungen wachsen. Dann muss die Substanz seiner Balken selber netzartig werden, da die Einlagerung nicht \u00fcberull gleichm\u00e4ssig geschieht, und diesem secund\u00e4ren Net\u00bb folgt","page":122},{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"III. Unwehen der Ver\u00e4nderung.\t123\nvielleicht noch ein terti\u00e4re\u00bb. Die Netzbildung h\u00f6rt auf, wenn in der Sulwtanz der Balken die Uebereinstimmung in der Orientirung der Micelle hinreichend gross geworden ist und das Dickenwachsthum fcwt aufgeh\u00f6rt hat. \u2014 Ob diese wiederholte Netzbildung wirklich eintrete oder nicht, macht f\u00fcr das schlieesliche Ergebnis\u00bb keinen Unterschied. Das letzte Product derselben ist zwar anf\u00e4nglich als ein feines Netz vorhanden, welches seinem Urspr\u00fcnge gem\u00e4ss die Maschen eines gr\u00f6beren Netzes darstellt. Aber diese Anordnung, welche gleichsam als die Einschachtelung eines Netzes in die Elemente eines andern bezeichnet werden k\u00f6nnte, verliert sich mit dem Wachsthum des letzten Netzes und mit der fortw\u00e4hrenden Theilung der Plasmamassen bald, so dass dann in dem Plasma nur noch dieses letzte Idioplasmanetz gegeben und wirksam ist.\nWenn das Idioplasma den geschilderten netzartigen Ursprung hat und die Str\u00e4nge desselben bloss in die L\u00e4nge wachsen, so m\u00fcsste, wenn nicht ein neues Moment hinzuk\u00e4me, wegen der starken onto-gcnetischen Zunahme der Substanz die netzartige Anordnung in den einzelnen Partien derselben sich bald ganz verlieren und in unverzweigte nicht anastomosirende Str\u00e4nge \u00fcbergehen, und es m\u00fcssten wegen der mit der Zunahme verbundenen fortw\u00e4hrenden Zelltheilung viele Zellen selbst ausserhalb der Str\u00e4nge zu liegen kommen und daher des Idioplasmas ganz entbehren. Die vorgetragene Theorie verlangt daher die Annahme, dass zur best\u00e4ndigen Erhaltung des feinen \u00fcberall ausgebreiteten Netzes sich Verbindungsstr\u00e4nge bilden, welche unter dem Einfluss der Hauptstr\u00e4nge eine diesen ganz gleiche Structur und Beschaffenheit annehmen. Dass nachtr\u00e4gliche Verbindungen entstehen, kommt auch bei andern netzf\u00f6rmigen Bildungen der Ontogenien vor und hat nichts Unwahrscheinliches. Dass ferner die neuen Verbindungsstr\u00e4nge den schon vorhandenen identisch werden, ist um so eher anzunehmen, als ja die geringsten Ab\u00e4nderungen des Idioplasmas in irgend einem Theil des Organismus an die \u00fcbrigen Theile \u00fcbermittelt und eine best\u00e4ndige Ausgleichung in dem ganzen idioplusmatischen System eines Individuums zu Stande gebracht wird.\nIch habe oben (S. 42) einer anderen Ursache Erw\u00e4hnung gethan, welche das Idioplasma, auch ohne die jetzt besprochene molecular-physiologische Entstehung des Idioplasmanetzes, netzf\u00f6rmig zu gestalten vermag. Die beiden Ursachen schliessen sich nicht aus; sie k\u00f6nnen neben einander bestehen und einander unterst\u00fctzen.","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124\nIU. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nDie Netzbildung, die eine Folge der Zelltheilung sein muss, wird die Bildung der anastomoeirenden Str\u00e4nge f\u00f6rdern und vielleicht ab selbst\u00e4ndigen Process \u00fcberfl\u00fcssig machen.\nWas das Verhalten des Idioplasmas r\u00fccksichtlich Form und Bau des Querschnittes betrifft, so wird dasselbe wesentlich davon ab-h\u00e4ngen, ob seine Str\u00e4nge unmittelbar aus den Balken des primordialen Idioplasmanetzes entstehen oder nicht. Die Balken des urspr\u00fcnglichen Netzwerkes m\u00fcssen, da sie aus einer ziemlich weichen Substanz in einer wasserreicheren Umgebung bestehen, eine cylindrische Gestalt und infolge der Oberfl\u00e4chenwirkung eine concentrische Anordnung ihrer Micelle besitzen. Dies gilt \u00fcberhaupt f\u00fcr nicht sehr feste K\u00f6rper, die frei in einer Fl\u00fcssigkeit sich b\u00fcden und durch Einlagerung wachsen. Ich erinnere beispielsweise an die St\u00e4rkek\u00f6mer und an die Cellulosestr\u00e4nge, welche durch die Zellh\u00f6hlung von Caulerpa ausgespannt sind.\nWenn dagegen die einzelnen Balken des urspr\u00fcnglichen Netzes infolge ihres allseitigen Wachsthums selbst in Netze zerfallen, und noch mehr, wenn der Process sich wiederholen sollte, hat der Querschnitt der Str\u00e4nge, weil dieselben schon im Augenblick ihrer Bildung aus einer Substanz von geordneterer Micellarstructur und festerer Consistenz bestehen, keinen concentrischen Bau mehr, sondern* er wird im allgemeinen dem Sector einer concentrischen Anordnung entsprechen und somit eine gr\u00f6ssere Uebereinstimmung in der Orien-tirung der Micelle zeigen.\nIm einen und andern Falle m\u00fcssen die Idioplasmastr\u00e4nge nach und nach die bei der gegebenen Configuration m\u00f6glich gr\u00f6sste Ueber-emstimmung in der Lagerung der Micelle auf dem Querschnitt und die m\u00f6glich gr\u00f6sste Dichtigkeit und Festigkeit der Substanz erlangen; und zwar wird dieser Zustand in nicht sehr sp\u00e4ten Abk\u00f6mmlingen der primordial entstandenen Plasmamassen eintrefen. Von jetzt an wachsen die Str\u00e4nge fast ausschliesslich in die L\u00e4nge, soweit es n\u00e4mlich die ontogenetische Zunahme verlangt.\nDas \u00e4usserst langsame Dickenwachsthum der Str\u00e4nge, welches ie phylogenetische Zunahme des Idioplasmas darstellt, f\u00fchrt mit Nothwendigkeit eine immer complicirter werdende Configuration des Querschnittes herbei. Die Ursachen der sich steigernden Zusammensetzung hegen im Idioplasma selber; es sind die ungleichm\u00e4ssige Anordnung der Micelle im Querschnitt, die durch das ungleichm\u00e4ssige","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"III. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\tjgg\nL\u00e4ngenwachsthum bedingten Spannungen und die dynamischen Einwirkungen der Micellgruppen des Querschnitts auf einander. Wenn Configuration und Spannungen vollkommen regelm\u00e4ssig w\u00e4ren und die Regelm\u00e4ssigkeit auch nicht durch das L\u00e4ngenwachsthum gest\u00f6rt w\u00fcrde, so k\u00f6nnte das Dickenwachsthum keine Ver\u00e4nderung hervorbringen, und die Micelle behielten fortw\u00e4hrend eine Anordnung, wie sie die Molek\u00fcle in den Krystallen zeigen.\nDa diese Regelm\u00e4ssigkeit nicht vorlianden ist, so erfolgen die Einlagerungen ungleichm\u00e4ssig, indem sie an gewissen Stellen st\u00e4rker ode\u00bb* allein th\u00e4tig sind.\nDie gesteigerte Einlagerung an irgend einem Punkte in einer Schaar von ziemlich gleichartig geordneten Micellen kann nur dazu f\u00fchren, dass innerhalb jener Schaar eine neue Schaar etwas anders geordneter Micelle sich ausbildet. Wir sehen dies in einem ver-gr\u00f6sserten Maassstabe deutlich an der Entwicklungsgeschichte der bt\u00e4rkek\u00f6mer, welche, da sie frei in einer Fl\u00fcssigkeit oder weichen Plasmamasse liegen, ebenfalls fast nur unter dem Einfluss ihrer eigenen Molecularkr\u00e4fte sich ausbilden. Tritt eine St\u00f6rung in der regelm\u00e4ssigen Substanzeinlagerung ein, so ist die Folge davon ein neuer eigent\u00fcmlicher Complex von Schichten oder selbst ein neues Theilkom innerhalb der Substanz des ganzen Korns.\nDie phylogenetische Fortbildung des Querschnittes muss daher im allgemeinen den gleichen Charakter zeigen, ob dieser Querschnitt anf\u00e4nglich ein concentrisch geschlossenes System oder ein offenes System von Micellen darstellt. In jedem Falle k\u00f6nnen wir seine urspr\u00fcngliche Beschaffenheit gleichsam als eine einzige MicelLpchaar betrachten, und das fortgesetzte Dickenwachsthum bringt nun stets neue eigenartige Schaaren zu Stande. Vorerst kommt es ja nicht darauf an, dass-bestimmte Anordnungen entstehen, sondern nur darauf, dass die Anordnungen immer complicirter werden.\nDie Nothwendigkeit einer ungleichm\u00e4ssigen Einlagerung auf dem Querschnitt ist am einleuchtendsten bei concentrischem Bau der Str\u00e4nge, weil hier die \u00fcbereinstimmende Lagerung der Micelle nach innen hin sich vermindert und im Centrum vollst\u00e4ndig gest\u00f6rt ist. An der letzteren Stelle liegen also die Micelle lockerer beisammen und haben mehr Wasser zwischen sich, so dass sich leichter neue Micelle einlagern. Nach und nach kann aber, indem der urspr\u00fcnglich kreisf\u00f6rmige Querschnitt eine andere Gestalt annimmt und gr\u00f6ssere","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126\tm. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nAbweichungen von der concentrischen Anordnung erf\u00e4hrt, auch die Substanz im Centrum eine ziemlich grosse Festigkeit erlangen. Immerhin bleibt f\u00fcr alle Zeiten die Micellanordnung mehr als unregelm\u00e4ssig genug, um stets da oder dort ein gesteigertes Wachsthum zu gestatten.\nEher m\u00f6chte man, wenn der Querschnitt nicht ein concentrisch geschlossenes, sondern ein offenes System dareteUt, f\u00fcr denkbar halten, dass die Regelm\u00e4ssigkeit der Anordnung m\u00f6glicherweise hinreichend gross w\u00e4re, um ein ungleichm\u00e4ssiges Waclisthum auszu-schliessen. Die genaue Ueberlegung zeigt aber, dass dies nie der *all sein kann. Denn die Micelle sind ihrer Natur nach nie unter einander gleich an Gr\u00f6sse, Gestalt und chemischer Beschaffenheit und wirken nicht \u00fcberall mit gleichen Kr\u00e4ften auf einander ein. Es gibt daher immer einzelne Stellen, welche der Einlagerung den geringsten Widerstand darbieten und wo ein die regelm\u00e4ssige Anordnung st\u00f6rendes Micell sich einschieben kann. Dieses erste st\u00f6rende Micell ist der Anfang einer ganzen von der \u00fcbrigen Anordnung mehr oder weniger abweichenden Micellschaar, und mit der ersten eigenartigen Micellschaar sind zahlreiche Stellen gegeben, wo wieder die Einlagerung beginnen kann. Dieser Process wiederholt sich unaufh\u00f6rlich, und die Zahl der Micellschaaren wird immer gr\u00f6sser.\nZu den St\u00f6rungsursachen, welche dem Querschnitt als solchem angeh\u00f6ren, gesellen sich noch die Spannungen, welche durch das ungleiche L\u00e4ngenwachsthum und die ungleiche Erregung dor verschiedenen micellaren L\u00e4ngsreihen hervorgebracht weiden (S. 49). Diese in der L\u00e4ngsrichtung th\u00e4tigen Kr\u00e4fte m\u00fcssen mit irgend einer Components auch in der Querrichtung wirken, und an gewissen Stellen die Einlagerung f\u00f6rdern, an andern sie verhindern.\nMan k\u00f6nnte vielleicht den Einwurf machen, dass, da die Ver\u00e4nderung der Querschnittsccnfiguration von dem mehr oder woniger festen Zusammenhang der Micellreihen und von dem durch deren ungleiches L\u00e4ngenwachsthum bewirkten Spannungen verursacht werde, mcht nothwendig die Einlagerung neuer Micellreihen und die reicherung des Querschnittes erfolgen m\u00fcsse, sondern dass unter Umst\u00e4nden auch die Unterdr\u00fcckung von Micellreihen und die Verarmung des Querschnitts eintreten k\u00f6nne. Diesen Einwurf halte ich mcht f\u00fcr gerechtfertigt; denn es ist weniger wahrscheinlich, dass eine Micellreihe, die sich in der ganzen L\u00e4nge des Idioplasma-","page":126},{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"HI. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\tJ27\nStranges ausdehnt und mit den \u00fcbrigen parallelen Micellreihen durch Einschaltung von neuen Mieellen zwischen die schon vorliandenen sich verl\u00e4ngert, durch den hier m\u00f6glichen Druck verschwinden kann, w\u00e4hrend es sehr begreiflich ist, dass an einer Stelle, wo durch Zug Raum geschaffen wird, sich eine neue Reihe einzulagem beginnt\nUnter den Ursachen, welche auf die Ver\u00e4nderung der Struetur der Idioplasinastr\u00e4nge Einfluss haben, sind von Ijesonderer Bedeutung die dynamischen Einwirkungen, welche die Micellreihen oder die Micelle des Querschnitts auf einander aus\u00fcben, und welche mit der zunehmenden Organisation der Str\u00e4nge stets st\u00e4rker und mannigfaltiger werden. Dieselben haben notliwendig eine sch\u00e4rfere Sonderung der Micellgruppen und neue Differenzirungen der Micellreihen zur Folge. So bewirkt die mannigfaltigere Organisation eine mannigfaltigere dynamische Einwirkung und diese wiederum eine Steigerung der Organisation, besonders wenn eine Vermehrung der Micellreihen nelienhergelit. Ist die phylogenetische Entwicklung einmal im Gang, so muss sie in gleicher Richtung fortschreiten. Wir haben, worauf ich bereits hingewiesen habe (S. 118), in der Ver\u00e4nderung des Idio-plasmas ein analoges Beispiel f\u00fcr die in der unorganischen Welt als Entropie der mechanischen W\u00e4rmetheorie bekannte Erscheinung, wonach ein Zustand in einen andern \u00fcborgeht, w\u00e4hrend der Ueber gang in umgekehrter Richtung nicht m\u00f6glich ist. In beiden F\u00e4llen bedingt die \\ ertheilung von Stoff und Kraft oder Configuration des\nganzen Systems mit Nothwendigkeit die Umwandlung nach einem Ziele.\nDie Hypothese, welche ich bez\u00fcglich der phylogenetischen Entwicklungsgeschichte aus dem primordialen Netzwerk der spontan entstandenen Plasmamassen aufgestellt habe, h\u00e4lt sich lediglich an Erscheinungen, welche in denOntogenieu der Organismen Vorkommen. Ich habe kein Moment angef\u00fchrt, das nicht in einem ontogenctischen Vorg\u00e4nge seine Analogie f\u00e4nde. Damit ist jedoch nicht gesagt, \u00abhy\u00bb? die Entwicklung nicht auch in anderer Weise geschehen k\u00f6nnte. Diese M\u00f6glichkeiten sind aber sehr beschr\u00e4nkt, und durch diese Beschr\u00e4nkung erh\u00e4lt die Hypothese eine erh\u00f6hte Bedeutung.\nWenn ich das Idioplasma aus der netzf\u00f6rmigen Ungleichheit von dichteren und weicheren Partien, welche mit absoluter Nothwendigkeit als erste Differenzirung im primordialen Plasma sich einstellt, hervorgehen lasse, so steht dieser Anualime noch die andere","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128\nUL Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nM\u00f6glichkeit gegen\u00fcber, dass das I Jioplasma als eine von dem urspr\u00fcnglichen Netswerk unabh\u00e4ngige Bildung auftrete und ebenfalls ein von den \u00fcbrigen Wachsthumserscheinungen unabh\u00e4ngiges Wachsthum besitze. Es ist recht wohl denkbar, dass innerhalb der dichteren Partien des primordialen Plasmas sich besondere K\u00f6rper bilden, welche durch noch gr\u00f6ssere Dichtigkeit und Festigkeit ausgezeichnet sind und eine selbst\u00e4ndige, nur von ihrer eigenen Natur bedingte Entwicklung zeigen. Diesen idioplasmatischen K\u00f6rpern m\u00fcssten wir ebenfalls ein fast ausschliessliches L\u00e4ngenwachsthum und somit strangf\u00f6rmige Beschaffenheit zuschreiben; wir m\u00fcssten ferner annehmen, dass sie sich netzf\u00f6rmig an einander legen, und dass sie sich, um die netzf\u00f6rmige Anordnung bei der ontogenetischen Vermehrung zu erhalten, regelm\u00e4ssig theilen und neu anordnen.\nDie zwei wesentlich neuen Momente dieser zweiten m\u00f6glichen Hypothese, das Zerfallen der Idioplasmastr\u00e4nge und ihre neue Anordnung, finden ebenfalls in vorhandenen Erscheinungen thatsftchliche Anhaltspunkte. Das Zerfallen eines micell\u00f6sen K\u00f6rpers in zwei tritt bei der Vermehrung der Chlorophyllk\u00f6mer und Zellkerne, sowie meistens bei der Fortpflanzung einzelliger Organismen, das Abl\u00f6sen von Zellen bei der Fortpflanzung mehrzelliger Organismen ein. Die Ursachen f\u00fcr einen solchen Process sind offenbar je nach den obwaltenden Verh\u00e4ltnissen ungleich; bei den Idioplasmastr\u00e4ngen m\u00fcsste, wenn dieselben eine gewisse L\u00e4nge erreicht haben, an der Theilungs-stelle eine vermehrte Wassereinlagerung stattfinden, wodurch die Coh\u00e4sion vermindert und gegen\u00fcber den mechanischen Einwirkungen unm\u00e4chtig wird.\nWas das Zusammentreten getrennter Idioplasmastr\u00e4nge zu einem Netz betrifft, so kommen solche netzf\u00f6rmige Anordnungen bei Plasmak\u00f6rpern (z. B. Chlorophyllk\u00f6mem) vor. Die Ursachen der letzteren Erscheinung sind unbekannt; die netzf\u00f6rmige Anlagerung der Idioplasmastr\u00e4nge k\u00f6nnte nur durch die gegenseitige Anziehung ihrer Enden erfolgen, wof\u00fcr die Analogie nicht mangeln w\u00fcrde. Ich werde bei Anlass der Anpassung gewisser Fortpflanzungserscheinungen von Phanerogamen und bei der Befruchtung zeigen, dass solche Anziehungen und ebenfalls Abstossungen zwischen Idioplasmapartien wirklich angenommen werden m\u00fcssen.\nDie zweite Hypothese \u00fcber die phylogenetische und ontogenetische Entwicklung des Idioplasmas enth\u00e4lt somit ebenfalls nichts, was","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"129\nIII. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nnicht anderweitig schon vork\u00e4me. Die beiden Hypothesen, ausser denen es wohl keine andere denkbare Annahme gibt, stimmen in dor Hauptsache unter einander \u00fcberein. Sie zeigen beide in gleicher Weise die M\u00f6glichkeit der mechanischen Vorstellung, dass das Idio-plasma, der Tr\u00e4ger der specifischen Eigent\u00fcmlichkeiten, trotz seiner ungeheuren ontogenetischen Zunahme, phylogenetisch seine Configuration \u00e4usserst langsam ver\u00e4ndert, und dass diese Ver\u00e4nderung stetig und sicher durch die unendliche Zahl der Generationen verl\u00e4uft und mit Notwendigkeit einer zusammengesetzteren Beschaffenheit, also einer h\u00f6heren Vollkommenheit zustrebt.\nIch habe darzulegen versucht, wie das primordiale Plasma durch die in ihm gegebenen Molecularkr\u00e4fte sich umbilden und wie das aus diesem Process hervorgehende Idioplasma gleichfalls durch seine eigenen Molecularkr\u00e4fte sich entwickeln muss, wenn man die \u00e4usseren auf die Organismen einwirkenden Ursachen als nicht vorhanden betrachtet. Die n\u00e4chste Frage ist nun, welche Folgen aus dieser selbst\u00e4ndigen Configurations\u00e4nderung des Idioplasroas f\u00fcr das ge-sammte physiologische Verhalten, f\u00fcr die chemischen Prouesse, die plastischen Bildungen und die verschiedenen Bewegungen sich ergeben.\nDie aus der unorganischen Unterlage urspr\u00fcnglich gebildeten Eiweis8micelle haben wegen ihrer ungeordneten Lagerung noch keine andere Wirkung, als dass unter dem Einfluss jedes einzelnen oder einiger weniger die Eiweissbildung leichter vor sich geht, als in der umgebenden unorganisirten Fl\u00fcssigkeit. Massenwirkungen sind noch nicht vorhanden, weil die Molecularkr\u00e4fte der nach allen m\u00f6glichen Richtungen orientirten Mioelle bloss in unmittelbarer N\u00e4he sich geltend machen k\u00f6nnen, dar\u00fcber hinaus aber sich gegenseitig aufheben.\nSowie jedoch die Micelle sich zu gleich orientirten Schaarea ordnen und somit die Anf\u00e4nge des Idioplasmas darstellen, so wer*'i auch ihre Molecularkr\u00e4fte \u00fcbereinstimmend gerichtet und zu einer gemeinsamen Wirkung summirt. Diese Wirkung steigert sich in dem Maasse, als in dem sich weiter entwickelnden Idioplasma die Anordnung an Bestimmtheit und Umfang zunimmt Es treten ferner mehrere ungleichartige Wirkungen auf, wenn da\u00bb Idioplasma sich in mehrere ungleichartige Micellschaaren gliedert\nT. Nftfeli, Abatammunfalehre.\n9","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"130\nm. Ursachen der Vcrtadanuf.\nDiese verst\u00e4rkte Action der vereinten Molecularkr\u00e4fte macht sich namentlich nach aussen bemerkbar. Im Innern des Idioplasmas selbst kann sie wegen der Dichtigkeit und Festigkeit seiner Structur nur die sehr langsame phylogenetische Aenderung in der chemischen Beschaffenheit, Gestalt und Anordnung der neu eingelagerton Micelle mitbedingen. In den Zwischenr\u00e4umen und in der n\u00e4chsten Umgebung der Idioplasmak\u00f6rpor dagegen verursacht sie neue Chornische Processe, ferner plastische Bildungen und Ortsver\u00e4nderungen ganzer individueller Massen und ihrer Theile. i\tDer Einfluss auf den Chemismus ist leicht erkl\u00e4rlich, da durch\nst\u00e4rkere Kr\u00e4fte oder durch Zusammenwirken von verschiedenen Kr\u00e4ften Verbindungen und Zersetzungen veranlasst werden, welche sonst nicht zu Stande k\u00e4men. Ebenso verh\u00e4lt es sich mit dem Ge-staltungsprocess, welcher, wenn wir auf den Grund zur\u00fcckgehen, immer von der Anlagerung der Micelle und Molek\u00fcle abh\u00e4ngt. Es ist klar, dass st\u00e4rkere Kr\u00e4fte und Zusammenwirken verschiedener Kr\u00e4fte das Verm\u00f6gen besitzen, die entstehenden Micelle in bestimmte Lagen zu r\u00fccken, den sich ansetzenden Molek\u00fclen bestimmte Stellen anzuweisen, und somit am Organismus einen gr\u00f6sseren oder kleineren K\u00f6rper von besonderer Gestalt, Structur und Beschaffenheit zu erzeugen, der sich sonst nicht bilden w\u00fcrde.\nAuf den untersten Entwicklungsstufen wird zwischen den Idio-plasmnkbrjieni bloss wasserreicheres-Em\u00e4hrungsplasma erzeugt, und diese Bildung erfolgt auch auf allen h\u00f6heren Stufen unter dem Einfluss sowohl des Ern\u00e4hrungsplasmas selber, als des angrenzenden Idioplasmas in reichlichem Maasse, so dass das Em\u00e4hrungsplasma stetsfort den gr\u00f6ssten Theil der in den Organismen vorliandenen plasmatischen Substanzen ausmacht. Dasselbe ist stets weicher als das Idioplasma, und wenn unter der Einwirkung des letzteren auch festere Partien von Em\u00e4hrungsplasma sich bilden, so ist denselben sowohl durch ihre kurze ontogenetische Dauer, als durch die chemische Beschaffenheit der Albuminate eine Schranke gesetzt, welche sie verhindert, \u00fcber einen bestimmten Grad der Organisation, der Dichtigkeit und Festigkeit hinaus zu gehen.\nSind die ersten Entwicklungsstufen \u00fcberschritten und die geeinten idioplasmatischen Kr\u00e4fte theils st\u00e4rker, theils verschiedenartig geworden, so entstellen neben dem Em\u00e4hrungsplasma auch andere Verbindungen, die ihrer Natur nach eine micell\u00f6se Structur an-","page":130},{"file":"p0131.txt","language":"de","ocr_de":"ni. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\t|gj\nnehmen. Es sind dies dem Eiweiss verwandte Substanzen, die namentlich im Thierreiche, und Kohlenhydrate, die besonders im Pflanzenreiche Vorkommen. Diese nicht plasmatischen Substanzen, obgleich nur von kurzer ontogenetischer Dauer, erlangen doch zuweilen in Folge ihrer chemischen Beschaffenheit mit Hilfe der idio-plasmatischcn Einwirkung eine hoch entwickelte Organisation; in andern F\u00e4llon k\u00f6nnen sie entweder in Folge ihrer eigenen Beschaffenheit, oder weil andere, vorz\u00fcglich unorganische Verbindungen, sich an die Micelle anlagem, eine ausserordentliche Dichtigkeit und Festigkeit erreichen.\nWas die Bewegungen betrifft, so ist unzweifelhaft, dass unter \u00dcbrigens gleichen Umst\u00fcnden um so gr\u00f6sseren Massen eine um so schnellere Ortsveiftnderung mitgetheilt wird, je mehr die dabei th&tigen Micelle \u00fcbereinstimmend geordnet sind, wie ich schon anl\u00e4sslich der vermeintlichen Urzeugung der Moneren hervoigehoben habe (8. 93). Da die gleichsinnigen Orientirungen zuerst im Mio-plasma auftreten und von demselben dann auf die \u00fcbrigen Substanzen \u00fcbergehen, so haben alle Massenbewegungen im Idioplasma ihren Ursprung. Nur in seltenen F\u00e4llen ist das letztere, durch die Anziehung, die es aus\u00fcbt, die unmittelbare Ursache der Bewegung oder ihrer Richtung, wie dies ohne Zweifel bei Spermatozoiden der Fall ist, die ihren Lauf im Wasser nach der Eizelle hin nehmen. Gew\u00f6hnlich verursacht das Idioplasma Ortsbewegungen von Massen nur auf indirectem Wege, indem es andere Substanzen mit den n\u00f6thigen Mitteln dazu ausstattet\nDie chemischen Processe, die plastischen Bildungen und die Bewegungen werden, wie sich aus der vorstehenden Betrachtung ergibt, in dem Maasse mannigfaltiger, als die verschiedenartigen Micell8chaaren in dem Idioplasma an Zahl zunehmen. Die Menge der eigent\u00fcmlichen Erscheinungen, die einen Organismus zusammensetzen, nimmt daher zu, so lange die phylogenetische Entwicklung andauert Ort und Zeit f\u00fcr das Auftreten einer jeden Erscheinung aber h\u00e4ngt, wie ich fr\u00fcher ausgef\u00fchrt habe (S. 30), von dem wechselnden Erregungsstande, in dem sich das Idioplasma befindet, und von der Einwirkung, die es von der ihm angewiesenen Stelle in der Ontogenie empf\u00e4ngt, ab. So bewirkt das n\u00e4mliche Idioplasma die Bildung von St\u00e4rkek\u00f6mern im Innern vom Ern\u00e4hrungsplasma, die Bildung von Cellulosemembranen an der Aussen-\n9*","page":131},{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"132\nDI. Ursachen der Verladmi\u00ab.\nfl\u00e4che desselben, die Entstehung von Wurzeln an bestimmten und die Entstehung von Bl\u00e4ttern an bestimmten andern Stellen des Ge-f\u00e4ssstengels, die Erzeugung von Niederbl\u00e4ttem am Anf\u00e4nge und diejenige der Fruchtbl\u00e4tter am Ende des Stengelwachsthums.\nDie vorstehende Betrachtung wurde unter der Voraussetzung angestellt, dass die \u00e4usseren Einwirkungen, welche erbliche Ver\u00e4nderungen verursachen, ganz gemangelt und nur eine indifferente Ern\u00e4hrung stattgefunden h\u00e4tte. In diesem Falle musste die organische Welt aus dem primordialen Plasma durch innere Kraft zu immer h\u00f6heren Organisationsstufen und zu immer gr\u00f6sserer Vollkommenheit gelangen, wenn wir unter Vollkommenheit eine reichere j Gliederung in Bau und Function verstehen. \u2014 Von der Beschaffenheit der auf solche Weise zu Stande gekommenen Organisationen k\u00f6nnen wir uns aber bloss eine ganz allgemeine und unklare Vorstellung machen ; die Gestaltung eines concreten Bildes ist aus zwei Gr\u00fcnden unm\u00f6glich: 1. weil wir die Beschaffenheit der Micelle nur ganz im allgemeinen kennen, und daher nichts Specielles damit construirai k\u00f6nnen, und 2. weil alle unsere Vorstellungen \u00fcber Or-I ganisation an Organismen gebildet wurden, die unter dem Einfluss der von aussen wirkenden Kr\u00e4fte ein bestimmtes Gepr\u00e4ge angenommen haben, und weil wir uns dieses Gepr\u00e4ge nicht wegzudenken verm\u00f6gen. Dies thut indessen der Gewissheit, dass die inneren Kr\u00e4fte bei der phylogenetischen Entwicklung der Reiche eine ganz entscheidende Rolle gespielt haben, keinen Eintrag, \u2014 und ebenso wenig kann es uns zweifelhaft sein, welches diese Rolle gewesen sei.\nDie bisherige Betrachtung hat zu dem Ergebniss gef\u00fchrt, dass die nothwendige Folge der inneren mechanisch wirkenden Ursachen j eine stetige in bestimmter Bahn fortschreitende Entwicklung der Stammb\u00e4ume sein muss; auch die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse wirken, wie wir sp\u00e4ter sehen werden, w\u00e4hrend gr\u00f6sserer Zeitr\u00e4ume langsam ver\u00e4ndernd ein. \u2014 Wir m\u00f6chten daher erwarten, dass die Erfahrung diese continuirliche Entwicklung best\u00e4tige. Nun ist dies aber bekanntlich dem Anscheine nach nicht der Fall, und nach der Darstellung der Darwin schen Schule soll die Ver\u00e4nderung w\u00e4hrend langer Zeitr\u00e4ume ruhen und dann in Folge eines inneren oder \u00e4usseren Anstosses wieder beginnen; so sind viele Arten und Varie-","page":132},{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"m. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\tj <vj\nt\u00e4ten seit der Eiszeit und l\u00e4nger sicher so gleich geblieben, da\u00ab\u00ab wir keinen Unterschied an ihnen bemerken (8. 104). Dabei bleibt uns ntir unverst\u00e4ndlich, welcher Natur der Anstoss sein m\u00f6chte, der nach einem langen Zeitraum pl\u00f6tzlich von innen oder aussen kommen soll. Besonders unbegreiflich ist der Anstoss von aussen, da ja die \u00e4usseren Ursachen fortw\u00e4hrend die n\u00e4mlichen sind und nicht in einem bestimmten Jahr etwas bewirken k\u00f6nnen, was sie in Tausenden von Jahren vorher nicht zu bewirken vermochten.\nSchon diese Betrachtung zeigt uns, dass die Organismen, obgleich sie den greifbaren Merkmalen nach vollkommen gleich zu bleiben scheinen, doch in Wirklichkeit nicht still stehen, dass eine innere Umbildung in ihnen vorgeht, welche sie mit der Zeit f\u00fcr die Anst\u00f6sse empf\u00e4nglicher macht. M\u00fcssen wir aber eine solche UmbiMung annehmen, so brauchen wir \u00fcberhaupt die r\u00e4thselhaften besonderen Anst\u00f6sse nicht mehr; sondern die \u00e4ussere Ver\u00e4nderung tritt unter gew\u00f6hnlichen Umst\u00e4nden von selbst ein, wenn in Folge der inneren Umbildung eine Disposition auf eine gewisse H\u00f6he gediehen ist. Nat\u00fcrlich kann dieser Zeitpunkt durch die Combination der inneren Verh\u00e4ltnisse und in erheblichem Maasse wohl auch durch die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse viel fr\u00fcher ein treten oder lang verschoben werden.\nWir sind somit auf diesem Wege genau dahin gekommen, wohin uns auch die Theorie des Idioplasmas gef\u00fchrt hat. In demselben sind, wie alle Erfahrungen zeigen, stets fertige, werdende und vergehende Anlagen enthalten. Bei der langsamen Umbildung des Idioplasmas werden alte Anlagen nach und nach geschw\u00e4cht und gehen verloren, indess neue beginnen und sich ausbilden, bis sie nach einer Zahl von Generationen zu \u00e4usserlich bemerkbaren physiologischen und morphologischen Merkmalen sich entfalten. Es hat somit durchaus nichts Befremdendes, wenn uns die organischen Reiche das Schauspiel von Sip]>en darbieten, welche eine Zeit lang stille stehen und dann auf einmal sich zu ver\u00e4ndern beginnen. Man k\u00f6nnte bloss allenfalls das Bedenken hegen, ob ein so gar langes Stillstehen denkbar sei, ob die Anlagen vieler Tausende von Jahren bed\u00fcrfen, um actionsf\u00e4hig zu werden.\nWir stehen da wieder vor der Zeitfrage, die bez\u00fcglich der Ab-stammungslehre schon viel unn\u00f6thigen Staub aufgeworfen hat. Da wir \u00fcber die ganze f\u00fcr den vollst\u00e4ndigen Stammbaum zur Ver-","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"I\n134\tHL Ursachen der Vertndcnuy,\nf\u00fcgung stehende Zeit, \u00fcber die Zeit, w\u00e4hrend welcher organisches Lelnm auf der Erde m\u00f6glich war, im Unklaren sind, so verm\u00f6gen wir auch kein Urtheil zu haben \u00fcber die Zeit, weiche durchschnitt lieh auf jeden einzelnen Schritt im Stammbaum trifft, und wir k\u00f6nnten ebensowohl durch Annahme zu grosser als zu kleiner Zeitabschnitte irre gehen. Uebrigens ist nicht gesagt, dass jeder Schritt in der sichtbaren Ver\u00e4nderung gleich viel Zeit erfordere. Im Gegen-theil spricht die Wahrscheinlichkeit daf\u00fcr, dass periodenweise die ftusserlich wahrnehmbaren Schritte rascher auf einander folgen und mit l\u00e4ngeren Stillst\u00e4nden abwechseln, \u2014 wie dies auch in der Entwicklungsgeschichte der Individuen, welche offenbar so viel Aehn-lichkeit mit der Geschichte der Stammb\u00e4ume hat, der Fall ist.\nDas Idioplasma ver\u00e4ndert sich unaufh\u00f6rlich; aber wie in der unorganischen Materie bald eine geringe, bald eine grosse Menge von Spannkraft sich anh\u00e4uft, ehe sie als Bewegung frei wird, so m\u00f6gen im Idioplasma bald die einzelnen Anlagen, sowie sie fertig gebildet sind, die entsprechenden \u00e4usseren Ver\u00e4nderungen hervor-rufen, bald m\u00f6gen sie durch eine l\u00e4ngere Periode in Mehrzahl sich anstauen und dann rasch nach einander sich in ihren morphologischen ; und physiologischen Merkmalen verwirklichen.\nWas aber die andere Seite der theoretischen Frage betrifft, ob j es denkbar sei, dass die Ver\u00e4nderung im Idioplasma so lnngraarp vor sich gehe und dass die j\u00e4hrlichen Schritte so klein seien, um erst nach vielen tausend Jahren eine fertige Anlage zu Stande zu bringen, so h\u00e4ngt dies von der Vorstellung ab, die wir uns \u00fcber diese Schritte, somit \u00fcber die micellare Beschaffenheit des Idioplasmas, namentlich \u00fcber Gr\u00f6sse, Zahl und Anordnung der Micelle zu machen haben. Je zahlreicher und kleiner dieselben sind, um so geringer vermag der einzelne Schritt in der Ver\u00e4nderung auszufallen, und um so mehr solcher Schritte bedarf es, bis eine merkliche Umbildung in der Substanz erreicht ist Was nun diesen Punkt betrifft, so sind in dem einzelligen Keim unter allen Umst\u00e4nden viele Millionen von ! IdioplasmamiceUen enthalten. Hat das Idioplasma \u00fcberdem die strangf\u00f6rmige Structur, wie ich es angenommen habe, und wird demnach die phylogenetische Bereicherung des Querschnitts von dem ontogenetischen L\u00e4ngenwachsthum bloss durch die Verursachung von schwachen Spannungen ber\u00fchrt, so k\u00f6nnen wir uns die Einschiebung eines einzigen Micells sehr langsam denken, indem zuerst","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"111. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\n135\neine locale Spannung nach und nuch zunimmt und erst, wenn sie eine gewisse H\u00f6he erreicht hat, die beginnende Bildung des Micells bewirkt. Ebenso verh< es sich mit der Umbildung der Quer-schnittsconfiguration durch die dynamische Einwirkung der Micell-gruppen auf einander, indem die Verst\u00e4rkung der Anlagen, die sch\u00e4rfere Sonderung derselben und die Differenzirung in ihrem Innern in jedem beliebig langsamen Zeitmaass gedacht werden kann. Es ist uns also gestattet, die unaufh\u00f6rlich th\u00e4tige und nie stillstehende Entwicklung des Idioplasmas anzunehmen, und wir d\u00fcrfen bez\u00fcglich der Frist, die wir f\u00fcr die Bildung einer fertigen und entfaltungsf\u00e4higen Anlage zugestehen, auch vor Eiszeitweiten nicht zur\u00fcckschrecken.\nEndlich l\u00e4sst sich die Zeitfrage noch von einigen Erfalirungs-thatsachen aus beleuchten. Es ist bekannt, dass bei Menschen nach mehreren Generationen fr\u00fchere Merkmale wieder zum Vorschein kommen. Wenn nun eine Anlage ein Jahrhundert latent bleiben und dann in Qualit\u00e4t und Quantit\u00e4t scheinbar unver\u00e4ndert wieder hervorbrechen kann, so begreifen wir, dass zu ihrer Bildung m\u00f6glicherweise viele Jahrtausende erfordert werden. Und wenn gar, nach der Annahme der Darwinschen Schule, Merkmale von vorweltlichen Organismen abermals auftreten, so m\u00fcsste, wie dem Ver-borgeusein und dem Verschwinden, auch dem Werden der Anlagen eine Erdperiodenzeit zugestanden werden.\nEs steht also der mechanischen Forderung, dass die begonnene Ver\u00e4nderungsbewegung nicht zeitweise stille stehe und dann willk\u00fcrlich wieder beginne, sondern dass sie durch alle Generationen th\u00e4tig bleibe, nichts im Wege, wenn wir uns nicht bloss an die \u00e4usserlich hervortretenden Ereignisse, sondern an die im Verborgenen wirkenden Ursachen derselben halten. Die gew\u00f6hnliche Betrachtungsweise, welche die Ver\u00e4nderung bloss nach den wahrnehmbaren Merkmalen absch\u00e4tzt, gleicht der Geschichtschreibung, welche nur von Kriegen und Eroberungen, Vertr\u00e4gen und Friedensschl\u00fcssen, Revolutionen und Parteik\u00e4mpfen, Beginn und Ende der Reiche und der Dynastien berichtet, aber sich um den im Stillen arbeitenden, die Ereignisse vorbereitenden und, wenn zur Reife gediehen, auch unwiderstehlich durchf\u00fchrenden Fortschritt in der Bildung und Sitte der Individuen nicht k\u00fcmmert.\nEs ist noch ein Punkt zu besprechen, \u00fcljer den die gew\u00f6hnliche","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"136\nHI. Urschen der Vertnderang.\nBetrachtungsweise, welche sich an das Aeusserliche h\u00e4lt, nicht weniger im Irrthum sich befindet; dieselbe nimmt an, dass die Ver\u00e4nderung mit der Fortpflanzung zusammenialle. Dies r\u00fchrt von dem schon fr\u00fcher erw\u00e4hnten Umstande her, dass man durch unmittelbare Be* obachtung die Ver\u00e4nderungen bloss bei der Vermischung ungleicher Individuen und bei der Kreuzung kennt. Hier muss nun begreiflicherweise die neue Combination von Figftnumbftften mit dem Moment beginnen lassen, in welchem die beiden verschieden gearteten Idioplasmen des Vaters und der Mutter zusammentreten und den Charakter des Kindes zu Stande bringen. Aber diese Ver\u00e4nderung bedeutet nur ein Hin- und Herschwanken zwischen den sich vermischenden Individuen und den sich kreuzenden Sippen; sie erzeugt bloss die individuellen und die Rassentypen, aber nicht die Variet\u00e4ten und Species.\nDie innere Ver\u00e4nderung, welche die neuen Anlagen hervorbringt, erfolgt nicht mit der Zeugung, denn diese ist eigentlich nur ein Augenblick, welcher den Beginn eines neuen Daseins bezeichnet Das Idioplasma bildet sich w\u00e4hrend der ganzen Lebensdauer um, und bloss weil dasselbe in den Eltern mH der Zeit etwas anders geworden ist, sind auch die Keime etwas anders angelegt als die Keime der Eltern. Bei geschlechtlicher Zeugung ist es nicht so leicht, sich eine klare Vorstellung von diesem Vorgang zu machen, wie bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung. Indem bei der letzteren das Idioplasma sich stetig ver\u00e4ndert, hat der Uebergang von einer Generation in die folgende keine andere Bedeutung, als dass nur ein kleiner Theil des vermehrten und ver\u00e4nderten Idioplasmas in dem sich abl\u00f6senden Keim sein Wachsthum und seine Ver\u00e4nderung getrennt vom elterlichen Individuum fortsetzt.\nDie inneren Ursachen machen sich also dadurch geltend, dass das Idioplasma, indem es sich vermehrt, sich auch umbildet, wobei jede Ver\u00e4nderung mit Nothwendigkeit eine neue weitergehende Ver\u00e4nderung in der Richtung einer gesteigerten Zimarnmnn^mg veranlasst. Die Organismen sind aber nicht bloss auf sich selbst angewiesen; sie stehen in mannigfaltigen Beziehungen zur Aussen-weit und es ist m\u00f6glich, dass sie aus derselben nicht bloss Kraft und Stoff f\u00fcr ihr Wachsthum und ihre Ver\u00e4nderung sch\u00f6pfen, sondern","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"137\nHL Ursachen der Ver\u00e4nderung.\ndass ihr Entwicklungsgang selbst dadurch modificirt wird. Somit ist die Frage zu er\u00f6rtern, was die \u00e4usseren Dinge in den Organismen bewirken. Die letzteren empfangen von aussen verschiedenartige Nahrung und mannigfaltige immaterielle Einfl\u00fcsse. Es versteht sich, dass jede dieser Einwirkungen eine entsprechende Folge innerhalb der Substanz hat, dass die aufgenommenen Stoff- und Kraftmengen verarbeitet werden und dass nichts davon verloren gehen kann. Aber die Gr\u00f6sse des Eindruckes, den dadurch die von inneren Ursachen bedingte Entwicklungsbewegung erf\u00e4hrt, kann eine dreifache sein.\nEine erste M\u00f6glichkeit ist die, dass diese Bewegung gar keine St\u00f6rung erf\u00e4hrt. Wenn ein Stab innerhalb der Elasticit\u00e4tsgrenze gebogen wird, so kehrt er in seine urspr\u00fcngliche Lage zur\u00fcck, ohne eine materielle Ver\u00e4nderung erlitten zu haben. Ebenso ist es denkbar, dass ein Organismus eine Menge \u00e4usserer Einwirkungen erf\u00e4hrt, ohne dass sein Entwicklungsgang im geringsten modificirt wird. Ungleiche Nahrung, ungleiche Temperatur, imgleiche Feuchtigkeit der Luft, ungleiche Lichteinwirkung, ungleiche sinnliche Eindr\u00fccke aller Art verursachen dann bloss einen rascheren oder langsameren Gang des Lebensprocesses ; aber ihre Angriffe bleiben gleichsam innerhalb der Elasticit\u00e4tsgrenze und hinterlassen keine dauernden und vererbbaren Eindr\u00fccke.\nEine zweite M\u00f6glichkeit besteht darin, dass ein \u00e4usserer Einfluss zwar eine bleibende Einwirkung hinterl\u00e4sst und die Entwicklungsbewegung ablenkt. Aber da diese Ablenkung \u00e4usserst gering ist und da andere Ablenkungen in anderen und zum Theil in entgegengesetzten Richtungen eintreten, so ist der Gesammterfolg ein unmerklich geringer und kann deshalb vernachl\u00e4ssigt werden.\nEndlich haben wir noch die dritte M\u00f6glichkeit, dass die \u00e4usseren Einwirkungen, welche geringe bleibende Ver\u00e4nderungen zur Folge haben, w\u00e4hrend langer Zeitr\u00e4ume best\u00e4ndig in dem gleichen Sinne th\u00e4tig sind, so dass die Umstimmung zu einer bemerkbaren Gr\u00f6sse sich steigert, d. h. zu einer Gr\u00f6sse, welche in sichtbaren \u00e4usseren Merkmalen sich kund gibt. Zwei phylogenetische St\u00e4mme, die den gleichen Ursprung haben, k\u00f6nnen, wenn sie w\u00e4hrend hinreichend langer Zeit unter solchen ungleichen \u00e4usseren Einfl\u00fcssen lebten, auch ungleiche Merkmale erlangt haben.","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nUL Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nEs ist einleuchtend, dass die beiden ersten Kategorien sich bloss theoretisch unterscheiden lassen, und dass sie praktisch f\u00fcr uns auf das Gleiche herauskommen. Nach allen Erfahrungen m\u00fcssen wir die Em\u00e4hrungseinfl\u00fcsse, zu denen auch die meisten klimatischen Einwirkungen geh\u00f6ren, ihnen zuz\u00e4hlen (8. 102). Die genaue Ausscheidung der indifferenten Einfl\u00fcsse von denen, welche wahrnehmbare Ver\u00e4nderungen bewirken, ist aber deshalb schwierig, weil beide fast minier gemeinsam Vorkommen.\nWas nun diese dritte Kategorie von \u00e4usseren Einwirkungen, n\u00e4mlich diejenigen, welche deutliche und bleibende Merkmale an den Organismen hervorbringen, betrifft, so sind zwei Fragen zu beantworten: 1. Welche \u00e4usseren Ursachen hierher geh\u00f6ren und 2. welche Merkmale durch sie hervorgebracht werden. Die letztere Frage beantwortet sich leichter, und hilft dann auch zur L\u00f6sung der ersteren mit Schon eine allgemeine Uebersicht der Merkmale deutet uns den Weg an. Die Gesammtheit der Eigenschaften, die wir an den Organismen beobachten, lassen sich n\u00e4mlich unter zwei Gesichtspunkte bringen: 1. die Organisation und Arbeits-theilung im allgemeinen; 2. die Anpassung an die Aussenwelt\nDer organisatorische Aufbau im allgemeinen besteht darin, dass von den unteren zu den oberen Stufen eines Reiches immer zahlreichere Zellgenerationen mit einander zu einem Individuum verbunden bleiben, dass in gleichem Maasse die Gliederung in demselben und damit die Zahl der Organe und ihrer Theile zunimmt. Die Arbeitsteilung im allgemeinen geht mit der Organisation parallel und ist eine Folge derselben; sie bewirkt eine r\u00e4umliche Trennung der fr\u00fcher vereinigten Functionen und in Folge derselben eine Zerlegung der Functionen in Partialfunctionen. Die Anpassung an die Aussenwelt bestimmt die specielle Gestaltung der Organisation und die specielle Beschaffenheit der Arbeits-theilung und damit das charakteristische Gepr\u00e4ge und den Localton des Organismus.\nDie inneren Ursachen bedingen ein stetiges Fortschreiten der micellaren Beschaffenheit des Idioplasmas vom Einfacheren zum Zusammengesetzteren, und da die \u00e4usseren Ver\u00e4nderungen aus den inneren micellaren Anlagen hervorgehen und denselben entsprechen, so muss die fortschreitende Organisation und Arbeitstheilung im","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"HI. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\tI39\nallgemeinen durch die inneren Ursachen bewirkt werden; aus den \u00c4usseren Ursachen w&re uns dieselbe \u00fcberdem ganz unerkl\u00e4rlich. Dagegen erscheint fast als selbstverst\u00e4ndlich, dass die Anpassung an die Aussenwelt, die Mannigfaltigkeit und specielle Beschaffenheit der Gestaltung, Organisation und Arbeitstheilung nur Folge der \u00e4usseren Einfl\u00fcsse sein k\u00f6nnen; zudem Hessen sich dieselben kaum aus inneren Ursachen ableiten, da diese f\u00fcr sich allein unter allen Umst\u00e4nden eine \u00fcbereinstimmende Beschaffenheit bewirken w\u00fcrden.\nIn dieser Weise scheint mir sowohl vom theoretischen als vom Erfahrungsstandpunkte aus der Antheil der inneren und \u00e4usseren Ursachen ziemlich richtig geschieden zu sein; jenen ist die wesentliche Construction, der Aufbau aus dem Groben, diesen die \u00e4ussere Verzierung, jenen das Allgemeine, diesen das Besondere auf Rech-iiung zu setzen. Dieser Gegensatz wird in der Folge weiter ausgef\u00fchrt und begr\u00fcndet werden. Ich bemerke nur im voraus, dmm ich die Wirkung der Aussenwelt nicht im Darwin schen Sinne auf dem Umwege der Concurrenz und Verdr\u00e4ngung, sondern als unmittelbares Bewirken verstehe, und dass die Verdr\u00e4ngung und\nmit ihr die Sonderung der St\u00e4mme erst nachtr\u00e4gUch in Betracht kommt\nViel schwieriger und dunkler als die Frage, was die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse zu Stande bringen, ist die Frage, wie sie es thun, wie sie mechanisch in den Organismus eingreif en. Diese Frage ist bekanntlich von Darwin, der alle Organisation als Anpassung betrachtet, so beantwortet worden, dass von den zuf\u00e4llig eintretenden Ab\u00e4nderungen nur die unter den bestehenden Verh\u00e4ltnissen existenzf\u00e4higeren erhalten bleiben, indess die anderen unterdr\u00fcckt werden. Die \u00e4usseren\nEinfl\u00fcsse h\u00e4tten nach dieser Theorie bloss eine negative oder passive Wirksamkeit, n\u00e4mlich die, das Unpassende zu beseitigen Nach meiner Ansicht bringen sie in activer Welse\"direct diejenigen Erscheinungen zu Stande, die man als eigentliche Anpassungen bezeichnen kann, indem sie mechanisch in den Organismus ein-greifen.\nAber die Art und Weise, wie dieses Eingreifen geschieht, bleibt uns noch verborgen. Da n\u00e4mlich alle AnpaiMiingBfliinehfliniingftn erblich sind und aus Anlagen hervorgehen, so muss die Einwirkung auf die micellare Beschaffenheit des \u00abIdioplasmas stattfinden und","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nHL Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nkann um so weniger vorstellig gemacht werden, als ja alle Vorstellung \u00fcber den Mechanismus plasmatischer Substanzen noch mangelt Es lassen sich daher nur ganz allgemeine M\u00f6glichkeiten und Wahrscheinlichkeiten darthun.\nVorerst ist denkbar und fast gewiss, dass der gleiche ftussere Einfluss, er mag seinerseits irgend eine Beschaffenheit haben, in verschiedenen Organismen oder zu verschiedenen Zeiten in dem n\u00e4mlichen Organismus die dauernden Eigenschaften in ganz ungleicher Weise modificirt, weil der Weg von der Angriffostelle bis zur Organisation des Idioplasmas durch zahllose Verschlingungen und Umsetzungen verlAuft und daher nothwendig zu verschiedenen, selbst scheinbar entgegengesetzten Resultaten fahren muss.\nIm Anschluss hieran ist festzustellen, dass, wenn alle die Organismen treffenden Einfl\u00fcsse ber\u00fccksichtigt werden, jedenfidls zwei Arten der \u00e4usseren Einwirkung zu trennen sind, die unvermittelte und die vermittelte. Bei der unvermittelten Einwirkung ist der Process im wesentlichen mit den Folgen beendigt, welche sofort und zwar in analoger Weise wie in der unorganischen Natur zu Stande kommen, so dass man sie auch unschwer als die Folgen der bestimmten Ursache erkennt. Intensiveres Licht vermehrt in den gr\u00fcnen Pflanzengeweben den Reductionsprocees und die Ausscheidung von Sauerstoff, K\u00e4lte verlangsamt den Chemismus der Gew\u00e4chse, Mangel an Wasser bringt Verwelkung, reichliche Nahrung lebhafteres Wachsthum hervor. Diese unmittelbare Einwirkung wird im allgemeinen keine dauernde Ver\u00e4nderung im Idioplasma zur\u00fcck-lassen.\nBei der vermittelten Einwirkung, die man im allgemeinen als Reiz bezeichnen kann, tritt eine mannigfaltige Uebersetzung ein. Die Ursache bewirkt eine ganze Reihe aufeinander folgender molecularer Bewegungen, die uns verborgen bleiben und die in eine sichtbare Erscheinung auslaufen, deren urs\u00e4chliche Beziehung zu dem urspr\u00fcnglichen Angriff wir uns nicht mehr vorstellen k\u00f6nnen und die vielfach etwas ganz anderes ist, als was wir von demselben erwartet haben.\nSehr h\u00e4ufig erzeugt der Reiz eine Reflexbewegung und gew\u00f6hnlich macht sich seine Hauptwirkung gerade an der gereizten Stelle geltend, und zwar bei einem sch\u00e4dlichen Eingriff in der Weise, dass der Organismus sich bereit macht, denselben abzuwehren. Es","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"in. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\n141\nfindet ein Zudrang von S\u00e4ften nach der Stelle statt, welche von dem Reiz getroffen wurde, und es treten diejenigen Neubildungen ein, wolche geeignet sind, die Integrit\u00e4t des Organismus wieder herzustellen und allenfalls verloren gegangene Theile, so weit es m\u00f6glich ist, wieder zu ersetzen.\nA lisser der allgemein bekannten Reaction, welche im thierischen Organismus au! eine Verletzung oder einen heftigen Reiz mit Blutandrang und Neubildung von Gewebe antwortet, erinnere ich an die Reaction lebender Pflanzengewebe, welche um die verletzte Stelle Zellbildung beginnen l\u00e4sst und das gesunde Gewebe mit einer vielschichtigen undurchdringlichen Korkhaut (Wundkork) abechliesst und sch\u00fctzt, an das Ueberwallen von Schnittfl\u00e4chen, und an die Reaction, welche um die winzige Stelle im Innern des Gewebes, in die ein Insectenstich ein Ei mit einer \u00e4tzenden Fl\u00fcssigkeit gelegt hat, reichliche und mit dem Reiz, den die sich entwickelnde Larve aus\u00fcbt, andauernde Zelltheilung und Gallenbildung hervorbringt, \u2014 dann an die bei Thieren bekannte Erscheinung, dass der vermehrte Gebrauch eines Organs Knochen und Muskeln st\u00e4rker macht, w\u00e4hrend der Nichtgebrauch sie schw\u00e4cht u. s. w.\nNicht immer bewirkt der Reiz das Herbeistr\u00f6men von plastischen Stoffen und das Auftreten von Neubildungen ; ist er schw\u00e4cher, so veranlasst er bloss eine vermehrte oder auch eine abnormale mole-culare Th\u00e4tigkeit chemischer oder physikalischer Natur. So verh\u00e4lt es sich mit den schw\u00e4cheren Reizen, welche Licht, W\u00e4rme, K\u00e4lte, mechanische Angriffe aus\u00fcben. \u00dceberhaapt haben alle \u00e4usseren Einwirkungen, auch diejenigen, welche wir als unvermittelte unterscheiden k\u00f6nnen, nebenbei die Bedeutung von schw\u00e4cheren Reizen.\nEin Reiz, der nur eine geringere Zahl von Malen oder nur eine k\u00fcrzere Zeit lang einwirkt, hinterl\u00e4sst, wenn er auch von heftigen Reactionen begleitet ist, keinen bemerkbaren Eindruck auf das Idioplasma. Eine Person, die noch so oft von Wespen gestochen wurde, oder eine Eiche, die auf den Stich der Gallwespen noch so viele Gall\u00e4pfel erzeugt hat, vererbt davon nichts Sichtbares auf die Nachkommen. Eine Familie, deren Glieder in mehreren aufeinander folgenden Generationen die Blattemkrankheit bestanden oder mit Kuhpocken geimpft wurden, hat davon keine bemerkbaren erblichen Folgen.","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nHl. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nDauert der Reit aber w\u00e4hrend sehr langer Zeitr\u00e4ume, also durch eine sehr grosse Zahl von Generationen an, so kann er, auch wenn er von geringer St\u00e4rke ist und keine wahrnehmbaren sofortigen Reactionen hervorruft, das Idioplasma doch so weit ver\u00e4ndern, dass i erbliche Dispositionen von bemerkbarer St\u00e4rke gebildet werden. Dies , scheint wenigstens f\u00fcr die Wirkung des Lichtes zu gelten, welche viele Pflanzentheile der Sonne zu-, einige auch von derselben abwendet, und f\u00fcr die Wirkung der Schwerkraft, welche die meisten Stengel emporrichtet, die Wurzeln nach unten zu waclisen veranlasst. k\u00f6nnte zwar meinen, dass diese Wirkungen in ihrer vollen St\u00e4rke unmittelbare Folgen der \u00e4usseren Ursachen seien und es nicht der Annahme einer erblichen Disposition bed\u00fcrfe. Doch ist diese Meinung unm\u00f6glich, weil es Pflanzentheile gibt, die sich gegen\u00fcber von Licht und Schwerkraft gleichg\u00fcltig, und auch solche, die sich gerade umgekehrt verhalten als andere \u00e4hnliche Pflanzentheile, z. B. Stengel, die statt nach oben nach unten wachsen (manche Rhizome und die Stiele der kleistogamen Bl\u00fcthen von Cardamine chenopodi-folia), und solche, die statt nach dem Lichte hin, von demselben sich abwenden. Daraus geht wohl hervor, dass das Idioplasma unter dem Einfluss der Reize in verschiedenen Pflanzen sich ungleich ausgebildet hat und dass es verm\u00f6ge dieser ungleichen erblichen Beschaffenheit den einen Pflanzenstengeln das Verm\u00f6gen gibt, auf den Reiz, den das Licht oder die Schwerkraft aus\u00fcbt, in einer bestimmten Weise, andern Stengeln in entgegengesetzter Weise, und noch andern gar nicht zu reagiren.\nIn den eben angef\u00fchrten F\u00e4llen haben die \u00e4usseren Einwirkungen eine bestimmte Reizbarkeit erzeugt. Dies f\u00fchrt uns auf \u2014 ^en Umstand, dass ihre erblichen Folgen in den Organismen \u00fcberhaupt doppelter Art sind. \"Entweder werden Organisation und Function in sichtbarer Weise ver\u00e4ndert, oder es wird, indem der Organismus scheinbar gleich bleibt, bloss die moleculare Beschaffenheit so weit modifient, dass dieselbe ein anderes Verm\u00f6gen erlangt, auf Reize zu reagiren. Von den ersteren Ver\u00e4nderungen, zu denen alle Anpassungen im Bau und in den Verrichtungen geh\u00f6ren, werde ich nachher sprechen. Was die Reizbarkeit (im weiteren Sinne) betrifft, so besteht dieselbe darin, dass eine Erscheinung nur dann eintritt, wenn eine gewisse \u00e4ussere Einwirkung ihr vorausgeht Dies ist der Fall nicht bloss bei den bekannten momentanen Reactionen,","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"143\nm. Ursachen der Ver&nderung.\ndie im Thierreiche allgemein sind und im Pflanzenreiche mehr ausnahmsweise Vorkommen, sondern auch bei den vorhin erw\u00e4hnten, durch das Licht und die Schwerkraft bedingten Wachsthumsrichtungen. Die letzteren werden durch langsam eintretende Kr\u00fcmmungen verursacht, indem beispielsweise an der beleuchteten Seite gew\u00f6hnlich das Wachsthum verlangsamt ist, so dass sie concav wird, selten gef\u00f6rdert, so dass sie convex wird.\nAls ein anderes Beispiel, dass in der Pflanze bloss das Verm\u00f6gen ausgebildet wurde, auf eine \u00e4ussere Einwirkung zu reagiren, will ich die Wurzelbildung anf\u00fchren, die bei bestimmten Pflanzenarten dann eintritt, wenn gewisse Stengeitheile mit Wasser in Ber\u00fchrung kommen, w\u00e4hrend anderen Stengeltheilen der gleichen Arten und den n\u00e4mlichen Stengeltheilen anderer Gattungen diese Erscheinung mangelt Abgeschnittene Zweige von Weiden und Pappeln, die man ins Wasser stellt, bewurzeln sich sehr schnell, w\u00e4hrend der Erfolg bei Zweigen von gleicher St\u00e4rke, die auf dem Baume dauernd benetzt werden, langsamer und oft nicht eintritt Ein im Fr\u00fchjahr vor dem Austreiben der Knospen abgenommener Weidenzweig, der sich nur in feuchter Luft befindet, verh\u00e4lt sich ziemlich so wie im nat\u00fcrlichen Zustande auf dem Baume; er f\u00fchrt die in der Rinde aufgespeicherten plastischen Stoffe nach oben, um zun\u00e4chst die Endknospe zur Entfaltung zu bringen. Sowie aber ein solcher Zweig mit seinem untern Ende ins Wasser gebracht wird, so bewirkt dieses die Umkehr der str\u00f6menden N\u00e4hrstoffe; dieselben bewegen sich nun nach unten, um in der N\u00e4he der Schnittfl\u00e4che Wurzeln zu bilden, worauf dann die Str\u00f6mung nach oben -zur Knospenentwicklung fortgesetzt wird. Der Zweig eines Apfelbaumes verh\u00e4lt sich anders. Die Wurzelbildung unter dem Einfluss der Benetzung setzt also eine Disposition voraus.\nDie F\u00e4higkeit der Pflanzenorgane, sich durch Wachsthum zu drehen und zu kr\u00fcmmen, damit sie eine g\u00fcnstige Lage und Richtung erlangen, oder Wurzeln zu treiben, ist offenbar nicht durch innere Ursachen erzeugt worden. Sondern es hat sich das Tdmplmnrm unter dem langdauemden Einfl\u00fcsse des Lichtes und der Schwerkraft sowie des Wassers (letzteres bei Sumpfpflanzen) allmAhlioh so umgebildet, dass es nun auf den Reiz dieser Agentien zu antworten vermag.\nWas Licht und Gravitation betrifft, so ist zu bemerken, dass Kr\u00e4fte, welche die Richtung beeinflussen, leicht, je nach den Um-","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\nDI. Ursachen der Vertndenu*.\nst\u00e4nden, den entgegengesetzten Erfolg bewirken. Gr\u00fcne Schw\u00e4rm-sellen (Algen) bewegen sich gew\u00f6hnlich mit der beleuchteten Seite voran, also dem Lichte entgegen, bei sehr intensiver Wirkung des Lichtes aber von demselben weg. In gleicher Weise kann das Licht und die ebenfalls linear wirkende Schwerkraft die entgegengesetzten Kr\u00fcmmungen bewirken, je nach dem Grade der Empfindlichkeit des Objecte und der Intensit\u00e4t des Angriffes. Es w\u00e4re nun denkbar, dass in einem noch unbestimmten Organ je nach dem Ausschlage, welcher von der Combination der Molecularkr\u00e4fte abh\u00e4ngig ist, unter den gleichen Verh\u00e4ltnissen die einen Individuen der n\u00e4mlichen Sippe sich positiv, die anderen negativ kr\u00fcmmten, und dass dann die Concurrenz die Entscheidung g\u00e4be, welche Individuen Bestand haben und welche zu Grunde gehen, somit welche heliotropische und geotropische Richtung sp\u00e4terhin dem Organ der betreffenden Sippe zukommt.\nAuch die \u00fcbrigen Formen der Reizbarkeit, namentlich diejenige welche vorzugsweise als solche bezeichnet wird und die sich in einer sofortigen deutlichen Reaction kund gibt, verdanken ihr Dasein sehr wahrscheinlich den n\u00e4mlichen Ursachen, welche nach Ausbildung der Empfindlichkeit die Reaction hervorrufen. So d\u00fcrfte die F\u00e4higkeit des Blattes von Dionaea muscipula, sich auf den Reiz eines Insectes zu schliessen und dasselbe zu fangen, nach und nach durch die krabbelnden Insecten selber entwickelt worden sein.\nWeniger gewiss als die Ursachen der Reizbarkeit sind im allgemeinen diejenigen, welche die sichtbaren Anpassungen in der Organisation und Function bewirkt haben. Ueber einige derselben wird zwar kaum ein Zweifel bestehen k\u00f6nnen. Den Schutz den die Thiere kalter Klimate in ihrer dicken Behaarung und diejenigen weniger kalter Gegenden in ihrem Winterpelz finden, hat ihnen die Einwirkung der K\u00e4lte auf das Hautorgan gegeben. Die verschiedenen Waffen zur Abwehr und zum Angriff, den die Thiere in den H\u00f6rnern rallen, Stossz\u00e4hnen u. s..w. besitzen, sind durch den Reiz, der beim Angriff oder bei der Verteidigung auf bestimmte Stellen der\nK\u00f6rperoberfl\u00e4che ausge\u00fcbt wurde, nach und nach entstanden und gr\u00f6sser geworden.","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"m. Ursachen der Verftndenuig.\nDie Ursachen anderer und namentlich der bei den Pflanzen vorkommenden Anpassungen, von denen ich einige anf\u00fchren will, liegen weniger offenkundig da. \u2014 So sind die Landpflansen durch eine Korkbedeckung an ihrer Oberfl\u00e4che mehr oder weniger vor Verdunstung gesch\u00fctzt Die Wirksamkeit derselben ist jedermann durch die Erfahrung bekannt, wie z. B. dass ein Apfel, der den ganzen Winter frisch bleiben w\u00fcrde, rasch eintrocknet, nachdem er gesch\u00e4lt wurde. Die fr\u00fchesten Gew\u00e4chse waren Wasserbewohner; sie accli-matisirten sich nach und nach an eine feuchte, dann an eine trocknere Luft; es gibt jetzt noch viele niedere und auch einige h\u00f6here Pflanzen, die im Wasser und ausserhalb desselben leben k\u00f6nnen. Sowie nun in der Urzeit die Gew\u00e4chse aus dem Wasser kamen, wirkte die Verdunstung als Reiz auf die Oberfl\u00e4che. Das partielle Austrocknen verursachte daselbst eine negative Spannung, die man beispielsweise auch in der Rindenschicht eines austrocknenden Tropfens von Gummischleim leicht nachweisen kann. Ausser dieser ver\u00e4nderten Combination der Molecularkr\u00e4fte bestand der Reis ferner noch in der reichlicheren Zufuhr von Sauerstoff, wohl auch in der energischeren Wirksamkeit des zwischen den \u00e4ussersten Membianmicelkn verdichteten Sauerstoffe und verursachte die chemische Umwandlung der oberfl\u00e4chlichsten Celluloselage in Korksubstanz.\nSo haben die Landpflanzen die erbliche F\u00e4higkeit erlangt, die \u00e4usserste Celluloseschicht ihrer Epidermissellen zu verkorken. Wachsen die Organe mit dem Aelterwerden in die Dicke, so wird das aus Kork bestehende Oberh\u00e4utchen zerrissen ; die Verdunstung nnd der Zutritt von Sauerstoff wirken nun auf das unterliegende Zellgewebe ein und der Reiz veranlasst die Bildung einer mehrschichtigen Korkzellenhaut, welcher Vorgang bei andauerndem Dickenwachsthum sich von Zeit zu Zeit wiederholt Man kann die Bedingungen k\u00fcnstlich hersteilen. Wenn man Kartoffeln, welche, gleich den \u00fcbrigen Landpflanzen, die F\u00e4higkeit erlangt haben, eine solche Knikh\u00ab\u00bb* (die Kartoffelschale) zu bilden, quer durchschneidet und die Schnittfl\u00e4che der Verdunstung und der Einwirkung der Luft \u00abn\u2014\u00abfrt. so entsteht innerhalb derselben eine sch\u00fctzende Korkhant Bewahrt man dagegen die Schnittfl\u00e4che vor der Verdunstung und der Lufteinwirkung, indem man sie auf eine Glasplatte oder einen Teller legt oder in Wasser bringt, so bleibt die Korkbildung aus und es tritt F\u00e4ulniss ein.\nN\u00e4geli, Abstammungslehre.\n10","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nm Ursachen dar Verftnderoiw.\nDer Reiz hat bei verschiedenen Pflanzen und verschiedenen Organen einen sehr ungleichen Grad der Verkorkung verursacht Pflanzen, die f\u00fcr eine leuchte Atmosph\u00e4re bestimmt sind, Organe, die nur eine kurze Lebensdauer erreichen, haben eine d\u00fcnne Korkbedeckung, w\u00e4hrend PflanzentUeile von l\u00e4ngerer Dauer und in sehr trockener Luft auch sehr gut gesch\u00fctzt werden.\nDie Landpflanzen haben ausser dem weichen Zellgewebe, welches die Ern\u00e4hrung und auch die Leitung der Stolle besorgt, dickwandige durch Verholzung festgewordene Zellen, die das Holz und den Bast zusammensetzen. Diese verholzten Gewebe verrichten mechanische Functionen und sind deshalb auch mechanische genannt worden1). Sie tragen und st\u00fctzen die weichen Gewebe, sie bewahren die Organe vor dem Zerbrechen und Zerreissen. Den Wasserpflanzen, welche weder ihr eigenes Gewicht zu tragen, noch der Gewalt der Winde zu widerstehen haben, mangeln die mechanischen Zellen hist g\u00e4nzlich. Dieselben bildeten sich erst und zwar vorzugsweise aus den d\u00fcnnwandigen, langen und engen Zellen der Gefessstr\u00e4nge, als die urspr\u00fcnglichen Wasserbewohner zu Landbewohnern wurden.\nDa die mechanischen Gewebe genau so angeordnet sind, wie es f\u00fcr freistehende oberirdische Organe die Druck- und Biegungsfestigkeit, f\u00fcr die unterirdischen und f\u00fcr einige oberirdische Organe die Zugfestigkeit verlangt, da also ihre Lage den mechanischen Anforderungen entspricht, so ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie durch die Spannungen, welche Druck und Zug bewirkten, entstanden sind. Denn diese Spannungen waren gerade da am st\u00e4rksten, wo sich jetzt die mechanischen Zellen befinden. Ferner mussten die Spannungen vorzugsweise in den langgestreckten Zellen der Fibro-vasalmassen (Gefessstr\u00e4nge) sich geltend machen, weil die kurzen und weiten Parenchymzellen mit ihren gr\u00f6sseren Zwischenzellr\u00e4umen leichter durch Gestalts\u00e4nderung der mechanischen Gewalt nachgeben k\u00f6nnen. Es ist also wohl denkbar, dass die wichtige Einrichtung der mechanischen Gewebe im Pflanzenreiche unter dem Einfluss des von \u00e4usseren Kr\u00e4ften bewirkten Reizes zur Ausbildung gelangte.\nW\u00e4hrend die meisten Pflanzen durch den aufgerichteten festen Stengel in den Genuss von Licht, Luft und Thau gelangen, klettern andere mH schwachen Stengeln versehene an den ersteren empor,\n') Schwendener, Dm mechanische Princip im timtom^Kpn Bau der Monocotylen.","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"UL Ursachen der Verftndenmg.\t142\num sich in den Genuas der n\u00e4mlichen Vortheile au setzen. Sie bedienen sich dazu verschiedener Mittel, die aber alle phylogenetisch den n\u00e4mlichen Ursprung haben konnten. Denken wir uns, es befinden sich Gew\u00e4chse, die eines betr\u00e4chtlichen L\u00e4ngenwachsthums f\u00e4hig sind, aber aus irgend einem Grunde keinen tragfesten Stengel gebildet haben oder bilden konnten, im Geb\u00fcsch. Der Lichtmangel und die gr\u00f6ssere Feuchtigkeit des Schattens macht sie \u00abinigmtn\u00fcaa^\u00bbn vergeben ; ihre Organe werden in Folge dessen l\u00e4nger, d\u00fcnner, mit weicherem Gewebe und schw\u00e4cherem Kork\u00fcberzug; zugleich wild durch diese Eigenschaften die Empfindlichkeit f\u00fcr Reize gesteigert Der schlaffe Stengel legt sich da und dort, sowie er wieder ein St\u00fcck in die H\u00f6he gewachsen ist, auf die festen Amte dm Buschwerks. An diesen Stellen entsteht schon durch die mechanische Wirkung eine schwache Biegung, welche durch den Reiz der Ber\u00fchrung vermehrt wird, indem derselbe an der betreffenden Seite eine relative Verk\u00fcrzung (geringere Streckung) bewirkt Die Reizbarkeit wird erblich und bildet sich von Generation zu Generation weiter aus. Sie kommt nicht bloss dem Stengel, sondern auch den Bl\u00e4ttern zu, weil diese ebenso h\u00e4ufig mit fremden K\u00f6rpern in Ber\u00fchrung treten und zu Biegungen veranlasst werden. Die Biegungen der Stengel und Bl\u00e4tter dienen den Pflanzen als St\u00fctzpunkte, vermittelst welcher sie in allerdings noch einfacher und primitiver Weise im Buschwerk emporklettem.\nDies mag der urspr\u00fcngliche, aber erst nach langen Zeitr\u00e4umen erreichte Zustand der Kletterpflanzen gewesen sein; derselbe hat sich durch noch l\u00e4ngere Zeitr\u00e4ume in verschiedener Weise um- und ausgebildet. Die Ver\u00e4nderungen bestanden einmal darin, dass die Reizbarkeit, indem sie sich steigerte, nur in bestimmten Organen oder auch nur auf einer bestimmten Seite eines Organs erhalten blieb und sich im \u00fcbrigen verlor; \u2014 ferner darin, dam die reizf\u00e4higen Organe ihre Gestalt ver\u00e4nderten und rankenf\u00f6rmig (d\u00fcnn und |png) wurden; \u2014 endlich darin, dam die Biegung, die fr\u00fcher auf den Reiz erfolgte, sp\u00e4ter von selbst eintrat, und dam sie, da keine Seite des Organs einen Vorzug hatte, und da rotirende Processe in den Pflanzen \u00fcberhaupt h\u00e4ufig und in verschiedener Form auftreten, naturgem\u00e4ss zur Circumnutation wurde.\nBei den einen Gew\u00e4chsen traten diese, bei anderen jene Aende-rungen ein. Die Ursachen des verschiedenen Verhaltens bestanden\n10*","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148\tUI. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\njedenfalls einerseits in der verschiedenen Natur der Pflanzen, andrerseits in der verschiedenen Beschaffenheit des Buschwerkes, in dem sie sich befanden, sowie in dem Wechsel dieser Umgebung, dem sie bei Wanderungen unterworfen waren. Die urs\u00e4chliche Erkl\u00e4rung aber l\u00e4sst sich wohl noch nicht im einzelnen ausf\u00fchren ; wir liaben einstweilen nur das Resultat der Ver\u00e4nderungen vor uns. Die Blatt-kletterer umschlingen mit den reizbaren Stielen oder verl\u00e4ngerten Spitzen der gr\u00fcnen Bl\u00e4tter die St\u00fctze. Bei den Rankenkletterern ist das ganze Organ oder der Endtheil desselben fadenf\u00f6rmig und reizbar, umschlingt in Folge des Reizes und rollt sich am freien Theil schraubenf\u00f6rmig ein. Die Stengelkletterer (windende oder Schlingpflanzen) m\u00f6gen anf\u00e4nglich einen reizbaren Stengel gehabt und sich mit demselben in der Art um die St\u00fctze gewunden haben, wie es Mohl irrth\u00fcmlich f\u00fcr die jetzigen Schlinggew\u00e4chse annahm, n\u00e4mlich so, dass das sich verl\u00e4ngernde Ende fortw\u00e4hrend durch Ber\u00fchrung mit der St\u00fctze gekr\u00fcmmt und somit an dieselbe angedr\u00fcckt wurde. Die Reizbarkeit ging dann ganz verloren, indem an die Stelle der Reizbiegung die autonome Circumnutation trat, welche in Verbindung mit anderen Wachsthumsvorg\u00e4ngen zur Befestigung der kletternden Pflanzen ausreichte.\nDie gr\u00fcnen Bl\u00e4tter zeigen eine bemerkenswertho Verschiedenheit zwischen der oberen dem Lichte zugekehrten und der unteren im Schatten befindlichen Fl\u00e4che. Dort ist das Gewebe fester, mit wenigen oder ohne Spalt\u00f6ffnungen, somit vor der Verdunstung gesch\u00fctzt; die Aushauchung von Wasserdampf geschieht fast ausschliesslich an der unteren, aus lockerem Gewebe bestehenden und mit zahlreichen Spalt\u00f6ffnungen versehenen Seite, wo sie nie durch das direkte Sonnenlicht zu einem verderblichen Gimle gesteigert wird. Diese ungleiche Beschaffenheit in Bau und Verrichtung kann eine Folge der ungleichen Einwirkung von Licht und strahlendor W\u00e4rme sein, indem der st\u00e4rkere Reiz an der oberen Seite das festere Gef\u00fcge des Zellgewebes verursachte.\nEs gibt auch gr\u00fcne flachgedr\u00fcckte Stengel, welche die gleiche Function besitzen wie die gr\u00fcnen Bl\u00e4tter, die aber an beiden Fl\u00e4chen gleich gebaut sind. Man k\u00f6nnte nun vielleicht fragen, warum dieselben nicht, analog den Bl\u00e4ttern, zwei verschiedene Seiten, eine Sonnen-und eine Schattenseite besitzen. Bei den Stengeln konnte sich aber die Ungleichheit nicht ausbilden, weil die Orientirung derselben","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"149\nin. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nmit jeder Generation und selbst bei dem n&mlichen Stengel in Folge der Drehung um seine Achse von unten nach oben wechselt, w\u00e4hrend bei den Bl\u00e4ttern die Orientirung durch die Anheftung am Stengel morphologisch bestimmt ist und daher durch alle Generationen die n\u00e4mliche bleibt.\nBesondere Aufmerksamkeit haben von jeher die mit der Fortpflanzung verbundenen Einrichtungen erregt und sind in neuester Zeit bestimmt als Anpassungen an die Aussenwelt in Anspruch genommen worden. So sehen wir bei der Mehrzahl der Phanero-gamen die Geschlechtsorgane umgeben von grossen gl\u00e4nzend gef\u00e4rbten Blumenkronen, welche keinen anderen Nutzen gew\u00e4hren, als dass sie die blflthenbesuchenden, Blumenstaub und Honig sammelnden Insecten anlocken und dadurch die Kreuzu: .g zwischen den Individuen gegen\u00fcber der Selbstbefruchtung bef\u00f6rdern. Sie mangeln den Gef\u00e4sscryptogamen und den Gymnospermen, welche die niedrigste Abtheilung der Phanerogamen darstellen, sowie einigen Gruppen der Monocotylen (z. B. den grasartigen Gew\u00e4chsen) und der Dicotylen (z. B. den k\u00e4tzchentragenden B\u00e4umen).\nStaubgeffts86 und Kronbl\u00e4tter sind mit einander nahe verwandt; die enteren verwandeln sich leicht in die letzteren, welche Umwandlung bei den doppelten oder gef\u00fcllten Blumen sichtbar wird. Die Staubgef\u00e488e sind blattartige Organe; sie treten auch in ihrer einfachsten und urspr\u00fcnglichsten Form als kleine schuppenf\u00f6rmige Bl\u00e4tter auf. Aus solchen schuppenartigen Staubgef\u00e4ssen, in einigen F\u00e4llen vielleicht auch aus sterilen, dieselben umh\u00fcllenden Deckbl\u00e4ttern sind durch betr\u00e4chtlich gesteigertes Wachsthum die Kronbl\u00e4tter hervorgegangen. Diese Steigerung des Wachsthums mag wesentlich durch den Reiz veranlasst worden sein, welche die bl\u00fcthenstaub- und s\u00e4fteholenden Insecten fortw\u00e4hrend durch Krabbeln und kleine Stiche verursachten. Wenn ein einmal wirkender Reis eine Wucherung des Zellgewebes erzeugt, wie wir sie bei der Gallenbildung durch Gallwespenstich, bei den haarf\u00f6rmigen Bildungen aus den Epidermiszellen an verschiedenen Bl\u00e4ttern durch eine Colonie winziger Milben kennen, so muss auch ein durch zahllose Generationen fortdauernder schwacher Reiz die Umwandlung einer kleinen Schuppe in ein grosses Kronblatt zu Stande bringen k\u00f6nnen.","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"150\nHL Ursachen der Verlndenu\u00ab.\nZu den merkw\u00fcrdigsten und allgemeinsten Anpassungen, die wir an der Gestalt der BlOthen beobachten, geh\u00f6ren die langr\u00fchrigen Kronen in Verbindung mit den langen R\u00fcsseln der InsecteL, welche im Grunde der engen und langen Rohren Honig holen und dabei die Fremdbest\u00e4ubung der Pflansen vermitteln. Beide Einrichtungen, die vegetabilische und die animalische, erscheinen so recht wie f\u00fcr einander geschaffen. Beide haben sich allm\u00e4hlich zu ihrer jetzigen H\u00f6he entwickelt, die langr\u00f6hrigen Bl\u00fcthen ans rOhrenloeen und kurxr\u00f6hrigen, die langen aus kurzen R\u00fcsseln. Beide haben sich ohne Zweitel in gleichem Schritt ausgebildet, so dass stets die L\u00e4nge der beiden Organe ziemlich gleich war.\nWie k\u00f6nnte nun ein solcher Entwicklungsprooess nach der Selectionstheorie erkl\u00e4rt werden, da in jedem Stadium desselben vollkommene Anpassung bestand? Die Blumenrohre und der R\u00fcssel hatten beispielsweise einmal die L\u00e4nge von 6 oder 10\u2014 erreicht. Wurde nun die Blumenrohre bei einigen Pflanzen l\u00e4nger, so war die Ver\u00e4nderung nachtheilig, weil die Insecten beim Besuche derselben nicht mehr befriedigt wurden und daher Bl\u00fcthen mit k\u00fcrzeren R\u00f6hren aufsuchten; die l\u00e4ngeren Rohren mussten nach der Selectionstheorie wieder verschwinden. Wurden andrerseits die Rflmrftl bei einigen Thieren l\u00e4nger, so erwies sich diese Ver\u00e4nderung als \u00fcberfl\u00fcssig und musste nach der n\u00e4mlichen Theorie als. unnOthiger Aufwand beseitigt werden. Die gleichzeitige Umwandlung der Organe aber wird nach der Selectionstheorie zum M\u00fcnchhausen, der sich selbst am Zopfe ans dem Sumpfe zieht\nNach meiner Vermuthung konnten die langen Blumenrohren aus kurzen in gleicher Weise entstehen wie die grossen Blumenbl\u00e4tter aus kleinen. Durch die best\u00e4ndigen Reize, welche die kurzen R\u00fcssel der Insecten ans\u00fcbten, wurden die kurzen Rohren veranlasst sich zu verl\u00e4ngern. Dieses Wachsthum erfolgte als nothwendige Wirkung ihrer Ursache, obgleich es zun\u00e4chst f\u00fcr die Pflansen sich unvorteilhaft erwies. Mit der wachsenden L\u00e4nge der Blumenrohre, welche, weil durch die n\u00e4mliche Ursache bewirkt eine allgemeine Erscheinung bei den Individuen einer Sippe war, verminderte sich f\u00fcr die Insecten die Leichtigkeit des Nektarholens. Dieselben wurden zu gr\u00f6sseren Anstrengungen gezwungen, und der damit verbundene Reiz, sowohl der physische, den das Organ bei der Arbeit erlitt, als der psychische, welcher in der gesteigerten Begierde nach dem Ziele","page":150},{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"UI. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\n161\nlag, verursachte eine Verl\u00e4ngerung des R\u00fcssels, so lange, als eine Verl\u00e4ngerung der Blumenrohre ihr vorausging. Dabei ist selbstverst\u00e4ndlich, dass jede Pflanze nur zu einem begrenzten Wachsthum der Blume und jedes Insect nur zu einem begrenzten Wachsthum des R\u00fcssels sich bef\u00e4higt zeigt.\nDie Honigabeonderung, die im Grunde der meisten nicht st\u00e4ubenden Bl\u00fcthen stattfindet, ist offenkundig eine f\u00fcr die Pflanzen n\u00fctzliche Einrichtung, weil sie den Insectenbesuch ganz besonders bef\u00f6rdert Honigdr\u00fcsen kommen aber nicht bloss in den Bl\u00fcthen, sondern auch an den Laubbl\u00e4ttern einiger Pflanzen (Viburnum Tinus, Clerodendron u. s. w.) vor und sind daher keine eigens f\u00fcr die Befruchtung hergestellte Anpassung. Was die Ursache betrifft, welche diese Organe erzeugte, so m\u00f6chte ich vermuihen, dass sie ebenfalls in dem durch die Insecten ausge\u00fcbten Reiz zu suchen ist, welche mit Bohrwerkzeugen an ihren Mundtheilen versehen sind (Fliegen, Bienen, Schmetterlinge) und Pflanzenzellen anbohren, um den Saft derselben zu gewinnen.\nEs erscheint mir nun sehr plausibel und ganz in Ueberein-Stimmung mit den bekannten ontogenetischen Reactionen auf \u00e4hnliche Verwundungen, wenn wir annehmen, dass der mit dem genannten Angriff verbundene und durch eine lange Generationenreihe sich stets wiederholende Reiz schliesslich zu der phylogenetischen Bildung eines besonderen Dr\u00fcsenorgans gef\u00fchrt habe. Dass dasselbe fast bloss im Grunde der Bl\u00fcthen sich findet, erkl\u00e4rt sich daraus, dass diese Region wie keine andere an der Oberfl\u00e4che des Pflanzenk\u00f6rpers aus einem weichen saftigen Gewebe besteht.\nDie N\u00fctzlichkeit der Erscheinung f\u00fcr die Fortpflanzung kgfrfo keinen Einfluss auf die Entstehung des Organs, und wenn die Selec-tionstheorie durch ihr Princip sich gen\u00f6thigt sieht, auch in den an gr\u00fcnen Bl\u00e4ttern befindlichen Honigdr\u00fcsen eine f\u00fcr die betreffenden Pflanzen besondere vorteilhafte Einrichtung zu vermuthen, so d\u00fcrfte sie sich wohl einer T\u00e4uschung hingeben. Der Organismus hat in diesem Fall, wie in allen anderen, lediglich auf einen Reiz geantwortet. Eine solche Reaction ist, wenn sie sich phylogenetisch zu einer Einrichtung entwickelt, allerdings vorteilhaft, indem sie einen ferneren Reiz unm\u00f6glich oder unwirksam macht. Durch die Bildung eines Honig absondemden Organs hat sieh die Pflanze auf eine nat\u00fcrliche Art gegen die st\u00f6renden Eingriffe der Insectenbohr-","page":151},{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152\nHL Ursachen der VerZndenu*.\nWerkzeuge pech\u00fctzt, da an dieser SteUe eine derbe hautartige Be-deckung mit dem Organisationsplan unvereinbar war. Wenn ausser diesem unmittelbaren Nutzen ein ganz anderer mittelbarer Vortheil f\u00fcr das Befrachtungsgesch\u00e4ft aus der Einrichtung gezogen wird, so ist dies weiter nichts als ein gl\u00fccklicher Zufall.\nEs gibt noch eine Einrichtung in den meisten Bl\u00fcthen der Phanerogamen, welche ich von der Einwirkung der Insecten ableiten m\u00f6chte. Pflanzen mit kleiner unscheinbarer oder \"\u00abmg^nder Bl\u00fcthen* decke und ohne Honigabsonderung, die deswegen auch von den Ineecten im ganzen wenig oder nicht besucht weiden, verstauben ihren Pollen durch den Wind. In den Bl\u00fcthen dagegen mit grossen Blumenbl\u00e4ttern mH Honigdr\u00fcsen und mH reichlichem Insecten-besuch h\u00e4ngen die Pollenk\u00f6mer durch eine klebrige Substanz mehr oder weniger zusammen und werden vom Winde nicht zerstreut Die erste Erscheinung ist die urspr\u00fcngliche, die letztere hat sich phylogenetisch aus jener herausgebildet\nDie Insecten, welche auf den Bl\u00fcthen herumkrochen, um Bl\u00fcthenstaub und S\u00e4fte zu holen, \u00fcbten bei dieser Besch\u00e4ftigung mcht bloss auf die Bl\u00e4tter und den Grand der Bl\u00fcthe einen Reiz aus, sondern namentlich auch auf die Staubbeutel, sowohl durah die Tritte ihrer F\u00fcsse und die Stiche ihrer Bohrwerkzeuge, als durah verschiedene andere mechanische Angrille. Die Folgen solcher Reize sind im allgemeinen Wucherung des Zellgewebes bei st\u00e4rkerer Einwirkung, Vermehrung verschiedener Th\u00e4tigkeiten bei schw\u00e4cherer Reizwirkung. Die genannten Eindr\u00fccke, welche w\u00e4hrend langer Zeitr\u00e4ume auf die Staubbeutel ausge\u00fcbt wurden, haben denn auch eine phylogenetische Ver\u00e4nderung derselben hervorgebracht Die Staubbeutel sind gr\u00f6sser, die Wandungen der Zellen, in denen sich die Pollenk\u00f6mer bilden, dicker geworden, und aus der desorgani-sirten Substanz dieser Wandungen ist die klebrige Substanz hervorgegangen, welche die Pollenk\u00f6mer\t__ Zwar\nman das Bedenken \u00e4ussern, dass die Staubbeutel den Reiz in der Regel erst zu der Zeit in sehr wirksamer Weise empfingen, als die Pollenk\u00f6mer schon gebildet waren. Allein in protogynischen Bl\u00fcthen erfolgte derselbe doch in verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig fr\u00fcher Zeit und ferner hatten auch die noch unge\u00f6ffneten Bl\u00fcthenknoepen verschiedene Angriffe der Insecten zu bestehen, \u00fceberdem ist es sicher, dass ein s\u00e4cularer Reiz, welcher eine phylogenetische Wirkung hat, das","page":152},{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"UI. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\t153\nOrgan nicht bloss in dem Zustande, in dem er es trifft, sondern auch in fr\u00fcheren Entwicklungsstadien zu ver\u00e4ndern vermag.\nAusser der Gr\u00f6sse und Gestalt der Blumenkronen, der Honigabsonderung und dem klebrigen Bl\u00fcthenstaub gibt es bekanntlich noch zwei Erscheinungen, welche die Anpassung der Bl\u00fcthen an den Insectenbesuch vervollst\u00e4ndigen, n\u00e4mlich die Farbe und der Geruch dieser Organe. Aber diese beiden Erscheinungen k\u00f6nnen am allerwenigsten als eigens f\u00fcr die Fortpflanzung bestimmt gelten, da sie nur ganz allgemeine Vorkommnisse der vegetativen Organe in der reproductiven Sph\u00e4re wiederholen.\nWas die Farbe betrifft, so ist, wie ich zuerst erw\u00e4hnen will, von Wichtigkeit, dass die Blumenbl\u00e4tter in Bau und Verrichtung der Gewebe genau mit dem sterilen Theil der Staubgef\u00e4sse \u00fcbereinstimmen, und dass sie von den \u00fcbrigen Bl\u00e4ttern vorz\u00fcglich durch die nicht gr\u00fcne Farbe, die zartere Structur der Zellen und den Mangel der Spalt\u00f6ffnungen sich unterscheiden. Diese Eigent\u00fcmlichkeiten der Staubgef\u00e4sse h\u00e4ngen ohne Zweifel mit ihrer kurzen Dauer zusammen; und sie kommen als Erbtheil auch den aus den Staub-gef\u00e4ssen hervorgegangenen Blumenbl\u00e4ttern zu. Ein Organ, welches kein Chlorophyll bildet und also nicht gr\u00fcn wird, muss entweder farblos (weiss) sein oder irgend eine andere Farbe zeigen. Das sterile Gewebe der Staubgef\u00e4sse ist \u00f6fters schwach gef\u00e4rbt; die Blumenbl\u00e4tter nehmen \u00e4hnliche, nur intensivere Farben an, was mit auf die viel st\u00e4rkere Einwirkung des Lichtreizes zu setzen sein d\u00fcrfte. Die n\u00e4mlichen Farbstoffe, wie sie in den Bl\u00fcthen gebildet werden, sind \u00fcbrigens h\u00e4ufig auch in anderen Organen enthalten. Wir finden die rothen und blauen Farbstoffe, die im Zellsaft der meisten Blumenbl\u00e4tter gel\u00f6st sind, nicht nur in Fr\u00fcchten (Kirschen, Trauben), sondern auch in Laubbl\u00e4ttem schon im Sommer oder erst im Herbst (Amp\u00e9lopsis), in Stengeln (Cornus), in Haaren und Wurzeln (rothe R\u00fcben). Wir finden sie selbst abw\u00e4rts durch das ganze Pflanzenreich bis zu den einfachsten Gew\u00e4chsen (einige Florideen enthalten neben dem rothen unl\u00f6slichen Fartistoff einen rothen gel\u00f6sten, einige Oscillariaceen ausser dem spangr\u00fcnen unl\u00f6slichen einen violetten oder blauen gel\u00f6sten Farbstoff).","page":153},{"file":"p0154.txt","language":"de","ocr_de":"154\nHL Ursachen dar Ver\u00e4ndern!*.\nDie Ursachen, welche die genannten Farbstoffe erzeugen, sind also nicht auf die Bl\u00fcthen beschr\u00e4nkt, sondern allgemein durch das Pflanzenreich verbreitet. Sehr wahrscheinlich hegen sie nicht schon in der Substanz selber, sondern in \u00e4usseren Einflfwn Da diese Einfl\u00fcsse sich unserer Erkenntniss entziehen, so verm\u00f6gen wir wich den unmittelbaren Vortheil, der vielleicht durch die fragliche Farbstoffbildung f\u00fcr die Pflanzen erlangt wird, nicht einzusehen. Der weitere Nutzen aber, den sie unzweifelhaft bei der Fortpflanzung gew\u00e4hren, kann, wie derjenige der Honigabsonderung, nur ein mittelbarer und zuf\u00e4lliger sein.\nGanz ebenso wie mit den Farben verh\u00e4lt es sich mit den Ger\u00fcchen der Bl\u00fcthen. Die Gewissheit, dass ihre Ursachen keine direkte Beziehung zu der Befruchtung und Fortpflanzung haben, tritt hier noch \u00fcberzeugender hervor, weil die Ger\u00fcche der Blumen an Intensit\u00e4t und allgemeinem Vorkommen sogar von den aromatischen Verbindungen der vegetativen Organe, namentlich der gr\u00fcnen Bl\u00e4tter, \u00fcbertroffen werden.\nWenn ich die Ursachen f\u00fcr die mit dem Insectenbesucli zusammenh\u00e4ngenden Anpassungen bei der Fortpflanzung der Phane-rogamen richtig erkannt habe, so wurden die Ab\u00e4nderungen der urspr\u00fcnglichen Bl\u00fcthen wesentlich durch die bei diesem Besuche stattfindenden mannigfaltigen Reize hervorgebracht Man k\u00f6nnte vielleicht entgegnen, warum die Gallwespen, die j\u00e4hrlich ihre Eier in die vegetativen Organe der Eichb\u00e4ume und anderer Pflanzen legen, nicht ebenfalls Anpassungsver\u00e4nderungen hervorgebracht haben. Aber die Verh\u00e4ltnisse sind in den beiden F\u00e4llen doch wesentlich verschieden. In den Bl\u00fcthen erf\u00e4hrt das n\u00e4mliche Organ durch alle Generationen hindurch ganz in der gleichen Weise den Insecvan-reiz. In den vegetativen Organen ist es bald diese, bald jene Stelle, welche getroffen und welche bald in der einen, bald in der andern Weise verletzt wird. Genau die gleiche Stelle an dem Stammger\u00fcste oder der n\u00e4mliche Theil des gleichen, durch seine Stellung am Stammger\u00fcste bestimmten Blattes wird kaum alle zehn, vielleicht kaum alle hundert Jahre einmal von dem n\u00e4mlichen Insect gestochen. Ueberdies ist der Reiz der Insecten auf die Bl\u00fcthentheile ein dauernder und schwacher, und als solcher f\u00fcr Erzeugung\nphylogenetischer Umbildung viel geeigneter als ein einmaliger heftiger Eingriff.","page":154},{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"IIL Unsch\u00f6n der Verftnderang.\tjgg\nIndem die Insecten die* Veranlassung sur VergrOsserung der Blumenkrone, sur Honigabeonderung und sum Klebrigwerden des Pollens gaben, war ihre Wirkung *\u00fcr die Pflanzen n^htlw\u00bbji,g wej| f\u00fcr die ersten zwei Erscheinungen eine grossere Arbeit aufgewendet werden musste, und weil die dritte Erscheinung die regelm\u00e4ssige Befruchtung beeintr\u00e4chtigte. Besonders der letztere Umstand hat wohl unter den Myriaden ausgestorbener Pflanzensippen die Vernichtung mancher derselben verursacht, und er w\u00fcrde noch gr\u00fcndlicher aufger\u00e4umt haben, wenn nicht der Insectenbesuch durch Vermittelung der Best\u00e4ubung die Nachtheile, die er gebracht, selber aufgewogen h\u00e4tte.\nW\u00e4hrend die meisten auffallenden Ab\u00e4nderungen der urspr\u00fcnglichen kleinen und unscheinbaren Bl\u00fcthen auf Rechnung der Insecten zu setzen sind, l\u00e4sst sich dasselbe nicht auch f\u00fcr Farbe und Geruch annehmen, wie ich gezeigt habe. Wenn zwar auch diese Erscheinungen den Insecten als Selectionsresultat zugeschrieben werden, so ist daf\u00fcr doch nicht der geringste Beweis geleistet Bez\u00fcglich der Farben, welche von den Pflanzen durch Auswahl festgehalten worden sein sollen, um gewisse Classen von Insecten vom Besuche auszuschliessen, sind die Beobachter selber ganz ungleicher Meinung. Dass bestimmte Blumenfarben deswegen Bestand gewonnen haben, weil bestimmte Insecten eine Vorliebe f\u00fcr sie besessen, ist im Grunde weiter nichts als eine willk\u00fcrliche Annahme, und wenn H. M\u00fcller in consequenter Verfolgung dieses Gedankens u. a. sagt, dass \u00bbBienen und Hummeln sich Blumen der verschiedensten Farben gez\u00fcchtet habenc und dass beispielsweise dieselben \u00bbauch in der Familie der Primulaceen sich nnnocr rothen und violetten auch gelbe Blumen gez\u00fcchtet habenc, so konnte man wohl mit mehr Recht annehmen, dass die Aufmerksamkeit dieser Insecten von jeder Farbe erregt wird und dass sie sich gar nichts z\u00fcchteten.\nUm die Frage sicher zu entscheiden, ob gewisse Farben mehr als andere, und gewisse Ger\u00fcche mehr als andere, bestimmte Insecten anzulocken verm\u00f6gen, m\u00fcsste der Weg des Experiments eingeschlagen werden. Es m\u00fcssten k\u00fcnstliche Blumen von verschiedener Farbe, theils ohne Geruch, theils mit verschiedenen aromatischen Verbindungen wohlriechend gemacht, an gr\u00fcne Zweige befestigt und der Insectenbesuch genau beobachtet werden. Ich habe mit Erfolg","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"166\nm. Ur\u2014eben der Ver\u00e4nderung.\neine solche experimentelle Behandlung schon in den Jahren 1868 und 1864, aber nur f\u00fcr einen ganz allgemeinen Zweck angewendet1) und mich dabei \u00fcberzeugt, dass die Insecten durch die Farbe und den Geruch [der papiemen Blumen herbeigelockt wurden. Dieser Weg h\u00e4tte f\u00fcr specieUe Zwecke weiter verfolgt werden sollen; derselbe h\u00e4tte wohl zuverl\u00e4ssigere Ergebnisse versprochen, als die blosse Beobachtung der nat\u00fcrlichen Blumen, in denen immer verschiedene Momente Zusammenwirken. Er w\u00fcrde zwar nicht gezeigt haben, welche Farben und Ger\u00fcche den Insecten ihr Dasein verdanken, aber ganz bestimmt, f\u00fcr welche Farben und Ger\u00fcche jede Art Vorliebe besitzt.\nZu den merkw\u00fcrdigsten Anpassungen, die bei der Fortpflanzung der Phan\u00e9rogumen Vorkommen, geh\u00f6rt die Einrichtung der dimorphen und trimorphen Bl\u00fcthen. Um diese Einrichtung dem nicht botanischen Leser in Erinnerung zu bringen, bemerke ich, dass bei Dimorphismus (z. B. Primula) die einen Bl\u00fcthen kurze, die anderen lange Griffel besitzen. In den kurzgriffeligen Bl\u00fcthen befinden sich die Staubgef\u00e4sse oben, in den langgriffeligen aber tiefer in der Kronr\u00f6hre, so dass also Narbe und Staubbeutel in der gleichen Bl\u00fctho in zwei Stockwerken befindlich und m\u00f6glichst von einander entfernt sind, in verschiedenen Bl\u00fcthen aber in gleicher H\u00f6he Hegen, indem die einen Bl\u00fcthen im untern Stockwerk die Narbe, im obem die Staubbeutel, die andern dagegen im untern Stockwerk die Staubbeutel, im obem die Narbe enthalten. \u2014 Bei Trimorphismus (z. B. Lythrum SaHcaria) gibt es dreierlei Bl\u00fcthen, n\u00e4mUch solche mit kurzem, solche mit mittellangem und solche mit langem Griffel. Vor den meist 10 Staubgefcssen hat die eine H\u00e4lfte einen h\u00f6heren die andere einen tieferen Stand, in der Weise, dass die m\u00e4nnhehen und weibUchen Geschlechtsorgane in jeder Bl\u00fcthe drei Stockwerke einnehmen. Die Narbe befindet sich im unteren, mittleren oder oberen Stockwerk und je die beiden anderen Stockwerke sind von den Staubgef\u00e4ssen besetzt.\nDieser morphologischen Anordnung entspricht in physiologischer Beziehung die Erfahrung, dass m\u00e4nnUche und weibliche Organe, die dem gleichen Stockwerk angeh\u00f6ren, in den Bl\u00fcthen also einen gleich hohen Stand zeigen, sich am leichtesten befruchten und die gr\u00f6sste Menge von Samen \u00dcefem, w\u00e4hrend Geschlechtsorgane ver-\n*) Entstehung und Begriff der naturhistorischen Art. 1865.","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"167\n111. Ursachen der Verftnderui^.\nschiedener Stockwerke eine Abneigung gegen die Begattung kund thun und eine weniger sahireiche Nachkommenschaft geben; die Abneigung kann so weit gehen, dass die Befruchtung ganz ausbleibt. Die Begattungen zwischen den Organon des gleichen Stockwerkes sind legitime, diejenigen zwischen ungleichen Stockwerken illegitime genannt worden. Aus der morphologischen Anordnung ergibt sich, dass die legitimen Befruchtungen nur durch Kreuzung verschiedener Bl\u00fcthen zu Stande kommen, und dass Selbstbest\u00e4ubung immer illegitim ist.\nIn bemerkenswerther Uebereinstimraung mit der physiologischen Erfahrung steht die Anpassung an die Insectenwell Die Insecten, welche nacheinander verschiedene St\u00f6cke einer Pflanzenart besuchen, und, um ihr Ziel, den Honig im Grunde der Blumenr\u00f6hre, zu erreichen, immer gleichweit in dieselbe eindringen, bedecken sich in dimorphen Bl\u00fcthen auf zwei, in trimorphen auf drei Zonen ihres K\u00f6rpers, welche den zwei oder drei Stockwerken der Bl\u00fcthen entsprechen, mit Bl\u00fcthenstaub. Bei fortgesetztem Bl\u00fcthenbesuche bewirken sie fast ausschliesslich legitime Kreuzungsbefruchtungen, indem jede mit Bl\u00fcthenstaub beladene K\u00f6rperzone mit Narben des n\u00e4mlichen Stockwerkes in Ber\u00fchrung kommt.\nWas nun die Ursache der sonderbaren morphologischen Anordnung betrifft, die sich so n\u00fctzlich f\u00fcr die Befruchtung erweist, so sollte man meinen, dass man hier, wie bei kaum einer anderen Einrichtung, auf zuf\u00e4llige Variation und auf die Auslese der g\u00fcnstigen aus den ung\u00fcnstigen Combinationen angewiesen sei. Doch gibt es einen Weg, der, wie mir scheint, auf direct bewirkende Ursachen zu f\u00fchren vermag. Um dieselben klar zu legen, muss ich zuerst einige Punkte feststellen.\nDer erste Punkt, den wir ins Auge zu fassen haben, ist der, dass die Lagerung der Geschlechtsorgane in zwei oder drei Stockwerke eine erbliche Erscheinung ist, indem sie sich in den verschiedenen Combinationen immer wiederholt; ferner, dm\u00ab f\u00fcr jedes Stockwerk eine besondere m\u00e4nnliche und weibliche Anlage im Idio-pla\u00e4ma vorhanden sein muss. Letzteres ist um so nothwendiger, als die Pollenk\u00f6rner und die Narbenpapillen auf den verschiedenen Stockwerken ungleich ausgebildet sind. Es gibt also im Idioplasma der dimorphen Pflanzen je zwei, in demjenigen der trimorphen Pflanzen je drei Anlagen sowohl f\u00fcr die Staubgef\u00e4sse als f\u00fcr die","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nm. Ursachen der Verkoderai^.\nGriffel. Diese Anlagen oder, wenn dieselben entsprechend der fr\u00fcher ausgesprochenen Vermuthuug in ihre Componenten aufgel\u00f6st sind (8.44), diejenigen Componenten, welche die \u00f6rtliche Lage bestimmen, werden wie ihre Entfaltungsmerkmale r\u00e4umlich getrennt sein.\nDer zweite Punkt betrifft die Abneigung gegen illegitime Begattung, welche sich deutlich in der verminderten Samenzahl ausspricht. Diese Abneigung muss in den PoUenk\u00f6mem und in den Narbenpapillen begr\u00fcndet sein, indem die Substanz dieser Organe, wenn sie von verschiedenen Stockwerken herstammt, sich gegenseitig weniger anzieht, als wenn sie dem gleichen Stockwerk angeh\u00f6rt. Die n\u00e4mliche Eigenschaft ist aber auch den betreffenden idioplasmatischen Anlagen zuzuschreiben. Zur Begr\u00fcndung dieser Folgerung f\u00fchre ich an, dass wirkliche Anziehung zwischen verschiedenen Idioplasmen vorkommt, n\u00e4mlich zwischen dem Sperma-tozoid und dem Keimfleck der Eizellen, wie ich sp\u00e4ter zeigen weide. Und wenn Anziehung erwiesen ist, so muss auch die M\u00f6glichkeit von vorkommender Abstossung angenommen werden. F\u00fcr das Vorhandensein von dynamischen Beziehungen zwischen den Geschlechtsorganen spricht auch der Umstand, dass bei manchen Pflanzen die\nStaubgef&sse und die Griffel sich zur Zeit der Befruchtung gegen einander neigen.\nAn diesen zweiten Punkt schliesst sich dann die Thatsache an, dass bei manchen Pflanzen Abneigung gegen Selbstbefruchtung bJ-steht, indem Fremdbest\u00e4ubung mehr Samen hervorbringt als Selbstbest\u00e4ubung. Daraus geht deutlich hervor, dass die ganze Einrichtung der dimorphen und trimorphen Bl\u00fcthen, wie dies \u00fcbrigens bereits feststehende Annahme ist, ihre physiologische Bedeutung nur m der verhinderten Selbstbefruchtung und in der bef\u00f6rderten Kreuzung erh\u00e4lt.\nAus dem Zusammenhalte der eben angef\u00fchrten Momente ziehe ich nun folgenden Schluss f\u00fcr die phylogenetische Entstehung der dimorphen Bl\u00fcthen. Diese waren urspr\u00fcnglich homomorph ; die Vorfahren von Primula hatten nur einerlei Bl\u00fcthen, deren Staubbeutel und Narben in gleicher H\u00f6he lagen. Die beginnende Abneigung gegen Selbstbefruchtung bewirkte in den Idioplasmareihen, welche die \u00f6rtliche Stellung bestimmen, eine Scheidung in zwei Anlagen und in Folge der gegenseitigen Abstossung eine Entfernung dieser Anlagen von einander oder wenigstens eine Entfernung der ent-","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"III. Unachen der Ver&nderang.\n169\nfalteten Organe. Die beiden bloss \u00f6rtlichen nnd die Stellung in den zwei Stockwerken bedingenden Anlagen sind beiden Geschlechtern gemeinsam; und die Abneigung gegen Selbstbefruchtung hat nun die nothwendige Folge, dass, wenn in einem bestimmten Pflanzenindividuum bei der Staubgef\u00e4ssbildung die eine Anlage wirksam wird, sie f\u00fcr die Griffelbildung latent bleibt, und dass fOr die letztere dann die andere Anlage in Th\u00e4tigkeit versetzt wird, dm\u00bb also Staubbeutel und Narben immer zwei verschiedenen Stockwerken angeh\u00f6ren.\nDie trimorphen Bl\u00fcthen von Lythrum Salicaria waren in den Vorfahren ebenfalls homomorph. Der Scheidungsprocess gestaltete sich aber etwas complicirter, indem er nicht nur zwischen den Staubbeuteln und Narben, sondern auch zwischen den Staubbeuteln unter sich auftrat Was die letztere Scheidung betrifft, so kommt es \u00fcberhaupt nicht selten vor, dass, wenn die Staubgef\u00e4sse in zwei Kreise gestellt sind, die Staubbeutel des einen Kreises h\u00f6her liegen als die des anderen. Ich nelune hier diese Thatsache als gegeben an, ohne ihre Ursache ergr\u00fcnden zu wollen. In den trimorphen Bl\u00fcthen besteht, zugleich mit der Thatsache, dass die n\u00e4mlichen Anlagen im Idioplasma die H\u00f6henlage der m\u00e4nnlichen und weiblichen Organe bedingen, Scheidung der beiden Staubbeutelkreise neben der Abneigung zwischen den letzteren und der Narbe. So mussten sich drei idioplasmatische Anlagen f\u00fcr den \u00f6rtlichen Sitz der Geschlechtsorgane bilden, die sich in jeder Pflanze m\u00f6glicher Weise in anderer Combination verwirklichen. Nimmt die Narbe den unteren, den mittleren oder den oberen Stand ein, so werden die zwei Staubbeutelkreise wegen ihrer Abstossung gegen die Narbe und untereinander in die beiden \u00fcbrigbleibenden Stockwerke verwiesen.\nDie Entstehung der heteromorphen aus den homomorphen Bl\u00fcthen l\u00e4sst sich auf mechanischem Wege denken, wenn die \u00f6rtliche Stellung der m\u00e4nnlichen und weiblichen Geschlechtsorgane durch eine gemeinsame Gruppe im Idioplasma bestimmt wird, welche, sobald die der Abneigung gegen Selbstbefruchtung entsprechende innere Abstossung einen gewissen Grad erreicht hat, in zwei oder drei Anlagen aus einander weicht. Ob dann in dem einzelnen Individuum die eine oder andere Stellung dem weiblichen Organ zufalle (durch welche selbstverst\u00e4ndlich auch die der m\u00e4nnlichen Organe bestimmt ist), h\u00e4ngt von unbekannten bei der Keimbildung schon entscheidenden Ursachen ab, in \u00e4hnlicher Weise wie bei","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"160\nUI. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nArten mit getrenntem Geschlecht in jenem Zeitraum ebenfalls durch unbekannte Ursachen entschieden wird, ob das entstehende Individuum mftnnlich oder weiblich sein wird. Daraus folgt aber nicht, dass jede Pflanzenart, die eine entschiedene Abneigung gegen Selbstbefruchtung erlangt, nothwendig auch heteromorph in der Bl\u00fcthen-bildung werde. Die Abstossung kann sich auch einfach dadurch beth\u00dftigen, dass Staubbeutel und Narben aus einander weichen, wodurch die Selbstbefruchtung erschwert wird und die Art, sofern nicht Fremdbest\u00e4ubung auf irgend einem Wege statt findet, zu Grunde geht. Ob die Bl\u00fcthen bei Eintritt der Abneigung gegen ffelbst-bestftubung bomomorph bleiben oder heteromorph werden, h\u00e4ngt von dem Umstande ab, ob die beiden Geschlechtsorgane f\u00fcr ihre \u00d6rtliche Stellung gemeinsame oder getrennte Anlagen im Idioplasma besitzen.\nMan kann sich die phylogenetische Entstehungsweise der verschiedenen Vorkommnisse in folgender Weise denken. Auf den niederen Stufen der Phanerogamen verhalten sich die H\u00f6henlagen der Staubbeutel und der Narben sowie ihre getrennten Anlagen im Idioplasma indifferent gegen einander, wobei die beiden Organe bald in gleicher, bald in ungleicher H\u00f6he sich befinden. Dann treten dynamische Beziehungen zwischen denselben auf: Abstossung der Anlagen unter einander in Folge von Abneigung gegen Selbstbefruchtung bewirkt die Entfernung der Staubbeutel von den Narben; Anziehung dagegen bedingt die Lagerung dieser Organe in gleicher H\u00f6he oder eine gegenseitige Ann\u00e4herung durch Kr\u00fcmmung der Staubf\u00e4den und Griffel unmittelbar vor der Befruchtung.\nDie Anziehung der beiden Anlagen hat aber noch eine andere wichtige Folge. Steigert sich dieselbe zu einem gewissen Grade, so verursacht sie die Vereinigung derselben, so dass nunmehr f\u00fcr die H\u00f6henlage der beiden Geschlechtsorgane eine einzige Anlage besteht, deren Erregung sowohl die Stellung der Staubbeutel als der Narbe bedingt Sp\u00e4ter kann dann im Verlaufe der Generationen Abneigung gegen Selbstbefruchtung auftreten, und es ist nicht unm\u00f6glich, dass diese Abneigung durch eine mit der Ann\u00e4herung der Geschlechtsorgane verbundene, allzu ausschliessliche Best\u00e4ubung mit eigenem Pollen hervorgerufen wird. Sie bewirkt, dass die gemeinschaftliche Anlage im Idioplasma sich in zwei trennt, und dass die Staubbeutel und die Narbe sich von einander entfernen. Aber die beiden neuen Anlagen sind nicht die n\u00e4mlichen, wie diejenigen, aus denen","page":160},{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"IH Ursachen der Ver\u00e4nderung.\tjgj\nurspr\u00fcnglich die einfache Anlage zusammengeflossen ist, sondern es sind ihrem Urspr\u00fcnge entsprechend, gemeinschaftliche Anlagen f\u00fcr die Lagerung der Staubbeutel und Narben, so dmai die Bl\u00fcthen bald lange Griffel und tiefliegende Staubbeutel, bald kurze Griffel und hochliegende Staubbeutel enthalten. \u2014 Was die trimorphen Bl\u00fcthen betrifft, so entstehen dieselben entweder aus dimorphen, indem mit dem Auseinandergehen der beiden Staubbeutelkreise die eine der beiden gemeinschaftlichen Anlagen im Idioplasma sich noch einmal in zwei theilt. Oder die urspr\u00fcnglich einfache Anlage theilt sich sofort in drei gemeinschaftliche, indem gleichzeitig die Narbe und die beiden Staubbeutelkreise, die bis dahin das gleiche Stockwerk einnahmen, in drei Stockwerke mit altemirender Besetzung auseinander weichen.\nDie r\u00e4umliche Trennung der Geschlechtsorgane in der herma-phroditischen Bl\u00fcthe, welche durch den Widerwillen gegen Selbstbest\u00e4ubung herbeigef\u00fchrt wird, hat bei eintretendem Heteromorphismus noch die weitere Folge, dass auch Geschlechtsorgane anderer Bl\u00fcthen, welche der Stellung nach den gemiedenen Organen der eigenen Bl\u00fcthe entsprechen, zur Befruchtung weniger geeignet sind, und dass nur Kreuzung von Staubbeuteln und Narben gleicher Stockwerke eine vollkommene Fruchtbarkeit eigibt. Diese Erscheinung erkl\u00e4rt sich leicht aus dem Umstande, dass sowohl die Pollenk\u00f6rner als die Narbenpapillen der verschiedenen Stockwerke etwas ungleich ausgebildet sind, was man aus der verschiedenen Gr\u00f6sse und theilweise auch aus der verschiedenen Farbe erkennt\nWas die ungleiche Gr\u00f6sse betrifft, welche mit dem h\u00f6heren Stand w\u00e4chst, so hat man sie als ein Ergebniss der Zuchtwahl erkl\u00e4ren wollen, indem man annahm, dass Pollenk\u00f6mer, die f\u00fcr eine h\u00f6her gelegene Narbe bestimmt sind und daher l\u00e4ngere Schl\u00e4uche bilden m\u00fcssen, dazu auch mehr Stoff verbrauchten. Diese Erkl\u00e4rung ist physiologisch unhaltbar. Die Pollenschl\u00e4uche empfangen die f\u00fcr ihr Wachsthum nothwendigen Stoffe im gel\u00f6sten Zustande aus den Secreten der Narbe und des Griffelcanals. Dies ergibt sich deuthcn daraus, dass die Substanz des Pollenschlauches oft das Vielfache des Pollenkorns betr\u00e4gt, sowie ferner daraus, dass bei verschiedenen Pflanzengattungen Gr\u00f6sse der Pollenk\u00f6mer und L\u00e4nge des Griffelweges in keinem von einander abh\u00e4ngigen Verh\u00e4ltnis stehen, dass oft lange Griffel und kleine Pollenk\u00f6mer und andrerseits kurze Griffel\nv. Nkgell. AlMtAmmnnmlehra.\n11","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162\nm. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nund grosse Pollenk\u00f6mer zusammengeh\u00f6ren. Die ungleiche Gr\u00f6sse der Pollenk\u00f6mer in heteromorphen Bl\u00fcthen scheint mir daher nicht die angenommene Bedeutung und Oberhaupt keine grosse Wichtigkeit zu haben. Vielleicht l\u00e4sst sie sich einfach aus der bei den Vegetationsorganen allgemein g\u00fcltigen und auch bei Fortpflanzungsorganen zuweilen eintreffenden Erscheinung erkl\u00e4ren, dass bei \u00fcbrigens gleicher Beschaffenheit h\u00f6her gelegene Theile stets rascher sich entwickeln und eine betr\u00e4chtlichere Gr\u00f6sse erreichen als die entsprechenden tiefer liegenden Theile.\nBei allen den Beispielen, die ich angef\u00fchrt habe, und die sich \u00fcbrigens leicht vermehren liessen, befriedigt die Anpassung, welche als Reaction auf einen \u00e4usseren Reiz eintritt, stets ein Bed\u00fcrfniss und erweist sich somit als n\u00fctzlich. Oft ist der Mangel, welchem abgeholfen wird, viel deutlicher zu erkennen, als die von aussen kommende Einwirkung, und man verf\u00e4llt naturgemftss auf den Ge-danken, dass das Bedjfcf\u00fciss oder der Mangel selbst als Reiz wirken -f\" k\u00f6nnen. Wenn ich von dieser M\u00f6glichkeit spreche, so denke ich nat\u00fcrlich nicht an neue Bed\u00fcrfnisse, die der Organismus gar nicht kennt, sondern an solche, die bei den Vorfahren befriedigt waren _\tvon denen gleichsam eine Erinnerung vorhanden ist. Ein\nBeispiel wird meinen Gedanken deutEcTTmachen.\nEs handle sich um den Schutz der Landpflanzen gegen das Verdunsten. Dieselben sind die Nacl^commen von Wasserpflanzen, die von Wassermangel nichts wussten. Ihr Idioplasma war so beschaffen, dass es einen Organismus erzeugte, welcher das Durchdrungenem mit Wasser und somit das Vorhandensein dieses Mediums voraussetzte. Als die Gew\u00e4chse das bisherige Medium mit feuchter Luft vertauschten, wurde die genannte Voraussetzung nicht mehr erf\u00fcllt. Die aus dem Idioplasma hervorgehende Pflanzensubstanz, welche nun etwelcher Verdunstung ausgesetzt war, empfand also U. den Mangel von etwas, das ihr bisher nicht mangelte,*\"uncTdieser Mangel konnte als Reiz wirken, welcher zu den von aussen wirkenden Reizen hinzukam, \u2014 oder, um mich anders auszudr\u00fccken, dieser Mangel konnte der Reaction des Organismus auf die \u00e4usseren Reize die tgestimmte Richtung geben, so dass die Anpassung in einer zur Befriedigung dos empfundenen Bed\u00fcrfnisses dienenden Weise erfolgte.","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"III. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\tj\u00dfij\nE\u00ab gibt nun aber auch Anpassungen, wo dem Anscheine nach die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse keine Rolle spielen und wo das Bed\u00fcrfniss, welches befriedigt wird, nicht als Reiz wirken kann. Hieher g* h\u00f6ren die zahllosen Erscheinungen, die sich unter dem Namen Sorge f\u00fcr die Brut zusammenfassen lassen. Um nur von dem einen und wichtigsten Punkt zu sprechen, so werden die Keime von den Eltern entweder eine Zeit lang ern\u00e4hrt, oder sie werden von denselben mit N\u00e4hrstoffen ausgestattet, von denen sie leben, bis sie sich selbst n\u00e4hren k\u00f6nnen. Man wird wohl zu der Behauptung geneigt sein, dass die \u00e4usseren Einwirkungen hier sich nicht geltend machen! so dass als Reiz nur das Bed\u00fcrfniss \u00fcbrig bliebe; aber dasselbe m\u00fcsste gleichsam eine Femwirkung in die Zukunft zu Stande bringen. Das Bed\u00fcrfniss nach Nahrung, welches der Keim empfindet, m\u00fcsste eine derartige Umstimmung im Idioplasma hervorbringen, dass das erwachsene Individuum die Neigung empf\u00e4nde, seine Keime besser mit N\u00e4hrstoffen zu versehen.\nEine so complicirte Vermittlung des durch das Bed\u00fcrfniss bewirkten Reizes, so dass die Reaction erst viel sp\u00e4ter und zwar in dem Zeitpunkte eintreten w\u00fcrde, wo sie sich als vortheilhaft erwiese und das von neuem auftretende Bed\u00fcrfniss zu befriedigen verm\u00f6chte, ist zwar vielleicht nicht als absolut unm\u00f6glich zu verwerfen, aber sie hat doch nur eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit Es erhebt sich daher die Frage, ob wir f\u00fcr die ganze Kategorie von Erscheinungen, welche die Sorge f\u00fcr die Brut betreffen, auf die direct bewirkenden Ursachen verzichten m\u00fcssen? Vor dieser Misslichkeit vermag uns, wie ich glaube, folgende Erw\u00e4gung zu bewahren.\nVon jeder Anpassungserscheinung ist Zeit und Ort ihres Ent Stehens aufzusuchen und hier ist sie nach ihren urs\u00e4chlichen Momenten zu beurtheilen; denn allen sp\u00e4teren Organismen wurde sie wenigstens theilweise als Erbschaft \u00fcberliefert. Um die Anf\u00e4nge der Sorge f\u00fcr die Brut aufzufinden, m\u00fcssen wir zu dem Urspr\u00fcnge der niedrigsten bekannten Organismen und selbst noch weiter in das Reich der Probien hinuntersteigen. Auf der ersten Stufe dieses Reiches findet bloss Zunahme des primordialen Plasmas statt; auf der zweiten kommt regelm\u00e4ssige Theilung hinzu und zwar, wie ich sp\u00e4ter zeigen werde, vermittels des aus geordneten Micellen bestehenden Plasmah\u00e4utchens, welches die kleinen individuellen Plasma-tr\u00fcpfchen umschliesst; auf den folgenden Stufen schreitet die Organi-\n________________ li*","page":163},{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"164\nin. Untchen der Ver\u00e4nderung.\nsation des Rindenplasmas fort bis zur Beweglichkeit des ersten Thieres (Monere) und zur Cellulosemembranbildung der ersten Pflanze.\nSchon aut der zweiten Stufe mochte die Ausstattung f\u00fcr die Zukunft und somit die Sorge f\u00fcr die Brut beginnen, insofern schon hier aus irgend einem Grunde (Eintritt k\u00e4lterer Temperatur, theil-weiser Wassermangel, Ausgehen der N\u00e4hrstoffe) ein periodisches Stillstehen der Vegetation statthatte. Dabei konnte selbstverst\u00e4ndlich nicht einfach das Wachsthum oder die Theilung in jedem beliebigen Stadium aufh\u00f6ren, um sp\u00e4ter an dem gleichen Punkte wieder fortzufahren. Da die ung\u00fcnstige Ver\u00e4nderung der \u00e4usseren Umst\u00e4nde allm\u00e4hlich eintrat, so mussten zuerst diejenigen Lebensprocesse zur Ruhe gelangen, die am empfindlichsten davon getroffen wurden, indessen die anderen noch einige Zeit fortdauerten. Es musste die Theilung als das Sp\u00e4tere und Complicirtere schon aufh\u00f6ren, indess die Substanzzunahme als das Urspr\u00fcngliche und Einfachere noch th\u00e4tig war. So finden wir auch bei den Gew\u00e4chsen als allgemeine Erscheinung, dass sch\u00e4dliche Einfl\u00fcsse, welche die Fortpflanzung unterdr\u00fccken, das Wachsthum noch gestatten.\nBeim periodischen Uebergang in die Vegetationsruhe fand also jedesmal eine St\u00f6rung des regelm\u00e4ssigen Wechsels zwischen Theilung und Wachsthum statt, wobei das letztere beg\u00fcnstigt war und die in den Ruhestand sich begebenden Individuen durch Umfang und Masse sich vor den \u00fcbrigen Generationen auszeichneten. Diese St\u00f6rung musste sich in dem Idioplasma geltend machen und eine entsprechende Ver\u00e4nderung desselben bewirken, also erblich werden. Die erbliche Eigenschaft aber musste, da die bewirkenden Ursachen stets eintraten, sich allm\u00e4hlich steigern; und diese Ursachen sind wenigstens im Pflanzenreiche auf allen Stufen th\u00e4tig, da j\u00e4hrlich durch \u00e4ussere Umst\u00e4nde eine Vegetationsruhe veranlasst wird. Es musste also die Neigung, unter gewissen Verh\u00e4ltnissen die Zellthei-lung aufh\u00f6ren und an ihrer Stelle eine Vermehrung des Inhaltes eintreten zu lassen, immer gr\u00f6sser werden und bemerkbarere Folgen hervorbringen.\nVeberdies ist daran zu erinnern, dass die verschiedenen Anlagen \u00fcn Idioplasma nicht unabh\u00e4ngig neben einander liegen, sondern dass sie zusammen ein einziges System bilden, in welchem die Theile sich gegenseitig bedingen. Wenn nun auch eine \u00e4ussere Ursache zu wirken aufh\u00f6rt, so kann doch die Anlage, die sie erzeugt","page":164},{"file":"p0165.txt","language":"de","ocr_de":"in. Umdua der Verftadenu^.\tjgg\nhat, mit dem fortschreitenden Coraplicirterwerden des Idioplasmas sich weiter aus- und umb\u00fcden. Was uns daher bei den h\u00f6heren Organismen als voiaussehende Sorge und, wenn hier.allein betrachtet, als unverst\u00e4ndliche Einrichtung erscheint, ist nichts anderes als eine \u00ce ererbte, durch nat\u00fcrliche Ursachen hervorgerufene und weitergebildete | Eigenschaft\t\u2019\nAuf eine eigent\u00fcmliche Art der Reizwirkung, die darin besteht, dass mangelnde Organe ersetzt werden, dass also der empfundene j Mangel dem Bildungstrieb die einzuschlagende Bahn vorzeichnet, I werde ich bei der Entfaltung latenter Anlagen zu sprechen kommen. (\nIm Thierreich wirkt der Reiz noch auf eine andere, dem Pflanzenreiche fremde Weise, n\u00e4mlich durch die Sinnesorgane. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass sinnliche Eindr\u00fccke sammt den ' dadurch bedingten Empfindungen, Vorstellungen und Willens\u00e4usserungen, wenn sie durch lange Zeitr\u00e4ume sich stets in der n\u00e4mlichen Weise wiederholen, gleich so vielen anderen Reizen eine dauernde Umstimmung im Idioplasma und somit auch sichtbare Ver\u00e4nderungen in Bau und Verrichtung hervorbringen. Indem ich \u00fcbrigens dieses Feld den Thierphysiologen \u00fcberlasse, will ich nur auf eine Erscheinung aufmerksam machen. Bekanntlich gibt es manche Thiere, welche in ihrer F\u00e4rbung die Farbe der Umgebung nachahmen und sich dadurch der Aufmerksamkeit sei es ihrer Verfolger, sei es der von ihnen verfolgten Beute entziehen. Ist es nun nicht denkbar, dass bei dieser Anpassung der Gesichtssinn zu der Zeit, als sich die F\u00e4rbung des Thieres ohnehin durch andere Ursachen ver\u00e4nderte, f einen bestimmenden Einfluss ausge\u00fcbt hat? und dies um so eher, '1 als Verfolgung und Verfolgtsein von den heftigsten Empfindungen begleitet sind. Ueberdem ist auch denkbar, dass die durch F\u00e4rbung angepassten Thiere von Vorfahren abstammen, welche, wie die Cephalopoden und das Cham\u00e4leon, ihre Farbe willk\u00fcrlich oder in Folge unwillk\u00fcrlicher Reflexe wechseln konnten und \u00ab1\u00ab\u2014 sp\u00e4terhin eine Fixirung der Farbe eintrat, wobei wieder die Gesichtsempfindung den Ausschlag gab. Als beachtenswerthe, f\u00fcr die Theorie der '* Sinneseinwirkung g\u00fcnstige Thatsache darf erw\u00e4hnt werden, dass dem Pflanzenreiche eine solche Anpassung mangelt, dass es keine Pflanzen oder Pflanzenorgane gibt, welche dadurch, dass sie die Farbe der Umgebung annehmen, vor den Blicken ihrer Feinde Sicherheit finden.","page":165},{"file":"p0166.txt","language":"de","ocr_de":"166\nDL Ursachen der Veribidenug.\nNachdem ich io teigen versuchte, dam die von anmen auf die O\u00ee8\u00abni\u00bbmen wirkenden Einflame die verschiedenen Anpassungen derselben verursachen, will ich noch auf einige Punkte, welche das Zustandekommen betreflen, naher eintreton. Die genant Ein-w\u00bbungen hoben immer vielfach vermittelte Bewegungen in der organisirten Substans sur Folge, deren Endresultat els Reaction bemerkbar wird, weshalb ich sie allgemein als Reite beteichneto Me Reactionen sind in der Regel n\u00fctaliche Einrichtungen, und es wirft sich nun sunOehst die Frage von principieller Wichtigkeit auf, ob dieselben notwendig und allein eintraten, oder ob sie die nttta-\u2019 lichste Auswahl yon verschiedenen Reactionen sind. Da nfimlich der Reiz sehr complicirte Molecularbewegungen verursacht, so kann auch das Endresultat ein verschiedenes sein. Es ware m\u00f6glich, dass bei den einen Sippen oder bei den einen Individuen der n\u00e4mlichen Sippe diese, bei andern aber andere Reactionen eintraten, die sich naturgem\u00e4ss weiter ausbildeten, und je nach ihrer N\u00fctzlichkeit das Bestehen oder den Untergang der Tr\u00e4ger zur Folge hatten.\nWenn beispielsweise das Klima in einem Lande kalter wird, so k\u00f6nnte die Temperaturemiedrigung bei den S\u00e4ugethieren die verschiedensten Reactionen bewirken, gleichwie beim Menschen eine Erkaltung sehr ungleiche Folgen hat Nur diejenigen blieben in dem angenommenen Falle als existenzf\u00e4hig \u00fcbrig, welche in der dichter gewordenen Behaarung oder in dem erlangten Fettpolster unter der Haut hinreichenden Schutz gegen die Kalte gewonnen\nRBwi\u00f6n \u00ab\nAl\u00ab \u00abweites Beispiel will ich noch die Verfettungen anf\u00fchren welche bei Thieren und Pflamen ein Herbeistr\u00fcmen von plastischen Stoffen und Neubildungen an der verletzten Stalle hervorrufen. Es wore nun denkbar, dam urspr\u00fcnglich die Reactionen auf einen mechanischen Eingriff sehr ungleich waren ; - dom, um nur von der Bewegung der Stoffe su sprechen, dieselbe nach dem einen oder anderen Punkto, auch wohl noch der dem Angriffe abgekehrten \u00bbeite tun stattfand, da ja in dem so unendlich compUcirten Roder-werfe des Organismus ein Druck auf der vorderen Seite je nach inst\u00e4nden euch in eine Summe von Bewegungen auf der hinteren Seite, statt auf der Angriitsstelle, ausgehen konnte. Waren die Besehenen urspr\u00fcnglich verschieden, so mussten bei den so h\u00e4ufig eintretenden Verfettungen immer diejenigen Individuen su Grunde","page":166},{"file":"p0167.txt","language":"de","ocr_de":"UI. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\n1G7\ngehen, welche mit einer sch\u00e4dlichen Gegenwirkung antworteten, und zuletzt blieben nur diejenigen \u00fcbrig, welche die n\u00fctzliche Gegenwirkung an der angegriffenen Stelle selbst eintreten Hessen.\nMan m\u00f6chte vielleicht denken, dass sich diese Frage durch Versuche entscheiden lasse, indem man k\u00fcnstHche Verletzungen herbeif\u00fchrt, wie sie sonst in der Natur nicht Vorkommen, so Haus also die Organismen sich nicht darauf vorbereiten konnten. Wenn man Bl\u00e4tter von manchen Pflanzen abechneidet und in feuchten Sand steckt, so bildet sich am Grunde des Blattstieles unmittelbar neben der Schnittfl\u00e4che ein Wulst von Gewebe und daran eine Knospe, welche sofort in einen sich bewurzelnden Stengel ausw\u00e4chst. Der Reiz, den das Wasser und die Luft auf die Schnittfl\u00e4che aus\u00fcben, bewirken diese Erscheinung ; ein analoger Vorgang kommt in der Natur nicht in der Art vor, dass die bestimmte Reaction als ein Auslesefall zu erkl\u00e4ren w\u00e4re. Aber sie ist im Princip nichts Neues ; die Pflanzen haben im allgemeinen das Verm\u00f6gen, plastische Stoffe an die verletzte Stelle zu senden und daselbst zur Zellbildung zu verwenden. Schon bei den einzelligen Gew\u00e4chsen finden wir \u00e4hnliche Reactionen, indem an dem Punkte, wo eine Verletzung stattgefunden hat, ein neues St\u00fcck Plasmaschlauch und Cellulosemembran entsteht, so dass die Zelle gegen die zu Grunde gehende verletzte Partie ia gleicher Weise sich abschUesst, wie sie sich bei der ersten Bildung gegen die \u00e4usseren Medien abgeschlossen h^t\nMan k\u00f6nnte also immerhin an die M\u00f6gUchkeit denken, Ha\u00ab die \u00e4usseren Einwirkungen vorzugsweise bei den niedersten, aber auch noch bei den h\u00f6heren Organismen die verschiedenartigsten Folgen hatten und dass von allen Folgen nur diejenigen \u00fcbrig bheben, welche ihren Tr\u00e4gem n\u00fctzUch waren und sie existenzf\u00e4hig machten. Dieser M\u00f6gUchkeit glaube ich aber die andere als die viel wahr8cheinhchere und wohl einzig berechtigte gegen\u00fcberstellen zu d\u00fcrfen, dass die vortheilhaften Reactionen allein eingetreten sind und dass es einer Auswahl und Verdr\u00e4ngung unter denselben nicht bedurfte. Jede \u00e4ussere Einwirkung, die eine dauernde Ver\u00e4nderung verursacht, hat n\u00e4mUch nicht etwa \u00fcberhaupt die Bedeutung eines allgemeinen Reizes, der irgendwelche Reaction zur Folge hat, sondern sie trifft in ganz bestimmter Weise ein besonderes Organ, eine besondere Function, eine besondere Stelle, und erweckt hier ein dem Reiz entsprechendes bestimmtes Bed\u00fcrfniss, wie ich dies bereits an","page":167},{"file":"p0168.txt","language":"de","ocr_de":"168\nUL Ursachen der Ver\u00e4nderung.\neinem Beispiel (Schutz der Landpflanzen gegen Verdunstung 8. 145) er\u00f6rtert habe und wie es auch f\u00fcr alle anderen F\u00e4lle gilt. Es scheint mir ganz nat\u00fcrlich, dass die Reaction unter dem Einfl\u00fcsse dieses Bed\u00fcrfm-368 sich so gestaltet, dass demselben abgeholfen wird, \u2014\num so int\u00bb.* als alle diese \u00e4usseren durch lange Zeitr\u00e4ume dauernden Einwirkungen so schwach sind, dass sie von den Oigar nismen nicht als wirklicher Eingriff, sondern bloss als Bed\u00fcrfniss oder Mangel empfunden werden.\nWir k\u00f6nnen kurz sagen, dass die Wirkung eines Reizes ab-h\u00e4ngen muss yon der Beschaffenheit des getroffenen Organismus und von allen \u00fcbrigen Verh\u00e4ltnissen, unter denen sich derselbe befindet. Da nun die Individuen einer nat\u00fcrlichen Sippe (die k\u00fcnstlichen oder Culturaippen, die meistens Rassenmerkmale besitzen, verhalten sich anders) unter sich in morphologischer und physiologischer Beziehung bis auf verschwindend kleine individuelle Verschiedenheiten gleich sind und unter den n\u00e4mlichen klimatischen Einfl\u00fcssen sowie in der n\u00e4mlichen Umgebung anderer Organismen leben, so muss der Reiz ebenso gewiss eine ganz bestimmte Ver\u00e4nderung hervorbringen, als gleiche Ursachen gleiche Wirkungen bedingen. Er wird dagegen mehr oder weniger verschiedene Ver\u00e4nderungen verursachen, wenn entweder die n\u00e4mliche Sippe an ungleichen Orten oder zwei noch so nahe verwandte Sippen beisammen Vorkommen. Die Theorie der directen Bewirkung, im Gegensatz zur nat\u00fcrlichen Auslese, kann also r\u00fccksichtlich aller durch Reize erfolgten Anpassungen Anspruch auf G\u00fcltigkeit machen.\nEine andere Frage betrifft den Grad der Ver\u00e4nderung, den eine unaufh\u00f6rliche und endlose \u00e4ussere Einwirkung hervorzubringen vermag, und im Gegensatz dazu die Nachwirkung eines nur eine Zeit lang dauernden Reizes. Was den ersteren Punkt betrifft, so k\u00f6nnte man leicht meinen, dass ein von aussen kommender Einfluss, der eine Ver\u00e4nderung bewirkt, die Ver\u00e4nderung endlos, wenn auch m sehr geringem Maasse, steigern m\u00fcsste, wie eine mechanisch wirkende Ursache, welche einer Bewegung in der Zeiteinheit eine gewisse Beschleunigung ertheilt, ihr die n\u00e4mliche Beschleunigung in jeder folgenden Zeiteinheit hinzuf\u00fcgt, so dass die Bewegung immer schneller wird. Bei den Ver\u00e4nderungen der Organismen tritt dieser Fall nie ein, wodurch indessen nicht etwa das Gesetz von der Erhaltung der Kraft alterirt wird. Denn bei einem organischen Process","page":168},{"file":"p0169.txt","language":"de","ocr_de":"169\nHL Uraachen der Verftnderong.\nist die von aussen kommende Reiswirkung nur eine der vielen mit* wirkenden Ursachen; sie dient nur als Veranlassung und Rieht* schn\u00fcr, indess die vom Organismus anderswoher bezogenen Kr\u00e4fte und Stoffe als die eigentlichen mechanischen Ursachen arbeiten.\nWenn eine \u00e4ussere Einwirkung endlos fortdauert, so h\u00f6rt die Ver\u00e4nderung, die sie in den Organismen hervorruft, stets nach einer gewissen Zeit auf. Der Grund davon ist h\u00e4ufig der, weil in Folge der von den Organismen getroffenen Gegenmaassregeln und der in ihnen aufgetretenen Ver\u00e4nderungen der von aussen kommende Angriff nicht mehr als Reiz zu wirken vermag und somit kein Bed\u00fcrfniss mehr erweckt In diesem Falle ist der Reizwirkung volles Gen\u00fcge geschehen ; in anderen F\u00e4llen h\u00f6rt die Ver\u00e4nderung fr\u00fcher auf, weil der Organismus an der Grenze seiner Leistungsf\u00e4higkeit angelangt ist Der von aussen kommende Angriff wird zwar noch als Reiz empfunden, aber die Beschaffenheit der lebenden Substanz erlaubt keine Steigerung der Abwehr.\nWas den Reiz betrifft, der nur eine Zeit lang eine Generationen-\u2022 reihe trifft so ist bez\u00fcglich seiner Wirkung zweierlei m\u00f6glich. Entweder w\u00e4chst die rhm entsprechende Anlage im Idioplasma nur so lange als der Reiz vorhanden ist oder die durch denselben hervorgerufene Anlage entwickelt sich in Folge des erlangten Austosses auch, nachdem der Reiz aufgeh\u00f6rt hat, noch weiter. Da die werdenden Anlagen im Idioplasma meistens eine gewisse Ausbildung erlangt haben m\u00fcssen, um in sichtbare Merkmale des Baus oder der Function \u00fcberzugeben, so kann es geschehen, dass ein w\u00e4hrend einer begrenzten Zeit wirksamer Reiz bloss das Idioplasma, nicht aber die sichtbaren Eigenschaften des Organismus modificirt, und es kann ferner geschehen, dass beim Vorhandensein einer Nachwirkung die \u00e4usseren bemerkbaren Ver\u00e4nderungen erst eintreten, nachdem der Reiz bereits l\u00e4ngere Zeit aufgeh\u00f6rt hat.\nEine fernere Bemerkung ist \u00fcber den Charakter der Reaction zu machen, mit welcher der Organismus auf eine \u00e4ussere Einwirkung antwortet. Die Reize, welche man als die Veranlassung von orblichen Ver\u00e4nderungen betrachten kann, sind im allgemeinen schwach und werden von dem Organismus auch f\u00fcr eine l\u00e4ngere Dauer noch leicht ertragen. Die meisten von ihnen haben je nach ihrer Intensit\u00e4t und je nach der Beschaffenheit, in der sich der Organismus befindet, bald einen g\u00fcnstigen, bald einen ung\u00fcnstigen","page":169},{"file":"p0170.txt","language":"de","ocr_de":"170\nHI. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nEinfluss au* d*8 L\u00aeben. Es ist daher begreiflich, dass auch die Gesammtreaction, f\u00fcr welche sich der Organismus entscheidet, ungleicher Natur sein, und dass von den urspr\u00fcnglich gleichen primordialen Anf\u00e4ngen des organischen Reiches verschiedene Anpassungsreihen ausgehen k\u00f6nnen.\nIm grossen und ganzen ist die Reaction auf die \u00e4usseren Einwirkungen eine doppelte. Entweder schliesst sich der Organismus gegen die Reize so viel als m\u00f6glich ab; er sch\u00fctzt sich gegen dieselben durch einen reizfesten Panzer. Oder er macht sich den Reiz, so weit es geht, dienst: ar, und wo dies nicht m\u00f6glich ist, sucht er ihm aus-uweichen. Die erste Art der Reaction finden wir bei den Pflanzen, die zweite bei den Thieren. Die Probien, die weder Pflanzen noch Thiere waren, bestanden aus einem nackten, unbeweglichen, f\u00fcr Reize beinahe unempfindlichen Plasmatropfen. Die auf ihre Oberfl\u00e4cho einwirkenden Reize hatten bei den einen nach und nach die Ausscheidung einer Cellulosemembran zur Folge: damit war die erste Pflanzenzelle geschaffen, starr und f\u00fcr Reize unempf\u00e4nglich. Bei den anderen aber steigerten sich Reizbarkeit und Beweglichkeit besonders durch entsprechende Anordnung der die Rindenschicht bildenden Micelle, so dass die Oberfl\u00e4che vor den Reizen sich zur\u00fcckziehen oder denselben entgegenkommen konnte: damit war die erste thierische Zelle entstanden, am\u00f6benartig, membranlos, beweglich und reizbar.\nEntsprechend diesen Anfongen haben sich die beiden Reiche entwickelt Das Pflanzenreich verdankt verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig wenig den Reisen, da es sich denselben gegen\u00fcber mehr passiv verh\u00e4lt; die Mannigfaltigkeit der Anpassungen ist daher auch sehr gering. Die Starrheit der Z-Ue bedingte die Beschr\u00e4nkung der Lebensprocesse auf Ern\u00e4hrung und Fortpflanzung und dem entsprechend eine ziemlich \u00e4rmliche Arbeitsteilung. Die Umh\u00fcllung jeder einzelnen Zelle mit einer Cellulosemembran verhinderte die V\u00abemigunC einer Mehrzahl von Zellen zu einer energischen gemeinsamen Aeussenng. Deswegen finden wir im Pflanzenreiche eine im Verh\u00e4ltniss zu den physiologischen Verrichtungen sehr reiche morphologische Gliederung und einen mannigfaltigen Chemismus. Auch diejenigen Gew\u00e4chse, die sich bez\u00fcglich ihrer Ern\u00e4hrung wie Thiere verhalten (Schmarotzerpflanzen, Pike), verm\u00f6gen sich doch nicht \u00fcber die von der Natur gezogenen Schranken zu erheben.","page":170},{"file":"p0171.txt","language":"de","ocr_de":"171\nin. Umehen der Ver\u00e4nderung.\nIm Thierreich dagegen konnte wegen der Nacktheit der Zellen die Empf\u00e4nglichkeit f\u00fcr Beize sich weiter ausbilden, und der Mangel einer trennenden Membran gestattete den Zellen sich zu sehr wirksamen Massen zu vereinigen. Die thierische Substanz hat denn auch unter dem Einfl\u00fcsse der Reizbarkeit die wichtigsten Ver\u00e4nderungen erfahren. Die Reize haben manche besondere Einrichtungen, worunter namentlich die Sinnesorgane zu nennen sind, veranlasst; sie haben \u00fcberdem die rein morphologische Weiterbildung zu einem complicirteren Bau bef\u00f6rdert und die Theilung der Arbeit bis in die feinsten Einzelheiten durchgef\u00fchrt. Wegen des Ueberwiegens der Reizwirkungen zeigt jedoch die morphologische Differenzirung im \\ erh\u00e4ltniss zur physiologischen eine verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig geringere Mannigfaltigkeit als im Pflanzenreiche. Und weil die Reizwirkungen die Verrichtungen, soweit es m\u00f6glich ist, beherrschen, so beschr\u00e4nkt sich im Thierreich die Assimilation organischer Substanz aus unorganischen Verbindungen auf einige Formen der niedrigsten Stufen (z. B. Euglena); die Weiterbildung dieser Anlage wurde verhindert durch Verdr\u00e4ngung von Seite der mit gr\u00f6sserer Beweglichkeit und Reizbarkeit ausgestatteten und zur Aneignung fremden organischen Eigenthums bef\u00e4higten Formen.\nSchliesslich will ich bez\u00fcglich der \u00e4usseren Einfl\u00fcsse noch die Frage er\u00f6rtern, ob dieselben in erster Linie die Eigenschaften des entwickelten Organismus oder das Idioplasma ver\u00e4ndern. Man d\u00fcrfte viel eicht allgemein zu der Antwort geneigt sein, dass zuerst Merkmal im entfalteten Zustand sich ausbilde, und dass dann dem entsprechend das Idioplasma umgestimmt werde, dass beispielsweise zuerst die Behaarung sich \u00e4ndere und dann erst sich als Anlage vererbe, \u2014 und man k\u00f6nnte zur Begr\u00fcndung anf\u00fchren, die \u00e4ussere Ursache wirke ja auf den entwickelten Organismus.\nDiese Ansicht w\u00e4re kaum zu bestreiten, wenn die Umbildung am Individuum gleichen Schritt mit der \u00e4usseren Einwirkung hielte, sei es, dass die ganze Ver\u00e4nderung in einem einzigen Individuum, sei es, dass sie durch eine Reiho von Generationen stufenweise erfolgte. Di es ist aber h\u00e4ufig nicht der Fall; manche Ver\u00e4nderung tritt erst ein, nachdem eine ganze Reihe von Generationen die \u00e4ussere Einwirkung erfahren hat, weil gewisse Eigenschaften des entfalteten Zustandes nicht allm\u00e4hlich, sondern sprungweise in einander \u00fcbergehen, wie wir sp\u00e4ter sehen werden. Hier handelt es","page":171},{"file":"p0172.txt","language":"de","ocr_de":"172\tQI. Ursachen der Verftnderucg.\nsich nur darum, wie wir uns die Wirkung der \u00e4usseren Einfln^ in einem solchen Fall zu denken haben.\nEs treffe ein dauernder Reiz irgend einen Theil des Organismus; die Ver\u00e4nderung, die er w\u00e4hrend der ganzen Lebensdauer eines Individuums hervorzubringen vermag, ist im Vergleich mit der Eigenschaft, die er schliesslich bewirkt, \u00e4usserst gering, denn es bedarf, wie alle Erfahrung zeigt, zur Ab\u00e4nderung einer Variet\u00e4t im nat\u00fcrlichen Zustande langer Zeitr\u00e4ume und zahlreicher aufeinanderfolgender Individuen. Die neue Eigenschaft kann nun in dem fraglichen Falle am entwickelten Individuum nicht allm\u00e4hlich, sondern nur auf einmal auftreten, weil sie mit der Eigenschaft, die sie ersetzen soll, unvertr\u00e4glich ist. Der Reiz, der auf die bestimmte Einrichtung des Organismus trifft, kann also nur auf die dieser bestimmten Einrichtung entsprechende Idioplasmagruppe einwirken. Er \u00e4ndert dieselbe in der ersten Generation nur sehr wenig um. Das Idioplasma wird auf die folgende Generation vererbt und hier geht die Ver\u00e4nderung stufenweise weiter.\t~\nSo bildet sich unter dem Einfluss des bestimmten Reizes vielleicht durch tausend und mehr Generationen eine Anlage aus, die, wenn sie fertig ist, zur sichtbaren Eigenschaft sich entfaltet und die bisherige Eigenschaft, die nun latent wird, verdr\u00e4ngt. F\u00fcr die Theorie des Reizes ist es nat\u00fcrlich gleichg\u00fcltig, ob derselbe das entwickelte ' 0r\u00aban das Idioplasma ver\u00e4ndere, da ja \u00ablas Idioplasma durch : den gullzou K\u00f6rper verbreitet und in jedem Theil vorhanden ist,\n\u2019 *dso von dem Reiz unstreitig affleirt wird.\nUm den VorgangXutlicher zu machen, will ich zwei Beispiele anf\u00fchren, die ich weniger deswegen, weil sie in aller Strenge hieher geh\u00f6ren, als wegen der allgemeinen Verst\u00e4ndlichkeit ausw\u00e4hle. Ich habe bereits von den Farben der Bl\u00fcthen gesprochen als von einer Erscheinung, deren Ursache noch unbekannt ist; sehr wahrscheinlich aber verdanken sie ihre Entstehung \u00e4usseren Einfl\u00fcssen. Das N\u00e4mliche gilt auch von der F\u00fcllung der Bl\u00fcthon. Nun geschieht cs, dass in einer roth oder blau bl\u00fcheMen Sippe pl\u00f6tzlich einzelne Individuen mit weissen Bi\u00fcthen auftreten, ebenso dass unter Pflanzen mit normalen Bi\u00fcthen pl\u00f6tzlich eine solche mit gef\u00fcllten Bl\u00fcthen zum Vorschein kommt. Beide Ver\u00e4nderungen werden nicht bloss in der Cultur, sondern auch auf nat\u00fcrlichen Standorten beobachtet. Beide sind erblich und somit auch im Idioplasma enthalten.","page":172},{"file":"p0173.txt","language":"de","ocr_de":"173\nm. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nF\u00fcr die Bildung der idioplasmatischen Anlage bedarf es im einen und andern Falle zwar nicht einer grossen Zahl, aber doch sicher wenigstens einiger Generationen. Dies ist anzunehmen wegen der Gr\u00f6sse der Ver\u00e4nderung, wegen ihres erblichen Charakters und weil in Ausnahmef\u00e4llen der Uebergang von der intensiven F\u00e4rbung zu weiss oder von den einfachen Bl\u00fcthen zu gef\u00fcllten wirklich durch mehrere Abstufungen, also durch mehrere Generationen verl\u00e4uft. Hat bei pl\u00f6tzlichem Umschlag die Bildung der Anlage vorher schon durch mehrere Generationen gedauert, so wurde w\u00e4hrend dieser Zeit durch die Einwirkung von aussen bloss das Idioplasma getroffen.\nAber wenn auch die allerk\u00fcrzeste Einwirkung der \u00e4usseren Einfl\u00fcsse angenommen wird und wenn die ganze Ver\u00e4nderung in einem einzigen Individuum sich vollzieht, so enth\u00e4lt doch der Same, aus dem die erste weissbl\u00fchende oder gef\u00fcllte Pflanze erw\u00e4chst, schon die neue Eigenschaft, welche somit jedenfalls im Idioplasma vorhanden ist, ehe sie als Merkmal sichtbar wird. Die von aussen wirkenden Ursachen f\u00fchren also in l\u00e4ngerer oder k\u00fcrzerer Zeit eine molecularphysiologische Umstimmung herbei, welche als erbliche Eigenschaft im Idioplasma des Samens an die Nachkommen \u00fcberliefert wird und wenn die Anlage hinreichend stark geworden, als entfaltetes Merkmal zum Vorschein kommen kann.\nDa nun, wie eben gezeigt wurde, f\u00fcr gewisse F\u00e4lle die Annahme nothwendig ist, dass der Reiz unmittelbar nur das Idioplasma und den entwickelten Organismus bloss durch das Idioplasma ver\u00e4ndere, so d\u00fcrfte es sich mit Recht fragen, ob dies nicht ein allgemeiner Vorgang sei, und ich glaube, es stehe nichts der Theorie im Wege, dass alle von aussen angeregten erblichen Ver\u00e4nderungen prim\u00e4r durch Umbildung des Idioplasmas geschehen. Dies ist um so wahrscheinlicher, als die durch innere Ursachen erfolgenden Ver\u00e4nderungen sicher zuerst als Anlagen im Idioplasma auftreten, welche fr\u00fcher oder sp\u00e4ter zur Entfaltung gelangen.\nNachdem ich die Wirkung der zwei Ursachen, welche die erblichen Ver\u00e4nderungen der Organismen und somit die Entwicklungsgeschichte der organischen Reiche bedingen, n\u00e4mlich die Wirkung der Beschaffenheit des Idioplasmas, welche eine fortschreitende Complication zur Folge hat, und diejenige der \u00e4usseren Einfl\u00fcsse","page":173},{"file":"p0174.txt","language":"de","ocr_de":"174\nDI. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\neinzeln besprochen habe, will ich noch zeigen, wie aus deren Zusammenwirken die Eigenth\u00fcmliohkeiten der Organismen hervoigehen.\nIn dem durch Urzeugung entstehenden primordialen Plasma scheidet sich das Idioplasma aus, welches durch die in ihm wirkenden Ursachen stets complicirter und reicher gegliedert wird. Bezeichnen wir den urspr\u00fcnglichen und einfachsten Zustand des Idioplasmas mit J, so kann die stufenweise Ausbildung und Vervollkommnung desselben durch Jt Ju Jt ... J% dargestellt werden. W\u00e4ren die \u00e4usseren Einwirkungen gar nicht vorhanden und w\u00fcrde das Idioplasma bloss auf eine v\u00f6llig indifferente Weise ern\u00e4hrt, so m\u00fcsste dasselbe verm\u00f6ge seines Wachsthums eben diese Stufen durchlaufen. Die Configuration des Idioplasmas ist das getreue Abbild des zugeh\u00f6rigen Organismus. Es m\u00fcsste also, wenn die Aussenwelt weiter gar nichts bewirkte, als dass sie gleichg\u00fcltiges Material zum Wachsthum lieferte, die sichtbare Organisation mit Jeder h\u00f6heren Stufe zusammengesetzter werden und eine reichere Differenzirung auf-weisen, insoweit als ohne \u00e4ussere Einwirkung \u00fcberhaupt eine Organisation nach der Vorstellung, die wir damit verbinden, m\u00f6glich ist\nNun ist aber schon das primordial entstehende Plasma und dann das in demselben sich ausbildende Idioplasma mannigfaltigen \u00e4usseren Einwirkungen ausgesetzt, welche auf seine Beschaffenheit Einfluss haben. Machen wir zuerst die Annahme, die \u00e4usseren Verh\u00e4ltnisse blieben vollkommen die n\u00e4mlichen, und bezeichnen wir dieselben mit a, so wird das durch Urzeugung entstehende Plasma in der bestimmten Modification aJ erscheinen (worin a nicht als Factor, sondern als Index zu betrachten ist) und sich durch die inneren Vervollkommnungsursachen zu aJu aJt ... aJn weiterbilden. Die Ver\u00e4nderung erfolgt unabh\u00e4ngig von \u00e4usseren Einfifi^n, weil diese sich nicht \u00e4ndern. Die Anpassung kann auf jeder Stufe vollkommen sein; dieselbe beh\u00e4lt auf allen Stufen ihren allgemeinen Charakter, ist aber auf jeder derselben modificirt entsprechend der neuen complicirteren Organisation. Das organische Reich h\u00e4tte in diesem Falle eine analoge Gliederung, wie beim g\u00e4nzlichen Mangel der \u00e4usseren bestimmenden Einwirkungen, aber es bes\u00e4sse einen ausgesprochenen Anpassungscharakter und zwar den gleichen in allen fi\u2122\u201c Gliedern. Es ist unzweifelhaft, dass einzelne kleine Gruppen der jetzigen Reiche sich in der eben geschilderten Weise entwickelt haben und daher dem angegebenen Typus folgen, d. h. dass diese","page":174},{"file":"p0175.txt","language":"de","ocr_de":"nu\nm. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nGruppen ohne modificirenden Einfluss von aussen bloss durch den inneren Bildungstrieb umgewandelt worden sind.\nIn Wirklichkeit bleiben die \u00e4usseren Verh\u00e4ltnisse nicht, wie soeben angenommen wurde, die gleichen; sondern sie ver\u00e4ndern sich, oder die Organismen gelangen durch Wanderung nntcr andere \u00e4ussere Umst\u00e4nde, \u2014 in ein w\u00e4rmeres oder k\u00e4lteres Klim\u00bb mit gr\u00f6sserem oder geringerem Temperaturwechsel, an hellere oder dunklere Orte, in eine trocknere oder feuchtere Luft, auf einen Boden mit mehr oder weniger Wasser, auf eine chemisch verschiedene Unterlage und damit in den Genuss einer chemisch verschiedenen Nahrung, endlich in eine andere Umgebung von lebenden Organismen. Wirken die ver\u00e4nderten Verh\u00e4ltnisse als hinreichend starke Reize, so bildet sich eine neue Anpassung mit einer entsprechenden Ver\u00e4nderung in der Anordnung der Idioplasmamicelle, wobei die fr\u00fchere Anordnung, welche die Anpassung darstellte, je nach dem Grade ihrer Vertr\u00e4glichkeit mit der neuen, mehr oder weniger ausgel\u00f6scht wird. Sind die \u00e4usseren Einwirkungen aus a zu b geworden, so wird das Idioplasma aJn zu bJ^i oder zu abJ^i. Die Anpassung a wird durch b vollst\u00e4ndig vernichtet also=0, wenn die diese Anpassungen bewirkenden Reize a und b in der n\u00e4mlichen Weise, aber der eine positiv, der andere negativ wirken. Dagegen bleibt a neben b unversehrt, wenn die entsprechenden Micellaranordnungen einander unbedingt dulden. Unter der Einwirkung neuer \u00e4usserer Einfl\u00fcsse kann das Idioplasma abJn+x zu abcJn+t, abcdjn+t u. s. w. werden.\nAus dem Wechsel der \u00e4usseren Verh\u00e4ltnisse, vorausgesetzt dima dieselben immer so lange andauern, um erbliche Eigenschaften hervorzubringen, geht eine grosse Mannigfaltigkeit in den Anpassungsformen hervor. Wenn schon bei der Annahme, dass die ver\u00e4ndernden \u00e4usseren Einfl\u00fcsse g\u00e4nzlich mangeln oder dass sie fortw\u00e4hrend die n\u00e4mliche Beschaffenheit behalten, durch die inneren Ursachen eine in geometrischer Progression steigende Zahl der Formen auf den successiven Organisationsstufen bedingt wurde, so steigt nun die Anzahl in viel st\u00e4rkeren Verh\u00e4ltnissen, wenn die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse, wie es in Wirklichkeit der Fall ist, wechseln. Wir finden daher auf der n\u00e4mlichen Organisationsstufe im Pflanzenreich und im Thier-reich oft eine fast unendliche Menge von Sippen (Gattungen, Arten, Variet\u00e4ten); ich erinnere bloss an die Moose und die Compositen im Pflanzenreich und an die Insecten im Thierreich.","page":175},{"file":"p0176.txt","language":"de","ocr_de":"176\nHI. Ursachen dar Ver\u00e4nderung.\nIch glaube in dem Vorstehenden die Wirkung der dem Idio-plasma von Natur innewohnenden und der von aussen kommenden Ursachen hinreichend deutlich unterschieden zu haben. Um aber nicht abermals Missverst\u00e4ndnisse \u00fcber das Vervollkommnungsprincip aufkommen zu lassen, will ich noch ausdr\u00fccklich beif\u00fcgen, dass ich demselben keine bestimmte Einrichtung an den Organismen zuschreibe, weder den langen Hals der Giraffe und den Greifschwanz der Affen, noch die Scheeren des Krebses und das Gefieder des Paradiesvogels, weder die Gliederung des Individuums in Organe, noch die Zusammensetzung der Organe aus Zellen. Das Alles wurde durch das Zusammenwirken der beiden Ursachen hervorgebracht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie die \u00e4ussern Ursachen, und ebenso wenig wie die inneren Ursachen f\u00fcr sich allein auf mechanischem Wege aus der Monade ein Sftugethier, aus der einzelligen Alge einen Apfelbaum oder eine Palme zu erzeugen verm\u00f6chten, \u2014 nicht einmal wie durch die einen oder andern allein ein einzelliger pflanzlicher oder thierischer Organismus aus dem primordialen Plasma hervorgehen k\u00f6nnte.\nWenn aber einmal auf irgend einer Organisationsstufe die eine der beiden Kategorien von Ursachen ganz aufh\u00f6ren sollte, so w\u00fcrden nach meinem Daf\u00fcrhalten die \u00e4usseren Ursachen, wenn sie allein vorhanden w\u00e4ren, das Lebewesen auf der erreichten Organisationsstufe beharren lassen, aber seine Anpassung fortw\u00e4hrend ver\u00e4ndern : das Lebermoos w\u00fcrde beispielsweise nicht zur Gef\u00e4sscryptogame, ein Wurm nicht zum Fisch werden k\u00f6nnen, sondern sie w\u00fcrden ewig Lebermoos und Wurm bleiben. W\u00e4ren dagegen die Vervollkommnungsursachen allein vorhanden, so w\u00fcrden sie innerhalb der erlangten Anpassung die Organisation und Verrichtung weiter bilden, ohne Neues zu leisten: die Zellen und Organe w\u00fcrden vennehrt mit Beibehaltung ihrer Form und Anordnung; die Functionen, die fr\u00fcher vereinigt waren, w\u00fcrden nach Zellen und Organen getrennt, aber es entst\u00e4nden keine neuen Functionen; es w\u00fcrde sich also ein gr\u00f6sserer und differenzirterer Organismus bilden, ohne das Gepr\u00e4ge zu \u00e4ndern. In beiden F\u00e4llen k\u00f6nnte die gesammte Nachkommenschaft eines Wesens zwar zu einer zahlreichen Mannigfaltigkeit, jodoch nur innerhalb einer trostlosen Einf\u00f6rmigkeit gelangen.","page":176},{"file":"p0177.txt","language":"de","ocr_de":"177\nHI. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nDie Vorstellung, die ich mir von dem Zusammenwirken der inneren und \u00e4usseren Ursachen mache, wird noch deutlicher hervortreten, wenn ich dasselbe in seinen molecularphysiologischen Beziehungen von den ersten Anf\u00e4ngen aus verfolge, wie ich os fr\u00fcher (S. 117) bez\u00fcglich der inneren Ursachen allein gethan habe.\nUnter dem Einfluss der Molecularkr\u00e4fte, welche als die inneren Ursachen wirken, bilden sich in der Substanz des primordialen 1 lasinas, indem dieselbe im \u00fcbrigen zu Ern\u00e4hrungsplasma wird, Gruppon oder K\u00f6rper von Plosmamicellen. Diese K\u00f6rper, welche in den Nachkommen stetig aber langsam complicirter werden, stellen dus Idioplasma dar. Durch die gleichzeitig als Reize wirkenden \u00e4usseren Ursachen werden die Idioplasmak\u00f6rper modificirt, indem unter ihrem Einfluss die Micelle sich theilweise eigent\u00fcmlich orientiren und zusammenlagern.\nDie noch ungeordneten Micelle des spontan entstandenen Plasmas verm\u00f6gen nichts Anderes als die Eiweissbildung und somit das Wachsthum durch Micelleinlagerung zu vermitteln. Die unter dem gleichzeitigen Einfluss der inneren und der \u00e4usseren Ursachen zu Schaaren orientirten Idioplasmamicelle verm\u00f6gen durch die geeinten Molecularkr\u00e4fte neue chemische Processe, plastische Bildungen und Bewegungen verschiedener Art zu erzeugen, die alle entsprechen 4 den von aussen erfolgten Reizwirkungen angepasst sind.\nDa die \u00e4usseren Einwirkungen sehr mannigfaltig sind, so kann das durch die inneren Ursachen zu einem gewissen Grad differenzirte Idioplasma ein sehr verschiedenes Anpassungsgepr\u00e4ge annehmen und sehr verschiedene Producte hervorbringen. Schon die niedrigsten Organismen, die wir kennen, die einzelligen Pflanzen und Thiere, treten uns in einer grossen Mannigfaltigkeit entgegen. Sie entsprechen zwar in ihrer Gesammtheit mehreren Graden der inneren Vollkommenheit (oder mehreren Organisationsstufen), so dass also ihre Verschiedenheiten nicht allein von den \u00e4usseren Einfl\u00fcssen abzuleiten sind. Allein os gibt immer eine Zahl von einzelligen Pflanzen und Thieren (z. B. die Chroococcaceen, Schizomyceten und Moneren), welche unter einander in d<jr Organisationsstufe (ihres Idioplasma? und ihrer Zollen) \u00fcbereinstimmen, so dass ihre Unterschiede bloss auf Rechnung der Aussenwelt kommen.\nv. Nfcgel I, Ab\u00abUunniungilehre.\n12","page":177},{"file":"p0178.txt","language":"de","ocr_de":"178\tIII. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nDie erste Anpassung, welche die \u00e4ussere Einwirkung am primordialen Plasma vollbringt, d\u00fcrfte die Bildung einer Hautschicht sein. Man erinnert sich hierbei unwillk\u00fcrlich an die Thatsache, dass das Plasma, welches aus zerrissenen Pflanze\u00bb'.ollen i\u00bb. das umgebende Wasser heraustriU, sofort ein d\u00fcnnes H\u00e4utchen an \u201eeiner fl\u00e4che bildet. Die Entstehung dieses H\u00e4utchens ist eine unmittelbare Reaction des Plasmas auf die Einwirkung des chemisch verschiedenen Wassers, und vielleicht als eine Art R\u00fcckschlag dos fr\u00fcheren phylogenetischen Vorganges zu betrachten. An den letzteren erinnert ferner die Thatsache, dass die Plasmak\u00f6rper in den Pflanzenzellen (Zellkern, Chlorophyllk\u00f6mer u. s. w.) sich gleichfalls mit einem Plasmah\u00e4utchen umgeben. Von diesen ontogenetischen Erscheinung! n unterscheidet sic die Bildung der fraglichen Hautschicht an den Abk\u00f6mmlingen des primordialen Plasmas dadurch, dass die letztere durch die anhaltende Reizwirkung verursacht wurde, welche das Wasser w\u00e4hrend langer Zeitr\u00e4ume aus\u00fcbte, wobei auch das in dem primordialen Plasma sich ausscheidende Idioplasma modificirt und damit eine erbliche Anlage erzeugt wurde, welche immer zur Entfaltung kommt, wenn bei freier Zellbildung Plasmamassen im Innern einer Zelle selbst\u00e4ndig und zu besondem Zellen werden, und ebenfalls, wenn irgend welche Plasmak\u00f6rper innerhalb der Zellen sich ausscheiden und ein lieschr\u00e4nktes individuelles Dasein beginnen.\nDiese Hautschicht der niedersten Thiere kann der mikroskopischen Beobachtung leicht verborgen bleiben, und wenn sie nicht gesehen wird, so ist dies noch kein Beweis daf\u00fcr, dass sie nicht vorhanden sei. Ihre Anwesenheit wird durch die physiologischen Verrichtungen bewiesen. Sie wird sich aber der optischen Wahrnehmung entziehen, wenn sie die gleiche Dichtigkeit besitzt, wie das \u00fcbrige Plasma oder wenn sie allzud\u00fcnn ist. Bei f unsichtbaren Dicke von 0,3 \",k und einem Wassergehalt von besteht sie aus 120 Schichten von Eiweissmicellen mit je 72 AU a C oder aus 60 Schichten von Micellen mit je 144 C u. s. w.\nDie Hautschicht, die an der Oberfl\u00e4che der fr\u00fchesten Plasma-massen entsteht, hat je nach der verschiedenen Wirkung der \u00e4usseren Reize einen ungleichen Charakter. Dieselbe bedeckt sich bei den einzelligen Pflanzen mit einer starren Cellulosemembnui ; bei den einzelligen Thieren bleibt sie nackt und bildet sich nebst ihren","page":178},{"file":"p0179.txt","language":"de","ocr_de":"III. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\n179\nAnh\u00e4ngen zu grosser Beweglichkeit aus, die auch den cilienartigen Anh\u00e4ngen der Plasmahaut von manchen Pflanzenzellen zukommt. Aber die Natur der verschiedenen \u00e4usseren Reize und der verschiedenen Umst\u00e4nde, wolche das eine und das andere bewirken, ist uns noch unbekannt.\nSowie das Idioplasma durch die inneren Ursachen compli-cirter wird, so nimmt unter Mitwirkung der \u00e4m.seren Reize f\u00fcr den Fall, dass dieselben gleichbleiben, die fr\u00fchere Anpassung des Idioplasmas unter Beibehaltung ihres Charakters eine neue, der statt-gohabten Weiterbildung entsprechende Form an. Und in gleichem Maasse, wrie das Idioplasma, ver\u00e4ndert sich der entfaltete Organismus, indem er sich in zahlreichere Theile gliedert und seine Anpassung demgem\u00e4ss weiter ausbildet und verbessert. \u2014 Wenn aber w\u00e4hrend der inneren Vervollkommnung die \u00e4usseren Reiz Wirkungen sich ver\u00e4ndern und lange genug andauem, so wird nat\u00fcrlich sowohl die Anpassung des Idioplasmas als die des entfalteten Organismus eine andere.\nDie anschaulichsten Belege f\u00fcr die Weiterbildung und die Ver\u00e4nderung der Anpassung Anden wir im Thierreiche, weil hier die Anpassungen viel ausgesprochener und leichter verst\u00e4ndlich sind als bei den Pflanzen. Zu den l>emerkenswerthesten Producten, an denen die \u00e4usseren Einwirkungen Theil haben, geh\u00f6ren die Sinnesorgane. Sie behalten w\u00e4hrend der ganzen Phylogenie des Thierreiches den n\u00e4mlichen Charakter, da sie die gleichen Bed\u00fcrfnisse zu befriedigen haben; sie werden aber entsprechend der h\u00f6heren Organisation des ganzen Individuums immer complicirter. Die Ausbildung des so hoch entwickelten Gesichts- und Geh\u00f6rorgans der Wirbclthiere aus den einfachsten Anf\u00e4ngen bei den niederen Thiercn ist nicht durch den Einfluss der Licht- und Tonschwiugungen erfolgt; sondern, indem das Idioplasma durch die inneren Ursachen eine reichere Gliederung gewinnt, bewirkt es die entsprechende reichere Gliederung auch an den genannten Organen, wobei die fortdauernde Einwirkung der Licht- und Tonschwingungen bloss den Anpassungscharakter der Organe erh\u00e4lt und m\u00f6glicherweise noch steigert. \u2014 Beispiele wie auf gleicher Organisationsstufe das Idio-plasma und die entsprechenden Organe sich ungleich an [ wissen k\u00f6nnen, geben uns bei niederen und h\u00f6heren Thieron die Anhangsorgane, welche f\u00fcrdie verschiedensten Bewegungen ausgohildot wurden.\n12*","page":179},{"file":"p0180.txt","language":"de","ocr_de":"180\nHI. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nIm Pflanzenreiche besteht die Vervollkommnung (die reichere Gliederung der Organismen) in einer gr\u00f6sseren Zahl von Zellen und Organen, die eine gr\u00f6ssere Zahl von Ordnungen darstellen. Die anschaulichsten Beispiele, wie bei gleicher \u00e4usserer Anpassung der vegetabilische Organismus zusammengesetzter wird, finden wir namentlich bei den Florideen, bei den Moosen, bei den Phanerogamen. Beispiele dagegen, wie auf der gleichen Organisationsstufe die Organe durch ungleiche Anpassung ver\u00e4ndert werden, geben uns die Gattung Euphorbia, bei der die einen Arten einen d\u00fcnnen holzigen Stengel und ausgebildete gr\u00fcne Bl\u00e4tter, die andoren einen dicken fleischigen gr\u00fcnen, scheinbar blattlosen Stengel besitzen, \u2014 die Gattung Acacia, bei der die einen Arten mehrfach gefiederte Bl\u00e4tter tragen, die andorn len gr\u00f6ssten Theil dieser Bl\u00e4tter verloren und bloss den gemeinsamen Blattstiel behalten, diesen aber blattartig ausgebildet haben, \u2014 die Gattung Ranunculus, bei der die landbewohnenden Arten einen vermittelst verholzter Zellen f\u00fcr Trag- und Biegungsfestigkeit construirten Stengel und breite Bl\u00e4tter haben, indess bei den im Wasser lebenden Arten die verholzten Zellen im Stengel fehlen und die Bl\u00e4tter in schmale fadenf\u00f6rmige Lappen vielfach zertheilt sind, u. s. w.\nWenn es auch Arten von Ranunculus und anderen Gattungen gibt, die bald im Wasser bald auf dem Lande leben und mit dem Wechsel des Mediums ihre \\\\ 'kmaie \u00e4ndern, so ist dies nicht als ein unmittelbares Bewirken durch die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse aufzufassen. Sondern diese Pflanzen haben on jeher als Amphibien gelebt und in Folge dieses Umstandes glo dtig zweierlei Anpassungsanlagen ausgebildet, von denen nun je v dem Med Am, in dem sich die flanze befindet, die entsprach. en mar'fest werden, indess die anderen latent bleiben.\nIch habe bis jetzt die Anpassung so dargestellt, als ob lediglich die entstehenden Vervollkommmmgsanlagen unter dem Einfluss der \u00e4usseren Reize ein besimmtes Anpassungsgepr\u00e4ge annehmen. Die Anpassungsanlage w\u00e4re also nichts Selbstst\u00e4ndiges, keine isolirto Micellgruppe im Idioplasma, die f\u00fcr sich entst\u00e4nde. Der Organismus k\u00f6nnte seine Anpassung nicht \u00e4ndern, wenn er unter andere \u00e4ussere Verh\u00e4ltnisse kommt, insofern nicht eine Weiterbildung des Idioplasmas durch die inneren Ursachen erfolgt, die unter den neuen Reizwirkungen einen denselben entsprechenden Charakter annimint.","page":180},{"file":"p0181.txt","language":"de","ocr_de":"III. Ursachen der Ver\u00e4nderung\nEs ist dies keine nothwendige Forderung der Theorie; denn (hose w\u00fcrde es auch als plausibel erscheinen lassen, dass ein Organismus, w\u00e4hrend sein Idioplasma auf dem n\u00e4mlichen Organisationsgrad verbleibt, unter dem Einfluss \u00e4usserer Reize die Anpassung seines Idioplasmas sowie seiner Organe \u00e4ndere. Sondern die Erfahrung ist es, welche eine solche Annahme nicht zu gestatten scheint. Dies ergibt sich aus der Thatsache, die ich fr\u00fcher schon angef\u00fchrt, habe, dass viele Pflanzen seit der Eiszeit unter ganz verschiedenen klimatischen Verh\u00e4ltnissen und in Gesellschaft mit einer ganz verschiedenen Pflanzen- und Thierwelt gelebt haben und doch sich nicht im geringsten von einander unterscheiden, \u2014 obgleich unter diesen Umst\u00e4nden auch die Reizwirkungen, die sonst Anpassungen bewirken, verschieden sein mussten, und der Zeitraum hinreichend lange erscheint, um Anlagen hervorzubringen.\nWir m\u00fcssen daher wohl scliliessen, dass das Idioplasma nur insoweit, als es sich durch innere Ursachen weiter bildet, gegen\u00fcber den \u00e4usseren Reizwirkungen sich als bildsam erweise. Dabei ist zu 1 jemerken, dass seit der Eiszeit die Weiterbildung durch innere Ursachen gewiss nicht unth\u00e4tig gewesen ist, und dass die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse sicher auch bei der Pr\u00e4gung der entstehenden Micellgruppen betheiligt waren; aber die letzteren haben bei vielen Pflanzen noch nicht die entfaltungsf\u00e4hige H\u00f6he erreicht. Denn die selbst\u00e4ndige Ausbildung des Idioplasmus geht, wie aus allem geschlossen werden muss, \u00e4usserst langsam vor sich und verz\u00f6gert daher auch die Anpassungsumbildung desselben.\nDie phylogenetische Entwicklung besteht also darin, dass das Idioplasma durch die inneren Ursachen stetig complicirter wird und dabei unter dem Einfluss der gleichbleibenden oder sich ver\u00e4ndernden \u00e4usseren Reizwirkungen seinen Anpassungscharakter beibeh\u00e4lt oder wechselt. Sowie die Micellschaaren in dem Idioplasma an Zahl zunehmen, wird nothwendig auch der Organismus complicirter, weil ja seine Ontogenie darin besteht, dass eine Schaar nach der andern in Wirksamkeit tritt und sich an dem Aufbau in der ihr eigent\u00fcmlichen Weise betheiligt. Der Weg von der Keimzelle bis wieder zur Keimzelle wird also in einer Abstammungsreihe immer l\u00e4nger, die Individuen erheben sich auf immer h\u00f6here Organisationsstufen und bilden eine gr\u00f6ssere Monge von Organen, wobei sich die Verrichtungen scheiden und auf verscliiedene Organe vertheilen. Die","page":181},{"file":"p0182.txt","language":"de","ocr_de":"182\nIII. Ursachen der Ver\u00e4nderung.\nAnpassungen an die Ausseuwelt aber, welche die innere und \u00e4ussere Beschaffenheit der Organe wesentlich bedingen, werden, weil nach und nach jeder einzelnen Anpassungsfunction ein eigenes Organ zur Verf\u00fcgung gestellt wird, immer mehr localisirt, und k\u00f6nnen in _olge dessen ohne St\u00f6rung der \u00fcbrigen Verrichtungen sich der Keizwirkung entsprechend ausbilden.","page":182},{"file":"p0183.txt","language":"de","ocr_de":"IV.\nAnlagen und sichtbare Merkmale.\nDie unmittelbar vorausgebende Auseinandersetzung hatte den Zweck, das Zusammenwirken des VervoUkomnmungstriebes und der \u00e4usseren Einfl\u00fcsse, wodurch das Idioplasma in bestimmter Weise ver\u00e4ndert wird, darzulegen. Es fr\u00e4gt sich nun zun\u00e4chst, wie die zeitlich aufeinanderfolgenden Zust\u00e4nde des Idioplasmas und die in demselben entstehenden Anlagen sich zu den sichtbaren Merkmalen verhalten. Zwar geben mis die letzteren aUcin Kunde von der Beschaffenheit des Idioplasmas ; aber deswegen d\u00fcrfen wir dieses doch nicht etwa als ihr Spiegelbild betrachten und mis vorstellen, dass mit den Ver\u00e4nderungen der Organismen auch die Ver\u00e4nderungen in der Beschaffenheit des Idioplasmas genau \u00fcbereinstimmen. Viele Thatsachen beweisen mis, dass beide Vorg\u00e4nge nur bis auf einen gewissen Punkt einander entsprechen und dass die Kunde, welche uns der entfaltete Zustand von den Anlagen gibt, unvollst\u00e4ndig ist, weil immer eine Anzahl von Anlagen latent bleibt.\nWir k\u00f6nnen die (phylogenetisch'') Ausbildung des Idioplasmas durch eine ganze Qenerationenreihe einem Strome vergleichen, der von kleinem Anf\u00e4nge aus immer m\u00e4chtiger wird und dessen Oberfl\u00e4che von mannigfaltigen Wellenz\u00fcgen bewegt ist. Die fortschreitende Str\u00f6mung, welche der Steigerung in der zusammengesetzten Anordnung des Idioplasmas entspricht, macht sich absatzweise in einer bestimmten Organisationsstufe geltend, welche so lange fortbesteht, bis die um einen gewissen Grad st\u00e4rker gewordene Str\u00f6mung zu einer folgenden Organisationsstufe dr\u00e4ngt. Von den Wellenz\u00fcgen,","page":183},{"file":"p0184.txt","language":"de","ocr_de":"184\nIV. Anlagen und sichtbare\nwelche die Oberfl\u00e4che modelliren und den Anpassungsver\u00e4nderungon im Idioplasm* entsprechen, werden nur die kr\u00e4ftigsten zu sichtbaren Merkmalen, indess die anderen latent bleiben, und jene sichtbaren Merkmale bleiben so lange, bis neue, hinreichend kr\u00e4ftige Wellen-z\u00fcge, die in entgegengesetzter Richtung verlaufen, sie durch andere Merkmale verdr\u00e4ngen.\nWenn eine Anlage, sei es eine Vervollkommnungs- oder eine Anpassungsanlage, entsteht, so muss die Ver\u00e4nderung im Idioplasm* bis auf einen gewissen Punkt gedeihen, ehe sie sich zu entfalten vermag. Dieser Punkt kann je nach Umst\u00e4nden fr\u00fcher oder sp\u00e4ter eintreten. Es verh\u00e4lt sich damit gleichsam wie mit einer verschlossenen Flasche, welche eine g\u00e4rungs&hige Fl\u00fcssigkeit enth\u00e4lt Man bemerkt \u00e4UBserlich nichts von der im Innern vor sich gehenden Bewegung, bis der Pfropf durch das gespannte Gas herausgeschleudert wird! was nach k\u00fcrzerer oder l\u00e4ngerer Zeit erfolgt, je nach der Intensit\u00e4t der G\u00e4rung und der Festigkeit des Verschlusses. So vergeht auch eine gewisse Zeit, bis die Spannung, welche eine werdende Anlage im Idioplasma verursacht, hinreichend intensiv geworden ist, um die Widerst\u00e4nde zu \u00fcberwinden und manifest zu werden. Daher geschieht die phylogenetische Ver\u00e4nderung der Organismen im allgemeinen sprungweise, indem auf eine Zeit der Ruhe eine rasche \u00e4ussere Umwandlung erfolgt.\nDie Ursache, warum eine werdende Anlage im Idioplasma in so vielen F\u00e4llen nicht sofort auch als werdendes Merkmal \u00e4usserlich sich kund gibt, sondern eine gewisse H\u00f6he erreichen muss, um dann pl\u00f6tzlich als fertiges Merkmal sich zu entfalten, hegt wohl immer darin, dass dieses Merkmal ein anderes verdr\u00e4ngt und die Uebergangsstufen von dem Organismus nicht oder nur schwer hervorgebracht werden. Es gibt eine Menge von Beispielen, wo man einen sprungweisen Uebergang beobachten kann, obgleich allm\u00e4hliche Uebergangsstufen denkbar sind und auch ganz nat\u00fcrlich erscheinen w\u00fcrden. M\u00ab\u00ab k\u00f6nnte leicht auf die Vermuthung kommen, dass die Zwischenglieder sich bei der phylogenetischen Umwandlung zwar gebildet haben, aber als nicht existenzf\u00e4hig durch die Concurrenz beseitigt worden seien. Wenn aber dem so w\u00e4re, so m\u00fcssten die Zwischenglieder bei der Kreuzung wieder zum Vorschein kommen, was nicht der Fall ist Ich werde diesen Punkt in der Besprechung des Verhaltens der Anlagen bei der geschlechtlichen Befruchtung n\u00e4her er\u00f6rtern.","page":184},{"file":"p0185.txt","language":"de","ocr_de":"IV. Anlagen und lichtbare Merkmale.\n186\nF\u00fcr jetzt will ioh nur zwei Merkmale kurz erw\u00e4hnen, die ieh fr\u00fcher schon angef\u00fchrt habe, weil sie leioht zu beobachten sind, die Zahl und die Farbe. Manche Pflanzen mit f\u00fcnfbl\u00e4ttrigen Blumenkronen \u00e4ndern mit vierbl\u00e4ttrigen ab, aber es gibt keine Krone mit vier Bl\u00e4ttern und einem Bruchtheil des f\u00fcnften. Manche Pflanzen bringen neben rothen oder blauen Bl\u00fcthen auch weisse hervor; bei den einen Arten mangeln die Zwischenstufen g\u00e4nzlich, bei andern kommt ein hellrothes oder hellblaues Zwischenglied vor, bei wenigen mehrere Zwischenglieder mit abgestufter Intensit\u00e4t der F\u00e4rbung. Ich nenne die blaubl\u00fcthigen Gentianen, welche selten weiss oder \u00fcberdem auch hellblau auftreten, die blaue flampun^ barbata, die auf gewissen Standorten auch zahlreiche weisse und sehr sp\u00e4rliche hellblaue Bl\u00fcthen tr\u00e4gt (andere Campanula-Arten zeigen im Gebirg ein gleiches numerisches Verh\u00e4ltniss von drei Bl\u00fcthenfarben), Erica caraea und Rhododendron ferrugineum mit rothen und \u00e4usserst selten mit weissen Bl\u00fcthen, Anemone hepatica blau bl\u00fchend, selten auch weise oder roth (in manchen Gegenden ohne Ueberg\u00e4nge), Achillea Millefolium, die auf hohen alpinen Standorten sp\u00e4rlich intensiv roth, h\u00e4ufig rein weiss und ebenfalls h\u00e4ufig hellroth in verschiedenen Abstufungen vorkommt\nDiese und vide andere Beispiele beweisen uns, dass manche Merkmale des entwickelten Organismus sich nicht allm\u00e4hlich in einander umwandeln k\u00f6nnen oder wenigstens eine Abneigung gegen die Bildung der Uebergangsglieder zeigen. Ohne Zweifel gilt dies auch schon f\u00fcr die Anlagen im Idioplasma, indem nicht die alte Anlage in die neue umgewandelt wird, sondern indem vielmehr neben jener die neue sich allm\u00e4hlich heranbildet und dann, wenn sie hinreichend stark geworden, an der Stelle derselben sich entfaltet Dies ist als sicher zu betrachten f\u00fcr die vielen F\u00e4lle, wo das neue Merkmal gelegentlich wieder in das fr\u00fchere Zur\u00fcckschlagen kann.\nEine Ver\u00e4nderung im Idioplasma oder eine werdende Anlage muss also bis auf einen gewissen Grad an wachsen, ehe sie eine fertige Anlage darstellt, welche sich zum sichtbaren Merkmal entfalten kann. Sie behauptet diese H\u00f6he so lange, bis sie durch das Auftreten einer anderen verwandten Anlage, die nun ihrerseits manifest werden kann, oder durch anderweitige Umbildungen im Idioplasma geschw\u00e4cht wird. 8ie kehrt nun in denjenigen Zustand","page":185},{"file":"p0186.txt","language":"de","ocr_de":"186\nIV. Anlagen und sichtbare w\u00bbi.m.u\nzur\u00fcck, in welchem sie gleichsam bloss eine Spannung darstellt, die nicht mehr in Bewegung \u00fcbenugehen vermag. Sie bleibt l&naere oder k\u00fcrzere Zeit in diesem Zustande, nimmt nach und nach ab und verschwindet zuletzt ganz, oder nimmt auch wieder zu und wird von neuem entfaltungsf\u00e4hig.\nMit R\u00fccksicht auf dieses weitere Schicksal m\u00fcssen wir \u00fcbrigens zwischen Vervollkommnungs- und Anpassungsanlagen unterscheiden. Was die ersteren betrifft, so wird mit der Einlagerung neuer Micelle beim Wachsthum die Structur des Idioplasmas immer zusammengesetzter, und von Zeit zu Zeit wird diese innere Bewegung als weitorgehende Gliederung im Bau und in den Functionen des (W msrnus sichtbar. Man nimmt nun vielfach an, dass ein Organismus m der phylogenetischen Entwicklungsreihe zuweilen auch wieder auf eine niedrigere Organisationsstufe zur\u00fccksinken k\u00f6nne, und es ist daher die Frage, ob es denkbar sei, dass das Idioplasma ausnahmsweise eine fr\u00fchere, einfachere Beschaffenheit annehme, oder\ndass die sp\u00e4teren Vervollkommnungsanlagen in demselben latent werden.\nDie entere Annahme halte ich f\u00fcr unm\u00f6glich, da die Fortschrittebewegung in der Configuration des Idioplasm\u00bb auf die demselben innewohnenden Eigenschaften beschrankt und die Wirkung tasaerer Ursachen davon ausgeschlossen wurde. Es kann daher jene Bewegung weder stille stehen, noch eine entgegen-\ngesetste Richtung einechlagen, indem daf\u00fcr die bewirkenden Ur-Sachen mangeln.\nBagegen l\u00e4sst sich denken, dass ein R\u00fcckschlag des Organismus auf die n\u00e4chst einfachere Organisationsstufe durch Latentweiden der letzten Vervollkommnungsanlagen stattfindet Dann weiden, wenn wir die Anpassung vernachl\u00e4ssigen, in einem Organismus mit dem Idioplasma Jn nur die dem Zustande entsprechenden Merkmale verwirklicht Mit Ber\u00fccksichtigung der Anpassung und unter der Annahme, es ver\u00e4ndere sich ein bestimmtes Merkmal derselben gleichzeitig mit der Organisation, haben wir folgendes Beispiel. Das Idioplasma aJa sei in (a)bJ< \u00fcbergegangen, indem die Organisation um eme Stufe gestiegen ist (von J6 auf J.) und die \u00e4ussere Anpassung sich ge\u00e4ndert hat (von a zu b). Die Anpassungsanlage a ist im Idioplasma noch vorhanden, aber latent, daher in () einge-sc llossen, J% enth\u00e4lt Jt vollst\u00e4ndig in sich, aber vermehrt durch","page":186},{"file":"p0187.txt","language":"de","ocr_de":"IV. Anlagen und sichtbare Merkmale.\n187\niiouo Mieellschuaron und damit zugleich mit einem etwas anderen Closummtgleichgewicht. Wenn beispielsweise aJ6 eine bestimmte einzellige Pflanze mit der Anpassung a darstellt und (a)U9 die erste und niedrigste Stufe der Vielzelligkeii mit der Anpassung 6, so bann diese Form wieder einzellig werden, stellt nun aber in diesem Zustunde nicht die Form der Stufe Jj dar, aus der sie hervorgegangen ist, sondern eine andere Anpassungen m derselben Stufe. H\u00e4tte sich aJb in oJ* (nicht in (a)bJ9) lungewandelt, so w\u00fcrde beim R\u00fcckschlag wieder der beinahe unver\u00e4nderte Vorfahr aJb zum Vorschein gekommen sein.\nDie neuen Micellschaaren, welche den Fortschritt des Idio-plasmas von zu J\u00a7 bedingten und die Vervollkommnungsanlage in sich fassen, m\u00fcssen, um in Merkmalen manifest zu werden, zu einer gewissen H\u00f6he anwachsen. Der Wendepunkt wird fr\u00fcher oder sp\u00e4ter eintreten k\u00f6nnen; die Ursachen, die auf das Manifestwerden einwirken, sind uns unbekannt; die Ern\u00e4hrung und andere \u00e4ussere Einfl\u00fcsse m\u00f6gen dabei eine Rolle spielen. Die n\u00e4mlichen Ursachen, die das Manifestwerden der Anlage beschleunigten, versetzen dieselbe, wenn sie in entgegengesetzter Richtung wirken, wieder in den latenten Zustand. Die neuen Micellschaaren, welche die einzellige Pflanze in eine mehrzellige verwandelten, lassen, wenn sie unwirksam werden und im Spannungszustande verbleiben, den mehrzelligen Organismus wieder einzellig werden. Sie verschwinden aber nicht aus dem Idioplasma, sondern sie verst\u00e4rken sich, verm\u00f6ge des inh\u00e4renten Forschnttes zur Complication, immer mehr und f\u00fchren nothwendig wieder zur mehrzelligen Pflanze, welche nun aber viel schwieriger wieder zur Einzelligkeit zur\u00fccksinken kann.\nWenn die vorgetragene Theorie richtig ist, so tritt ein Zur\u00fcckfallen auf fr\u00fchere Organisationsstufen h\u00f6chstens vor\u00fcbergehend, aber nie f\u00fcr dauernd ein. Damit stimmt die Entwicklungsgeschichte der organischen Reiche \u00fcberein, soweit sich dieselbe sicher beurtheilen l\u00e4sst, da \u00fcberall ein Fortschritt zum Zusammengesetzteren, aber nirgends mit Gewissheit ein R\u00fcckschritt zum Einfacheren dargethan iA \u2014 Ferner findet in der Regel nur ein R\u00fcckschlag auf die n\u00e4chst fr\u00fchere Organisationsstufe statt und auch dies nur, wenn die neue Vervollkommnungsanlage nicht vollst\u00e4ndig durchgebildet und gefestigt ist. Wenn daher auch ein mehrzelliger Organismus der niedrigsten Stufe (\u00ab/\u00ab) einzellig wird, so ist die n\u00e4mliche Umwandlung f\u00fcr","page":187},{"file":"p0188.txt","language":"de","ocr_de":"188\nIV. Anlagen und sichtbare Merkmale.\neinen solchen der Stufe Ji und noch weit mehr f\u00fcr h\u00f6here Stufen (Jh u. s. w.) als nahezu unm\u00f6glich zu betrachten.\nDie Norm des R\u00fcckschlages wird gew\u00f6hnlich anders aufgefasst, indem man annimmt, dass allgemein der vollkommnere Zustand auch wieder in den unvollkommneren \u00fcbergehen kOnne. Dabei handelt es sich aber meistens nicht um Erscheinungen, die der von mir unterschiedenen Vervollkommnungs* oder Progressionsbewegung angeh\u00f6ren, sondern um Anpassungen, die nach den Umst\u00e4nden als mehr oder weniger vollkommen erscheinen. R\u00fcckschl\u00e4ge auf fr\u00fchere Organisationsstufen, die nicht als Anpassungen zu betrachten sind, finden im Pflanzenreiche jedenfalls nur h\u00f6chst selten und zwar in der angegebenen Beschr\u00e4nkung, vielleicht auch gar nicht statt; so schl\u00e4gt die geschlechtliche Befruchtung nicht in die Conjugation,\ndie bebl\u00e4tterte Pflanze nicht in die Thallompflanze zur\u00fcck. _ Es\ngibt freilich einen scheinbaren R\u00fcckgang in der Vervollkommnungs* bewegung, indem ein Organismus zur Vermehrung gelangt, ehe er alle ontogenetischen Entwicklungsstadien durchlaufen hat, so dass also ein Abschnitt der Ontogenie constant ausbleibt So bringeu unter ung\u00fcnstigen \u00e4usseren Umst\u00e4nden manche Pflanzen keine Bl\u00fcthen hervor, sondern vermehren sich auf geschlechtslosem Wege. Dies kann wahrscheinlich Jahrtausende lang fortdauern; aber die Pflanzen haben deshalb phylogenetisch keinen R\u00fcckschritt gemacht Sie besitzen alle idioplasmatischen Anlagen, die ihrer Organisations-stufe zukommen, und es bedarf bloss der g\u00fcnstigen \u00e4usseren Einfl\u00fcsse, um sie wieder zur Bl\u00fcthenbildung zu veranlassen. In \u00e4hnlicher Weise kann bei niederen, mit Generationswechsel begabten Pflanzen, z. B. bei Pilzen, ausnahmsweise die eine Generation w\u00e4hrend langer Zeitr\u00e4ume ausfallen.\nW\u00e4hrend uns die Erfahrung \u00fcber das Schicksal der Vervollkommnungsanlagen bloss die Aussicht er\u00f6ffnet, dass die Merkmale, die der Anlage einer niederen Stufe entsprechen, durch solche verdr\u00e4ngt werden, die der Ausdruck der n\u00e4chsth\u00f6heren Anlage sind, so ist das Verhalten der Anpassungsanlagen und ihrer manifesten Merkmale ein h\u00f6chst mannigfaltiges, \u2014 und was \u00fcber Ver\u00e4nderung der Merkmale und \u00fcber R\u00fcckschlag in fr\u00fchere Formen wirldich beobachtet wurde, geh\u00f6rt alles dieser Kategorie an. Dies ist begreiflich; die Anpassungsanlagen werden durch \u00e4ussere Einwirkungen erzeugt und gest\u00e4rkt, sie werden durch dieselben auch","page":188},{"file":"p0189.txt","language":"de","ocr_de":"IV. Anlagen and sichtbare Merkmale.\n189\nwieder geschw\u00e4cht und vernichtet. Ebenso haben die \u00e4usseren Umst\u00e4nde auf das Manifest- und Latentwerden dieser Anlagen einen entschiedenen Einfluss.\nWenn das Idioplasma sich gewissen \u00e4usseren Einwirkungen angepasst hat, so besitzt es eine denselben entsprechende partielle Anordnung, welche die Anpassungsanlage darstellt und unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden als Merkmal manifest wird. Kommen nachher andere \u00e4ussere Einfl\u00fcsse zur Geltung, so tritt eine neue partielle Anordnung im Idioplasma auf, welche je nach Umst\u00e4nden jene fr\u00fchere unver\u00e4ndert l\u00e4sst oder schw\u00e4cht oder vernichtet; im ersten Fall bleibt das Merkmal der fr\u00fcheren Anpassungsanlage neben dem neuen Merkmal fortbestehen ; in den andern F\u00e4llen verschwindet es und das neue Merkmal tritt an seine Stelle. Die geschw\u00e4chte An-hige beharrt noch l\u00e4ngere oder k\u00fcrzere Zeit als partielle Anordnung im Idioplasma; sie kann sp\u00e4ter wieder gest\u00e4rkt werden und als R\u00fcckschlag ein sichtbares Merkmal hervorbringen, das dem urspr\u00fcnglichen Merkmal mehr oder weniger gleicht.\nUm dies in einem schematischen Beispiel auszuf\u00fchren, so Komme ein Organismus mit dem Idioplasma aJn unter neue \u00e4ussere Verh\u00e4ltnisse b und die neue Anpassungsanlage lasse die fr\u00fchere unversehrt. aJ% geht also \u00fcber in abJn + l und die Entfaltung zeigt die beiden Merkmale (a und b) neben einander. Darauf entstehen durch abermalige Anpassungen an ver\u00e4nderte \u00e4ussere Verh\u00e4ltnisse die partiellen idioplasmatischen Anordnungen e und d ; dabei werde a durch das verwandte c, und 6 durch das verwandte d geschw\u00e4cht. Es verwandelt sich somit abjn + t in (<*)c(b)dJm +t, wozu .ich bemerke, dass die geschw\u00e4chten, nicht mehr entfaltungsf\u00e4higen Anlagen wieder in () eingeschlossen sind, indess die nicht eingeschlossenen offenbar werden. Der Organismus hat somit die Merkmale a und b mit c und d vertauscht. \u2014 Noch sp\u00e4ter wird durch die neue An-pagsungsanlage c die fr\u00fchere c und durch die neue Anlago f die fr\u00fchere d geschw\u00e4cht, so dass das Idioplasma sich von (a)c(b)djn+t in (a, c) c (b, d)fjn+a umwandelt, und am Organismus die Merkmale e und d durch e und f ersetzt werden. \u2014 Im Idioplasma befinden sich nun die latenten Anlagen a, c, b, d, von denen die eine oder die andere unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden wieder zur Entfaltung gelangen kann, wobei dann das entsprechende unvertr\u00e4gliche Merkmal verdr\u00e4ngt wird. Beispielsweise geht das Idioplasma in den Zustand","page":189},{"file":"p0190.txt","language":"de","ocr_de":"m\nIV. Anlagen und sichtbare Merkmal\u00bb.\n(Cyt)a\u00c7b,f)dJn + 4 \u00fcbor, indem an dem Organismus die R\u00fcckschl\u00e4ge \u00ab und d auftreten, zwei Merkmale, die fr\u00fcher nicht gleichzeitig bestanden.\nW\u00e4hrend das Idioplasma durch die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse in der angegebenen Weise ver\u00e4ndert wurde und einen mehrmaligen Wechsel der Anpassungsmerkmale am Organismus bewirkte, bildete sich dasselbe durch den Vervollkommnungstrieb stetig weiter aus und erreichte m\u00f6glicherweise oine neue entfaltungsreife Stufe. Es trat also in dem vorletzten der angef\u00fchrten Stadion als (a,c)e(b,d)fJn+s auf und der Organismus zeigte ausser den neuen Anpassungsmerkmalen e und f auch eine der Stufe \u00ab/\u201e _|_ 3 entsprechende vermehrte Gliederung seiner Organisation.\nIch wiederhole hier, dass, wie ich fr\u00fcher schon ausf\u00fchrte, die Organisationsanlagen und die Anpassungsanlagen zu einem combinirten System vereinigt zu denken sind, in welchem dieselben nicht neben einander liegen, sondern in welchem die Organisationsanlagen, welche die Grundlage des Idioplasmas bilden, von den Anpassungsaulagen gleichsam durchdrungen und bestimmt gemodelt werden. Gleichwohl erscheinen die Merkmale, welche den beiderartigen Anlagen entsprechen, in gewissem Sinne selbst\u00e4ndig, so dass die einen ohne die andern sich umwandeln k\u00f6nnen. Wenn auch, wie ich anzunehmen gen\u00f6tkigt bin (8. 181), die Anpassung des Idioplasmas sich nur \u00e4ndert nach Maassgabe als dasselbe in innerer Umwandlung begriffen ist, so dauert doch dieser innere Umwandlungsprocess, bis er eine neue Organisation am entwickelten Organismus bewirkt, so lange Zeitr\u00e4ume an, dass das Idioplasma indessen mehrmals neue Anpassungsanlagen bilden kann. Daher vermag auch der Organismus, indem er in seinen allgemeinen Merkmalen auf der n\u00e4mlichen Organisationsstufe verbleibt, seine Anpassungsmerkmale zu wechseln. Dass aber auch die Anpassung sich nur sehr latigMin umwandelt, beweist der wiederholt angef\u00fchrte Umstand, viele Pflanzen seit der Eiszeit dieselbe nicht zu \u00e4ndern vermochten.\nWie der auf der gleichen Organisationsstufe beharrende Organismus seine Anpassungen \u00e4ndert, kann umgekehrt ein Wechsel der Organisationsstufe bei gleichbl\u00c4bender Anpassung stattfinden. Ich erw\u00e4hne als verst\u00e4ndlichstes Beispiel einzellige Pflanzen, die ohne irgend eine weitere Modification mehrzellig werden. In diesem Verh\u00e4ltnis stehen zu einander die (einzelligen) Chroococcaceen und die","page":190},{"file":"p0191.txt","language":"de","ocr_de":"IV. Anlagen und Hiclithare Merkmale.\nidl\n\u00fcbrigen (mehrzelligen) Gruppen der Nostochinen (Nostochaceen, Oscil-lariacoen, Scytoneniacoen, Rivulariuceen), \u2014 gewisse (einzellige) Pal-mellinen und verwandte Gattungen der (mehrzelligen) Confervo\u00efden, \u2014 die (einzelligen) Desmidiaceen und die (mehrzelligen) Zygnemaceen.\nEs gibt also, wenn wir von den beiden der Organisation und der Anpassung entsprechenden Kategorien absehen, zweierlei Anlagen im Idioplasma, entfaltungsf\u00e4higo und entfaltungsunf\u00e4hige, solche, die am Organismus sichtbare Merkmalo veranlassen k\u00f6nnen und solche, die im geschw\u00e4chtem oder unfertigem Zustande sich befinden und nothwendig latent bleiben. Unter den eutfaltungs-f\u00e4higen Anlagen gibt es wieder zwei Gruppen, solche mit unausbleiblicher oder noth wendiger und solche mit zuf\u00e4lliger Entfaltung; man kann sie, in Analogie mit der Bezeichnung der auf bestimmten Bodenarten vorkommenden Gew\u00e4chse, entfaltungsstet und entfaltungsvag nennen. Die entfaltungssteten Anlagen kommen in jedem Individuum zur Entwicklung, w\u00e4hrend die entfaltungsvagen bald latent bleiben, bald manifest werden. Unter den letzteren gibt es \u00fcbrigens alle Abstufungen zwischen der Entfaltungsstetigkeit und der Entfaltungsunf\u00e4higkeit, indem die einen nur selten verborgen bleiben und die anderen nur selten sichtbar werden, und man k\u00f6nnte daher unter ihnen wioder entfaltungsholde und entfaltungsscheue unterscheiden. Fast jede Pflanzenart hat entfaltungsvage Anlagen ; sie betreffen vorz\u00fcglich die Gr\u00f6sse des Individuums und der Organe, die Zahl der Organe und Zellen, die Verzweigung, Bewurzelung, Behaarung, F\u00e4rbung, die Vermehrung im Verh\u00e4ltniss. zur Fortpflanzung, die F\u00fcllung der Bl\u00fcthen, endlich verschiedene krankhafte und abnormale Erscheinungen, \u2014 und sind sehr geeignet den Systematiker irre zu f\u00fchren.\nOb die entfaltungsvagen Anlagen zu manifesten Merkmalen werden oder nicht, h\u00e4ngt, wenn eine Pflanze normal und unverletzt ist, von den \u00e4usseren Einwirkungen, namentlich von der richtigen Ern\u00e4hrung ab. Die n\u00e4mliche Pflanze, die auf magerem sandigem Boden kaum handgross wird mit un verzweigtem einbl\u00fcthigen Stengel, erlangt auf fruchtbarem Boden die H\u00f6he von einem Meter und reiche Verzweigung mit hunderten von Bl\u00fcthen; sie bringt hier alle entfaltungsf\u00e4higen Anlagen zur Ausbildung. \u2014 Die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse f\u00fchren dom Organismus vorz\u00fcglich Stoff und Kraft zu.","page":191},{"file":"p0192.txt","language":"de","ocr_de":"192\nIV. Anlagen und sichtbare Merkmale.\nSie haben die Bedeutung, welche dos Brennmaterial f\u00fcr die Dampfmaschine hat. Wie die Vermehrung des Brennmaterials die Kraft der Maschine und die Geschwindigkeit der dadurch in Bewegung gesetzten Locomotive vermehrt, so steigert eine reichlichere Nahrung in Verbindung mit einer grosseren Menge von W\u00e4rme und Licht die Leistungen der lebenden Pflanze so sehr, dass dieselbe nun alle entfaltungsfehigen Spannungen in Bewegung \u00fcbeigehen l\u00e4sst.\nWir begreifen diese Thatsache auch von der mechanischen Seite, wenn die Vermuthung, die ich fr\u00fcher \u00fcber die Beziehung zwischen den Vorg\u00e4ngen im Idioplasma und am entfalteten Organismus \u00e4usserte (S. 47) richtig ist Eine entfaltungsf\u00e4hige Anlage wild dann zum sichtbaren Merkmal, wenn die ihr entsprechende Gruppe von L\u00e4ngsreihen im Idioplasma in activer Weise w\u00e4chst, w\u00e4hrend die andern Gruppen nur so weit passiv folgen, als es die eintretende Spannung erfordert Es ist in diesem Falle selbstverst\u00e4ndlich, dass bei mangelhafter Ern\u00e4hrung nur diejenigen Gruppen des Idioplasmas zum activen Wachthum und somit zur Entfaltung ihrer Merkmale gelangen, welche dazu die gr\u00f6sste Neigung besitzen, und dass bei reichlichster Ern\u00e4hrung auch die andern, die \u00fcberhaupt jene F\u00e4higkeit besitzen, dazu angeregt werden.\nEs gibt unter abnormalen Verh\u00e4ltnissen noch eine andere Art von Entfaltung sonst latent bleibender Anlagen. Zellen von Stengeln, Bl\u00e4ttern, Wurzeln, die im normalen Zustande in Ruhe verharren gelangen nach Verletzungen und Verst\u00fcmmelungen des Individuums zur Entwicklung. Aus gekappten St\u00e4mmen, Aesten und Wurzeln, aus St\u00fccken von solchen, an abgeschnittenen Bl\u00e4ttern b\u00fcden sich Adventivknospen. Das Idioplasma bestimmter Zellen, das sonst ruhend b eibt, beginnt in diesem Falle sich sammt dem Em\u00e4hrungsplasma zu vermehren und dadurch Zellenbildung einzuleiten. Die Erscheinung hat nichts Auffallendes und erkl\u00e4rt sich zum Theil in gleicher Weise, wie die Entwicklung der einzelnen entfaltungsvagen Anlagen. Durch die Verst\u00fcmmelung h\u00e4ufen sich n\u00e4mlich die N\u00e4hrstoffe an, die unter normalen Verh\u00e4ltnissen nach denjenigen Organen, wo Neubildungen stattfinden, abfliessen, und veranlassen < as Idioplasma, zu dem die st\u00e4rkste Zufuhr stattfindet, zum Wachs-thum. Ueberdem wird aber auch bei der Verst\u00fcmmelung der Organismus durch verschiedene Einwirkungen getroffen, welche er im unversehrten Zustande nicht sp\u00fcrt.","page":192},{"file":"p0193.txt","language":"de","ocr_de":"IV. Anlagen and HichtljMo Merkmale.\nm\nDugegon ist die Eigenartigkeit, in der diese adventiven Bildungen erfolgen, beraorkenswerth ; aus dem n\u00fcmlichon Gewebe k\u00f6nnen unter verschiedenen Umst\u00e4nden verschiedene Bildungen hervorgehen. Wird ein Stengel oben abgeschnitten, so dass ihm Zweige und Bl\u00e4ttor mangeln, abor die Wurzeln bleiben, so bildet er Adventivknospen und aus denselben bebl\u00e4tterte Zweige ; wird er unten abgeschnitten, so dass er die Zweige und Bl\u00e4tter beh\u00e4lt aber die Wurzeln verliert, so orzeugt er aus denselben Zellen Adventivwurzeln. Aehnlich verh\u00e4lt es sich mit abgeschnittenen Wurzeln. Es ist als ob das Idioplasma genau w\u00fcsste, was in den \u00fcbrigen Theilen der Pflanze vorgeht, und was es thun muss, um die Integrit\u00e4t und die Lebensf\u00e4higkeit des Individuums wieder herzustellen.\nDiese merkw\u00fcrdige Erscheinung erkl\u00e4rt sich mit Hilfe zweier Hypothesen, die ich oben aufgestellt habe und dient denselben zugleich als St\u00fctze. Sie beweist einerseits wohl unzweifelhaft, dass das Idioplasma in einem beliebigen Theil des Organismus Kunde erh\u00e4lt von dem, was in den \u00fcbrigen Theilen vorgeht Dies ist dann m\u00f6glich, wenn seine Ver\u00e4nderungen und Stimmungen auf materiellem oder dynamischem Wege \u00fcberall hin mitgetheilt werden (S. 55). In diesem Falle muss es das locale Idioplasma sofort f\u00fchlen, wenn ein wesentlicher Theil des Individuums mangelt, weil von dorther keine Mittheilungen mehr anlangen. Sollte in dem pflanzlichen Organismus die Communication auf materiellem Wege erfolgen, was ich indess f\u00fcr wenig wahrscheinlich halte, so w\u00fcrde in dem angef\u00fchrten Beispiel das Idioplasma des Stengels entweder keine Theilchen von den Wurzeln oder keine solchen von den Bl\u00e4ttern und Zweigen erlialten.\nAndrerseits beweist jene Erscheinung, dass das Bed\u00fcrfniss als Reiz wirken kann (S. 162), und dass das bestimmte Bed\u00fcrfniss auch eine bestimmte Reaction veranlasst. W\u00e4hrend aber sonst ein solcher Reiz nach sehr langer Dauer Anlagen im Idioplasma erzeugt, dient er hier nach kurzer Einwirkung dazu, bereits vorhandene Anlagen zur Entfaltung zu bringen. Das Idioplasma des Stengels, welches keine Mittheilung von Wurzeln oder von bebl\u00e4tterten Zweigen er-luilt, empfindet diesen Mangel und reagirt darauf, wie es immer auf ein Bed\u00fcrfniss reagirt; es hilft dem Mangel ab und w\u00e4hlt dazu die nach den Umst\u00e4nden geeigneten und ihm zu Gebot stehenden Mittel, in diesem Falle die Anregung zur Entwicklung von bestimmten Anlagen. Die Thatsache, dass aus dem n\u00e4mlichen Ge-\nv. N\u00e4guli, AbatemmuiigMltthre.\t<\u00bb","page":193},{"file":"p0194.txt","language":"de","ocr_de":"lU4\nIV. Anlagen und sichtbare Merkmale.\nwebe von den verschiedenen Organen, die hier gebildet werden k\u00f6nnen, gerade dasjenige entsteht, welches dem Individuum genommen wurde, scheint mir auf keine andere Art sich deuten zu lassen, als dass der Mangel als Reiz zu wirken vermag, welcher der durch Anh\u00e4ufung von N\u00e4hrstoffen erfolgenden Neubildung die bestimmte Richtung anweist.\nEine eigenthQmliche Kategorie von Anlagen, die gleichsam zwischen den entfaltungssteten und den entfaltungsvagen die Mitte halten, bilden je zwei oder mehrere zusammen geh\u00f6rende Anlagen, von denen Eine mit Ausschluss der \u00fcbrigen sich entfalten muss. Welche zur Entfaltung gelangen und welche latent bleiben, h\u00e4ngt bald von inneren bald von \u00e4usseren Ursachen ab. So sind es ohne Zweifel innere, aber noch unbekannte Ursachen, welche bei getrennt geschlech-tigen Organismen bestimmen, ob in einem entstehenden Keim die m\u00e4nnlichen oder die weiblichen Geschlechtsorgane zur Entwicklung gelangen % erden. Dagegen tritt der Einfluss der \u00e4usseren Ursachen bei der Blattbildung einiger Wasserpflanzen ganz auffallend hervor.\nBei Ranunculus fluitans, der im Wasser w\u00e4chst und nur seine Bl\u00fcthen \u00fcber die Oberfl\u00e4che erhebt, sind alle Bl\u00e4tter untergetaucht und borstenf\u00f6rmig - vielspaltig. Bei R. hederaceus, der in fast ausgetrockneten Wassert\u00fcmpeln auf Schlamm und Sand als kriechende Landpflanze lebt, befinden sich die Bl\u00e4tter in der Luft und haben eine nierenf\u00f6nnige, gelappte Spreite. Ein Mittelglied zwischen den beiden genannten Arten stellt R. aquatilis dar, welcher im Wasser, aber mehr an der Oberfl\u00e4che desselben w\u00e4chst. Hier sind die einen (unteren) Bl\u00e4tter untergetaucht und borstenf\u00f6rmig - vielspaltig wie bei R. fluitans, die anderen (oberen) Bl\u00e4tter sind auf dem Wasser schwimmend und haben eine nierenf\u00f6rmige gelappte Spreite wie bei R. hederaceus.\nDie genannten drei Ranunculusarten stehen in sehr naher Verwandtschaft zu einander; sie zeigen im Vereine deutlich den Einfluss der beiden Elemente, des Wassers und der Luft, auf die Fonn-bildung der Bl\u00e4tter. Aber nur bei R. aquatilis macht sich dieser Einfluss bei der Entwicklung der Blattanlagen jetzt noch in jeder Generation geltend. Das Idioplasma dieser Art enth\u00e4lt zwei entwicklungsf\u00e4hige Anlagen, von denen sich bei jeder einzelnen Blattbildung die eine oder andere entfalten muss. Solange der Stengel tiefer im Wasser sich befindet, bringt er die Anlagen der borsten-","page":194},{"file":"p0195.txt","language":"de","ocr_de":"IV. Anlagun und sichtbare Merkmal\u00ab.\nID\u00d6\nf\u00f6rmig-schmalen Bl\u00e4tter, kommt er aber an die Oberfl\u00e4che, diejenigen der breiten Bl\u00e4tter zur Entfaltung.\nIn den zwei anderen Arten sind die Anlagen f\u00fcr die beiden Blattformen gewiss ebenfalls im Idioplasma vorhanden ; aber in jeder vermag sich nur noch die eine Anlage zu entfalten. W\u00e4hrend R. aqua-tilis jetzt noch f\u00fcr ein amphibisches Verha\u2019 xn, um mich so auszudr\u00fccken, bef\u00e4higt ist, hat sich R. hederaceus ganz als Landpflanze, R. fluitans ganz als Wasserpflanze angepasst: in R. hederaceus sind die Anlagen f\u00fcr die borstenf\u00f6rmig-vieltheiligen, in R. fluitans diejenigen f\u00fcr die nierenf\u00f6rmig-gelappten Bl\u00e4tter geschw\u00e4cht und entfaltungsunf\u00e4hig geworden.\nGleich wie der Einfluss des Wassers jetzt noch bei dr\t.*>\ngenetischen Entfaltung der Blattanlagen bemerkbar wird,\ter\neinst die phylogenetische Entstehung dieser Anlagen vollbracht Es ist nicht unwahrscheinlich, dass hierbei die lichtm\u00e4ssigende Wirkung des Wassers die Hauptrolle spielte. Bekanntlich hat Lichtmangel eine starke Streckung des Stengels bei den h\u00f6heren Pflanzen und ebenso der Bl\u00e4tter bei den Monocolyledonen zur Folge (Vergeilung). Allerdings bleiben in der Dunkelheit die Bl\u00e4tter der Dicotyledonen klein und unentwickelt; allein die Ursache hiervon besteht darin, dass bloss schuppenf\u00f6rmige Niederbl\u00e4tter sich bilden. Dass aber die Blattstiele von Dicotyledonen unter dem Einfluss der Dunkelheit sich ebenso sehr strecken k\u00f6nnen wie die Stengel, sehen wir an den im tiefen Wasser wachsenden Seerosen, welche ihre schwimmenden Blattspreiten auf den langen Blattstielen, wie ihre Bl\u00fcthen auf den langen Bl\u00fcthenstielen, an die Oberfl\u00e4che des Wassers bringen. Es ist daher m\u00f6glich, dass unter noch nicht n\u00e4her bekannten Umst\u00e4nden die Bl\u00e4tter der Dicotyledonen bei Lichtmangel sich strecken und schmal bleiben, und dass bei ihrer urspr\u00fcnglichen phylogenetischen Ausbildung die Bl\u00e4tter der Wasserpflanzen von unten nach oben am Stengel allm\u00e4hlich breiter winden, worauf dann bei einer sp\u00e4teren phylogenetischen Umbildung der gew\u00f6hnliche Process ein-trat, welcher mit Unterdr\u00fcckung der Zwischenglieder nur einige extreme Typen beibehielt, n\u00e4mlich bei den genannten Ranunculus-arten die borstenf\u00f6rmig-vielspaltigen und die nierenf\u00f6rmig-gelappten Bl\u00e4tter, von denen bei einigen Arten zuletzt auch noch der eine dieser beiden Typen verloren ging.\n18*","page":195},{"file":"p0196.txt","language":"de","ocr_de":"19\u00ab\nIV. Anlagen und sichtbare Merkmale.\nEhe ich das Verli\u00e4ltniss von Anlagen und sichtbaren Merkmalen weiter verfolge und dasselbe bei der geschlechtlichen Fortpflanzung betrachte, will ich hier noch zwei Bemerkungen ein-\u00abchieben, eine theoretische und eine praktische. Die theoretische botrifft das Verhftltniss der Anlagen zum ontogenetischen Entfaltungs-Zustand, welches uns, wenn wir nur die n\u00e4chst liegenden Beispiele ins Auge fassen, leicht als etwas Mysteri\u00f6ses erscheint. Wir k\u00f6nnen es nur richtig beurtheilen, wenn wir uns das Wesen der Anlagen auf den niedrigsten Stufen deutlich machen. Man m\u00f6chte geneigt \u2022 sein, den einzelligen Organismus als der Anlagen ermangelnd anzusehen; aber dies w\u00e4re nur im Vergleich mit den vielzelligen und h\u00f6her ausgebildeten Wesen richtig. Selbst die erste Stufe des Probienreiches, das primordiale Plasma besitzt im Grunde schon eine Anlage, diejenige, n\u00e4mlich neue gleichartige Micelle einzulagem, also zu wachsen. Auf der n\u00e4chsten Stufe, wo das primordiale Plasma sich zu Tropfen von bestimmter Gr\u00f6sse, die sich theilen, individualisirt hat, sind dom jugendlichen Zustande (nach der Theilung) zwei Anlagen eigen, n\u00e4mlich auf die volle Gr\u00f6sse anzuwachsen und dann sich zu theilen.\nIn diesen einfachen F\u00e4llen liegt der mechanische Zinmnrmmwitiuiig zwischen dem jugendlichen oder Anlagezustand und dem bestimmten entwickelten Zustande klar vor. Sowie nun die Wesen complicirter werden, mehren sich allm\u00e4hlich die Anlagen; d\u00abn entwickelte Stadium l\u00e4sst sich aber immer noch mehr oder weniger deutlich als die noth-wondige Folge des jugendlichen Stadiums einsehen, wie dies bei allen einzelligen und den einfachsten mehrzelligen Organismen der lall ist. Gehen wir stufenweise zu den complicirteren und dann zu den eomplicirtesten mehrzelligen Pflanzen weiter, so \u00e4ndert sich im Priucip nichts; es stellt sich stets die ganze Entwicklung aus dem Keime bis zum erwachsenen Zustande und die Absonderung neuer Keime in diesem Zustande wenigstens der Analogie nach als eine ebenso nothwendige Consequenz dar, wie das Wesen und die Theilung des primordialen Plasmatropfens.\nDies gilt f\u00fcr die Totalanlage, f\u00fcr den ganzen einzelligen Keim der Organismen. Was die Partialanlagen betrifft, so l\u00e4sst sich die Nothwendigkeit der Entfaltung zu bestimmten Merkmalen f\u00fcr jede einzelne auf den untersten Stufen noch deutlich wahmehmen. Sowie die Partialanlagen aber zahlreicher werden, geht der Faden f\u00fcr die einzelnen verloren, da wir die Beschaffenheit des Idioplasmas nicht","page":196},{"file":"p0197.txt","language":"de","ocr_de":"TV. Anlagen and sichtbare Merkmale.\n197\nkennen ; und wir verm\u00f6gen die Nothwendigkeit der bestimmten Entfaltung nur dadurch zu erweisen, dass das causale Gesetz, wo es die ganze Entwicklung beherrscht, auch f\u00fcr die Theile gelten muss.\nDie andere Bemerkung, die ich als praktische bezeichnete, betrifft den Werth, den die Beobachtung des Entfaltungszustandes, im Vergleich zu den Anlagen, f\u00fcr die Beurtheilung des Wesens und \u00ab1er Verwandtschaft der Organismen hat. In dem einzelligen Keim, \u00ab1er nur die Anlagen in sich birgt, ist das ganze Wesen eines Organismus enthalten. Dieser Keim besitzt nicht nur das Geheimniss aller der Eigenschaften, die wirklich zur Entfaltung gelangen, sondern auch das Geheimni s aller derjenigen, die verborgen bleiben und vielleicht erst nach vielen Generationen zum Vorschein kommen.\nVon dem wirklichen und vollst\u00e4ndigen Wesen, das durch den Keim dargestellt wird, gibt uns die Beobachtung der uns zug\u00e4nglichen morphologischen und physiologischen Merkmale nur eine d\u00fcrftige V orstellung. Selbst wenn wir die Entwicklungsgeschichte eines Organismus vom ersten Entstehen bis zum Tode l\u00fcckenlos und in den feinsten Einzelheiten ergr\u00fcnden k\u00f6nnten, so h\u00e4tten wir, da viele Anlagen latent bleiben, doch nur ein mangelhaftes Bild gewonnen. Von der ganzen Entwicklungsgeschichte sind uns abor nur die groben Merkmale zug\u00e4nglich; alle feineren Merkmale, die sieh aus dem Idioplasma entfaltet haben und welche die moleculare Physiologie und Morphologie der nicht idioplasmatischen Substanzen betreffen, bleiben uns verborgen. Es ergibt sich hieraus deutlich, wie vorsichtig die Systematik mit ihren Schl\u00fcssen \u00fcber Verwandtschaft und Abstammung sein sollte.\nWo es sich um tiefgreifende Verschiedenheiten handelt, besonders wenn dieselben mit Hilfe allgemeiner Entwicklungsgesetze, von denen ich im letzten Abschnitt sprechen werde, sich feststellen lassen, mag die vergleichende Morphologie allerdings kaum irre gehen. Es kann, um nur vom Pflanzenreiche zu sprechen, beispielsweise kein Zweifel \u00fcber das Verh\u00e4ltniss von einzelligen und mehrzelligen Gew\u00e4chsen, wenn dieselben in der Beschaffenheit der Zellen \u00fcbereinstimmen, ebenso \u00fcber das Verh\u00e4ltniss von Algen, Moosen, Gefftsskryptogamen, gymnospermen und angiospermen Phanerogamen l>estehen. Wenn man aber von den grossen und allgemeinen Gruppen der Reiche zu den Classen und Ordnungen oder gar zu den Gattungen und Arten heruntersteigt, so ist in der Regel keine sichere Beur-","page":197},{"file":"p0198.txt","language":"de","ocr_de":"198\nIV. Anlagen and nichtbar\u00ae Merkmale.\ntheilung mehr m\u00f6glich und alle phylogenetischen Hypothesen werden werthlos. In diesen Regionen des Pflanzenreiches weiden die Unterschiede nach der \u00e4usseren Form, selten auch nach der anatomischen Structur, die wenig mehr Aufschluss gibt, bestimmt Dies mag nothd\u00fcrftig zur blossen Unterscheidung der Sippen ausreichen, aber f\u00fcr die Erfassung des Wesens haben die Merkmale der beschreibenden Botanik oft nicht mehr Werth, als wenn man das Wesen von Wohnh\u00e4usern. Scheunen, Kirchen, Fabrikgeb\u00e4uden aus ihrer \u00e4usseren Form erkennen wollte.\nWie wenig die \u00e4usseren Unterscheidungsmerkmale dem inneren Werth entsprechen, sehen wir deutlich daraus, dass in gewissen Pflanzenordnungen (z. B. den Ranunculaceen) nahe verwandte Arten durch viel auffallendere Merkmale geschieden sind, als in anderen Ordnungen (z. B. den Cruciferen) die Gattungen. Es kommt selbst vor, dass die sichtbaren und definirbaren Unterschiede ganz mangeln, obgleich die innere Verschiedenheit unzweifelhaft ist. Apfelbaum und Birnbaum sind, wiewohl der gleichen Gattung angeh\u00f6rend, doch als Arten so weit von einander entfernt dass es bis jetzt nicht gelungen ist, sie gegenseitig zu befruchten und einen Bastard zu erhalten, w\u00e4hrend Mandelbaum und Pfirsichbaura, die man in zwei Gattungen trennt, sich bastardiren lassen. Mit Ausnahme eines geringf\u00fcgigen Unterschiedes in der Bl\u00fcthe, wonach die Griffel beim Apfelbaum an der Basis zusammengewachsen, beim Birnbaum frei sind, weise der Botaniker f\u00fcr diese beiden B\u00e4ume keine durchgreifenden, f\u00fcr alle Sorten geltenden UntewchflidnngHfthftTftVfAiy obgleich das Gef\u00fchl einem immer sagt, welche Art man vor sich habe, und kein Bauer sich t\u00e4uscht, wenn man ihm die B\u00e4ume oder auch nur die bebl\u00e4tterten Zweige derselben zeigt.\nDas Verhalten und die Bedeutung der latent bleibenden und manifest werdenden Anlagen wird in vorz\u00fcglicher Weise durch die Erscheinungen bei der digenen Fortpflanzung klar gelegt. Bei derselben sind es zwei elterliche Individuen, aus deren Zusammenwirken der einzellige Keim gebildet wird. Selten spielen die beiden Eltern bei diesem Process die gleiche Rolle (was bei der Conjugation niederer Algen und Pilze vorkommt); gew\u00f6hnlich ist ein Individuum das befruchtende, das andere das befruchtete, jenes bei der Keimbildung quantitativ schwach, dieses sehr stark betheiligt.","page":198},{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"IV. Anlagen nnd sichtbare Merkmale.\n199\nWir haben hier zwei Fragen zu beantworten, die sich gegenseitig bedingen und auch vielfach verschlingen: Wie gross ist der Betrag an Anlagen, welche der Keim vom Vater und von der Mutter erbt? Wie verhalten sich die sichtbaren Merkmale des Kindes zu don ererbten Anlagen? Sehr h\u00e4ufig beurtheilt man das Mamm der Erbschaft nach den sichtbaren Eigenschaften, und sagt, das Kind habe dies vom Vater, jenes von der Mutter, und \u00fcberhaupt von dem einen oder anderen \u00bbElter\u00ab1) mehr geerbt. Dies ist ja ganz richtig, wenn es sich nur um das Verst\u00e4ndnis handelt, welches der allt\u00e4gliche Verkehr verlangt. Aber es w\u00e4re ganz irrth\u00fcmlich, wenn man damit eine wissenschaftliche Bedeutung verbinden nnd den v\u00e4terlichen oder m\u00fctterlichen Einfluss bei der Zeugung ausdr\u00fccken wollte. Man w\u00fcrde dadurch zu falschen Schl\u00fcssen \u00fcber die Vererbung und \u00fcber das Verh\u00e4ltnis zwischen latenten und manifesten Eigenschaften gelangen.\nErfahrung und Theorie beweisen uns \u00fcbereinstimmend, dass der Erbschaftsanteil nicht nach den sichtbaren Merkmalen bemessen werden darf. Was die Erfahrung betrifft, so mag nur an die zahlreichen bekannten Beispiele von R\u00fcckschl\u00e4gen erinnert werden. Ich will, um die Art und Weise des Beweises darzuthun, einen die Vererbungsfrage in sehr wirksamer Weise erl\u00e4uternden Fall anf\u00fchren. Eine Angorakatze und ein gew\u00f6hnlicher Kater (erste Generation) erhielten in einem Wurf bloss gew\u00f6hnliche Katzen (zweite Generation); die allt\u00e4gliche Anschauung w\u00fcrde in diesem Falle dem Vater ein\n') Sit venia verbot Er mangelt der deutschen Sprache ein Wort, das synonym mit \u00bberzeugendem oder elterlichem Individuum\u00ab und zugleich handlich f\u00fcr den Gebrauch- ist. Bei der geschlechtslosen Fortpflanzung beseichnet man den Eneuger als Mutterindividuum, Mutterpflanze, Mutterselle u. s. w.; man gebraucht diese Ausdr\u00fccke aber auch f\u00fcr weibliche und f\u00fcr hormaphroditische Individuen und wird dadurch oft zweideutig, denn bei Arten mit geschlechtslosen und geschlechtlichen Generationen bedeutet Mutterpflanze sowohl die m\u00fctterliche weibliche als die erzeugende geschlechtslose Pflanze und bei Arten, die eingeschlechtig und zweigesrhlechtig Vorkommen, bedeutet Mutterp\u00e4anse sowohl die m\u00fctterliche weibliche als die elterliche hermaphroditische Pflanze. Ueberdem klingen einige Zusammensetzungen wie Grossmutterselle, Urgroesmutierpflanse sonderbar. Diese Unzuk\u00f6mmlichkeiten vermeidet man, wenn das Wort \u00bbder Elter\u00ab in die Sprache aufgenommen wird. Man hat dann Elterpflanze, Elterthier, Elterselle, Grosselterselle u. s. w. \u2014 Es versteht sich, dass dem entsprechend das Erzeugte, wenn es geschlechtslos ist, nicht als \u00bbTochter\u00ab, sondern als \u00bbKind\u00ab zu bezeichnen ist.","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200\nIV. Anlagen and richtbm Merkmale.\nstarkes Uebergewicht zuerkennen. Die jungen Kaisen enthielten aber trots ihres gew\u00f6hnlichen Aussehens viel Angorablut; denn aus der Begattung zweier derselben entsprang in der dritten Generation neben gew\u00f6hnlichen eine unver\u00e4nderte weibliche Angorakatze. Vielleicht w\u00e4re in der vierten Generation das Verh\u00e4ltnis f\u00fcr das Angorablut noch g\u00fcnstiger geworden. Halten wir uns aber bloss an die berichtete Thatsache, so beweist sie uns, dass auf die \u00e4usseron Merkmale gar kein Verlass ist; denn wie sollten zwei gew\u00f6hnliche Katzen dazu kommen, eine Angorakatze zu erzeugen?\nWas die Theorie betrifft, so sagt uns dieselbe, dass bei der geschlechtlichen Befruchtung das Idioplasma zweier Individuen sich vereinigt, um einen Keim zu bilden, und dass die Menge der idio-plastisehen Eigenschaften, die von dem Vater und der Mutter zum Keim abgegeben werden, den genauen Betrag der beiderseitigen Erbschaft darstellen. Es k\u00f6nnen daher dem Kinde keine Anlagen g\u00e4nzlich mangeln, welche die Eltern besitzen, und es selber kann keine Anlagen besitzen, die den Eltern fehlen. Es ist nur ein scheinbarer Widerspruch gegen diese Forderungen der Meclianik, wenn das Kind sichtbare Merkmale zeigt, welche weder Vater noch Mutter haben, oder solche, die nur dem einen Elter zukommen, und wenn es Merkmale entbehrt, welche beiden Eltern gemeinsam sind. Zur richtigen Beurtheilung des v\u00e4terlichen und m\u00fctterlichen Erbschaftsanteils kommt es bloss auf die Anlagen an. F\u00fcr dieselbe ist es ganz gleichg\u00fcltig, welche von diesen Anlagen zur Entfaltung gelangen; dieser Punkt betrifft eine andere, nachher zu besprechende Frage.\nDa wir kein Mittel besitzen, um die Menge und die St\u00e4rke der Anlagen in einem Keim oder in dem daraus sich entwickelnden Individuum direct zu bestimmen, so sind wir bez\u00fcglich der Sch\u00e4tzung der vom Vater und der Mutter \u00fcberkommenen Erbschaft auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung angewiesen. Wenn auch im einzelnen Fall die sichtbaren Merkmale und die Anlagen keine \u00fcebereinstiramung zeigen, so ist doch anzunehmen, dass die Uebereinstimmung um so mehr erreicht werde, je gr\u00f6sser die Zahl der beobachteten F\u00e4lle ist. Diese Vielzahl ist auf doppelte Art erh\u00e4ltlich.\nIch will an das vorhin angef\u00fchrte Beispiel von gew\u00f6hnlicher und Angorakatze ankn\u00fcpfen und die Annahme machen, dass wie in den ersten Generationen so auch in den folgenden eine Zwischen-","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"rV. Anlagen und sichtbare Merkmale.\n201\nbildung in den \u00e4usseren Merkmalen nicht eintrete, sondern nur die reinen Rassenmerkmale sichtbar werden. Vermehrt sich die Nachkommenschaft bei strenger Inzucht, so muss das den Anlagen entsprechende Vern\u00e4ltniss sich um so sicherer einstellen, je gr\u00f6sser die Zahl und je sp\u00e4ter die Generation. W\u00e4re unter den 1000 Individuen der 10. Generation die H\u00e4lfte Angorakatzen, so d\u00fcrfte man mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass M\u00e4nnchen und Weibchen des urspr\u00fcnglichen Paares gleich viel vererbt haben, obgleich die zweite Generation bloss aus gew\u00f6hnlichen Katzen bestand. W\u00fcrde alier unter jenen 1000 Individuen die eine oder andere Rasse ein numerisches Uebergewicht zeigen, so w\u00e4re mit einiger Wahrscheinlichkeit auf ungleiche Erbechaftsantheile f\u00fcr die bestimmte Paarung des betreffenden Stammpaares zu schliessen. Es ist mir nicht liekannt, dass eine in dieser Weise durchgef\u00fchrte Z\u00fcchtung sicheren Aufschluss g\u00e4be.\nEine andere Grundlage f\u00fcr die Wahrscheinlichkeitsrechnung geben uns zahlreiche Zeugungsf\u00e4lle, wo die Kinder mit den Eltern verglichen werden ohne R\u00fccksichtnahme auf die Herkunft der letzteren. Dies ist selbstverst\u00e4ndlich nur beim Menschen, aber hier in ausgiebigster Weise m\u00f6glich. Wenn man hier die F\u00e4lle, in denen die Kinder mehr sichtbare Eigenschaften vom Vater, und diejenigen, wo sie mehr von der Mutter besitzen, z\u00e4hlt, so n\u00e4hern sich die beiden Summen sicher einander um so mehr, je gr\u00f6sser sie sind. Daraus d\u00fcrfen wir wohl mit ziemlicher Gewissheit schliessen, dass die Kinder auch an Anlagen im Durchschnitt gleich viel von jedem der leiden Eltern erben, wobei es jedoch zweifelhaft bleibt, ob dies auch f\u00fcr jeden einzelnen Fall gelte.\nMan sollte denken, dass das v\u00e4terliche und m\u00fctterliche Erbtheil sich deutlich bei der Bastardzeugung erkennen lasse, wenn man die beiden elterlichen Sippen bei der Befruchtung vertauscht, wenn n\u00e4mlich von den beiden Sippen A und B, das eine Mal A das andere Mal B die m\u00e4nnliche Rolle \u00fcbernimmt, so dass man die beiden Bastarde AB und BA erh\u00e4lt. Einen solchen Fall haben wir beim Maulthier und Maulesel; ersteres ist, wenn man den Bastard nach den Eltern benennt und den Vater voranstellt, ein Eselpferd, letzterer ein Pferdeesel. Gerade dieses Beispiel zeigt deutlich, dass \u00ablie Bastarde AB und BA in den sichtbaren Merkmalen verschieden sein k\u00f6nnen. Aber \u00fcber die vorliegende Frage der A n lagen ver-","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202\nIV. Anlagen und sichtbare Merkmale.\nerbung gibt et keinen Aufschluss. Der Umstand, dass Maulthier und Maulesel in gleichem Grade unfruchtbar zu sein scheinen, macht es nicht unwahrscheinlich, dass beide den Anlagen nach mittlere Bildungen sind. Von Bastarden zwischen Pflanzenarten gibt Gftrtner an, dass die Combinationon AB und BA einander so \u00e4hnlich sehen, wie ein Ei dem anderen.\nEs gibt eine andere Betrachtung, die mir noch von grosserer Bedeutung zu sein scheint. Wenn wir die Vererbung der sichtbaren Merkmale bei den \\ srschiedenen Pflanzenbastarden verfolgen, so zeigt dieselbe mit der abnehmenden Verwandtschaft der Eltern eine bemerkenswerthe Reihenfolge. Bei der gr\u00f6ssten Verwandtschaft (wenn bloss ein Rassenunterschied zwischen den Eltern besteht) ist die Vererbung am unregelm\u00e4ssigsten, indem der Bastard bald dem Vater, bald der Mutter sehr \u00e4hnlich, selbst scheinbar gleich ist oder auch \u00fcber beide Elterrassen hinausgeht. Bei der Kreuzung von nat\u00fcrlichen Variet\u00e4ten ist die Unregelm\u00e4ssigkeit geringer und bei derjenigen von Species, namentlich von verwandtschaftlich entfernter stehenden Species, wird die Vererbung der sichtbaren Eigenschaften ganz regelm\u00e4ssig, indem alle Bastardindividuen AB unter einander gleich sind, ebenso alle Bastarde BA, und gleichfalls wird, wie schon bemerkt, der Unterschied von AB und BA sehr klein oder verschwindet ganz. Diese Thateache, die \u00fcbrigens nur f\u00fcr die Merkmale der zweiten Generation (d. h. der ersten Generation der hybriden Nachkommenschaft) gilt, spricht entschieden daf\u00fcr, dass die v\u00e4terlichen und m\u00fctterlichen Erbtheile an Anlagen einander gleich sind.\nAus den vorstehenden Betrachtungen ergibt sich, wie ich glaube, \u00fcbereinstimmend die sehr grosse Wahrscheinlichkeit, dass Vater und Mutter in allen F\u00e4llen gleichviel oder nahezu gleichviel an Anlagen oder idioplastischen Eigenschaften auf das Kind \u00fcbertragen. Dieses Ergebniss ist f\u00fcr die Lehre von der Vererbung und weiterhin auch f\u00fcr die Abstammungslehre von grosser Wichtigkeit. Die sichtbaren Merkmale des Kindes geben also im einzelnen Falle kein Zeugniss daf\u00fcr, wie viel und welche Anlagen von einem Elter geerbt wurden ; denn die von jenen sichtbaren Merkmale abweichenden Merkmale des andern Elters wurden gleichfalls vererbt, sind aber latent geblieben. Wenn beispielsweise das Kind eines Vaters mit rothen und einer Mutter mit schwarzen Haaren rothhaarig wird,","page":202},{"file":"p0203.txt","language":"de","ocr_de":"IV. Anlagen and sichtbare Merkmale.\n203\nso sagt man mit Unrecht, die Haare seien vom Vater allein vererbt worden. Auch die schwarzen Haare der Mutter wurden vererbt; sie befinden sich als Anlage in dem Kinde und kommen oft in den Enkeln wieder zum Vorschein.\nWenn daher Darwin neben dem gew\u00f6hnlich bestehenden Gleichgewicht auch ein \u00bbGesetz des Uebergewichts\u00ab annimmt, welches darin besteht, dass gewisse Individuen, Rassen oder Species beiderlei Geschlechts oder auch nur diejenigen des einen Geschlechts bei der Kreuzung mehr als die H\u00e4lfte vererben, so gilt dies nicht f\u00fcr die Totalit\u00e4t der Eigenschaften, sondern nur f\u00fcr die sichtbaren Merkmale und f\u00fcr die erste Generation der Nachkommenschaft. Und wenn H\u00e4ckel eine Mehrzahl von Vererbungsgesetzen unterscheidet, zun\u00e4chst Gesetze der erhaltenden (conservativen) und fortschreitenden (progressiven) Vererbung, und innerhalb der conservativen Vererbung eine continuirliche, eine unterbrochene, eine geschlechtliche, eine gemischte (oder . inphigone) und eine abgek\u00fcrzte, ferner innerhalb der progressiven \\ vrerbung eine angepasste, eine befestigte, eine gleichzeitliche und eine gleich\u00f6rtliche, so sind diese Kategorien durch verschiedene Nebenumst\u00e4nde bedingt und d\u00fcrfen logischerweise nicht als ungleiche Vererbungen in Anspruch genommen werden.\nWas wir gew\u00f6hnlich bei Vergleichung der Kinder mit ihren Eltern als Vererbung und Nichtvererbung bezeichnen, verdient eigentlich diesen Namen gar nicht. Es ist ein unrichtiger Ausdruck f\u00fcr die Entfaltung und Nichtentfaltung der vererbten Anlagen. Merkw\u00fcrdigerweise wird aber gerade diejenige Eigent\u00fcmlichkeit, worin die Kinder ganz vorzugsweise dem Vater oder der Mutter gleichen, n\u00e4mlich das Geschlecht, nie als Vererbung bezeichnet. Man sagt wohl von zwei Geschwistern, der Knabe habe die braunen Augen und die krausen Haare von der Mutter, das M\u00e4dchen die blauen Augen und die schlichten Haare vom Vater geerbt, nicht aber, jener habe die m\u00e4nnlichen Geschlechtsorgane vom Vater, dieses die weiblichen Organe von der Mutter erhalten. Sch\u00e4tzt man die Erbschaft nach den entfalteten Merkmalen ab, so sollte man eigentlich immer den S\u00f6hnen eine \u00fcberwiegende v\u00e4terliche Erbschaft, den T\u00f6chtern eine \u00fcberwiegende m\u00fctterliche Erbschaft zuschreiben. Das Geschlecht bleibt aus Inconsequenz unber\u00fccksichtigt; und doch verh\u00e4lt es sich mit demselben genau wie mit allen \u00fcbrigen Eigen-","page":203},{"file":"p0204.txt","language":"de","ocr_de":"204\nIV. Anlagen und sichtbare Merkmale.\nsch\u00e4ften. Sowohl in dem Knaben als in dem M\u00e4dchen sind die Anlagen f\u00fcr braune und blonde Augen, f\u00fcr krause und schlichte Haare, f\u00fcr m\u00e4nnliche und weibliche Geschlechtsorgane enthalten; von jedem Anlagenpaar entfaltet sich aber nur das eine Glied, indem das andere latent bleibt.\nDer Zusammenhalt der Nachkommenschaft mit den Stammeltern zeigt uns, welche Eigenschaften unter bestimmten Umst\u00e4nden im latenten Zustande verbleiben und welche sich entwickeln, welche sichtbaren Merkmale mit einander vertr\u00e4glich sind und welche sich ausschlies8en. Von diesem Gesichtspunkte aus verdiente die sogenannte Vererbungslehre aufgenommen und neu bearbeitet zu werden ; sie w\u00fcrde bei kritischer Sichtung der in grosser F\u00fclle bekannten Thatsachen und mit H\u00fclfe neuer, mit richtiger Fragestellung angeordneter Versuche sch\u00f6ne und fruchtbringende Resultate versprochen. Ich will das allgemeine Problem bei Seite lassend, nur einige Punkte, die auf das Verhalten des Idioplasmas bei der Vererbung und Ent\nfaltung der Anlagen bei der digenen Fortpflanzung Bezug haben, er\u00f6rtern.\nZun\u00e4chst m\u00f6ge im Vorbeigehen die nach dem Gesagten eigent-\u00efich \u00fcberfl\u00fcssige Bemerkung eine Stelle finden, dass die nicht wenig zahlreichen F\u00e4lle, wo das Kind in seinen sichtbaren erblichen Eigenschaften qualitativ und quantitativ \u00fcber die beiden Eltern hinausgeht, nichts beweist gegen den in aller Strenge g\u00fcltigen Satz, das Kind sei nichts Anderes als die Resultdrende aus Stoff und Kraft der beiden Eltern. Denn es k\u00f6nnen sich in ihm Anlagen entwickeln, die bei diesen latent waren. Solche Anlagen sind sehr h\u00e4ufig in fr\u00fcheren Generationen entfaltet gewesen und nachher latent geworden, so dass also bei der abermaligen Entfaltung ein R\u00fcckschlag eintritt. In andern F\u00e4llen sind es Anlagen, die noch im Wachsthum begriffen waren und nun bei dem Anlass einer\nihre Entfaltung beg\u00fcnstigenden Befruchtung zu sichtbaren Merkmalen werden.\nAls Grundlage aller Betrachtungen \u00fcber die Vererbung bei der geschlechtlichen Fortpflanzung muss ganz ausnahmslos der Satz festgehalten werden, dass das Wesen des Kindes das vereinigte Wesen der beiden Eltern ist, dass in ihm nichts enthalten sein kann, was den Eltern mangelt, und nichts verloren gegangen was den Eltern zukommt.","page":204},{"file":"p0205.txt","language":"de","ocr_de":"IV. Anlagen and sichtbare Merkmale.\n205\nBei dor digenen Fortpflanzung treten die Idioplasmen der beiden Eltern zusammen; es findet also Vereinigung von zwei Systemen geordneter Micelle statt. Die Erfahrung zeigt, dass eine entwicklungsf\u00e4hige Vereinigung nur m\u00f6glich ist, wenn die Eltern ziemlich nahe verwandt sind. Die Ursache mag eine doppelte sein. Es erscheint oinmal sehr plausibel, dass idioplasmatische Systeme bloss wenn sie in allen Hauptz\u00fcgen identisch sind und nur in ganz untergeordneten Gruppen von einander abweichen, sich mischen und durchdringen k\u00f6nnen. Ferner kommt noch folgendes in Betracht: von den beiden Eltern liefert der Vater bei dem Befruchtungsact bloss Idioplasma, die Mutter dagegen Idioplasma sammt den N\u00e4hrsubstanzen, welche dem sich entwickelnden Keim eine Zeit lang Kraft und Stoff liefern. Es ist nun begreiflich, dass das vereinigte Idioplasma eine Nahrung verlangt, welche nur wenig von derjenigen abweicht, die genau den Bed\u00fcrfnissen des v\u00e4terlichen Idioplasmas entspricht.\nAus den beiden eben angef\u00fchrten Gr\u00fcnden folgt, dass die geschlechtliche Befruchtung um so mehr Aussicht auf Gelingen und auf das Zustandekommen eines entwicklungsf\u00e4higen Keimes hat, je\nn\u00e4her M\u00e4nnchen und Weibchen einander verwandt sind, ________ und\ndies mag f\u00fcr die ersten Zust\u00e4nde der Keimentwicklung auch ohne Ausnahme g\u00fcltig sein. Dass bei allern\u00e4chster Verwandtschaft die Nachkommenschaft weniger lebensf\u00e4hig ist, daf\u00fcr scheint mir der Grund, den ich schon vor langer Zeit angef\u00fchrt habe1), ausreichend, und ich w\u00fcsste mir \u00fcberhaupt keinen anderen zu denken. Unter allen \u00e4usseren Einfl\u00fcssen, welche das Idioplasma ver\u00e4ndern, befinden sich auch solche, welche eine krankhafte und die normalen Vorg\u00e4nge st\u00f6rende Beschaffenheit bedingen. Ferner mag durch die in fr\u00fchoren Generationen erfolgte Kreuzung ungleich constituirter Individuen oft eine solche abnormale Beschaffenheit des Idioplasmas veranlasst worden sein. Aber auch bei ungest\u00f6rter Umbildung im Idioplasma, die lediglich eine Folge der einmal bestehenden micel-laren Anordnung ist, k\u00f6nnen partielle Anf\u00e4nge einer Configuration entstehen, die sich f\u00fcr das Leben als nicht bef\u00e4higt erweisen. In ganz nahe verwandten Individuen nun werden diese durch \u00e4ussere und innere Ursachen bewirkten St\u00f6rungen am ehesten gleichsinnig\n') Die Theorie der Bastanlbilduug. SiUungaber. d. math.-phya. Classe d k. \u00fc. Aluul. d. W. 13. Januar 1366.","page":205},{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"206\nIV. Anlagen and sichtbare Merkmale.\nsein und daher in deren Nachkommenschaft leicht eine Steigerung erfahren, w\u00e4hrend in den Individuen mit geringerer Verwandtschaft die St\u00f6rungen in ungleichem Sinne begonnen haben und somit bei der Vereinigung ihrer Idioplasmen sich mehr oder weniger aufheben.\nEs ist theoretisch begreiflich, dass solche Storungen nm 30 eher eintreten, je mehr das Idioplasma zusammengesetzt und von je zahlreicheren Momenten sein Gleichgewicht bedingt ist Die Erfahrung best\u00e4tigt dies, indem die niedersten Pflanzen (Schizophyten) und ohne Zweifel das ganze Reich der ihnen vorausgehenden Probien der Conjugation und der geschlechtlichen Befruchtung ermangeln. Es hat also auf den untersten Stufen der Organisation die phylogenetische Entwicklungsgeschichte bei monogener Fortpflanzung zahllose Generationen ohne Nachtheil durchlaufen, und wir k\u00f6nnen daraus schliessen, dass f\u00fcr einfache Organismen die zeitweilige Vermischung durch Kreuzung \u00fcberfl\u00fcssig ist. Erst bei den h\u00f6heren Pflanzen und Thieren bringt eine hin und wieder eintretende Kreuzung Nutzen. Doch d\u00fcrften die sch\u00e4dlichen Folgen der Selbstbefruchtung und einer sehr engen Inzucht im allgemeinen allzuhoch angeschlagen worden sein, indem bei den wenigen thats\u00e4ch-lichen Erfahrungen auch noch andere nachtheilige Ursachen wirksam gewesen sein, m\u00f6gen.\nDa bei der digenen Fortpflanzung alle Anlagen der Eltern auf das Kind \u00fcbergehen, so m\u00fcssen in diesem immer einige Anlagen latent bleiben, wenn die Eltern verschiedenartig sind, und die ungleichen Merkmale sich nicht zu Mittelbildungen zu verschmelzen verm\u00f6gen. Wiederholte Kreuzung kann daher die Ansammlung einer gr\u00f6sseren Anzahl verborgen bleibender Eigenschaften verursachen, und sie ist auch der Grund, warum im Menschen, in den Hausthieren und Kulturpflanzen so viele latente Anlagen angeh\u00e4uft sind. Man k\u00f6nnte zwar den logisch unanfechtbaren Satz aufstellen, dass in einem Organismus alle Eigenschaften seiner ganzen Ahnenreihe latent sein m\u00fcssen. Allein es w\u00e4re dies eine rein ideale und unfruchtbare Theorie ; denn es kann uns nicht interessiren, was der Idee nach, sondern nur was real vorhanden ist und was somit auch in der Nachkommenschaft irgendwie wirksam zu werden vermag. Je \u00e4lter nun die latenten Anlagen werden, um so mehr werden sie geschw\u00e4cht und ausgel\u00f6scht. Wenn auch das Pferd, vorz\u00fcglich in seiner Jugend, als seltene Ausnahme noch zebraartige Streifen zeigt,","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"IV. Anluguu und nichtbaro Merkmale.\n207\nso stammen dieselben doch nur von seinen n\u00e4chsten phylogenetischen Vorfahren her. Die ganze Reihe der noch fr\u00fcheren Ahnen hat im Idioplasma des Pferdes wohl keine wirklichen Zeugen, die gelegen^ lieh als R\u00fcckschl\u00e4ge hervorbrechen k\u00f6nnten, hinterlassen, insofern n\u00e4mlich die der Geburt vorausgehenden Entwicklungsstadien ausgeschlossen und nur die Merkmale des entwickelten Zustandes ber\u00fccksichtigt werden.\nDer R\u00fcckschlag oder die Entfaltung der durch Kreuzung oder wiederholte ungleiche Anpassung der Vorfahren\tAn-\nlagen tritt am leichtesten in Folge von neuer Kreuzung ein, sei es in den Kindern selbst, die von ungleichen Eltern erzeugt werden, sei es erst in deren Nachkommen, w\u00e4hrend sie in den Individuen, die auf geschlechtslosem Wege entstehen oder von gleichartigen Eltern abstammen, ausbleibt. Der ungleiche Einfluss der verschiedenen Fortpflanzungsarten auf die Entfaltung der latenten Anlagen ist besonders auffallend bei den phanerogamischen Gew\u00e4chsen, wo sehr variable Rassen (Sorten von Culturpflanzen) bei geschlechtsloser Vermehrung fast unbegrenzt erhalten bleiben, w\u00e4hrend sie, aus Samen erzogen, wobei eine Kreuzung mit andern Sorten unvermeidlich ist, durch Entfaltung anderer Merkmale sofort ausarten.\nDass die Kreuzung die Entwicklung von verborgenen Eigenschaften bef\u00f6rdert, ist begreiflich. Bei der Vereinigung zweier Systeme von verschiedener idioplasmatischer Anordnung m\u00fcssen noth-wendig Verschiebungen zwischen den Micellgruppen Vorkommen, wodurch die Erregungsf\u00e4higkeit und in Folge davon die Entfaltungsf\u00e4higkeit derselben bald vermehrt, bald-vermindert wird, so dass einzelne entfaltungsstete oder entfaltungsholde Anlagen zu entfaltungsunf\u00e4higen und anderseits entfaltungsunf\u00e4hige oder entfaltungsscheue zu entfaltungssteten werden. So kann, statt dass ein Merkmal des Vater s oder der Mutter sich entwickelt, das entsprechende eines Grosselters oder eines noch fr\u00fcheren Ahnen zum Vorschein kommen.\nDie Mischung des v\u00e4terlichen und m\u00fctterlichen Idioplasmas und die Fertigstellung des kindlichen Idioplasmas vollzieht sich schon unmittelbar nach der Befruchtung. Schon bei diesem Acte entscheidet es sich, welche Anlagen des Vaters, der Mutter oder fr\u00fcherer Vorfahren zur Entfaltung kommen und welche latent bleiben werden. Dies geht daraus hervor, dass die verschiedenen der n\u00e4mlichen Ontogenie angeh\u00f6renden Abk\u00f6mmlinge des Keimes sich in","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208\nIV. Anlagen und sichtbare Merkmale.\nihren Merkmalen ganz gleich verhalten, \u2014 eine Thatsache, die sich nat\u00fcrlich nur an Organismen beobachten l\u00e4sst, welche wie die meisten Pflanzen aus dem durch Befruchtung entstandenen Keimling eine Reihenfolge von individuellen Sprossen entwickeln. Dauert aber diese geschlechtslose Vermehrung der Sprosse l&ngere Zeit fort, so k\u00f6nnen geringe Conflgurations\u00e4nderungen im Idioplasma bemerk-l>ar werden, indem die v\u00e4terlichen und m\u00fctterlichen Merkmale an der entfalteten Pflanze ein etwas anderes Verh\u00e4ltnis annehmen. Sind es auch nur untergeordnete Eigenschaften, welche in den sp\u00e4tem Sprossen dem Vater oder der Mutter \u00e4hnlicher werden, so beweisen sie doch unzweifelhaft, dass das Idioplasma w\u00e4hrend der ontogenetischen Entwicklung sich ver\u00e4ndert.\nDas Idioplasma der nat\u00fcrlichen Sippen ist ein materielles System mit sehr stabilem Gleichgewicht, wie sich aus der Unver\u00e4nderlichkeit der entfalteten Organismen w\u00e4hrend vieler Jahrtausende (S. 104) ergibt. Dieses Gleichgewicht wird bei der Kreuzung verschiedener Sippen um so mehr gest\u00f6rt, je ungleicher dieselben sind. Es kann auch in der Regel nicht schon in der ersten Generation wieder hergestellt werden ; sondern es finden in den folgenden Generationen verschiedene Conflgurations\u00e4nderungen statt, bis endlich ein Gleichgewicht von einiger Best\u00e4ndigkeit gefunden wird. Die Conflgurations\u00e4nderungen treten gew\u00f6hnlich beim Befruchtungsacte ein, wie dies aus folgender Erw\u00e4gung leicht begreiflich ist.\nDas Idioplasma ver\u00e4ndert sich w\u00e4hrend der Ontogenie, wie vorldn gezeigt wurde, und diese Ver\u00e4nderung ist nat\u00fcrlich um so bedeutender, je mehr das Gleichgewicht zwischen den idioplasmatischen Anlagen gest\u00f6rt worden ist. Ausnahmsweise kann sie bei geschlechtsloser Vermehrung des Bastardes so gross werden, dass das neue Gleichgewicht sich pl\u00f6tzlich in einer Umwandlung der entfalteten Merkmale Luft macht und Sprosse mit anderen Eigenschaften hervorbringt. Viel leichter geschieht aber die Umstimmung des Idioplasmas und die Herstellung eines neuen Gleichgewichts bei geschlechtlicher Fortpflanzung, strenge Inzucht vorausgesetzt. Die Bastardgeschwister der ersten Generation waren schon in ihren Keimen nicht ganz gleich ; ihr Idioplasma ist dann durch Ver\u00e4nderung w\u00e4hrend der Ontogenie noch ungleicher geworden. Bei der Befruchtung findet mm eine Vermischung von zwei etwas ungleich cou-","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"IV. Anlagen und \u00bbsichtbare Merkmale.\n209\nstituirten Idioplusmon mit theilweise labilem Gleichgewichte statt, und bei der Reconstruirung des Systems tritt ein neues, vielleicht wieder bloss labiles Gleichgewicht ein, wobei bisher entfaltungs-unf\u00e4hige Anlagen entfaltungsf\u00e4hig werden und umgekehrt\nDemgem\u00e4ss bringen Bastarde von Pflanzenarten, die in ihrer ersten Generation eine mittlere Bildung zwischen Vater und Mutter zeigen, nach dem Zeugniss von G\u00e4rtner, wenn sie sich selbst zu befruchten verm\u00f6gen, nicht selten in einer folgenden Generation andere und sp\u00e4ter wieder andere Merkmale zum Vorschein. Diese Merkmale sind selbstverst\u00e4ndlich solche, die von den Stammeltern der hybriden Reihe herkommen, weshalb die Bastarde im Laufe der Zeiten bald dem einen, bald dem andern Stammelter \u00e4hnlich sehen. Der aus der Kreuzung von A und B entsprungene Bastard, der die sichtbaren Merkmale a und b besitzt, kann also in seinen Nachkommen den Sprung von a + b zu 2a -f b und in noch sp\u00e4tem Nachkommen den Sprung von 2a-f b zu a -f- 26 machen.\nWas die umfangreiche und vernickelte Frage betrifft, welche Anlagen und in welcher Weise dieselben bei der Kreuzung zur Entfaltung gelangen, so will ich zuerst an einem schematischen Beispiel zeigen, wie das Idioplasma dabei betheiligt sein muss. Die zwei sich kreuzenden Individuen seien in dem Merkmal, um das es sich handelt (Behaarung, Gestalt, Farbe etc.), verschieden; und die betreffenden Anlagen seien durch M und m bezeichnet; andere Modificationen des n\u00e4mlichen Merkmals seien als latente Anlagen (9R, m, //) von fr\u00fcheren Generationen her in jenen beiden Individuen vorhanden. So sind in dem Idioplasma der aus der Kreuzung entstandenen Keimzelle 5 verschiedene Anlagen von Ab\u00e4nderungen des einen Merkmals enthalten (M, m, SK, m, //), von denen, da sie im entwickelten Zustande sich gegenseitig ausschliessen, nur die eine oder andere sich entfalten kann.\nIm allgemeinen haben 3f und m die gr\u00f6sste Neigung zur Entfaltung; die Micellanordnungen sammt dem chemischen Charakter im Idioplasma der Eltern sind ja so beschaffen, dass sie ihre Entwicklung beg\u00fcnstigen, indess die \u00fcbrigen Anlagen unter dem Einfluss dieser Umst\u00e4nde latent geblieben sind. Im Kreuzungsproduct wird also am ehesten M oder m zum sichtbaren Merkmal. Indessen ist auch die M\u00f6glichkeit vorhanden, dass die beiden sich vereinigenden Idioplasmen eine derartige neue Zusammenordnung bedingen, dass\nv. N\u00e4gell, Abstammungslehre.\tu","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210\nIV. Anlagen und aiehtbare Merkmale.\nmit derselben eine der von fr\u00fcher her latenten Anlagen (9R, nt, /<) besser harmonirt und daher i : Entfaltung gebracht wird, wahrend nun M und m als latent bleibende Gruppen im Idioplasma verharren.\nWenn aber die Ab\u00e4nderungen des Merkmals sich nicht gegenseitig ausschliessen, so k\u00f6nnen in dem Kreuzungsproduct zwei oder drei derselben neben einander auftreten. Es entfalten sich dunn in der Regel M und m; seltener kommt neben M oder neben m oder auch neben beiden eine der alteren Anlagen (SR, nt, n) zur Entfaltung.\nDas Manifestwerden und Latentbleiben der bei der Befruchtung zusammenkommenden Anlagen ist eine der merkw\u00fcrdigsten Erscheinungen im Leben des Idioplasmas. Es kann bloss von zwei Ursachen abh\u00e4ngen: 1) von der Beschaffenheit der einzelnen Anlagen r\u00fccksichtlich ihrer Entfaltungsf\u00e4higkeit und 2) von dem Zusammenstimmen der einzelnen Anlagen mit der Beschaffenheit des ganzen bei der Befruchtung hergestellten Idioplasmas, besonders aber mit der Beschaffenheit desjenigen Theiles, dessen Fntfalfamg unmittelbar vorausgeht oder gleichzeitig stattfindet und zugleich auch \u00d6rtlich nahe ger\u00fcckt ist\nWas den ersten Punkt die Beschaffenheit der einzelnen Anlagen selbst betrifft, so k\u00f6nnen dieselben einen verschiedenen Grad der St\u00e4rke besitzen, und wir k\u00f6nnen uns denselben, um eine concrete Vorstellung zu haben, von der Zahl der Micellreihen (der Mieelle auf dem Querschnitt) abh\u00e4ngig denken. So wird eine Anlage, die unter \u00fcbrigens gleichen Umst\u00e4nden aus 12 Micellreihen besteht, sich eher entfalten als eine solche aus 9 Reihen. Da nun jede Anlage w\u00e4hrend ihrer phylogenetischen Existenz von geringstem Anf\u00e4nge aus allm\u00e4hlich an St\u00e4rke zunimmt und dann wieder bis zu v\u00f6lligem Verschwinden allm\u00e4hlich abnimmt, so werden die v\u00e4terlichen und die m\u00fctterlichen Anlagen f\u00fcr die ungleichen Modifi-cationen des n\u00e4mlichen Merkmals im allgemeinen eine verschiedene St\u00e4rke besitzen und daher auch im Kinde eine verschiedene Neigung sich zu entfalten \u00e4ussern.\nBez\u00fcglich des zweiten Punktes oder des Zusammenstimmens der einzelnen Anlagen mit der Beschaffenheit des \u00fcbrigen Idioplasmas mangelt uns eine bestimmte Vorstellung. Ohne Zweifel sind aber theils chemische, theils ConfigurwtmnisP\u2019wm\u00ab\n\u2022bsftcT'","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"IV. Anlagen und sichtbare Merkmale.\t211\nUrsache davon, dass die einen Anlagen leichter in den Erregungszustand versetzt und dadurch zur Entfaltung veranlasst werden ul\u00ab andere. Ich will dies den Grad der Stimmung nennen, indem ich . ,njr vorstelle, dass, je besser die Substanz des ganzen Idioplasmas mit derjenigen einer einzelnen Anlage in der chemischen Zusammensetzung und in der Morphologie der Micelle \u00fcbereinstimmt,\num so eher die Entfaltungserregung auf diese Anlage \u00fcbertragen werde.\nDer Antheil, den im einzelnen Fall die St\u00e4rke der Anlage und ihre Stimmung an der Entfaltung haben, l\u00e4sst sich fest niemals auseinander halten. Es gibt vielleicht nur einen einzigen Fall, wo der Einfluss der beiden Momente sicher ist, n\u00e4mlich der Grenzfall, wo die beiden Anlagen, die sich um die Entfaltung streiten, gleiche St\u00e4rke und gleiche Stimmung besitzen. Dies gilt f\u00fcr das Geschlecht der getrennt geschlechtigen Organismen, wenn die m\u00e4nnlichen und die weiblichen Geburten gleich zahlreich sind, wie dies beim Menschen der Fall ist. In diesem Falle kann es keinem Zweifel unterliegen, dass die Anlagen der m\u00e4nnlichen und weiblichen Geschlechtsorgane in dem Idioplasma ihre volle St\u00e4rke besitzen und auch gleich gut zu der Gesammtstimmung passen. Wenn aber bei einer Art die m\u00e4nnlichen oder die weiblichen Geburten der Zahl nach \u00fcberwiegen w\u00fcrden, so m\u00fcssten ihre Anlagen entweder st\u00e4rker sein oder mit dem \u00fcbrigen Idioplasma besser harmoniren.\nDas Idioplasma des Keims und des aus ihm hervorgehenden m\u00e4nnlichen oder weiblichen Individuums enth\u00e4lt die beiden Geschlechtsanlagen in unver\u00e4nderter St\u00e4rke und Vollkommenheit, wenn auch die eine derselben sich in Ruhe befindet. Dies geht deutlich aus dem bekannten Umstande hervor, dass alle geschlechtlichen Eigent\u00fcmlichkeiten der Mutter ebensogut durch den Sohn als durch die Tochter, alle geschlechtlichen Eigent\u00fcmlichkeiten des Vaters ebensogut durch die Tochter als durch den Sohn auf die Enkel \u00fcbergehen. Obgleich beide Sexualanlagen gleich stark sind und an und f\u00fcr sich gleich sehr mit dem Gesammtidioplasma stimmen, so geht doch diese Uebereinstimmung im Moment des Zusammenkommens bei der Zeugung f\u00fcr die eine derselben verloren. Diese wird gleichsam in den Hintergrund gedr\u00e4ngt, wo sie sich ausserhalb der Verkettung befindet, welche die Entfaltungsfolge der Anlagen bedingt.\n14*","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212\nIV Anlagen und sichtbare Merkmale.\nWenn also zwei Anlagen gleiche Stttrke und gleiche Stimmung besitzen, sich aber nicht gleichzeitig und mit einander entfalten k\u00f6nnen, so hftngt es lediglich vom Zufall ab, welche von ihnen, um mich eines Bildes aus der Elektricit\u00e4tslehre zu bedienen, in die Leitung aufgenommen wird und welche ausserhalb derselben bleibt. Zufall aber nenne ich es, weil die entscheidenden individuellen Ursachen unbekannt sind und nur soviel ersichtlich ist, dass beim Menschen die Wahrscheinlichkeit f\u00fcr m\u00e4nnliche oder weibliche Zeugung sich die Wage h\u00e4lt, gerade so wie beim W\u00fcrfeln die Wahrscheinlichkeit f\u00fcr einen geraden oder ungeraden Wurf. \u2014 K\u00f6nnen die beiden gleichstarken und gleichgestimmten Anlagen sich mit einander entfalten, so erzeugen sie ein Merkmal von genau mittlerer Beschaffenheit.\nHaben aber die vom Vater und der Mutter geerbten Anlagen ungleiche St\u00e4rke bei gleicher Stimmung oder ungleiche Stimmung bei gleicher St\u00e4rke, so wird sich dieser Umstand bei der Entfaltung darin geltend machen, dass, wenn sich die Merkmale ausschliessen, das eine h\u00e4ufiger erscheint als das andere, und dass, wenn sie mit einander sich verwirklichen, eine Zwischenbildung entsteht, die dem einen Merkmal sich mehr n\u00e4hert Da sich St\u00e4rke und Stimmung der Anlagen nicht unterscheiden lassen und wir bloss das Ergebniss der beiden zusammenwirkenden Momente kennen, so l\u00e4sst sich in jedem einzelnen Fall bloss sagen, ob das bei der Befruchtung zu Stande gekommene Idioplasma des Kindes eine gr\u00f6ssere Vorliebe f\u00fcr die bestimmte Eigenschaft des Vaters oder der Mutter zeige.\nDie merkw\u00fcrdige Thatsache, dass von zwei (oder mehreren) zusammengeh\u00f6renden Anlagen, welche verschiedenen Modificationen des n\u00e4mlichen Merkmals entsprechen und durch geschlechtliche Befruchtung oder auf andere Weise im Idioplasma vereinigt sind, bald eine einzige bald alle zwei sich entfalten, muss schon in der Constitution des Idioplasmas liegen. Sie kann nur davon abh\u00e4ngen, ob eine allein oder beide in die Kette der Entfaltungsfelge eingeschaltet und demgem\u00e4ss in den Zustand der Erregung, welcher die Entfaltung bedingt, versetzt werden. Dass nicht etwa die Vertr\u00e4glichkeit oder Unvertr\u00e4glichkeit der Merkmale im entfalteten Zustande daran schuld ist, ersehen wir deutlich aus denjenigen Beispielen, wo die verschiedenen Modificationen eines Merkmals bald in den Individuen vereinigt, bald auf verschiedene Individuen vertheilt","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"TV. Anl\u00e4gen and sichtbare Merkmale.\n213\nauftreten. Ueberhaupi. l\u00e4sst sich dis Unvertr\u00e4glichkeit zweier Merkmale kaum denken; denn selbst die Vereinigung der beiden Geschlechtsorgane wird in ausnahmsweisen Zwitterbildungen vollzogen und kann nur dadurch erkl\u00e4rt werden, dass die m\u00e4nnliche und die weibliche Anlage sich gleichzeitig entfaltet haben.\nWenn von zwei Anlagen nur je die eine oder andere in einem Individuum zur Entfaltung gelangt, so m\u00fcssen wir daraus schliessen, dass in dem Idioplasma eine irgendwie beschaffene Abneigurg vor der gleichzeitigen Erregung derselben bestehe. Das Vorhandensein einer solchen Abneigung setzt eine vollst\u00e4ndige Selbst\u00e4ndigkeit und Trennung der Anlagen voraus. Erreicht die Abneigung nicht den erforderlichen Grad und gelangen demgem\u00e4ss beide Anlagen miteinander in einem Individuum zur Entwicklung, so k\u00f6nnen je nach dem Grade der Zu- oder Abneigung ihre Merkmale auf verschiedene Weise vereinigt sein und somit ein verschiedenartiges Gesammt-merkmal darstellen. Die Verschiedenheiten bewegen sich in allen m\u00f6glichen Abstufungen zwischen zwei extremen F\u00e4llen, von denen der eine die beiden Merkmale in unver\u00e4nderter Beschaffenheit neben einander liegend, der andere sie vollst\u00e4ndig zu einer mittleren Beschaffenheit durchdrungen zeigt. Man kann sich das Zustandekommen dieser verschiedenen Bildungen in einfachster Weise wohl so vorstellen, dass dieselben ein Bild der Anlagen selbst geben, dass entweder die ganzen Anlagen neben einander sich befinden, oder dass sie in grossere oder kleinere, selbst bis in die kleinsten Partien getrennt und durcheinander gemengt sind.\nUm das Gesagte anschaulicher zu machen, will ich es an einem Beispiel erl\u00e4utern und dazu wieder die Farbe w\u00e4hlen. Es giebt Pflanzen, deren Li\u00fcthen zwischen blau, roth, weiss und gelb ab-ftndern, und ich will annehmen, dass f\u00fcr diese Farben eben so viele verschiedene Anlagen im Idioplasma vorhanden seien. Obwohl diese Annahme ohne Zweifel nicht ganz den richtigen Ausdruck besitzt, mache ich sie dennoch, da es sich bloss um ein erl\u00e4uterndes Beispiel handelt, und die Voraussetzung jedenfalls f\u00fcr verschiedene andere Merkmale gelten w\u00fcrde, die aber dem Verst\u00e4ndniss schwerer zug\u00e4nglich sind. Gew\u00f6hnlich ist eine der Bl\u00fcthenfarben die doini* nirende und kommt, wenn jene einander ausschliessen, den meisten Individuen zu. So bl\u00fcht das Leberbl\u00fcmchen (Anemone Hepatica) in der Regel blau, ausnahmsweise auch roth oder weiss. In den","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214\nIV. Anlagen und sichtbare Merkmale.\nrothen und weissen ist sicher die blaue Anlage latent. W\u00fcrden roth-und weissbl\u00fchende gekreuzt, so hatten die Kinder rothe oder weisse oder hellrothe Bl\u00fcthen; es k\u00e4men aber entweder schon in der ersten Bastardgeneration, oder bei strenger Inzucht gewiss in einer folgenden wieder blaubl\u00fchende zum Vorschein, weil die Natur des Idioplasmas am meisten die Anlage dieser Farbe beg\u00fcnstigt Die Kreuzung von blauen mit rothen oder mit weissen erg\u00e4be aber eine ganz \u00fcberwiegend blaubl\u00fchende Nachkommenschaft. Dies gilt f\u00fcr den Fall, dass in einem Pflanzenindividuum nur eine einzige Farbenanlage sich entfaltet\nK\u00f6nnen in der n\u00e4mlichen Pflanze die Anlagen von zwei oder mehreren Bl\u00fcthenf\u00e4rben sich verwirklichen, so zeigen dieselben eine gr\u00f6ssere oder geringere Verwandtschaft zu einander und treten einander mehr oder weniger nahe. Die Befruchtung einer roth- und einer gelbbl\u00fchenden Pflanze kann bei ausgesprochener Abneigung der beiden Anlagen, welche dann ungetheilt oder in gr\u00f6sseren Partien neben einander liegen, Kinder erzeugen, welche zugleich rothe Bl\u00fcthen und gelbe Bl\u00fcthen tragen, oder Bl\u00fcthen, an denen die einen Blumenbl\u00e4tter roth, die andern gelb, oder Bl\u00fcthen, an denen die Blumenbl\u00e4tter zur H\u00e4lfte roth und zur H\u00e4lfte gelb sind (Cytisus Adanuf. Bei etwas geringerer gegenseitiger Ahmngnng der Anlagen hegen dieselben in gr\u00f6sseren oder kleineren Partien neben und durch einander. Die Kinder einer roth* und einer weissbl\u00fchenden Pflanze haben dann bunt gestreifte oder gefleckte Bl\u00fcthen, indem die rothen und weissen Stellen in verschiedener Gestalt mit einander wechseln. Bei gr\u00f6sster Verwandtschaft der Anlagen findet eine vollst\u00e4ndige gegenseitige Durchdringung derselben statt, und die Bl\u00fcthen haben eine hellrothe Farbe, weil jeder kleinste Theil Roth und Weiss gibt. Die Nelteneinander-lagerung von gr\u00f6sseren oder kleineren Partien der Merkmale, wie sie in den gestreiften und getupften Blumenbl\u00e4ttern oder gar in den Bl\u00fcthen, deren ganze Blumenbl\u00e4tter ungleich gef\u00e4rbt sind, vorkommt, stellt \u00dfine eigenth\u00fcmliche und ungew\u00f6hnliche Bildung dar, wie sie in den meisten F\u00e4llen bloss durch Kreuzung, nicht aber auf dem gemeinen phylogenetischen Wege entstehen kann.\nHat das Idioplasma eine gr\u00f6ssere Vorliebe f\u00fcr die eine Farbenanlage, so nimmt, wenn die Farben getrennt sind, die eine derselben einen gr\u00f6sseren Fl\u00e4chenraum ein ; die Bl\u00fcthen sind beispielsweise","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"IV. Anlagen and sichtbare Merkmale.\n216\nweise mit schm\u00e4leren rothen Streifen oder mit kleineren rothen Tupfen. Wenn aber die Farben sich durchdringen, so n\u00e4hert sich die Mischfarbe mehr demjenigen Ton, welcher der beg\u00fcnstigten Anlage entspricht.\nWenn sich die von Eltern mit verschiedener Bl\u00fcthenfarbe er-zeugten Bastarde durch Inzucht fortpflanzen, so kann die Gunst des Idioplasma8 f\u00fcr die Entfaltung der einen und anderen Farbe in dem Laufe der Generationen die n\u00e4mliche bleiben oder sich ver\u00e4ndern. Im letzteren Falle dr\u00e4ngt die eine Farbe die andere mehr oder weniger zur\u00fcck, sei es dass sie einen grosseren Fl\u00e4chenraum in Anspruch nimmt als fr\u00fcher, sei es dass sie einen gr\u00f6sseren An. theil an der Mischfarbe erlangt. Sind die Blumenbl\u00e4tter gescheckt und bleibt die Entfaltungsf\u00e4higkeit der beiden Farbenanlagen, somit auch das Areal der beiden Farben unver\u00e4ndert, so beh\u00e4lt zuweilen die Zeichnung der Blumenbl\u00e4tter mehr oder weniger genau ihren Charakter bei. H\u00e4ufiger wohl nimmt dieselbe in den auf einander folgenden Generationen einen anderen Charakter an; die Vertheilung der Farben hat dann die Neigung, die Streifen und Flecken zahlreicher und feiner zu machen und sich somit der Durchdringung (einem homogen erscheinenden Mittelton) zu n\u00e4hern. Der letztere Vorgang kann als die nat\u00fcrliche Folge der Vermischung zweier Idioplasmen bei der Fortpflanzung erscheinen, so dass gleichsam bei jeder folgenden Inzuchtbefruchtung eines Bastards mit weiss-und rothgefleckten Bl\u00fcthen ein \u00e4hnlicher Process stattfindet, wie bei der urspr\u00fcnglichen Kreuzung einer weissen und einer rothen Bl\u00fcthe, wobei die Farbenanlagen getheilt und partienweise neben einander gelagert wurden.\nBei der digenen Fortpflanzung (durch Conjugation oder geschlechtliche Befruchtung) vereinigen sich die beiden elterlichen Idioplasmen, um das Idioplasma des Kindes zu bilden. Es ist noch die schwierige Frage zu er\u00f6rtern, wie diese Vereinigung geschehen k\u00f6nne. Man m\u00f6chte wohl geneigt sein, d\u00b0m Vorgang allgemein als eine gegenseitige Durchdringung zu bezeichnen. Aber damit w\u00e4re bloss das Resultat richtig angegeben; die Schwierigkeiten beginnen, wenn man sich eine Vorstellung bilden will, wie das Resultat zu Stande komme. Wie ist eine gegenseitige Durchdringung m\u00f6glich,","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216\nIV. Anlagen and sichtbare Merkmale.\nda das Idioplasma ein complicirtes System mit festem ZiiHRmmenhang der Mioelle sein muss?\nDie Schwierigkeiten w\u00e4ren beseitigt, wenn die Meinung vieler Forscher, es k\u00f6nne die Befruchtung durch eindringonde gel\u00f6ste Stoffe erfolgen, gegr\u00fcndet w\u00e4re. Diese Meinung wurde nicht nur f\u00fcr die phanerogamischen Gew\u00e4chse, sondern auch f\u00fcr einzelne Kryptogamen (so f\u00fcr Peronospora) wurde die ausdr\u00fcckliche Behauptung ausgesprochen, dass der Befruchtungsstoff diosmotisch durch die Zellmembranen hindurchgehe, w\u00e4hrend bei der Mehrzahl der Kryptogamen sich bekanntlich das m\u00e4nnliche Stereoplasma mit dem weiblichen vermischt.\nIch habe zwar bereits in einem fr\u00fcheren Abschnitt kurz bemerkt, dass die Befruchtung nur durch eine organisirte ungel\u00f6ste Substanz erfolgen k\u00f6nne, will aber hier die Gr\u00fcnde f\u00fcr diese Behauptung noch ausf\u00fchrlicher darlegen wegen der entscheidenden Bedeutung, welche diese Frage in mehr als einer Beziehung hat. Denn so lange man die Befruchtung durch Diffusion annehmbar findet, kann man unm\u00f6glich einen richtigen Begriff von der Beschaffenheit der Anlagen, von der Vererbung und den damit verbundenen Vorg\u00e4ngen haben.\nUm durch Membranen diosmiren zu k\u00f6nnen, muss eine Substanz vorher sich in die Molek\u00fcle aufl\u00f6sen. Da d<m Eiweiss molecular unl\u00f6slich ist, so zerfallen die Albuminate, die transportirt werden sollen, in Asparagin, vielleicht auch in Peptone. Ein solcher Transport ist f\u00fcr Ern\u00e4hrungszwecke sehr brauchbar, weil die gewanderten Stoffe am Ort ihrer Bestimmung sich wieder zu Eiweiss zusammensetzen. Aber f\u00fcr die Uebertragung von spezifischen Eigenschaften ist er durchaus ungeeignet. Das Asparagin- oder Peptonmolek\u00fcl, selbst das Eiweissmolek\u00fcl des m\u00e4nnlichen Befruchtungsstoffes hat nichts voraus vor jedem andern Asparagin-, Pepton- oder Eiweiss-' molek\u00fcl, so wenig als das Thonmolek\u00fcl von einer zerbrochenen griechischen Vase irgend etwas mehr w\u00e4re als das Thonmolek\u00fcl von einem ganz gew\u00f6hnlichen Backstein.\nMan k\u00f6nnte aber annehmen wollen, dass der m\u00e4nnliche Stoff bloss in dio Micelle zerfalle und ausnahmsweise in dieser Form bei der Befruchtung diosmire, da es sich neuerdings gezeigt hat, dass unter besonderen Umst\u00e4nden auch das Eiweiss als solches durch Mombranen hindurchgeht (so bei der G\u00e4rung). Doch w\u00fcrde auch","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"IV. Anlagen and sichtbare Merkmale.\n217\ndiese Annahme ihren Zweck nicht erf\u00fcllen. Die Micelle haben zwar das vor den Molek\u00fclen voraus, daas sie eine grosse Verschiedenheit in Gr\u00fcsse, Gestalt, Structur und chemischer Zusammensetzung gestatten, w\u00e4hrend die Molek\u00fcle der n\u00e4mlichen Verbindung unter sich identisch sind. W\u00fcrden aber die ain\u00abelnen Micelle des m\u00e4nnlichen Zeugungsstoffes in die weibliche Zelle eintreten, so k\u00f6nnte nur eine geringe allgemeine Umstimmung in dem Inhalte derselben eintreten.\nDamit w\u00e4re f\u00fcr die Zwecke der Befruchtung nichts erreicht; denn diese besteht ja darin, dass in dem weiblichen Idioplasma die einen Anlagen unge\u00e4ndert bleiben, andere sich mehr oder weniger ver\u00e4ndern und dass neben die vorhandenen weiblichen auch neue m\u00e4nnliche Anlagen eingeordnet werden. Das einzelne Albuminat-micell, wenn es auch durch die ungleiche Zusammensetzung verschiedene Eigenschaften annehmen kann, vermag doch ebensowenig als das einzelne Molek\u00fcl der Tr\u00e4ger von besondere Anlagen zu sein. Das vermag bloss eine eigent\u00fcmliche Zusammenordnung oder Gruppe von solchen Micellen. Nur diese kann durch Einlagerung neuer Micelle, die unter dem Einfluss ihrer Molecularkr\u00e4fte vor sich geht, in beliebigem Maasse sich vermehren nnH dabei ihre Eigent\u00fcmlichkeit bewahren oder in selbst\u00e4ndiger Weise umbilden. Nur eigent\u00fcmliche Gruppen von Micellen k\u00f6nnen sich als Anlagen bew\u00e4hren und die plastischen Bildungen hervorbringen, in welche sich die Anlagen entfalten.\nDiese theoretische Betrachtung wird in ausreichendem Mjumqp durch die Erfahrung best\u00e4tigt, welche uns zeigt, dass die Diosmose von Albuminaten bloss als Ern\u00e4hrung wirkt und nicht den geringsten Einfluss auf die erblichen Anlagen hat. Ich verweise auf die fr\u00fchere hierauf bez\u00fcgliche Er\u00f6rterung (S. 109\u2014111). \u2014 Die \u00bbBefruchtung durch Diffusion\u00ab beweist, wie wenig in diesen Gebieten der Physiologie noch die Meinungen gekl\u00e4rt sind.\nZum Ueberfluss gibt es noch eine Erw\u00e4gung ganz anderer Natur, welche zu dem gleichen Ergebniss f\u00fchrt, die phylogenetische. Die geschlechtche Befruchtung ist aus der Conjugation hervorgegangen. Auf den untersten Stufen des Pflanzenreiches sind es zwei gleiche sich conjugirende Zellen, deren ganzer Inhalt sich zur Bildung einer Spore vereinigt Auf den n\u00e4chstfolgenden Stufen win) die eine dieser beiden Zellen gr\u00f6sser und zur Eizelle, die andere","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218\nIV. Anlagen and sichtbare\nwird kleiner und rum Spermatoroid, das sich bei der Befrachtung mit dem Inhalt der Eifelle vereinigt Das letztere aber kann nicht mehr als alles Ernihrungsplasma verlieren, so dass es fast bloss aus Idioplasma besteht; ein weiterer Uebergang vom Spermatoroid zum gelosten Befruchtungsstoff ist eine physiologische und somit auch eine phylogenetische Unm\u00f6glichkeit\nMan wird mir vielleicht entgegenhalten, dass in einzelnen Fallen der Uebergang des Befruchtungsstoffes auf dem Wege der Diosmose als Erfahrung zu betrachten sei, indem man in den Membranen nicht die kleinsten Oeffnungen zu entdecken verm\u00f6ge. Damit waren wir denn auf dem Gebiete der \u00bbnegativen Beweise\u00ab angelangt mittels deren die neueren Forschungen der Morphologen im Widersprache mit der klaren Forderung einer logischen und exacten Methode so manche unhaltbare Meinung in die Wissenschaft einf\u00fchren wollen. Der negative Beweis kann nichts Positives darthun; er sagt uns weiter nicht\u00bb, als dass auf diesem Wege der Forschung die Grenze des K\u00f6nnens erreicht sei. F\u00fcr den vorliegenden Fall bleiben immer noch verschiedene M\u00f6glichkeiten offen, entweder dass der Beobachter den rechten Moment vers\u00e4umt hat oder dass das Oeffnen der Membran und das Uebertreten der festen Substanz in einer noch nicht erkannten Weise erfolgt oder dass die Oeffnungen in der Membran zu klein sind, um direct gesehen zu weiden u. s. w.\nWir sind also zu der Annahme genOthigt dass bei der geschlechtlichen Befrachtung in jedem Falle das m\u00e4nnliche Idioplasma m die weibliche Zelle eindringe, und wir k\u00f6nnen die Schwierigkeiten der Frage, wie sich zwei idioplasmahsche Systeme von ziemlich fester Consistenz in ein einziges vereinigen, nicht umgehen. Denn die allf\u00e4llige Vennuthung, dass im Inneren der weiblichen Zelle das m\u00e4nnliche Idioplasma sich auflOse und in das weibliche hineindiffundire, w\u00e4re nicht besser als die bereits widerlegte Vermutung, dass die Diffusion von Zelle zu Zelle geschehen k\u00f6nne.\nAuch d\u00fcrfen wir nicht etwa auf die abenteuerliche Idee verfallen, dass die beiden Systeme -in die einzelnen Micelle zerfrdlen, welche nach gegenseitiger Vermengung sich wieder zu einem gemeinsamen System zusammenf\u00fcgen. Die Zahl der Micelle der beiden Idioplasmen kann hundert Millionen weit \u00fcbersteigen. Aber wenn es auch viel weniger w\u00e4ren, so mangeln doch die organisirenden Kr\u00e4fte, die sie in der richtigen Weise vereinigen w\u00fcrden, ________ und","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"IV. Anlagen und nichtbare Merkmale.\n219\nwir d\u00fcrfen den Organismen nicht ansinnen, dass sie sich auf ein solches Zusammensetzspiel einlassen. Es sind zwar, wenn nach der fr\u00fcher entwickelten Hypothese das idioplasmatische System strangf\u00f6rmig ist und die Configuration des Querschnittes seine eigen-th\u00fcmliche Begabung ausmacht, m\u00f6glicher Weise nicht zwei Micelle dos Querschnittes einander ganz gleich und mit den n\u00e4mlichen Kr\u00e4ften ausgestattet. Diese Ungleichheit der genau zusammenpassenden Micelle erlaubt den Systemen eine grosse Festigkeit und zugleich eine grosse Mannigfaltigkeit zu erlangen. Aber die specifische Micellanordnung wurde durch phylogenetisches Wachsthum gewonnen und k\u00f6nnte nach einer Aufl\u00f6sung in die einzelnen Bausteine schon wegen der geringen Verschiedenheit ihrer Molecular-kr\u00e4fte nicht wieder hergestellt werden. Damit aus zwei verschiedenen idioplasmatischen Systemen sich ein solches von mittlerer Beschaffenheit bilde, muss wenigstens das eine seine Configuration ziemlich intact bewahren, um als Norm f\u00fcr die eintretenden Ver\u00e4nderungen zu dienen.\nWiewohl wir noch weit davon entfernt sind, uns eine befriedigende Vorstellung \u00fcber die bei der Befruchtung stattfindenden molecularen Processe zu bilden, so lassen sich doch die M\u00f6glichkeiten, welche daf\u00fcr in beschr\u00e4nkter Zahl vorliegen, erw\u00e4gen. Dies erscheint um so eher thunlich, als die Vermischung von erblichen Eigenschaften bei der Keimbildung mit einem verwandten Vorgang in der individuellen Entwicklungsgeschichte, n\u00e4mlich mit der Mittheilung von erblichen Ver\u00e4nderungen, die in den einen Theilen des Organismus erfolgen, an die anderen Theile desselben (8. 54 bis 60) verglichen werden kann, und die Vorstellungen \u00fcber die beiden Erscheinungen einander zu erg\u00e4nzen und zu berichtigen im Stande sind.\nBeide Vorg\u00e4nge m\u00fcssen entweder auf materiellem oder auf dynamischem Wege geschehen; entweder findet eine Vermischung des Stoffes oder nur eine gegenseitige Einwirkung der Kr\u00e4fte statt. Was den materiellen Weg betrifft, so habe ich bei Anlass der Mittheilung von erblichen Ab\u00e4nderungen innerhalb desselben Individuums bloss den Transport durch den Organismus ber\u00fccksichtigt und die Mischung des verschiedenartigen Idioplasmas dort nicht besprochen, sondern auf den analogen Vorgang bei der Befruchtung verwiesen, weil hier die Umst\u00e4nde und Bedingungen viel klarer vorliegen. Ich will nun auf den Vorgang, wie man sich die materielle Vermischung","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220\nIV. Anlagen and sichtbare Merkmale.\nvorstellen kann, etwas weitl\u00e4ufiger eintreten, da der allgemeinen Meinung dieser Weg der Befruchtung wohl n\u00e4her liegt\nWenn das m\u00e4nnliche und das weibliche idioplasmatische System sich materiell mit einander vermischen, so muss eine Wanderung ihrer Micelle und eine gegenseitige Durchdringung ihrer Substanz stattfinden. Fragen wir zun\u00e4chst nach den Kr\u00e4ften, die eine solche Bewegung der Idioplasmen gegen einander bewirken k\u00f6nnten, so ist uns aus Erfahrung nur eine Kraft bekannt, welche beim Befruchtungsact sich offenbart. Zwischen den sich conjugirenden Zellen, ebenso zwischen den m\u00e4nnlichen und weiblichen Zellen, besteht eine materielle Anziehung (nicht etwa Anziehung im fig\u00fcrlichen Sinne einer biologischen Schw\u00e4rmerei). Dieselbe \u00e4ussert sich in der Orientirung und Ortsver\u00e4nderung der r\u00e4umlich getrennten beweglichen Elemente, bei der Conjugation auch in einem dadurch ver-anlassten Zellwachsthum. Die sich conjugirenden Zellen wachsen gegen einander und nach stattgefundener Vereinigung der Zellh\u00f6hlungen flieset der Inhalt der beiden Zellen zusammen und vermischt sich zu einer Masse. Bei der eigentlichen geschlechtlichen Befruchtung richtet sich das Spermatozoid so, dues sein vorderes Ende nach der Eizelle gekehrt ist; es bewegt sich in dieser Richtung vorw\u00e4rts, legt sich an das vordere etwas vorspringende hellere Ende der Eizelle (\u00bbKeimfleck\u00ab) an und dringt in dasselbe ein.\nDiese geschlechtliche Anziehung l\u00e4sst sich auf mikroskopische Entfernungen nach weisen, wobei zu ber\u00fccksichtigen ist, duaa auch die anziehenden Massen von mikroskopischer Kleinheit sind. Bei einigen niedem Algen (z. B. einzelnen Arten von Oedogonium) finden die in sehr geringer Zahl gebildeten selbstbeweglichen schw\u00e4rm-zellenartigen Spermatozoide sicher ihren Weg zu der kleinen Oeff-nung des Oogoniums, obgleich unter Ber\u00fccksichtigung der Entfernung und des Umstandes, dass sie im Wasser nach allen Richtungen hin fortschwimmen k\u00f6nnen, die Wahrscheinlichkeit, am Ziele anzulangen, sich f\u00fcr sie nicht auf Vioo berechnet. Wenn also nicht eine bestimmte Anziehung mitwirken w\u00fcrde, so k\u00f6nnte unter 100 F\u00e4llen kaum ein Mal Befruchtung eintreten, w\u00e4hrend sie im allgemeinen nie ausbleibt. \u2014 Auch von den unbeweglichen Spermatozoiden der Florideen, von denen man anniramt, dass sie","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"IV. Anlagen und sichtbare Merkmale.\n221\ndurch die Bewegung des Meerwassers zu den weiblichen Oiganen hingef\u00fchrt werden, w\u00fcrde man nicht begreifen, wie sie stets die Befruchtung verursachen k\u00f6nnten, wenn nicht eine besondere Anziehung mit im Spiele w\u00e4re.\nDa eine Anziehung zwischen anderen Zellen als den Geschlechtszellen, soviel uns bekannt ist, nicht statthat, und da diese von den \u00fcbrigen Zellen nur durch das m\u00e4nnliche und weibliche Idioplasma sich unterscheiden, so m\u00fcssen wir schliessen, dass es dieses Idioplasma sei, an welchem die anziehenden Kr\u00e4fte haften. Welcher Natur diese Kr\u00e4fte seien, ist zwar durch irgend welche Erscheinungen nicht bekannt; da aber eine andere bekannte Kraft, die map in Anspruch nehmen k\u00f6nnte, mangelt, so d\u00fcrfte man vielleicht elektrische Anziehung vermuthen. Dieselbe w\u00fcrde von geringen Mengen freier (positiver und negativer) Elektricit\u00e4t herr\u00fchren, die aber, bei der Ann\u00e4herung bis zur Ber\u00fchrung, die Substanz doch nicht g\u00e4nzlich verlassen und sich nicht vollst\u00e4ndig neutralisiren k\u00f6nnen. Wie dem nun sei, die beiden Geschlechtszellen legen sich an einander an und dringen in einander ein, weshalb wir annehmen m\u00fcssen, dass in Folge der gleichen Anziehung die m\u00e4nnlichen und die weiblichen Idioplasmak\u00f6rper ebenfalls sich dicht an einander anlegen.\nWenn zwei materielle Systeme sich anziehen, so besteht die Anziehung selbstverst\u00e4ndlich zwischen den einzelnen Theilchen derselben, also in dem vorliegenden Falle zwischen den Idioplasma-micellen. Wenn ferner die ganzen Systeme durch ihre Structur verhindert werden, in einander einzudringen, so haben die Micelle die Neigung, sich von ihren Complexen loszul\u00f6sen und einzeln dem Zuge zu folgen. Nun besitzen die Idioplasmak\u00f6rper allerdings einen ziemlich festen Zusammenhang, aber derselbe muss in beiden Systemen durch die zwischen denselben herrschende Anziehung gelockert werden, \u2014 und das um so eher, wenn, wie soeben als m\u00f6glich bezeichnet wurde, die Anziehung durch ungleichnamige Elektricit\u00e4ten bewirkt wird und diese Elektricit\u00e4ten bei der Ann\u00e4herung der beiden Systeme noch eine Vertheilung von neutralen Elektricit\u00e4tsmengen in denselben verursachen. Es besteht ferner die Wahrscheinlichkeit, dass das m\u00e4nnliche System als das beweglichere zu betrachten und dass in demselben schon an und f\u00fcr sich der Zusammenhang etwas lockerer und der Widerstand gegen die Trennung etwas geringer sei. Daher w\u00e4re es vielleicht m\u00f6glich, dass von dem m\u00e4nnlichen","page":221},{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222\nIV. Anlagen und sichtbare Merkmale.\nIdioplasma nach und nach sich Micelle abl\u00f6eten, in das weibliche System hin\u00fcber wanderten und sich in die entsprechenden Mioell-gruppen einlagerten.\nWollen wir uns eine bestimmtere Vorstellung von diesem Vorg\u00e4nge machen, so m\u00fcssen wir an eine bestimmte Vorstellung von der Structur des Idioplasmas ankn\u00fcpfen. Ich habe die Hypothese entwickelt, dass dasselbe aus strangf\u00f6rmigen K\u00f6rpern, die aus parallelen L\u00e4ngsreihen von Micellen zusammengesetzt seien, bestehen k\u00f6nne. Die L\u00e4ngsreihen stehen seitlich in inniger Ber\u00fchrung, so dass durch diesen Contact gleichsam Leitungen zwischen ihnen heigestellt werden, welche \u00e4hnlich wie Nervenleitungen functioniren. Sowie nun das m\u00e4nnliche System sich an das weib\u00fcche angelegt hat, so geht die Leitung aus einem System in das andere hin\u00fcber, und indem jede bestimmte Micellgruppe oder Anlage des weiblichen Systems mit der gleichnamigen des m\u00e4nnlichen Systems gleichsam in Nervenverbindung sich befindet, so ist den sich abl\u00f6senden und hin\u00fcber wandernden Micellen des m\u00e4nnlichen Systems der Weg, sowie der Ort der Bestimmung genau vorgezeichnet.\nEiner solchen Einwanderung von Micellen in das weibliche Idioplasma scheint aber seine Structur hinderlich zu sein. Die Micell-reihen sind nach der Darstellung, die ich fr\u00fcher zu geben versuchte, einander so sehr gen\u00e4hert, dass unm\u00f6glich Micelle zwischen ihnen sich hindurch bewegen k\u00f6nnten. Wenn auch der Idioplasmasfrang keinen geschlossenen Querschnitt hat, wenn wir uns vielmehr vorstellen m\u00fcssen, dass mit Em\u00e4hrungsplasma ausgef\u00fcllte L\u00e4ngsspalten vielleicht tief in denselben hinein reichen, so ist damit die Wanderung der m\u00e4nnlichen Idioplasmamicelle bis zur Einlagerungsstelle doch nicht erm\u00f6glicht Es bleibt daher wohl nur die allerdings nicht ganz unwahrscheinliche Annahme \u00fcbrig, dmm zur Zeit der Befruchtung das weibliche System ebenfalls gelockert sei und dass es\nsich bald da bald dort \u00f6ffne, um die m\u00e4nnlichen Micelle eintreten zu lassen.\nHat das Idioplasma eine strangf\u00f6rmige Beschaffenheit, so sind, wie ich fr\u00fcher ausf\u00fchrte, zwei Annahmen m\u00f6glich: entweder sind, die Str\u00e4nge getrennt, von bestimmter und gleicher L\u00e4nge und zu einem Netz zusammengeordnet, oder sie sind von unbestimmter L\u00e4nge, verzweigt und netzf\u00f6rmig - verwachsen. Bei der enteren Annahme m\u00fcssten wir uns vorstellen, dass je ein m\u00e4nnlicher","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"IV. Anlagen und sichtbare Merkmale.\n223\nund ein weiblicher Strang zusammentreten, dass also gleiche Mengen von m\u00e4nnlichem und weiblichem Idioplasma sich mit einander vermischen. Da nun ohne Zweifel die weiblichen Zellen und die sie befruchtenden Spermatozo\u00efde ungleich viel Idioplasma enthalten, so w\u00fcrde aus dieser Vorstellung weiter zu folgern sein, dass ein allf\u00e4lliger Ueberschuss von m\u00e4nnlichem oder weiblichem Idioplasma beim Befruchtungsact aus dem idioplasmatischen System ausgeschlossen, als unwirksam beseitigt und zu Kmtthrnngwplimmw umgewandelt werde. Nach dieser Hypothese w\u00e4re also die v\u00e4terliche und die m\u00fctterliche Erbschaft im Kinde ohne Ausnahme gleich gross, was mit der fr\u00fcher erw\u00e4hnten Erfahrung \u00fcbereinstimmte, dass die Kinder dem Vater und der Mutter ziemlich gleiche Antheil\u00ea von best\u00e4ndigen Eigenschaften verdanken (vgl. S. 190\u2014202), und dass unter zahlreichen Bastarden zweier Arten die Individuen oft bis auf die geringsten Kleinigkeiten einander \u00e4hnlich sehen.\nDie zweite Annahme, dass n\u00e4mlich die Idioplasmastr\u00e4nge eine unbestimmte L\u00e4nge besitzen, w\u00fcrde dagegen die Folgerung ergeben, dass, da bei der Befruchtung gew\u00f6hnlich ungleiche Mengen von Idioplasma Zusammenkommen, auch m\u00e4nnliche und weibliche Str\u00e4nge von ungleicher L\u00e4nge sich mit einander vereinigen. Die v\u00e4terliche und m\u00fctterliche Erbschaft w\u00e4re somit im Princip ungleich, und es k\u00f6nnte die eine oder andere in einzelnen F\u00e4llen merklich \u00fcberwiegen, obgleich dieser Ueberschuss gewiss nie einen sehr hohen Betrag en-eichen wird.\nEin Umstand, der bei der Vereinigung der von den Eltern stammenden idioplasmatischen Systeme noch zu ber\u00fccksichtigen ist, betrifft das Volumen des Productes. Das Idioplasma des entstehenden Keimes hat in Folge dieses Vorganges nngafithf Hrb doppelte Volumen von dem Idioplasma jedes der Eltern. Das w\u00fcrde nun weiter nichts ausmachen ; es k\u00f6nnte in der neuen vergr\u00f6sserten Auflage ebensogut sich vermehren und die Entfaltung der Anlagen besorgen. Wenn aber bei jeder Fortpflanzung durch Befruchtung das \\olumen des irgendwie beschaffenen Idioplasmas sich verdoppelte, wenn specieU die Idioplasmastr\u00e4nge durch Vereinigung einen doppelt so grossen Querschnitt erlangten, so w\u00fcrden nach nicht sehr zahlreichen Generationen die Idioplasmak\u00f6rper so sehr an wachsen, \u00abImm sie selbst einzeln nicht mehr in einem Spermatozoid Platz f\u00e4nden. Es ist also durchaus nothwendig, dass bei der digenen Fortpflanzung","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224\nIV. Anlagen und sichtbare Merkmale.\ndie Vereinigung der elterlichen Idioplasmak\u00f6rper erfolge, ohne eine den vereinigten Massen entsprechende dauernde VergrOsserung dieser materiellen Systeme zu verursachen.\nDieser Forderung kann wohl nur durch die Annahme der strangf\u00f6rmigen Natur des Idioplasmas Gen\u00fcge gethan werden, weil nach derselben die phylogenetische Zunahme des Querschnitts und die ontogenetische Zunahme in der L\u00e4ngsrichtung strenge geschieden sind, und weil somit die Vereinigung bei der Befruchtung sich in der Weise denken l\u00e4sst, dass sie zum gr\u00f6ssten Theil als der Ontogenie angeh\u00f6rig und als der erste Schritt des individuellen Wachsthums erscheint.\nDamit der Querschnitt im allgemeinen unver\u00e4ndert bleibe, m\u00fcssen die von den Eltern stammenden strangf\u00f6rmigen Idioplasma-k\u00f6rper sich zu Str\u00e4ngen vereinigen, deren L\u00e4nge der Summe jener gleichkommt. In diesem Falle wird je aus einer v\u00e4terlichen und einer m\u00fctterlichen Anlage eine kindliche Anlage von gleicher St\u00e4rke, d. h. eine Gruppe von gleich viel Micellreihen (von gleich viel Micellen auf dem Querschnitt). Nur wenn einzelne v\u00e4terliche und m\u00fctterliche Anlagen wesentlich verschieden sind, wie dies bei der Kreuzung von Rassen, Variet\u00e4ten und Arten vorkommt, legen sich dieselben in voller St\u00e4rke neben einander und dadurch erf\u00e4hrt der Querschnitt eine VergrOsserung. Da aber selbst bei der Kreuzung von m\u00f6glichst ungleichen Individuen stets die grosse Mehrzahl der Anlagen sammt der ganzen Configuration des Idioplasmas in den beiden Eltern gleich beschaffen ist und nur wenige Anlagen ungleicher Natur sind, so ist die VergrOsserung des idioplaarnfttiacben Querschnittes in dem Kinde immerhin eine sehr geringe, und sie betr\u00e4gt nicht mehr, als wenn die neu hinzugekommenen Anlagen durch den gew\u00f6hnlichen phylogenetischen Bildungsprocess entstanden w\u00e4ren. Diese dem Zuwachs an Anlagen entsprechende Querschnittszunahme stellt gleichsam die phylogenetische Componente des Befruchtungsactes bei der Kreuzung dar. Die Zunahme in der L\u00e4ngsrichtung dagegen ist nichts anderes als der erste Wachsthumsschritt der neuen Ontogenie. Haben die Idioplasmastr\u00e4nge, gem\u00e4ss der einen Hypothese, eine bestimmte und gleiche L\u00e4nge, so w\u00fcrden zun\u00e4chst Str\u00e4nge von genau der doppelten L\u00e4nge entstehen und diese dann sogleich in je zwei zerfallen, wie dies f\u00fcr die onto-genetische Vermehrung \u00fcberhaupt anzunehmen w\u00e4re.","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"IV. Anlagen und sichtbare Merkmale.\n225\nDie Vereinigung der str\u00e4ngf\u00f6rmigen Idioplasmak\u00f6rper in dem eben ungegebenen Sinne, n\u00e4mlich zu verl\u00e4ngerten Str\u00e4ngen mit nahezu gleichem Querschnitt, kann nach zweierlei Typen vor sich gehen. Der eine Typus besteht darin, dass sich gemischte Micell-reihen bilden, indem die m\u00e4nnlichen Idioplasroamicelle altemirend zwischen die Micelle der weiblichen Reihen sich einlagem. Fig. 9 a und b stellen eine m\u00e4nnliche und eine weibliche Anlage in der L\u00e4ngsansicht dar; c zeigt dieselben nach ihrer Vereinigung. Der\n^Blaa^\n(:>\nb|\n\"g\n::*i\nSSOOGD\u00fc\nOOllSSn\nbbG0D0b 220QG0*\ngg\u00fcOOOo\nuii::i\nFl*. \u00bb.\nVorgang kann regelm\u00e4ssig erfolgen, wenn, wie in den gezeichneten St\u00fccken, die m\u00e4nnlichen und die weiblichen Idioplasmastr\u00e4nge gleiche L\u00e4nge besitzen. Sind sie aber ungleich lang, so m\u00fcssen, statt des regelm\u00e4ssigen Altemirens von einzelnen Micellen, stellenweise Paare des l\u00e4ngeren Stranges mit einzelnen Micellen des k\u00fcrzeren Stranges wechseln; oder, was wohl wahrscheinlicher ist, der \u00fcbersch\u00fcssige Theil des l\u00e4ngeren Stranges wird ausgeschieden und in Ern\u00e4hrungsplasma umgewandelt.\nNigelt, AbeUmmungalehre.\n16","page":225},{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"226\nIV. Anlagen und sichtbare Merkmale.\nIndem die gemischten L\u00e4ngsreihen beim ontogenetischen Wachs-thum durch Micelleinlagerung sich verl\u00e4ngern, nehmen die sich neu bildenden Micelle, wenn Ungleichheit zwischen der m\u00e4nnlichen und weiblichen Anlago besteht, eine mittlere Beschaffenheit an. Da die ontogenetische Zunahme des Idioplasmas ins Tausend- und Millionenfache geht, so besteht die gemischte Anlage im entwickelten Individuum fast ausschliesslich aus solchen Micellen von mittlerer Beschaffenheit. Dieser erste Typus der Vereinigung bringt also mittlere Anlagen und dem entsprechend auch mittlere entfaltete Morkmale hervor; er entspricht dem Vorg\u00e4nge, den ich als Durchdringung der Eigenschaften bezeichnet habe (8. 214); ein R\u00fcckschlag zu dem unver\u00e4nderten v\u00e4terlichen oder m\u00fctterlichen Merkmal ist f\u00fcr alle Zukunft unm\u00f6glich. Man k\u00f6nnte vermuthen, dass eine solche Durchdringung f\u00fcr den Fall, dass die Vereinigung auf materiellem Wege geschieht, immer dann eintrete, wenn die Anlagen des m\u00e4nnlichen und weiblichen Idioplasmas vollkommen oder nahezu gleich Ixi-schaffen sind, dass sie aber bei gr\u00f6sserer Ungleichheit der Anlagen nur ausnahmsweise erfolge.\nDer zweite Typus der Vereinigung besteht darin, dass die m\u00e4nnlichen Micellreihen sich neben die unver\u00e4nderten weiblichen Micell-l eiben einordnen, so dass die entstehende Anlage beispielsweise eine der in Fig. 10 c und d dargestellten L\u00e4ngsansichten zeigt, wenn\na\nGO\u00dc\u00dc\u00dcO\nOOO\u00dc\u00dcO\nOGOOOO\n000000\nb\naaaaaa\naaaaaa\naaaaaa\naaaaaa\naoaoao\naoaoao\naoaoao\naoaoao\naoaoao\naoaoao\naoaoao\naoaoao\naaaooo\naaaooo\naaaooo\naaaooo\naaaooo\naaaooo\naaaooo\naaaooo\nFig. 10.\na und b die m\u00e4nnliche und weibliche Anlage bedeuten. Er muss als der gew\u00f6hnliche Vorgang f\u00fcr die Vereinigung von merklich","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"IV. Anlaw\u201811 und xiolitlmru Merk malt-.\n227\nungleichen Anlagen botnichtet werden, wie \u00bbio vorz\u00fcglich Ina der Kreuzung von verschiedenen Russen, Variet\u00e4ten oder Arten vor-konnnt. Da auch boi der Kreuzung die grosse Mehrzahl der elterlichen Anlagen sich nicht oder nur wenig von einander unterscheidet duller dom ersten Vereinigungstypus folgt und eine allgemeine Zunahme der Idioplasmastr\u00e4uge auf ungef\u00e4hr die doppelte L\u00e4nge bedingt, so m\u00fcssen die wenigen dem zweiten Typus folgenden Anlagen in ihrer L\u00e4nge sich nach der allgemeinen Zunahme richten. Dies kann einmal dadurch geschehen, dass je zwei weibliche Micellreihen durch Wanderung ihrer Micelle zu einer einzigen Reihe von doppelter Ulnge werdon, und dass ebenso je zwei m\u00e4nnliche Micellreihen sich als eine einzige doppelt l\u00e4ngere Reihe einordnen, wobei die Reihen \u00ablos k\u00fcrzeren Idioplasmastranges durch Micellbildung zur L\u00e4nge der Roihon des l\u00e4ngeren Stranges anwachsen m\u00fcssen. Ein solcher Vorgang roducirt die Reihen der m\u00e4nnlichen und diejenigen der weiblichen Anlage auf die H\u00e4lfte ihrer Zahl, und die vereinigten Anlagen h\u00fcben keinen gr\u00f6sseren Querschnitt als jede der elterlichen Anlagen (Fig. l\u00fc). Jode Anlage hat dann also im Kinde bloss die H\u00e4lfte der St\u00e4rke, die sie in den Eltern besass.\nWenn dies auch in manchen F\u00e4llen mit den entfalteten Merkmalen \u00fcl)orein8timrat, so entspricht es doch offenbar nicht der Sachlage, wie wir sie in so vielen Kreuzungsproducten voraussetzen m\u00fcssen, wo einzelne Anlagen im Kinde sich elien so stark erweisen wie im \\ ater oder in der Mutter. Um diese Bedingung zu erf\u00fcllen, muss dann angenommen werden, dass die eine elterliche Anlage ihre Reihenzahl behalte und durch Einlagerung von Micellen auf die erforderliche (im allgemeinen doppelte) L\u00e4nge sich ausdehno, indes\u00ab die andere elterliche Anlage entweder ahenfn.11* in ihrer unver\u00e4nderten Reihenzahl sich einordnet, indem sie uurch Micellbildung sich zu gleicher L\u00e4nge streckt, oder durch Micellwanderung auf eine verminderte Zahl von Micellreihen reducirt wird.\nDie eben erw\u00e4hnten beiden Arten der Vereinigung, in denen sich der zweite Typus verwirklichen kann, \u2014 wobei die v\u00e4terliche und die m\u00fctterliche Anlage das eine Mal auf die halbe St\u00e4rke beschr\u00e4nkt,\ndas andere Mal in voller St\u00e4rke neben einander gelagert werden,__\nstellen zwei Extreme dar, zwischen denen alle Zwischenstufen m\u00f6glich sind. Bis k\u00f6nnen n\u00e4mlich beide Anlagen mehr oder weniger geschw\u00e4cht werden, oder die eine kann ihre volle St\u00e4rke behalten,\n16*","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228\nIV. Anlagen und sichtbare Merkmale.\nw\u00e4hrend die andere geschw\u00e4cht wird. \u2014 Bei dieser dem zweiten Typus eigent\u00fcmlichen Nebeneinanderordnung der v\u00e4terlichen und m\u00fctterlichen Micellreihen bewahrt jede derselben ihr besonderes Wachsthum und bleibt bei der ontogenetischen Vermehrung unver\u00e4ndert, indem sie Micelle von ihrer eigenen Beschaffenheit einlagert Es ist noch zu bemerken, dass die m\u00e4nnlichen und die weiblichen Micellreihen sich in verschiedener Weise zu einer vereinigten Anlage zusammen ordnen k\u00f6nnen. Die zwei denkbaren Extreme sind in Fig. 10, c und d, in der L\u00e4ngsansicht dargestellt; in d liegen die beiden Anlagen getrennt neben einander, in c sind ihre Reihen altemirend mit einander gemengt Was den Querschnitt betrifft, so lassen sich f\u00fcr die beiden Anlagen alle m\u00f6gliche Arten der Configuration denken. Sind dieselben ungetheilt, so k\u00f6nnen sie mit gleichem Umriss aneinander stossen, oder die eine Van\u00bb die andere mehr oder weniger umfassen. Sind sie in gr\u00f6ssere oder kleinere Partien aufgel\u00f6st, so k\u00f6nnen diese Partien in der verschiedensten Weise neben einander liegen. \u2014 Aus der ungleichen Anordnung, sowie aus dem Umstande, dass die beiden Anlagen mit dem umgebenden Idioplasma molecular-physiologisch ungleich zusammenstimmen, erkl\u00e4rt sich zur Gen\u00fcge das mannigfaltige Verhalten , das wir an den Merkmalen der Kreuzungsproducte beobachten (vgl. S. 209\u2014216).\nNachdem ich gezeigt habe, wie man sich die materielle Vermischung der beiden geschlechtlichen Idioplasmen allenfalls zu denken hat, will ich im Gegens\u00e4tze hierzu untersuchen, wie das Idioplasma des Kindes durch dynamische Einwirkung entstehen kann. Soll die letztere eintreten, so legen sich ebenfalls in Folge der gegenseitigen Anziehung, die als Thatsache zu betrachten ist, die m\u00e4nnlichen und weiblichen Idioplasmak\u00f6rper an einander an. Aber, statt zu zerfallen und sich materiell zu durchdringen, bleiben sie intact und wirken bloss gegenseitig auf das Wachsthum der einen und anderen so ein, dass dasselbe zu einer mittleren Bildung hinstrebt. Die Ber\u00fchrung und die wechselseitige Beeinflussung dauert so lange, bis in Folge des Wachsthums durch Micelleinlagerurg die urspr\u00fcnglich ungleichen, m\u00e4nnlichen und weiblichen Idioplasmak\u00f6rper einander ganz gleich geworden sind, was im allerg\u00fcnstigsten Falle schon bei einer Zunahme auf die doppelte L\u00e4nge erreichbar ist.","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"IV. Anlagen and sichtbare Merkmale.\n229\nDie Umbildung der Idioplasmak\u00f6rper erfolgt entweder dadurch, dass die einzelnen Reihen, in denen eine Ungleichheit besteht, nach und nach durch Einlagerung andersartiger Micelle sich uin-formen, oder dadurch, dass neue Micellreihen neben die vorhandenen Reihen, welche qualitativ unver\u00e4ndert bleiben und welche durch Micellwanderung in ihrer Zahl mehr oder weniger reducirt werden k\u00f6nnen, sich einordnen. Im ersteren Fall gehen aus dem Um-bildungsprocess Micellreihen und Anlagen hervor, welche die Mitte halten zwischen den m\u00e4nnlichen und weiblichen Reihen und Anlagen. Im letzten Falle enth\u00e4lt das Idioplasma des Kindes die v\u00e4terlichen und m\u00fctterlichen Micellreihen und Anlagen in unver\u00e4nderter Beschaffenheit neben einander. Das Resultat ist ganz das n\u00e4mliche wie dasjenige, weichesauf dem Wege materieller Vermischung erzielt wurde, so dass es \u00fcberfl\u00fcssig ist, darauf noch weiter einzutreten.\nNoch ist zu bemerken, dass wir uns die Ber\u00fchrung der m\u00e4nnlichen und weiblichen Idioplasmastr\u00e4nge auf zweierlei Art denken k\u00f6nnen. Die eine Art ist die, dass sie sich der L\u00e4nge nach an einander legen, und dass die dynamische Einwirkung in der Querrichtung statt hat Hiebei ver\u00e4ndern sich entweder der weibliche und der m\u00e4nnliche Strang gleichzeitig und werden zuletzt einander gleich, so dass das Idioplasma des befruchteten Keimes die doppelte Strangzahl besitzt. Oder es ver\u00e4ndert sich bloss der eine Strang z. B. der weibliche, indem der m\u00e4nnliche lediglich die Umbildung desselben bis zum Schl\u00fcsse beeinflusst und dann in Ern\u00e4hrungs-plasma sich aufl\u00f6st. Die andere denkbare Art der Vereinigung ist die, dass die m\u00e4nnlichen und die weiblichen Str\u00e4nge sich mit den Enden an einander legen, und dass eine gegenseitige dynamische Einwirkung in der L\u00e4ngsrichtung erfolgt. Da die beiden Str\u00e4nge eine beinahe gleiche Querschnittsconfiguration besitzen, so k\u00f6nnen sie sich so gegeneinander stellen, dass die homologen Anlagen auf einander treffen und demnach unmittelbar auf einander wirken. Auch in diesem Falle l\u00e4sst sich denken, dass der m\u00e4nnliche Strang sich in gleicher Weise umbilde wie der weibliche, oder aber dass er bloss die Umwandlung des letzteren veranlasse und dann seine eigene Idioplasmanatur verliere.\nDie beiden Theorien des materiellen oder dynamischen Vorganges bei der digenen Bildung des kindlichen Idioplasmas umfasson alle M\u00f6glichkeiten ; eine von ihnen muss dio richtige sein. Welche","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230\nIV. Anlagen un\u00bbl \u00bbichtlmre Merkmale.\naber von beiden den Vorzug verdiene, bleibt vorerst noch eine offene Frage. Ich habe bereits bei einem nahe verwandten Vorg\u00e4nge, bei der Ausgleichung des w\u00e4hrend der Ontogenie verschiedenartig umgewandelten Idioplasmas mich f\u00fcr den dynamischen Wog als den wahrscheinlicheren ausgesprochen (S. 69). Auch bei der Befruchtung erscheint mir diese Theorie als die einfachere und annehmbarere, und zwar namentlich auch desswegen, weil die Theorie der materiellen Vermischung fast eben so viel dynamische Einwirkung verlangt als der rein dynamische Weg selber, und ausserdem gen\u00f6thigt ist, noch ein neues hypothetisches Moment, die Wanderung der gesammten m\u00e4nnlichen Idioplasmamicelle, anzunehmen.\nEin Argument f\u00fcr die Befruchtung auf dynamischem Wege finden wir auch in dem eigenth\u00fcmlichen Vorg\u00e4nge bei der geschlechtlichen Fortpflanzung der Florideen, wo die Zelle, in welcher die durch die Befruchtung angeregte Zellbildung beginnt, um einige Zellen von der das Spermatozoid aufnehmenden Trichogyne entfernt ist. Hier muss entweder das Idioplasma des Spermatozoids durch die Zellen des Tnchophors hindurch wandern, um an den Ort seiner Bestimmung zu gelangen. Oder es m\u00fcssen die Eigenschaften des m\u00e4nnlichen Idioplasmas durch die Idioplasmastr\u00e4nge der zwischenliegenden Zellen auf dynamischem Wege dem Idioplasma der weiblichen Zelle mitgetheilt werden, in gleicher Weise wie wir uns vorzustellen haben, dass die erblichen Eigenschaften, die eine Wurzel gewinnt, auf das Idioplasma der Fortpflanzungsorgane vermittelst Erregung \u00fcbertragen werden. Der Vorgang bei den Florideen deutet auch darauf hin, dass, wenn die Befruchtung bei den Organismen \u00fcberhaupt auf dynamischem Wege geschieht, die Leitung eher in der L\u00e4ngsrichtung als in der Querrichtung zu denken ist, und dass daher die m\u00e4nnlichen und weiblichen Idioplasmastr\u00e4nge eher sich mit ihren Enden als mit den Seiten an einander legen werden.\nZu den gleichen Erw\u00e4gungen f\u00fchrt auch die Befruchtung von Flechten und Pilzen, und m\u00f6glicher Weise selbst die Befruchtung der Phanerogamen, insofern die Zellen im Embryosack, welche von Strassburger als Oeh\u00fclflnnen bezeichnet wurden, das Gesch\u00e4ft von Vermittlerinnen zwischen dem Ende des rollenschlauches und der Eizelle \u00fcbernehmen.","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"V.\nVariet\u00e4t, Basse, Em\u00e4hrungsmodification.\nDie erblichen Eigenschaften der Organismen wurden von mir direct (ohne die Mithilfe der Zuchtw'ahl) aus zwei Ursachen abgeleitet: aus dem Vervollkommnungstrieb, welcher die Configuration des idioplasmatischen Systems beim Wachsthum durch Einlagerung von Micellen und Umlagerung der Micelle stetig aber lAngtmm com-plicirter macht, und den \u00e4usseren Einfl\u00fcssen, welche dieser Configuration ein bestimmtes Gepr\u00e4ge aufdr\u00fccken und ihrer Umbildung tasondere Richtungen anweisen. Die erste Ursache bedingt die Organisationsstufe, die zweite die Anpassungen ; damit sind im grossen und ganzen die Organismen mit ihren Eigenschaften gegeben.\nInnerhalb dieses Rahmens bewirkt die Kreuzung nichts weiter als \\ er\u00e4nderte Combinationen untergeordneter Anpassungsmerkmale, denn sie findet nur zwischen n\u00e4chst verwandten Sippen statt. Da die Kreuzung vorzugsweise der Domestication angeh\u00f6rt und im wilden Zustande nur ausnalunsweise vorkommt, so k\u00f6nnen die durch sie hervorgebrachten Merkmale, die von eigent\u00fcmlicher Beschaffenheit sind und im allgemeinen dem wilden Zustande fehlen, als \u00bbabnormale\u00ab bezeichnet werden.\nAusser diesen Kreuzungsmerkmalen gibt es noch eine Gruppe besonderer Merkmale, die ich bis jetzt nicht ber\u00fccksichtigt hal>e und die sich ebenfalls als \u00bbabnormale\u00ab darstellen. Sie verdienen eine eigene Besprechung, nicht weil sie l>ez\u00fcglieh der Ursachen eine Ausnahme machten, sondern weil sie im allgemeinen nur unter den","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"232\nV. Variet\u00e4t, Rasse, EratthrungsmotUAcation.\nVerh\u00e4ltnissen der Domestication Vorkommen und weil sie zu der bisherigen Abstammungslehre in inniger und verh&ngnissvoller Beziehung stehen.\nBei den Culturpflanzen und Hausthieren bilden sich erbliche Ab\u00e4nderungen aus, die den Pflanzen und Thieren im wilden Zustande fast g\u00e4nzlich mangeln. Dieselben bestehen in Schw\u00e4chungen gewisser physiologischer Processe, in krankhaften Umbildungen und Monstrosit\u00e4ten, \u00fcberhaupt in mehr oder weniger abnormalen Erscheinungen. Bei den Pflanzen sind es beispielsweise gef\u00fcllte Bl\u00fcthen, anders gebaute (metamorphosirte) Bl\u00fcthen, panaschirte oder krause oder zerschlitzte Laubbl\u00e4tter, h\u00e4ngende Zweige (Trauerb\u00e4ume), aufrechte Aeste (Pyramidenb\u00e4ume), \u00fcberm\u00e4ssig verdickte Stengel, Wurzeln und Fr\u00fcchte.\nAuch diese Merkmale treten zuerst als werdende Anlagen auf, die, wenn sie fertig gebildet sind, sich entfalten und nachher wieder f\u00fcr l\u00e4ngere oder k\u00fcrzere Zeit latent werden. Der erste Entfaltungszustand zeigt uns entweder das vollendete Merkmal oder nur einen Anfang, der sich durch eine Zahl von Generationen bis zur vollkommenen H\u00f6he steigert.\nWas die Ursachen dieser Anlagen betrifft, so sind sie theils innere theils \u00e4ussere und geh\u00f6ren nach meiner Ansicht zu jener grossen Kategorie von Ursachen, von denen ich bereits fr\u00fcher gesprochen habe, welche, \u00fcberall vorhanden, stets kleine Storungen veranlassen, aber meistens durch die geschlechtliche Kreuzung unsch\u00e4dlich gemacht werden (8. 205). In einzelnen F\u00e4llen aber gehen die St\u00f6rungen weiter, indem sie entfaltungsf\u00e4hige Anlagen in merkbarer Weise modificiren oder Anlagen, die sonst latent geblieben w\u00e4ren, zur Entwicklung bringen. Dies geschieht dadurch, dass sich eine Micellgruppe im Idioplasma in abnormaler Weise umbildet, sei es, dass die einmal bestehende micellare Anordnung dazu disponirt war, sei es, dass bei einer vorg\u00e4ngigen Kreuzung ungleiche Systeme sich unnat\u00fcrlich gemischt haben, oder endlich in Folge tief eingreifender \u00e4usserer Einfl\u00fcsse. Meistens werden mehrere dieser Umst\u00e4nde Zusammentreffen, und sehr oft d\u00fcrften die Kreuzungen, die bei den Hausthieren und Culturpflanzen fast nie mangeln, den Anfang der St\u00f6rung und der abnormalen Anlago gebildet haben.\nDer Grund, warum die abnormalen Merkmale fast nur im domesticirten Zustande auftreten, mag einmal in der eiten ange-","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"V. Variet\u00e4t, Rame, Ern\u00e4hrangamodification.\n233\nf\u00fchrten Thatsache der viel h\u00e4ufigeren und viel wirksameren Kreuzung liegen. Denn bei den Pflanzen und Thieren des nat\u00fcrlichen Zustandes bleibt die Kreuzung im allgemeinen auf die Individuen derselben engen Variet\u00e4t beschr\u00e4nkt; selten findet geschlechtliche Befruchtung zwischen verschiedenen Variet\u00e4ten oder Arten statt, indem dieselbe im ganzen gewiss nicht den millionsten Theil aller Befruchtungen ausmacht.\nUeberdem ist aber ein anderer maassgebender Umstand vorhanden, der, wenn auch die Kreuzung nicht in Betracht gezogen wird, f\u00fcr sich allein die Beschr\u00e4nkung der abnormalen Merkmale auf die ddmesticirten Organismen erkl\u00e4ren w\u00fcrde. Der Mangel der Con-currenz im Culturzustande gestattet, dass auch Tr\u00e4ger unvorteilhafter und nicht existenzf\u00e4lliger Eigenschaften Bestand haben und sich vermehren, w\u00e4hrend dieselben im wilden Zustande sofort beseitigt werden und daher keine Nachkommen hinterlassen.\nUeber die Ursachen der in der Cultur entstandenen abnormalen Eigenschaften hegt Darwin eine andere Meinung. Dieselben werden als die Wirkung minder einf\u00f6rmiger Lebensbedingungen betrachtet. In der Natur seien die Individuen einer und derselben Species nahezu gleichf\u00f6rmigen Umst\u00e4nden ausgesetzt; die domesticirten Producte dagegen seien aus ihren nat\u00fcrlichen Verh\u00e4ltnissen und oft aus ihrem Heimathlande entfernt worden, werden auch h\u00e4ufig von District zu District gef\u00fchrt, wo sie eine verschiedene Behandlung erfahren. In \u00dcbereinstimmung hiermit stehe die gr\u00f6ssere Variation der domesticirten Producte.\nEs scheint mir dies ein Kreisschluss zu sein. Die gr\u00f6ssere Variabilit\u00e4t der Pflanzen und Tbiere im Culturzustande wird aus der Mannigfaltigkeit ihrer Lebensbedingungen erkl\u00e4rt; aber eigentlich wird diese Mannigfaltigkeit, die an und f\u00fcr sich sehr fraglich ist, nur wegen der gr\u00f6sseren Variabilit\u00e4t angenommen. Wenn wir die Verh\u00e4ltnisse der Cultur nicht bloss in Bausch und Bogen nach der Ver\u00e4nderlichkeit der Producte beurtheilen, sondern eine genauere Analyse und Vergleichung mit dem wilden Zustande vornehmen, so kommen wir sicher auf ein ganz anderes Resultat.\nF\u00fcr die Pflanzen, und ich glaube kaum, dass es bez\u00fcglich der Thiero viel anders sein sollte, gilt Folgendes. Ein Gew\u00e4chs in Cultur nohmen heisst, im Gegensatz zu der Annahme D a r w i n \u2019s und seiner Schule, vielmehr, dasselbe aus vielf\u00f6rmigen unter sehr einf\u00f6rmige","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234\tv- Variet\u00e4t, Range, Em\u00e4hrongsmodiflcation.\nj\nUmst\u00e4nde versetzen. Auf den verschiedenen nat\u00fcrlichen Standorten zeigt die Nahrung nach Mischung und Menge alle m\u00f6glichen Abstufungen von derjenigen Gunst, welche die Individuen selbst gr\u00f6sser und \u00fcppiger werden l\u00e4sst als die Cultur, bis zu jener Ungunst, wo sie zwerghaft sich gerade noch k\u00fcmmerlich zu erhalten verm\u00f6gen. Auf den verschiedenen nat\u00fcrlichen Standorten herrschen ferner bez\u00fcglich der Feuchtigkeitsmenge, der Temperatur, der Beleuchtung, der Luftstr\u00f6mungen viel gr\u00f6ssere Ungleichheiten als in Garten und Feld. Endlich sind im nat\u00fcrlichen Zustande die Vergesellschaftung und Concurrenz, welche auf die Ab\u00e4nderungen so energisch einwirken sollen, \u00e4usserst mannigfaltig, w\u00e4hrend sie in der Uultur I wirkungslos gemacht wurden.\nDem entsprechend variirt eine Pflanzenvariet\u00e4t auf den verschiedenen nat\u00fcrlichen Standorten wohl hundert Mal mehr als in der Cultur, soweit es sich um die nicht erblichen, unmittelbar durch die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse verursachten Merkmale (Standorts- oder Ern\u00e4hrungsmerkmale) handelt. Wenn nun trotzdem in der Cultur die erblichen Eigenschaften mannigfaltiger und reichlicher vorhanden sind, so m\u00fcssen wir geradezu schliessen, dass diese Variationen nicht als der reine Ausdruck der \u00e4usseren Verh\u00e4ltnisse, sondern aus besonderen Umst\u00e4nden, welche die Cultur vor dem nat\u00fcrlichen Zustande voraus hat, zu erkl\u00e4ren sind, und zwar, wie ich bereits ausgef\u00fchrt habe,\n! aus der Kreuzung verschiedener Variet\u00e4ten und Arten und aus dem Mangel an Concurrenz. Ich weide den Unterschied zwischen nat\u00fcrlichem und domesticirtem Zustande in der Folge noch weiter erl\u00e4utern.\nDie Ergebiiisse, zu denen die Betrachtung der aus der Kreuzung und den \u00fcbrigen Einfl\u00fcssen der Domestication hervorgehenden Tabnormalen\u00ab Merkmale gef\u00fclirt hat, veranlassen mich zu einer Vergleichung zweier Kategorien von Sippen, die oft mit einander zusammengeworfen, oft auch ziemlich ncht^ auseinander gehalten, aber noch nie ihrem inneren Wesen nach richtig erkannt wurden! Es sind die Begriffe Rasse und Variet\u00e4t, deren Wesen bestimmt wird durch die Natur ihrer Merkmale und somit eigentlich durch die Natur ihres Idioplasmas.\nDie Hassen geh\u00f6ren der Cultur, die Variet\u00e4ten dem wilden Zustande an, wie dies ebenfalls von Darwin festgehalten winl, welcher, um den Unterschied noch besonders hervorzuheben, die","page":234},{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"V. Variet\u00e4t, Rame, Ern\u00e4hrongamodiflcation.\n236\nersteren auch als \u00bbdomesticirte Rassen t den letzteren als \u00bbnat\u00fcrlichen Variet\u00e4ten c gegen\u00fcberstellt.\nDie Rassen bilden sich rasch und verlieren sich ebenso geschwind; sie dauern nur bei Ausschluss der Ooncurrenz und oft auch nur bei geh\u00f6riger Pflege durch eine Reihe von Generationen. Sie sind in ihren erblichen Merkmalen wenig best\u00e4ndig, werden durch \u00e4ussere Einfl\u00fcsse leicht ver\u00e4ndert, durch Kreuzung mit anderen Rassen vernichtet, arten selbst bei geschlechtlicher Befruchtung mit ihres Gleichen leicht aus. So erzeugten beispielsweise nach der Mittheilung von Darwin in 216 F\u00e4llen, wo gleichfarbige Pferde gepaart wurden, 11 Paare (also 5 Proc.) Junge mit anderer F\u00e4rbung.\nDie Variet\u00e4ten dagegen entstehen \u00e4usserst langsam und haben eine seculare Dauer; sehr viele Arten sind nachweisbar unter den verschiedensten \u00e4usseren Umst\u00e4nden und in ganz ungleicher gesellschaftlicher Umgebung seit der Eiszeit unver\u00e4ndert geblieben oder nur so \u00e4ussorst wenig modificirt worden, dass man kaum von der leichtesten A ariet\u00e4tenhildung sprechen kann. Die Variet\u00e4ten, so weit sie durch \u00e4ussere Merkmale erkennbar sind, beginnen und bilden sich weiter aus trotz der Concurrenz n\u00e4chst verwandter Formen, mit denen sie gemeinsam Vorkommen. Sie sind in ihren erblichen Eigenschaften ausserordentlich best\u00e4ndig und werden durch die wirksamsten \u00e4usseren Einfl\u00fcsse selbst w\u00e4hrend der l\u00e4ngsten Zeitr\u00e4ume nicht ver\u00e4ndert, ebenso nicht durch Kreuzung mit verwandten Variet\u00e4ten oder Arten, wie dieselbe in der freien Natur hin und wieder eintritt. Die Variet\u00e4ten lassen sich erfahrungsgem\u00e4ss nicht von den wirklichen Arten unterscheiden, und wenn wir ihnen eine geringere Constanz zuschreiben als diesen, so geschieht dies, weil die Consequenz der Theorie es unabweislich verlangt, nicht weil es durch bestimmte Thatsachen sich beweisen l\u00e4sst.\nDiese Darstellung der unterscheidenden Merkmale von Rasse und Variet\u00e4t bedarf einer n\u00e4heren Begr\u00fcndung, da sie von den herrschenden Ansichten wesentlich abweicht. Was die Eigenth\u00fcm-lichkeiten der Rasse betrifft, so besteht dar\u00fcber zwar keine Meinungsverschiedenheit, da die vielen Versuche, die wir den praktischen Thierz\u00fcchtem verdanken, und die Erfahrungen der Pflanzencultur dar\u00fcber hinreichend Aufschluss geben. Anders verh\u00e4lt es sich mit den Variet\u00e4ten, weil man dieselben thats\u00e4chlich gar nicht oder h\u00f6chstens aus d\u00fcrftigen und ungen\u00fcgenden Versuchen kennt und","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236\nV. Variet\u00e4t, Rame, Ern\u00e4hrungmnodification.\nsie daher meistens bloss nach oberfl\u00e4chlichen Beobachtungen und vorgefassten Meinungen beurtheilt.\nZiemlich \u00fcbereinstimmend wird die Variet\u00e4t als wenig constant betrachtet, aber aus ganz verschiedenen Motiven. Die Darwinisten, welche von der Beweglichkeit und Ver\u00e4nderlichkeit der Rasse ausgehen, sehen in der Variet\u00e4t die der Rasse analoge Erscheinung des wilden Zustandes und schreiben ihr daher eine grosse Ver\u00e4nderlichkeit zu. Gr\u00fcnde f\u00fcr dieses auf blosser Vermuthung beruhende Verfahren verm\u00f6gen sie nicht anzugeben. Die Art ist ihnen dann begreiflicher Weise, als fortgeschrittene und gefestigtere | Variet\u00e4t, ebenfalls noch ziemlich ver\u00e4nderlich.\nDie Systematiker der alten Schule dagegen, welche die Arten f\u00fcr absolut best\u00e4ndig halten, betrachten die Variet\u00e4ten innerhalb der Art als das einzig Ver\u00e4nderliche in der organischen Welt. Da aber thats\u00e4chliche Anhaltspunkte f\u00fcr dieses Verfahren ebenfalls mangeln, so werden die Grenzen zwischen dem vermeintlich Beharrenden und dem vermeintlich allein Verg\u00e4nglichen nach sub-jectivem Gutfinden oder auch ganz willk\u00fcrlich gezogen.\nDie Ursachen der unrichtigen Ansichten bez\u00fcglich der Variet\u00e4ten beruhen vorz\u00fcglich in der Verwechslung von Rasse und Variet\u00e4t, ferner in der Verwechslung von Standortsmodification und Variet\u00e4t und endlich in der Verwechslung von zeitlicher und r\u00e4umlicher Constanz, resp. Ver\u00e4nderlichkeit; sie entspringen aus dem Mangel an gr\u00fcndlichen Beobachtungen und aus dem Mangel an genauen \u2022 Culturversuchen. Ich werde dies im folgenden nachweisen und dal\u00abi an die Ergebnisse ankn\u00fcpfen, zu denen vorz\u00fcglich langj\u00e4hriges Beobachten und Z\u00fcchten der vielf\u00f6rmigsten aller Pflanzengattungen gef\u00fchrt hat. Bei dem fast g\u00e4nzlichen Mangel an sicheren Thatsachen, 1 \u00abtreffend dio wildwachsenden Formen, halte ich es f\u00fcr zweckm\u00e4ssig, etwas einl\u00e4sslicher dar\u00fcber zu berichten.\nIch hatte mich schon in den Jahren 1840\u20141846 mit der Abtheilung Pilosolloiden der Gattung Ilieracium besch\u00e4ftigt und den Versuch gemacht, die Formen dersell>en als Stammarten und Bastarde zu unterscheiden, in \u00e4hnlicher Weise, wie es f\u00fcr die Gattung Oirsium geschehen war. Nachher verlor ich zwar diese Pflanzen nicht aus don Augen, ohne mich jedoch einl\u00e4sslicher damit zu","page":236},{"file":"p0237.txt","language":"de","ocr_de":"V. Variet\u00e4t, Rasse, Ern\u00e4hrungsmodiflcation.\n237\nbesch\u00e4ftigen. Mit dem Jahr 1864, als die Speciesfrage durch die Schriften Darwin s eine brennende wurde, nahm ich das Studium der Gattung Hieracium wieder auf, mit besonderer R\u00fccksicht auf die Erscheinungen, welche \u00fcber die Entstehung der Variet\u00e4ten und Arten Aufschluss geben k\u00f6nnten. Von 1864\u20141876 brachte ich jeden Sommer meistens in Begleitung meines Sohnes einige Monate im Gebirge zu, ausschliesslich mit Beobachten und Sammeln von Hiaracien besch\u00e4ftigt. Zu gleichem Zweck machte seit 1876 Dr. A. Peter j\u00e4hrlich einen l\u00e4ngeren Gebirgsaufenthalt. Unsere Stationen befanden sich in der Alpenkette vom Wallis bis zum Karst, in den Apenninen, den Seealpen und den Gebirgen von M\u00e4hren, Schlesien und Galizien. Ausserdem wurde die bayerische Hochebene bis zum Frankenjura und bayerischen Walde durchforscht.\nVon diesen Reisen wurden eine grosse Menge von Formen theils in lebenden St\u00f6cken, theils durch Samen in den botanischen Garten von M\u00fcnchen gebracht. Gegenw\u00e4rtig befinden sich ca. 2500 Nummern der Gattung Hieracium in Cultur. Im ganzen wurden ungef\u00e4hr 4450 Nummern ausgepflanzt und w\u00e4hrend k\u00fcrzerer oder l\u00e4ngerer Zeit, manche w\u00e4hrend 5 bis 17 Jahren, beobachtet, theils um gleichen Stock, theils in mehreren durch Aussaat erhaltenen Generationen. Von den kultivirten Pflanzen wurden wom\u00f6glich jedes Jahr Exemplare eingelegt und getrocknet, um dieselben mit der urspr\u00fcnglichen Pflanze und untereinander zu vergleichen. Da dieser Vergleich von besonderer Wichtigkeit war, so wurden die wilden Pflanzen im Herbarium, von denen Samen ausges\u00e4et wurden, bezeichnet, und es wurden von den aus dem Gebirg gebrachten St\u00f6cken die bl\u00fchenden Stengel eingelegt und ebenfalls bezeichnet.\nDie meisten Arten gedeihen gut im Garten. Davon machen eine Ausnahme einige Arten der h\u00f6heren Alpen, wie namentlich H. glanduliferum, H. piliferum, H. albidum und H. alpicola, ferner auch H. alpinum und H. glaciale, dann einige s\u00fcdliche und \u00f6stliche Arten, wie H. echioides, H. stuppeum, H. burbatum, indem dieselben k\u00fcmmerlich wachsen und nach einigen Jahren ausgehen1). Mit dem kr\u00e4nklichen Befinden k\u00f6nnen auch andere Abweichungen von dem\n*) Von H. albidum gibt es eine in den botanischen G\u00e4rten befindliche Form, die sich gut h\u00e4lt, w\u00e4hrend die aus den Alpen importirten St\u00f6cke und Samen stets ein wenig haltbares Product liefern.","page":237},{"file":"p0238.txt","language":"de","ocr_de":"238\nV. Variet\u00e4t, Karne, Ern\u00e4hruugsiuodiflcation.\nVerhalten der \u00fcbrigen kr\u00e4ftig vegetirenden Arten Zusammentreffen. Die letzteren stimmen alle in den Ergebnissen der Cultur \u00fcberein, welche sich unter folgende Gesichtspunkte zusammenfassen lassen:\nI.\tDie m\u00f6glichen Ver\u00e4nderungen, soweit dieselben unserer Wahrnehmung zug\u00e4nglich sind, treten schon im ersten Culturjahr ein und sind ganz gleich, ob ein ausgegrabener Stock in den Garten verpflanzt oder Samen ausges\u00e4et werden1). Sie sind um so gr\u00f6sser, je mehr die Em\u00e4hrungsf\u00e4higkeit des nat\u00fcrlichen Standortes und des Gartens verschieden ist. Die kleinen Alpenhieracien werden gross, stark verzweigt und reichbl\u00fctig, so dass man sie oft kaum wieder erkennt. Versetzt man die in dieser Weise auf dom Gartenbeet ver\u00e4nderten Pflanzen auf einen mageren Kiesboden, so erh\u00e4lt man w ieder die urspr\u00fcnglichen alpinen Exemplare. Diese Ver\u00e4nderungen sind also nicht erblich, und bestehen bloss in einem k\u00fcmmerlichen oder \u00fcppigen Wachsthum. Sie bewegen sich innerhalb der onto-genetischen Elasticit\u00e4tsgrenze und bedingen die Standorts- oder Ern\u00e4hrungsmerkmale.\nII.\tDie Merkmale, wodurch sich zwei auf dem n\u00e4mlichen Stand-j orte wachsende Arten oder Variet\u00e4ten unterscheiden, bleiben im I Gulturzustande durchaus constant, so dass also die \u00fcppig und gross I gewordenen Alpenpflanzen die n\u00e4mlichen charakteristischen Unterscheidungsmerkmale zeigen, w'ie die kleinen Pflanzen, von denen sie herstammen. Man k\u00f6nnte erw'arten und es w\u00fcrde den herrschenden Ansichten entsprechen, dass bei einem so eingreifenden Wechsel der Em\u00e4hrungs- und der klimatischen Einfl\u00fcsse, wie er beim Verpflanzen aus den Alpen oder dem Norden, aus Italien oder Ungarn in den M\u00fcnchner Garten eintreten muss, kleine Verschiedenheiten verschwinden oder entstehen m\u00f6chten. Dies ist nicht der\nFall; auch die geringsten erblichen Merkmale erweisen sich als best\u00e4ndig.\nF\u00fcr diese Best\u00e4ndigkeit innerhalb einer fast unendlichen Vielf\u00f6rmigkeit finden wir die besten Beweise in den Ergebnissen einer systematischen Bearbeitung, welche ich begonnen hatte und die von Dr. Peter seit 7 Jahren fortgesetzt und in der einen Gattungs-\n\u2022) Um vollst\u00e4ndige Gewissheit su erhalten, habe ich mehrmals eine lflianze aus dem Gebirg lebend in den Garten versetst und zugleich\tdie von der\nn\u00e4mlichen Pflanze abgenommen worden, ausges\u00e4et.","page":238},{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"V. Variet\u00e4t, Uuhmu, Kru\u00e4kruiigHiiindittcation.\n231)\nitbtlieilung beendigt wurdo. Von der 8ection der Piloselloiden tdloin, welche Grisebuch in 25 Arten und 12 Variet\u00e4ten, Fries in 42 Arten gethoilt batte, sind jetzt 2800 unterscheidbare Variet\u00e4ten bekannt, welche alle nach den Culturresultaten, die ein Theil derselben ergelxm lmt, als durchaus constant betrachtet werden m\u00fcssen.\nAus den beiden unter I und II angef\u00fchrten Thutsachcn geht einmal klar hervor, dass man die Verschiedenheiten zweier Arten oder Variet\u00e4ten nur dann richtig berurtheilen kann, wenn sie entweder unter ganz gleichen Ern\u00e4hrungs- und klimatischen Einfl\u00fcssen, also au? dein gleichen Standorte Vorkommen, oder wenn man sie auf den gleichen Standort verpflanzt hat. Als passendster gemeinsamer Standort ist aber der Garten zu brachten, weil er einen mittleren, gleichsam neutralen Charakter hat und die Pflanzen vor der Con-currenz sch\u00fctzt. \u2014 Wenn zwei Pflanzen neben einander wachsen, so sind dio durch verschiedene Ern\u00e4hrung und verschiedenes Klima Inxlington, ver\u00e4nderlichen Merkmale gleichgemocht und die \u00fcbrig bleibenden Verschiedenheiten m\u00fcssen erbliche sein. Vergleicht man alxjr Pflanzen von vorscliiedenen Standorten und aus verschiedenen Gegenden mit einander, so l\u00e4uft man Gefahr, Ern\u00e4hrungsverschiedenheiten als erbliche zu betrachten, und man kann dieser Gefahr, wonn die Cultur nicht ausf\u00fchrbar ist, nur dann entgehen, wonn man sich durch die Cultur verwandter Pflanzen ein \u00fcrtheil bilden konnte, was hier erblich und was ver\u00e4nderlich ist. Ich finde mich zu dieser Bemerkung besonders deswegen veranlasst, weil bei der herrschenden und gewiss gerechtfertigten Neigung der Systematik, immer mehr Formen zu unterscheiden, es auch immer h\u00e4ufiger vorkommt, dass man nicht constante Standorts- oder Em\u00e4hrungsmerk-male irrth\u00fcmlicher Weise in die Diagnosen aufnimmt und zur Unterscheidung ben\u00fctzt.\nAus den Beobachtungen an der Gattung Hieracium ergibt sich ferner auf das deutlichste, dass man strenge zwischen Einf\u00f6rmigkeit und Constanz unterscheiden muss, und ebenso zwischen Vielf\u00f6rmigkeit und Ver\u00e4nderlichkeit. Es sind dies Begriffe, die stets von den Systematikern verwechselt werden. Eine Sippe mit zahlreichen Formen, besonders wenn diese in einander \u00fcbergehen, heisst variabel, und ein Merkmal, das sich allm\u00e4hlich abetuft, wird ebenfalls als ein ver\u00e4nderliches bezeichnet; man sollte aber in diesen F\u00e4llen bloss \\on Vielf\u00f6rmigkeit sprechen. Die Beobachtung und Veigleichung","page":239},{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240\tV. Variet\u00e4t, Rmm, Ern\u00e4hruagsmodiflcatioa.\nvieler gleichzeitiger Individuen gibt ja nur \u00fcber die r\u00e4umliche Best\u00e4ndigkeit, um mich dieses Ausdrucks zu bedienen, nicht \u00fcber die eigentliche oder zeitliche Constanz Aufschluss.\nMan kann zwischen manchen Hieracienarten aus Exemplaren verschiedener Standorte einj ununterbrochene Reihe heretellen, so dass man von einem gleitenden Uebergang von der einen zur andern Art sprechen darf. Man hat aber Unrecht, dies als Ver\u00e4nderlichkeit zu bezeichnen, denn jedes einzelne Glied der Reihe bringt eine ganz gleiche Nachkommenschaft hervor und verh\u00e4lt sich bei der Fortpflanzung durch eine Reihe von Generationen ebenso constant als eine Pflanzenart, die durch keine Uebergangsglieder mit anderen Arten zusammenh\u00e4ngt. Die Gattung Hieracium ist offenbar die vielf\u00f6rmigste aller Pflanzengattungen; aber wir haben keinen Grund, ihr eine gr\u00f6ssere (zeitliche) Ver\u00e4nderlichkeit zuzuschreiben als anderen Pflanzen. Desgleichen scheinen die Gattungen Rubus und Rosa wohl vielf\u00f6rmig, aber nicht variabel zu sein.\nWas von der ganzen Pflanze, gilt auch von jeder einzelnen Eigenschaft Ein Merkmal, dai in allen Individuen einer Variet\u00e4t oder einer Art sich ganz gleich verh\u00e4lt, darf deswegen noch nicht auch als wirklich constant betrachtet werden. Die Uebereinstimmung kann ja daher r\u00fchren, dass die Ern\u00e4hrungseinfl\u00fcsse die n\u00e4mlichen sind; das angeblich constante Merkmal w\u00fcrde sich dann unter anderen Einfl\u00fcssen ver\u00e4ndern. Es w\u00e4re zweckm\u00e4ssig, der r\u00e4umlichen Constanz eine besondere Bezeichnung zu geben und sie etwa \u00bbPermanenz\u00ab zu nennen. Der Systematiker, der nicht im Falle war, seine Pflanzen hinreichend durch die Cultur zu pr\u00fcfen, weiss in der Regel nur, ob die Merkmale mehr oder weniger permanent sind. Manchmal zwar wird die Permanenz auch der Constanz entsprechen ; sehr h\u00e4ufig aber wird dies nicht der Fall sein. Immerhin w\u00e4re die Unterscheidung schon im Interesse des besseren Verst\u00e4ndnisses w\u00fcnschbar, indem man beim jetzigen Sprachgebrauch nicht weiss, ob ein constant genanntes Merkmal sich bei der Fortpflanzung unter verschiedenen Umst\u00e4nden als erblich erweist, oder ob es nur bei allen beobachteten Individuen unver\u00e4ndert, also permanent gefunden wurde.\nDie Cultur der Hieracien hat, wie ich zeigte, das Ergebniss geliefert, dass die Em\u00e4hrungs- oder Standortsmodificationen nicht die geringste Constanz erlangen, auch wenn dieselben durch noch","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"V. Variet\u00e4t, Rame, Ern\u00e4hrungsmodiflcation.\n241\nso lange Zeitr\u00e4ume gleich geblieben sind. Kleine eink\u00f6pfige Alpenpflanzen nehmen im Garten schon w\u00e4hrend des ersten Sommers den Habitus der Ebenenpflanzen an und werden gross, verzweigt und vielk\u00f6pfig, w\u00e4hrend ihre erblichen Merkmale sich ganz unver\u00e4ndert erhalten. Dies gilt nicht bloss f\u00fcr morphologische Charaktere, deren man sich gew\u00f6hnlich bei der Vergleichung bedient, sondern auch f\u00fcr physiologische und biologische Eigenschaften. Ich will noch die Ergebnisse bez\u00fcglich einer der letzteren mittheilen, weil hier eine viel gr\u00f6ssere Genauigkeit m\u00f6glich ist als bei Merkmalen der Gestaltung.\nDie Bl\u00fcthezeit ist ein leicht zu beobachtendes Merkmal, das auch als sehr constant zur Charakteristik einzelner Pflanzenarten benutzt wird. Es war von Interesse zu erfahren, wie sich die zahlreichen, neben einander cultivirten Hieracienformen in dieser Beziehung verhalten, ob und welche constante Verschiedenheiten sie zeigen, und ob ein langer Aufenthalt anf Standorten, die eine fr\u00fche oder eine sp\u00e4te Bl\u00fcthezeit bedingen, irgend eine dauernde Ver\u00e4nderung zui\u00fcckgelassen habe. Es wurde daher seit dem Fr\u00fchjahr 1869 j\u00e4hrlich an allen S\u00e4tzen des Gartens das Aufbl\u00fchen notirt.\nBez\u00fcglich der letzten Frage war die einstimmige Antwort aller Variet\u00e4ten und Arten, dass die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse, die w\u00e4hrend einer s\u00e4cularen Dauer auf die Pflanzen einwirken, und eine eben so lange Gewohnheit, fr\u00fche oder sp\u00e4t zu bl\u00fchen, bedingen, keine erbliche Ver\u00e4nderung nerv orbringen. Die gleichen Variet\u00e4ten, die im Hochgebirg einen Monat sp\u00e4ter, im S\u00fcden fast einen Monat fr\u00fcher bl\u00fchen als in der bayerischen Ebene, gelangen, nachdem sie von diesen drei verschiedenen Standorten in den Garten gebracht wurden, am n\u00e4mlichen Tage zur Bl\u00fcthe. Dies gilt f\u00fcr alle kleineren Hieracien. \u2014 Von den hochw\u00fcchsigsten, als Accipitrinen bezeichneten Sippen bl\u00fchen die an der mittell\u00e4ndischen K\u00fcste auf trockenen und heissen Standorten lebenden in ihrer Heimath erst im Herbst, etwa 4 Wochen sp\u00e4ter auf als die ihnen verwandten Formen in unserer Gegend; in den Garten verpflanzt entwickeln sie ihre Bl\u00fcthen zu gleicher Zeit mit unseren Accipitrinen1). Ebenso bl\u00fcht das aus Dalmatien in mehreren St\u00f6cken in den M\u00fcnchener Garten gebrachte H. stuppemn, das auf dem Luissen felsigen Boden seiner Heimath\n') Hiervon machen unter vielen H\u00e4tten nur iwei eine Ausnahme.\nV. Ntfell, Abatammunfulehre.\tjg","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242\tV. Variet\u00e4t, Rasse, Eraihrungsmodification.\nerst Ende September zur Bl\u00fcthe gelangt, bei uns schon 6 Wochen fr\u00fcher und stellt sich damit seinen Verwandten ziemlich gleich.\nVersuche, die einen gleichen Zweck verfolgten, hat A. de Candolle im Jahre 1872 ver\u00f6ffentlicht1). Derselbe sftete Samen der n\u00e4mlichen Arten aus verschiedenen Gegenden Europas aus und beobachtete die Zeit des Keiraens und Bl\u00fchens. Er glaubte daraus auf Verschiedenheiten, die oft erblich seien, schliessen zu d\u00fcrfen, welche die Pflanzen an ihren verschiedenen Wohnorten erlangt h\u00e4tten. Seitdem sind auch andere \u00e4hnliche Versuche bekannt gemacht worden.\nDer Grund, warum die Experimente de Candolle\u2019s Verschiedenheiten zwischen den Samen aus verschiedenen Gegenden und somit einen Einfluss des Wohnortes, also ein abweichendes Resultat von den Beobachtungen an den Hieracien, ergeben haben, ist nicht etwa darin zu suchen, dass verschiedene Pflanzen sich ungleich verhalten, sondern eher in der Mangelhaftigkeit der Fragestellung und Ausf\u00fchrung bei jenen Versuchen. Wenn Samen der n\u00e4mlichen Pflanzenart, beispielsweise, wie es geschehen ist, solche, die in Moskau, Edinburg, Montpellier und Palermo von wildwachsenden Pflanzen gesammelt worden, mit einander ausges\u00e4et werden, so wird die Zeit des Keimens und Bl\u00fchens nicht von einer, sondern von mehreren Ursachen bedingt. Das Ergebniss ist daher vieldeutig, und wenn jene Ursachen nicht durch Elimination auf eine einzige reducirt werden, so m\u00fcssen die Versuche stets ungleich und zweifelhaft ausfallen.\nDie Ursachen, welche auf das Resultat Einfluss haben, sind vorz\u00fcglich dreierlei. 1. Die Pflanzen einer Art, die in einer Gegend oder in verschiedenen Gegenden wachsen, k\u00f6nnen verschiedenen, morphologisch vielleicht nur schwer erkennbaren, Variet\u00e4ten angeh\u00f6ren. Man raun sich daher vor allem und durch die geeigneten Mittel davon \u00fcberzeugen, wie es sich in dieser Beziehung verh\u00e4lt. Eis ist m\u00f6glich, dass in einer Gegend zwei Variet\u00e4ten Vorkommen und in einer anderen Gegend nur eine derselben, und dass man, wenn einem der Zufall die ungleichen Variet\u00e4ten in die Hand spielt, die Verschiedenheit mit Unrecht auf Rechnung der Gegend setzt1).\n*) Arch, de\u00ab sc. de la bibl. aniv. Join 1872.\n*) Bez\u00fcglich der Hieracien f\u00e4llt dieser Einwurf schon deswegen hinweg, weil die Bl\u00fcthezeit von Formen verschiedener Herkunft, wenn sie sich unter gleichen","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"V. Variet\u00e4t, Baue, Ern\u00e2hrungBmodiflcation.\t^43\n2. Die Samen, die in dem n\u00e4mlichen Jahre in verschiedenen Gegenden Europas gesammelt werden, haben sich unter Witterungseinfl\u00fcssen von ungleicher Gunst gebildet Es ist m\u00f6glich, dass in dem einen Jahr die Moskauer, in einem anderen Jahr die Palermitaner Samen im Vortheil sind. Man muss also die Versuche durch eine Reihe von Jahren wiederholen. 3. Die Auspflanzungen, die neben einander auf einem Pflanzenbeet oder in T\u00f6pfen bewerkstelligt werden, sind h\u00e4ufig nicht strenge vergleichbar, weil die chemische und physikalische Beschaffenheit des Bodens oder die Befeuchtung desselben etwas ungleich ausfallen. S\u00e4et man Samen vom gleichen Stock, selbst aus der gleichen Bl\u00fcthe, anscheinend unter gan\u00ab gleichen Verh\u00e4ltnissen aus, so erh\u00e4lt man bez\u00fcglich der Zeit des Keimens und Bl\u00fchens oft Abweichungen von einigen Tagen. Vergleichende Versuche haben daher nur dann Werth, wenn jede Samenart nicht ein Mal, sondern ein Dutzend Mal ausges\u00e4et wird, um ein Durch-schnittsverhalten zu bekommen.\nAus diesen kritischen Bemerkungen geht deutlich hervor, dass die Aussaaten, die bis jezt gemacht wurden, resultatlos bleiben mussten. Um zu sicheren Ergebnissen zu gelangen, sind die Versuche mit anderen Methoden und in einem viel umfassenderen Maassstabe auszuf\u00fchren. Da es sich dabei besonders auch um die b rage handelt, ob allf\u00e4llige Verschiedenheiten erblich sind, so m\u00fcssen endlich die Aussaaten durch eine Reihe von Generationen an dem n\u00e4mlichen Orte fortgesetzt werden.\nIch bin auf diese Versuche von A. de Candolle n\u00e4her eingetreten, weil durch dieselben die so h\u00e4ufig ohne Begr\u00fcndung behauptete Einwirkung der Ern\u00e4hrung und des Klimm auf die Variet\u00e4tenbildung in anscheinend exacter Weise ermittelt werden soll, und weil es f\u00fcr die Theorie der Abstammung von so grosser Wichtigkeit ist, diejenigen \u00e4usseren Einfl\u00fcsse, welche den Organismen bloss Kraft und Stoff f\u00fcr die physiologische Arbeit zuf\u00fchren, und welche die Standortsmodificationen verursachen, von denjenigen, welche als Reize wirken und dauernde Ver\u00e4nderungen hervorzubringen im Stande sind, zu scheiden.\nklimatischen Einfl\u00fcssen befinden, \u00fcbereinstimmt und es sich also nicht am die Erkl\u00e4rung von Abweichungen handelt. Uebrigens ist die kritische Pr\u00fcfung der Formen nach allen Richtungen hin ausgef\u00fchrt worden.\n16*","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244\nV. Variet\u00e4t, Baue, Brn\u00e4hnmgamodi\u00e4cation.\n| . Die G\u00fcltigkeit der an den Hieracien gewonnenen Resultate wird durch die \u00fcbeigrosse Zahl von \u00fcbereinstimmenden Beobachtungen \u00fcber jeden Zweifel erhoben. W\u00e4hrend 13 Jahren wurden mehr als 16000 Aufzeichnungen gemacht. Ee ist besonders auffallend, wie die meisten Piloeelloiden (eine Ausnahme machen namentlich die gr\u00f6sseren Formen mit bebl\u00e4ttertem Stengel, die entschieden sp\u00e4ter bl\u00fchen) ohne R\u00fccksicht auf ihre Herkunft, nordische, s\u00fcdliche, alpine und campestire, gleichzeitig ihre Bl\u00fcthen \u00f6ffnen. Die Alpen* bewohner, die in ihrer Heimath gleichzeitig, aber je nach der Meeresh\u00f6he 3 bis 5 Woeben sp\u00e4ter aufbl\u00fchen als ihre Verwandten der Ebene, verhalten sich in der Ebene genau wie diese letzteren. Dies ist um so bemerkenswerther, als einige von den Alpenbewohnern (wie j H. Hoppeanum) nicht nur seit der Eiszeit sondern viel l\u00e4nger unter einem Alpenklima gelebt, und ebenso einige von den Bewohnern der Ebene (wie H. collinum) die Einwirkung des Ebenenklimas schon seit einer voreiszeitlichen Epoche erfahren haben. Es sind das n\u00e4mlich einerseits diejenigen Arten, die ausschliesslich den Alpen angeh\u00f6ren und w\u00e4hrend der Eiszeit in der Ebene lebten, andererseits diejenigen, die nur in der Ebene fortkommen und nach der Eiszeit aus dem Osten eingewandert sind.\nBei diesen Beobachtungen an den Hieracien zeigte sich auf ! das deutlichste, wie wichtig es ist, dieselben an einer gr\u00f6sseren Zahl von S\u00e4tzen anzustellen und durch eine Reihe von Jahren fortzusetzen. Einige wenige Beobachtungen geben immer ein unsicheres Resultat, indem nicht nur die \u00e4usseren Umst\u00e4nde, sondern auch das von unbekannten Ursachen abh\u00e4ngige Wohlbefinden der Pflanzen einen merkbaren Einfluss aus\u00fcbt. Man versteht leicht, dass ein etwas schattigerer Standort, das sp\u00e4tere Wegschmelzen der Schneedecke, ein etwas feuchterer Boden die Bl\u00fcthezeit um Tage, selbst um eine Woche verz\u00f6gert. Aber es kommt stets vor, dass, obgleich ein Unterschied in den \u00e4usseren Umst\u00e4nden nicht wahrnehmbar ist, die unmittelbar nebeneinander befindlichen Pflanzen sich doch etwas ungleich verhalten. Man theilt beispielsweise einen Satz von Hieracien in zwei S\u00e4tze, die bloss einen Meter von einander entfernt sind, und dennoch bl\u00fcht zuweilen der eine etwas fr\u00fcher als der andere. Dass diese Verschiedenheit nicht constant ist, sondern nur von unbekanntem Wohlbefinden abh\u00e4ngt, geht daraus hervor, dass in einem andern Jahr das Verh\u00e4ltniss sich umkehrt und dass der Satz, der\nI","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"245\nV. Variet\u00e4t, Bum, EfHihHingimmiUmti^fl\nin einem vorhergehenden Jahr um einige Tage fr\u00fcher bl\u00fchte, jetzt um einige Tage sp\u00e4ter bl\u00fcht. Ein \u00e4hnliches wechselndes Verhalten zeigen nun auch die S\u00e4tze von verschiedenem Ursprung; bald ist der eine, bald der andere der gef\u00f6rderte, bei einem Durchschnitt von 8 und mehr Jahren aber verschwinden die Verschiedenheiten g\u00e4nzlich.\nEine solche Uebereinstimmung besteht aber nur zwischen den Pflanzen, die sich in voller Vegetationskraft befinden. Man muss sich wohl h\u00fcten, nicht solche von ungleicher Vegetation mit \u00abinand*\u00bb. zu vergleichen. Es gibt immer einzelne St\u00fccke, oft auch ganze S\u00e4tze, die mehr oder weniger leidend sind, nicht kr\u00e4ftig sich entwickeln und die auch zu anderer Zeit bl\u00fchen. Man unterscheidet solche St\u00f6cke und S\u00e4tze leicht an der Farbe, Gr\u00f6sse und Zahl der Laubbl\u00e4tter, sowie an dem schw\u00e4chlichen Wuchs. Hieracien, die sich in diesem abnormalen Zustande befinden, bl\u00fchen sp\u00e4ter, wenn es kleinere Arten mit Blattrosette und schaftartigem Stengel sind, fr\u00fcher, wenn es gr\u00f6ssere Arten mit bebl\u00e4ttertem Stengel sind, wobei dann der Stengel k\u00fcrzer oder sp\u00e4rlicher bebl\u00e4ttert wird.\nDie Beobachtung an den Hieracien ergibt unzweifelhaft, dass erbliche, sowohl morphologische als physiologische Eigenschaften durch ein noch so langes Verweilen unter besondem klimatischen und Ern\u00e4hrungseinfl\u00fcssen nicht ge\u00e4ndert werden. Die Accommodation an die \u00e4usseren Umst\u00e4nde dauert nur so lange, als diese vorhanden sind. Werden die \u00e4usseren Umst\u00e4nde andere, so ver\u00e4ndert sich auch die Accommodation, und von einer Gewohnheit, welche die Dauer einer Erdperiode hatte, bleibt nichts zur\u00fcck. Die Hieracien, die in Cultur genommen werden, besitzen noch die Natur der wilden Pflanzen und offenbaren uns das Verhalten der nat\u00fcrlichen Variet\u00e4ten. Es unterliegt aber keinem Zweifel, dass, wenn ihre Cultur ein praktisches Interesse gew\u00e4hren und durch lange Zeitr\u00e4ume fortgesetzt w\u00fcrde, sie in den n\u00e4mlichen Zustand gelangen m\u00fcssten, wie die \u00fcbrigen domesticirten Pflanzenarten. Durch reichliche Kreuzung und durch das Aufh\u00f6ren der Concurrenz w\u00fcrden variable Rassenmerkmale entstehen, und auch die Bl\u00fcthezeit, die jetzt in den nat\u00fcrlichen Variet\u00e4ten eine so z\u00e4he Cons tanz zeigt, k\u00f6nnte dann zu einer leicht ver\u00e4nderlichen Gr\u00f6sse werden. Dies beweist uns, dass bei Beobachtungen \u00fcber die Best\u00e4ndigkeit der Eigenschaften eines Orga-","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"I 246\tV. Variet\u00e4t, Rasse, Ern\u00e4hruogsmodiflcation.\nnismus vor allem festzustellen ist, ob er sich noch in dem nat\u00fcrlichen Zustand befinde, oder ob er eine mehr oder weniger lange Culturperiode durchgemacht habe.\nDer Unterschied zwischen Variet\u00e4t und Rasse, die Einf\u00f6rmigkeit und Best\u00e4ndigkeit der ereteren, die Vielf\u00f6rmigkeit und Unbest\u00e4ndigkeit der letzteren, kann nur begriffen werden, wenn man auf die Ursacher dieser Erscheinungen eingeht. Die Meinungen, die man dar\u00fcber ausgesprochen hat, betreffen entweder Nebenumst\u00e4nde oder sind auch ganz ungegr\u00fcndet, wie ich dies bez\u00fcglich der vermeintlichen Einf\u00f6rmigkeit der Lebensbedingungen im Naturzust\u00e4nde und ihrer vermeintlichen Vielf\u00f6rmigkeit in der Domestication ausgef\u00fchrt habe (8. 233). Der Schl\u00fcssel zu dem R\u00e4thsel findet sich lediglich in I dem Umstande, dass die Rassen, im Gegens\u00e4tze zu den Variet\u00e4ten, entweder das Product vielfacher vorausgehender Kreuzung oder ungehemmter und gesch\u00fctzter Entwicklung von St\u00f6rungen im normalen Lebensprocess sind.\nEs gibt wohl keine Culturpflanze und kein Hausthier mit vielen Rassen, welches nicht von zwei oder mehreren wilden Arten ab-stammte und bei welchem nicht die Kreuzung so erfolgreich gewesen w\u00e4re, dass die Grenze zwischen jenen Arten vollkommen verwischt wurde. So kommen unsere fast zahllosen Bimsorten wahrscheinlich von zwei wilden Pyrus-Arten, die Apfelsorten ebenfalls von zwei wilden Arten, die Sorten der Weinrebe von zwei oder drei Arten von \\ itis her. Durch die wiederholte Kreuzung der Nachkommenschaft zweier oder mehrerer Arten werden nicht nur die sichtbaren Merkmale der letzteren in der mannigfaltigsten Weise combinirt und abgestuft, sondern es werden auch latente Anlagen derselben zur Entfaltung gebracht oder unter Betheiligung der latenten Anlagen und unter dem Einfluss der durch die hybride Mischung abgeanderten Constitution des Idioplasmas die Merkmale der Stammeitem in vielfacher Weise umgebildet.\nDurch die Beseitigung aller Concurrenz und die Pflege der Cultur verm\u00f6gen ferner Metamorphosen und Monstrosit\u00e4ten sich auszubilden. Dieselben haben wohl immer in latenten, nun zu abnormaler Entwicklung gelangenden Anlagen ihren Ursprung, weshalb sie auch sich stets gewissennassen als R\u00fcckschl\u00e4ge kund geben. Dieselben bieten, namentlich wenn Kreuzung hinzukommt, die Veranlassung zu vielfach vermehrter Ab\u00e4nderung.","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"V. Variet\u00e4t, Rane, Era\u00e4hrungsmodiAcation.\n247\nBei der Rassenbildung in Folge von hybrider Kreuzung und von Metamorpho8irung werden also nicht wirklich neue Anlagen erzeugt, sondern bereits vorhandene in anderer Weise combinirt und bisher latent gebliebene wieder lebendig gemacht. Deswegen geht die Ver\u00e4nderung der Rassen so ausserordentlich rasch vor sich.\nBei der Variet\u00e4tenbildung dagegen entstehen neue Anlagen, ( indem das Idioplasma durch den innewohnenden Vervollkommnungstrieb und durch die als Reize wirkenden \u00e4usseren Einfl\u00fcsse stetig sich ver\u00e4ndert. Diese Ver\u00e4nderung geschieht in allen Individuen, weil die Ursachen die n\u00e4mlichen sind, gleichsinnig ; daher zeigen die Variet\u00e4ten eine so auffallende Einf\u00f6rmigkeit. \u2014 Ferner haben die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse h\u00e4ufig, da die Organismen denselben bereits angepasst sind, keine Gelegenheit, ihre Wirksamkeit zu \u00e4ussern, und wenn sie auch eine andere Anpassung verlangen, so scheinen sie die Ver\u00e4nderung doch nur nach Maassgabe, als fl>m Idioplasma durch innere Ursachen sich umbildet, bewirken zu k\u00f6nnen (vgl. S. 181). Diese durch den Vervollkommnungstrieb erfolgende Complication in der Configuration des Idioplasmas steigert sich aber \u00e4usserst langsam, bis die fertig gewordenen Anlagen sich als sichtbare Merkmale zu entfalten verm\u00f6gen; daher bleiben die Variet\u00e4ton durch lange Zeitr\u00e4ume \u00e4usserlich unver\u00e4ndert. Kreuzungen und R\u00fcckschl\u00e4ge durch St\u00f6rungen finden in den Variet\u00e4ten wohl statt, \u2014 aber, da ihre Tr\u00e4ger durch die Concurrenz sofort beseitigt werden, nur vereinzelt und ohne Wirkung auf die ganze Sippe ; sie verm\u00f6gen also die Einf\u00f6rmigkeit und Stetigkeit der Variet\u00e4ten nicht zu tr\u00fcben.\nKurz ausgedr\u00fcckt k\u00f6nnen wir sagen : Bei der (k\u00fcnstlichen oder domesticirten) Rassenbildung wird nicht die Summe der idioplas-matischen Anlagen, sondern nur das Gleichgewicht zwischen denselben oder das Verh\u00e4ltniss von manifest werdenden und latent bleibenden Anlagen ge\u00e4ndert; bei der (nat\u00fcrlichen) Variet\u00e4tenbildung dagegen vermehrt sich die Summe der Anlagen. Bei der ersteren wird die Configuration des idioplasmatischen Systems durch Verschiebung von Micellgruppen bloss modificirt, bei der letzteren aber durch Einschiebung neuer Gruppen, durch sch\u00e4rfere Scheidung der vorhandenen Gruppen und durch Differenzirung in ihrem Innern erweitert und bereichert.","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"248\nV. Variet\u00e4t, Baase, ErnAhrungsmodiflcation.\nDie Variet\u00e4ten unterscheiden sich von den Rassen im allgemeinen durch ihre Einf\u00f6rmigkeit und Best\u00e4ndigkeit. Die Einf\u00f6rmigkeit r\u00fchrt daher, dass die n\u00e4mlichen ab\u00e4ndemden Ursachen auf die Individuen einer Sippe einwirken, die Best\u00e4ndigkeit daher, dass Kreuzung zwischen Variet\u00e4ten nicht h\u00e4ufig stattfindet und dass die Bastarde in der Concurrenz bald unterliegen und verdr\u00e4ngt werden. Als Beispiel und Beweis hief\u00fcr kann die grosse Mehrzahl der Pflanzensippen angef\u00fchrt werden. Qleichwohl gibt es F\u00e4lle, welche bez\u00fcglich der Einf\u00f6rmigkeit der Variet\u00e4ten scheinbar eine Ausnahme machen; es gibt in wenigen Gattungen auch vielf\u00f6rmige Variet\u00e4ten.\nUm diese Ausnahme zu verstehen und it das richtige Verh\u00e4ltnis zur Regel zu bringen, m\u00fcssen wir die Entstehung der Variet\u00e4ten etwas genauer betrachten. Es wird sich dann zeigen, dass die Einf\u00f6rmigkeit und Vielf\u00f6rmigkeit derselben auf den n\u00e4mlichen Ursachen beruhen und eigentlich die n\u00e4mliche Erscheinung nur in verschiedener Abstufung sind. Wir m\u00fcssen aber zum voraus fenthalten, daas die Eigenschaften der Variet\u00e4ten nur erbliche sein k\u00f6nnen, und also die mannigfaltigen, unendlich abgestuften, nicht erblichen Merkmale, welche die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse unmittelbar hervorbringen, nicht die Vielf\u00f6rmigkeit der Variet\u00e4t, sondern die Vielf\u00f6rmigkeit der Modification bestimmen, von der ich nachher sprechen werde. Eine andere, durch die Kreuzung bervorgebrachte Vielf\u00f6rmigkeit ist, da dieselbe der Rassenbildung angeh\u00f6rt, ebenfalls auszuschliessen ; ich werde aber, weil \u00abs sich hier um erbliche Eigenschaften handelt, die Grenze zu bestimmen suchen, wo die Variet\u00e4tenfaildung aufh\u00f6rt und die Rassenbildung beginnt.\nDie Vielf\u00f6rmigkeit der Variet\u00e4ten gibt sich in den Anpassungsmerkmalen kund und beruht auf der Mannigfaltigkeit der \u00e4usseren Einwirkungen und auf den verschiedenartigen Reactionen, welche in den n\u00e4mlichen Organismen eintreten k\u00f6nnen. Wir haben zwei allgemeine F\u00e4lle zu unterscheiden, je nachdem n\u00e4chst verwandte Variet\u00e4ten r\u00e4umlich getrennt und somit isolirt, oder aber in der n\u00e4mlichen Gegend gesellschaftlich entstehen.\nEine einf\u00f6rmige Sippe begebe sich auf die Wanderung und verbreite sich so \u00fcber ein grosses Gebiet, dass ihre einzelnen Stationen zerstreut sind und nicht unter einander Zusammenh\u00e4ngen. Da die \u00e4usseren Ursachen sich mannigfaltig combiniren und abstufen, so","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"V. Variet\u00e4t, Baaae, Em\u00e4hinngunodification.\n249\nempf\u00e4ngt m\u00f6glicher Weise die Anpassung der Sippe in jeder Station einen etwas anderen Impuls und geht in eine etwas andere erbliche Form \u00fcber. Anf\u00e4nglich sind die neuen erblichen Merkmale gering und verschwinden unter den unbest\u00e4ndigen Modificationsmerkmalen. Sie werden nach und nach deutlicher; die eingewanderte einf\u00f6rmige Sippe ist vielf\u00f6rmig geworden.\nAber die Vielf\u00f6rmigkeit besteht, wenn wir sie als Vielf\u00f6rmigkeit der Variet\u00e4t auffassen, nur dann, dass die Formen der verschiedenen Stationen noch zu wenig von einander abweichen, um sie als eben so viele besondere Variet\u00e4ten zu betrachten. In Wirklichkeit sind es beginnende Variet\u00e4ten, die sich wie \u00e4chte Variet\u00e4ten verhalten; denn jede ist selbst einf\u00f6rmig und zeigt sich unter verschiedenen Em\u00e4hrungseinfl\u00fcssen constant, wie uns das Beispiel der Gattung Hieracium aufs deutlichste zeigt Bestehen die angegebenen Verh\u00e4ltnisse w\u00e4hrend hinreichend langer Zeitr\u00e4ume unver\u00e4ndert fort, so erlangen die Anpassungsmerkmale nach und nach ihre gr\u00f6estm\u00f6g-liehe Ausbildung, und die beginnenden Variet\u00e4ten k\u00f6nnen schliesslich zu entschiedenen Variet\u00e4ten und Arten werden.\nIn dem vorstehenden Falle wurde angenommen, d<u\u00ab die auf jede Station gekommene einf\u00f6rmige Sippe in allen ihren Individuen durch die daselbst herrschenden einf\u00f6rmigen Einfl\u00fcsse die n\u00e4mlichen Eindr\u00fccke empfangen und sich demgem\u00e4ss gleichf\u00f6rmig umgebildet habe. Diesses Ergebnis\u00ab wird aber nur ziemlich selten eintreffen, da aus verschiedenen Gr\u00fcnden eine ungleichartige Ab\u00e4nderung der Individuen, welche auf derselben Station leben, wahrscheinlich ist. Die n\u00e4chstliegende M\u00f6glichkeit besteht darin, dtum die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse, welche erbliche Ab\u00e4nderungen bedingen, nicht gleichartig sind und daher auch ungleiche Anpassungen bewirken. Eine andere M\u00f6glichkeit ist aber auch die, dass gleichartige \u00e4ussere Einfl\u00fcsse bei verschiedenen Individuen verschiedene Reactionen hervorrufen. Sind die Einfl\u00fcsse sch\u00e4dlicher Natur, so stehen dem Organismus oft verschiedene Mittel zu Gebote, um sich dagegen zu sch\u00fctzen ; sind sie g\u00fcnstig, so vermag er sich dieselben durch verschiedene neue Einrichtungen nutzbar zu machen. Es k\u00f6nnen also bei scheinbar gleichartigen Organismen auf scheinbar gleichartige \u00e4ussere Einwirkungen hin ungleichartige Anpassungsmerkmale entstehen.\nDieser Ausspruch darf nicht missverstanden werden. Es ist selbstverst\u00e4ndlich, dass identische Organismen unter identischen","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nV. Variet\u00e4t, Rasse, Ern\u00e4hrongsmodiflcation\n\u00e4usseren Verh\u00e4ltnissen auch nur in ganz gleicher Weise sich ver\u00e4ndern. Aber es sind, wenn auch die als Beiz wirkende ab\u00e4ndernde Ursache die n\u00e4mliche ist, theils die Dispositionen in den Individuen, theils die \u00e4usseren Umst\u00e4nde, welche da\u00ab Wachsthum der Individuen bedingen, ungleich. Bei den Pflanzen ist die Nahrung, die Feuchtigkeit, der Lichteinfluss, die Einwirkung der organischen Umgebung oft auf die k\u00fcrzesten Entfernungen ungleich, und wenn dadurch auch bloss die Ern\u00e4hrung modificirt wird, so hat die Ern\u00e4hrung, wiewohl sie nicht in director Weise erbliche Ver\u00e4nderungen bewirkt, doch ebenso wie auf die Entfaltung der idioplasmatischen Anlagen, auch auf die Bildung derselben einen f\u00f6rdernden oder hemmenden Einfluss. Machen wir beispielsweise die Annahme, eine Pflanze sei ilirer Natur nach bef\u00e4higt, auf den Reiz, den der Angriff eines Thieres auf die Frucht aus\u00fcbt, drei verschiedene Reactionen zum Schutze der Samen eintreten zu lassen : entweder bilden sich bittere und giftige Stoffe in der Fruchtwandung, oder die Fruchtwandung wird hart und fest, oder sie bewehrt sich mit stachlichen Ausw\u00fcchsen. Hat die Pflanze eine gleiche Neigung zu diesen Reactionen, so kann die Wahl der einen oder andern durch die ungleiche Ern\u00e4hrung bestimmt werden.\nEs kann also in den gesellschaftlich lebenden Individuen einer Sippe die Anpassung aus verschiedenen Gr\u00fcnden in ungleicher Weise beginnen. Wie ich fr\u00fcher wahrscheinlich gemacht liabe, trifft die von \u00e4usseren Reizen bewirkte erbliche Ver\u00e4nderung zuerst das Idioplasma. W\u00fcrde sie aber auch in prim\u00e4rer Weise den entfalteten Organismus treffen, so m\u00fcsste doch gleichzeitig das Idioplasma mit ver\u00e4ndert werden, weil sonst eine Vererbung unm\u00f6glich w\u00e4re. Ich kann also f\u00fcr alle F\u00e4lle die Ver\u00e4nderung des Idioplasmas der Betrachtung zu Grunde legen.\nSind nach Lage der Umst\u00e4nde mehrere Anpassungen m\u00f6glich, so kann die begonnene Ver\u00e4nderung denkbarer Weise durch zwei Ursachen gest\u00f6rt werden, 1) dadurch, dass die Abstammungslinien, deren Anpassung unter bestimmten Einfl\u00fcssen angefangen hat, durch die Verbreitung der Keime unter andere, eine verschiedenartige Anpassung bedingende, Einfl\u00fcsse kommen, 2) dadurch, dass die Individuen jener verschiedenen Abstammungslinien sich mit einander kreuzen.\nUm die erste Frage zu er\u00f6rtern, nehmen wir am zweckm\u00e4ssigstcn an, dass die Organismen sich auf ungeschlechtlichem Wege fort-","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"V. Variet\u00e4t, Baue, Ern\u00e4hrungsmodification.\n251\npflanzen, um dadurch die Complication uer Kreuzung zu eliminiren. Wechselt nun eine Abstammungslime ein- oder mehrmals ihren Aufenthalt, so dass bald die einen bald die anderen F.inflna<fa auf sie einwirken, so kann das Ergebniss sehr ungleich ausfallen, je nach dem gegenseitigen Verhalten der verschiedenen Anlagen, die den einen und den anderen Einfl\u00fcssen entsprechen. Wir k\u00f6nnen in dieser Beziehung folgende vier F\u00e4lle unterscheiden.\n1.\tDer einfachste Fall ist, dass die verschiedenartigen Einfl\u00fcsse Anpassungsanlagen (P, Q, R ...) hervorbringen, welche unabh\u00e4ngig von einander sind, sich neben einander bilden und deren Entfaltungsmerkmale ebenfalls neben einander bestehen k\u00f6nnen. Der Erfolg wird nun von der L\u00e4nge der Zeit abh\u00e4ngen, w\u00e4hrend welcher jede Abstammungslinie die einen und die anderen Einfl\u00fcsse erfahren hat. Es grenzen beispielsweise zwei Standorte an einander, von denen der eine die Anpassungsanlage P, der andere die Anlage Q bewirkt; die Uebersiedelung von einem Standort auf den andern findet h\u00e4ufig statt. Auf den beiden Standorten kommen somit durch einander Individuen vor, in denen die beiden Anlagen P \u00bbnd Q ungleich weit entwickelt sind, deren St\u00e4rke selbstverst\u00e4ndlich im umgekehrten Verh\u00e4ltniss zu einander steht. Geht die Entfaltung der Merkmale Hand in Hand mit der Entstehung der Anlagen, so finden sich auf jedem Standort alle m\u00f6glichen Abstufungen der beiden Merkmale. M\u00fcssen aber die Anlagen eine gewisse St\u00e4rke erlangen, ehe sie entfaltungsf\u00e4hig werden, so wird es ein Stadium geben, in welchem die einen Individuen bloss die Anlage P, die anderen bloss die Anlage Q zur Entfaltung bringen, indess in einer dritten Partie von Individuen sowohl P als Q noch nicht entfaltungsf\u00e4hig sind. Dem entsprechend beherbergt jeder Standort drei dem \u00e4usseren Ansehen nach verschiedene Formen, von denen die eine die urspr\u00fcngliche, unver\u00e4nderte Form darstellt, die beiden andern je ein neues Merkmal aufweisen. H\u00f6ren die ab\u00e4ndernden Elinfl\u00fcsse in diesem Stadium auf, indem z. B. eine neue Wanderung eintritt, so k\u00f6nnen die drei Formen f\u00fcr alle Zeiten verschieden bleiben.\n2.\tDie \u00e4usseren Ursachen, welche auf zwei neben einander befindlichen Standorten th\u00e4tig sind, bewirken zwei vicarirende Anlagen Pund Pi, die sich zu einander verhalten wie die n\u00e4mlichen Gr\u00f6ssen mit positivem und negativem Vorzeichen. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn die eine Ursache auf die Vergr\u00f6sserung, die andere","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nV. Variet\u00e4t, Raise, Ernfthrangamodiflcatkin,\nauf die Verkleinerung eines Organs hin arbeitet, wenn die eine Ursache die Zahl der Zellen und der Organe vermehrt, die andere sie beschr\u00e4nkt, wenn die eine Ursache eine Eigenschaft hervorruft, die andere sie austilgt Ist dies der Fall, so wird bei der Uebersiedelung von dem einen Standort auf den andern die bisherige Anpassungs-Ver\u00e4nderung wieder r\u00fcckg\u00e4ngig gemacht, und die beide Standorte bewohnende Sippe bleibt um so gleichf\u00f6rmiger, je \u00d6fter ein solcher Wechsel eintritt\n3.\tDie zwei vicarirenden Anlagen P und Q, welche durch die \u00e4usseren Ursachen bedingt werden, sind zwei divergiiende Bewegungen, die aber nicht diametral auseinandergehen und sich nicht gegenseitig aufheben, sondern nach einer Seite gewendet sind und daher eine Vereinigung in eine resultirende PQ zulassen. Es vereinigen sich also die beiden Anlagen zu einer gemeinschaftlichen Anlage, welche, wenn die Ursachen wieder auf zwei benachbarten Standorten getrennt sind, um so mehr von P oder um so mehr von Q enth\u00e4lt, je nach der L\u00e4nge der Zeit, w\u00e4hrend welcher eine Abstammungslinie auf jedem der beiden Standorte gelebt hat Viele Bastarde geben uns ein Bild von der Vereinigung der\nwie sie in der freien Natur ohne Kreuzung durch den Finfln\u00ab verschiedenartiger Ursachen zu Stande kommen kann. So gibt es auch Pflanzenbastarde zwischen Variet\u00e4ten und Arten, die den nat\u00fcrlich und selbst\u00e4ndig entstandenen Zwischenformen sehr \u00e4hnlich sind.\nWenn in den unter 2. und 3. aufgef\u00fchrten F\u00e4llen die Entfaltung der Anlagen gleichen Schritt h\u00e4lt mit der Entstehung derselben, so finden sich einige Zeit, nachdem die einf\u00f6rmige Sippe auf die beiden Standorte gekommen ist, auf jedem derselben eine Reihe von Formen beisammen, die sich zwischen zwei Extremen abstufen. Muss aber die Anlage, um entfaltungsf\u00e4hig zu werden, eine gewisse St\u00e4rke der Ausbildung erlangt haben, so stellt sich einige Zeit nach der Einwanderung neben der urspr\u00fcnglichen unver\u00e4nderten Form eine zweite abge\u00e4nderte ein.\n4.\tVon den vicarirenden Merkmalen kann nur eines sich entfalten, w\u00e4hrend ihre Anlagen P, Q, R im Idioplasma entweder ungehemmt neben einander sich entwickeln oder aber sich gegenseitig mehr oder weniger beschr\u00e4nken, so dass, wenn die eine vorhanden ist, sie die Bildung der anderen verz\u00f6gert oder verhindert. Der ung\u00fcnstige Einfluss einer vorhandenen Anlage auf die entstehenden","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"253\nV- Variet\u00e4t, Baase, Erntthrungamodiflcation.\nvicarirenden Anlagen tritt leicht in den so h\u00e4ufigen F\u00e4llen ein, in denen diese Anlagen die verschiedenen Reactionen auf den n\u00e4mlichen \u00e4usseren Reiz darsteiler. Hat nun eine Abstammungslinie unter bestimmten Umst\u00e4nden die Anpassungs\u00e4nderung P begonnen und gelangt sie unter Verh\u00e4ltnisse, welche der Anpassung Q g\u00fcnstiger sind, so f\u00e4hrt m\u00f6glicher Weise die Anlage P dennoch fort zu wachsen, statt durch Q verdr\u00e4ngt zu werden. Das N\u00e4mliche kann mit der Anlage Q geschehen, deren Tr\u00e4ger unter Verli\u00e4ltnisse kommen, welche die Anpassung P veranlassen. So bilden sich da und dort neben einander zwei Formen aus, von denen die eine die Anlage P, die andere die Anlage Q zur Entfaltung bringt.\nUm den Vorgang dem Verst\u00e4ndnisse noch n\u00e4her zu bringen, will ich ein specielles Beispiel w\u00e4hlen. Es komme eine einf\u00f6rmige Pflanzensippe durch Wanderung in ein w\u00e4rmeres oder k\u00e4lteres Klima. Die ungew\u00f6hnliche Temperatur wirkt als Reiz und bringt je nach den beg\u00fcnstigenden Factoren (Feuchtigkeit oder Trockenheit des Bodens und der Luft, Beleuchtung oder Beschattung, ungleiche Nah-rung, ungleiche vegetabilische Umgebung) verschiedene Anpassungen \u2022P\u00bb Q\u00bb P hervor. Hat die Anlage P auf einem trockenen, sonnigen, mageren, kalkreichen, mit kurzem Rasen bedeckten Standort begonnen, so setzt sie auf anderen Standorten, welche feuchter oder schattiger oder reicher an N\u00e4hrstoffen oder kalkarm oder mit grossen Stauden besetzt sind, ihre Ausbildung gleichwohl ungest\u00f6rt fort. Die anderen Anpassungsanlagen Q und R verhalten sich ihrerseits ebenso; sie fangen auf bestimmten Standorten an und entwickeln sich nachher auf anderen Standorten weiter, da der Reiz, den die Temperatur aus\u00fcbt, \u00fcberall der n\u00e4mliche ist. Es k\u00f6nnen also die verschiedenen, diesem Reiz entsprechenden Anpassungsformen in Gesellschaft nebeneinander auf verschiedenen Standorten sich ausbilden.\nDass der Vorgang in der geschilderten Art eintrete, m\u00fcssen drei Bedingungen erf\u00fcllt sein: es m\u00fcssen die vicarirenden Anlagen einander in ihrer Ausbildung in hinreichendem Maasse beschr\u00e4nken; es muss ferner die eine Anlage in hinreichend bestimmtem Grade angefangen haben; es m\u00fcssen endlich, gegen\u00fcber der als Reiz wirkenden allgemeinen Ursache, die \u00fcbrigen \u00e4usseren Einfl\u00fcsse nicht so stark auf das Idioplasma einwirken, dass sie die Verdr\u00e4ngung der bereits vorhandenen Anlage und Entstehung einer neuen verursachen. Was das Verhalten der idioplasmatischen Anlagen vica-","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\tV. Variet\u00e4t, Hum, Erntthrungamodiflcation.\nri render Merkmale zu einander betrifft, so kommt es in manchen FUlen m\u00f6glicher Weise bloes auf den ersten Anstoss an; derselbe entscheidet dann, indem er bestimmte Spannungen im Idioplasma ausl\u00f6et, ob die Reaction auf den Reiz fortan in der einen oder anderen Weise erfolge. Die Anpassung kann in diesem extremen Fall auch unter ver\u00e4nderten \u00e4usseren Umst\u00e4nden, vorausgesetzt dass der massgebende Reiz in der n\u00e4mlichen Weise fortwirkt, nicht mehr umgewandelt werden.\nEs ist kaum n\u00f6thig die Erscheinungen zu besprechen, welche in dem entgegengesetzten Extrem eintreten, wenn mbnltoli die vica-rirenden Anlagen ungehindert neben einander im Idioplasma entstehen und bestehen k\u00f6nnen. Wechseln in diesem Falle die Abstammungslinien die Standorte, so steht die Weiterbildung der \u00fcbrigen Anpassungsanlagen still, und es bildet sich nur die dem jeweiligen Standort entsprechende Anlage aus. Es kann also eine Anlage bloss auf ihrem Standorte entfaltungsf\u00e4hig werden. Ist sie \u00abinwml in diesen Zustand gelangt, so entfaltet sie sich fortan ebenfalls, wenn die Abstammungslinie auf andere Standorte \u00fcbersiedelt Es kommen daher auch in diesem Falle auf den verschiedenen Standorten die verschiedenen Anpassungsformen (P, Q, B) und vielleicht die urspr\u00fcngliche noch unver\u00e4nderte Form gesellschaftlich vor, obgleich man hier nicht von einem gesellschaftlichen Entstehen sprechen kann.\nIch habe bis jetzt die Ergebnisse betrachtet, welche eintreten m\u00fcssen, wenn verschiedene \u00e4ussere Einfl\u00fcsse auf die Anpassung von gesellschaftlich beisammen lebenden Individuen einer Sippe ein wirken, insofern dieselben auf ungeschlechtlichem Wege sich fortpflanzen. Der Mangel einer geschlechtlichen Fortpflanzung kommt aber normal nur den niedrigsten Pflanzen zu; die h\u00f6heren Gew\u00e4chse entbehren derselben h\u00f6chstens ausnahmsweise und als abnormale Erscheinung. Die gesellschaftlich lebenden Pflanzen k\u00f6nnen sich, da sie Geschlechtsorgane besitzen, gegenseitig befruchten; es sind daher die gewonnenen Ergebnisse nicht ohne weiteres als die in Wirklichkeit vorhandenen in Anspruch zu nehmen, sondern es muss erst noch untersucht werden, ob und wiefern dieselben durch die Kreuzung modifient werden.\nWir k\u00f6nnen uns die Wirkung der Kreuzung auf die Variet\u00e4tenbildung am besten klar machen, wenn wir die m\u00f6glichen F\u00e4lle, die ich unter Nr. 1\t4 unterschieden habe, der Reihe nach getrennt","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"V. Variet\u00e4t, fiaaae, Ern\u00e0hrungwnodiflcation.\n265\nbetrachten. Sind die entstehenden Anlagen unabh\u00e4ngig von einander und k\u00f6nnen ihre Entfaltungsmerkmale neben einander bestehen, wie es unter Nr. 1 (S. 261) angenommen wurde, so hat die Kreuzung der Abetammung8linien, in denen eine ungleiche Anpassung begonnen hat, im allgemeinen keinen anderen Erfolg, als ein Wechsel der Standorte. Sie vereinigt die verschiedenen Anlagen und Merkmale, wobei als Grundsatz festzuhalten ist, dass der Erbtheil der beiden Eltern sich ziemlich die Wage h\u00e4lt und dass Vater und Mutter ihrem Wesen nach, d. h. mit ihren idioplasmatischen Anlagen je zur H\u00e4lfte in dem Kinde enthalten sind. Wir k\u00f6nnen uns von dem einzelnen Kreuzungsfall eine bestimmte Vorstellung machen, wenn wir die begonnenen Anlagen je nach der St\u00e4rke, die sie erlangt haben, durch numerische Werthe bezeichnen, und durch 1 diejenige St\u00e4rke ausdr\u00fccken, wodurch die Anlage eben entfaltungsf\u00e4hig geworden ist. Folgendes Beispiel mag das Verhalten von 4 jungen Anlagen P, Q, lt, 8 bei der Kreuzung deutlich machen.\n\tP\tQ\tB\t8\nVater . .\t. 0,6\t2,0\t1,2\t0,3\nMatter . .\t. 1,8\t0,4\t0,6\t1,2\nKind . .\t. 1,16\t1,2\t0,9\t0,75\nIm Vater waren die Anlagen Q und R, in der Mutter die Anlagen Pund 8 in den ersten Entfaltungszust\u00e4nden sichtbar geworden; P und 8 waren im Vater, Q und R in der Mutter noch latent. Die Vermischung des v\u00e4terlichen und m\u00fctterlichen Idioplasmas hat zur Folge, dass in dem Kinde ein Merkmal des Vaters (R) und eines der Mutter (S) wieder latent geworden sind. Solche Schwankungen werden durch die Kreuzung nothwendig im Entwicklungsgang der einzelnen Abstammungslinien hervorgebracht; dadurch wird aber die Bildung der Variet\u00e4ten im grossen und ganzen nicht erheblich beeintr\u00e4chtigt.\nWenn zwei vicarirende Anlagen eine Vereinigung gestatten, wie dies unter Nr. 2 und 3 (S. 251, 252) der Fall ist, so hat die Kreuzung zweier ungleich abge\u00e4nderter Abstammungslinien genau das gleiche Ergebniss, wie wenn die beiden Abstammungslinien w\u00e4hrend einer hinreichenden Zeitdauer auf den vertauschten Standorten lebten.\nDer wichtigste und wohl auch am h\u00e4ufigsten vorkommende Fall ist der, dass die vicarirenden Merkmale sich gegenseitig aus-schliessen, da eine Vereinigung derselben unzul\u00e4ssig ist, wobei ihre Anlagen meistens in ihrer Bildung sich gegenseitig mehr oder weniger","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"266\nV. Vuriettt, Baase, Em&hrungunodificatioo\nbeeintr\u00e4chtigen (Nr. 4, S. 262). Tritt geschlechtliche Vermischung zwischen Abstammungslinien ein, welche ungleiche Anpassungsanlagen zu bilden angefangen haben, so wird je nach dem Grade der Unduldsamkeit entweder der schw\u00e4chere Anfang aus dem Idio-plasma des Keimes ganz ausgeschlossen, oder er wird zwar darin aufgenommen, aber in eine untergeordnete Stellung verwieson, w\u00e4hrend der st\u00e4rkere Anfang beg\u00fcnstigt ist und sich in der Folge unter der fortdauernden Einwirkung der allgemeinen Anpassungsursache auch unter verschiedenen anderweitigen Einfl\u00fcssen allein oder vorzugsweise entwickelt. Sind aber die ungleichartigen Anpassungsanf\u00e4nge in den beiden Eltern von gleicher St\u00e4rke, dann muss sich bei der Keimbildung entscheiden, welcher von den beiden Anf\u00e4ngen die bevorzugte Stellung im Idioplasma einzunehmen hat, gerade so wie in jenem Zeitpunkt auch die Entscheidung getroffen wird, ob das m\u00e4nnliche oder das weibliche Geschlecht der Eltern in dem Keime Platz greifen soll. In dem extremen Fall, welcher darin besteht, dass die beiden verschiedenartigen Anpassungsanf\u00e4nge der Eltern als gleichwertige Bestandteile in das Idioplasma des Kreuzungs-productes aufgenommen werden, entwickelt sich der eine oder andere je nach den anderweitigen \u00e4usseren Einflflaaftn weiter.\nVon diesen verschiedenen Vorg\u00e4ngen k\u00f6nnen wir uns eine Vorstellung machen, wenn wir in zahlreichen Bastarden von nat\u00fcrlichen Variet\u00e4ten und von Arten die einzelnen Merkmale genau mit denen der Eltern vergleichen. In diesem Falle liegt zwar die Sache etwas anders als bei entstehenden Variet\u00e4ten, da das elterliche Idioplasma fertige Anlagen enth\u00e4lt, die mit gr\u00f6sserer Z\u00e4higkeit ihr Recht, in das kindliche Idioplasma aufgenommen zu werden, behaupten. Gleichwohl sehen wir oft das eine oder andere schw\u00e4chere Merkmal, das nur dem einen von den Eltern zukommt, ganz verschwinden, w\u00e4hrend die st\u00e4rkeren Merkmale zu unnat\u00fcrlichen und f\u00fcr die Dauer unhaltbaren Vereinigungen zusammentreten.\nEs unterliegt also keinem Zweifel, dass zwei oder mehrere Variet\u00e4ten, deren unterscheidende Merkmale nicht nebeneinander sich zu entfalten verm\u00f6gen, gesellschaftlich entstehen k\u00f6nnen, und dang die allf\u00e4llige Kreuzung der verschiedenartigen Abstammungslinien keineswegs ein Hindemiss ihrer strengen Scheidung abgibt. Im ung\u00fcnstigsten Falle enthalten die Individuen der einen Variet\u00e4t die Anlagen der anderen Variet\u00e4t im nicht entfaltungsf\u00e4higen Zustande.","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"V. Variet\u00e4t, Raue, Ern\u00e4hrungsmodifr-ation.\t26?\nIn vielen F\u00e4llen aber sind diese Anlagen verk\u00fcmmert oder mangeln auch g\u00e4nzlich.\nDieses Resultat, das schon aus dem gegenseitigen Verhalten der Anlagen allein sich ergibt, wird durch zwei Umst\u00e4nde sehr merklich gef\u00f6rdert. Einmal treten wegen der r\u00e4umlichen Vertheilung der Individuen die Kreuzungen zwischen den in ungleicher Weise ab-\u00e4ndernden Abstammungslinien besonders im Anh\u00e4nge seltener ein. Die ungleichen Anpassungen werden ja im allgemeinen stets unter verschiedenartigen \u00e4usseren Einfl\u00fcssen beginnon, also wenigstens urspr\u00fcnglich r\u00e4umlich getrennt sein; diese r\u00e4umliche Trennung wird jedoch durch die Verbreitung der Samen u id durch die Verbreitung des die Kreuzung bewirkenden Bl\u00fcthenstaubes bald gest\u00f6rt und dann immer mehr verwischt. Die in gleicher Weise ab\u00e4ndernden Individuen sind also urspr\u00fcnglich beisammen, und die Inzucht zwischen ihnen ist gegen\u00fcber der Kreuzung mit einer unter anderen Verh\u00e4ltnissen beginnenden Variet\u00e4t ausserordentlich beg\u00fcnstigt. Es ist somit wenigstens ein bestimmter Anfang der Anpassungsver\u00e4nderung gesichert.\nSowie nun die Ver\u00e4nderung des Idioplasmas in eine bestimmte Bahn eingelenkt hat, so tritt ein neues wichtiges Moment hiezu, welches das Verlassen dieser Bahn verhihdem hilft Die Individuen sind nunmehr ihrer Natur nach zur Begattung mit solchen Individuen, in denen eine andersartige Ver\u00e4nderung des Idioplasmas begonnen hat, weniger geneigt, und es erfolgt, auch wenn durch die Verbreitung der Samen eine r\u00e4umliche Vereinigung der verschiedenartig ab\u00e4ndernden Abstammungslinien eingetreten ist, die Kreuzung zwischen denselben viel sp\u00e4rlicher als die Befruchtung durch Inzucht. Wir d\u00fcrfen dies mit Sicherheit aus der so vielfach best\u00e4tigten That-sache schliessen, dass n\u00e4chst verwandte Variet\u00e4ten, deren verschiedene Merkmale eine Vereinigung in einem Bastard wohl zulassen w\u00fcrden, in der Natur gesellschaftlich auf den n\u00e4ifilichen Standorten ohne alle Kreuzungsproducte oder nur mit sp\u00e4rlichen Zwischenformen Vorkommen. Diese Thatsache beweist, dass den (nat\u00fcrlichen) Variet\u00e4ten schon in Folge geringster Verschiedenheit in der Constitution des Idioplasmas eine Abneigung vor geschlechtlicher Vereinigung einwohnen kann. Ich werde dies in dem folgenden Abschnitt bei der Beurtheilung der von Darwin gezogenen Schlussfolgerung von der Rassenbildung auf die Variet\u00e4tenbildung weiter ausf\u00fchren.\nV. Nfcgell, Abstammungslehre.\t17","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"268\nV. Variet\u00e4t, Rasse, \u00cbrn\u00e2hrungstDodi\u00e0cation.\nIch habe in den vorstehenden Betrachtungen bez\u00fcglich der Variet\u00e4tenbildung bloss die Entstehung der hervorragenden An-passungsmerkmale ber\u00fccksichtigt, weil darin jedenfalls der entscheidende Anstoss enthalten ist. Die Verftnderung beschr\u00e4nkt sich freilich nicht hierauf, sondern gibt sich noch in einer Zahl von Erscheinungen kund, die aber als die Folgen jener Anpassung zu betrachten sind. Die Einf\u00fcgung einer neuen idioplasmatischen Anlage, welche dem Anpassungsmerkmale entspricht, veranlasst selbstverst\u00e4ndlich verschiedene gr\u00f6ssere und geringere Umbildungen in der Configuration des Idioplasmas, f\u00fchrt Modificationen anderer Merkmale herbei und kann schliesslich den ganzen Habitus umgestalten. Es sind dies nach meiner Ansicht secundftre Erscheinungen, und dieVariet\u00e4tenbildung wird urs\u00e4chlich nur durch die eigentlichen Anp&ssungsmerkmale bestimmt.\nZiehen wir die Summe, so ergibt sich, dass in vielen F\u00e4llen, wenn n\u00e4mlich die Anpassungsmerkmale sich ausschliessen, die Entstehung mehrerer Variet\u00e4ten und die divergirende Ausbildung derselben unter den gesellschaftlich beisammen lebenden Individuen einer Sippe durch die Kreuzung weder verhindert noch \u00fcberhaupt gest\u00f6rt und auch durch hybride Zwischenformen nicht maskirt wird. Die beginnenden und sich entwickelnden Variet\u00e4ten machen die Sippe zwar mehrf\u00f6rmig, sie selber aber sind einf\u00f6rmig. Mit diesem theoretischen Ergebniss stimmen die Erfahrungstatsachen \u00fcber das gemeinsame Vorkommen n\u00e4chst verwandter Variet\u00e4ten vollkommen \u00fcberein.\nIn andern F\u00e4llen, wenn n\u00e4mlich die Anpassungsmerkmale sich nicht beeintr\u00e4chtigen, ist zwar das gesellschaftliche Entstehen zweier oder mehrerer Variet\u00e4ten aus einer einf\u00f6rmigen Sippe keine Unm\u00f6glichkeit; sie wird aber meistens durch die Kreuzung verhindert. Solche Variet\u00e4ten haben gew\u00f6hnlich einen r\u00e4umlich getrennten Ursprung; wobei sie vor der Kreuzung gesichert sind. Kommen sie nachtr\u00e4glich durch Verbreitung der Samen zusammen, so entstehen durch Kreuzung Bastardformen, welche je nach Umst\u00e4nden eine vollst\u00e4ndige Uebergangsreihe oder nur vereinzelte Zwischenglieder darstellen, aber, weil sie in viel zu geringer Zahl vorhanden sind, das gesellschaftliche Fortbestehen der Variet\u00e4ten und ihre weitere Ausbildung nicht mehr zu verhindern verm\u00f6gen. \u2014 Die genannten Kreuzungsproducte geben den Variet\u00e4ten den Anschein","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"V. Variet\u00e4t, Rasse, \u00cbm\u00e2hr\u00fcngsmodification.\n259\nder erblichen Vielf\u00f6rmigkeit, denn die einzelnen Formen bleiben bei Reinzucht erhalten. Es ist aber eigentlich nur die Rassen-vielf\u00f6rmigkeit, welche sich zwischen die einf\u00f6rmigen Variet\u00e4ten hineinlagert.\nDie durch Kreuzung von Variet\u00e4ten (oder Arten) entstehenden Bastarde sind f\u00fcr die Variet\u00e4ten- und Artbildung beinahe ohne Bedeutung, indem sie nichts Neues und Selbst\u00e4ndiges hervorbringen und auch die fernere Entwicklung der Sippen kaum modificiren. Dagegen ist ihr Vorhandensein f\u00fcr die Beurtheilung der Sippen von grossem Werth, indem es einen nahen Verwandtschaftsgrad und somit einen nicht allzufernen gemeinsamen Ursprung derselben anzeigt.\nDie Variet\u00e4t wird nur durch die erblichen Eigenschaften bestimmt; dies gilt auch von der Rasse, und wenn ich bis jetzt von Rasse gesprochen habe, so setzte ich bloss erbliche Merkmale als zum Begriff derselben geh\u00f6rig voraus ; nur in dieser Beschr\u00e4nkung hat der Begriff eine wissenschaftliche Bedeutung. Dies bleibt oft unbeachtet, und besonders die Praktiker nehmen als Rassenmerkmale auch Ern\u00e4hrungsmodificationen in Anspruch. Deswegen konnte mir auch, als ich vor Jahren die Behauptung ausgesprochen, die Ern\u00e4hrung ver\u00e4ndere weder Variet\u00e4ten noch Rassen, erwiedert werden, dass dies der Erfahrung widerspreche, nach welcher viele Rassen bloss bei einer bestimmten Ern\u00e4hrung constant bleiben. Der Einwurf war ja vollkommen richtig, wenn man dem Begriff eine unwissenschaftliche Ausdehnung gab. Artet die Rasse einer Pflanze, welcher bestimmte D\u00fcngung und Cultur, die Rasse eines Thieres, welchem bestimmtes Futter und Pflege entzogen werden, aus, indem sie gewisse Ern\u00e4hrungsmerkmale verliert, so liegt darin gerade der Beweis, dass man es nicht mit einer Rasse im strengen Sinne zu thun hat, dass ihre Eigenschaften, soweit dieselben ausarten, nicht erblich sind. Es mag nun f\u00fcr den Praktiker bequem und n\u00fctzlich sein, mit dem Ausdruck Rasse auch die ver\u00e4nderlichen Ern\u00e4hrungsmodificationen zu bezeichnen, und dies um so mehr, als den letzteren, wenn sie in der Cultur entstehen, h\u00e4ufig etwas Best\u00e4ndiges und Erbliches beigemengt ist. Aber auf wissenschaftliche Er\u00f6rterungen darf dieser Missbrauch keinen Einfluss gewinnen. Unter Rassenmerkmalen d\u00fcrfen nur solche verstanden werden, welche unter\n17*","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nV. Variet\u00e4t, Rasse, Ern\u00e4hrangsmodiflcation.\nverschiedenen \u00e4usseren Verh\u00e4ltnissen sich eine Zeit lang vererben; von ihnen muss man sorgf\u00e4ltig alle nicht vererblichen Eigenschaften aus8cheiden.\nDie Individuen, die einer Rasse angeh\u00f6ren, haben selbstverst\u00e4ndlich immer auch Modificationsmerkmale an sich, da sie sich in einem bestimmten Ern\u00e4hrungszustand befinden m\u00fcssen, \u2014 und die Aufgabe der Wissenschaft ist es, die letzteren von den erblichen Eigenschaften zu unterscheiden. Im allgemeinen lassen sich die Merkmale zum voraus ziemlich scharf trennen. In den Formen, die durch Bastardirung entstanden sind, geh\u00f6ren die von den Eltern \u00fcberkommenen hybriden Merkmale, in den Formen, die aus krankhaften Ver\u00e4nderungen hervorgegangen, diese krankhaften Merkmale der Rasse an. Was dagegen die sog. Pfropfbastarde betrifft, so l\u00e4sst sich nach den meist wenig kritischen und wenig zuverl\u00e4ssigen Angaben nichts allgemein G\u00fcltiges aussagen. Es ist sicher, dass in der Mehrzahl der F\u00e4lle die Unterlage des Pfropfreises demselben nur Nahrung zuf\u00fchrt, und dass somit, wenn eine geringe Ver\u00e4nderung der Sorte eintritt, diese als vor\u00fcbergehende Ern\u00e4hrungs-modification und nicht als erbliche Rasseneigenschaft zu betrachten ist ; denn das Pfropfen dient ja gerade zur Conservirung der Rasse. In gewissen F\u00e4llen jedoch (Cytisus Adami, Pfropfhybriden von Kartoffeln) scheint das Pfropfreis und zwar unmittelbar durch das Pfropfen eine erbliche Ver\u00e4nderung zu erfahren, w\u00e4hrend es sp\u00e4terhin, f\u00fcr den Fall, dass die Vereinigung perennirend ist, nur indifferente Nahrung aus der Unterlage bezieht.\nIm concreten Fall ist es oft nicht leicht, die Ern\u00e4hrungsmerkmale und die eigentlichen Rassenmerkmale genau von einander zu unterscheiden, weil die letzteren zwar erblich, aber doch, ihrem Ursprung entsprechend, von geringer Constanz sind. Man muss sich daher wohl h\u00fcten, aus unvollst\u00e4ndigen Beobachtungen voreilige Schl\u00fcsse zu ziehen. Wenn man eine sog. Rasse von ihrem Urspr\u00fcnge aus verfolgen, wenn man sie l\u00e4ngere Zeit beobachten und mit ihr experimentiren kann, so mag es gelingen, die einzelnen Erscheinungen, welche an ihr bemerkbar sind, auf die urs\u00e4chlichen Momente zur\u00fcckzuf\u00fchren. Ist aber das Erfahrungsmaterial f\u00fcr einen Schluss unzureichend, so l\u00e4uft man immer Gefahr, Irrth\u00fcmer zu begehen.\nUm den Einfluss des Klimas auf die Pflanzen darzuthun, f\u00fchrt Darwin Beobachtungen von Metzger (Getreidearten S. 206) an einer","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"V. Variet\u00e4t, Rasse, Em\u00e4hrungsmodiflcation.\n261\namerikanischen Maissorte an, welche in Heidelberg im ersten Jahr eine H\u00f6he von 12 Fuss erreichte, in den folgenden Jahren kleiner wurde und zugleich Gestalt und Farbe der Samen ver\u00e4nderte, und in der sechsten Generation vollst\u00e4ndig einer europ\u00e4ischen Variet\u00e4t glich. An zwei anderen Maissorten wurden geringere Umwandlungen beobachtet. \u00bbDiese Thatsachen,\u00ab lautet die Folgerung Darwins, \u00bbbieten das merkw\u00fcrdigste mir bekannte Beispiel der directen und sofortigen Einwirkung des Klimas auf eine Pflanze dar. \u00ab\nNach meiner Ansicht sind die in diesem Falle \u00fcberlieferten Thatsachen viel zu unvollst\u00e4ndig, um \u00fcberhaupt zu einem Schluss auf die Ursachen zu berechtigen. Unbekannt ist der Ursprung und die Vorgeschichte der betreffenden amerikanischen Maissorten, \u2014 unbekannt die Verschiedenheit der klimatischen Einfl\u00fcsse ihres Vaterlandes und deren Heidelbergs, \u2014 unbekannt, ob an der in Heidelberg erfolgenden Umwandlung Kreuzung mitgewirkt habe oder nicht. Es liegt also der Antheil der Ern\u00e4hrungs- und klimatischen Einfl\u00fcsse gegen\u00fcber den Ursachen, welche erbliche oder eigentliche Rassenmerkmale erzeugen, um\u00e4ndern und vernichten, g\u00e4nzlich im Dunkeln. Es w\u00e4re ja m\u00f6glich, dass die fraglichen Sorten in Amerika unter Umst\u00e4nden eine gleiche Umwandlung erfahren. Damit soll nat\u00fcrlich nicht ausgesprochen werden, dass die Folgerung Darwins an und f\u00fcr sich unm\u00f6glich sei ; aber sie ist nur eine der verschiedenen M\u00f6glichkeiten, und somit keineswegs bewiesen.\nDass der Nichtbotaniker oder auch der Botaniker, der bis dahin die Wirkung der Ern\u00e4hrungs- und klimatischen Einfl\u00fcsse nicht studirt hat, gerade auf diejenige M\u00f6glichkeit verf\u00e4llt, die der herk\u00f6mmlichen Meinung entspricht, ist ja sehr begreiflich. Nimmt man aber bei der Beurtheilung der Metzger\u2019schen Beobachtungen auch die kritisch gesichtete Erfahrung \u00fcber die genannten Einfl\u00fcsse zu Hilfe, so wird jene Folgerung im h\u00f6chsten Grade unwahrscheinlich.\nDieses Beispiel gibt zu zwei allgemeinen Bemerkungen Veranlassung, von denen die eine das Ergebniss, und die andere die Methode, mittels der es gewonnen wurde, betrifft. Bez\u00fcglich des Ergebnisses \\erdient die Aeusserung Darwin\u2019s, dass die Umwandlung der Maissorten das merkw\u00fcrdigste ihm bekannte Beispiel von der directen und sofortigen Einwirkung des Klimas auf eine Pflanze darbiete, eine besondere Beachtung. Wenn ein Mann von der reichen Erfahrung, von der ausserordentlichen Findigkeit und dem grossen","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nV. Variet\u00e4t, Raaae, Em\u00e4hrungsmodification.\nScharfsinn im Combiniren der Thatsachen, wie Darwin sie besitzt, zugesteht, dass er mit der Beobachtung Metzger\u2019s den besten Beweis f\u00fcr die Urs\u00e4chlichkeit des Klimas bei den Umwandlungen der Pflanzensippen beigebracht habe, so muss es gewiss sehr schlimm stehen um die inductiven Beweise f\u00fcr diese Urs\u00e4chlichkeit. Allerdings spricht Darwin nur von einer \u00bbdirecten und sofortigen Einwirkung\u00ab ; wenn aber diese sich nicht darthun l\u00e4sst, wie lassen sich indirecte und langwierige Einwirkungen nachweisen?\nR\u00fccksichtlich der Methode ist zu beachten, dass der Bericht Metzger\u2019s, wie ich bereits bemerkte, ein mageres Bruchst\u00fcck aus der Geschichte der betreffenden Maissorten ist, aus welchem sich mit Sicherheit bloss schliessen l\u00e4sst, dass die Maissorten leicht ausarten, aber nichts \u00fcber die Ursachen dieses Vorganges. In der Leichtigkeit des Ausartens kommen aber viele Sorten von Cultur-pflanzen dem Mais gleich. Warum wird nun nicht, zur Ermittelung der Ursachen, das Ausarten einer Sorte ben\u00fctzt, die der eigenen Beobachtung zug\u00e4nglich ist, \u00fcber deren Geschichte sich mancherlei ermitteln l\u00e4sst, die stetsfort unter verschiedenen Em\u00e4hrungs- und klimatischen Einfl\u00fcssen cultivirt wird, und die der allgemeinen Controlle unterstellt werden kann? Ich glaube, es geschieht deswegen, weil gerade solche Beispiele immer die vorgefasste Meinung t\u00e4uschen, und weil dieselben in der F\u00fclle der Thatsachen zeigen, dass man mit einer einfachen Formel nicht auskommt, sondern bei den beobachteten Umwandlungen mehrere und verschiedenartige Ursachen Zusammenwirken, die sich nur auf dem m\u00fchsamen Wege exacter Forschung trennen und erkennen lassen.\nDamit bin ich auf einen der wunden Punkte gekommen, an denen die Methode der heutigen Abstammungslehre \u00fcberhaupt leidet. Man geht nicht immer auf streng inductivem Wege von den einzelnen sicher gestellten Thatsachen aus, sondern man baut sich mehr nach einem allgemeinen und oberfl\u00e4chlichen Ueberblick Theorien auf, f\u00fcr welche man dann die best\u00e4tigenden Thatsachen zusammensucht. Und da man \u2014 es gilt dies besonders von den nat\u00fcrlichen Variet\u00e4ten und Arten \u2014 die gew\u00fcnschte Best\u00e4tigung nicht in den zahllosen unzweifelhaften, jeder Beobachtung zug\u00e4nglichen Vorkommnissen unserer n\u00e4chsten Umgebung findet, so sucht man sie in den mangelhaften und fragmentarischen Berichten, die von fr\u00fcheren Beobachtern oder von Reisenden in fremden L\u00e4ndern herstammen, und mit","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"V. Vatietftt, Rasse, Em\u00e2hrangsmodiflcation.\n263\nVorliebe auch in den mangelhaften und fragmentarischen pal\u00e4onto-logischen F\u00fcnden, mit einem Wort in Ueberlieferungen oder That-sachen, die verschiedene Deutungen und darunter auch die gew\u00fcnschte zulassen.\nWie der Rassenbegriff nur dann deutlich und rein hervortritt, wenn man von ihm die vor\u00fcbergehenden Merkmale ausscheidet, welche durch Ern\u00e4hrung und Klima unmittelbar hervorgebracht werden, so verh\u00e4lt es sich auch mit dem Begriff der Variet\u00e4t; von demselben muss alles Nichtvererbbare ausgeschlossen werden. Die wirklichen Variet\u00e4tsmerkmale lassen sich nur dann sicher erkennen, wenn eine nat\u00fcrliche Form unter die verschiedensten \u00e4usseren Verh\u00e4ltnisse gebracht wird. Nur die bei einer solchen Behandlung constant bleibenden Eigenschaften geh\u00f6ren der Variet\u00e4t an; alle sich ver\u00e4ndernden Eigenschaften sind als Em\u00e4hrungs- und Standorts-Modificationen zu eliminiren.\nNeben Rassen und Variet\u00e4ten muss also noch eine Kategorie von Formen unterschieden werden, die durch nicht erbliche Merkmale charakterisirt ist, und die ich einstweilen in Ermangelung eines anderen Wortes mit der bisher bereits gebrauchten Benennung Modification bezeichnen will. Die Modificationen werden durch verschiedene \u00e4ussere Einfl\u00fcsse, durch Nahrung, Klima, Reize hervorgebracht und sind vorz\u00fcglich Standorts-, Ern\u00e4hrungs- und krankhafte Modificationen. Sie bestehen in Erscheinungen, die am Individuum entstehen und wieder vergehen, oder, wenn sie ihm bis zu seinem Ende anhaften, doch nicht auf die Kinder \u00fcbertragen werden. Kommen sie auch den Kindern zu, so ist dies nicht Folge der Vererbung, sondern weil sie in ihnen durch die n\u00e4mlichen Ursachen wie in den Eltern erzeugt werden.\nIch habe von den Alpen-Hieracien angegeben, dass dieselben in den Garten der Ebene verpflanzt, die Ebenenmodification annehmen, und wenn man sie von da auf einen mageren Sandboden bringt, wieder in die zwerghafte Alpenmodification zur\u00fcckkehren. Die Hieracien sind krautartige Gew\u00e4chse, welche aus dem ausdauernden kriechenden Wurzelstock j\u00e4hrlich einen im Herbste absterbenden oberirdischen Trieb bilden. Ein solcher Wurzelstock stellt ein langlebiges Individuum dar, mit demselben Rechte wie jeder Baum, besonders aber wie ein tropischer Feigenbaum mit seinen Luftwurzeln. Dieses Individuum geht nun beim Verpflanzen","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264\nV. Variet\u00e4t, Rasse, Em\u00e4hrungsniodification.\nin eine andere Modification \u00fcber. Manche Systematiker f\u00fchren die zwerghaften einbl\u00fcthigen oder eink\u00f6pfigen Alpenformen als besondere Variet\u00e4ten auf, wenn sie sich auch von den gr\u00f6sseren verzweigten mehrbl\u00fcthigen Formen durch kein weiteres Merkmal unterscheiden. Bei einer solchen systematischen Behandlung wird der \u00bbVariet\u00e4t\u00ab die allergeringste Constanz zugeschrioben ; denn man kann das n\u00e4mliche Individuum, das man j\u00e4hrlich in andere Em\u00e4hrungsverh\u00e4ltnisse bringt, Jahr um Jahr in die alpine und wieder in die campestre \u00bbVariet\u00e4t\u00ab \u00fcberf\u00fchren. Dieses Beispiel zeigt uns, wie wichtig es ist, die Begriffe Variet\u00e4t und Modification auseinander zu halten; denn die auf erbliche Merkmale beschr\u00e4nkte, wirkliche Variet\u00e4t hat eine Constanz, deren Dauer nahezu einer Erdperiode gleichkommt.\nDie Modification unterscheidet sich also dadurch von der Variet\u00e4t und der Rasse, dass sie nicht erblich ist. Sie hat Bestand, so lange sie sich unter den n\u00e4mlichen \u00e4usseren Einfl\u00fcssen befindet, weil diese Einfl\u00fcsse in jeder Ontogenie wieder die n\u00e4mlichen Merkmale hervorbringen. Es ist dies aber keine Constanz im naturwissenschaftlichen Sinne; in das Idioplasma wird nichts Erbliches aufgenommen, und wenn die Sippe unter andere Einfl\u00fcsse kommt, ist ihr daher von den Wirkungen der fr\u00fcheren Einfl\u00fcsse nichts zur\u00fcckgeblieben. \u2014 Der Ausspruch, dass die Modification nicht erblich, die Rasse dagegen erblich sei, darf aber nicht so verstanden werden, dass alle Merkmale, welche bei der Fortpflanzung verloren gehen k\u00f6nnen, der Modification angeh\u00f6ren. Es kommt ja bei der Fortpflanzung der Rassen, sei es durch Inzucht, sei es durch Selbstbefruchtung, nicht selten vor, dass Eigenschaften latent und daf\u00fcr andere Eigenschaften manifest werden. Der Unterschied besteht darin, dass die Rasse das verschwindende Merkmal bloss \u00e4usserlich verliert, aber als idio-plasmatische Anlage bewahrt, und dass das Verschwinden und Wiedererscheinen ihrer Merkmale nicht mit den \u00e4usseren Einfl\u00fcssen parallel geht, w\u00e4hrend die Modificationen die bisherigen Merkmale bloss dann verlieren, wenn sie unter andere \u00e4ussere Verh\u00e4ltnisse kommen, und stets wieder erwerben, sowie sie unter die fr\u00fcheren Verh\u00e4ltnisse zur\u00fcckversetzt werden.\nIch will nun auf die merkw\u00fcrdigen Erscheinungen eintreten, welche die Em\u00e4hrungseinfl\u00fcsse an den niederen Pilzen hervorbringen.","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"V. Variet\u00e4t, Rasse, Emihrungsmorfifiration.\n266\nDiese Frage h\u00e4tte eigentlich schon in dem Abschnitt \u00fcber die Ursachen der Ver\u00e4nderung er\u00f6rtert werden sollen; ich habe dies dort unterlassen,^weil die Deutung der Ergebnisse nicht so sehr auf der flachen Hand liegt wie bei den \u00fcbrigon Ern\u00e4hrungsresultaten, und nur nach einer kritischen Vergleichung der Begriffe Variet\u00e4t, Rasse und Modification in befriedigender Weise festgestellt werden kann. Jene merkw\u00fcrdigen Erscheinungen, von denen ich nun hier sprechen will, beruhen darin, dass die Wirkungsweise der niederen Pilze auf ihre Umgebung \u2014 eine Kraft\u00e4usserung, die bei anderen Organismen unbekannt ist \u2014 durch Em\u00e4hrungs- und klimatische Einfl\u00fcsse ge\u00e4ndert werden kann.\nSchon bei anderen Gelegenheiten wurde von mir darauf aufmerksam gemacht, dass die Spaltpilze, welche die Milch sauer machen, das Verm\u00f6gen der S\u00e4uerung verlieren, wenn man sie verschiedenen sch\u00e4dlichen Einwirkungen aussetzt, namentlich wenn man sie mit der Milch auf 100 \u00ae C. und dar\u00fcber erhitzt, oder wenn man sie austrocknet. So wird beispielsweise Milch, die w\u00e4hrend einiger Zeit gekocht wurde, durch die Spaltpilze, die sie vor dem Kochen enthielt, nicht mehr sauer, sondern bitter. Das verlorene Verm\u00f6gen, Zucker in Milchs\u00e4ure \u00fcberzuf\u00fchren, kann aber den geschw\u00e4chten Pilzen nach und nach wieder angez\u00fcchtet werden. Je nach dem Grad der Schw\u00e4chung und je nach den mehr oder weniger g\u00fcnstigen Culturverh\u00e4ltnissen bedarf es einer geringeren oder gr\u00f6sseren Zahl von Generationen, bis die fr\u00fchere Wirksamkeit einigermaassen her-gestellt ist.\nAehn/ich verh\u00e4lt es sich mit der Wirksamkeit anderer g\u00e4rungserregender Spaltpilze und auch mit dem den Zucker in Alkohol und Kohlens\u00e4ure spaltenden Sprosspilz. Dabei ist zu bemerken, dass die Verminderung und der Verlust der G\u00e4rt\u00fcchtigkeit als eine selbstst\u00e4ndige und specifische Erscheinung auftritt und nicht etwa mit einer allgemeinen Schw\u00e4chung zusammenh\u00e4ngt ; denn die Pilze, denen das Verm\u00f6gen, G\u00e4rung zu erregen, genommen wurde, haben oftmals von ihrem Wachsthums- und Fortpflanzungsverm\u00f6gen nichts eingeb\u00fcsst, wiewohl in anderen F\u00e4llen durch die n\u00e4mlichen nachtheiligen Ursachen die Schw\u00e4chung gleichzeitig in der einen und anderen Beziehung erfolgt.\nWie die G\u00e4rt\u00fcchtigkeit wird auch das Verm\u00f6gen, als Contagion und Miasmen Krankheiten zu erzeugen, durch Ern\u00e4hrung und andere","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266\nV. Variet\u00e4t, Rasse, Era\u00e4hrungsmodification.\n\u00e4ussere Einfl\u00fcsse von den Pilzen gewonnen und verloren. Gew\u00f6hnliche und unsch\u00e4dliche F\u00e4ulnisspilze werden in einer Wunde nach und nach zu \u00e4usserst gef\u00e4hrlichen septischen Contagion. \u2014 Der so h\u00e4ufige Fadenpilz P\u00e9nicillium glaucum, der besonders auf schimmelndem Brod und auf schimmelnden K\u00e4searten in grosser Menge ohne den geringsten Nachtheil verzehrt wird, l\u00e4sst sich, wie Grawitz gezeigt hat, zu einem t\u00f6dtlichen Contagium heranz\u00fcchten.\nBesonders aber sind die Ver\u00e4nderungen an den Heubakterien von H. Buchner in exactester Weise erforscht. Diese Pilze, die in unendlicher Menge auf Gras und Heu Vorkommen, von dem Vieh ohne die geringste \u00fcble Wirkung mit dem Futter gefressen werden und auch bei Einimpfungen keine Krankheit hervorbringen, werden durch 24 st\u00e4ndige Z\u00fcchtung in frischem Blut bei Brutw\u00e4rme soweit umgebildet, dass sie nun, in gr\u00f6sserer Menge einem gesunden Thiere eingeimpft, Milzbrand erzeugen. Die Heubakterien verwandeln sich also in dem von dem Thierk\u00f6rper getrennten Blut in Milzbrandbakterien von geringerer Wirksamkeit und gehen nachher in dem im lebendigen K\u00f6rper circulireuden Blut in solche von vollkommener Infectionst\u00fcchtigkeit \u00fcber; denn aus dem kranken Thier verm\u00f6gen sie in geringster Menge Milzbrand zu verursachen. Zu bemerken ist, dass zwischen St\u00e4bchen der einen und anderen Modification keine wesentlichen Verschiedenheiten wahrgenommen werden, weder in der Gestalt, noch im Inhalt, noch in der Theilung.\nWie die Heupilze in giftige Milzbrandpilze umgez\u00fcchtet werden k\u00f6nnen, so lassen sich durch den umgekehrten Process die letzteren in harmlose Heupilze \u00fcberf\u00fchren, wenn sie in Fleischextractl\u00f6sung mit reichlichem Luftzutritt und zuletzt in Heuaufguss cultivirt werden. Die allm\u00e4hliche Umwandlung gibt sich nicht nur in einigen Erscheinungen des Wachsthums, sondern namentlich auch in der stetig abnehmenden Infectionst\u00fcchtigkeit kund; denn w\u00e4hrend anf\u00e4nglich die geringsten Mengen von Pilzen zur Ansteckung ausreichen, bedarf es dazu mit der fortschreitenden Um\u00e4nderung steigender Mengen und sp\u00e4terhin vermag auch die gr\u00f6sste Anzahl von Pilzen nicht mehr Milzbrandkrankheit zu erzeugen.\nBei der Umwandlung auf dem angegebenen Wege hatten die Milzbrandpilze ungef\u00e4hr mit der 360. Generation das specifische Verm\u00f6gen, ein Thier milzbrandkrank zu machen, verloren und mit der 1500. Generation nach Verfluss eines halben Jahres waren sie","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"V. Variet\u00e4t, Rame, Ern\u00e4hrongsmodification.\n267\nzu vollkommenen Heupilzen geworden. Es kann aber den Milzbrandbakterien die Infectionst\u00fcchtigkeit, ohne sie zu t\u00f6dten, in der n\u00e4mlichen Generation genommen, und die vollst\u00e4ndige Ueberf\u00fchrung in Heubakterien in einer viel geringeren Generationenzahl zu Stande gebracht werden, wie auch der umgekehrte Process, die Umbildung der Heupilze in vollendete Milzbrandpilze jedenfalls nicht mehr als 20 Generationen erfordert.\nBeim Uebergang der gew\u00f6hnlichen Pilze in Krankheitspilze und der letzteren in die ersteren, sowie bei allen Ver\u00e4nderungen in der Wirksamkeit der Pilze sind Em\u00e4hrungs- und klimatische Einfl\u00fcsse allein maassgebend, n\u00e4mlich die verschiedene Mischung der N\u00e4hrl\u00f6sung, der Temperaturgrad und die zutretende Sauerstoffmenge, also gerade diejenigen Ursachen, welche bei andern Organismen die vor\u00fcbergehenden, nicht erblichen Eigenschaften, die Merkmale der Modificationen bedingen. Nun haben aber die Eigenschaften, welche die Heubakterien und die Milzbrandbakterien unterscheiden, und ebenso die Eigent\u00fcmlichkeiten der Pilze, welche das Sauerwerden der Milch und das Bitterwerden derselben bewirken, einige Constanz und sind erblich. Darin beruht scheinbar eine Verschiedenheit dieser Pilzform\u00e7n gegen\u00fcber den anderen Ern\u00e4hrungs-modificationen. Constanz und Erblichkeit kommt aber den genannten Pilzformen sicher zu, denn nur mit ihrer Hilfe ist eine Umwandlung durch eine Reihe von Generationen m\u00f6glich, indem in jeder Generation die ererbte Eigent\u00fcmlichkeit wieder um einen kleinen Schritt gesteigert wird. W\u00e4ren diejenigen Eigenschaften, welche die specifische Wirksamkeit der Pilze bedingen, nicht erblich, so m\u00fcssten sie in einer einzigen Generation erlangt werden. Nun kann zwar das specifische Verm\u00f6gen, sei es G\u00e4rt\u00fcchtigkeit, sei es Infectionst\u00fcchtigkeit, bei Anwendung von energischen Mitteln in einer einzigen Generation verloren gehen ; aber zur Wiederherstellung bedarf es immer einer nicht geringen Anzahl von Generationen.\nW\u00e4hrend die durch ungleiche Wirksamkeit ausgezeichneten Pilzformen bez\u00fcglich der Vererbung von den Ern\u00e4hrungsmodi-ficationen der \u00fcbrigen Organismen abzuweichen scheinen, stimmen sie in einem anderen, ebenfalls die Vererbung betreffenden Punkte mit denselben \u00fcberein. Ich habe angegeben, dass die Alpenmodi-fication einer Pflanze in ihre Ebenenmodification, diese wieder in","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nV. Variet\u00e4t, Rmm, Emfthrungsmodiflcation.\njene \u00fcbergef\u00fchrt werden kann und so weiter, ohne das\u00ab etwas Bemerkbares zur\u00fcckbloibt. Ganz ebenso k\u00f6nnen die Heubakterien in Milzbrandbakterien oder die s\u00e4urebildenden Spaltpilze in nicht s\u00e4urebildende, diese wieder in jene \u00dcbergef\u00fchrt werden und so weiter, ohne dass diese Metamorphosen etwas Wahrnehmbares hinterlassen. Es unterscheiden sich also die genannten Pilzformen in gleicher Weise wie die Standortsmodificationen der h\u00f6heren Pflanzen von den Variet\u00e4ten und Arten, weil diese sich nicht zur\u00fcckverwandeln k\u00f6nnen. Der Grund dieses verschiedenen Verhaltens liegt darin, dass dem Idioplasma bei der Variet\u00e4tenbildung immer etwas Bleibendes, bei der Erzeugung von Modificationen dagegen nichts Bleibendes mitgetheilt wird.\nSomit erscheint uns die Vererbung bei den Wirkungsmetamorphosen der Pilze in einem doppelten Lichte, je nachdem wir k\u00fcrzere oder l\u00e4ngere Abschnitte einer Generationenreihe ins Auge fassen. W\u00e4hrend der Metamorphose vererben sich die Eigenschaften von Generation zu Generation. Der Pilz hat aber, wenn die Metamorphose wieder r\u00fcckw\u00e4rts gegangen ist, von der ganzen Umwandlungsperiode nichts Bleibendes behalten. Die ganze specifische Wirksamkeit der Pilze ist ein vor\u00fcbergehender Zustand, gerade so wie die Standortsmodificationen der h\u00f6heren Pflanzen. Die betreffenden Pilzformen sind daher ebenfalls als Modificationen zu bezeichnen, allgemein als Wirkungsmodificationen, specieller als G\u00e4rungs- und An8teckung8modificationen und ganz speciell als S\u00e4ui ^modification, Alkoholmodification, Milzbrandmodification u. s. w. Sie d\u00fcrfen weder als Rassen noch als Variet\u00e4ten oder gar als Species betrachtet werden, wie dies ziemlich allgemein von Morphologen und Aerzten geschehen ist.\nDie scheinbare Verschiedenheit bez\u00fcglich der Vererl in g von Generation zu Generation zwischen den Wirkungsmodificationen der Pilze und den Em\u00e4hringsmodificationen der h\u00f6heren Pflanzen erkl\u00e4rt sich bei n\u00e4herer Betrachtung in vollst\u00e4ndig befriedigender Weise. Indem wir n\u00e4mlich die Generationen der niederen Pilze und der Pnanerogamcn Zusammenhalten, vergleichen wir ganz verschiedene Dinge und erhalten daher ein widersprechendes Resultat Das Ergebniss ist sofort ein anderes, wenn wir nicht die Generationen der Pflanzenindividuen, sondern die Zellgenerationen mit einander vergleichen. Die unsch\u00e4dlichen Heubakterien verwandeln\n!","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"V. Variet\u00e4t, Rasse, Em\u00e4hrungsmodification.\n260\nsich durch wenig mehr als 20 Zellgenerationen *) in Milzbrandbakterien mit h\u00f6chster Infectionst\u00fcchtigkeit. Der Stock der Alpenpflanzen, den wir aus dem Gebirge in die Ebene versetzen, hat in allen seinen Zellen die Natur der Alpenmodification. Diese Natur verliert sich zwar schon mit dem ersten Trieb, aber nicht etwa mit der ersten Zellgeneration, die in der Ebene gebildet wird; sondern die Ver\u00e4nderung erfolgt unter dem Einfluss der neuen klimatischen und Ern&hrungseinfl\u00fcs8e durch eine Reihe von Zellgenerationen, und es ist recht gut m\u00f6glich, dass dazu eine eben so grosse oder selbst eine gr\u00f6ssere Zahl von Zellgenerationen erforderlich ist als f\u00fcr die Umwandlung der Heu- in Milzbrandpilze. Wir k\u00f6nnen aber dort die Ver\u00e4nderung nicht Schritt f\u00fcr Schritt verfolgen wie bei den letzteren, sondern wir erkennen bloss das schliessliche Resultat.\nWir haben also gen\u00fcgenden Grund zu der Annahme, dass die Bildung der Filzmodificationen keinem andern Princip folgt als diejenige der \u00fcbrigen Ern\u00e4hrungsmodificationon. Die Ver\u00e4nderung vollzieht sich durch eine Anzahl von Zellgenerationen, indem jede Generation die mehr und mehr ver\u00e4nderte Substanz auf die folgende Generation vererbt. Die Verschiedenheit besteht nur darin, dass bei den Spaltpilzen die einzelnen Zellen oder kleine Zellgruppen getrennt sind und ein individuelles Dasein f\u00fchren, indess dieselben bei den h\u00f6heren Pflanzen zu einem Gewrebe vereinigt bleiben und Theile eines grossen und langlebigen Individuums darstellen, sodass an demselben sich nicht nur eine vollst\u00e4ndige Metamorphose vollziehen kann, sondern dass selbst, wenn die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse wechselten, mehrere solcher Metamorphosen auf einander folgen k\u00f6nnten.\nDie Vererbung der durch Ver\u00e4nderung gewonnenen Eigenschaften mangelt, wie aus dem Vorstehenden sich ergibt, den Modificationen durchaus nicht. Aber sie li\u00e2t, da der Bestand\n\u2018) Die Heu- und Milzbrandbakterien sind St\u00e4bchen aus mehreren hintereinander liegenden Zellen bestehend. Die St\u00e4bchen vergrossem sich durch Wachs-thum und Theilung der Zellen auf ungef\u00e4hr die doppelte L\u00e4nge und die doppelte Zeilenzahl, um dann in zwei St\u00e4bchen zu zerfallen. Daraus folgt, dass die Genera-tionenzahl der Tt\u00e4bchen mit der Generationenzahl der Zellen identisch ist, \u2014 was nicht der Fall w\u00e4re, wenn die mehrzelligen St\u00e4bchen sich durch einzeln^ Zellen fort pflanz ten.","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270\nV. Variet\u00e4t, Rasse, Ern\u00e4hrongsmodification.\nihrer Eigenschaften nur unter der Bedingung gesichert ist, die bewirkenden Ursachen fortdauern, eine andere Bedeutung als die Vererbung bei den Variet\u00e4ten und den Rassen. Diese Verschiedenheit in der Best\u00e4ndigkeit der ererbten Merkmale beruht darin, dass bei der Variet\u00e4ten* und Rassenbildung das ver\u00e4nderte Idioplasma vererbt wird, bei der Bildung der Modi* ficationen dagegen neben dem unver\u00e4nderten Idioplasma nur ver\u00e4ndertes Ern\u00e4hrungsplasma und andere nichtplasmatische Substanzen, welche bei der Zelltheilung selbstverst\u00e4ndlich von einer Zellgeneration auf die andere \u00fcbergehen.\nDie Modificationen sind alle so beschaffen, dass f\u00fcr ihre Entstehung die Annahme einer Ver\u00e4nderung des Idioplasmas weder erforderlich noch auch nur wahrscheinlich ist. Das letztere regelt vorzugsweise den Gestaltungsprocess (nisus formativus) in den mi-cellaren Gebieten des Ern\u00e4hrungsplasmas und der \u00fcbrigen Substanzen und damit auch den Gestaltungsprocess in den gr\u00f6beren, unseren Sinnen zug\u00e4nglichen Gebieten. Mit der Ver\u00e4nderung in der micellaren Beschaffenheit ist nat\u00fcrlich in der Regel auch eine Ver\u00e4nderung im Chemismus verbunden. Aus der constanten und erblichen Ver\u00e4nderung im Gestaltungsprocess und im Chemismus schliessen wir auf die Umbildung des Idioplasmas. \u2014 Eine solche Ver\u00e4nderung findet nun bei der Umwandlung der Alpenmodification in die Ebenenmodification und umgekehrt nicht statt, sondern nur eine quantitative Zu- und Abnahme der Zelltheilung und des Zellwachsthums, der Organbildung und des Organwachsthums. Dabei wird ohne Zweifel auch der Zellinhalt ver\u00e4ndert, aber, soviel wir wissen, nur in den Mengenverh\u00e4ltnissen der vorhandenen plastischen Stoffe und chemischen Verbindungen, indem die Bildungsprocesse zu- oder abnehmen, und indem die Zu- und Abnahme in ungleichem Verh\u00e4ltniss erfolgt. Das Idioplasma ist also bei der Umwandlung der Standcrtsmodificationen in keiner anderen Weise betheiligt, als dass in Folge der ver\u00e4nderten \u00e4usseren Einfl\u00fcsse gewisse Anlagen in demselben h\u00e4ufiger oder energischer erregt werden und daher auch zahlreicher oder \u00fcppiger sich entfalten.\nWas die Wirkungsmodificationen der niederen Pilze betrifft, so k\u00f6nnen dieselben, da der Gestaltungsprocess unver\u00e4ndert bleibt, aus einer blossen Ver\u00e4nderung in der Mischung des Ern\u00e4hrungsplasmas erkl\u00e4rt werden. Die verschiedene Wirksamkeit erscheint \u00bbna nur","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"V. Variet\u00e4t, Rasse, Krn\u00e4lirungsmodiflcation.\t271\nals etwas Ausserordentliches und Specifisches, so lange wir sie aus der Ferne als etwas Mysteri\u00f6ses anstaunen. Ziehen wir den Schleier von dem Mysterium weg und zergliedern wir die demselben zu Grunde liegende Erscheinung, so haben wir es mit gew\u00f6hnlichen Em\u00e4hrungsvorg\u00e4ngen zu thun, wie sie thats\u00e4chlich immer von Individuum zu Individuum wechseln k\u00f6nnen. Die G\u00e4rth\u00e4tigkeit der Pilze beruht auf gewissen Bewegungszust\u00e4nden des Em\u00e4hrungs-plasmas, welche auf das G\u00e4rmaterial \u00fcbertragen werden. Die In-fectionsthfttigkeit der Krankheitspilze beruht entweder ebenfalls auf solchen specifischen Bewegungszust\u00e4nden, welche die normalen Bewegungszust\u00e4nde der lebenden Substanz des inficirten Organismus st\u00f6ren, gleichwie von verschiedenen G\u00e4rpilzen der st\u00e4rkere die \u00fcbrigen st\u00f6rt und verdr\u00e4ngt. Oder die Krankheitspilze erweisen sich in der Verwandtschaft zu gewissen N\u00e4hrstoffen als die st\u00e4rkeren und entziehen dem Blut und den Gewebezellen Sauerstoff oder andere unentbehrliche Verbindungen. Wahrscheinlich treffen diese beiden Momente stets zusammen, da sie die Folge der specifischen physikalisch-chemischen Beschaffenheit des Ern\u00e4hrungsplasmas sind. Damit w\u00e4re nicht ausgeschlossen, dass die Infcctionspilze auch sehr giftige Verbindungen in geringen Mengen erzeugten, welche ihre nachtheiligen Wirkungen auf den inficirten Organismus unterst\u00fctzten.\nMag mm in Wirklichkeit das eine oder andere Moment allein vorhanden sein oder m\u00f6gen sie vereint auftreten, so lassen sie sich durch geringe und vor\u00fcbergehende Ver\u00e4nderungen in der Lebensweise der Pilzzellen erkl\u00e4ren. Die ver\u00e4nderten Einfl\u00fcsse in Nahrung, Temperatur und Sauerstoffzufuhr bewirken nicht eine Umbildung des Idioplasmas, sondern nur eine vermehrte Erregung der einen und eine verminderte Erregung der anderen idioplasmatischen Anlagen und in Folge dessen eine Zunahme der einen, eine Abnulime der anderen plastischen und chemischen Processe im Em\u00e4hrungs-plasma, also eine andere Mischung des Zelleninhaltes, eine Steigerung der einen Bewegungszust\u00e4nde und eine st\u00e4rkere Anziehung auf gewisse Verbindungen in der Umgebung. Findet Bildung von giftigen Substanzen in den Krankheitspilzen statt, so mangelt dieselbe ihren gew\u00f6hnlichen und unsch\u00e4dlichen Modificationen nicht g\u00e4nzlich, sondern ist in denselben nur auf ein Minimum, vielleicht auch auf eine latent bleibende Anlage beschr\u00e4nkt, wie die Bildung von","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272\tV. Variet\u00e4t, Harne, Ern\u00e4hrungsmodi\u00e4cation.\nAmygdalin in den bitteren Mandeln nur viel st\u00e4rker auftritt, als in den s\u00fcssen Mandeln.\nDie ver\u00e4nderte Wirksamkeit der niederen Pilze entspringt also aus einer anderen Mischung des Zelleninhaltes, wie dieselbe bei allen Ern\u00e4hrungsmodificationen auftritt. Wenn diese Mischungs\u00e4nderung bei den h\u00f6heren Pflanzen sich nicht in einer ver\u00e4nderten Wirkung kund gibt, wie bei den niederen Pilzen, so r\u00fchrt dies einerseits daher, weil die letzteren durch einen besonders lebhaften Vegetationsprocess sich auszeichnen, indem unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden ihre Substanz schon in 20 Minuten sich verdoppeln, in einer Stunde sich auf das Achtfache vermehren kann. Andererseits wird die Wirkung der niederen Pilze auf die Umgebung dadurch gef\u00f6rdert, dass sie in die Zellen oder in die einzelnen Zellreiheu aufgel\u00f6st sind und somit mit einer sehr grossen Ber\u00fchrungsfl\u00e4che an die umgebenden Substanzen angrenzen, w\u00e4hrend bei den h\u00f6heren Organismen die zu einem Gewebe vereinigten Zellen nur einander selbst ber\u00fchren und die Oberhautzellen wegen der geringen Th\u00e4tig-keit ihres Em\u00e4hrungsplasmas und wegen ihrer schwer durchdring-baren Bedeckung (Cuticula) f\u00fcr eine Wirkung nach aussen nicht bef\u00e4higt sind.\nDie Er\u00f6rterung des Wesens der Variet\u00e4ten, Rassen und Modi-ficationen f\u00fchrt uns naturgem\u00e4ss auf die Er\u00f6rterung der Begriffo Vererbung und Ver\u00e4nderung, welche die Grundlage der Abstammungslehre bilden. Indem ich die Erw\u00e4gung dieser allgemeinen Begriffe an den Schluss meiner gesammten Betrachtungen verweise, weil jene erst das Resultat der letzteren sind, so gehe ich den umgekehrten Weg gegen\u00fcber dem gew\u00f6hnlichen Verfahren. Gew\u00f6hnlich stehen in der Abstammungslehre die Vererbung und die Ver\u00e4nderung voran, nicht aber als Objecte der Untersuchung, sondern als allgemeine Gesetze, welche man als gegeben aus den allgemeinen Erfahrungen annimmt. Die Gesetze werden weder kritisch gepr\u00fcft noch in ihrer G\u00fcltigkeit fest bestimmt; sondern sie dienen bloss als Ausgangspunkt f\u00fcr die weitere Behandlung.\nSo kommt es, dass in den Abstammungslehren der Darwinschen Schule Vererbung und Ver\u00e4nderung als gleichwertig einander gegen\u00fcber gestellt und als conservatives und progressives Princip","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"V. Variet\u00e4t, Range, Em\u00e4hrungwnodifUation.\n273\nunterschieden werden. Obgleich dies dem \u00e4usserlichen Anscheine entspricht und sich f\u00fcr die Darstellung einem Laienpublikum gegen\u00fcber als effectvoll erweist, so trifft es doch nicht den Kern der Sache. Die Vererbung und Ver\u00e4nderung, von denen der Darwinismus ausgebt, sind Erscheinungen, die bloss den Rassen angeh\u00f6ren und bei der Kreuzung mehr oder weniger ungleicher Individuen bemerkbar werden. Sie beruhen hier, wie ich bereits gezeigt habe (S. 203), auf einer irrth\u00fcmlichen Berurtheilung der thatsftchlichen Erscheinungen, indem Vererbung und Ver\u00e4nderung nach den sichtbaren (entfalteten) Merkmalen gesch\u00e4tzt werden, w\u00e4hrend in Wirklichkeit bei der digenen Fortpflanzung alle idioplasmatischen Eigenschaften ohne Ausnahme und somit auch ohne Ver\u00e4nderung vererbt werden und alle m\u00f6glicher Weise eintretenden Verschiedenheiten auf der Entfaltungsf\u00e4higkeit der vererbten Anlagen in der neuen idioplasmatischen Constitution des Keims beruhen.\nDas Gesetz der Vererbung ist das Analogon des physikalischen Gesetzes der Tr\u00e4gheit oder der Beharrung. Wie eine fortschreitende Bewegung in ihrer Richtung und ihrer Geschwindigkeit beharrt, so beh\u00e4lt auch die durch eine Abstammungslinie verlaufende, insbesondere die von den Eltern auf die Kinder \u00fcbergehende Fewegung ihre Beschaffenheit bei. Da aber in dieser Beschaffenheit auch eine nothw\u2019endige Umbildung und Weiterbildung aus inneren Ursachen enthalten ist, so hat die Beharrung in der Abstammung oder die Vererbung nicht bloss einen erhaltenden sondern zugleich auch einen fortschrittlichen Charakter.\nWas andrerseits die Ver\u00e4nderung betrifft, so ist dieselbe, wie ich eben sagte, zu einem grossen Theil von der Vererbung untrennbar und bildet mit derselben einen einheitlichen Begriff; die Vererbung w\u00fcrde revolution\u00e4r gegen die Gesetze der Natur, wenn man ihr die \\ er\u00e4nderung nehmen wollte. Ausser dieser mit der Beharrung identischen Ver\u00e4nderung gibt es in den Organismen noch andere durch die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse bewirkte Ver\u00e4nderungen, von denen die eine verg\u00e4ngliche, nicht vererbbare Merkmale, die andere dagegen bleibende Eigenschaften, die als Erbtheil auf die Nachkommen \u00fcbergehen, hervorbringt.\nVererbung als allgemeiner Begriff gefasst ist eigentlich nichts Anderes als die mit dem Uebergang eines Zustandes in den n\u00e4chstfolgenden nothwendig verbundenen Erscheinungen, und die ganze\nT. NAgeli, Abstammungslehre.\tig","page":273},{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"274\nV. Variet\u00e4t, Rasse, Ern\u00e4hrangsmodi\u00e4cation.\nontogenetische und phylogenetische Bewegung besteht aus einer continuirlichen Reihe solcher Uebergftnge. Gew\u00f6hnlich bezeichnet man aber als Vererbung bloss bestimmte Schritte der ganzen Reihe, n\u00e4mlich bloss die Ueberg\u00e4nge zwischen getrennten Individuen, indem man die viel zahlreicheren Ueberg\u00e4nge innerhalb der Entwicklungsgeschichte des n\u00e4mlichen Individuums vernachl\u00e4ssigt oder wenigstens nicht als Vererbung ansieht. Es ist aber ebensogut Vererbung, wenn im Individuum eine Zelle, die sich theilt, ihre ganze Eigent\u00fcmlichkeit in die beiden neuen Zellen niederlegt, oder wenn der Pflanzenstock j\u00e4hrlich neue Zweige, Bl\u00e4tter und Bl\u00fcthen treibt, oder wenn aus dem Kinde ein Mann und ein Greis wird.\nBei den folgenden Er\u00f6rterungen will ich indessen, dem allgemeinen Sprachgebrauche folgend, mich an den engem Begriff der Vererbung als einer Uebertragung der Eigenschaften zwischen getrennten Individuen halten. In dieser Beziehung fragen wir nn\u00ab zuerst: Was wird vererbt? Die Beantwortung dieser Frage f\u00e4llt bei den verschiedenen Organismen nicht ganz \u00fcbereinstimmend aus. Ber\u00fccksichtigen wir zuerst die grosse Mehrzahl der Organismen, die sich auf geschlechtlichem Wege fortpflanzen, die also aus der Substanz der Eizellen und der Spermatozo\u00efde den Anfang der neuen Generation bilden, so wird eigentlich bloss Idioplasma vererbt und es gehen von den Eltern auf die Kinder nur Eigenschaften \u00fcber, welche in dem Idioplasma enthalten sind. Alles, wodurch sich die Individuen auszeichnen, Gestalt, Bau, Gr\u00f6sse, Farbe, Krankheiten, Fertigkeiten, \u00fcberhaupt alle Errungenschaften, welche durch die innere Begabung mit Hilfe der \u00e4usseren Gunst oder Ungunst erlangt wurden, gehen mit dem Individuum zu Grunde, wenn sie nicht einen entsprechenden Ausdruck in der Beschaffenheit des idioplasma-tischen Systems gefunden haben.\nF\u00fcr die geschlechtlichen Organismen besteht also die Continuit\u00e4t von den Eltern auf die Blinder bloss durch dm\u00bb Idioplasma in den Spermatozoiden und Eizellen, und das neue Individuum bringt nur hervor, wozu es die vererbten idioplasmatischen Anlagen und die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse, die es selber aufnimmt, bef\u00e4higen. Die Geschichte eines Stammbaumes von der einfachsten bis zur complicirtesten Pflanze, von dem niedersten bis zum h\u00f6chsten Thier ist eigentlich nichts weiter als die Geschichte des idioplasmatischen Systems, welches in dem Laufe der Zeiten immer reicher gegliedert wird \u00bbnd","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"V. Variet\u00e4t, Hasse, Ern\u00e4hrungsmodification.\t275\ndaher mit der Generationenfolge immer reicher gegliederte Individuen erzeugt. Der ganze Stammbaum ist un Grunde ein einziges aus Idioplasma bestehendes, continuirliches Individuum, welches wachst, sich vermehrt und dabei ver\u00e4ndert, und welches mit jeder Generation ein neues Kleid anzieht, d. h. einen neuen individuellen Leib bildet. Es gestaltet dieses Kleid, entsprechend seiner eigenen Ver\u00e4nderung, periodisch etwas anders und stete mannigfaltiger, und gibt jedes Mal mit dem Wechsel desselben auch den gr\u00f6ssten Theil seiner eigenen Substanz Preis.\nDiese Betrachtung des Stammbaumes als eines einzigen Individuums ist vollkommen correct, weil das bei der Urzeugung entstehende primordiale Plasma ebensogut als Idioplasma betrachtet wird, aus dem sich dann zun\u00e4chst das Ern\u00e4hrungsplasma aussAeidet, weil fernerinden darauffolgenden Stadien das Idioplasma das fast allein Wesentliche der vererbten Substanz ausmacht und weil noch sp\u00e4ter bei den geschlechtlichen Organismen das Idioplasma allein die durch alle Generationen ununterbrochen fortdauernde Substanz darstellt. Betrachtet man eine Reihe von Generationen in diesem Lichte, so hat die Vererbung nur noch eine fig\u00fcrliche Bedeutung. Die wissenschaftliche Darstellung kann zwar des Bildes nicht wohl entbehren, ohne die bisherige Anschauung wesentlich zu \u00e4ndern; aber gleichwohl stellt das Bild im Grunde die Wirklichkeit auf den Kopf. Denn statt dass die Eltern einen Theil ihrer Eigenschaften auf die Kinder vererben, ist es vielmehr das n\u00e4mliche Idioplasma, welches zuerst den seinem Wesen entsprechenden elterlichen Leib und eine Generation nachher den seinem Wesen entsprechenden und daher ganz \u00e4hnlichen kindlichen Leib bildet.\nW\u00e4hrend bei den Organismen mit geschlechtlicher Fortpflanzung nur Idioplasma vererbt wird und alle Errungenschaften von bloss individueller Bedeutung mit jeder Generation wieder verloren gehen, verh\u00e4lt sich die Vererbung bei den niederen Organismen, die sich durch Theilung vererben, einigermaassen anders. Denn hier wird nicht bloss Idioplasma, sondern auch Em\u00e4hrungsplasma und andere Substanzen auf die folgende Generation \u00fcbertragen ; die zwei Kinder theilen sich in die ganze Masse des Elters und empfangen somit auch alle individuellen Eigenschaften desselben. Die Vererbung ist also eine viel vollst\u00e4ndigere als bei den gr\u00f6sseren und geschlechtlichen Organismen. K\u00e4me die n\u00e4mliche Einrichtung auch bei den\n18*","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276\nV. Variet\u00e4t, Rasse, Ern\u00e4hningsmodification.\nletzteren vor, w\u00fcrde beispielsweise der Mensch sich durch Theilung in zwei gleiche H\u00e4lften, die sich bloss zu vervollst\u00e4ndigen brauchten, vermehren, so ist kein Zweifel, dass er viel vollst\u00e4ndiger in den Kindern fortlebte als es jetzt der Fall ist, dass er auch das individuell Gewonnene, seine Erfahrungen und Gewohnheiten, sein Wissen und K\u00f6nnen, seine Tugenden und Leidenschaften auf die Kinder vererbte.\nEs gibt also zweierlei Arten der Vererbung, ein. Umstand, der bei vergleichenden Betrachtungen wohl zu ber\u00fccksichtigen ist und bei dessen Vernachl\u00e4ssigung man leicht in Irrth\u00fcmer verfallen kann.\nDer Gegensatz der beiden Vererbungen tritt am sch\u00e4rfsten hervor, wenn wir, wie es eben geschehen ist, die Zweitheilung der niedersten und die geschlechtliche Fortpflanzung der h\u00f6chsten Organismen gegen einander halten. Die Vererbung durch Idioplasma kommt den Variet\u00e4ten und Arten sowie den Rassen zu; es ist die phylogenetische. Die Vererbung durch Em\u00e4hrungsplasma und nichtplasmatische Substanzen findet bei den Modificationen statt, und ist bloss bei einzelligen und wenigzelligen Organismen, die sich durch Theilung vermehren, bemerkbar, wor\u00fcber ich auf das bez\u00fcglich der Spaltpilze Mitgetheilte verweise (S. 265); sie beschr\u00e4nkt sich bei den h\u00f6heren Organismen auf eine Reihe von Zellgenerationen innerhalb der Ontogenien und ist somit nicht Vererbung im engeren Sinne (8. 268).\nDie zweite Art der Vererbung ist f\u00fcr die Abstammungslehre gleichg\u00fcltig. Sie kann immer Platz greifen, wenn die Fortpflanzungs-zeiien neben dem Idioplasma noch andere Substanzen enthalten. Letzteres ist nun zwar auch bei aller geschlechtlichen Fortpflanzung der Fall ; die Spermatozo\u00efde bestehen zwar fast bloss aus Idioplasma, aber die Eizellen besitzen ausser demselben noch eine viel gr\u00f6ssere Menge von Substanzen, die als N\u00e4hrstoffe verwendet werden. Daher w\u00e4re es m\u00f6glich, dass von der Mutter etwas auf die Kinder \u00fcberginge, was von dem Vater niemals vererbt wird. In der That sollen gewisse Krankheiten von m\u00fctterlicher, aber nicht von v\u00e4terlicher Seite auf die Kinder \u00fcbertragen werden. Aber dieses Erbe, das in dem Em\u00e4hrungsplasma enthalten ist, stellt sich bei der geschlechtlichen Fortpflanzung im Allgemeinen gegen\u00fcber dem phylogenetischen Erbtheil durch das Idioplasma als so winzig heraus, dass es meistens g\u00e4nzlich verschwindet und dass Vater und Mutter als gleichbetheiligt in dem Kinde erscheinen. Immerhin sind die beiden Arten der","page":276},{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"V. Variet\u00e4t, Raue, Ern\u00e4hrungsmodification.\n277\nVererbung, wenn sie auch stets mit einander vereinigt auftreten, als verschieden in ihrer Bedeutung zu unterscheiden.\nDie Ver\u00e4nderung, die gew\u00f6hnlich der Vererbung gegen\u00fcber gestellt wird, steht nicht im Gegensatz zu dieser, sondern zur Constanz. \u2014 Sie ist auch nicht gleichbedeutend mit Anpassung, wie es von der Darwinschen Schule gelehrt ai/d; denn die Anpassungsver\u00e4nderung ist nur ein Theil der Ver\u00e4nderungen, welche die Organismen erfahren.\nMit dem Ausdruck \u00bb Ver\u00e4nderung t bezeichnet man nicht nur den Vorgang, welcher von dem fr\u00fcheren zu dem sp\u00e4teren Zustand hin\u00fcberf\u00fchrt, sondern auch das Resultat dieses Vorganges, ausgedr\u00fcckt durch den Unterschied zwischen den beiden Zust\u00e4nden. In diesem Sinne heisst eine Ver\u00e4nderung constant, wenn das Gewonnene dauernd behalten, und verg\u00e4nglich, wenn es bald wieder preisgegeben wird. Die constante oder die phylogenetische Ver\u00e4nderung, wiewohl sie nach den \u00bbich vererbenden Eigenschaften des entfalteten Organismus beurtheilt wird, ist eigentlich nichts anderes als die Constitutions\u00e4nderung des Idioplasmas, mit welcher diejenige der sichtbaren Merkmale gleichen Schritt h\u00e4lt. Die verg\u00e4ngliche oder transitorische Ver\u00e4nderung erfolgt durch die von aussen in ungle: .her Weise angeregte Th\u00e4tigkeit des Idioplasmas bei gleichbleibender Constitution desselben. \u2014 Die transitorischen Ver\u00e4nderungen bedingen die Modificationen, welche f\u00fcr die Bildung der Stammb\u00e4ume ohne Bedeutung sind. Die com hinten Ver\u00e4nderungen erzeugen die Rassen und Variet\u00e4ten, von denen die ersteren ebenfalls keinen Werth f\u00fcr die Abstammung haben, indem der Aufbau der Reiche nur durch die Ver\u00e4nderung, die zur Variet\u00e4ten-bildung f\u00fchrt, erfolgt.\nDie individuelle Ver\u00e4nderung bedeutet den Schritt, den die Ver\u00e4nderung von einer Generation zur n\u00e4chstfolgenden zur\u00fccklegt. Die genaue W\u00fcrdigung dieses Werthes ist f\u00fcr die Abstammungslehre von gr\u00f6sstem Interesse, weil aus demselben die Art und Weise sowie das Zeitmaass des phylogenetischen Fortschrittes sich ergibt. Zu diesem Zweck muss die individuelle Ver\u00e4nderung bei der Variet\u00e4tenbildung von derjenigen bei der Rassen- und bei der Modi-ficationenbildung strenge unterschieden werden. Die Verwechslung","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"278\nV. Variet\u00e4t, Rasse, Ern\u00e4hrungamodiflcation.\ndieser verschiedenen Begriffe hat zu ganz irrigen Vorstellungen \u00fcber die Abstammungsbewegung gef\u00fchrt. Ich will daher diesen Punkt etwas eingehender betrachten.\nDer Fortschritt von einer Generation zur andern, der als individuelle Ver\u00e4nderung bezeichnet wird, ist gew\u00f6hnlich das Resultat eines stetigen Umbildungsprocesses w\u00e4hrend der ontogenetischen Entwicklung. Dies l\u00e4sst sich f\u00fcr die Variet\u00e4tenbildung nicht bezweifeln, mag die langsame Umbildung des Idioplasmas in autonomer Weise verm\u00f6ge seiner eigenen Constitution oder in Folge der \u00e4usseren Einwirkungen geschehen; denn die ab\u00e4ndernde Ursache mangelt g\u00e4nzlich bei n Fortpflanzungsacte. F\u00fcr die Bildung der Modificationen aber ist es selbstverst\u00e4ndlich, weil hier ja die Ver\u00e4nderung mit den Wachsthumsprocessen selbst verbunden ist.\nAnders verh\u00e4lt es sich mit der Rassenbildung, wo die individuelle Ver\u00e4nderung wenigstens dem Anschein nach vorzugsweise mit der Befruchtung eintritt, weil bei der Kreuzung ungleiche Idio-plasmen Zusammenkommen, wodurch theils neue Combinationen der Anlagen entstehen, theils fr\u00fcher latente Anlagen manifest werden. Man kann aber hier nur insofern von individueller Ver\u00e4nderung sprechen, als die Resultirende (das Kind) von jeder der beiden elterlichen Componenten verschieden ist, nicht insofern, als dass durch sie etwas principiell Neues entst\u00e4nde. Diese Neues schaffende Ver\u00e4nderung, die w\u00e4hrend der Dauer der Ontogenien th\u00e4tig ist, mangelt auch den Rassen nicht; aber nur soweit sie der Modi-ficationenbildung angeh\u00f6rt, macht sie sich deutlich bemerkbar, w\u00e4hrend die der Variet\u00e4tenbildung angeh\u00f6rende idioplasmatische Ver\u00e4nderung wegen ihrer Geringf\u00fcgigkeit vollst\u00e4ndig gegen\u00fcber den Spr\u00fcngen der Kreuzung verschwindet.\nDie individuelle Ver\u00e4nderung bei stattfindender Kreuzung darf :.icht einfach durch die Verschiedenheit zwischen der Mutter und den Kindern oder durch die Verschiedenheit unter den Kindern als ger 3ben betrachtet werden, eine Bemerkung, welche f\u00fcr die Ge-\u2022 '\u00eelechtspfianzen nicht ganz \u00fcberfl\u00fcssig ist. Ein solches Verfahren Juitte nur Berechtigung, wenn man'sicher w\u00fcsste, dass die Samen aus Selbstbefruchtung entsprungen sind. Hat aber, was immer m\u00f6glich ist, wenn man nicht besondere Vorsichtsmaassregeln anwendet, Befruchtung durch andere Individuen statt gefunden und haben die Kinder somit zwei Eltern, so darf die individuelle Ver-","page":278},{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"V. Variet\u00e4t, Rasse, Em\u00e4hrungmnodiflcation.\n279\n\u00bb\n\u00e4nderlichkeit nur mit Ber\u00fccksichtigung dieses Umstandes beurtheilt werden. Wenn das Individuum A durch das Individuum B befruchtet wurde, so sind die Kinder BA, und die individuelle Ver\u00e4nderung ist nicht etwa gleich der Differenz von A und BA, und wenn von den Kindern des Individuums A, was h\u00e4ufig vorkommt, die einen aus Selbstbefruchtung, die andern aus der Befruchtung durch B hervorgegangen sind, so kann selbstverst\u00e4ndlich die individuelle Ver\u00e4nderlichkeit abermals nicht aus dem Unterschiede der Halbgeschwister A A und BA ermessen werden. \u2014 Sind die Kinder durch das Zusammenwirken zweier Individuen entstanden, so darf die individuelle Ver\u00e4nderung nicht durch Vergleichung des Kindes (BA) mit dem Vater (B) oder mit der Mutter (A), sondern nur mit der Summe des elterlichen Paares (B-|-A) oder auch durch Vergleichung der legitimen Geschwister unter einander beurtheilt werden.\nWenn die individuelle Ver\u00e4nderung nicht durch Kreuzung erfolgt, . sondern in Folge des Wachsthumsprocesses w\u00e4hrend der ontogenetischen Entwicklungen t\u00e4tig ist, so muss bei vergleichenden Untersuchungen der ungleiche Werth der Generationen bei den verschiedenen Organismen in Rechnung gebracht werden. Die Ver\u00e4nderung erlangt, da sie ununterbrochen arbeitet, einen gr\u00f6sseren oder geringeren Betrag je nach der Dauer der Ontogenien und je nach dem Bau und der Gr\u00f6sse der Individuen. Bei einzelligen Organismen, die sich durch Theilung vermehren, wirkt die individuelle Ver\u00e4nderung nur w\u00e4hrend der Dauer einer Zelle und w\u00e4hrend der Verdoppelung des Idioplasmas und der \u00fcbrigen Substanz. Bei den h\u00f6heren Organismen kann die Ver\u00e4nderung vom einzelligen Keimstadium bis zum Eintritt der Fortpflanzung w\u00e4hrend der Dauer von Hunderttausenden und Millionen' von Zellgenerationen und, w\u00e4hrend sich das Idioplasma und die \u00fcbrige Substanz auf das Millinnanfft^ho vermehrt, th\u00e4tig sein.\nEs ist klar, dass im letzteren Falle eine viel betr\u00e4chtlichere Umwandlung in jeder Beziehung m\u00f6glich ist als im ersteren, und ; dass wir beispielsweise eine Million von Generationen einzelliger , Organismen nicht als gleichwertig neben eine Million von Genera- 1 tionen h\u00f6herer Organismen stellen d\u00fcrfen, sondern dass wir im\tj\nGegenteil eine Million Gonerationen der ersteren mit einer einzigen\tI\nGeneration der letzteren vergleichen m\u00fcssen. Schon aus diesem Grunde konnte man r\u00fccksichtlich der oben besprochenen Umwand-","page":279},{"file":"p0280.txt","language":"de","ocr_de":"280\nV. Variet\u00e4t, Rasse, Em\u00e4hrungsmodiflcation.\nlung der Wirkungsmodificationen niederer Pilze (S. 266) auf die Vermuthung kommen, dass dieser Vorgang keine Variet\u00e4tenbildung sein k\u00f6nne, weil bei demselben die Ver\u00e4nderung w\u00e4hrend hundert Zellgenerationen gr\u00f6sser ist als die phylogenetische Ver\u00e4nderung w\u00e4hrend hundert Generationen h\u00f6herer Pflanzen, von denen jede hunderttausend oder eine Million Zellgenerationen durchl\u00e4uft.\nVergleichen wir noch die individuelle Ver\u00e4nderung bei der Bildung der Modificationen, der Rassen und der Variet\u00e4ten mit einander, so bedarf diejenige, welche zur Entstehung derModificationen f\u00fchrt, keiner weiteren Er\u00f6rterung. Je nach den \u00e4usseren Einwirkungen mangelt sie bald vollst\u00e4ndig, wenigstens dem Anscheine nach, bald verursacht sie eine bis zur Unkenntlichkeit gehende Verschiedenheit. Ich habe bereits ausgef\u00fchrt, wie sehr sie die Rassen- und die Variet\u00e4tenbildung verdecken kann, und wie wichtig es ist, diese transitorische Ver\u00e4nderung von den dauernden Ver\u00e4nderungen strenge zu scheiden.\nWas die individuelle Ver\u00e4nderung bei der Rassenbildung betrifft, so ist dieselbe meistens von deutlich wahrnehmbarer Gr\u00f6sse. Bald besteht sie in kleinen Schritten, die sich nach wenigen Generationen zu einem in die Augen fallenden Schritte summiren, bald in einem Sprunge, wodurch die Rasse auf einmal zu Stande kommt. Der Sprung kann so gross sein, d' ss die Merkmale der neuen Rasse bei verwandten nat\u00fcrlichen Sippen eine Art oder eine Gattung, sogar eine Ordnung oder eine Classe charakterisiren w\u00fcrden.\nAls Beispiel f\u00fcr einen sehr grossen Sprung nenne ich die Metamorphose, welche bei der gew\u00f6hnlichen Unkrautpflanze Capsella bursa pastoris und bei einigen anderen Cruciferen (Iberis semper-florens, Matthiola annua, Cardamine pratensis) beobachtet worden ist. Die normale Bl\u00fcthe mit 6 tetradynamischen Staubgef\u00e4ssen und 4 Blumenbl\u00e4ttern verwandelt sich dabei in eine apetale Bl\u00fcthe mit 10 Staubgef\u00e4ssen; es werden also die 4 Blumenbl\u00e4tter unterdr\u00fcckt und daf\u00fcr 4 Staubgef\u00e4sse gebildet. Dies ist ein Sprung, der zu vollkommener Constanz gelangt, den Uebergang in eine andere Classe bedeuten k\u00f6nnte. \u2014 Unter den Spr\u00fcngen, welche zu den Merkmalen einer anderen nat\u00fcrlichen Ordnung f\u00fchren, ist die Verhandlung unregelm\u00e4ssiger Bl\u00fcthen in regelm\u00e4ssige zu nennen, oder die Pelorienbildung, wie sie beispielsweise bei Linaria und Antirrhinum vorkommt. \u2014 Oft treten diese Spr\u00fcnge an einzelnen","page":280},{"file":"p0281.txt","language":"de","ocr_de":"V. Variet\u00e4t, Raaae, Km\u00e4hrunggrnodiflcation.\t281\nAesten oder Zweigen auf, sodass letztere in eine andere Variet\u00e4t, Art oder Gattung umgewandelt scheinen; so tr\u00e4gt ein -einzelner Zweig geschlitzte oder krause oder panaschirte Bl\u00e4tter oder gef\u00fcllte Bl\u00fcthen u. dgl.\nWenn ich sage, dass die individuelle Ver\u00e4nderung bei der Rasse Eigenschaften hervorbringe, welche sonst Arten, Gattungen, Ordnungen und Classen unterscheiden, so meine ich nat\u00fcrlich nicht, dass diese Sippen wirklich gebildet werden. Denn das Wesen einer systematischen Einheit bosteht nicht in den Merkmalen, sondern in dem Grade der Constanz. Die erw\u00e4hnten, durch grosse Spr\u00fcnge der individuellen Ver\u00e4nderung hervorgebrachten Merkmale haben aber nur eine sehr geringe Constanz und k\u00f6nnen daher auch nur die Bedeutung von Rassenmerkmalen in Anspruch nehmen.\nWie ich bereits oben ausgef\u00fchrt habe (S. 246), bestehen die Spr\u00fcnge der individuellen Ver\u00e4nderung bei den Rassen nicht darin, dass wirklich neue Merkmale entstehen, sondern darin, dass latente Anlagen zur Entfaltung gelangen. Wenn eine rothbl\u00fchende Pflanze bei Selbstbefruchtung unter ihren Kindern auch weissbl\u00fchende hat, so ist dies nicht ein Beweis daf\u00fcr, dass durch einen individuellen Schritt rothe Bl\u00fcthen weiss werden k\u00f6nnen, sondern daf\u00fcr, Ha\u00ab\u00bb die Anlage zu rothen Bl\u00fcthen latent und daf\u00fcr die fr\u00fcher latente Anlage zu weissen Bl\u00fcthen manifest werden kann. \u2014 Was das vorhin erw\u00e4hnte Beispiel von Capsella bursa pastoris und anderer Cruciferen betrifft, so erlaubt das Verschwinden von 4 Blumenbl\u00e4ttern und das Auftreten von 4 neuen Staubgef\u00e4ssen eine doppelte Deutung. Man kann eine directe Umwandlung der Blumenbl\u00e4tter in Staubgef\u00e4sse annehmen, und sich dabei auf den Umstand berufen, dass die Blumenbl\u00e4tter aus Staubgef\u00e4ssen entstanden sind, sodaJ also die Anlagen auf einen fr\u00fcheren Zustand zur\u00fcckgehen, oder vielmehr, dass die noch im latenten Zustande vorhandenen Anlagen von Staubgef\u00e4ssen sich, anstatt der Anlagen von Blumenbl\u00e4ttern, entfalten w\u00fcrden. Man kann sich aber auch denken, dass f\u00fcr die 4 Blumenbl\u00e4tter der Cruciferen keine besonderen latenten Anlagen von Staubgef\u00e4ssen mehr im Idioplasma enthalten sind, und dass keim Latentwerden der Blumenbl\u00e4tter die Anlage der Staubgef\u00e4sse sich lediglich in vermehrter Zahl entfaltet, wobei die Architektur der Bl\u00fcthe unver\u00e4ndert bleibt. Die Zahl, in der ein Organ auftritt, ist n\u00e4mlich bei uen Pflanzen sehr h\u00e4ufig Variationen unterworfen,","page":281},{"file":"p0282.txt","language":"de","ocr_de":"282\nV. Variettt, Riiia, Ernlhrangsmodiflcfction\nund wir m\u00fcssen wohl annehmen, dass f\u00fcr ein und dasselbe Organ nur ein Complex von Anlagen vorhanden sei und dass es von der Configuration und Beschaffenheit des Idioplasmas abh\u00e4nge, ob dieser Anlagencomplex sich einmal oder vielmal, ob er in bestimmter oder in unbestimmter Zahl sich verwirkliche. Da nun die Natur des Idioplasmas f\u00fcr die Cruciferenblfithe 4 Blumenbl\u00e4tter und 6 Staub' gefcsse verlangt, so ist es begreiflich, dass die Anlage der Staub-geftsse beim Verschwinden der Blumenbl\u00e4tter die entstehende L\u00fccke auszuf\u00fcllen bestrebt ist.\nW\u00e4hrend die individuelle Ver\u00e4nderung bei der (k\u00fcnstlichen) Rassenbildung in ganz gewaltigen Spr\u00fcngen bestehen kann, sind die individuellen Schritte bei der (nat\u00fcrlichen) Variet\u00e4tenbildung unendlich klein, sodass man sie gar nicht wahrnimmt. Man weist zwar darauf hin, dass nicht zwei B\u00e4ume eines Waldes oder zwei St\u00fccke einer anderen wildwachsenden Pflanze gleich seien. Allein die Verschiedenheiten, die wir hier beobachten, geh\u00f6ren den Standorts- oder Ern\u00e4hrungsmodificationen an und liegen inner-halb der ontogenetischen Elasticit\u00e4tsgrenze. Eine wildwachsende Pflanze ist von ihren Eltern in wahrnehmbarer Weise bloss durch nichterbliche Eigenschaften unterschieden. Ich habe in fr\u00fcheren Zeiten die individuelle Verschiedenheit bei den nat\u00fcrlichen Sippen f\u00fcr ebenso sicher gehalten, wie dies jetzt noch allgemein der Pall ist Aber die zahlreichen Erfahrungen, die ich bei der Cultur wildwachsender Pflanzen gemacht habe, waren so \u00fcbereinstimmend und so schlagend, dass ich mich nunmehr zu der Behauptung gezwungen sehe: Die individuelle Verschiedenheit sei zwar theoretisch unanfechtbar und es k\u00f6nnen zwei Individuen, seien es Geschwister, seien es Elter und Kind, auch in ihren erblichen\tnicht\nvollkommen identisch sein; allein die erblichen Verschiedenheiten beschr\u00e4nken sich auf nicht bemerkbare physikalische und chemische Molecularverh\u00e4ltnisse.\nDa die Beobachtung am Individuum kein sichtbares Resultat gibt, so l\u00e4sst sich das Maass der individuellen Ver\u00e4nderung bei den Variet\u00e4ten nur in der Weise feststellen, dass man untersucht, wie weit dieselbe durch eine Reihe von Generationen sich h\u00e4ufen kann. Die Vergleichung der letzten vorweltlichen (n\u00e4mlich der terti\u00e4ren) Sippen mit den jetzt lebenden zeigt uns in vielen F\u00e4llen bloss einen Fortschritt zu nahe verwandten Species; die Vergleichung der seit","page":282},{"file":"p0283.txt","language":"de","ocr_de":"283\nV. Variet\u00e4t, Buae, Ern\u00e4hrangnoodiflcalion.\nder Eiszeit getrennten Pflanzen zeigt uns, dass unter den verschiedensten \u00e4usseren Verh\u00e4ltnissen die Variet\u00e4ten gleich geblieben sind oder nur wenig sich ver\u00e4ndert haben. Darnach w\u00e4re der Fort-schritt, der auf die einzelne Generation trifft, wirklich unendlich klein. Hiebei ist aber zu ber\u00fccksichtigen, dass die Beobachtung bloss beweist, die Ver\u00e4nderung sei in vielen F\u00e4llen sehr gering gewesen, w\u00e4hrend sie in andern F\u00e4llen grosser sein konnte; und ferner, dass, wenn meine Ansicht von der Ausbildung des Idio-plasmas richtig ist, die innere und die \u00e4ussere Ver\u00e4nderung nicht gleicher. Schritt halten und dass in manchen scheinbar gleich gebliebenen Organismen m\u00f6glicher Weise Anlagen erzeugt wurden, die zu einer gr\u00f6sseren \u00e4usseren Ver\u00e4nderung f\u00fchren werden. Immerhin ist der individuelle Fortschritt bei der Variet\u00e4tenbildung so gering, dass alle w\u00e4hrend einer Erdperiode auf einander folgenden Generationen zusammen bloss eine Strecke zurQcklegen, die von der einzelnen individuellen Ver\u00e4nderung bei der Rassenbildung weit \u00fcberholt wird.","page":283},{"file":"p0284.txt","language":"de","ocr_de":"VL\nKritik der Darwin\u2019sohen Theorie von der nat\u00fcrlichen\nZuohtwahL\nIch habe die Berechtigung der Theorie darzuthun gesucht, \u00abio\u2014 einerseits die Configuration des idioplasmatischen Systems mit innerer Nothwendigkeit stetig complicirter und periodisch neue Organisations-anlagen fertig (entfaltungsf\u00e4hig) werden, dass andrerseits die ftussem Einfl\u00fcsse, welche als directe Reize und indirect als Bed\u00fcrfnissreize wirken, Anpassungsanlagen im Idioplasma erzeugen, \u2014 dass somit die Eigenschaften der Organismen die nothwendigen Folgen von bestimmten Ursachen seien.\nEs ist nun auch die Berechtigung der gegenteiligen Theorie Darwin\u2019s zu pr\u00fcfen, welche die Abstammungsver\u00e4nderungen durch nat\u00fcrliche Zuchtwahl aus unbestimmten Wirkungen \u00e4usserer Ursachen entstehen l\u00e4sst. Diese Frage wurde schon eingangs im allgemeinen besprochen ; nun handelt es sich darum, sie im einzelnen r\u00fccksichtlich der Grundlagen und der Folgerungen mit meiner Theorie der bestimmten und directen Bewirkung zu vergleichen. Obgleich die entscheidenden Thatsachen in den vorstehenden Auseinandersetzungen bereits enthalten sind und den Leser in den Stand setzen, die Vergleichung vorzunehmen, so halte ich es, angesichts der so allgemeinen und begeisterten Zustimmung, welche das Darwinsche Princip gefunden hat, doch f\u00fcr zweckm\u00e4ssig, die Unannehmbarkeit desselben noch in besonderen Ausf\u00fchrungen darzuthun.\nDie Erfahrungen \u00fcber die Rassenbildung werden von Darwin folgendermaassen zusammengefasst. Wenn die Individuen einer Rasse","page":284},{"file":"p0285.txt","language":"de","ocr_de":"VL Kritik der Darwinschen Theorie ton der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl. 286\nvariiren und zwischen denselben ungehemmte Vermischung stattfindet, so bleibt die Rasse im wesentlichen dieselbe, weil beginnende neue Merkmale durch die Kreuzung wieder verloren gehen. Werden aber nur diejenigen Individuen, welche die neue Eigenschaft vollst\u00e4ndig oder in einem Anf\u00e4nge besitzen, durch eine Reihe von Generationen zur Fortpflanzung ausgew&hlt, so wird die Eigenschaft nach und nach best\u00e4ndig, indem h\u00e4ufig zugleich wno Steigerung derselben eintritt. Dieser Vorgang wird nun weiter von Darwin zu der Theorie verwendet, dass im nat\u00fcrlichen Zustande ein analoger Process stattfinde; nur werde die Zuchtwahl hier durch die Concurrenz getroffen. Die Individuen der nat\u00fcrlichen Sippen sollen variiren; und indem die Tr\u00e4ger der n\u00fctzlichen Eigenschaften die \u00fcbrigen verdr\u00e4ngen, sollen sie allein zur Vermehrung gelangen nmi vor der geschlechtlichen Vermischung mit den anderen weniger gut angepassten Individuen bewahrt bleiben. Wenn der Kampf ums Dasein nicht eine Auswahl tr\u00e4fe, so w\u00fcrden durch die Kreuzung die beginnenden Ver\u00e4nderungen immer wieder abgelenkt und vernichtet\nZwischen dieser Selectionstheorie und derjenigen der directen Bewirkung ist scheinbar nur ein kleiner Unterschied, indem nach meiner Ansicht der jetzige Zustand der organischen Reiche ebenfalls durch die Ver\u00e4nderung der Individuen und durch die Verdr\u00e4ngung herbeigef\u00fchrt wurde. Aber die causale Bedeutung dieser beiden Processe ist eine andere: nach Darwin ist die Ver\u00e4nderung das treibende Moment, die Selection das richtende und ordnende ; nach meiner Ansicht ist die Ver\u00e4nderung zugleich das treibende und das richtende Moment. Nach Darwin ist die Selection~n\u00d6Bi-wendig; ohne sie k\u00f6nnte eine Vervollkommnung nicht stattfinden und w\u00fcrden die Sippen in dem n\u00e4mlichen Zustande beharren, in welchem sie sich einmal befinden. Nach meiner Ansicht beseitigt die Concurrenz bloss das weniger Existenzf\u00e4hige ; aber sie ist g\u00e4nzlich ohne Einfluss auf das Zustandekommen alles Vollkommneren und besser Angepassten1).\n*) Dabei \u00fcbersehe ich keineswegs, dass Darwin die nat\u00fcrliche Znchtwahl nur als das haupts\u00e4chlichste und nicht geradetu als das einzige Mittel zur Ab\u00e4nderung der Lebensformen bezeichnet; aber nach meiner Ansicht ist sie in keinem Falle ein Mittel dazu.","page":285},{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"286 VL Kritik der Darwinschen Theorie too der netflHirhcn Zuchtwahl.\nDot Unterschied zwischen den beiden Theorien offenbart sich am deutlichsten, wenn wir uns fragen, wie die Reiche wohl beschaffen w\u00e4ren, wenn die Concurrent ganz inangelle Ich diese Voraussetzung schon in der Einleitung (8.17) gemacht. Nach der Selectionstheorie m\u00fcsste mit dem Auftreten der Geschlechts-different die Entwicklung der Reiche bei mangelnder Concurrent aufgeh\u00f6rt haben, weil nun eine ungehemmte Kreuzung die organische Weh in einem Chaos festgebannt h\u00e4tte. Nach meiner Ansicht dagegen w\u00fcrden sich auch hei fehlender Concurrent alle Organismen, die *vir jetzt kennen, gebildet haben; es w\u00e4re in der mi\u00bbn1i\u00abvn Zeit aus der einzelligen Alge ein Eichbaum und aus dem Infusorium ein S\u00e4ugethier geworden; aber es w\u00e4ren neben den jetzt lebenden Wesen auch noch die Abk\u00f6mmlinge aller derjenigen vorhanden, welche der Kampf ums Dasein verdr\u00e4ngt und vernichtet hat\nAuf den untersten Stufen der lebenden Wesen, im Reiche der Probien und bei den niedrigsten Pflanzen und Thieren, geschieht die Vermehrung auf ungeschlechtlichem Wege. Hier hat die Selection noch keine Bedeutung, ein Umstand, der besondere Beachtung verdient. Hat n\u00e4mlich eine Ver\u00e4nderung in einem Individuum begonnen, so kann sie sich stets in den Nachkommen desselben vererben und weiterbilden, weil keine Kreuzung sie st\u00f6rt Der Kampf ums Dasein entfernt das weniger Existenzf\u00e4hige und in zu grosser Zahl Vorhandene, aber er bef\u00f6rdert nicht die Ver\u00e4nderung. Nach meiner Ansicht nun verhalten sich die geschlechtlichen Organismen ganz wie die ungeschlechtlichen, so dass der Fortschritt in der Organisation seinem Wesen nach \u00fcberall der\t^\nDer Grund der verschiedenen Ansichten liegt in der Vorstellung \u00fcber die Natur der Ver\u00e4nderung, und hierin besteht der Kernpunkt der Differenz zwischen den beiden Theorien. Nach der Meinung Darwin\u2019s ist die Ver\u00e4nderung beliebig, richtungsloe, daher in verschiedenen Individuen ungleich; nach meiner Ansicht hat sie einen bestimmten Charakter und daher in den verschiedenen Individuen eine gewisse Uebereinstimmung.\nDer Erfolg der einen und der anderen Annahme l\u00e4sst sich leicht emsehen. Eine Sippe variire in ihren Individuen und die Ver\u00e4nderungen seien, wie Darwin es voraussetzt, ganz ungleich geartet, so werden die extremen Formen in der Regel nicht erreicht Die M\u00f6glichkeit hiezu ist zwar nicht ausgeschlossen, aber die Wahr-","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik der Derwin'achen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl. 287\nscheinlichkeit ist ausserordentlich gering. Es m\u00fcssten nimlfofi gerade zwei Individuen, die nach der n\u00e4mlichen Richtung hin zu variiren angefangen haben, sich begatten, und es m\u00fcssten ihre Nachkommen durch eine Reihe von Generationen immer nur unter einander sich kreuzen *). Da aber eine allgemeine Kreuzung zwischen den Indivi-duen einer Sippe statthat, so erfolgt eine stete Ausgleichung zwischen den begonnenen Ver\u00e4nderungen und die Sippe bleibt in der Mitte ihres ganzen m\u00f6glichen Formenkreises, wenn nicht die k\u00fcnstliche oder nat\u00fcrliche Zuchtwahl wirksam eingreift und einer bestimmten Ver\u00e4nderung durch Entfernung der \u00fcbrigen das Feld einr\u00e4umt.\nWenn aber dem entgegengesetzt in der fraglichen Sippe die Umbildung in allen Individuen nach der n\u00e4mlichen Richtung stattfindet, so kann sie durch die Kreuzung nicht gest\u00f6rt werden. Ver\u00e4ndern sich in einem bestimmten Falle die \u00fcbrigen Eigenschaften in den verschiedenen Individuen allseitig, eine Eigenschaft dagegen einseitig, so macht die Kreuzung alle anderen Variationen unm\u00f6glich, l\u00e4sst aber die eine sich ungehemmt ausbilden. Zeigt beispielsweise die Behaarung diese gleichm\u00e4ssige Ab\u00e4nderung, so wandelt sie sich in der ganzen Sippe so um, wie etwa in der Nachkommenschaft eines \u00dcbereinstimmenden Paares, das sich nach der Migrationstheorie in die Einsamkeit begeben h\u00e4tte, um da einen neuen Stamm zu gr\u00fcnden, oder dem es nach der Selectionstheorie gelungen w\u00e4re, im Kampfe ums Dasein alle \u00fcbrigen Individuen zu vernichten.\nEin \u00e4hnliches Verhalten, wie eben f\u00fcr eine Sippe angenommen wurde, zeigen nun nach meiner Ansicht allgemein die nat\u00fcrlichen Sippen. Es gibt bei allen ein gewisses Gebiet von Eigenschaften, in welchem die Variationen allseitig, und andere Gebiete, in denen sie einseitig erfolgen. Die Variationen des ersten Gebietes unterliegen im grossen und ganzen den Gesetzen, die nach Darwin f\u00fcr alle Variationen maassgebend sein sollten. Sie sind die unmittelbaren Folgen von klimatischen und Em\u00e4hrungseinfl\u00fcssen, bestehen in mannigfaltigen Storungen der normalen Vorg\u00e4nge und werden durch die Kreuzung zum Theil unsch\u00e4dlich gemacht (S. 205), entwickeln sich zuweilen aber zu abnormalen Merkmalen, die in der\n\u2019) Deshalb ist die Hypothese der Absonderung oder Migration ersonnen worden, wie denn immer eine unnat\u00fcrliche und deshalb ungen\u00fcgende Hypothese, um sich su st\u00fctaen, eine andere noch unhaltbarere Hypothese aufsucht.","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288 VI. Kritik der Darwin schen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl.\nCultur erhalten bleiben und Rassen bilden (S. 232), im nat\u00fcrlichen Zustande jedoch von den normalen und lebenskr\u00e4ftigen Individuen durch die Concurrenz beseitigt werden. Kreuzung und Concurrent haben in diesem Falle eine conservative, die Sippe in dem einmal bestehenden Zustande erhaltende Wirkung.\nDie anderen Gebiete von Eigenscluiften, diejenigen n\u00e4mlich, in denen die Variationen gleichsinnig eintreten, werden dadurch bedingt, dass alle Individuen von den n\u00e4mlichen Ursachen in derselben Weise getroffen werden. Diese Ursachen sind, wie ich fr\u00fcher ausgef\u00fchrt habe, einerseits die Molecularkr\u00e4fte, welche die in den Individuen einer Sippe \u00dcbereinstimmende Configuration des Idio-plasmas bei der fortw\u00e4hrenden, mit dem Wachsthum verbundenen Micell-Einlagerung und -Umlagerung zu einer complicirteren Organisation f\u00fchren, und andrerseits die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse, die als Reize wirken und die Anpassungen zu Stande bringen. Bez\u00fcglich dieser beiden Gebiete k\u00f6nnen Kreuzung und Verdr\u00e4ngung die Ver\u00e4nderung weder beschleunigon noch verlangsamen.\nNachdem ich den Gegensatz der zwei Descendenztheorien dargelegt habe, will ich sie von den verschiedenen maassgebenden Gesichtspunkten aus vergleichend pr\u00fcfen. Von zwei Theorien, die, wie es hier der Fall ist, einander ausschliessen, muss die eine falsch sein; die richtige aber muss sich als wahr erweisen, man mag sie von irgend einer Seite betrachten, und ihr darf keine Thatsache und kein Gesetz widersprechen, \u2014 w\u00e4hrend kein logischer Weg von einer Thatsache oder einem Gesetze aus zu der falschen Theorie f\u00fchren kann. Ich glaube, dass die Selectionstheorie in jedem Falle, wo ein thats\u00e4chlicher Anhalt gegeben und ein logisches Verfahren m\u00f6glich ist, sich entweder als unhaltbar oder als weniger wahrscheinlich erweist\nEs wurden fr\u00fcher schon von mir und Andern verschiedene Ein w\u00fcrfe gegen die Selectionstheorie gemacht, und Darwin selbst hat sich alle M\u00fche gegeben, dieselben zu entkr\u00e4ften, w\u00e4hrend die Darwinisten sie nicht beachteten oder fl\u00fcchtig dar\u00fcber hinweggingen. Dies ist nicht \u00fcberraschend ; der Meister kennt die Schw\u00e4chen seiner Theorie, die er m\u00fchsam aufgerichtet hat, w\u00e4hrend die J\u00fcnger, auf die Worte des Meisters schw\u00f6rend, Thatsachen und Gr\u00fcnde leicht","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik der Darwin'\u00bbchen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl. 289\nder Autorit\u00e4t der Lehre unterordnen. Ich werde \u00fcbrigens jetzt, nachdem ich meinen fr\u00fcheren vermittelnden Standpunkt verlassen und auch die Anpassungen von der Zuchtwahl befreit habe, die Einw\u00e4nde in vermehrter Zahl und in sch\u00e4rferer Form begr\u00fcnden k\u00f6nnen.\nIch hebe folgende sieben Gesichtspunkte hervor, welche uns die Abstammung durch Zuchtwahl unannehmbar machen:\n1.\tBez\u00fcglich der allgemeinen Bedeutung der Selectionstheorie ist die unbestimmte Wirkung unbestimmter Ursachen und die dem Zufall allzusehr \u00fcberlassene Entscheidung durch die nat\u00fcrliche Zuchtwahl unserem naturwissenschaftlichen Bewusstsein weniger zusagend. Ferner setzt sich die Selectionstheorie, welche ihrem Princip gem\u00e4ss nur nach dem erreichten Nutzen einer Erscheinung fr\u00e4gt, um dieselbe zu rechtfertigen, in Widerspruch mit der wahren und exacten Naturforschung, welche vor allem die bewirkenden Ursachen der Dinge zu erkennen sucht\n2.\tDie Folgerung von der (k\u00fcnstlichen) Rassenbildung auf die (nat\u00fcrliche) Variet\u00e4tenbildung, welche die Grundlage der Selectionstheorie ansmacht, ist unzul\u00e4ssig, da beide wesentlich verschieden sind und namentlich sich r\u00fccksichtlich der Kreuzung ungleich verhalten. Die Variet\u00e4ten n\u00e4mlich vermischen sich sehr schwer mit einander und nehmen kein fremdes Blut in irgend wirksamer Menge auf, werden somit auch durch die ihnen gebotene Gelegenheit zur Kreuzung nicht ver\u00e4ndert; mit diesen Eigenschaften stimmen ihre Vorkommensverh\u00e4ltnisse genau \u00fcberein.\n8. N\u00fctzliche Ver\u00e4nderungen k\u00f6nnen erst, wenn sie eine bemerkbare H\u00f6he erreicht haben und in zahlreichen Individuen vorhanden sind, eine ausgiebige Verdr\u00e4ngung der Mitbewerber bewirken. Da sie aber im Anf\u00e4nge durch eine lange Reihe von Generationen jedenfalls noch sehr unbedeutend und nach der Selectionstheorie auch nur in einer kleinen Zahl von Individuen vertreten sind, so bleibt die Verdr\u00e4ngung aus und eine nat\u00fcrliche Zuchtwahl kommt, da ihr der wirksame Hebel mangelt, \u00fcberhaupt nicht zu Stande.\nDie Ern\u00e4hrungseinfl\u00fcsse, welche die Selectionstheorie voraus-setzt, bewirken thats\u00e4chlich keine erblichen Ver\u00e4nderungen, nnd wenn sie es th\u00e4ten, so k\u00f6nnte eine Steigerung der begonnenen Ab\u00e4nderung nicht ein treten, weil die unvermeidliche Kreuzung eine nat\u00fcrliche Zuchtwahl unm\u00f6glich machen w\u00fcrde. Ferner l\u00e4sst sich aus den unbe-\n\u2022 T. Nftgeli, Abatammungalehn.\tio","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"200 VI. Kritik der Darwinschen Theorie von der aetOrttchen Zuchtwahl.\nstimmten, in allen denkbaren Richtungen wirkenden Ernfthrungs-einfl\u00fcssen der ao stetige phylogenetische Fortschritt sa einer com-plioirteren Organisation nicht erklAren. Ebenso wenig weiden durch dieselben die Erscheinungen der Anpassung verursacht; dies ergibt sich einerseits ans dem Umstande, dass Gebrauch und Nichtgebrauch die Zn- und Abnahme der Organe bedingen, da Ursache f\u00fcr sich vollkommen aasreicht und daher die Mitwirkung einer zweiten andersartigen Ursache ausschliesst, \u2014 und andrerseits durch den ferneren Umstand, dass Anftnge von Organen bis an der Grosse, wo sie in Gebrauch kommen und ihre N\u00fctzlichkeit su erproben verm\u00f6gen, mangeln, obgleich sie durch die ErnAhrungs-einfl\u00fcsse in Menge hervorgebracht werden m\u00fcssten.\n6. Die Eigenschaften der Organismen m\u00fcssten in Folge der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl um so constanter sein, je n\u00fctzlicher sie sind, und Einrichtungen, die keinen Vortheil gew\u00e4hren, konnten keine Best\u00e4ndigkeit erlangen. Im Widerspruche hiemit geh\u00f6ren gewisse, rem morphologische, mit R\u00fccksicht auf den Nutsen indifferente Merkmale tu den allerbest\u00e4ndigsten.\n6.\tAus der Selectionstheorie, nach welcher von den eintretenden richtungslosen Ver\u00e4nderungen bloss die n\u00fctzlichen festgehalten w\u00fcrden, lassen sich weder die Divergenz der Reihen in den organischen Reichen, noch die bestehenden L\u00fccken in und \u00abwischen den Reihen erklAren, indem vielmehr eine netzf\u00f6rmige Anordnung der Sippen su Stande kommen m\u00fcsste.\n7.\tEbenso widersprechen jener Theorie das Nichtvorhandensein der von ihr behaupteten gegenseitigen Anpassung der Bewohner\neines Landes und die bestehenden Naturalisationen fremder Er Zeugnisse.\nDiese Einw\u00fcrfe gegen die Selectionstheorie, die ich hier bloss gans allgemein formulirt habe, sollen im folgenden des N\u00e4heren begr\u00fcndet werden.\nIch stelle diesen Punkt wegen seiner Allgemeinheit voran, obgleich ich ihm keine entscheidende Wichtigkeit sugestehe. Es ist aber immerhin interessant zu untersuchen, in welchem Verh\u00e4ltniss","page":290},{"file":"p0291.txt","language":"de","ocr_de":"VL Kritik der DarwWachen Theorie too der natoriichen Zuchtwahl 291\ndie beiden Theorien n unserer ganzen \u00fcbrigen naturwissenschaft-lichen Anschauung stehen und welche allgemeine Bedeutung sie haben.\nZun\u00e4chst ist es zweckm\u00e4ssig, sich dar\u00fcber klar zu sein, was die Theorien f\u00fcr die Abstammungslehre selbst zu leisten verm\u00f6gen. Eine Richtigstellung dieses Punktes wird deshalb nothwondig, weil bez\u00fcglich der Selectionstheorie in Deutschland fortw\u00e4hrend viel ges\u00fcndigt wird. Ich will nicht von den Ueberschwenglicheti sprechen, welche die Selection als ein Evangelium preisen und als Dogma verk\u00fcnden. Aber selbst besonnenere Beurtheiler behaupten, dass die Abstammungslehre durch die Selectionstheorie winsennchaftlith begr\u00fcndet und bewiesen werde, wiewohl sie doch durch nichts anderes begr\u00fcndet und bewiesen werden kann als durch die Allgemeing\u00fcltigkeit des Causalit\u00e4tsge8etse8. Wie die Undulatkmstheorie nicht die Fortpflanzung des Lichtes beweist, sondern bloss zeigt, wie man sich dieselbe vorstellen k\u00f6nne, so vermag auch die Selectionstheorie f\u00fcr die Abstammungslehre nicht mehr zu thun. Uebrigens wird dieser Lehre durch solche Behauptungen ein schlechter Dienst geleistet ; denn w\u00fcrde die nat\u00fcrliche Abstammung Wirklich begr\u00fcndet und bewiesen durch die Selectionstheorie, so m\u00fcsste sie als fci\u2014h aufgegeben werden, sobald sich die Selection als Irrthum herans-8tellte. Die nat\u00fcrliche Abstammung steht aber als allgemeine That-sache so fest, dass sie alle unhaltbaren Theorien \u00fcberdauern wird, die man an sie ankn\u00fcpft.\nDer Unterschied der beiden Theorien l\u00e4sst sich in seiner allgemeinsten Form folgendermaassen aassprechen. Nach der Selectionstheorie bringen unbestimmte und nicht zu analysirende Ursachen (die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse) in den verschiedenen Individuen unbestimmte und nicht zu analysirende Wirkungen (die individuellen Ver\u00e4nderungen) hervor, von denen eine, die n\u00fctzlichste, durch Verdr\u00e4ngung der mit den \u00fcbrigen Wirkungen behafteten Individuen allem Bestand gewinnt. Die Theorie der directen Bewirkung dagegen setzt be-stimmte, thefls bekannte, theils zu erkennende Ursachen voraus, welche bestimmte Wirkungen, die morphologischen und physiologischen Eigenschaften der Organismen unmittelbar zur Folge haben.\nDie bestimmte Eigenschaft kommt nach der Selectionstheorie nur durch Elimination einer Menge von unbestimmten Figwn\u00ab/.hn\u00abfr>r *u Stande. Diese Elimination ist die Hauptsache; was Alks vor derselben entstehe, erscheint ab gleichg\u00fcltig, vorausgesetzt, Ammm\nIV","page":291},{"file":"p0292.txt","language":"de","ocr_de":"292 VL Kritik dor Darwin'sehen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl.\ndarunter auch das N\u00fctzliche sich befindet. Deswegen begn\u00fcgt sich die Theorie damit, bloss ganz im allgemeinen auszusprechen, dass in den klimatischen und Em\u00e4hrungseinfl\u00fcssen die Ursachen zu mannigfaltiger Ver\u00e4nderlichkeit gegeben seien. Sie besch\u00e4ftigt sich eingehend mit der Verdr\u00e4ngung und Anpassung, erweist sich aber als unfruchtbar f\u00fcr die Erforschung der Ursachen und ihrer Wirkungsweise, also gerade f\u00fcr das, was sonst als die Hauptaufgabe der exacten Naturwissenschaft angesehen werden muss.\nNach der Selectionstheorie, welche die Ver\u00e4nderungen in unbestimmter Weise, also in jedem Theil des Organismus, selbst in jeder Zelle und nach allen Richtungen hin eintreten l\u00e4sst, ist die bestehende organische Welt nichts anderes als ein Einzelfall von einer unendlichen Zahl von F\u00e4llen, von denen viele, vielleicht alle durchprobirt und bis auf den einen unbrauchbar befunden wurden. Dies hat als ein blindes Walten von Naturkr\u00e4ften Anstoss erregt. Allein von Seite der Naturforschung w\u00fcrde in dieser Beziehung allerdings kein Bedenken bestehen, da, wenn auch die Ursachen erforscht sind, doch ihr erster Grund uns unbekannt bleibt, und daher \u00fcberall in der Natur schliesslich von einem blinden, d. h. uns unverst\u00e4ndlichen Geschehen gesprochen werden kann\nDagegen wird das naturwissenschaftliche Bewusstsein weniger befriedigt durch den Umstand, dass von der Selectionstheorie in den h\u00f6chsten Regionen und in den kunstvollsten Einrichtungen der Natur dem Zufell ein so grosser Einfluss einger\u00e4umt wiH Die phylogenetische Entwicklungsgeschichte eines Stammes besteht in einer grossen Zahl von Schritten. Die Eigenartigkeit jedes einzelnen Schrittes l\u00e4sst jene Theorie bedingt werden durch die Beschaffenheit des Organismus, also durch die Eigenartigkeit der vorausgehenden Schritte, ferner durch die unbestimmte Beschaffenheit der \u00e4usseren Einfl\u00fcsse, welche alle m\u00f6glichen Ver\u00e4nderungen bewirken, und endlich durch diejenigen \u00e4usseren Verh\u00e4ltnisse, von denen es abh\u00e4ngt, welche der Ver\u00e4nderungen die anderen verdr\u00e4nge.\nBau und Function, die ein Organismus animmt, h\u00e4ngen also nach der Selectionstheorie bei jedem Schritt von verschiedenen zufelligen Umst\u00e4nden ab, und dem entsprechend hat sich die Monade in dem einen Stamm zum R\u00e4derthier, in einem andern zur Qualle, in noch anderen zum Insect, zum Fisch, zum Vogel, zum S\u00e4ug* thier und Menschen entwickelt H\u00e4tten sich die Umst\u00e4nde anders","page":292},{"file":"p0293.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik der Darwinschen Theorie von der natftr\u00fcchen Zuchtwahl. 293\ncombinirt, h\u00e4tten die klimatischen Ver\u00e4nderungen einen anderen Verlauf genommen, w\u00e4re die Wanderung der Organismen in anderer Weise eingetreten, so w\u00e4re nach dieser Theorie auch die Ver\u00e4nderung in den Individuen und besonders die Verdr\u00e4ngung und die Zuchtwahl eine andere geworden; es h\u00e4tten sich andersartige St\u00e4mme gebildet, und, was beispielsweise den Stamm der S\u00e4ugethiere und des Menschen betrifft, so w\u00fcrde derselbe entweder ganz mnngnlp oder er h\u00e4tte zu mehr oder weniger von der jetzigen Beschaffenheit abweichenden Organisationen sich entwickelt\nWenn ich sage, dass die Selectionstheorie dem Z\"* \u2019 uien wichtigen Theil an der Abstammung \u00fcberlasse, so meine ich nicht etwa, dass dieselbe nicht f\u00fcr jedes Geschehen die bestimmte Ursache voraus-setze. Aber wenn auch von einem absoluten Standpunkte aus All^ Nothwendigkeit und ebensogut Allee Zufall ist, so gibt es doch in relativem Sinne neben der Nothwendigkeit einen Zufall von objectiver (nicht bloss subjectiver) Bedeutung, indem jedes Ereigniss nur zu gewissen anderen in causalem Verh\u00e4ltniss steht und in Bezug auf alle \u00fcbrigen Ereignisse den Charakter der Zuf\u00e4lligkeit besitzt Es ist dies die Zuf\u00e4lligkeit, welche von der Wahrscheinlichkeitsrechnung zum Object ihrer Untersuchungen gemacht wird, \u2014 und dieser Zufidligkeit gestattet die Selectionstheorie einen allzu grossen Spielraum.\nIch kann meinen Gedanken vielleicht am besten durch ein Bild anschaulich machen, das ich an ein Kindenn\u00e4rchen ankn\u00fcpfen will. In demselben werden Zwerge in den Besitz der ersten Zeile eines Reimspruches gesetzt, zugleich mit der Bestimmung, dass sie so lange einem bestimmten Banne unterworfen sein sollen, bis sie eine dazu passende zweite Zeile gefunden. Sie singen nun best\u00e4ndig die erste Zeile, und keinem f\u00e4llt etwas Gescheites ein, das sich dazu reimt. Endlich werden sie von einem Sonntagskind erl\u00f6st, welches in einfachster Weise den Spruch erg\u00e4nzt Die Zwerge h\u00e4tten ihre Aufgabe auf dem Wege der Selection zu Stande bringen k\u00f6nnen, n\u00e4mlich durch Probiren aller m\u00f6glichen kleinen Zus\u00e4tze zu der empfangenen Reimzeile, bis sich zuletzt eine zweite angepasst h\u00e4tte.\nSie konnten, um mit den allergeringsten, gleichsam molecularen Ab\u00e4nderungen vorzugehen, aus einem Alphabet durchs Loos einen Buchstaben ziehen, dann aus dem wieder erg\u00e4nzten Alphabet einen zweiten Buchstaben und so weiter. Durch Verwerfen aller unbrauchbaren Buchstaben w\u00e4ren sie zum ersten Wort, dann rum zweiten","page":293},{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"294 VI. Kritik der Darwin\u2019schen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl.\nund den folgenden W\u00f6rtern gekommen. Es h\u00e4tte also jeder Buchstabe und dann auch jedes Wort die Probe der N\u00fctzlichkeit bestanden, und alles w\u00e4re beseitigt worden, was mit Bezug auf den Sinn, die Construction, den Rhythmus und schliesslich den Reim sich als nicht existenzf\u00e4hig erwiesen. In dieser Weise konnten die Zwerge sicher, wenn auch durch m\u00fchsame und langwierige Arbeit, sich von dem Banne befreien; aber es hing vom Zufall ab, welchen Vers sie auf das ihnen Oegebene machten und welche von den Dutzenden m\u00f6glicher Reimzeilen sie fanden. \u2014 Dies ist das Bild des indirecten Weges, auf dem die Selectionstheorie durch Probiren von allen m\u00f6glichen Ver\u00e4nderungen die kleinen brauchbaren Fortschritte gewinnt, welche sich zur Entwicklung der Reiche summiren.\nNach der Theorie der directen Bewirkung dagegen ist Bau und Function der Organismen in den Hauptz\u00fcgen eine nothwendige Folge von den der Substanz innewohnenden Kr\u00e4ften und somit nnahha^g von \u00e4usseren Zuf\u00e4lligkeiten. Auch wenn die klimatischen Ver\u00e4nderungen und die Wanderungen der Organismen in fr\u00fcheren Perioden sich wesentlich anders gestaltet h\u00e4tten, so mussten die Organisations-stufen gerade so, und die Anpassungen konnten nicht viel anders werden, als sie jetzt sind. Damit treten die Organismen in Uebetein-stimmung mit den anderen individuellen Gestaltungen der Materie, namentlich mit den Krystallen, deren Bau ebenfalls im Wesentlichen von den der krystallisirenden Substanz innewohnenden Kr\u00e4ften und nur in unwesentlichen Dingen von den \u00e4usseren Umst\u00e4nden abh\u00e4ngt\nDie Theorie der directen Bewirkung, welche alles Wesentliche an den Organismen ans bestimmten Ursachen hervorgehen l\u00e4sst, setzt der Forschung ein klares und auf exacte Weise zu erreichendes Ziel, n\u00e4mlich f\u00fcr die bekannten bestimmten Ergebnisse die noch unbekannten bestimmten Ursachen zu erforschen. Die Selectionstheorie hat sich, indem sie von unbestimmten kleinen Ursachen und unbestimmten kleinen Wirkungen ausgeht, ihre Aufgabe schwieriger gemacht als jene Theorie oder auch leichter, je nach der Art, wie sie dieselbe erf\u00fcllen will. Die Aufgabe w\u00e4re offenbar schwieriger, wenn sie in exacter Weise gel\u00f6st werden sollte. Eine solche L\u00f6sung m\u00fcsste n\u00e4mlich m\u00f6glich sein, \u2014 denn auch die Herleitung von bestimmten Ergebnissen aus unbestimmten Anf\u00e4ngen gestattet eine pr\u00e4cise Formulirung und eine genaue Behandlung, \u2014 wenn \u00fcberhaupt die Ergebnisse auf diesem Wege zu Stande gekommen w\u00e4ren.","page":294},{"file":"p0295.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik der Darwin schen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl. 295\nAber ein solches streng logisches Verfahren h\u00e4tte zu unannehmbaren Folgerungen gef\u00fchrt und dadurch die Unhaltbarkeit der Pr\u00e4missen dargethan.\nDie Anh\u00e4nger der Selectionstheorie haben sich denn auch ihre Aufgabe im allgemeinen wesentlich erleichtert, indem sie der Theorie selbst einen allzu wenig bestimmten Ausdruck gaben und bei der Ausf\u00fchrung h\u00e4ufig auf noch weniger bestimmten Bahnen wandelten, mitunter wohl auch auf exacte Forschung \u00fcberhaupt schlecht zu sprechen waren. In dieser Weise wurde es m\u00f6glich, trotzdem dass im einzelnen viel Treffliches geleistet wurde, den jedesmaligen thats\u00e4chlichen Bestand aus der Theorie plausibel zu machen und als Best\u00e4tigung derselben hinzustellen, wenn im einzelnen Fall die Thatsachen auch noch so sehr mit den streng logischen Consequenzen im Widerspruche waren. Ich werde dies bei der Besprechung der \u00fcbrigen Punkte darthun.\nDas Princip der Selectionstheorie, dass aus zuf\u00e4lligen und unbestimmten Ab\u00e4nderungen nur das Beste behalten werde, erzeugt naturgem\u00e4ss die Meinung, dass jede Bestand gewinnende Erscheinung etwas Auserlesenes, etwas durch seine N\u00fctzlichkeit Erprobtes sein m\u00fcsse. Deswegen geht die Forschung der Darwinschen Schule vor allem aus nach dem Nutzen einer jeden organischen Einrichtung. Ein solches Verfahren hat innerhalb rationeller Grenzen gewiss seine Berechtigung; denn zur vollst\u00e4ndigen Erkenn tniss eines Dinges geh\u00f6rt ja auch die Kenntniss seiner Wirkungen, insofern wir aus denselben eine bessere Einsicht in seine Natur erlangen.\nHier ist aber nun zuv\u00f6rderst eine Einschr\u00e4nkung zu manben Die Wirkungen eines Ereignisses sind mehr oder weniger nnmiitalh^r und sie sind der Zahl nach unbestimmt, da von demselben eine Menge von nachfolgenden Ereignissen in gr\u00f6sserem oder geringerem Maas8e beinflusst wird. Was uns wissenschaftlich interessirt, sind die unmittelbaren Folgen, die in der Kette von Ursachen und Wirkungen zun\u00e4chst aus jenem Ereigniss hervorgehen und als deren bewirkende Ursache es erscheint. Eingig in dieser Beschr\u00e4nkung lege ich Werth auf die n\u00fctzliche Function der AnpawningBflrHo.hflinnngftn t weil aus ihr zuweilen ein R\u00fcckschluss auf die Ursachen m\u00f6glich","page":295},{"file":"p0296.txt","language":"de","ocr_de":"206 VI. Kritik der Darwinschen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl.\nist. Der Nutzen einer organischen Einrichtung ist aber manchmal nicht eine solche unmittelbare, sondern eine mehr oder weniger vermittelte, zuweilen selbst ziemlich weit abliegende Wirkung. Er bietet dann auch, indem er wenig zur Erkenntniss des Wesens jener Einrichtung beitragt, nicht ein unmittelbar wissenschaftliches, sondern mehr ein praktisches Interesse mit R\u00fccksicht auf das ontogenetische und phylogenetische Bestehen des bestimmten Organismus dar.\nDer wissenschaftliche Werth, den das Forschen nach dem Nutzen der organischen Erscheinungen haben kann, wird oft noch verk\u00fcmmert durch ein Verfahren, das man nicht immer als ein genaues und kritisches anzuerkennen vermag. Indem manche Anh\u00e4nger der Selectionstheorie nicht unbefangen die Wirkungen pr\u00fcfen, sondern um allen Preis in jedem Vorkommniss einen Nutzen auffinden wollen, welcher den Daseinsgrund und die phylogenetische Erkl\u00e4rung seiner Entstehung abgeben soll, verfallen sie in einen \u00e4hnlichen Fehler wie die auf einem ganz entgegengesetzten Standpunkte befindlichen Teleologen. So wird das Verfahren, statt wissenschaftlich zu bleiben, zur Manier. Es braucht ja nicht gar sehr viel Scharfsinn, um aus irgend einer organischen Erscheinung einen wirklichen oder eingebildeten Nutzen f\u00fcr ihren Tr\u00e4ger herauszukl\u00fcgeln. Aber welche Berechtigung liegt in einem solchen Erfolge, wenn man sich gestehen muss, dass, wenn die Erscheinung anders w\u00e4re, der Nutzen ebenso deutlich oder noch deutlicher hervortrftte.\nMan muss sich \u00fcberhaupt damit bescheiden, dass die Dinge in der organischen Welt, gerade so wie in der unorganischen Natur, da sind, weil sie eben da sind, weil n\u00e4mlich die sie bewirkenden Ursachen ihnen vorausgingen, und dass ihr Bestehen weiter nichts als ihre Existenzf\u00e4higkeit und den Mangel anderer verwandter Dinge mit gr\u00f6sserer Existenzf\u00e4higkeit beweist. Wenn man das Verfahren der Selectionstheorie auf die unorganische Natur anwenden wollte, was liesse sich nicht Alles \u00fcber n\u00fctzliche Anpassungen der Er^ scheinungen sowohl an andere unorganische als an organische Erscheinungen sagen? Welche Betrachtungen k\u00f6nnten nicht allein \u00fcber die theilweise exceptionellen Eigenschaften des Wassers angestellt werden. Gl\u00fccklich\u00ab\u00ab Weise begn\u00fcgen sich Physik und Chemie damit, die Ursachen zu erforschen, und niemand stellt Speculationen dar\u00fcber an, welche Vortheile oder Nachtheile die sechseckige Form der Schneeflocken und die kugelige Gestalt der Regentropfen gew\u00e4hren.","page":296},{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik der DarwinWhen Theorie von \u00bb1er nat\u00fcrlichen Zuchtwahl. 297\nDie unorganische Natur im ganzen und im einzelnen wird von der exacten Wissenschaft jeweilen als ein System von Kr\u00e4ften und Bewegungen angesehen, die sich gegen einander ins Gleichgewicht gesetzt haben und, wo dasselbe gest\u00f6rt wird, einem neuen Gleichgewicht zustreben. Die organische Natur ist ebenfalls sowohl als Ganzes wie in jedem einzelnen Theil ein solches, nur viel com-plicirteres, System von Kr\u00e4ften und Bewegungen, und die Aufgabe der phylogenetischen Wissenschaft ist es vor allem, die Ursachen der Gleichgewichtsst\u00f6rungen und damit der stetsfort eintretenden Ver\u00e4nderungen, nicht irgendwelcher anderer daraus sich ergebender Beziehungen, aufzusuchen.\nDie Generationenreihen, die von den einfachsten organischen Formen und ihren Fntstehungszeiten zu den jetzt bestehenden Organismen hin\u00fcber f\u00fchren, sind, wie ich zu zeigen gesucht habe, nichts anderes als materielle Systeme aus Idioplasma bestehend, welche die ganze Zeit \u00fcber andauem, ihren Gleichgewichtszustand unter dem Einfluss von inneren und \u00e4usseren Ursachen stetig \u00e4ndern, durch Vermehrung sich vervielftltigen und in Folge der gegenseitigen Verdr\u00e4ngung jeweilen in den existenzf\u00e4higsten Gleichgewichtszust\u00e4nden fortbestehen. Die Erkenntniss jedes sp\u00e4tem Gleichgewichtszustandes beruht auf der Erkenntniss des fr\u00fcheren Zustandes und der denselben ab\u00e4ndernden Ursachen. Die Werthsch\u00e4tzung aber der Existenzf\u00e4higkeit und Verdr\u00e4ngungst\u00fcchtigkeit des Ueberlebenden ist im allgemeinen unm\u00f6glich, weil der Werth der unterlegenen und verdr\u00e4ngten Gleichgewichtszust\u00e4nde unbekannt ist; sie l\u00e4sst sich m\u00f6glicher Weise nur f\u00fcr den bestimmten Fall beurtheilen, wenn die Verdr\u00e4ngung noch nicht perfect geworden ist und somit die concurrirenden Zust\u00e4nde der Beobachtung zug\u00e4nglich sind.\n2. Schlussfolgerung van der Rassenbildung auf die VarietfttonMdmg.\nNachdem ich die allgemeine wissenschaftliche Bedeutung der Selectionstheorie betrachtet habe, scheint es passend, zuerst denjenigen Punkt ins Auge zu fassen, welcher zu der Theorie Veranlassung gegeben hat. Indem Darwin die Entstehung der (nat\u00fcrlichen) Variet\u00e4ten aus der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl erkl\u00e4rt, leitet er diese Annahme nicht etwa aus der Beobachtung thats\u00e4chlicher Ver-","page":297},{"file":"p0298.txt","language":"de","ocr_de":"298 VI. Kritik der Darwinschen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl.\nh\u00e4ltnisse ab, er st\u00fctzt sie auch keineswegs durch thatsftchliche Anhaltspunkte; sondern er beruft sich daf\u00fcr lediglich auf die Analogie der (k\u00fcnstlichen) Rassenbildung. Wie eine neue Rasse nur denn entstehe, wenn die Kreuzung mit abweichenden Individuen verhindert werde, so soll eine neue Varietftt nur dann Bestand gewinnen k\u00f6nnen, wenn die abweichenden Individuen durch die Concurrenc beseitigt und somit die Reinzucht durch nat\u00fcrliche Zuchtwahl erm\u00f6glicht werde.\nNun besteht aber zwischen Rasse und Varietftt in den wesentlichen Eigenschaften ein scharfer Gegensatz, indem die entere innerhalb weiter Grenzen ftussent variabel, die letztere in den engsten Grenzen sehr constant ist (8. 235). Es ist also bei Anwendung der Analogie die gr\u00f6sste Vorsicht geboten und vorher zu untersuchen, ob bez\u00fcglich der Kreuzung und deren Wirksamkeit die vorausgesetzte Uebereinstimmung bestehe. In der That waltet nun aber auch in dieser Beziehung, nach den zahlreichen Beobachtungen, die ich dar\u00fcber angestellt habe, eine wesentliche Verschiedenheit ob.\nW\u00e4hrend die Rassen von gleicher Abstammung, \u00abnnh wenn ihre sichtbaren Merkmale noch so weit von einander abweichen, sich \u00e4usserst leicht kreuzen, so haben Pflanzenvarietftten, die einander sehr nahe stehen, eine grosse Abneigung gegen geschlechtliche Vermischung. Es geht dies ans ihrem Verhalten in der Natur und im Garten deutlich hervor. Verfolgt nahe uni n\u00e4chst verwandte Variet\u00e4ten auf ihren Standorten, so findet man sie oft ohne alle Zwischenformen beisammen. Man darf freilich, besonders wenn sie bloss in einem einzigen Merkmal von einander abweichen, nicht ohne weiteres auf fehlende Kreuzung Schl\u00fcssen, weil m\u00f6glicherweise das Unterscheidungsmerkmal sprungweise \u00e4bftndern k\u00f6nnte (S. 186,199). In den meisten F\u00e4llen jedoch zeigt der Mangel von M^lformen sicher an, dass keine Kreuzung stattgefunden hat An dere Variet\u00e4ten dagegen findet man, wenn sie in Gesellschaft leben, mit Uebergangs-stufen, die offenbar hybriden Ursprungs sind. Aber diese Ueberg\u00e4nge kommen immer verh\u00e4ltnism\u00e4ssig sp\u00e4rlich vor, oft nur in wenigen Exemplaren. Aus ihrer Zahl ergibt rieh das Verh\u00e4ltniss der Kreuzungen zur Inzucht\nHetzen wir zuerst den hypothetischen Fall, dass zwei Sippen in gleicher Individuenzahl beisammen seien und die Kreuzung zwischen ihnen ebenso leicht erfolge, wie die Selbstbefruchtung und die Inzucht Dann ist gem\u00e4ss der Wahrscheinlichkeitsrechnung in der","page":298},{"file":"p0299.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik der Darwinschen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl. 299\nersten Generation die Individoenzahl der Bastarde doppelt so gross als die Individnensahl jeder Sippe; in der zweiten Generation betl\u00e4gt die Zahl der hybriden Individuen 14 mal so viel als die Individuen-zahl jeder der beiden reinen Sippen, in der dritten Generation 254mal so viel, und so steigt das numerische Uebergewicht der hybriden Producte dermaassen rasch, dass nach wenigen Generationen die reinen Sippen verschwinden* 1 2).\nSind die beiden Sippen urspr\u00fcnglich in ungleicher Individuenzahl vorhanden, so zeigen unter der n\u00e4mlichen Voraussetzung die Bastarde nat\u00fcrlich andere Verh\u00e4ltoisszahlen. Immer aber steigt ihre Menge sehr rasch und die numerisch schw\u00e4chere der reinen Sippen wird bald ganz verdr\u00e4ngt. Ist von diesen die eine anfanglinli 10 mal zahlreicher als die andere, so macht die letztere schon nach der ersten Generation bloss den 121., nach der zweiten den 14641., nach der dritten Generation den 214millionsten Theil aller Individuen aus, indem die zahlreichere Sippe schon nach der dritten Generation von den hybriden Producten numerisch \u00fcbertroffen wird1).\n*) Die beiden Sippen seien mit A and B, die urspr\u00fcngliche Individnensahl einer jeden mit \u00ab beieich net, so seigen die aufeinander folgenden Generationen nachstehende Veriu\u00fctnisssahlen :\n0.\tGen. \u00ab d-f \u00ab B. \u2014 Summe der Individuen 2\u00ab.\n1.\tGen. a X-f-a B -\\-2n (d-J-B). \u2014 Somme 4s.\n2.\tGen. \u00bb d + \u00ab B-L 6\u00ab (d-f B) + 4*(8d + B) f 4\u00bb (d -f 8B). - Somme 16\u00bb 8.Gen. \u00ab A + n B-f 70\u00ab (d-f B)+t8\u00bb(8d+B)+28\u00bb(d+8B)+8\u00bb(7d-f B.\n-f 8n(d +7B)-f 66\u00bb(6d-f 8B)-f 66\u00ab(8d + 6B).- Somme 256\u00ab. Die in () eingeschlossenen Formeln teigen die Mischung des Blotes in den Bastarden an; (6d + 8B) bedeutet also, dass in dem Bastard \u2022/\u2022 Blot von A and */\u2022 Blot von B enthalten ist\nWenn die beiden Sippen and ihre Abk\u00f6mmlinge sasammen in 1000 Individuen aal einem Standorte vertreten sein k\u00f6nnen, so kommen \u00bbnfangH\u00ab* (|n der\n0.\tGeneration, d. h. ehe die hybride Begattung beginnt) 600 A and S00B vor, in der 1. Generation 250 d, 880B und 600 Bastarde, in der 2. 62V.d, 62V.B und 876 Bastarde and in der 8. Generation 4 A, 4 B and 992 Bastarde.\n*) Man hat in den aufeinander folgenden Generationen :\n0* Gen. \u00abt d-f 10\u00ab B. \u2014 Somme der Individuen 11\u00ab.\n1.\tGen. \u00ab d-f 100\u00ab B -f 20\u00bb (A -f B). \u2014 Somme 121\u00ab.\n2.\tGen. \u00ab d-f 10000\u00ab B-f 600\u00ab(d-f B) +40\u00ab(8d*f B) + 4000\u00ab (d-f 8B). \u2014\nSomme 14641\u00ab.\n8.Gen. \u00ab d -f100000000\u00bb B-f 700000\u00bb(d-fB) + 2800\u00bb(8d-f B)\n+ 28000000\u00ab(A + 8B) -f 80\u00bb (7d + B) -f- 80000000\u00ab (d -f 7B)\n+ 66000\u00ab (6d -f SB) -j- 6600000\u00ab (8d -f 6B). \u2014 Somme 214868881 \u00ab. Wenn die beiden 8ippen mit ihren Abk\u00f6mmlingen in der cons tan ten Zahl von 1100 auf einer LocalitAt leben kennen, so treffen auf die 0. Generation (vor","page":299},{"file":"p0300.txt","language":"de","ocr_de":"300 VI. Kritik der Darwinschen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl.\nAua dem Zusammenhalt dieser Berechnungen mit dem nat\u00fcrlichen Vorkommen geht deutlich die geringe Neigung der Varietftten, sich mit einander zu kreuzen, hervor. Wenn bei gleicher Individuenzahl der beiden Sippen auf je 1000 Individuen einer jeden derselben in einer bestimmten Gegend je 1 Bastard trifft und die Bastarde keine Nachkommen haben, so ist hier die Neigung zur Kreuzung 2000mal geringer al. diejenige zur Inzucht. W\u00fcrden die Bastarde sich fortpflanzen, so w\u00fcrde sich aus dem Vorkommensverh<niss 1:1000 eine noch geringere Neigung zur Kreuzung berechnen.\nIch bemerke noch, dass die Variet\u00e4ten aus den verschiedensten Gruppen des Pflanzenreiches sich in dieser Beziehung gleich verhalten und dass auch die vielf\u00f6rmigsten Gattungen, bei denen man eine gr\u00f6ssere Neigung zu geschlechtlicher Vermischung erwarten m\u00f6chte, keine Ausnahme machen. Bei der Gattung Hieracium mit ihwn zahllosen Variet\u00e4ten sind die hybriden Formen, wie sich aus einem genaueren Studium ergibt, viel seltener als man beim ersten Anlaufe vermuthei\nDie Erfahrungen der Cultur stimmen mit dem Ergebniss der Beobachtungen im Freien \u00fcberein. Es ist bekannt, dass, wenn mehrere verwandte Rassen neben einander cultivirt werden, aus den flmmy derselben immer eine gr\u00f6ssere Anzahl von Kreuzungsproducten aufgeht. Befinden sich aber aus dem Freien eingef\u00fchrte Varietftten neben einander im Garten, so sind unter den Samen nur sehr selten \u00abolche hybriden Ursprungs. Wie ich angegeben habe, werden im M\u00fcnchner Garten ca. 2500 Nummern von Hieracien gezogen. Aus den geernteten Samen wurden bis auf einige wenige Ausnahmen, die Bastarde er-gaben, genau die Mutterpflanzen erhalten, und unter den vielen spontan aufgegangenen Samen befanden sich nur ganz vereinzelte Bastarde.\nDer Grund, warum Rassen gemeinschaftlichen Ursprungs selbst bei grosser Verschiedenheit der Merkmale sich leicht, dagegen Varietftten gemeinsamen Ursprungs bei geringer Verschiedenheit der Merkmale sich schwer unter einander kreuzen, d\u00fcrfte, insofern beide durch die nftmlichen Merkmale unterschieden sind, in ihrem ungleichen Alter zu suchen sein. Die ersteren bestehen immer nur seit verh\u00e4ltnissmftssig kurzer Zeit, die Blutsverwandtschaft zwischen\nBeginn der hybriden Befrachtung) 100 4 und 1000 B, auf die erste 94, 909 B und 182 Bastarde, auf die \u00bbweite Vu4, 761B und 849 Bastarde und auf die dritte Generation Vmmti4, \u00d613B und 677 Bastarde.","page":300},{"file":"p0301.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik der Darwinschen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl. 801\nihnen ist sehr nahe, die Constanz, die sie erlangt haben, sehr gering. Die Variet\u00e4ten aber haben ein ganz ungleich h\u00f6heres Alter, dementsprechend eine geringe Blutsverwandtschaft und eine grosse Best\u00e4ndigkeit. Die Wirkung dieser Momente geschieht durch das Idioplasma, welches bei der geschlechtlichen Befruchtung eine gr\u00f6ssere oder geringere Neigung zur Vereinigung besitzt. Das Idioplasma der Rassen von gemeinsamem Ursprung hat die Configuration, die es in den Stammeltern besass, noch nicht wesentlich ver\u00e4ndern und eigenth\u00fcmlich gestalten k\u00f6nnen. Das Idioplasma der Variet\u00e4ten dagegen hatte Zeit, sich specifisch auszubilden, und in Folge dessen ist die Uebereinstimmung in seiner Configuration geringer. \u2014 Es gibt \u00fcbrigens auch Variet\u00e4ten, die sich schon deswegen nicht kreuzen, weil ilire idioplasmatischen Anlagen an und f\u00fcr sich eine Vereinigung nur schwer oder gar nicht gestatten. Diese Variet\u00e4ten haben, schon ehe sie fertig gebildet sind, eine Abneigung vor gegenseitiger Befruchtung (vgl. S. 255\u2014257).\nEs ist nun die Frage, welchen Einfluss werden zwei Sippen, die in dem beschr\u00e4nkten Connubium leben, wie es mit den nat\u00fcrlichen Variet\u00e4ten thats\u00e4chlich der Fall ist, aufeinander aus\u00fcben? Wir k\u00f6nnen diese Frage sowohl theoretisch als durch Erfahrung beantworten. Was die Theorie betrifft, so l\u00e4sst sich nach Wahrscheinlichkeitsrechnung bestimmen, wie viel Blut bei bestimmter Anzahl der hybriden Products eine Variet\u00e4t aus der andern aufnimmt. Sind keine hybriden Zwischenformen vorhanden, so geht nat\u00fcrlich kein Blut von einer Sippe in die andere \u00fcber. .Ebenso verh\u00e4lt es sich, wenn nur die Mittelform\tbesteht, weil in\ndiesem Fall eine weitere Bastardirung nicht statt hat.\nKommen aber ausser der Mittelform auch andere hybride Glieder zwischen dieser und den Stammsippen vor, so h\u00e4ngt der Erfolg von der H\u00e4ufigkeit dieser weiteren Bastardirungen ab. Dieselbe l\u00e4sst sich in der Praxis jedoch nicht zifferm\u00e4ssig angeben, weil die einzelnen Glieder nicht sicher erkannt werden. Wenn der prim\u00e4re Bastard (A-J-B) der beiden Sippen A und B sich weiter mit der Sippe A kreuzt, so hat die zwe;te hybride Generation die Formel (3A-fB), die dritte (7 A-\\-B), die vierte (16A-J-B), die f\u00fcnfte (31A f B) u. s. w. Schon die zweite Generation (8A-fB) l\u00e4sst sich in der Regel nur schwer, die andern aber meist gar nicht nach ihrem Bastardirungsgrade erkennen.","page":301},{"file":"p0302.txt","language":"de","ocr_de":"302 VI. Kritik dar Darwia'achen Theorie von der nstOrtichen Zuchtwahl.\nEine sichere Berechnung l\u00e4sst sich daher nur in der Art aus-fahren, dass man f\u00fcr einen bestimmten Fall das Wtrimnm des Blutes, das aus einer Variet\u00e4t in die andere \u00fcbergeht, feststellt. Dieses Maximum erh\u00e4lt man, indem man eine grossere Neigung zur Bastardirung zwischen der Mittelform und einer Stammsippe voraus-setzt, als sie wirklich Vorkommen kann. Zu diesem Behuf nehme ich an, dass die Neigung des prim\u00e4ren Bastardes (A -f B), sich mit A zu kreuzen, 100 mal so gross sei als die Neigung zur Bastardirung zwischen A und B, was, nach der Seltenheit der Form (3A+J9) bei allen natOrlictien Pflanzenbastarden entschieden zu viel ist, und dass die Neigung der zweiten hybriden Generation (SA+B) sowie der folgenden zur geschlechtlichen Vermischung mit der Variet\u00e4t A genau ebenso gross sei als die Neigung der letzteren zur Inzucht, was ganz sicher weit \u00fcbertrieben ist. Wenn nun auf je 1000 Individuen von A und von B 1 Individuum der Mittelform (A-f-2?) trifft, so ist die Neigung dieser beiden Formen, sich mit einander zu bastardiren, 2000mal geringer als die Neigung zur Inzucht, und die Neigung der Sippe A, sich mit dem prim\u00e4ren Bastard zu kreuzen, 20mal geringer als die Neigung zur Inzucht Solange nun dieses Verhalten andauert, geht mit jeder Generation \u2018/\u00ab\u00aboo Blut von der Variet\u00e4t Bin A \u00fcber, oder mit andern Worten, 40000Individuen von A nehmen das Blut von einem Individuum B auf. Ist die Individuumzahl von A nicht sehr gross, so wird die Form (3A+.B), weil ihre Ziffer unter */\u00ab sinkt, leicht ausbleiben, und dann auch der Ueber-gang von Blut gar nicht zu Stande kommen1 2 * * * *).\nDiese Berechnung gilt bloss f\u00fcr den Fall, dass die gemachten Annahmen wirklich erf\u00fcllt sind, dass n\u00e4mlich in einer Gegend der prim\u00e4re Bastard (A-\\-B) den tausendsten Theil der Individuenzahl\n*) Unter den obigen Voraussetrongen berechnen eich f\u00fcr die anfeinander folgenden Generationen folgende Verh\u00e4ltnisuahlen, wenn die beiden Stammmppen\nin gleicher Zahl vorhanden sind und die Geeammtindividnensahl nngatet\u00bb* 90000 betragt:\n0. Gen. 10000.4 + 10000 B.\n1.\tGen. 10000 A + 10000 2f-f 10(4 + B).\n2.\tGen. 10000 A +10000 B-f-10 (ii + B) + 1 (8^-f-B).\n8. Gen. 10000.4-f 10000 B+10 (.4 -f 2\u00ef)-f-l (8.4-f-U) -4-2(7.4 4. B).\n4\u2019 G\u00ae^' .10?\u00b0P A +10000B +10(\u00c4 + *) +1 (8-4 +B)+2(7 4+.B)-f 4(164+B).\nIch\tkkiMten Glied\u00abr weggelassen, da sie gar keine Wirknng haben\nk\u00f6nnen ; in der 8. Generation ware n\u00e4mlich noch Vm(64 + 3B), in der 4. Genera-","page":302},{"file":"p0303.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik der Darwin schen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl. 803\nvon A ausmacht, dass auf je 10 Individuen desselben 1 Individuum des secund\u00e4ren Bastards (3A-fJB) kommt, und dass die \u00fcbrigen Glieder der hybriden Uebergangsreihe in der angegebenen Zahl vorhanden sind. Diese Bedingungen treffen aber fast nie ein, weil die Bastarde nicht das angegebene numerische Verh\u00e4ltniss erreichen, und es kann daher als ein h\u00f6chst seltener Fall bezeichnet werden, wenn einmal eine Sippe wirklich ^\u00aboooo fremdes Blut in sich aufnimmt.\nMan m\u00f6chte vielleicht einwenden, dass die prim\u00e4ren Bastarde in einzelnen Gattungen mehr als Viooo der Individuenzahl einer Stammsippe betragen. Dies ist gewiss richtig f\u00fcr einzelne Standorte, Aber es gibt andere Standorte, wo die beiden Stammsippen ohne Bastarde Vorkommen, und viele Standorte, wo nur eine derselben (ebenfalls ohne Bastarde) w\u00e4chst, so dass das Verh\u00e4ltniss von Viooo selten erreicht wird. \u2014 Sollte dieses Verh\u00e4ltniss aber auch da oder dort \u00fcberschritten werden, so w\u00e4chst wohl der Bruchtheil des aufgenommenen fremden Blutes in entsprechendem Maasse, ohne dm\u00bb\u00ab deswegen das allgemeine Resultat sich \u00e4ndert.\nDas wichtigste und das ausschlaggebende Moment besteht n\u00e4mlich nicht in der Zahl der Bastarde \u00fcberhaupt, sondern in der Thatsache, dass fast nie die ganze hybride Uebergangsreihe von dem prim\u00e4ren Bastard (A-f-B) bis zu einer der beiden Stammsippen vorkommt. H\u00e4ufig findet man bloss den prim\u00e4ren Bastard (A-J-B); seltener beobachtet man neben demselben noch den secund\u00e4ren Bastard (3A-f-B) oder einen anderen, der sich noch mehr der Sippe A n\u00e4hert. Ein solches Verhalten l\u00e4sst aber die Reinheit der Sippe ganz unber\u00fchrt; nur wenn sich die ganze Uebergangsreihe bildete, k\u00f6nnte fremdes Blut in die Stammsippe \u00fcbergef\u00fchrt werden. Gew\u00f6hnlich sterben die Bastarde oder ihre Nachkommen, ohne dieses Ziel zu erreichen.\ntion w\u00e4ren V\u00bbm (64 -j- SB) -f- */\u00bb*o (11A -j- 6B) -|- */mm (18.4 -f- SB) and drei andere noch viel kleinere Ansdr\u00fccke beizuf\u00fcgen.\nDie Bedeutung dieser Reihe ist klar. Die Bastarde, die der Stammsippe A am n\u00e4chsten kommen, haben in der 2. Generation die Formel (JA-f-B), somit */4 Kat von A and \u00bb/\u2666 Blut von B, in der 8. Generation die Formel (7A-f B), also \u00bb/\u2022 Blut von B, in der 4. Generation Vi* Blut von B und die Formel (154 ~l~B) u. s. w.; in gleichem Maasse, wie das Blut von B in den im Ueber-gange zu 4 am meisten fortgeschrittenen Bastarde sich verd\u00fcnnt, nimmt die Zahl dieser Bastarde zu. Die 2. Generation hat 1 Individuum mit lUB, die 8. 2 Indiv. mit \u2018/\u00abB, die 4. 4 Indiv. mit VuB, die 6. Generation hat 8 Indiv. mit >/\u00bb*B u. s. w., SO dass also mit jeder Generation das Blut von V\u00abB in die 100004 \u00fcbergeht.","page":303},{"file":"p0304.txt","language":"de","ocr_de":"304 VI. Kritik der Darwinschen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl.\nTritt nun aber einmal unter ganz besonders g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden der Ausnahmefall ein, dass */\u00ab\u2022\u2022\u2022\u2022 oder auch etwas mehr fremdes Blut in eine Sippe \u00fcbergeht, so erhebt sich erst die Frage, was denn ein solches Ereigniss eigentlich zu bedeuten habe. Dar\u00fcber gibt uns folgende Erw\u00e4gung hinreichenden Aufschluss.\nDer prim\u00e4re Bastard\tenth\u00e4lt % der secund\u00e4re (3A+2?)\nenth\u00e4lt Vs, der terti\u00e4re (7A-J-B) Vs, die folgenden Glieder der hybriden Uebergangsreihe Vis, Vis, */\u2022*, '/isi, \\.is, Vsn, Viot\u00ab u. s. w. Blut der andern Sippe [B). Je mehr das fremde Blut sich in einer Sippe ausbreitet, um so geringer wird sein Bruchtheil. Die Micellgruppen des Idioplasmas, welche die Anlagen darstellen, bestehen aus einer begrenzten Zahl von Micellen. Wenn das fremde Blut in dem Maasse, wie es die vorhin angef\u00fchrte Reihe zeigt, abnimmt, so werden die demselben entsprechenden Micellgruopen bald so klein, dass sie nicht mehr die Bedeutung von Anlagen* haben. Denn ein einzelnes Micell oder auch ein Paar, vielleicht noch 3 und 4 Micelle wirken nicht als fremdes Blut, sondern bloss als ern\u00e4hrende Substanz.\nMan kann also nicht sagen, dass die Sippe A, wenn sie \u2019/\u00ab\u2022\u2022\u2022\u2022 Blut von B aufnimmt, sich um Vioooo ihrer Eigenschaften der Sippe B n\u00e4here; sie bleibt in Wirklichkeit ganz unver\u00e4ndert, weil das fremde Blut bei einer gewissen Verd\u00fcnnung seine specifische Wirksamkeit ganz verliert. Auch die \u00f6fters wiederholte Aufnahme von so geringen Mengen fremden Blutes h\u00e4tte keine Wirkung, weil dabei nicht etwa kleine Werthe, sondern Nullen summirt w\u00fcrden. Dies gilt f\u00fcr alle Anlagen des fremden Blutes, die in bemerkbarer Weise von denen des eigenen Blutes abweichen, denn dieselben werden unvermischt in das Idioplasma eingelagert, wie es auf Seite 226 der \u00bbzweite Typus der Vereinigung\u00ab angibt.\nAnders als die (nat\u00fcrlichen) Variet\u00e4ten und Arten verhalten sich die (k\u00fcnstlichen) Rassen, und man spricht mit vollem Rechte davon, dass eine Rasse fremdes Blut aufgenommen habe und dadurch ver\u00e4ndert worden sei. Die Verschiedenheit r\u00fchrt aber nur daher, weil die Mengenverh\u00e4ltnisse ganz andere sind. Wird eine Rasse durch fremdes Blut verbessert, so macht das letztere bei diesem k\u00fcnstlich eingeleiteten und \u00fcberwachten Vorgang einen Bruchtheil von merklicher Gr\u00f6sse aus. Man begreift, dass V\u00ab bis Vu oder selbst\nV** \u00dflut einen Organismus in einer bestimmten Weise zu ver\u00e4ndern vermag.","page":304},{"file":"p0305.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik der Darwin\u2019nchen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl. 305\nUebrigens kommt bei diesem Vorgang noch ein anderer Umstand zur Geltung. Wenn beispielsweise eine Rasse A durch Einf\u00fchrung von bloss */>\u00ab Blut von B merklich ver\u00e4ndert wird, so besteht diese Ver\u00e4nderung nicht etwa nur in einem in der Grosse von */$* nach B hin gemachten Schritt, sondern die Ver\u00e4nderung besteht namentlich auch darin, dass durch die Kreuzung Eigenschaften, die bisher in A latent waren, manifest werden. W\u00fcrde aber, was allerdings keinem Thierz\u00fcchter einf&llt, in eine Rasse bloss Viooo bis 1/40000 fremdes Blut eingef\u00fchrt, so verschw\u00e4nde dasselbe darin wohl ebenso spurlos wie in einer nat\u00fcrlichen Variet\u00e4t oder Art Und wenn es eine geringe Wirkung haben sollte, so gesch\u00e4he es gewiss bloss durch manifest werdende eigene Eigenschaften, nicht durch Uebertragung fremder Merkmale.\nDie theoretische Betrachtung dr\u00e4ngt uns also die Schlussfolgerung auf, dass nat\u00fcrliche Variet\u00e4ten und Arten, die in dem beschr\u00e4nkten Connubium leben, wie es in der freien Natur der Fall ist, gar keine ver\u00e4ndernde Wirkung auf einander auszu\u00fcben verm\u00f6gen. Es ist dies ein sehr merkw\u00fcrdiges Resultat, welches man bei einem allgemeinen Ueberschlag kaum erwarten w\u00fcrde, und das\nman erst begreift, wenn man den Verlauf der Kreuzungen in exacter Weise analysirt.\nDieses aus dem Vorkommen der Kreuzungsproducte abgeleitete Resultat ist \u00fcbrigens in genauer Uebereinstimmung mit einer Reihe von Erfahrungstatsachen. Wenn in einer Gegend eine Sippe A mit einer andern B im Connubium lebt und Blut aus ihr aufnimmt, so m\u00f6chte man erwarten, dass sie in ihren Merkmalen etwas verschieden sei von ihren Sippenangeh\u00f6rigen, die in einer andern Gegend leben und daselbst Reinzucht halten. Dies ist nicht der Fall, und dadurch wird bewiesen, dass in der That entweder kein Blut aufgenommen wird, oder dass das aufgenommene Blut keine Ver\u00e4nderung der Merkmale verursacht.\nIch habe Hieracien-Variet\u00e4ten von Standorten, wo sie durch gleitende Ueberg\u00e4ngo verbunden zu sein scheinen und wo somit die M\u00f6glichkeit besteht, dass sie Blut von einander empfangen haben, mit solchen aus anderen Gegenden, wo keine Ueberg\u00e4nge Vorkommen, genau verglichen und nicht den geringsten Unterschied auffinden k\u00f6nnen. Das gleiche Ergebniss erhielt ich bei Cireien-Arten. Einige derselben bilden in gewissen Gegenden ziemlich\nV. N\u00e4geli, Absbunraungalehn.","page":305},{"file":"p0306.txt","language":"de","ocr_de":"306 VI. Kritik der Darwinschen Theorie von der natQrlichen Zuchtwahl.\nzahlreiche Bastarde, so z. B. C. palustre und C. oleraceum, C. rivu-lare und C. oleraceum. Es gibt auch Individuen von C. oleraceum sowie von C. rivulare und C. palustre, welche unzweifelhaft den Einfluss wiederholter Bastardirung zeigen, so dass sie vielleicht der Formel (31A -f li) oder (G3A + B) entsprechen. Aber alle \u00fcbrigen Individuen unterscheiden sich nicht von C. oleraceum, C. rivulare oder C. palustre aus Gegenden, wo diese Arten allein Vorkommen\nund wo man eine von jeher bestehende Reinzucht sicher annehmen kann.\nAus den angef\u00fchrten Thatsachen und Erw\u00e4gungen geht unbestreitbar hervor, dass man aus den Erfahrungen an den (k\u00fcnst-iichen) Rassen nicht auf das Verhalten der (nat\u00fcrlichen) Variet\u00e4ten bei der Kreuzung schlossen darf. Die Rasse kann nur zu Stande kommen, wenn die sch\u00e4dliche Kreuzung vermieden ist. Die Ausbildung und Divergenz der Variet\u00e4ten dagegen wird durch die Kreuzung nicht gest\u00f6rt. Diese Folgerung habe ich vor l\u00e4ngerer Zeit schon aus der Thatsache gezogen., dass alle, auch die geringsten Grade der Variation von Pflanzenarten beisammen auf den n\u00e4mlichen Standorten getroffen werden, und ich habe daraus weiter rinn mit der Selectionstheorie im Widerspruche stehende gesellige Entstehen der Variet\u00e4ten gefolgert1). Dabei beurtheilte ich die Ver\u00e4nderung noch ausschliesslich nach den sichtbaren Merkmalen.\nIch habe nun die Entstehung der Variet\u00e4ten auch von der einzig vorwurfsfreien und zul\u00e4ssigen Seite, n\u00e4mlich mit R\u00fccksicht auf das Verhalten des Idioplasmas, gepr\u00fcft (S. 248\u2014258) und gefunden, dass es Variet\u00e4ten geben muss, die schon w\u00e4hrend der fr\u00fcheren Perioden ihres Entstehens ein gesellschaftliches Vorkommen und die best\u00e4ndige M\u00f6glichkeit gegenseitiger Begattung ohne Gefahr ertragen, weil die beiderseitigen idioplasmatischen Anlagen eine Vereinigung nicht oder nur schwer gestatten und daher die Begattung ohne Erfolg ist, \u2014 dass es dagegen andere Variet\u00e4ten gibt, welche in den fr\u00fcheren Perioden durch Kreuzung vernichtet werden, und welche die Kreuzung erst dann ohne Gefahr bestehen, wenn ihre Anlagen bis zu einer gewissen Festigkeit gediehen sind.\n*) Da\u00ab gesellschaftliche Entstehen neuer Rpecies phy\u00ab. Classe d. k. b. Akad. d. W. I. Febr. 1873.\nRitsungslter. d. math.-","page":306},{"file":"p0307.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik der Darwin'sehen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl. ;-J07\nIm letzteren Fall kann man bez\u00fcglich der Frage des gesellschaftlichen oder getrennten Entstehens leicht in Irrthum gerathen, wenn man dasselbe nach den sichtbaren Merkmalen beurtheilt. Der Irrthum ist zwar unm\u00f6glich, wenn die sichtbaren Merkmale mit don sich bildenden Anlagen gleichen Schritt halten, aber nicht zu vermeiden, wenn die Anlagen bis zu einer gewissen St\u00e4rke sich entwickeln m\u00fcssen, ehe sie entfaltungsf\u00e4hig werden (S. 184). Sieht man also eine oder mehrere neue Variet\u00e4ten gesellschaftlich unter andern sich nicht ab\u00e4ndernden Individuen zum Vorschein kommen, so muss die M\u00f6glichkeit ins Auge gefasst werden, dass vor dem Erscheinen der neuen Merkmale die Anlagen derselben vielleicht schon durch lange Zeitr\u00e4ume anderw\u00e4rts sich heiangebildet haben, und dass somit die Variet\u00e4ten vor ihrem wahrnehmbaren Auftreten eine verl>orgene Vorgeschichte hatten, w\u00e4hrend der sie eine betr\u00e4chtliche Constanz erlangen konnten.\nDio Entstehung der Variet\u00e4ten stellt sich in diesem Falle ganz verschieden dar, je nachdem wir sie von dem ersten sichtbaren Auftreten ihrer Merkmale oder von dem Beginne der Bildung ihrer Anlagen her datiren. Nehmen wir den letzteren Standpunkt ein, so entstehen die Variet\u00e4ten, d. h. ihre Anlagen, bei getrenntem Vorkommen. Da alle mit einander vorkommenden Individuen einer Sippe die gleichen inneren Ursachen und die gleichen \u00e4usseren Einwirkungen erfahren, so bildet sich auch ihr Idioplasma in gleicher Weise um und wird durch die gleiche Anlage bereichert. Bleibt die Sippe w\u00e4hrend sehr langer Zeitr\u00e4ume unter den n\u00e4mlichen \u00e4usseren Einfl\u00fcssen, so entfaltet sich die Anlage da, wo sie sich gebildet hat, und die neue sichtbare Variet\u00e4t tritt isolirt auf. Werden aber die Individuen jener Sippe vor dem Entfalten der Anlage durch Wanderung zerstreut und kommen sie mit Individuen der n\u00e4mlichen Sippe, die unter anderen Verh\u00e4ltnissen eine andere entfaltungsf\u00e4higc Anlage gebildet haben, zusammen, so werden sich die verschiedenen Anlagen auf dem n\u00e4mlichen Platze entfalten, und es treten dann zwei verschieuune sichtbare Variet\u00e4ten der n\u00e4mlichen Sippe gemeinsam auf, so dass man nach der blossen Beurtheilung der entfalteten Merkmale auch hier ein gesellschaftliches Entstehen der Variet\u00e4ten, wiewohl mit Unrecht, vermuthen k\u00f6nnte.\nWir m\u00fcssen also sichtbare Variet\u00e4ten mit entfalteten Merkmalen und unsichtbare Variet\u00e4ten mit noch unentfaltetcn An-\n20*","page":307},{"file":"p0308.txt","language":"de","ocr_de":"308 VI. Kritik der Darwinschen Theorie von der nattlriichen Zuchtwahl.\nlagen unterscheiden. Die letzteren entstehen in dem angenommenen Falle isolirt, die enteren k\u00f6nnen isolirt oder gesellschaftlich zum Vorschein kommen; es hangt dies von der vorausgegangenen Wanderung ab. Der Zustand und die geographische Verbreitung der Variet\u00e4ten kann daher nur dann richtig beurtfaeilt werden, wenn wir dabei von der letzten grossen Wanderung der Organismen a\u00fcsgehen.\nDas gegenw\u00e4rtige Vorkommen der Pflanzen und Thiere besteht seit dem Aufh\u00f6ren der Eiszeit. W\u00e4hrend derselben lebten die alpinen Pflanzen in der mitteleurop\u00e4ischen Ebene und wanderten nachher theils auf die verschiedenen Gebirge, theils nach dem Norden, w\u00e4hrend aus dem Osten her Ebenenpflanzen einwanderten und sich i.iit den wenigen in der Ebene zur\u00fcckgebliebenen alpinen mischten. Es gibt nun zwei Reihen von Thatsachen, welche uns \u00fcber die Ver\u00e4nderung der Gew\u00e4chse seit jener Wanderung einigen Aufschluss gew\u00e4hren.\nDie eine Reihe von Thatsachen, die schon wiederholt erw\u00e4hnt wurde, zeigt uns die n\u00e4mlichen sichtbaren Variet\u00e4ten auf verschiedenen Gebirgen, in der Ebene und im Norden entweder genau gleich oder nur sehr wenig ungleich. Sie belehrt uns \u00fcber die Zeitr\u00e4ume, welche f\u00fcr die Variet\u00e4tenbildung erforderlich sind. Entweder ist die sichtbare Variet\u00e4t seit der Eiszeit unver\u00e4ndert geblieben, oder sie war zur Eiszeit eine andere und ist mit den n\u00e4mlichen Anlagen auf ihre jetzigen verschiedenen Wohnsitze gekommen, wo sich dieselben \u00fcberall zu den n\u00e4mlichen \u00e4usseren Merkmalen entfaltet haben. Zeigt die Variet\u00e4t, die in der Ebene lebt, eine geringe Verschiedenheit von der in den Alpen wohnenden Variet\u00e4t, so hat sich entweder seit der Eiszeit eine neue Anlage gebildet und auch bereits entfaltet, oder, was vielleicht wahrscheinlicher ist, die Pflanzen sind mit nicht ganz fertigen Anlagen in ihre neuen Wohnorte gekommen und haben dieselben unter den ver\u00e4nderten \u00e4usseren Umst\u00e4nden in etwas ungleicher Weise fertig gebildet und dann entfaltet.\nDie zweite Reihe von Thatsachen beruht in dom vorhin erw\u00e4hnten gesellschaftlichen Vorkommen naher und n\u00e4chster sichtbarer Variet\u00e4ten. Es ist durchaus unwahrscheinlich, dass sie alle durch Wanderung sich zusammengefunden haben; sie m\u00fcssen sich zum Theil da, wo sie sich jetzt befinden, gebildet haben. Dies geht aus einer einfachen Erw\u00e4gung hervor. W\u00e4ren die sichtbaren Variet\u00e4ten alle zusammengekommen, so m\u00fcssten sie schon vor der Wan-","page":308},{"file":"p0309.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik der Darwinschen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl. 309\nderung existirt haben. Bei jeder grossen Wanderung gehen aller viele Arien und Variet\u00e4ten verloren, weil ja das Weiterwandem von mannigfaltigen Zuf\u00e4lligkeiten abh\u00e4ngt. Es m\u00fcsste also unter jener Voraussetzung sur Eiszeit betr\u00e4chtlich mehr Variet\u00e4ten gegeben haben als jetzt. Dies ist durchaus unannehmbar. Die Zahl der Variet\u00e4ten nimmt im Laufe der Zeiten eher zu als ab; und wenn sie auch nur gleich bleibt, so muss doch der Verlust, der bei einer grossen Wanderung eintritt, ersetzt werden. Es mussten also seit der Eiszeit ziemlich viele neue sichtbare Variet\u00e4ten zum Vorschein kommen und zwar gesellschaftlich, da auch das jetzige Vorkommen ein gesellschaftliches ist.\nEntweder haben sich nun die Anlagen dieser in Gesellschaft lebenden n\u00e4chstverwandten sichtbaren Variet\u00e4ten gesellschaftlich gebildet und entfaltet, oder die Anlagen haben sich bis zu einem gewissen Grad, der sie vor Vernichtung durch Kreuzung sch\u00fctzte, local getrennt gebildet. Die n\u00e4mliche Sippe lebte beispielsweise w\u00e4hrend der Eiszeit unter verschiedenen Verh\u00e4ltnissen und an verschiedenen Orten der europ\u00e4ischen Ebene, auf der Nordseite und der S\u00fcdseite der Alpen, und bildete daselbst verschiedene Anlagen. Von den verschiedenen Orten kamen beim Verschwinden der Eiszeit einzelne Individuen in die gleichen alpinen Wohnorte, und aus ihren Nachkommen gingen, indem sich die geerbten Anlagen entfalteten, verschiedene sichtbare Variot\u00e4ten hervor.\nDer gleiche Vorgang konnte in der Ebene mit den aus dem Osten eingewanderten Pflanzen stattfinden. Die n\u00e4mliche sichtbare Variet\u00e4t (A) konnte nach dor Eiszeit aus drei verschiedenen \u00f6stlichen Gegenden in drei noch unsichtbaren und bloss mit ungleichen Anlagen begabten Variet\u00e4ten (A\u201e Ait \u00c44) westw\u00e4rts wandern : dieselben konnten auf der Wanderung sich vermengen und dann gemeinsam sich festsetzen. Die drei unsichtbaren Variet\u00e4ten entfalteten ihre Anlagen nach k\u00fcrzerer oder l\u00e4ngerer Zeit und stellten drei in Gesellschaft lebende sichtbare Variet\u00e4ten dar.\nDas N\u00e4mliche wird einst mit den jetzigen Variet\u00e4ten geschehen. Es gibt solche, die eine weite Verbreitung haben; die Anlagen, die in ihnen entstehen, m\u00fcssen je nach den wirksamen Einfl\u00fcssen verschieden sein. Bleibt die jetzige Verbreitung der Gew\u00e4chse w\u00e4hrend hinreichend langer Zeit die n\u00e4mliche, so werden fr\u00fcher oder sp\u00e4ter an den bez\u00fcglich der Einfl\u00fcsse ungleichen Orten, also in localer","page":309},{"file":"p0310.txt","language":"de","ocr_de":"310 VI. Kritik der Darwinschen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl.\nTrennung, ebenso viele neue Variet\u00e4ten auftreten ; findet aber vorher eine gr\u00f6ssere Wanderung und eine ver\u00e4nderte Vertheilung statt, so werden zwei oder mehrere der neuen Variet\u00e4ten auf dem gleichen Standort sich entfalten k\u00f6nnen.\nDas gesellschaftliche Entstehen der Variet\u00e4ten erkl\u00e4rt uns auch die nicht zu verkennende Erscheinung, dass zuweilen die Variet\u00e4ten oder Arten einer Gegend in gewissen Merkmalen oder im Habitus mit einander verwandt sind, dass sie gleichsam einen Gesellschaftstypus zeigen. Wir begreifen dies vollkommen f\u00fcr den Fall, dass sowohl die Bildung als die Entfaltung der verschiedenen Anlagen gesellschaftlich erfolgt. Eis ist aber auch nicht unwahrscheinlich f\u00fcr den zuletzt besprochenen Fall, dass die Anlagen bis zu einem liestimmten Grade getrennt entstehen m\u00fcssen. Ihre Tr\u00e4ger bilden sie dann auf dem Wohnsitze, wo sie Zusammenkommen, unter den ji\u00e4mlichen \u00e4usseren Einfl\u00fcssen, vielleicht auch unter Mith\u00fclfe der Kreuzung, in \u00fcbereinstimmender Weise vollst\u00e4ndig aus, und dadurch erlangen die sich entfaltenden Variet\u00e4ten einen gemeinsamen Typus.\nDie Annahme Darwin\u2019s, dass die Variet\u00e4tenbildung in analoger Weise erfolge wie die Kassenbildung, gibt keine Erkl\u00e4rung f\u00fcr die zahlreichen und mannigfaltigen in der Natur bestehenden That-sachen, und die Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl l\u00e4sst sich mit den Vorkommensverh\u00e4ltnissen nicht in Uebereinstimmung bringen. Man kann dieser Theorie gewiss nicht den Vorwurf machen, sie in der Studirstube entstanden sei, \u2014 wohl aber, dass sie Stall und Taubenschlag zwar gr\u00fcndlich untersucht, die freie Natur dagegen, namentlich das Pflanzenreich, aus der Vogelperspective angesehen habe.\n3. Wirkung der Verdr\u00e4ngung Auf die Zuchtwahl.\nNach der Selectionstheorie m\u00fcssen die Einrichtungen, welche Bestand gewinnen sollen, bei der Concurrenz die anderen weniger g\u00fcnstigen verdr\u00e4ngen, um die sch\u00e4dliche Kreuzung unm\u00f6glich zu machen. Nun liegt es auf der Hand, dass eine Einrichtung erst dann die Zucntwahl herbeif\u00fchren kann, wenn sie sich so weit entwickelt hat, um sich als n\u00fctzlich zu bew\u00e4hren und eine ausgiebige Verdr\u00e4ngung zu verursachen.","page":310},{"file":"p0311.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik der Darwin schen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl. 311\nAus diesem Grunde ist die Selectionstheorie im Widerspruch mit der Lehre vom Idioplasma, namentlich mit der Annahme, dass die Eigenschaften zuerst als idioplasmatische Anlagen entstehen und nachher erst sich entfalten, denn bei einem verborgenen Vorg\u00e4nge kann selbstverst\u00e4ndlich eine Zuchtwahl nicht eintreten. Die phylogenetische Entwicklungsgeschichte vermag jedoch dieser den sichtbaren Merkmalen vorausgehenden Anlagen, wenigstens f\u00fcr viele F\u00e4lle, nicht zu entbehren.\nAber auch wenn wir, der bisher allgemeinen Anschauungsweise folgend, die phylogenetische Entwicklung bloss nach Maassgabe der sichtbaren Ver\u00e4nderungen sich vollziehen lassen, stellt sich die Selectionstheorie bei genauerer Analyse der eintretenden Erscheinungen als unhaltbar heraus. Diese Theorie beruhigt sich allzusehr mit der allgemeinen Ueberzeugung, dass das N\u00fctzliche das weniger N\u00fctzliche verdr\u00e4ngen und dadurch zur Zuchtwahl f\u00fchren m\u00fcsse, ohne sich den Process in seinen Einzelheiten klar zu machen.\nDie angenommene Verdr\u00e4ngung tritt ja jedenfalls ein, aber immer erst in einem Stadium, in welchem sie nicht mehr durch Zuchtwahl wirkt. Sie w\u00fcrde die verlangte Aufgabe erf\u00fcllen k\u00f6nnen wenn die neuen Merkmale so zu sagen \u00fcber Nacht, wenigstens in einer oder ein Paar Generationen und in einer \u00fcberwiegenden Zahl von Individuen entst\u00e4nden. Aber, m\u00f6gen die Ver\u00e4nderungen wie immer zu Stande kommen, so viel ist unbestreitbar, dass sie \u00e4usserst langsam sich vollziehen. Wird ja das scheinbare Stillstehen der Sippen in den beiden Reichen als ein Hauptgrund gegen die Abstammungslehre geltend gemacht. Erfolgt ausnahmsweise einmal, wenn der allm\u00e4hliche Uebergang der Merkmale unm\u00f6glich ist, eine Ver\u00e4nderung rasch (sprungweise), so muss eine lange innere Vor-l>ereitung (Bildung von Anlagen) vorausgehen, und dann halxm wir den bereits besprochenen, die Zuchtwahl ausschliessenden Fall. \u2014 Was aber die andere Bedingung betrifft, dass die neue Eigenschuft in einer \u00fcberwiegenden Anzahl von Individuen auftrete, so widerspricht sie der Annahme Darwins, und sie w\u00fcrde auch die Selectionstheorie \u00dcberhaupt \u00fcberfl\u00fcssig machen, weil sie die Anwesenheit einer bestimmten und allgemein wirkenden Ursache voraussetzte und somit dus Gelingen an und f\u00fcr sich vorb\u00fcrgte.\nIn der Regel geschieht also die ganze Ver\u00e4nderung durch eine Menge sehr kleiner Schritte, die sich auf eineu langen Zeitraum","page":311},{"file":"p0312.txt","language":"de","ocr_de":"312 VI. Kritik der Darwinschen Theorie too der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl.\nvertheilen. Der einzelne kleine Sehritt kann aber auch nur einen entsprechenden winzigen Vortheil gew\u00e4hren, der neben allen anderen die Existenzf\u00e4higkeit bedingenden Momenten g\u00e4nzlich verschwindet und somit auch keinen Einfluss auf die Verdr\u00e4ngung hat. Dabei macht es keinen Unterschied, ob ein bereits vorhandenes Merkmal sich ver\u00e4ndere oder ein neues sich bilde.\nAls Beispiel einer ganz einfachen Ver\u00e4nderung will ich den Hals der Giraffe oder den R\u00fcssel des Elephanten w\u00e4hlen, wo es sich bloss um eine Verl\u00e4ngerung handelt. In der vorweltlichen Sippe, von der die Giraffe abstammt, begann die Variation und einige Thiere erhielten dadurch einen unmerklich l\u00e4ngeren Hals; bei einer Zunahme von 1\u201c\u201c im Individuum, die wohl zu gross angenommen ist, w\u00fcrden etwa 1000 Generationen f\u00fcr die ganze Umwandlung in Anspruch genommen. Das konnte aber selbstverst\u00e4ndlich auf die Zuchtwahl gar keinen Einfluss haben. Selbst eine ziemlich merkbare Verl\u00e4ngerung gab den Individuen kein so grosses Uebergewicht bei der Concurrenz, um eine Kreuzung mit anderen Individuen und den R\u00fcckfall in die fr\u00fchere Form zu verhindern.\nNach der Theorie der directen Bewirkung war die Verl\u00e4ngerung Folge des Bed\u00fcrfnisses, das auf verschiedene Weise einen mechanischen Reiz aus\u00fcben konnte, und das wir uns nur dann in einiger-maassen sicherer Weise vorzustellen vermochten, wenn wir die Beschaffenheit der Ahnensippe und die damals herrschenden Verh\u00e4ltnisse kannten. Gingen auch vielleicht zuerst zahlreiche Generationen vorbei, in denen bloss das Idioplasma sich ver\u00e4nderte, und dann wieder zahlreiche Generationen, in denen die Verl\u00e4ngerung jedesmal bloss 1\u201c\u201c oder weniger betrug, so war der Erfolg doch gesichert, da die Ursache in allen oder doch weitaus in den meisten Individuen und durch alle Generationen th\u00e4tig war.\nAls Beispiel f\u00fcr ein neu auftretendes Merkmal will ich die H\u00f6rner der Wiederk\u00e4uer anf\u00fchren. Ich m\u00f6chte bezweifeln, dass 1000 Generationen hinreichten, um dieselben zu ihrer jetzigen Gr\u00f6sse auszubilden. Erfolgte deren Bildung nach der Selectionstheorie, so traten die ersten Ab\u00e4nderungen bei wenigen der ungeh\u00f6mten Vorfahren auf; da sie aber von mikroskopischer Kleinheit waren, so konnten sie w\u00e4hrend der ersten f\u00fcnfzig Generationen nur eine so unbedeutende Ausdehnung erreichen, dass sie keinen nennenswerten","page":312},{"file":"p0313.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik tier Darwinschen Theorie von der natttriiclien Zuchtwahl. 313\nVortheil gew\u00e4hrten. Was half es also den wenigen Individuen in einor Heerde, in denen diese, bei den Nachkommen erst als g\u00fcnstig sich erweisende Einrichtung anfing? Von einer Selection konnte keine\nRede sein; die Kreuzung musste die begonnene Variation immer wieder st\u00f6ren.\nDie Theorie der directen Bewirkung l\u00e4sst die H\u00f6rner durch mechanischen Reiz entstehen. Die Thiere, denen kein anderes Mittel der Verteidigung oder des Angriffes zu Gebote stand, stiessen mit dem Kopf. Wenn die dadurch bewirkte Ver\u00e4nderung auch zun\u00e4chst sich auf dau Idioplasma beschr\u00e4nkte, wenn sie dann \u00e4U8serlich auch noch so klein war und noch so langsam fortschritt, so konnte sie, da sie bei allen Individuen gleichm\u00e4ssig stattfand und durch alle Generationen fortdauerte, nicht wieder verloren gehen und musste sich so lange und so weit ausbilden, als es alle in Betracht kommenden Umst\u00e4nde erlaubten.\nDie nat\u00fcrliche Zuchtwahl kann also aus dem Grunde nicht zu Stande kommen, weil die Ver\u00e4nderungen im Anf\u00e4nge gering und ohne Nutzen sind. Aber wenn dieselben auch, was nie m\u00f6glich ist, sofort betr\u00e4chtlich genug w\u00e4ren, um einen erheblichen Vortheil zu gew\u00e4hren, so k\u00f6nnten sie, weil nur in wenigen Individuen eintretend und noch ohne Constanz, keine ausgiebige Verdr\u00e4ngung und Reinzucht bewirken. Es zeigen beispielsweise 4 auf 1000 Individuen die allem\u00fctzlichste Variation, so geht sie durch Kreuzung wieder verloren. Denn eine Reinzucht w\u00e4re ja nur m\u00f6glich, wenn die vier Individuen und ihre Nachkommen so lange bloss unter einander sich paarten, bis sie die \u00fcbrigen verdr\u00e4ngt h\u00e4tten, was eine ziemliche Zahl von Generationen in Anspruch nehmen w\u00fcrde. F\u00fcr eine solche Reinzucht ist aber kein Grund vorhanden.\nDarwin hat den vorhin angef\u00fchrten Fall der Giraffe gleichfalls er\u00f6rtert, um an demselben die M\u00f6glichkeit der Zuchtwahl dazuthun. Er wiederholt aber nur die bekannten allgemeinen S\u00e4tze, welche nach meiner Ansicht, sowie man ihnen eine concrete und bestimmte Form geben will, zu Unm\u00f6glichkeiten f\u00fchren. Unter den Vorfahren des genannten Thieres, sagt er, h\u00e4tten sich wie gew\u00f6hnlich individuelle Verschiedenheiten in der Gr\u00f6sse gefunden; diejenigen Individuen, welche nur 1 bis 2 Zoll h\u00f6her hinaufreichten, w\u00e4ren in Zeiten der Hungersn\u00f6the allgemein am Leben geblieben und h\u00e4tten sich gekreuzt, w\u00e4hrend die kleineren dem Aussterben allein ausgesetzt waren.","page":313},{"file":"p0314.txt","language":"de","ocr_de":"314 VI. Kritik der Darwinschen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl.\nHierauf k\u00f6nnte man erwidern, dass in der j\u00e4hrlich eintretenden Zeit der knappen Nahrung nicht ein allgemeines Sterben eintritt, sondern die Thiere magern ab, um sich in der g\u00fcnstigeren Jahreszeit wieder zu erholen. Sterben mehrere, so sind es nicht die um 1 bis 2 Zoll weniger hohen, sondern die \u00e4ltesten und \u00fcberhaupt die schw\u00e4chsten.\nMit diesen 1 bis 2 Zoll Gr\u00f6ssendifferenz Darwin\u2019s scheint \u00fcbrigens der geringe Zuwachs von 1\u2014, den ich in Anschlag gebracht habe, in sonderbarem Widerspruch zu stehen. Aber es ist zu bemerken, dass die genannten 1 bis 2 Zoll die individuelle Verschiedenheit innerhalb der Sippe, nicht die eintretende phylogenetische Variation bedeuten, und* dass in der Vermengung dieser beiden Begriffe der Trugschluss Darwin\u2019s liegt. Nehmen wir einmal mit demselben an, dass die unbekannte Sippe, aus der die Giraffe hervorging, in ihrer H\u00f6he um 1 bis 2 Zoll variirte, dass also beispielsweise die kleineren Individuen 12', die gr\u00f6sseren 12' 2\" hoch waren. Diese Verschiedenheit ist wohl mit R\u00fccksicht auf die so auffallende Einf\u00f6rmigkeit der nat\u00fcrlichen Sippen gross genug angeschlagen; ware sie aber auch viel gr\u00f6sser, so w\u00fcrde dies auf den Erfolg keinen Einfluss haben. Denn die n\u00e4mliche Verschiedenheit war von jeher vorhanden und hatte keine andere Bedeutung, als wie sie die Grenz-werthe des Formenkreises in jeder Sippe haben. Es sind die Mausse, zwischen denen die Individuen hin und her schwanken und \u00dcber die sie nicht hinaus k\u00f6nnen. Die Nachkommen der kleinsten Individuen werden wieder gr\u00f6sser, die Nachkommen der gr\u00f6ssten wieder kleiner.\nWenn nun auch der unwahrscheinliche Fall eintrat, dass in einer Zeit der Hungersnoth alle kleineren Individuen zu Grunde gingen und nur die 12' 2\" hohen \u00fcbrig blieben, was war die Folge? Keine andere als die, dass, entsprechend der Bef\u00e4higung der Sippe, sich innerhalb eines bestimmten Formenkreises zu bewegen, unter \u00ablen Nachkommen der 12' 2\" hohen Individuen sich auch wieder kleinere befanden, und dass in besseren Zeiten bei st\u00e4rkerer Vermehrung der alte-Formenkreis von 12' bis 12' 2\" H\u00f6he wieder herrschend wurde. Dies ist ja der Wechsel, der an allen Variet\u00e4ten und Arten beobachtet wird; geht bei nat\u00fcrlichen Sippen in Folge von ung\u00fcnstigen Verh\u00e4ltnissen ein Theil des Formenkreises verloren, so wird er unter besseren Verh\u00e4ltnissen wieder hergestellt. Eine","page":314},{"file":"p0315.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik der Darwin schen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl. 315\ngleiche Reduction auf die gr\u00f6ssten \u00fcberlebenden Thiere musste ja w\u00e4hrend der langen Dauer der Ahnensippe der Giraffe wiederholt bei Hungersnoth eingetreten sein, und ungeachtet dieses wiederholten Ereignisses hat sich die angenommene H\u00f6hendifferenz in dem Formenkreis erhalten. Und sie musste sich so lange erhalten, als die erblichen, d. h. idioplasmatischen Eigenschaften unver\u00e4ndert blieben.\nDiese individuelle Verschiedenheit, die uns der Formenkreis angibt, ist ohne Bedeutung f\u00fcr die phylogenetische Fortbildung zu einer neuen Sippe; sie bleibt ja, wie ich mich schon fr\u00fcher ausgedr\u00fcckt habe, innerhalb der ontogenetischen Elastizit\u00e4tsgrenze. Gingen auch einmal alle Individuen der Ahnensippe bis auf die gr\u00f6ssten (von 12* 2\" H\u00f6he) zu Grunde, so musste nun zur Um\u00e4nderung in eine neue Sippe noch die phylogenetische Variation hinzukommen, die ich zu 1\u00ab taxirte. Und wir stehen wieder vor der gewiss nicht zu bestreitenden Thatsache, dass 1-\" H\u00f6henunterschied bei einem 12 Fuss hohen Thier ohne alle Wirkung bez\u00fcglich der Verdr\u00e4ngung ist.\nIch sehe recht wohl ein, dass, wenn in einer Gesellschaft von 10000 Individuen stetsfort auch nur ein einziges Individuum in n\u00fctzlicher Weise sich dauernd (erblich) ver\u00e4ndert, dann die ganze Gesellschaft wenigstens theoretisch mit mechanischer Nothwendigkeit in der gleichen Richtung nachfolgen wird. Denn die entstehenden Eigenschaften breiten sich durch Kreuzung in der Gesellschaft aus, und wenn sie sich soweit ausgebildet haben, um ihre N\u00fctzlichkeit zu bew\u00e4hren, so m\u00fcssen sie sich auch an der ohnehin stets th\u00e4tigen Verdr\u00e4ngung mitbetheiligen. Ob jedoch und wie diese theoretische Nothwendigkeit in die Praxis \u00fcbergehe, das w\u00fcrde von verschiedenen, hier nicht weiter zu er\u00f6rternden Bedingungen, welche die Ver\u00e4nderung erblich machen, abh\u00e4ngen.\nSollte aber auch dieser Vorgang wirklich statthaben, \u2014 (ich ^zweifle, dass dies je der Fall ist, weil die Ursachen, welche erbliche Ver\u00e4nderungen hervorbringen, gleichartiger Natur sind und \" enigstens auf die grosse Mehrzahl der Individuen, wenn nicht auf alle, einwirken) \u2014 so d\u00fcrfte er doch offenbar nicht als nat\u00fcrliche Zuchtwahl der k\u00fcnstlichen an die Seite gestellt werden, da die Kreuzung mit allen anderen Individuen der Gesellschaft nie gehemmt ist. Die Selectionstheorie, welche hier nat\u00fcrliche Zuchtwahl annimmt, verwechselt, wie mir scheint, Ursache und Wirkung. Die Ver\u00f6n-","page":315},{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316 VI. Kritik der Darwinschen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl.\nderung findet nicht statt, weil die Verdr\u00e4ngung als Ursache mithilft; sondern, wenn die Ver\u00e4nderung durch ihre specifischen Ursachen hinreichend gross geworden, so f\u00fchrt sie als nothwendige Folge die Verdr\u00e4ngung herbei.\nDass eine phylogenetische Ver\u00e4nderung in der langen Periode ihres Beginnes nicht durch Verdr\u00e4ngung eine nat\u00fcrliche Zuchtwahl verursachen und dadurch sich die Existons sichern kann, ist unbestreitbar, und daher ist es auch sehr begreiflich, dass ein begeisterter Anh\u00e4nger der Selectionstheorie diese durch eine Hilfstheorie, die Separation oder Migration, retten wollte. Ich halte es f\u00fcr eine logische Nothwendigkeit, dass, wenn man an der Selection festh\u00e4lt, man die Migration mit in den Kauf nehmen muss.\nDie Migrationstheorie habe ich f\u00fcr unm\u00f6glich erkl\u00e4rt, weil sie im Widerspruche steht mit den thats\u00e4chlichen Vorkommensverh\u00e4lt-niesen der Pflanzen und noch mehr mit den klaren Forderungen nat\u00fcrlicher Gesetze. Diese Theorie ist auch der Darwin'sehen Schule offenbar sehr ungelegen gekommen. Der schwache Punkt in der Selectionstheorie, den sie beseitigen will, l\u00e4sst sich ja mit gutem Gewissen nicht wegleugnen; aber das Heilmittel ist doch f\u00fcr schlimmer angesehen worden als das Uebel. Denn die Unm\u00f6glichkeit der Migration ist viel leichter einzusehen als die Unm\u00f6glichkeit der nat\u00fcrlichen Selection. Jener schwache Punkt dieser letzteren, dass werdende Vortheile noch keine Verdr\u00e4ngung zu bewirken verm\u00f6gen, l\u00e4sst sich durch allgemeine Phrasen umgehen und verdecken. Aber die Vorstellung, dass die ab\u00e4ndernden Individuen sich zur Reinzucht isoliren, ist so bestimmt und zugleich so unnat\u00fcrlich, dass kein Zoolog oder Botaniker sie seinem Publikum ohne ganz entscheidende Belege und neue theoretische Erkl\u00e4rungen bieten d\u00fcrfte. Immerhin geh\u00f6rt die Migrationstheorie, weil sie eine logische Folge der Selectionstheorie ist, zu den st\u00e4rksten Widerlegungen der letzteren.\n4. Wirkling der ErnAhrangseiiiflOtse.\nNach der Selectionstheorie ist die ganze Organisation eine Folge der Em\u00e4hrungsursachen im weitesten Sinne oder \u00fcberhaupt der \u00e4usseren Banfl\u00fcsse. Dieselben wirken auf alle einzelnen Theile des Organismus und veranlassen vielerlei Variationen, aus denen dann die Zuchtwahl die n\u00fctzlichen festhalte und fortpflanze.","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik der Darwin'nchen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl. 3J7\nHierauf ist zun\u00e4chst zu erwidern, dass man, was bisher nicht ber\u00fccksichtigt wurde, zweierlei Ursachen trennen muss, diejenigen, welche Kraft und Stoff liefern, und diejenigen, welche der organ i-sirenden Th\u00e4tigkeit die Richtung geben und erbliche Ver\u00e4nderungen verursachen. Dass Kraft und Stoff aus der Ern\u00e4hrung gesch\u00f6pft werden, ist lftngst unzweifelhaft, denn es gibt keine andere M\u00f6glichkeit. Was aber die organisirende und vererbende Th\u00e4tigkeit bestimme, musste erst noch bewiesen werden.\nEs ist eine beliebte Redensart, dass die den \u00e4usseren Verh\u00e4ltnissen angepassten Organismen unver\u00e4ndert bleiben, so lange sie in diesen Verh\u00e4ltnissen leben, dass sie aber, wenn sie wandern und unter andere \u00e4ussere Einfl\u00fcsse kommen, zu variiren anfangen, womit dann die Wirkung dieser Einfl\u00fcsse dargethan w\u00e4re. Allein bez\u00fcglich des Pflanzenreiches ist dieser Satz in dem Sinne, wie er ausgesprochen wird, durch keine einzige Thatsache bewiesen, wohl aber durch viele widerlegt. Ich erinnere daran, dass manche Pflanzenarten am Ende der Eiszeit theils auf die Alpen, theils in den hohen Norden gewandert und jetzt noch an beiden Orten ganz gleich sind, dass andere zur n\u00e4mlichen Zeit aus dem Osten nach Deutschland gekommen und jetzt noch unver\u00e4ndert sind, dass sehr nahe verwandte Variet\u00e4ten seit der Eiszeit unter den verschiedensten \u00e4usseren Verh\u00e4ltnissen gleich geblieben sind (S. 104). Auch die Wanderungen aus einem Welttheil in den anderen in historischer Zeit sind zu erw\u00e4hnen, obgleich die Dauer des neuen Aufenthaltes viel k\u00fcrzer ist. Wenn die Ern\u00e4hrungsursachen im weitesten Sinne eine erbliche Ver\u00e4nderung bewirken w\u00fcrden, warum haben sie es in diesen F\u00e4llen nicht gethan?\nUebrigens k\u00f6nnten wir uns nur schwer vorstellen, wie die so unbestimmten Ursachen all die verschiedenen und charakteristischen Eigenschaften der Thiere und Pflanzen hervorgebracht haben sollten. Dies w\u00e4re jedenfalls nur in der Art m\u00f6glich, dass sie entsprechend ihrer Natur mannigfaltige Ver\u00e4nderungen bewirkten, und dass dann \u2666 in irgend einer Weise die passenden ausgew\u00e4hlt w\u00fcrden, wie dies auch die Selectionstheorie annimmt. In einer variirenden Sippe \u2014 und es ist kein Grund vorhanden, warum sie nicht alle und immer variirten \u2014 m\u00fcssten in den verschiedenen Individuen Anf\u00e4nge von allen m\u00f6glichen Merkmalen entstehen, denn nur so ist Sicherheit geboten, dass auch das Richtige darunter sei. Sonst k\u00f6nnte es, da","page":317},{"file":"p0318.txt","language":"de","ocr_de":"iU8 VI. Kritik der Darwin schen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl.\ndie Em\u00e4hningseinfl\u00fcsse keine Beziehung zu bestimmten Eigenschaften haben, leicht geschehen, dass gerade diejenige, die in dem betreffenden Falle Bed\u00fcrfniss ist, mangelte. Unter den Ver\u00e4nderungen in der Ahnensippe der Giraffe w\u00e4ren vielleicht st\u00e4rkere H\u00f6rner, ein l\u00e4ngerer Schwanz, dickerer Pelz, eine andere Farbe, verbesserte Sinnesorgane, eine kleinere Statur u. s. w., aber nicht der l\u00e4ngere Hals und die h\u00f6heren Beine, welche Nutzen gew\u00e4hrten, vertreten gewesen.\nUm also den Erfolg zu sichern, m\u00fcsste die Theorie annehmen, dass alle Ver\u00e4nderungen, die nach der vorhandenen Organisation denkbar und m\u00f6glich sind, zu jeder Zeit auch wirklich eintreten, soweit es n\u00e4mlich die Individuenzahl gestattet. Die Menge dieser Ver\u00e4nderungen geht aber nicht nur in die Tausende, sondern selbst in die Millionen, weil jede einzelne Zelle in verschiedener Weiso sich umbilden kann. Man macht sich vielleicht diese Forderung nicht ganz klar ; sie ist aber logisch und nothwendig, wenn sie auch wenig nat\u00fcrlich und vern\u00fcnftig erscheinen mag. Die Theorie m\u00fcsste n\u00e4mlich ferner annehmen, dass die allseitig eintretenden Ver\u00e4nderungen erblich seien, was sie offenbar unbewusst thut, ohne sich Rechenschaft zu geben, dass die zahllosen kleinen Abweichungen, die wirklich in den Zellen Vorkommen, innerhalb der Elastizit\u00e4tsgrenze liegen und dem Gebiete der nicht erblichen Modificationen angeh\u00f6ren, also auch f\u00fcr den phylogenetischen Fortschritt ohne Bedeutung sind.\nWie wird nun unter den vielen Variationen die richtige ausgew\u00e4hlt? Da, wie wir gesehen haben, eine Zuchtwahl durch Verdr\u00e4ngung unm\u00f6glich ist (8. 310 ff.), so m\u00fcsste sie auf eine andere Art, z. B. durch Absonderung der wenigen in gleicher Weise und zugleich n\u00fctzlich abge\u00e4ndericn Individuen zu Stande kommen. Ich will die h\u00f6chste Unwahrscheinlichkeit dioses oder jedes andern die Reinzucht bewirkenden Vorganges an dieser Stelle nicht darthun; es gen\u00fcgt zun\u00e4chst auszusprechen, dass in keinem Falle eine Zucht w\u00e4hl zu Stande kommen kann.\nUm den Erfolg der Zuchtwahl anschaulicher zu machen, setzt man gew\u00f6hnlich voraus, dass, wenn die Variation begonnen habe, . sie leicht in den folgenden Generationen fortdauere und sich steigere! Es ist dies wieder eine Vorstellung, welche die Selectionstheorie mit Unrecht von der k\u00fcnstlichen Rassenbildung auf die nat\u00fcrliche Variet\u00e4tenbildung \u00fcbertragen hat. Die Vergleichung w\u00e4re nur gc-rechtfertigt bei Identit\u00e4t der urs\u00e4chlichen Momente. Nun hat aber","page":318},{"file":"p0319.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik der Darwinschen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl. 319\ndas leichte Variiren und das Fortdauern oder Steigern der begonnenen Variation bei der Rasse bestimmte physische Ursachen, w\u00e4hrend das pl\u00f6tzliche Auftreten der Ver\u00e4nderung und mehr noch die erfolgende Steigerung in den n\u00e4chsten Generationen bei den nat\u00fcrlichen Sippen, wo es die Selec\u00fconstheorie ebenfalls annimmt, ein wahrer deus ex machina ist.\nIn der Rasse tritt, vornehmlich in Folge von Kreuzung, Variation ein, weil latente Anlagen, die von vorg\u00e4ngigen Kreuzungen her in Menge vorhanden sind, manifest werden, \u2014 und es ist sehr begreiflich, dass dieser Umbildungsprocess des gemischten Idioplasmas manchmal nicht mit einem Schlage beendigt wild, sondern durch einige Generationen fortdauert. Diese Ursachen sind bei den nat\u00fcrlichen Sippen nicht vorhanden. F\u00fcr den Fall, dass Kreuzung mit anderen Sippen eintritt, so kann dieselbe im allgemeinen keine latenten Anlagen zur Entfaltung bringen, weil fast keine vorhanden sind, und wenn es etwa der Fall w\u00e4re, so bewirkt dieser Vorgang ja nur einen R\u00fcckschritt, nicht aber den Fortschritt, der zu erkl\u00e4ren ist. \u2014 Es k\u00f6nnen daher f\u00fcr den Standpunkt der Seleetionstheoric bloss \u00e4ussere Einfl\u00fcsse sein, welche die Variation einleiten. Warum sie es durch lange Zeitr\u00e4ume nicht thaten und nun auf einmal die Kraft dazu erlangen, bleibt ein R\u00e4thsel, dessen Aufl\u00f6sung uns die bereits erw\u00e4hnte Hinweisung auf die ge\u00e4nderten Einfl\u00fcsse nicht zu geben vermag. Denn wenn eine Sippe unter andere \u00e4ussere Verh\u00e4ltnisse kommt, so k\u00f6nnten, wenn hierin die Ursache der Ver\u00e4nderung liegt, nicht nur einzelne Individuen, wie es die Selections-theorie annimmt, sondern es m\u00fcssten alle oder doch die grosse Mehrzahl sich ver\u00e4ndern.\nSetzen wir uns \u00fcber dieses R\u00e4thsel hinweg, so stehen wir vor dem noch gr\u00f6sseren R\u00e4thsel, warum die begonnene Variation in \u00ablen folgenden Generationen andauern soll. Da die Selectionstheorie von einer ganzen Gesellschaft, die sich unter den n\u00e4mlichen \u00e4usseren Verh\u00e4ltnissen befindet, nur einzelne wenige variiren l\u00e4sst, so muss angenommen werden, dass von allen auf die Individuen hier einwirkenden (Kombinationen der Em\u00e4hrungseinfl\u00fcsse nur eine ganz bestimmte und selten verwirklichte (Kombination die Ver\u00e4nderung hervorbringe. Die Individuen, die diese erste Stufe der Ver\u00e4nderung erfahren, \u00fcbertragen die beginnende Eigenschaft durch Vererbung auf ihre Kinder. Ob aber in diesen abermals die gleiche Variation","page":319},{"file":"p0320.txt","language":"de","ocr_de":"320 VI. Kritik der Darwin schen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl.\neintrete, ist ein Zufall; es geschieht nur, wenn die n\u00e4mliche specifische Combination der Ern\u00e4hrungseinfl\u00fcsse, die sich als g\u00fcnstig erwiesen hat, abermals eintritt. Die Aussicht, dass dies geschehe, l\u00e4sst sich unter bestimmten Annahmen durch die Wahrscheinllnhlr\u00abiitavf>chnung ermitteln. Der n\u00e4mliche Wechselfall wiederholt sich dann bei jeder folgenden Generation.\nAngenommen, es zeige durchschnittlich unter je 100 Individuen eines die g\u00fcnstige Variation, die Wahrscheinlichkeit, dass sie \u00fcberhaupt eintrete, betrage also Visa, \u2014 und die Gr\u00f6sse der Ver\u00e4nderung in diesem Individuum, gleichsam die Menge neuen Blutes, die demselben durch die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse zugef\u00fchrt wird, weide durch b bezeichnet. Ferner bestehe die Gesellschaft durch die auf einander folgenden Generationen constant aus 2000 Individuen, wovon die H\u00e4lfte M\u00e4nnchen, die H\u00e4lfte Weibchen, und jedes Paar habe gleich viele Kinder, ebenfalls zur H\u00e4lfte m\u00e4nnlichen und zur H\u00e4lfte weiblichen Geschlechts. In der Generation, in welcher die Variation beginnt, befinden sich also unter den 2000 Individuen 20 abge\u00e4nderte (6) und zwar 10 m\u00e4nnliche (mb) und 10 weibliche (**). Zun\u00e4chst ist zu bestimmen, in welchen Verh\u00e4ltnissen die Paarungen wahrscheinlich eintreten; dieselben sind Einblutpaarungen (6) zwischen\n*\u2022& und wh, Halbblutpaarungen ( |), indem nur das eine Glied b\nenth\u00e4lt, also mb oder wb ist, und Ohnblutpaarungen (o). Die denkbar\nm\u00f6glichen Paarungen sind 1000000, darunter 100 (b), 19800 (y) und 980100 (o). Die Zahl der wirklichen Paarungen betr\u00e4gt 1000, darunter wahrscheinlich 0.1 (&), 19,8 (*-) und 980,1 (o); d. h. wenn\ndas Ereigniss, n\u00e4mlich die Variation unter den angenommenen Umst\u00e4nden zehn Mal eintr\u00e4te, so w\u00fcrde wahrscheinlicher Weise ein einziges Mal eine Einblutpaarung statthaben.\nDie Nachkommenschaft der stattgefundenen Paarungen wird durch die Concurrenz auf die fr\u00fchere Zahl (2000) vermindert, und da die abge\u00e4nderten Individuen noch keinen bemerkbaren Vortheil im Kampfe ums Dasein gew\u00e4hren (8. 310 ff.), so ist das Zahlen-verh\u00e4ltniss der Individuen in der zweiten Generation gleich dem der Paarungen. Nehmen wir, um die weiteren Ereignisse anschau-","page":320},{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik der Darwin schen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl. 321\nlicher zu machen, die Zahlen 1000mal grosser, so haben wir f\u00fcr jedes Geschlecht\n100 (\u00bb) + 19800 (y) + 980100 (\u00bb) = 1000000.\t(I\nDies ist die Erbschaft aus der ersten Generation. Nun tritt die Variation hinzu, welche je einem unter 100 Individuen wieder b verleiht. Nachdem dies geschehen, besteht die zweite Generation auf 1000000 Individuen von jedem Geschlecht aus\n1 (2ft)+198 (tltb) + 9900 (6)-f 19602 (y) + 970299(o)= 1000000. (II\nWenn sich diese Individuen paaren, so entstehen neben' den nicht abgeftnderten Paaren 8 Stufen der Ab\u00e4nderung, von denen die geringste V* b, die h\u00f6chste 2 b hat. Die Zahl aller denkbaren Paarungen betr\u00fcgt 1000000000000. Die Individuen der 3. Generation bestehen als Erbschaft der 2. (veneration (vor eintretender neuer Variation) aus 9 Kategorien, deren Zahlenverh<niss genau dem der Paarungen entspricht. Ich theile das Resultat der Rechnung mit, weil es ein helles Licht verbreitet \u00fcber die Verkeilung des Blutes durch die Kreuzung und \u00fcber die Aussichtslosigkeit einer einigermaassen reinen Zucht der abgeftnderten Individuen. Da es sich nur um die Verh\u00e4ltnisse handelt, so gebe ich dieselben als ganze Zahlen f\u00fcr eine Gesammtmenge von 1 Billion. Durch Theilung mit 1000000000 erhalt man die Zahl, in der jede Kategorie durchschnittlich in einer Gesellschaft von 1000 Individuen vertreten ist, oder, insofern es ein Bruch ist, die Wahrscheinlichkeitsziffer f\u00fcr ihre Verwirklichung.\nEs besteht nun also eine Gesellschaft von 1 Billion Individuen, die eine Ver\u00e4nderung wahrend 2 Generationen erfahren hat, in der 3. Generation, bevor die Variation dieser Generation eingetreten ist, aus folgenden Individuen:\n1 (2b)\t(III\n396 (\u2019/4b)\n59004 (\u2022/\u00ab&)\n3 959604 (*/<&)\n107 712990 (b)\n772 358004 (*l*b)\n19596 158604 ( * \u00bb&)\n38039 601996 (lUb)\n941480 149401 (0)\n1 000000 000000\nT. Nftgell, AbeMtnmungilehre.\t01","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322 VI. Kritik dor Darwinschen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl.\nAns dieser Berechnung geht hervor, dass nach zweimaliger Variation und Kreuzung unter den angenommenen Umst\u00e4nden etwas \u00fcber 6% aller Individuen mehr oder weniger abge\u00e4ndert sind; darunter befinden sich 4\u00b0/o mit der geringsten Ver\u00e4nderung (*/\u00ab&). Die gr\u00f6sste Ver\u00e4nderung (26),, welche die Reinzucht aller abge-\u00e4nderten Individuen darstellt, ist unter 1 Billion nur mit 1 Individuum, die Ab\u00e4nderungen, die mehr als b betragen, also die H\u00e4lfte der gr\u00f6ssten Ver\u00e4nderung \u00fcberschreiten, nur mit 4019006 Individuen oder mit 4 Millionstel der Gesammtheit vertreten. Die Wahrscheinlichkeit einer Reinzucht aller abge\u00e4nderten Individuen innerhalb der Gesellschaft von 2000 Individuen betr\u00e4gt f\u00fcr die erste Paarung 1 Zehntausendstel, f\u00fcr die zweite Paarung 1 Billionstel ; f\u00fcr die dritte Paarung w\u00fcrde sie 1 Zehntausendquadrillionstel betragen1).\nIn Folge der Kreuzung verbreitet sich die Ver\u00e4nderung nach und nach \u00fcber die ganze indifferente Gesellschaft und macht, je gr\u00f6sser diese ist, bez\u00fcglich der Steigerung um so langsamere Fortschritte. In dem vorhin angenommenen Beispiel, wo unter 100 Individuen sich je eines um einen Schritt ver\u00e4ndert, w\u00fcrde, wenn der einzelne Schritt den 200. Theil der ganzen Umwandlung oder Varie-t\u00e4tenbildung ausmacht, die Gesellschaft im g\u00fcnstigsten Falle nach 20000 Generationen umgewandelt sein. Aber dies w\u00e4re nicht eine Variet\u00e4tenbildung durch Zuchtwahl, welche ohne Trennung der abge\u00e4nderten von den nicht abge\u00e4nderten Individuen sich als undenkbar erweist.\nDoch auch die bloss einmalige Separation oder Migration, wie sie zur Rettung der Selecticnsiheorie erfunden wurde, hat keinen Erfolg. Angenommen, die abge\u00e4nderten Individuen der 1. Generation (mit der Ver\u00e4nderung b) emigriren in einem oder in mehreren Paaren und pflanzen sich in der Einsamkeit fort, so besteht\tdie\n2. Generation aus lauter gleichen Individuen auf der ersten Variationsstufe. Sowie jedoch die abermalige Ver\u00e4nderung, welche, um bei den Annahmen des ersten Beispiels zu bleiben, auf 100 Individuen bloss je eines trifft, stattgefunden hat, so ist auch die Un-\n*) Wenn die Menge der abgeinderten Individuen in der 1. Generation \u2014 ist und in den folgenden Generationen keine Variation mehr stattfindet, so betr\u00fcgt die Wahrscheinlichkeit der Reinsncht f\u00fcr die 8. Generation *t , f\u00fcr die 3- \u00f6- -y-> die 4. Generation \u25a0\u2014 u. a. w.","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"VL Kritik der Darwin schen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl. 323\ngleichheit gegeben. Wenn die .2. Generation vor der Ab\u00e4nderung aus 2000 Individuen (b) besteht, so enthalt sie nach derselben 20 (2 b) und 1980 (b), und nun erfolgt die weitere Entwicklung genau so, wie ich sie f\u00fcr das erste Beispiel dargelegt habe. Der Unterschied ist bloss der, dass diesmal die Hauptmasse der Gesellschaft nicht aus Individuen ohne Ab\u00e4nderung, sondern aus solchen der ersten Variationsstufe, d. h. mit einer unmerklich geringen Ver\u00e4nderung besteht. Man hat dann in der 3. Generation vor der Ver\u00e4nderung, auf 1 Million Individuen, analog wie I auf 8. 321\n100 (2b) H- 19800 (\u00ab/\u00bbb) + 980100 (b),\nund nach der dieser Generation zukommenden Ver\u00e4nderung \u00fcbereinstimmend mit II auf S. 321\n1 (3b) -f 198 (ft/tb) -f 9900 (26) 4- 19602 (*/,b) + 970299 (b).\nDie 4. Generation besteht dann ferner vor ihrer Ver\u00e4nderung aus den unter III auf 8. 321 aufgef\u00fchrten 9 Kategorien von Individuen, nur dass die Bezeichnung einer jeden um b zu vermehren ist Die Gesellschaft, die von einer emigrirten und mit Reinzucht beginnenden kleinen Schaar auserw\u00e4hlter Individuen abstammt, w\u00e4re von derjenigen, welche ohne Emigration und mit Kreuzung begonnen hat, gar nicht zu unterscheiden.\nDamit die Migrationstheorie den von ihr gew\u00fcnschten Erfolg habe, m\u00fcsste von zwei Bedingungen eine erf\u00fcllt sein. Entweder m\u00fcssten die von den Emigrirten abstammenden Individuen theils selbst\u00e4ndig durch innere Ursachen, theils durch \u00e4ussere auf alle gleichm\u00e4ssig einwirkende Ursachen weiter variiren, was im Widerspruche mit der Selectionstheorie steht, welche die Ver\u00e4nderung als zuf\u00e4llige von \u00e4usseren Einfl\u00fcssen ableitet. Oder es m\u00fcsste die Migration mit jeder Generation sich wiederholen und die Auserw\u00e4hlten i8oliren, bis die neue Sippe fertig w\u00e4re. Es m\u00fcssten also nach einander vielleicht 100 bis 1000 Migrationen eintreten, was nat\u00fcrlich nur dann m\u00f6glich w\u00e4re, wenn Separation bei der Paarung und Migration in einem nothwendigen physiologischen Zusammenhang mit der Variation st\u00e4nde, wof\u00fcr auch nicht die allergeringste Wahrscheinlichkeit besteht.\nWir m\u00f6gen uns die Dinge noch so g\u00fcnstig zurechtlegen : wenn die erblichen Ab\u00e4nderungen in der von der Selectionstheorie geforderten Art und Weise stattfinden und nur in einzelnen Individuen","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"324 VI. Kritik der Darwin schen Theorie Ton der natflriichen Zuchtwahl.\nauftreten, so kann eine nat\u00fcrliche Zuchtwahl und eine Steigerung der Ab\u00e4nderungen gar nicht zu Stande kommen.\nLftsst man dagegen an die Stelle der Em\u00e4hrungsursachen nnd der Zuchtwahl die Ab\u00e4nderung durch directe Bewirkung treten, so sind alle Schwierigkeiten beseitigt. Wae die Vervollkommnung der Organisation durch Uebergang in eine h\u00f6here Organisationsstufe betrifft, so haben die einfacheren Organismen ein\tdie\ncomplicirteren ein complidrteres Idioplasma. Am entwickelten Or ganismus vollzieht sich der Fortschritt entweder dadurch, dass die reproductive Zellbildung vegetativ wird, wodurch die individuelle Entwicklungsgeschichte um ein St\u00fcck sich verl\u00e4ngert und die Fortr pflanzungszellen erst von einer sp\u00e4teren Generation erzeugt werden, oder dadurch, dass mitten in der individuellen Entwicklungsgeschichte Complexe von Zellen oder Organen eingeschoben und Differenri-rungen herbeigef\u00fchrt werden1). In beiden F\u00e4llen ist das idioplasma-tische System um eine oder mehrere Micellgruppen reicher geworden.\nEs ist nun einleuchtend, dass, wenn die Fortbildung des Idio-plasmas das Urspr\u00fcngliche ist und seine Configuration durch den Zuwachs einer Micellgruppe complidrter wird, auch der entwickelte Organismus veranlasst wird, seiner Organisation ein neues Glied hinzuzuf\u00fcgen. Dieser Fortschritt tritt in allen Individuen einer Variet\u00e4t ein, da sie das n\u00e4mliche Idioplasma besitzen, und wenn auch einzelne Individuen den andern vorausgeeilt oder hinter den andern zur\u00fcckgeblieben w\u00e4ren, so w\u00fcrde die Kreuzung nichts anderes als eine Ausgleichung unter den in der n\u00e4mlichen Richtung sich ver\u00e4ndernden Individuen zu Stande bringen.\nR\u00fccksichtlich der Anpassung ist das Verhalten noch klarer und einfacher. Die Ver\u00e4nderung einer Variet\u00e4t kann nur durch einen allgemein wirkenden Reiz erfolgt sein, weil sie in diesem Falle ein allgemeines Bed\u00fcrfnis befriedigt Wenn aber alle Individuen und alle auf einander folgenden Generationen von dem n\u00e4mlichen Reiz getroffen werden, so muss auch das Idioplasma, das ja ebenfalls das n\u00e4mliche ist, in \u00fcbereinstimmender Weise sich umbilden, so dass die Umbildung durch die Kreuzung nicht gest\u00f6rt wird und die Zuchtwahl keinen Boden f\u00fcr ihre Ih\u00e4tigkeit findet.\n') Ich verweise auf den folgenden Abschnitt \u00bbPhylogenetische Entwicklungsgesetze\u00ab.","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik der Darwin schen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl. 32\u00df\nAuf die Frage, wodurch die Anpassungserecheinungen erzeugt werden, wirft die Wirkung dee Gebrauche\u00ab und Nichtgebranchee der Organe ein helle\u00ab Licht Man ist bei Besprechung der bez\u00fcglichen Erfahrungen nicht immer sehr kritisch verfahren, man Vmt ferner mit den erblichen auch nichterbliche Wirkungen, mit der Uebung oder Nicht\u00fcbung auch die reichlichere oder sp\u00e4rlichere Ern\u00e4hrung zusammengeworfen. Wenn die Thateachen kritisch gesichtet und die nicht erblichen Wirkungen, wohin auch diejenigen der Er-n&hning geh\u00f6ren, ganz aus dem Spiele gelassen werden, so bleiben die erblichen Folgen des Gebrauches und Nichtgebrauches zwar ganz dieselben, wie sie schon Darwin angegeben hat, sie zeigen nun aber deutlich die Ursachen der Anpassungen.\nDurch den Gebrauch bildet sich ein Organ oder eine Einrichtung mehr aus und nimmt an Grosse, St\u00e4rke, Sch\u00fcrfe, Feinheit zu, was eine bestimmtere Configuration der betreffenden Idioplasmagruppe anzeigt, \u2014 w\u00e4hrend durch den Nichtgebrauch die umgekehrte Ver\u00e4nderung des Organs stattfindet und zuletzt sein vollst\u00e4ndiges Verschwinden eintritt. Es ist einleuchtend, dass der Gebrauch nur als Reiz wirken kann. Hat dieser andauernd einen bestimmten St\u00e4rke-grad, so steigt die Ver\u00e4nderung im Idioplasma bis auf eine demselben entsprechende Hohe. Nimmt der Gebrauch und mit ihm der Reiz zu, so wird auch die Wirkung grosser. Vermindert er sich stetig bis zum Aufh\u00f6ren, so wird die Anordnung der Micelle in der Idioplasmagruppe weniger bestimmt und die Gruppe wird durch andere Gruppen mehr zur\u00fcckgedr\u00e4ngt, bis sie zuletzt ganz in den latenten Zustand \u00fcbergehl\nWie man die Folgen des Gebrauches und Nichtgebrauches aus Ern\u00e4hrungseinfl\u00fcssen, Verdr\u00e4ngung und Zuchtwahl erkl\u00e4ren kann, ist mir logisch unbegreiflich. Gebrauch und Nichtgebrauch haben nur die Zu- und Abnahme des betreffenden Organs im Verh\u00e4ltniss zu den \u00fcbrigen zur Folge. W\u00e4re neben dem gesteigerten oder verminderten Reiz noch eine andere Ursache f\u00fcr diese erbliche Wirkung vorhanden, so m\u00fcsste ausser der Zu- und Abnahme auch irgend eine andere Ver\u00e4nderung an dem Organ stattfinden. Da dieselbe mangelt, so ist schon durch den Gebrauch und Nichtgebrauch die Wirkung vollst\u00e4ndig erkl\u00e4rt. Uebrigens veranlassen die klimatischen und Ern\u00e4hrungseinfl\u00fcsse, wenn sie qualitativ und quantitativ verschieden sind, wie ich gezeigt habe, selbst w\u00e4hrend der Zeit von Erdperioden","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326 VI. Kritik der Darwin schen Theorie von der natflriichen Zuchtwahl.\nkeine erblichen Ver\u00e4nderungen. \u2014 Ferner, wenn die Anpassungen durch die Em\u00e4hrungseinfl\u00fcsse verursacht w\u00fcrden, wie kommt es denn, dass sie, obwohl diese Einfl\u00fcsse andauern, durch Nicht-gebrauoh geschw\u00e4cht werden, und verschwinden? Und wie kommt es, dass sie bis zu der Gr\u00f6sse heran zu wachsen vermochten, welche sie bef\u00e4higt, in Gebrauch zu kommen, und dass de nicht schon, ehe diese Gr\u00f6sse erreicht war, in ihrem Anfangszustande durch Nichtgebrauch wieder ausgel\u00f6echt wurden?\nEs gibt noch eine andere Erw\u00e4gung, welche gegen die Bewirkung der Anpassungen durch die Em\u00e4h ru ngsursachen spricht. Diese m\u00fcssten die Anf\u00e4nge eines Organs bis zu der Gr\u00f6sse, wo der Gebrauch \u00fcber die N\u00fctzlichkeit entscheidet, \u00fcberall da hervorbringen, wo die M\u00f6glichkeit dazu gegeben ist. Um nur ein Beispiel zu erw\u00e4hnen, so h\u00e4tten Anf\u00e4nge von H\u00f6rnern nicht bloss \u00fcberall auf dem Kopfe der Wiederk\u00e4uer, sondern auch \u00fcber den ganzen R\u00fccken bis zur Schwanzspitze und ebenso auf andern Thieren entstehen m\u00fcssen, und es m\u00fcssten fortw\u00e4hrend Anf\u00e4nge von allen m\u00f6glichen Organen, wo sie die vorhandenen nicht beeintr\u00e4chtigen, sich bilden. Thats\u00f6chlich sind solche Anf\u00e4nge nicht vorhanden, und die Theorie der directen Bewirkung erkl\u00e4rt diesen Mangel vollst\u00e4ndig: Auch die ersten Anf\u00e4nge k\u00f6nnen nur da zum Vorschein kommen, wo ein Reiz dauernd wirkt, und wo dies der Fall ist, da gewinnt das Organ Bestand; sein Fortbestehen aber ist die Folge einer fortw\u00e4hrenden Reaction auf den bestimmten Reiz, welche durch den Gebrauch bedingt wird, ein Bed\u00fcrfnis befriedigt und somit n\u00fctzlich ist.\nNach der Selectionstheorie verdr\u00e4ngt ein Merkmal um so vollst\u00e4ndiger die andern und die Inzucht tritt durch die Verdr\u00e4ngung um so fr\u00fcher und um so reiner ein, je n\u00fctzlicher dasselbe ist Die Constanz h\u00e4ngt nach dieser Theorie davon ab, dmw ein Merkmal, bei Ausschluss der Kreuzung mit andersgearteten Individuen, sich l\u00e4ngere Zeit vererbt hat Dasselbe sollte daher unter \u00fcbrigens gleichen Umst\u00e4nden um so constanter sein, je n\u00fctzlicher es ist; eine Eigenschaft dagegen, die keinen Nutzen gew\u00e4hrt, sollte, indem","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik der Darwin\u2019uchen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl. 327\nsie keine Verdr\u00e4ngung bewirken und daher die Kreuzung nicht aus-schliessen kann, auch zu keiner Constanz gelangen. Nun sind aber im Pflanzenreiche die allerbestftndigsten Merkmale gewisse morphologische Eigent\u00fcmlichkeiten, wiewohl dieselben bei der Concurrenz gar keinen Nutzen gew\u00e4hren.\nWas die Bestimmung der Best\u00e4ndigkeit betrifft, so erinnere ich an die fr\u00fcher hervorgehobene Thateache, dass alle, selbst die leichtesten Variet\u00e4ten constant sind, indem ihre erblichen Merkmale, wenn die \u00e4usseren Verh\u00e4ltnisse auch noch so sehr sich \u00e4ndern, in den auf einander folgenden Generationen nicht die geringsten Modi-ficationen zeigen. Es l\u00e4sst sich daher der Grad der Constanz auf directem Wege nicht erproben, sondern er muss aus der Permanenz erschlossen werden (8. 239, 240), indem ein Merkmal um so best\u00e4ndiger sein muss, je gr\u00f6sser seine Verbreitung in einem der beiden Reiche ist. Wir werden ihm nur geringe Best\u00e4ndigkeit zuschreiben, wenn es unter mehreren Gattungen einer Ordnung oder unter mehreren Arten einer Gattung nur je bei einer derselben vorkommt, dagegen eine sehr grosse, wenn es bei mehreren Classen oder gar bei mehreren Abtheilungen des Reiches( permanent ist.\nNun zeigen ganz allgemein im Pflanzenreiche die Anpassungsmerkmale, welche durch die \u00e4usseren Reizeinfl\u00fcsse hervorgerufen werden und mit R\u00fccksicht darauf ihre N\u00fctzlichkeit erproben, eine geringere Permanenz als die Organisationsmerkmale, welche durch die selbst\u00e4ndige Umbildung des Idioplasmas bedingt werden, und welche in Ueboreinstimmung mit ihrem Ursprung sich den \u00e4usseren Verh\u00e4ltnissen gegen\u00fcber gleichg\u00fcltig verhalten. Die letzteren habe ich fr\u00fcher gegen\u00fcber den \u00bbdurch eine bestimmte Verrichtung bedingten\u00ab Erscheinungen als \u00bbrein morphologische\u00ab bezeichnet und gesagt, dass dieselben, obwohl indifferent, doch constanter seien als die ersteren, die sich als n\u00fctzlich erweisen1).\nAl\u00bb solche rein morphologische Merkmale nannte ich die Stellungsverh\u00e4ltnisse und Zusammenordnung von Zellen und Organen. Als allgemein verst\u00e4ndliches Beispiel f\u00fchrte ich die gegen\u00fcberstehenden Bl\u00e4tter im Vergleich mit den spiralst\u00e4ndigen an; jene kommen beispielsweise bei den Labiaten, diese bei den Bor-ragineen vor. Ich hatte aber besonders gewisse Anordnungen der\n') Entstehung und Begriff der natorhistorischen Art. I86fi.","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328 VI. Kritik der Darwin schen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl.\nZellen im Auge, deren ich, vor einem nicht eigentlich naturwissenschaftlichen Publicum, keine Erw\u00e4hnung that. Ich will jetzt, statt zahlreicher Beispiele, bloss an die Theilung der Scheitelzellen durch horizontale und an diejenige durch schiefe Scheidew\u00e4nde erinnern, wodurch auch die Stellung der Hauptcomplexe des Zellgewebes be-\nFit- u.\ndingt wird. Die entere kommt bei den meisten Algen, die letztere bei den Moosen mit cylindrischen Stftmmchen und bei den Gef\u00e4sscryp-togamen vor (Fig. 11, a und b; die auf einander folgenden Scheidew\u00e4nde sind mit 1, 2, 8, 4, 5 bezeichnet, die n\u00e4chstfolgende Scheidewand in der Scheitelzelle durch eine punktirte Linie angedeutet)1).\nDarwin geht ziemlich weitl\u00e4ufig auf diesen meinen gegen die Zuchtwahl gemachten Einwand ein, aber statt die von mir allerdings nur allgemein bezeichneten F\u00e4lle zu besprechen, f\u00fchrt er eine Menge morphologischer Erscheinungen an, die ich nicht gewagt haben w\u00fcrde, als Beweise f\u00fcr meine Ansicht anzuf\u00fchren, da sie f\u00fcr mich zweifelhaft und wohl meistens als Anpassungen zu betrachten sind. Eine Erscheinung kann erst dann Gegenstand erfolgreicher Betrachtungen werden, wenn man sie bis auf den Ursprung zur\u00fcckverfolgen kann. Dies ist aber der Fall mit der opponirten und spiraligen Stellung, indem beide Stellungen schon be\u2019 verzweigten einzelligen Pflanzen und bei solchen, die aus verzweigten Zellreihen bestehen (beides bei niederen Algen), vorhanden sind, \u2014 und mit der vorhin angef\u00fchrten Stellung der Seg-\n*) rar alle diese Stellongsverfaaitoisee ist es nat\u00fcrlich gleichg\u00fcltig, durch welche mechanischen Mittel sie \u00abwachst sa Stande kommen. Das f\u00fcr die vorliegende Frage Entscheidende besteht darin, dass sie in strenger Weise vererbt werden and also als Anlagen im Idioplasma enthalten sind. Das\t- wirkt\nseinerseits auf das Ernahrangsplasma derartig ein, dass in Folge lingnmii oder k\u00fcneren Reihe von molecularen Processen schliesslich stets die \u00abamH-K-n Stellangaverh\u00fcltnisee reeultiren.","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik der Darwin schen Theorie von der natOrttcheft Zuchtwahl. 329\nmente in Folge der Theilung der Scheitelzelle. Bei beiderlei Stellungsverh\u00e4ltnissen ist weder eine Ueberlieferung von Vorfahren, f\u00fcr welche die Eigenschaft von Bedeutung war, noch eine unter dem\nEinfluss anderer Anpassungen zu Stande gekommene correlative Anpassung m\u00f6glich.\nWie sehr \u00fcbrigens Darwin selbst sich der Uebereeugung hinneigt, dass es morphologische Erscheinungen gebe, die stets, auch bei ihrer Entstehung, ohne jeden Nutzen waren, geht daraus hervor, dass er f\u00fcr dieselben eine Erkl\u00e4rung erfindet: Er sei zu glauben geneigt, dass morphologische Differenzen zuerst in vielen Fallen als fluctuirende Ab\u00e4nderungen erschienen seien, welche fr\u00fcher oder sp\u00e4ter durch die Natur des Organismus und der umgebenden Bedingungen, ebenso wie durch die Kreuzung verschiedener Individuen, aber nicht durch die nat\u00fcrliche Zuchtwahl constant geworden ; denn da diese morphologischen Charaktere die Wohlfahrt der Art nicht ber\u00fchrten, so k\u00f6nnten auch unbedeutende Ab\u00e4nderungen an ihnen nicht von nat\u00fcrlicher Zuchtwahl beeinflusst oder geh\u00e4uft worden sein.\nSollte diese Erkl\u00e4rung wirklich Grund haben, so w\u00fcrde sie die Selectionstheorie geradezu \u00fcber den Haufen werfen. Wenn fluctuirende Ab\u00e4nderungen in vielen F\u00e4llen durch die Kreuzung und nicht durch die Zuchtwahl constant werden konnten, warum konnten sie es nicht in allen? Wenn die Kreuzung die Ausbildung und das Constantwerden eines indifferenten Merkmals nicht verhindert, so sollte ein n\u00fctzliches Merkmal um so eher trotz der Kreuzung ohne weitere Beihilfe sich ausbilden und constant weiden.\nW\u00e4hrend von Darwin mein Einwurf ernstlich behandelt wurde, haben ihn deutsche Darwinisten entweder einfach ignorirt oder in vollst\u00e4ndiger Verkennung seiner Bedeutung meine rein morphologischen Eigenschaften mit den sogenannten 9morphologischen Arten\u00ab zusammengestellt. Die letzteren unterscheiden sich durch ganz unbedeutende Merkmale, welche unbekannten Ursprungs und daher auch von zweifelhafter Bedeutung sind, indess meine morphologischen Merkmale die Hauptz\u00fcge an dem Geb\u00e4ude ausmachen, welches die Entwicklungsgeschichte des Pflanzenreiches darstellt und an dem die n\u00fctzlichen Anpassungen die Ausf\u00fchrung im einzelnen und die Verzierung bilden.","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330 VI. Kritik der Darwin schen Theorie von der natOriichen Zuchtwahl.\n6. SptamattolMr Aufbau der ganzen Reioke.\nEs ist eine allgemein anerkannte Thateache, dass die Reiche aus aulsteigenden Reihen zusammengesetzt sind, welche divergiren und sich baumartig verzweigen, und dass in dom gegenw\u00e4rtigen Bestand grosse L\u00fccken, sowohl in den einzelnen Reihen als durch das Fehlen ganzer VerzweigungsS\u00ffsteme, bestehen; unter dem Aufsteigen der Reihen wird das Fortschreiten von einfacheren zu com-plicirteren Organisationsstufen verstanden. Ferner nimmt auch Darwin an, dass es keine absteigenden Reihen gebe und dass eine Art nicht in diejenige, von der sie entsprungen ist, noch in eine andere verwandte \u00fcbergehen k\u00f6nne, was ich ebenfalls als sichere Thatsachen betrachte. Aber f\u00fcr alle diese Thatsachen hat die Se-lectionstheorie nicht nur keine Gr\u00fcnde anzugeben vermocht, sondern sie befindet sich selbst in scharfem Widerspruche mit denseltxm. Ich habe bereits fr\u00fcher ') auf den Kardinalpunkt hingewiesen, was aber von den Anh\u00e4ngern jener Lehre bei der wenig sorgf\u00e4ltigen Behandlung, die sie der mechanischen Seite der Abstammungslehre zuwenden, unbeachtet geblieben ist.\nWenn nach der Annahme der Darwinisten durch die unbestimmten Ern\u00e4hrungseinfl\u00fcsse die molecularen Verh\u00e4ltnisse ge\u00e4ndert werden und aus diesen die grossen und sichtbaren Ab\u00e4nderungon hervorgehen, so m\u00fcssten die Umbildungen in jedem einzelnen Falle nach allen m\u00f6glichen Seiten und in allen Theilen eines Organismus geschehen k\u00f6nnen, denn die molecularen Verschiebungen und Neubildungen k\u00f6nnen ja in jeder Zelle erfolgen, und thats\u00e4chlich w\u00e4ren ja alle die so verschiedenen Eigenschaften aus ihnen hervorgegangen. Wenn ferner die H\u00e4ufung der Ab\u00e4nderungen bloss durch die N\u00fctzlichkeit geregelt wird, so m\u00fcsste ein Organismus unter allen Umst\u00e4nden nach derjenigen Form und Function streben, bei der er unter den bestehenden Umst\u00e4nden am besten seine Rechnung findet.\nEs ist eine mechanische Nothwendigkeit, dass eine bestimmte Kraft eine bestimmte Bewegung verursacht, dass auf eine in entgegengesetzter Richtung wirkende Kraft die entgegengesetzte Bewegung erfolgt, und dass eine Kraft, die in irgend einer anderen Richtung wirkt, auch die Bewegung nach dieser Richtung ablenkt\n*) Entstehung und Begriff der .nsturhistorischen Art. I860.","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik der Darwinschen Theorie von der natOiiMien Znrhtwahl. 33 J\nF\u00fcr die Selectionstheorie sind die Ern\u00e4hrungseinfl\u00fcsse, welche die chemische und physikolische Beschaffenheit umbilden, und die N\u00fctzlichkeit , welche alle unvorteilhaften Umbildungen bis auf eine eliminirt, die einem Stosse zu vergleichenden treibenden Kr\u00e4fte, und die durch kleine Schritte nach der n\u00fctzlichen Seite erfolgende Ab\u00e4nderung entspricht der mechanischen Bewegungsrichtung.\nDeswegen m\u00fcsste eine Sippe je nach den wirkenden Ursachen in ihre Eltersippe, ebenso in eine andere verwandte Sippe \u00fcbergehen k\u00f6nnen. Sie m\u00fcsste ferner die ganze aufsteigende Entwicklungsreihe wieder zur\u00fcckgehen, wenn die \u00e4usseren Umst\u00e4nde sich jeweilen so gestalteten, dass ein weiterer Schritt abw\u00e4rts vor-theilhaft w\u00e4re. Endlich m\u00fcssten neben den aufeteigenden diver-girenden auch alle m\u00f6glichen seitlichen theils convergirenden theils anastomosirenden Reihen sich bilden; es h\u00e4tten also keine L\u00fccken entstehen d\u00fcrfen, indem jeder sich bildende gr\u00f6ssere Abstand fr\u00fcher oder sp\u00e4ter wieder ausgef\u00fcllt worden w\u00e4re. Statt der baumf\u00f6rmigen Anordnung m\u00fcsste also eine vollst\u00e4ndige netzartige Vertheilung der Sippen die Reiche darstellen. \u2014 Es ist auch sicher, dass, wenn Ueberg\u00e4nge einer Art in eine andere bestehende oder untergegangene Art, wenn ferner Convergenz und Anastomose der Reihen und l\u00fcckenlose netzf\u00f6rmige Anordnung derselben vorhanden w\u00e4ren, die Selectionstheorie auf solche Vorkommnisse mit dem gr\u00f6ssten Triumph als auf die sch\u00f6nsten Beweise ihrer theoretischen Voraussetzungen hinweisen w\u00fcrde.\nGanz anders als die Selectionstheorie steht die Theorie der directen Bewirkung den Thatsachen gegen\u00fcber, indem die strenge Gonsequenz ihrer Anwendung genau zu dem bestehenden Sachver-halte f\u00fchrt. Da das Idioplasma mit innerer Nothwendigkeit stetig complicirter wird, so kann die Ver\u00e4nderung nur.zu einer h\u00f6heren Organisationsstufe fortschreiten ; daher gibt es nur aufsteigende Reihen. Da aber in Folge ungleicher Compli^fjgn oder ungleicher Anpassungen auf jeder Stufe eine Reihe in mehrere Sippen auseinander gehen kann und jede dieser Sippen unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden den Anfang einer neuen Reihe bildet, welche dem Beharrungsgesetze gem\u00e4ss immer mehr von den Schwesterreihen sich entfernt, so verzweigen sich die Reihen mit divergirenden Aesten. Convergenz der Reihen sowie der Uebergang einer Sippe in eine andere Sippe ist principiell unm\u00f6glich.","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332 VI. Kritik der Darwia\u2019achen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl.\nAuch kann sich eine bloss durch Anpassung entstandene Sippe nicht in ihre Eltersippe sur\u00fcckverwandeln, selbst wenn ihre An-passungsmerk in aie in die elterlichen Anpassungsmerkmale zur\u00fcckgehen, weil mittlerweile die allgemeine Configuration des Idioplasmas in Folge der stetig fortschreitenden Vervollkomm nungshewegung eine etwas andere geworden ist und daher die darin entstehenden Anpassungsanlagen ebenfalls eine etwas ver\u00e4nderte Beschaffenheit annehmen m\u00fcssen. Aus dem gleichen Grunde k\u00f6nnen die Sippen zweier Reihen um so weniger durch gleiche Anpassung sich nahem, je grosser die Divergenz und je grosser somit die \\ erschiedenheit in der allgemeinen Configuration des Idioplasmas geworden ist. Aber zwei Klassen oder Ordnungen k\u00f6nnen, je mehr ihre Ungleichheit auf Anpassungsmerkmalen beruht, in einzelnen Gattungen einander um so n\u00e4her treten.\nDie eben er\u00f6rterte Frage ist schon von Darwin ber\u00fchrt worden, allerdings nur kurz und lediglich vom Standpunkte des praktischen Empirikers. Auf den Einwurf von Watson, dass auch Convergenz der Charaktere in Betracht gezogen werden m\u00fcsse, sagt er bloss \u00bbes sei unglaublich, dass die Nachkommen zweier auffallend verschiedener Organismen sp\u00e4ter je so nahe convergiren sollten, sie sich einer Identit\u00e4t durch ihre gesammte Organisation n\u00e4herten. W\u00e4re dies eingetreten, so w\u00fcrden wir, unabh\u00e4ngig von einem genetischen Zusammenhang, derselben Form wiederholt in weit von einander entfernt liegenden geologischen Formationen begegnen, und hier widerspreche der Ausschlag des thats\u00e4chlichen Beweismaterials jeder derartigen Annahme.\u00ab\nMit dieser Antwort, die von Anh\u00e4ngern der Selectionstheorie als theoretische Widerlegung begr\u00fcsst worden ist, sagte Darwin weiter gar nichts und wollte auch nichts sagen, als dass die Erfahrung keine Best\u00e4tigung gebe. Aber die Berufung auf die Palae-ontologie ist werthlos, da in dieser Wissenschaft bei der notorischen und von Darwin selbst zu anderem Zwecke hervorgehobenen Mangelhaftigkeit des Materials negative Resultate nichts beweisen.\nBei einer verwandten Gelegenheit sagt ferner Darwin: \u00bbMan begreife leicht, dass eine einmal zu Grunde gegangene Art nicht wieder zum Vorschein kommen k\u00f6nne, selbst wenn die n\u00e4mlichen unorganischen und organischen Lebensbedingungen nochmals ein-treten. Denn obwohl die neue Art die alte vollkommen ersetze, so","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik der Darwinschen Theorie too der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl. g\u00a33\nk\u00f6nnen doch beide nicht identisch sein, weil sie gewiss von ihren Stammv\u00e4tern auch verschiedene Charaktere mitgeerbt haben.\u00ab Dagegen m\u00f6chte ich erwiedern, man begreife leicht, dass, wenn die Merkmale nur durch die Ern\u00e4hrungsursachen und die Zuchtwahl bewirkt werden, zwei Arten mit verschiedenen Merkmalen, nachdem sie lange genug unter urs\u00e4chlichen Verh\u00e4ltnissen, die ihre Verschiedenheiten anstilgen, gelebt haben, identisch werden. Es ist dies eine mechanische Nothwendigkeit, die gar nicht zur\u00fcck-gewiesen werden 1\u00bbmn\nIch habe eine das n\u00e4mliche darlegende Antwort bereits in der \u00bbEntstehung der Art\u00ab gegeben. Dass Darwin darauf kein Gewicht legte, ist mir begreiflich, da er als reiner Empiriker nur Thaisachen anf\u00fchrt und dieselben seiner aus der Thierz\u00fcchtung abgeleiteten allgemeinen Theorie anzupassen sucht, ohne sie mit den strengen theoretischen Folgerungen ans derselben zu vergleichen. Weniger begreiflich ist es mir von deutschen Darwinisten, welche sich gerne auf mechanische Nothwendigkeit beraten und diese namentlich auch f\u00fcr die molecularen Ver\u00e4nderungen in Anspruch nehmen, die in Folge der Ern\u00e4hrungsursachen im Organismus ein-treten und die ihrerseits die Entstehung und somit auch die Vernichtung der Merkmale bewirken sollen.\nEine hieher geh\u00f6rende Thatsache ist da\u00ab Aussterben ganzer St\u00e4mme wie der Lepidodendreen, der Calamiteen, der Asterophylliten, der Sigillanen. Nach der Theorie der directen Bewirkung ist die M\u00f6glichkeit leicht einzusehen. Die Vervoilknmmnngwyftiftndernng eines Stammes geschieht nur in einer Richtung und kann leicht einmal fr\u00fcher oder sp\u00e4ter ein nothwendiges Ende durch innere Ursachen finden. Es ist auch denkbar, dass sie, bevor dieses Ende erreicht ist, zu einer Organisationsstufe f\u00fchrt, welche ihrer Natur nach nicht oder wenig existenzf\u00e4hig ist In beiden F\u00e4llen muss der Stamm ausstorben. Die Selectionstheorie aber hat daf\u00fcr keine gen\u00fcgende Erkl\u00e4rung. Die nach allen Seiten hin stattfindende Ver\u00e4nderung h\u00e4tte ja leicht den Ausweg zu einer n\u00fctzlichen Anpassung finden sollen, und zwar um so mehr als keine Concurrent mit nahen Verwandten zu bestehen war.","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"384 VI. Kritik der Darwin schen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl.\n7. Anpassung dar Bewetmer aines Landet.\nIch will nicht weitl\u00e4ufig auf diese ziemlich dunkle Frage ein-treten, sondern nur einige Gesichtspunkte hervorheben. Nach Darwin besteht unter den Bewohnern eines Landes eine bedeutende, wenn auch keineswegs vollkommene gegenseitige Anpassung. Dieselbe folgt auch logisch aus der Selectionstheorie, in der Weise, dass sie stetig zunehmen und nach hinreichend langer Zeit vollkommen werden soll. Nach Darwin sind ferner die Bewohner in gr\u00f6sseren und zusammenh\u00e4ngenden Gebieten vollkommner angepasst als in kleineren und isolirten; daher komme es, dass die Erzeugnisse des kleinen australischen Continents jetzt vor denen des gr\u00f6sseren europ\u00e4isch-asiatischen Bezirkes im Weichen begriffen sind, und dass festl\u00e4ndische Erzeugnisse allenthalben so reichlich auf Inseln naturalisirt werden. Darnach m\u00fcsste die Anpassung der Bewohner von Europa-Asien und von Amerika als grosser Continente sehr betr\u00e4chtlich sein. Es ist nun die Frage, ob die Thatsachen diesen Behauptungen entsprechen.\nBei der Anpassung spielen f\u00fcr die Selectionstheorie nat\u00fcrlich die klimatischen und Em\u00e4hrungsverh\u00e4ltnisse eine wichtige Rolle; denn mit R\u00fccksicht auf sie soll sich jede Art unter den \u00fcbrigen Bewohnern so modificirt haben, dass sie die Concurrenz mit ihren Mitbewerbern erfolgreich bestehe und den Platz unter ihnen behaupte. \u2014 Lassen wir nun, immer im Sinne der Selectionstheorie, eine aremde Art aus einem fernen Lande einwandem; dieselbe hat sich auf ganz andere Verh\u00e4ltnisse, auf andere Pflanzen und Thiere, anderes Klima und anderen Boden seit vielen Jahrtausenden angepasst. Ihre ganze bisherige Anpassung n\u00fctzt ihr in dem neuen Wohnsitze nichts; sie ist ihr vielmehr, je vollkommner sie war, um so hinderlicher; sie muss hier ausgetilgt und daf\u00fcr eine neue Anpassung erworben werdon. Was w\u00e4re daher nat\u00fcrlicher, als dass die fremde Art unter so ung\u00fcnstigen Umst\u00e4nden keinen festen Fuss zu fassen verm\u00f6chte? Und k\u00f6nnte, wenn es keine Naturalisation g\u00e4be, die Anpassungstheorie dann nicht diese Thatsache als eine noth wendige Folgerung und somit als einen vorz\u00fcglichen Beweis in Anspruch nehmen?\nNun bestehen aber die Naturalisationen in grosser Zahl und in umfassendstem Maasse. Europ\u00e4ische Pflanzen, die von jeher der alten Welt angeh\u00f6rt hatten und hier geformt worden waren, sind","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik (1er Darwinschen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl. gg\u00df\nnach der Entdeckung von Amerika dorthin verschleppt worden und haben sich unter einem fremden Klima und unter einer fremden vegetabilischen und animalischen Bev\u00f6lkerung eingeb\u00fcrgert. Amerikanische Pflanzen, die seit der Lostrennung Amerikas von Europa Zeit hatten, sich amerikanisch anzupassen, sind zuf\u00e4llig nach Europa gebracht worden, und haben hier unter einer europftisch angepassten Einwohnerschaft sich einen Platz erobert und rasch eine weite Verbreitung gowonnen. Am merkw\u00fcrdigsten ist dies von Erigeron canadense, weil die nat\u00fcrliche Pflanzenfamilie, der diese Pflanze angeh\u00f6rt, auch in Europa unter allen Familien weitaus die gr\u00f6sste Menge von Arten enth\u00e4lt. Und was besondere Beachtung verdient, diese Pflanze hat sich in ihrem neuen Wohnsitze \u00bbangepasst\u00ab, ohne ihre Merkmale im geringsten zu \u00e4ndern.\nWir k\u00f6nnten durch die letztere Beobachtung dazu veranlasst werden, an der gegenseitigen Anpassung \u00fcberhaupt zu zweifeln. In \u00ab1er That hat eine solche, was ich schon wiederholt erw\u00e4hnt habe, w\u00e4hrend des ungeheuer langen Zeitraumes, der seit der Eiszeit verflossen ist, nicht stattgefunden, insofern dieselbe in Eigenschaften besteht, welche unserer Wahrnehmung zug\u00e4nglich sind. W\u00e4hrend \u00ab1er Eiszeit lebten die alpinen und nordischen Pflanzen, mit Ausnahme der hochalpinen und hochnordischen, in der mitteleurop\u00e4ischen Ebene. Als sie nach der Eiszeit in ihre fr\u00fcheren Wohnsitze zur\u00fcckkehrten, wanderten manche nach beiden Gebieten, so dass die Alpen und der Norden eine Anzahl von Arten gemein haben. Trotzdem dass sie seitdem in ungleichen Klimaten und in ungleicher pflanzlicher und tliierischer Gesellschaft gelebt haben, sind sie einander doch so gleich, dass man sie nicht einmal als die allerleichtesten Variet\u00e4ten zu unterscheiden vermag. Das N\u00e4mliche gilt f\u00fcr einige \u00f6stliche Pflanzen, die w\u00e4hrend des gleichen Zeitraumes in Mitteleuropa und im Osten, und f\u00fcr einige Alpenpflanzen, die seit der Eiszeit zugleich auch in der Ebene gelebt haben. Aus diesen und anderen \u00e4hnlichen Thatsachen ziehe ich den Schluss, dass eine gegenseitige Anpassung der Bewohner eines Landes nicht stattfindet, womit nat\u00fcrlich solche Anpassungen im einzelnen, namentlich zwischen einzelnen Thieren und Pflanzen, oder der Schmarotzer an den Wirth nicht beanstandet werden sollen.\nIndem Darwin, um die reichlichere Naturalisation fremder Erzeugnisse auf Neuholland und auf andern Inseln zu erkl\u00e4ren, die","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"386 VI. Kritik der Darwinschen Theorie ton der nstOrtichen Zuchtwahl.\nBewohner gr\u00f6sserer, mit mannigfaltigerer Pflanzen- und Thierwelt besetzter L\u00e4nder als vollkommener angepasst, und demnach als concunenzflhiger und starker bezeichnet, legt er in nicht zu billigender Weise einem specieUen Begriff allgemeine G\u00fcltigkeit bei. Es gibt ja bestimmte Gebiete, in denen ein solches Verfahren nicht zu beanstanden ist. Wenn z. B. ein Handeltreibender sich irgendwo verwickelten Verh\u00e4ltnissen angepasst und zum geriebenen Gesch\u00e4ftsmann ausgebildet hat, so wird er, unter ganz andere und ihm neue Verh\u00e4ltnisse versetzt, auch hier seine Concurrenzt\u00fcchtigkeit und seine Ueberlegenhsit gegen\u00fcber einem Neuling im Gesch\u00e4ft beweisen. Die Anpassung war ihm eine Schule und hat ihm Anpassungsf\u00e4higkeit verschafft; die specielle Anpassung an bestimmte Gesch\u00e4ftsverh\u00e4ltnisse ist ihm zugleich eine allgemeine Anpassung an das Gesch\u00e4ftsleben \u00fcberhaupt.\nDieses Beispiel gilt f\u00fcr viele andere Arten der Concurrent, denen der Mensch, und auch noch f\u00fcr solche, denen die h\u00f6heren Thiere ausgesetzt sind, aber nur soweit geistige F\u00e4higkeiten, die durch Uebung und Erfahrung gef\u00f6rdert werden, mit im Spiele sind. Dagegen findet es keine Anwendung f\u00fcr alle bloss stofflichen oder k\u00f6rperlichen Anpassungen; diese gew\u00e4hren keinen allgemeinen Vortheil f\u00fcr den Kampf ums Dasein \u00fcberhaupt, sondern bloss f\u00fcr die bestimmten Verh\u00e4ltnisse, denen sie ihre Existenz verdanken. Unter anderen Verh\u00e4ltnissen sind sie dem Tr\u00e4ger entweder eine \u00fcberfl\u00fcssige last oder selbst geradezu ein Hemmniss. Eine Pflanze habe in einem trockenen lande mit reichlicher Insolation, mit heissen Sommern und kalten Wintern unter ihren Mitbewerberinnen sich als concurrenzf\u00e4hig erwiesen. Gesetzt, dass diese T\u00fcchtigkeit eine Folge der Anpassung sei, was kann ihr denn diese Anpassung in einem fernen Lande mit feuchtem nebligem Klima und gleichm\u00e4ssiger mittlerer Temperatur gegen\u00fcber von Mitbewerberinnen n\u00fctzen, die gerade diesen Verh\u00e4ltnissen angepasst sind und die \u00fcberdem theil-weise andern Gattungen, Ordnungen und Klassen angeh\u00f6ren und daher auch eine andere Organisation und andere Verrichtungen haben?\nWir k\u00f6nnen uns die Frage am deutlichsten mmhen, wenn wir, was ja bei exacten Untersuchungen immer der sicherste Weg zur richtigen Beurtheilung ist, durch Elimination alles andere bis auf dasjenige Moment, worauf es ankommt, gleich machen. Die n\u00e4mliche Pflanzenart sei vor Urzeiten theils nach Asien theils nach","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"VI. Kritik der Darwin schen Theorie von der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl. 337\nNeuholland gekommen und habe sieh an beiden Orten vollkommen angepasst. Sie ist also nun in zwei Anpassungsfonnen, die durch irgend welche materielle Eigenschaften sich von einander unterscheiden, vorhanden. Die asiatische Anpassungsform ist al>er nach der Theorie Dar win\u2019s \u00fcberhaupt die st\u00e4rkere und vollkommnere, weil unter einer reichen Vegetation gemodelt. Wenn dieselbe durch Wanderung nach Neuholland kommt, so muss sie nach der n\u00e4mlichen Theorie die unter einer \u00e4rmlichen Vegetation angepasste neuholl\u00e4ndische Form verdr\u00e4ngen, w\u00e4hrend doch naturgesetzlich die letztere, weil ihren Verh\u00e4ltnissen vollkommen angepasst, ganz sicher die Oberhand behalten wird.\nDiese Betrachtungen haben G\u00fcltigkeit f\u00fcr den Fall, dass es wirklich eine gegenseitige Anpassung im Sinne Dar win\u2019s g\u00e4be. Wie schon gesagt, mangelt nach meiner Ansicht einer solchen Annahme sowohl die theoretische als die erfahrungsm\u00e4ssige Begr\u00fcndung und die vorhandenen Naturalisationen sind gleichfalls in anderer Weise zu erkl\u00e4ren. Wie aus der Theorie der directen Bewirkung hervorgeht, gibt es in der Flora und Fauna eines jeden Landes, wie zahlreich auch ihre Sippen sein m\u00f6gen, bez\u00fcglich der Anspr\u00fcche an die Aussenwelt immer zahlreiche L\u00fccken, die von der Concurrenz nicht beherrscht werden. Tritt ein Fremdling in eine dieser L\u00fccken ein, so naturalis\u00e2t er sich ohne M\u00fche. Daher finden in alle L\u00e4nder Einwanderungen statt. Die Thatsache aber, dass auf Inseln diese Einwanderungen viel h\u00e4ufiger sind und leichter von statten gehen als auf Continenten, ist die nothwendige Folge des Umstandes, dass jene L\u00fccken im allgemeinen um so zahlreicher und gr\u00f6sser sind, aus je weniger Sipjjen die Einwohnerschaft eines Landes besteht! '\nv. N\u00e4gel i, Abstammungslehre.\n22","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"vn.\nPhylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.\nDie Abstammungslehre darf sich nicht darauf beschr\u00e4nken, im allgemeinen das Princip festsustellen, nach dem sich die Organismen aus einander entwickelten. Sie muss auch im einzelnen darlegen, wie dies geschehe. Ihr letztes, wohl immer unerreichbares Ziel w\u00e4re die Feststellung der Stammb\u00e4ume f\u00fcr die bekannten Organismen. Es sind zwar bereits solche Versuche gemacht worden. Allein, soweit sie das Pflanzenreich in seiner Gesammtheit betreffen, m\u00fcssen sie als reine Illusion bezeichnet werden, da sie nichts anderes verm\u00f6gen, als von dem ersten besten sog. nat\u00fcrlichen Pflanzensystem die Haupt-abtheilungen als Haupt\u00e4ste eines Stammes, die Unterabtheilungen als deren erste Verzweigungen aufzutragen, und so weiter bis zu den Gattungen.\nWenn die Darwinisten den Satz aufstellen, dass ein wahrhaft nat\u00fcrliches System nur ein genetisches sein k\u00f6nne, so sind unsere \u00bbnat\u00fcrlichen Pflanzensystemec durchaus k\u00fcnstliche, indem sie, und das ist ja das einzig M\u00f6gliche, die Pflanzen nach den sichtbaren morphologischen und physiologischen Merkmalen zusammenstellen und von den viel wichtigeren unsichtbaren Verh\u00e4ltnissen ganz ab-sehen. Es gibt wohl nur wenige der jetzigen nat\u00fcrlichen Familien, die einen einheitlichen, von den \u00fcbrigen gesonderten Ursprung besitzen, und sicher keine einzige h\u00f6here Gruppe, die nicht einen mehrfachen Ursprung h\u00e4tte. Der Stammbaum des Gew\u00e4chsreiches leistet also nicht mehr, als dass er, im Widerspruche mit sich selbst, die","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"VH. Phylogenetische Kntwicklungageeetse des Pflansenreiche*. 339\nsystematische \u00c4hnlichkeit in eine genetische Form bringt. Uebrigens ist, wenn wir von den uns bekannten Organismen ausgeben und nicht in das Reich der Probien hinuntersteigen wollen, die niono-phyletiscbo Abstainmung der Pflanzen eine Unm\u00f6glichkeit, indem allein die S\u00fcsswnsser-Algen raelurere Anf\u00e4nge haben.\nIn etienso unfruchtbarer Weise ist es in neuerer Zeit Sitte geworden, einer systematischen botanischen Monographie einen Stammbaum beizuf\u00fcgen, wobei gleichfalls bloss die gewonnene systematische Einsicht ins Stammbaumliclie, das R\u00e4umliche ins Zeitliche, also ein Begriff in einen andern, mit dem er nichts zu thun hat, \u00fcbersetzt wird. Wenn zwei jetzt lebende Pflanzen (A und B) mit einander verwandt sind, so l\u00e4sst sich mit Ausnahme weniger F\u00e4lle, die \u00ablen einfachsten Algen und Pilzen angeh\u00f6ren, nichts Genaues \u00fcber ihre genetischen Beziehungen aussagen, und es bleibt rein willk\u00fcrlich, ob wir A von B, oder B von A, oder ferner A und B von einem dritten jetzt lebenden C oder von einem vierten untergegangenen D ableiten. Mit der Zunahme der Sippenzahl steigt \u00ablie Zahl der M\u00f6glichkeiten in geometrischer Progression, indem sie f\u00fcr eine Gruppe von 3 Sippen schon mehr als CO betr\u00e4gt.\nDabei ist zu bemerken, dass auch alle Bearbeitungen von Gattungen und Gattungsgruppen nothwendig mehr oder weniger k\u00fcnstlich sind und schon aus diesem Grunde nicht das Material f\u00fcr einen Stammbaum liefern k\u00f6nnen, sowie, dass bei solchen Abstammungs-schematen offenbar ein Irrtlium \u00fcber die M\u00f6glichkeit der Ueber-g\u00e4nge besteht, indem nicht jede Pflanze in eine verwandte andere Pflanze durch die anscheinend geringe Aenderung der Merkmale, der es zu bed\u00fcrfen scheint, sich umwandeln kann. Jedes noch so geringe Merkmal entspricht einer oder mehreren Micellgruppen im Idioplasma, die nur in bestimmter gesetzm\u00e4ssiger, von der Configuration des ganzen Systems abh\u00e4ngiger Art umge\u00e4ndert werden k\u00f6nnen.\nDie Wissenschaft verlangt nicht das Unm\u00f6gliche, und mit Phantasiegebilden wird ihr mehr Schaden als Nutzen gebracht; dagegen ist es f\u00fcr sie ein entschiedener Gewinn, wenn einzehie sichere St\u00fccke der phylogenetischen Entwicklungsgeschichte festgestellt wer-\u00ablen, m\u00f6gen dieselben den genetischen Zusammenhang von grossen Gruppen oder von Arten und Gattungen oder von einzelnen Merkmalen, also von Theilerscheinungen der Ontogenien betreffen. Eine solche\n22*","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340 VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.\nBehandlung vermag uns eine begr\u00fcndete Vorstellung zu geben, wie auf einzelnen Stufen des Reiches oder in einzelnen Abetammungs-reihen die Organismen aus einander hervorgegangen sind, und sie wird mit der Zeit zu einer allgemeinen Entwicklungsgeschichte des Pflanzenreiches, wenigstens in ihren Hauptz\u00fcgen, f\u00fchren.\nSind die genannten St\u00fccke des phylogenetischen Weges ganz kurz (bis zur nftchsten Variet\u00e4t oder Species), so m\u00fcssen sie entweder in einem allm\u00e4hlichen Uebergang oder in einem Sprung, dessen Nothwendigkeit dann nachzuweisen ist, bestehen. Was l\u00e4ngere St\u00fccke betrifft, so muss die M\u00f6glichkeit gegeben sein, dass eie in eine ununterbrochene Kette solcher kleinen Schritte zerlegt werden. Die Abstammung aber muss entweder so sicher gestellt sein, dass eine andere M\u00f6glichkeit gar nicht vcrliegt, oder es muss f\u00fcr sie eine der Gewissheit nahekommende Wahrscheinlichen vorhanden sein. Solche Beispiele d\u00fcrfen als Thatsachen betrachtet werden, aus denen allgemeine Entwicklungsgesetze abzuleiten sind, die um so gr\u00f6ssere Gewissheit erlangen, je mehr Thatsachen \u00fcbereinstimmen, und die ihrerseits wieder dazu benutzt werden k\u00f6nnen, um weniger deutliche F\u00e4lle aufzukl\u00e4ren.\nIch beschr\u00e4nke mich im folgenden um so eher auf einige wenige Beispiele, als es sich ja nur darum handelt, zu zeigen, wie die Thatsachen in Uebereinstimmung mit meiner Theorie zu bringen sind, und wie die beiden grossen Principien derselben, die Vervollkommnung durch innere Bewegung und die Anpassung durch directe Einwirkung von aussen, im einzelnen sich ausscheiden. Die Beispiele entnehme ich vorz\u00fcglich den untersten Stufen des Pflanzenreiches, weil hier die Thatsachen so \u00fcberaus einfach vorliegen und der Deutung keine weiteren M\u00f6glichkeiten offen lassen.\nBei der Vervollkommnungsbewegung wird das idioplns-matische System stetig complkirter, indem es neue Micellgruppen an- oder einlagert. Jede derselben bedingt eine etwas h\u00f6here Organisationsstufe; die Entwicklungsgeschichte wird um einen Schritt l\u00e4nger und der Organismus um ein Organ reicher. Es sind mehrere Arten solcher Vervollkommnungsprocesse bekannt, die nachher als Entwicklungsgesetze I\u2014VII aufgef\u00fchrt werden.","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 341\nBei der Anpassungs Ver\u00e4nderung dagegen werden Micell-gruppen des idioplasmatischen Systems eigent\u00fcmlich ausgepr\u00e4gt. Geh\u00f6rt die Anpassung einer neuen Kategorie an, so bereichert sich auch der Organismus um eine neue Einrichtung. Geh\u00f6rt sie aber einer schon vertretenen Kategorie an, so gehen die Micellgruppon der fr\u00fcheren Anpassung in den latenten Zustand \u00fcber und die neue Einrichtung tritt an die Stelle der fr\u00fcheren.\nDie Entwicklungsgeschichte der Reiche sollte eigentlich mit dem aus der Urzeugung hervorgehenden primordialen Plasma beginnen. Sie m\u00fcsste aber f\u00fcr das probiale Reich rein theoretisch construirt werden. Ich will daher aus diesem Reich nur einige allgemeine Momente herausheben, die um so sicherer sind, da sie auch den bekannten Organismen angeh\u00f6ren, und ich werde die Entwicklungsgesetze dann erst mit denjenigen Erscheinungen beginnen, die im Pflanzenreiche neu auftreten.\n1.\tDas Primordialplasma nimmt gel\u00f6ste N\u00e4hrstoffe auf und lagert sie als Plasmamicelle zwischen die schon vorhandenen ein; darauf beruht ein stetiges Wachsthum durch Substanzzunahme.\nDieser Vorgang der Micelleinlagerung aus der aufgenommenen Nahrung bleibt auf allen Stufen der Reiche die erste Ursache des Wachsthums. Er geht aus der Natur des Plasmas ebenso notwendig hervor, wie der krystallinische Niederschlag und die Schichtenauflagerung der Krystalle in der unorganisirten Natur aus den Gesetzen des Chemismus (S. 88).\n2.\tDurch den Wachsthumsprocess erlangen die Micelle in dem Primordialplasma stellenweise bestimmte Anordnungen, und unter dem Einfluss der dadurch organisirten Molecularkr\u00e4fte werden neue Functionen und damit neue Verbindungen erzeugt. In der Folge * gestalten sich die Micellanordnungen immer ungleicher und die Functionen werden stets zahlreicher und mannigfaltiger.\nDas primordiale Plasma hat anf\u00e4nglich bloss die Function, aus den unorganischen Stoffen, aus denen es selber entstanden ist, neue gleiche Eiweissmicelle einzulagem und dadurch zu wachsen (\u00a7 1). Durch diese Einlagerungen werden im phylogenetischen Verlaufe die Plasmamassen in ihrem Innern ungleich, stellenweise dichter","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342 VU. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.\noder weicher, stellenweise so oder anders geordnet. Unter dem Einfl\u00fcsse der verschiedenartig geeinten Molecularkr\u00e4fte entstehen andere Modiflcationen von Albuminaten und denselben verwandte Stoffe (unorganisirte Fermente), sowie fernerhin verschiedene stickstoffhaltige und stickstofffreie Verbindungen. Da der Bau der Plasmasubstanzen durch ihre autonome Umbildung immer complicirter und durch die \u00c4usseren Anpassungseinfl\u00fcsse mannigfaltiger wird, und da gleichen Schrittes auch die nicht plasraatischen Stoffe sich vermehren, so zeigt nothwendig als Folge dieser zusammenwirkenden Ursachen die Zahl der verschiedenen Functionen (chemische Processe, plastische Bildungen, Bewegungen) eine stete Zunahme. Dieser Entwicklungs-process erreicht schon in dem probialen Reiche eine ziemliche H\u00f6he, wie wir aus den Eigenschaften der einfachsten Pflanzen (Schizo^ phyten) und der einfachsten Thiere (Moneren) erkennen. Er dauert aber weiter durch die phylogenetischen Reihen des Pflanzen- und Thierreiches fort, so dass die Gesammtheit der Functionen einen immer gr\u00f6sseren Umfang gewinnt (8. 129).\n3. Das Primordialplasma erzeugt an der Oberflftche eine Hautschicht, deren Micelle \u00fcbereinstimmend geordnet und nach der Oberfl\u00e4che orientirt sind, und die im allgemeinen gleichen Schrittes mit dem umschlossenen Plasma durch Einlagerung w\u00e4chst.\nDiese Bildung erfolgt durch die Einwirkung des angrenzenden Wassers und ist somit eine Anpassungserecheinung. Das H\u00e4utchen war anf\u00e4nglich unbestimmt, \u00e4usseret d\u00fcnn und von gleicher Weichheit wie das Plasma; es wurde nach und nach bestimmter, dicker und von eigent\u00fcmlicher Consistent \u2014 Alle Plasmak\u00f6rper der Organismen (Zellen, Kerne, K\u00f6rner) besitzen diese Umh\u00fcllung.\nWas die Bildungsureache betrifft, so wirkt das Wasser, in welchem das primordiale Plasma liegt, wie dies bei allen erblichen Reizwirkungen der Fall ist, nicht unmittelbar ver\u00e4ndernd, sondern als dauernder, das Wachsthum modifleirender Reiz. Die oberfl\u00e4chlichen Micelle zeigen zuerst, als Folge der zwischen Plasma und Wasser bestehenden Molecularbcziehungen, nur eine schwache Andeutung von Orientirung. Da aber die beim Wachsthum sich cinlagemden Micelle stets die gleiche Einwirkung erfahren, so gewinnt die Anordnung immer mehr an Bestimmtheit und M\u00e4chtigkeit.","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze \u00ables Pflanzenreiches. 343\nSo lange die primordialen Plasmamassen sich ausschliesslich durch Theilung vermehren (\u00a74), was in manchen F\u00e4llen bis sur Entstehung von einzelligen Pflanzen und Thieren fortdauem kann, findet ein Wechsel der Hautechicht nicht statt, so dass diejenige eines Monere in ununterbrochener Folge von dem beginnenden H\u00e4utchen des ersten Plasmatropfens abstammen kann. Tritt aber freie Zellbildung ein (\u00a7 7), so muss auch eine Neubildung der Hautschicht stattfinden. In diesem Falle entsteht sie aber sogleich mit all den Eigenschaften, die ihre Vorg\u00e4ngerin hatte und die ihr erb-schaftlich zukommen, weil das Idioplasma sich bei dem Bildungs-process betheiligt. Da n\u00e4mlich alle Theile eines Plasmatropfens unter einander in materieller und dynamischer Verbindung stehen, so hat auch die urspr\u00fcnglich entstehende Hautschicht auf das eingeschlossene Primordialplasma, besondere auf die festeren Theile desselben, die sich als Idioplasma auszuscheiden anfangen, gewirkt. Wenn sich nun eine neue Hautschicht um die in dem Plasma sich besondemden Partien bilden muss, so \u00fcbt seinerseits das Idioplasma seinen Einfluss auf diesen Process aus, so dass also die Neubildung der Hautschicht als die Entfaltung einer ererbten Anlage erscheint.\n4. Periodisch tritt in der Hautschicht ein st\u00e4rkeres Fl\u00e4chenwachsthum ein, das sich haupts\u00e4chlich auf eine ringf\u00f6rmige mittlere Zone concentrirt. Dadurch wird eine ringf\u00f6rmige, nach innen fortschreitende Einfaltung erzeugt, welche die Plasmamasse in zwei H\u00e4lften scheidet (Theilung).\nDiesen Process der Einfaltung und Theilung finden wir im wesentlichen durch die ganzen Reiche als Theilung von Zellen, Kernon und Plasmak\u00f6mem. Ich habe als die mechanische Ursache desselben allgemein das vermehrte Wachsthum der Hautschicht bezeichnet, weil dies f\u00fcr die der sicheren Beobachtung zug\u00e4nglichen F\u00e4lle thats\u00e4chlich richtig, und weil auch f\u00fcr alle \u00fcbrigen F\u00e4lle eine undere Ursache in micellarphysiologischer Beziehung kaum denkbar ist\nDer geschilderte Vorgang ist aber jedenfalls nicht das Urspr\u00fcngliche und Urs\u00e4chliche; dieses liegt vielmehr in der inneren Configuration der Plasmamassen. Das Primordialplasma ist \u00ab.nfanglioh in seinen Micellen ganz ungeordnet und das Zerfallen seiner Massen noch zuf\u00e4llig: dieselben wachsen jeweilen an, bis sie durch \u00e4ussere Ursachen getheilt werden. Gleichseitig mit der Entstehung der","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344 VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.\nHautschicht an der Oberfl\u00e4che werden die Micelle im Innern, in Folge des Wachsthums durch Einlagerung, nach und nach geordnet (S. 116 ff.). Je bestimmter die Anordnung wird, um so entscheidender virkt sie auf das Zerfallen der Plasmamassen ein; denn diese bilden sich zu mehr und mehr ausgesprochenen materiellen Systemen aus, deren Kr\u00e4fte ein geschlossenes Ganze darstellen und somit um einen Mittelpunkt orientirt sind. Solche Systeme m\u00fcssen ihrer Natur n<u\u00bbh ^ ff\tinnerhalb einer untern und ob\u00e9ra Grenze\nbleiben und zerfallen, wenn sie \u00fcber ein bestimmtes Maass an-wachsen, nothwendig in kleinere Systeme (vgl. auch S. 92). Es ist begreiflich, dass unter Mitwirkung der durch andere Ursachen gebildeten Hautschicht eine freiliegende Plasmamasse gew\u00f6hnlich in zwei H\u00e4lften sich theilt.\nDie Richtung, in der die Theilung erfolgt, ist anf\u00e4nglich unbestimmt. Denn die Plasmamasse hat eine kugelige Gestalt und bez\u00fcglich ihrer inneren Configuration verhalten sich alle Richtungen identisch. Es wird daher von irgend einem \u00e4usseren Anstoss ab-h\u00e4ngen, nach welcher Richtung sie sich verl\u00e4ngere und in zwei zerfalle; die Theilung der successiven Generationen hat noch keine Beziehung zu einander. Sowie aber mit der weiteren phylogenetischen Ausbildung der Configuration des Systems die Richtungen in der Plasmakugel ungleich werden, so wird dadurch ein F.inflima auf die Theilung ausge\u00fcbt. Diese ist keine Anpassung mehr, sondern in den wichtigsten Beziehungen eine Folge innerer Ursachen geworden.\nDie Theilungsrichtung, resp. die Stelle, wo die Einfaltung der Hautschicht erfolgt, stellt sich jetzt als eine erbliche Eigenschaft dar; sie wird einzig durch das Idioplasma bestimmt, da f\u00fcr eine andere mechanische Ursache in den Verh\u00e4ltnissen der Zelle keine M\u00f6glichkeit geboten ist. So gibt es auf der tiefsten Stufe des Pflanzenreiches einzellige kugelige Organismen, die sich nach der Theilung von einander trennen und die durch nichts anderes von einander verschieden sind, als dass bei der einen Gattung (Gloeothece, Synechococcus) die Teilung immer in der n\u00e4mlichen Richtung, bei einer anderen (Merismopedia) abwechselnd in den zwei Richtungen einer Ebene und bei der dritten (Chroococcus, Gloeocapsa) abwechselnd in den drei Richtungen des Raumes erfolgt, so dass, wenn die Zellen sich nicht von einander trennen oder durch Gallerte lose verbunden bleiben, im ersten Fall eine Reihe, im zweiten eine ein-","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetz des Pflanzenreiches. 345\nfache Schicht und im dritten eine k\u00f6rperliche Zusaminenordnung von Zellen entsteht. Fig. 12a und b \u00bbeigen den ersten, c, d, e, f, g successive Zust\u00e4nde des zweiten Falles.\nDieser Charakter der Theilung, welcher sie als von \u00e4usseren Ursachen vollkommen unabh\u00e4ngig erscheinen l\u00e4sst, erh\u00e4lt sich auf allen Stufen des Pflanzenreiches. Man hat die Theilungsrichtung von dem vorausgehenden Wachsthum ableiten wollen. Es ist unzweifelhaft, dass Wachsthum und Theilung in einer gewissen urs\u00e4chlichen Beziehung zu einander stehen, da beide durch das Idioplasma zu Stande kommen. Das hindert aber nicht, dass das Verh\u00e4ltniss der Theilungsrichtung zu dem Wachsthum und den Dimensionen der Elterzelle thats\u00e4chlich ein ungleiches ist. Indess w\u00fcrde, wenn auch die Theilungsrichtung eine Function der Wachsthumsrichtung w\u00e4re, durch diesen Umstand nichts ge\u00e4ndert in Bezug auf die vorliegende Frage; denn auch die Wachsthumsrichtung wird in den fraglichen F\u00e4llen von \u00e4usseren Ursachen nicht beeinflusst.\nWenn in dem vorhin angef\u00fchrten Beispiel, wo die kugeligen Zellen einzeln im Wasser liegen, das Wachsthum das eine Mal parallel zu der vorausgehenden Wand, das andere Mal parallel dieser Wand, aber rechtwinklig zur vorvorigen Wand, das dritte Mal rechtwinklig zur vorigen und zur vorvorigen Wand erfolgt, so sind es nothwendig jedes Mal im Idioplasma liegende und mit demselben vererbte Anlagen, welche diese Wachsthumsrichtungen und somit auch die Theilungsrichtungen beherrschen. Auch ihr Ursprung l\u00e4sst sich nicht von \u00e4usseren Einfl\u00fcssen ableiten, sondern blo6s von","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"34ti VII. Phylogenetische Entwicklungsgeeetse de\u00ab Pflanzenreiches.\neigent\u00fcmlich verschiedenen Anordnnngen der Mioelle, welche bald ein Beharren der Wachsthumsrichtung, bald einen ein- oder zweimaligen Wechsel derselben bewirkten. Dadurch wird nicht ausgeschlossen, dass die Theiluugsrichtung in gewissen F\u00e4llen auf allen Stufen des Reiches durch \u00e4ussere Einfl\u00fcsse mitbestimmt worden sei. \u2014 Auch die Gr\u00f6sse der urspr\u00fcnglichen Plasmamassen, bei der die Theilung durch Einfaltung der Hautschicht eintrat, war wenigstens teilweise eine Folge innerer Ursachen, wobei die \u00e4usseren Verh\u00e4ltnisse allerdings ihre Mitwirkung geltend machten, so dass beispielsweise die Ungleichheit im Volumen der einzelligen Pflanzen, welche, selbst bei Ausschluss der durch Scheitelwachsthum sich verl\u00e4ngernden Algen (Siphoneen) und Pilze, bis auf das Millionenfache steigt, vielleicht eben so sehr als eine Anpassungserscheinung zu betrachten ist.\nDer geschilderte Vorgang der Theilung reicht, wie ich schon angedeutet habe, zur Erkl\u00e4rung der betreffenden Erscheinungen f\u00fcr das ganze Pflanzenreich und wohl auch f\u00fcr das Thierreich aus. Es gibt F\u00e4lle, wo man die Einfaltung deutlich verfolgen Imwt\u00bb besonders wenn die entstehende Scheidewand mit hineinw\u00e4chst; andere F\u00e4lle dagegen, wo sie sich vollzieht, ohne dass man wegen der ausserordentlichen D\u00fcnnheit der Hautschicht und wegen ihrer geringen optischen Verschiedenheit vom angrenzenden Plasma etwas zu sehen vermag. Auch mit den durch die neueren Beobachtungen Strasburger\u2019s und Flemming\u2019s festgestellten Thatsachen ist der Process nicht im Widerspruch, wohl aber mit den Deutungen, welche dieselben erfahren haben und die keineswegs nothwendig sind, sowie sie auch einer Analyse der micellarphysiologischen und mechanischen M\u00f6glichkeiten schwerlich Stand halten.\n6. Die Hautschicht erzeugt, wo sie an \u00e4ussere Medien oder an andere Hautschichten anst\u00f6sst, einen aus nicht plasmatischen Substanzen bestehenden Ueber-zug (Zellmembran), welcher die Zellen von einander trennt, und der bei der Theilung gleichzeitig mit der Einfaltung der Hautschicht sich zu bilden anf\u00e4ngt\nDie nicht plasmatische Membran war jedenfalls schon im pro-bialen Reich vorhanden und ging dann auf Pflanzen und Thiere \u00fcber. Wir m\u00fcssen annehmen, dass sie, allerdings \u00e4usserat d\u00fcnn und weich, auch bei der Entstehung der sogenannten nackten Zellen und stets bei der Einfaltung der Hautschicht vorkomme. Denn bei","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"VII. PhylngeiteUache Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 347\nder hekunnten lmlbfltissigen Beschaffenheit des Plasmas, die Hautschicht nicht ausgenommen, m\u00fcssten nackte Zellen, die in einer Elterzello gedr\u00e4ngt beisammen liegen, ebenso die beiden Bl\u00e4tter der eingefalteten Hautschicht zusammenfliessen, wenn nicht eine noch so d\u00fcnne nichtplasmatische Substanz sie trennte. Das Vorhandensein einer solchen Substanz ergibt sich auch deutlich aus dem Umstande, dass man meistens eine trennende Linie wahmimmt, die nichts anderes sein kann, als eine d\u00fcnne Loge von optisch verschiedener Masse.\nDie Membranbildung ist eine Anpassungserscheinung, die urspr\u00fcnglich durch den Reiz der \u00e4usseren Medien auf die Hautschicht des Plasmas hervorgerufen wurde, dann aber durch die entsprechende Auspr\u00e4gung des Idioplasmas erblich geworden ist.\n6. Nach der Theilung sind die beiden H\u00e4lften (/eilen) zun\u00e4chst mit einander verbunden. Im pro-bialen Reich und bei den einzelligen Organismen trennen sie sich meistens von einander, bevor abermalige Theilung eintritt. Bei den mehrzelligen Organismen bleiben sie innig zu einem Gewebe vereinigt; Trennung oder Abl\u00f6sung findet erst bei den Zellen der letzten Ordnung statt.\nDiese Erscheinungen geh\u00f6ren nicht zu den Anpassungen, inilani sie unabh\u00e4ngig von \u00e4usseren Einfl\u00fcssen entstanden und zu erblicher Best\u00e4ndigkeit gelangt sind. \u2014 Was das mechanische Zustandekommen betrifft, so h\u00e4ngt dasselbe wesentlich von der Beschaffenheit der zwischen den Zellen befindlichen Membran ab. Hat dieselbe eine weiche schleimige Consistenz, so dass die Adh\u00e4sion sehr gering ist, so erfolgt die Trennung lediglich durch das physikalische Bestreben der Plasmamassen (Zellen) sich abzurunden und durch die mechanische Einwirkung des umgebenden Mediums (Str\u00f6mungen, St\u00f6sse u- 8- w-> Ist die Membran aber von festerer Beschaffenheit, so sind zur Trennung noch besondere Ver\u00e4nderungen in derselben, welche durch das Em\u00e4hrungsplasma unter dem Einfluss des Idioplasmas bedingt werden, nbthwendig. Entweder wird die Mittellamelle der Scheidewand so weich, dass dann das Abrundungsbestreben und die mechanische Aktion des Mediums zum Losreissen gen\u00fcgen. Oder dieselbe erlangt nicht die hierzu erforderliche Weichheit; Harm muss noch eine selbst\u00e4ndige W\u00f6lbung der Seitenlamellen zu H\u00fclfe","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348 VU- Phylogenetische Entwicklungsgesetz \u00ables Pflanzenreiche*.\nkommen. Die letzteren w\u00f6lbon sieh gegen einander, wenn ihr Fl\u00e4chen-wuchsthum vom Centrum nach der Peripherie hin zunimmt, w\u00ab>liei eine hinreichend feste Beschaffenheit ihrer 8ul>stanz und eine regelm\u00e4ssige Anordnung der Membranmicelle vorausgesetzt wird. \u2014 In besonderen F\u00e4llen kommt die Trennung auch dadurch zu Stande, dass der ganze Inhalt aus der Membran ausschl\u00fcpft und als nackte Zelle frei wird.\nDie eben gegebene Darstellung der mechanischen Vorg\u00e4nge bei der Trennung der Zellen entspricht den jetzigen Vorstellungen \u00fcber die Vereinigung derselben. Ich glaube jedoch, dass damit nicht der ganze Process ersch\u00f6pft ist. Wie ich bereits bei Anlass der Ueber-tragung idioplastischer Anlagen an die verschiedenen Theile des Organismus ausgef\u00fchrt habe, liegen die Zellen eines Gewebes wahrscheinlich nicht bloss unmittelbar neben einander, so zwischen ihnen ein diosmotischer Austausch von gel\u00f6sten Stoffen m\u00f6glich ist. Sondern die Zelleninhalte selbst sind in Communication, indem die Wand siebartig von kleinen L\u00f6chern durchbohrt ist, durch welche das Plasma entweder \u00fcbertreten kann oder doch in direkter Ber\u00fchrung sich befindet. Der ganze Organismus w\u00fcrde also aus kleinen mit Inhalt gef\u00fcllten H\u00f6hlungen bestehen, welche miter einander com-municiren, und das Zerfallen in Zellen oder die Abl\u00f6sung von Zellen m\u00fcsste damit beginnen, dass diese Communicationen unterbrochen werden, worauf dann die geschilderten Vorg\u00e4nge in der Membran eintreten.\nDie Art und Weise, wie die Zellen vereinigt sind, ist auch von besonderer Wichtigkeit f\u00fcr die Unterscheidung von ein- und vielzelligen Organismen. Die einzelligen Pflanzen kommen h\u00e4ufig zu Colonien vereinigt vor, wobei sie zuweilen gerade so wie in einem Zellgewebe neben einander hegen. Wenn meine Vermuthung \u00fcber die Gewebebildung richtig ist, so w\u00fcrde sich die Zellreihe, zu welcher sich einzellige Pflanzen an einander legen (Desmidium, manche Diatomeen u. s. w.), dadurch von der einreihigen mehrzelligen Pflanze (Zygnemaceen u. s. w.) unterscheiden, dass bei jener die siebartigen Durchbrechungen der Scheidew\u00e4nde mangelten, bei diesen aber vorhanden w\u00e4ren. Nach dieser Anschauung w\u00e4re die vielzellige Pflanze ein zusammenh\u00e4ngendes System von Plasma, aus ebenso vielen Theilsystemen bestehend, als Zellen vorhanden sind, \u2014 und dieFortpflanzungbestAndedarin, dass je ein Theilsystem von Plasma als Fortpflanzungszelle seine vollst\u00e4ndige Selbst\u00e4ndigkeit erlangte.","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"VII. Phylogenetische KntwicklnngHgeHetze des Pflansenreiche\u00ab. 349\n7. In dem (formlose\u00bb) Plasma gewisser Individuen des probialen Reiches besonder\u00bb sich im Innern einzelne Plasmatropfen. Sie bilden sich auf Kosten des umgebenden absterbenden Plasma aus, erzeugen eine umh\u00fcllende Hautschicht und worden, sowie das Elterindividuum zu Grunde geht, zu selbst\u00e4ndigen Individuen. Diese Erscheinung vererbt sich auf Pflanzen und Thiere als freie Zellbildung.\nIn dem probialen Reich entstanden nach und nach verschiedene Sippen theils durch die sell>stftndige divcrgirende Umbildung in der Configuration des primordialen Plasmas theils durch ungleiche Anj>assungen. Unter diesen Sippen gab es einerseits solche von geringerer Gr\u00f6sse und festerer Consistenz mit derberer Hautschicht, andrerseits gr\u00f6ssere aus weicherem Plasma mit zarterer Haut. Beim Eintritt einer relativen Vegetationsruhe, die von Temperaturernicdri-gung, von theilwei8em Austrocknen, von Nahrungsentziehung und dergleichen Ijedingt war, litten die letzteren Sippen mehr als die ersteren. Die Individuen der am wenigsten widerstandsf\u00e4higen gaben ab und zu kleine Partien, deren Vegetation am meisten gest\u00f6rt wurde, preis, erg\u00e4nzten an der Grenze derselben ihre Hautschicht und verwendeten die aus der preisgegebenen Partie aufgenommene Nahrung zur Verdichtung ihrer Substanz.\nDie Zeit der Vegetationsruhe war anf\u00e4nglich von der Vegetationsperiode wenig verschieden; ihre Ungunst steigerte sich mit der langsamen Auspr\u00e4gung der Jahreszeiten. Zugleich wurdeh einzelne Sippen durch zunehmende feinere Organisation ihrer Substanz und ihrer Hautschicht noch weniger widerstandsf\u00e4hig und verloren beim Aufh\u00f6ren der Vegetationszeit immer gr\u00f6ssere Partien, bis zuletzt nur eine oder einige innere Partien lebens&hig blieben, die dann aus der absterbenden Masse sich ausreichend verdichteten, um die Vegetationsruhe ohne Nachtheil zu \u00fcberdauern. Dieser Vorgang, durch einen \u00e4usseren Reiz veranlasst, wurde erblich, \u2014 und damit war die freie Zellbildung, wenn wir hier schon von Zellen sprechen d\u00fcrfen, gegeben und zugleich auch ein Generationswechsel f\u00fcr die betreffenden Sippen, indem beim Beginn der n\u00e4chsten Vegetationszeit die Theilung wieder begann.\nDie freie Zellbildung und der erste Generationswechsel waren also urspr\u00fcnglich Anpassungserscheinungen, und zwar an die j\u00e4hr-","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"350 VIL Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.\nliehe Periodicitftt der \u00e4usseren Einfl\u00fcsse. Die erste Ver\u00e4nderung dazu erscheint lediglich als eine unmittelbare Folge der letzteren, indem unter den ung\u00fcnstigeren Ern\u00e4hrungsverh\u00e4ltnissen nur mehr ein Theil des Plasmatropfens sich der Nahrung bem\u00e4chtigte, und die \u00fcbrige Masse zu Grunde ging. Der zur\u00fcckbleibende lebenskr\u00e4ftige Theil verhielt sich aber etwas anders als das Plasma der fr\u00fcheren Generationen, da er nicht bloss unorganische Nahrung von aussen aufnahm und assimihrte, wie es bisher geschah, sondern auch gewisse Verbindungen aus dem absterbenden Plasma bezog und, was fr\u00fcher ebenfalls nicht vorgekommen war, eine neue Hautschicht bildete. Diese neuen Functionen, die sich j\u00e4hrlich wiederholten, mussten auch das Idioplasma etwas umbilden und eine erbliche Disposition erzeugen, verm\u00f6ge welcher das Plasma zur freien Zellbildung immer geschickter wurde und zuletzt dieselbe, auf eine schwache Anregung von aussen, selbst\u00e4ndig durchf\u00fchrte.\nDurch lange Zeitr\u00e4ume trat die freie Zellbildung stets beim Eintritt der ung\u00fcnstigen Jahreszeit, welche die Vegetationsruhc bedingte, ein, und dies mag jetzt noch bei gewissen sehr einfachen Pflanzen der Fall sein. Bei etwas complicirteren Organismen mit einj\u00e4hriger Ontogenie traf mit der Vegetationsruhe der Schluss der ontogeneti8chen Entwicklungsgeschichte zusammen, so dass die Zeit der freien Zellbildung nicht bloss durch die \u00e4usseren Umst\u00e4nde, sondern auch durch die ererbten Anlagen, also durch zwei Ursachen bestimmt wurde. Bald erwies sich die letztere Ursache als die st\u00e4rkere, und als die ontogenetische Entwicklungsgeschichte im weiteren Verlauf der phylogenetischen St\u00e4mme nicht mehr mit der j\u00e4hrlichen Periodicit\u00e4t \u00fcbereinstimmte, so trat auch die freie Zellbildung, der Ontogenie entsprechend, zu jeder Jahreszeit ein.\nWir haben hier ein Beispiel, \u2014 das sich \u00fcbrigens, namentlich bei Fortpflanzungserscheinungen, mehrfach wiederholt, \u2014 wie ein Vorgang, der urspr\u00fcnglich durch \u00e4ussere Ursachen herbeigef\u00fchrt wurde und durchaus sich als Anpassung an dieselben kundgab, nach und nach in dem sich umbildenden Idioplasma so befestigt wird, dass er nun unabh\u00e4ngig von der Ursache, die ihn erzeugt hat, und im Widerspruch mit derselben sich verwirklichen kann.","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"VU Phylogenetische Entwicklimgsgesetse des Pflanzenreiche\u00ab. 351\nDie in dem Vorhergehenden geschilderten 7 Erscheinungen (\u00a7 1 Wenden schon im prohiuhm Reiche statt und wurden auf die ersten Pflanzen und Thiere vererbt. Sie dauern w\u00e4hrend der ganzen Entwicklungsgeschichte der Reiche an und vermitteln alle ontogenetischen und phylogenetischen Vorg\u00e4nge derselben. Einlagerung von Micellen in die organisirte Substanz (\u00a7 1 ) unterVermehrung der Functionen (\u00a7 2), ferner Theilung der Zellen (\u00a7 4) mit der durch die Hautschichtbildung (\u00a7 3) und die Membranbildung (\u00a7 B) erm\u00f6glichten relativen Selbst\u00e4ndigkeit derselben stellen das Wachsthum der Organismen dar, w\u00e4hrend die Lostrennung fr\u00fcher verbundener Zellen (\u00a7 6) und die freie Zellbildung (\u00a7 7), welche beide Vorg\u00e4nge der Fortpflanzung angeh\u00f6ren, der individuellen Wachsthumsgeschichte eine fr\u00fchere oder sp\u00e4tere Grenze setzen. Eben so wie die genannten Erscheinungen die Ontogenien mit ihrer noth wendigen Begrenzung zu Stande bringen, so bilden sie auch die Elemente f\u00fcr den phylogenetischen Fortschritt.\nIch will nun versuchen, die Gesetze zu entwickeln, welche den genannten Fortschritt im Pflanzenreiche beherrschen. In diesen Entwicklungsgesetzen soll der geregelte Verlauf der Abstammungs-geschichte ausgesprochen sein; sie sollen die Nonnen angeben, nach denen aus kugeligen mikroskopisch kleinen einzelligen Pfl\u00e4nzchen die aus vielen Millionen von Zellen bestehenden und reich gegliederten h\u00f6chsten Gew\u00e4chse entstehen. Diese Gesetze geh\u00f6ren zwei verschiedenen Gebieten an.\n1.\tDie einen betreffen diejenigen Ver\u00e4nderungen der Pflanzen im entfalteten Zustande, welche dem selbst\u00e4ndigen Fortschritt des idio-plasmatischen Systems zu einer immer complicirteren Configuration entsprechen (Ges. I\u2014VH).\n2.\tDie anderen umfassen die durch \u00e4ussere Einfl\u00fcsse hervorgebrachten Anpassungen (Ges. VIII).\nUnter den Gesetzen der ersten Kategorie befinden sich einige, die uns zeigen, auf welche Weise die individuelle Entwicklungsgeschichte von Stufe zu Stufe um einen Schritt l\u00e4nger wird. Diese Schritte werden entweder am Ende angef\u00fcgt, so dass das letzte St\u00fcck der Ontogenie auch der letzte und j\u00fcngste Schritt der Phylog\u00e9nie ist (Ges. I\u2014HI). Oder sie werden irgendwo fr\u00fcher in die\" Ontogenie eingeschoben, so dass der letzte Zuwachs der Phylogenie irgend einem St\u00fccke zwischen Anfang und Schluss der Ontogenie","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352 VU. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.\nentspricht (Ges. V). Um ein Bild hierf\u00fcr zu haben, kann die erstere Art des Fortschrittes dem Scheitelwachsthum, die letztere dem inter-calaren L\u00e4ngenwachsthum der Organe durch Zellenbildung verglichen werden. Ich will die beiden Vorg\u00e4nge auch als terminale und inter-cJare Zunahme unterscheiden. Die Gesetze des terminalen Zuwachses geben uns Aufschluss \u00fcber die Entstehung der wichtigsten Organisationsverh\u00e4ltnisse. Sie lassen sich als folgendes allgemeines Gesetz zusammenfassen :\nDie reproductive Erscheinung einer Stufe wird ;.uf der h\u00f6heren Stufe vegetativ. Die Zellen, die bei der einfacheren Pflanze sich alsKeime lostrennen und die Anf\u00e4nge neuer Individuen darstellen, werden bei der n\u00e4chst h\u00f6heren Pflanze Theil des individuellen Organismus, und verl\u00e4ngern die Ontogenie um einen entsprechenden Schritt.\nDies ist das fundamentale Gesetz der organischen Entwicklung, ohne welches die Organismen nicht aus dem einzelligen Zustande herausgekommen w\u00e4ren. Es verwirklicht sich auf dreierlei Weise:\nI.\tDie durch Theilung entstehenden Fortpflanzungszellen werden zu Gewebezellen.\nII.\tDie durch Sprossung (Abschn\u00fcrung) entstehenden Fortpflanzungszellen werden zu Zell\u00e4sten oder gegliederten Zellf\u00e4den.\nIII.\tDie durch freie Zellbildung entstehenden Fortpflanzungszellen werden zu Inhaltsk\u00f6rpem der Zelle.\nIch bemerke zum Voraus, dass diese Gesetze nicht etwa als naturphilosophische Analogien zu betrachten sind, sondern als reale Vorg\u00e4nge, deren Zutreffen ich bis auf das letzte Molek\u00fcl in Anspruch nehme. Das allgemeine Gesetz wurde von mir schon im Jahre 1853 ausgesprochen *), und zwar in folgender Weise :\n\u00bbEin erstes Gesetz . . . lautet, dass eine h\u00f6here Art oder Gruppe die Erscheinungen der tiefem wiederholt, aber dar\u00fcber hinaus zu einer neuen Erscheinung fortschreitet.\u00ab\n\u00bbDieses erste Gesetz findet seine Erkl\u00e4rung und seinen Ursprung aus einem zweiten, welches mir \u00fcberhaupt f\u00fcr die Aufeinanderfolge\n*) Systematische Uebersicht der Erscheinungen im Pflanzenreich Frei-tnrg i. B. 1853.","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"V\u00fc. Phylogenetische Entwicklungsgesetz de* Msnsenreiche\u00ab.\nder Groppen im Pflanzenreiche von der h\u00f6chsten Bedeutung zu sein scheint Es heisst: Die reproductive Erscheinung einer Stufe wird auf einer hohem Stufe vegetativ. Dasselbe bew\u00e4hrt sich mit R\u00fccksicht auf die Bildung der Zelle, des Organs und den Aufbau des Pflanzenstockes. Der n\u00e4mliche Vorgang, welcher bei der niedera Gruppe die Fortpflanzung vermitteln hilft, stellt bei einer hohem Gruppe bloss eine Seite der vegetativen Entwicklung dar, indess hier ein neues, der tieferen Gruppe mangelndes Moment auftritt, um die neuen Individuen zu erzeugen, c\nUnter den zahlreichen zur Erl\u00e4uterung dienenden Thatsachen habe ich lamals schon fast alle, die ich jetzt als Belege ben\u00fctzen werde, aufgef\u00fchrt. Das Gesetz ist von den Botanikern, die in jenen Zeiten f\u00fcr solche Fragen noch kein Interesse hatten, und sp\u00e4ter von den Darwinisten unber\u00fccksichtigt geblieben. Diese h\u00e4tten es auch nicht ber\u00fccksichtigen k\u00f6nnen, da die Thatsachen nicht zu widerlegen waren, und da ja der gesetzm\u00e4ssige Fortschritt in meinem Sinne mit der Theorie der nat\u00fcrlichen Zuchtwahl aus unbestimmten Ver\u00e4nderungen im Widerspruche steht.\nWas die Beweise f\u00fcr die Entwicklungsgesetze betrifft, so ist vor a\u00fcem damn zu erinnern, dass jedenfalls nur sehr wenige, vielleicht keine einzige jetzt lebende Art von einer andern jetzt lebenden abstammt. Das Studium der jetzigen Verwandten einer Art gibt uns aber die einzige M\u00f6glichkeit, um bestimmt zu wissen, wie ihre Vorfahren ausgesehen haben m\u00fcssen. Leider sind aber in dem jetzigen Pflanzenreiche auch die nat\u00fcrlichen Familien, denen die Vorfahren angeh\u00f6ren mussten, nur sp\u00e4rlich vertreten. Wir k\u00f6nnen wohl sagen, dass kaum der hundertste Theil aller Familien gegenw\u00e4rtig existirt, welche nothwendig w\u00e4ren, um die Ahatammnng\u00ablir.ian ju vervollst\u00e4ndigen. Wenn man die L\u00fccken \u00fcberhaupt durch Uebergangs-stufen ausf\u00fcllen will, so kann das nur durch Interpolation geschehen, was \u00fcbrigens mit einiger Aussicht auf Erfolg erst dann versucht werden kann, wenn alle Entwicklungsgesetze und ihre Anwendung sehr genau erkannt sind.\nDie zwei gr\u00f6ssten und f\u00fcr die Abstammungslehre des Pflanzenreiches empfindlichsten L\u00fccken befinden sich zwischen den fadenf\u00f6rmigen Algen (Confervolden) und den Moosen einerseits, zwischen den letzteren und den Phanerogamen sammt Gef\u00e4sskryptogamen andrerseits. Die Abstammungsreihe oder vielmehr der B\u00fcschel von\nv. N&geli, Atatanimungilebre\tno","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354 Vtt. Phylogenetische Entwicklungsgesetze dec Pdsnsemeiche\u00eb.\nparallelen Abstammungsreihen, welche von den Confervolden durch die Moose zu den Gef\u00e4sspflanzen aufsteigen, verschweigen in den beiden L\u00fccken viel mehr als sie in dem Anfangs-, dem kurzen Mittel- und dem Endst\u00fcck offenbaren. Unter den S\u00fcsswaeseralgen gibt es eine einzige Gattung (Schizomeris), welche einen aus wirklichem Zellgewebe bestehenden K\u00f6rper besitzt; alle \u00fcbrigen, selbst Batrachosjtermum und Chara bestehen nur aus eng an einander gelegten F\u00e4den, und das Gewebe von Lemanea ist wenigstens auf eine solche Entstehung zur\u00fcckzuf\u00fchren. Unter der ganzen Gruppe der Moose gibt es nur einige Lebermoose, welche Aehnlichkeit mit den ausgestorbenen Gliedern der zu den hohem Pflanzen f\u00fchrenden\nI\nAbetammungsreihen in Anspruch nehmen k\u00f6nnen.\nWas die L\u00fccke \u00fcber den Confervolden betrifft, so steigen zwar die Fucolden und Florideen von denselben aus ziemlich hoch auf; aber es sind dies Weiterbildungen in besonderen Richtungen, welche nicht zu den Lebermoosen hin\u00fcberf\u00fchren. Dasselbe gilt von der Klasse der Moose, welche zwar von den niedrigsten Lebermoosen zu h\u00f6heren Entwicklungsformen sich erhebt, aber durchaus nicht in der Richtung zu den Gef\u00e4sskrypto-gamen hin verl\u00e4uft. W\u00e4ren die L\u00fccken zwischen dm Confervolden und den Lebermoosen und zwischen diesen und den Gef\u00e4sskryptogamen mit jetzt noch lebendenPflan-sen ausgef\u00fcllt, so st\u00e4nden die Beispiele f\u00fcr die ausgesprochenen Gesetze I\u2014III viel reichlicher zu Gebot, als es jetzt der Fall ist.\nFlf. 11","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"V\u00d6- ^\u00fcjbtenetbche \u00cbntwicklnagagesettt de\u00ab ManienieicheR. 355\nDie eben angef\u00fchrten phylogenetischen Reihen sind in Fig. 13 graphisch dargestellt. C bedeutet die Sippe der Confervo\u00efden. Von derselben gehen in drei Richtungen Abstammungslinien aus; die einen f\u00fchren zu den Fuco\u00efden (F), die andern zu den Florideen (Fi), die dritte zu den niedrigsten Lebermoosen (H). Die Reihen der zwei ersten Richtungen sind zum Theil erhalten und daher durch aus gezogene Linien wiedeigegeben; die Reihe der dritten Richtung ist als ausgestorbene durch eine punktirte Linie augedeutet. Von den niedrigsten Lebermoosen (H) steigen nach zwei Richtungen Abstammungslinien auf; die einen Reihen, die theilweise noch leben, gehen zu den h\u00f6heren Moosen (M); die anderen, von denen nichts mehr erhalten ist, f\u00fchren zu den niedrigsten Gef\u00e4\u00dfpflanzen (V).\nIch habe das allgemeine Entwicklungsgesetz der organischen Reiche mit R\u00fccksicht auf den Fortschritt, welchen die entfalteten Organismen zeigen, ausgesprochen: Die reproductive Erscheinung (der sich abl\u00f6sende Keim) einer Stufe wird auf der n\u00e4chst h\u00f6heren Stufe vegetativ (zu einem integrirende\u00bb Theii des individuellen Organismus). Das Gesetz l\u00e4sst sich auch als idioplasmatisct er Vorgang ausdr\u00fccken. Der entfaltete Zustand ist die Folge der Bewegungen im Idioplasma; wenn ein Reproductionsprocess sich verwirklicht, so gelangen nach einander verschiedene Anlagen zur Entfaltung, und zuletzt diejenige Anlage, welche die Lostrennung oder wenigstens die morphologische Selbst\u00e4ndigkeit der Keimzellen bedingt. Wenn nun das Gesetz auf das Verhalten des Idioplasmas gegr\u00fcndet wird, so heisst es:\nDie idioplasmatischen Anlagen, welche die Bildung der Keime bewirken und somit der allerletzten, die Abl\u00f6sung der Keime bedingenden Anlage vorausgehen, entfalten sich auf der niederen Stufe nur einmal und bedingen mit der letzten Anlage zusammen die Fortpflanzung. Auf der h\u00f6heren Stufe werden sie, mit Ausschluss der allerletzten Anlage, wiederholt erregt und zur Entfaltung gebracht, wodurch die Ontogenie einen entsprechenden Fortschritt erf\u00e4hrt.\nOder noch allgemeiner gefasst:\nDie allerletzte Anlage der Ontogenie, welche die Abl\u00f6sung der Keime bedingt, tritt auf der h\u00f6heren Stufe um eine oder mehrere Zellengenerationen sp\u00e4ter ein.\n23*","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"\u00e25t> Vit. \u00cbhyiogeoetiscke Entwickinng\u00abge\u00abeUe des Mw\u2014wiArt\nDie phylogenetische Verftnderung ist also m\u00f6glichst gering, indem die Beschaffenheit des Idioplaamas sich nur so weit mnbildet, dass ein Complex yon Anlagen statt einmal sich nmhrnial\u00ab entfaltet, und dass die \u00cbntfaltnngsproducte desswegen, weil die den Schluss dieses Complexes bildende Anlage latent bleibt, selbstverst\u00e4ndlich einen etwas anderen, n\u00e4mlich vegetativen Charakter annehmen. Die Verl\u00e4ngerung, welche dadurch der Ontogenie zugef\u00fcgt wild, ist urspr\u00fcnglich rein quantitativer Natur; sie wird aber in Jedem F\u00e4lle sehr bald etwas Besonderes, indem der neue Zuwachs der Ontogenie einerseits sich mit den \u00fcbrigen Elementen der Ontogenie ins Gleichgewicht setzt und andrerseits durch die \u00e4usseren Anpassung\u2014\u00bb\u00abfl\u00ab\u2014\u00bb eigent\u00fcmlich ausgepr\u00e4gt wild.\nDass eine Anlage oder ein Anlagencomplex wiederholt oder andauernd zur Entfaltung kommt und dass die Zahl der Entfaltungen oder die Dauer des Entfaltungsprocesses in den auf\tfop\ngonden Ontogenien sich ungleich verh\u00e4lt, ist eine im Pflanzenreiche ganz gew\u00f6hnliche Erscheinung. Gestattet die Beschaffenheit des Idioplaamas einen Wechsel innerhalb bestimmter Grenzen, so h\u00e4ngt es von \u00e4usseren Einwirkungen ab, ob die Entfaltung innerhalb Grenzen sich mehr oder weniger oft wiederhole; und es ist begreiflich, dass, wenn schon die Einwirkung der nicht idioplasmatischen Substanzen einen solchen Erfolg hat, eine sehr geringe Aenderung im Idioplasfna selbst gen\u00fcgt, um das zul\u00e4ssige Maass in der Dauer oder Zahl der Erregungen erblich, also phylogenetisch zu ver\u00e4ndern.\nDas allgemeine Gesetz, wie es S. 362 ausgesprochen wurde, gilt f\u00fcr den Fall, dass an die Ontogenie ein neues St\u00fcck gleichsam terminal angef\u00fcgt wird, md ist dem andern Fall'entgegengesetzt, in welchem die neuen St\u00fccke vor dem Ende intowl\u00ab- in die Onto-pnie eingeschaltet werden (8. 361). Diese F\u00f6hn des Ausdruckes ist zutreffend, wenn die entfalteten Zust\u00e4nde mit einander verglichen werden, indem die sich abl\u00f6eenden Keimzellen der niederen Stufe zur Vergr\u00f6eserung des der h\u00f6heren Stufe angeh\u00f6renden Individuums dienen. Sprechen wir dagegen das Gesetz mit R\u00fccksicht auf die idioplasmatischen Vorg\u00e4nge aus, so k\u00f6nnen wir nicht sagen, dass ein St\u00fcck auf das Ende der Ontogenie aufgesetzt werde; denn die allerletzte Anlage, welche die Abl\u00f6sung der Keime bedingt, bleibt die n\u00e4mliche, und es wird nur unmittelbar vor derselben die Reihe der Entfaltungen verl\u00e4ngert. Das scheinbar terminale Wachsthum","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"\u00ab\nVII. Phylogenetische EntwieUungegesetae des Pflansenreiches. 357\nder Ontogenien ist also in aller Strenge ein intercalares, welches vor der Entfaltung der allerletzten Anlage eintritt.\n*\u2022\tOQ9vU<\nDie durch Theilung entstehenden geschlechtslosen F o.rtpflanzungs zellen bleiben verbunden und werden zu Ge^ebezellen.\nIn diesem Gesetze gelangt das eigentlich gewebebildende Princip zum Ausdruck. Zellen, die auf der niederen Stuf? sich von einander trennen und zu eben so vielen Pflanzenindividnen oder Anf\u00e4ngen neuer Individuen weiden, bleiben auf der h\u00f6heren Stufe mit einander verbunden und sind bloss Theile eines und desselben Individuums. Auf diesem Wege gehen die einzelligen in mehrzellige Individuen, ferner Organe, die aus einer einzigen Zelle, einer einfachen Z\u00abllmhf> oder einer einfachen Zellschicht bestehen, in k\u00f6rperliche Gebilde \u00fcber.\nDen Uebergang von einzelligen Pflanzen in mehrzellige k\u00f6nnen wir deutlich wahrnehmen bei der Vergleichung der Chroococcaceen mit den Noetochaceen, Oscillariaceen, Rivulariaceen und Scytone-maceen, welche alle zusammen die Klasse der Nostochinae ausmachen, bei der Vergleichung der Palmellinen (Protococcoiden) mit den Confervolden und bei der Vergleichung der Desmidiaceen mit den Zygnemaceen. Die Klasse der Nostochinae ist deshalb bemerkenswert h, weil die einzelligen und die mehrzelligen einander so \u00e4hnlich\n1\tV\tID\tN\na 0\t00\t0000\t00000000\nb O\tCO /Ts\t0000\tooooocoo\nC O\tCD\tcrm\torr 11 m\n\t\trtg. 14.\t\nsind, dass man die\t\tersteren als die noch jetzt lebenden Erzeuger der\t\nletzteren in Anspruch zu nehmen geneigt sein kann. Als Beispiel f\u00fcge ich in Fig. 14 die bildliche Darstellung a) einer Chroococcacee","page":357},{"file":"p0358.txt","language":"de","ocr_de":"358 V\u00a3L Phylogenetische EntwicklangageeeUe des Pflanzenreiche*\n(Synechococcus oder Gloeothece), b) einer Nostochacee und c) einer Osciliariacee bei, je in 4 auf einander folgenden Generationen I, U, III, IV dargestellt.\nBei den Cliroococcaceen (a) k\u00f6nnen die Zellen, nachdem eie sich von einander losgel\u00f6st haben, sich im Wasser verstreuen oder durch Gallerte in geringer Entfernung von einander festgehalten werden. Bei den Nostochaceen (b) sind die mehr oder weniger kugeligen Zellen nur mit einer kleineren Stelle der Oberfl&che, bei den Oscil-lariaceen (c) sind die cylindrischen Zellen mit den ganzen Endfl\u00e4chen verbunden.\nVergleicht man alle einzelligen Pflanzen mit den n\u00e4chst verwandten mehrzelligen, so findet man alle m\u00f6glichen Zwischenstufen in den Merkmalen, so dass es eigentlich unm\u00f6glich wird, einen strengen Unterschied zwischen Einzelligkeit und Mehrzelligkeit festzustellen. Die Zellen sind mehr oder weniger fest mit einander verbunden, wohl auch ziemlich weit von einander entfernt und durch Plasmastr\u00e4nge zusammenh\u00e4ngend, \u2014 und man ist oft im Zweifel, ob man ein mehrzelliges Gebilde als eine Colonie einzelliger Individuen oder als ein mehrzelliges Individuum ansprechen soll, da schon bei unzweifelhaft einzelligen Pflanzen (in den Coenobien von Hydrodictyon und Pediastrum) sehr innige Verwachsung Vorkommen kann. Ich habe daher als unterscheidendes Merkmal zwischen beiden die (noch mangelnde oder bereits eingetretene) Differenzirung benutzt und die Einzelligkeit soweit ausgedehnt, als die Zellen in einer Gruppe physiologisch gleich sind1). Doch ist dies nur ein Nothbehelf. Wo die bei der phylogenetischen Umwandlung sich bildenden Formen noch reichlich vorhanden sind, ist eine Sonderung innerhalb der Abstammungsreihen immer mehr oder weniger willk\u00fcrlich.\nDie merkw\u00fcrdige, in neuerer Zeit beobachtete Erscheinung, dass r\u00f6hrenf\u00f6rmige und mehrzellige Algen zeitweise in einzellige, sogenannte Palmelia- und Protococcus-Zust\u00e4nde \u00fcbergehen k\u00f6nnen, beweist nichts dagegen, dass jene Pflanzen, wie es nach dem I. und H. phylogenetischen Gesetz geschehen soll, aus einzelligen entstanden sind. Denn wenn auch einzelne einzellige Formen durch jene Beobachtungen aus der Zahl der selbst\u00e4ndigen Sippen gestrichen wurden, so\n') Einzellige Algen. 1849.","page":358},{"file":"p0359.txt","language":"de","ocr_de":"VH. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiclies\t359\nbleibt doch die Mehrzahl der einzelligen Organismen unangefochten; \u2014 und die genannte Erscheinung wird vielmehr zur St\u00fctze der phylogenetischen Gesetze, da sie als ein ontogenetischer R\u00fcckschlag auf die fr\u00fchere phylogenetische Stufe zu betrachten ist.\nAls Beispiel daf\u00fcr, wie in vielzelligen Pflanzen durch Vereinigung der Fortpflanzungszellen der fr\u00fcheren Stufe eine compli-cirtere Gewebestufe erreicht wird, will ich die Verwandlung einer Zellreihe in einen cylindrischen Zellk\u00f6rper anf\u00fchren. Die Confer-vo\u00efden sind gegliederte Faden und pflanzen sich durch Keimzellen fort, die zu mehreren innerhalb der Gliederzellen entstehen. Die Bildung der Keimzellen erfolgt in verschiedener Weise, manchmal bloss aus dem in kleinere Portionen zerfallenden Wandbeleg, bei den niedrigsten Sippen aber sicher durch normale Theilung des ganzen Zelleninhalts. Die Zellen trennen sich dann von einander und treten aus der Elterzelle heraus, oder werden in irgend einer anderen Art frei; aus ihnen erwachsen neue gleiche Pflanzen von fadenf\u00f6rmiger Beschaffenheit. Wird diese Zellbildung vegetativ, so entsteht ein cylindrischer Zellk\u00f6rper, wie wir ihn unter den S\u00fcss-\nFiff. 15.\nwasseralgen bei Schizomeris finden, die im Jugendzustande von einer Confervo\u00efde nicht zu unterscheiden ist. In dieser Weise ist auch die Meeralgengattvng Enteromorpha entstanden. Dieselbe tritt im","page":359},{"file":"p0360.txt","language":"de","ocr_de":"360 VU. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflsnsenceiches.\njugendlichen Zustande ebenfalls als Zellreihe auf, die sich durch Theilung in den Gliedenellen in einen Zellk\u00f6rper von einfachstem Bau und weiter durch Ausscheidung von Wasser zwischen den Zellen in einen einschichtigen Schlauch verwandelt.\nIn Fig. 16 stellt a eine Confervolde dar; die unteren Zellen noch unver\u00e4ndert, die oberen keimzellenbildend ; b den Endtheil einer Schizomeris, die oberen Glieder noch ungetheilt, die unteren in verschiedenen Theilungszust\u00e4nden ; c den Querschnitt durch die unterste Partie von b; d den L\u00e4ngsschnitt durch den Endtheil einer Entero-morpha, die oberen Glieder noch ungetheilt, die untern in Theilung begriffen und schlauchbildend; e, f, g, h Querschnitte durch d in zunehmender Entfernung vom Scheitel. Die Theilung erfolgt, wie aus d bis h ersichtlich, ausschliesslich durch W\u00e4nde, welche die Oberfl\u00e4che rechtwinklig ber\u00fchren.\nAn Enteromorpha schliesst sich die so nahe verwandte Gattung Ul va an. Wie die niederen Confervolden zu Schizomeris und den Ulveen, verh\u00e4lt sich Bangia zu Porphyra, welche offenbar von einer vorweltlichen Gruppe als einziges Glied \u00fcbrig geblieben imd dadurch ausgezeichnet ist, dass die vegetativen Theilungen ausschliesslich in einer Ebene vor sich gehen. Den gleichen Fortschritt finden wir auch in der Klasse der Fucolden von Ectocarpus und andern Gattungen zu den mit k\u00f6rperlichem Thallom begabten, zun\u00e4chst Sphacelaria u. s. w., w\u00e4hrend die phylogenetische Umwandlung in der Klasse der Florideen einen anderen Charakter zeigt.\nWie jeder phylogenetische Fortschritt, erfolgt auch die Umwandlung der Fortpflanzungszellen in Gewebezellen, die im Idioplasma ganz allm\u00e4hlich sich vollzieht, im entfalteten Zustande so successive, als es die Umst\u00e4nde erlauben. Die ungeschlechtlichen Fortpflanzungs-zellen der Algen sind auf der unteren Stufe lebhaft bewegte Schw\u00e4rm-sporen. Dann nimmt ihre Bewegungsf\u00e4higkeit stufenweise ab und erlischt schliesslich. Sie verlassen die H\u00f6hlung ihrer Elterzelle nicht mehr, sondern keimen in derselben ; es trennen sich erst die Keimpfl\u00e4nzchen los (was bei Ulothrix beispielsweise vorkommt). Auf der h\u00f6hem Stufe dient die Zelltheilung, welche die Keimpfl\u00e4nzchen erzeugte, zur Gewebebildung.\nDen ersten Schritt eines solchen phylogenetischen Vorganges finden wir an dem Product der Oosporen von Coleochaete. Bei den Pflanzen der vorausgehenden Stufen (Sphaeroplea, Ulothrix, Oedo-","page":360},{"file":"p0361.txt","language":"de","ocr_de":"VIL Phylogenetische Entwkklangageeetae des Pflensenniches. 861\ngonium) theilt sich der Inhalt in den ruhenden, durch geschlechtliche Befrachtung entstandenen Sporen (Zygoeporen und Oosporen) in mehrere Schw\u00e4rmsporan. In den Oosporen von Coleochaete dagegen bleiben die durch Theilung entstandenen Zellen su einem Gewebek\u00f6rper vereinigt; aus ihnen tritt sp\u00e4ter je eine Bchwlnnspore aus. W\u00e4ren die h\u00f6heren Stufen dieser Algen unter den jetzt lebenden Pflanzen vertreten, so w\u00fcrden wir ohne Zweifel bei denselben sehen, wie der aus der Oospore hervorgehende Zellk\u00f6rper seine vegetative Natur beh\u00e4lt und durch Zelltheilung weiter w\u00e4chst.\nManche Fucolden und die meisten Florideen wachsen mit einer Scheitelzelle in die L\u00e4nge, welche sich durch horizontale, nnfar einander parallele W\u00e4nde theilt (wie Fig. 16 a), die h\u00f6heren Flori-\ndeen, die Moose und Gef\u00e4sskryptogamen dagegen mit einer Scheitelzelle, welche sich durch schiefe, altemirend nach verschiedenen Seiten geneigte Scheidew\u00e4nde theilt (wie Fig. 16 b). Bemerkenswerth ist nun, dass bei Plocamium, welches in dieser Beziehung zwischen den niederen und h\u00f6heren Florideen in der Mitte steht, die vegetativen Theile des Thalloms das erste, die Fracht\u00e4ste aber das zweite Scheitelwachsthum besitzen. Fig. 16 a zeigt den Scheitel eines vegetativen, b den Scheitel eines sporenbildenden Zweiges von Plocamium, und c den Anfang eines sporeabildenden Zweiges, an welchem die Scheitelzelle sich zuerst 3mal horizontal, daun schief getheilt hat. In den 3 Figuren sind die nach einander entstandenen W\u00e4nde mit Zahlen bezeichnet.\nDie schiefe Theilung der Scheitelzelle tritt also zuerst bloss in den reproductiven und erst auf der h\u00f6heren phylogenetischen Stufe","page":361},{"file":"p0362.txt","language":"de","ocr_de":"362 VU. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.\nauch in den vegetativen Organen auf1). Sehr wahrscheinlich jedoch ist dieses schiefwandige Scheitelwachsthum in den Frucht\u00e4sten von Plocamium selber ein phylogenetischer Fortschritt von solchen Florideen aus, bei denen die Eltenellen der Tetrasporen durch schiefwandige Theilunge^ sich bildeten. Wenn dies richtig ist, so h\u00e4tte die eigent\u00fcmliche Zellenbildung zuerst die Fortpflan zungszellen erzeugt, dann durch Vereinigung dieser Zellen zu einem Gewebe das Organ hervorgebracht, in welchem die Fortpflanzungszellen gebildet wurden, und schliesslich w\u00e4re aus diesem Organ der ganze vegetative Pflanzenk\u00f6rper hervorgegangen.\nDie Gef\u00e4sskryptogamen stammen von lebermooeartigen Pflanzen ab; namentlich ist dies f\u00fcr die Farne sehr angannfthmnlii\u00bb}\u00bbt deren Prothallium, welches aus der keimenden Spore hervorgeht, die gr\u00f6sste Aehnlichkeit mit einem kleinen Lebermoos hat. Die grosse bl\u00e4tter-tragende Pflanze der Gef\u00e4sskryptogamen ist der phylogenetische Abk\u00f6mmling der Moosfrucht, welche vegetativ wird. Ich will auf die suc-cessiven Bildungen, die den weitl\u00e4ufigen Uebergang vermitteln mussten, hier nicht eintreten, sondern nur einen Punkt hervorheben. Das Moos-sporogonium ist entweder so gebaut, dass eine das Centrum einnehmende oder durchsetzende Zellgruppe die Sporen bildet, indess das \u00e4ussere Gewebe zur Wandung der Sporenkapsel wird, \u2014 oder so, dass ein das Mittels&ulchen umgebender Cylindermantel, der von der Kapselwandung umschlossen ist, die Sporen erzeugt. Wenn die Moosfrucht bei der phylogenetischen Weiterbildung vegetativ und zu einem Stengel wird, so m\u00fcssen die Zellen, die in jener die Sporen bildeten, vegetativen Charakter annehmen. Es ist mir nun sehr wahrscheinlich, dass sie zum Cambium und weiter zu Gef\u00e4ssmassen werden, welche im Stengel der Gef\u00e4sskryptogamen bez\u00fcglich ihrer Lage ebenfalls einem doppelten Bauplan folgen. Bei den Lycopodien stellen sie einen marklosen Cylinder, bei andern einen das Mark umschliessenden Hohlcylinder reap, einen Kreis von Str\u00e4ngen dar.\nDas I. Gesetz, und dies gilt auch f\u00fcr das II., beschr\u00e4nkt den phylogenetischen Fortschritt auf die Umbildung der geschlechTs-losen Fortpflanzungszellen. Die geschlechtlichen Elemente sind nicht f\u00e4hig, durci. Vegv;tativwerden die gemeinsame Ontogenie\n*) Der Umstand, dass viele vegetativ bleibende Sprossenden schon bei Plo-camiom ihr Scheitelwachsthum ebenfalls mit schiefen Wanden abschliessen, ist ohne Zweifel so zu deuten, dass dieselben als abortive Frucht\u00e4ste zu betrachten sind.","page":362},{"file":"p0363.txt","language":"de","ocr_de":"VH. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 363\nzu bereichern, weil sie unter einander verschieden sind. Aus der Umbildung der geschlechtlich differenzirten Zellen kann bloss eine h\u00f6here Entwicklung der bez\u00fcglichen Geschlechtsorgane erfolgen.\nAuf der untersten Stufe jeder phylogenetischen Reihe sind die Geschlechtsorgane einander ganz gleich und unterscheiden sich nur durch die geschlechtlich differenzirten Fortpflanzungszellen von einander; h\u00e4ufig bestehen sie selbst bloss aus diesen Zellen. Sie k\u00f6nnen anf\u00e4nglich noch keine anderen Verschiedenheiten zeigen, da sie aus dem n\u00e4mlichen ungeschlechtlichen Organ hervorgingen. So sind bei Ulothrix die Zellen, welche die m\u00e4nnlichen und die weiblichen Schw\u00e4rmsporen erzeugen, so wie diese selbst, einander ganz gleich; ebenso bei Equisotum die Sporen, aus welchen m\u00e4nnliche und weibliche Vorkeime (Prothallien) entstehen. Wenn man in einer Abstammungsreihe die Geschlechtsorgane nicht bis dahin zur\u00fcckverfolgen kann, wo sie sich nicht mehr von einander unterscheiden, so ist dies stets ein Beweis, dass ein St\u00fcck der Reihe mangelt. So fehlen in der Reihe der Florideen die den Callitham-nieen vorausgehenden Glieder, weil bei ihr die Antheridien und die Kapselfr\u00fcchte eine betr\u00e4chtlich verschiedene Entwicklungsgeschichte darbieten *). Noch auffallender tritt dieser Umstand bei den Geechlechts-organen der Moose hervor, w\u00e4hrend dagegen die m\u00e4nnlichen und weiblichen Sporangien der h\u00f6heren Gef\u00e4sskryptogamen bis auf ihren Ursprung zur\u00fcck verfolgt werden k\u00f6nnen.\nDie Geschlechtsorgane lassen in den verschiedenen phylogenetischen Reihen eine Weiterbildung zu einem complicirteren Bau wahrnehmen. Neben anderen Ursachen spielt dabei ohne Zweifel auch das Vegetativwerden der m\u00e4nnlichen und weiblichen Zellen, die sich auf den unteren Stufen abl\u00f6sen, eine wichtige Rolle. Doch l\u00e4sst sich dies noch nicht \u00fcberzeugend darthun, weil die Entwicklungsgeschichten der Geschlechtsorgane f\u00fcr diesen Zweck nicht hinreichend genau erforscht sind. Aus einzelnen Beispielen erkennen wir aber deutlich die Neigung der Pflanzen, die in diesen Organen frei und\n*) Von Bangia (ebenso von Porphyr\u00bb), die jetzt zu den Florideen gestellt wird, bezweifle ich sehr, dass hier ihre richtige Htelle im System sich befinde. Aber ganz sicher ist es, dass sie mit den Callithamnieen nicht zur gleichen phylogenetischen Reihe geh\u00f6ren kann, da die erste re ein ganz \u00fcberwiegendes intercalates L\u00e4ngenwachsthnm, die letzteren ein ausschliessliches Scheitelwachsthum besitzen, und da die Bildung der Fortpflanxungsorgane nach ganz verschiedenen Typen erfolgt","page":363},{"file":"p0364.txt","language":"de","ocr_de":"364 vn. Phylogenetische Entwicklungsgesetz de\u00ab Pflanxenreiches.\nselbst\u00e4ndig werdenden Zellen auf h\u00f6heren Stufen in dem erzeugenden Organe festzuhalten und schliesslich als einen Gewebetheil demselben anzuf\u00fcgen.\nDie weiblichen Fortpflanzungszellen trennen sich anf\u00e4nglich als Schw\u00e4rmsporen von der Elterpflanze los (Ulothrix). Auf einer h\u00f6heren Stufe bleibt die Eizelle innerhalb ihrer Elterzelle und erst die aus ihr entstehende Oospore wird sp\u00e4ter selbst\u00e4ndig (Oedogonium). Auf einer noch h\u00f6heren Stufe steigert sich die Tnniglmit der Verbindung, indem auch das ganze aus der befruchteten Eizelle hervorgehende Organ mit der erzeugenden Pflanze verw\u00e4chst (Moose). \u2014 Die Gynospore der h\u00f6chsten Gef\u00e4sskryptogamen l\u00f6st sich los; bei den Ph&nerogamen stellt sie als Embryosack eine Gewebezelle des elterlichen Organs dar. \u2014 Die Pollenk\u00f6mer der meisten Phanero-gamen, gleich den ihnen entsprechenden Androeporen der Gef\u00e4sskryptogamen, trennen sich von einander; bei wenigen, wie bei den Orchideen und Asclepiadeen bleiben sie zu einem Gewebek\u00f6rper (Pollenmasse) vereinigt.\nII. phylsgenetitolies Gesetz.\nDie durch Sprossung entstehenden geschlechtslosen Fortpflanzungszellen werden, statt sich abzul\u00f6sen, zu Zell\u00e4sten oder gegliederten Zellf\u00e4den.\nDieses Gesetz dr\u00fcckt das eigentliche Princip der Verzweigung aus, indem seitenst\u00e4ndige Keime der niederen Stufe auf der h\u00f6hera Stufe sich nicht abl\u00f6sen, sondern zum seitlichen Organ der Pflanze werden. Doch hat es theilweise auch noch einen gewebebildenden Charakter wie das I. Gesetz.\nDie Sprossung besteht darin, dass eine Zelle an einer \u00dftelle ihrer Oberfl\u00e4che in einen kurzen Fortsatz ausw\u00e4chst, welcher durch Entstehung einer Scheidewand zur besonderen Zelle wird. Die Sprossung ist durch Differenzirung aus der normalen Zweitheilung hervorgegangen, indem die eine der beiden Zellen an Gr\u00f6sse zunahm, die andere an Gr\u00f6sse abnahm, so dass die letztere schliesslich als der von der gr\u00f6sseren Zelle abgesonderte Keim erscheint (Gesetz VI). Einige wenige einzellige Algen und Pilze (Sproespilke) vermehren sich durch Sprossung, wobei die auswachsende Stelle breiter oder","page":364},{"file":"p0365.txt","language":"de","ocr_de":"VU. Phylogenetische \u00cbntwicklnngsgesetse des Pdanseiueiches. \u00a3\u00df5\nschm\u00e4ler und die erzeugte Zelle gr\u00f6sser oder kleiner ist; diese Zelle l\u00f6st sich bald ab und wird zur selbst\u00e4ndigen Pflanze (Fig 17 a, b, c, d, e mit schmaler, f, g1) mit breiter Sprossung). Wenn die durch\nSprossung entstandenen Zellen.noch eine Zeit lang mit einander verbunden bleiben, so bilden sie baumf\u00f6rmige Colonien einzelliger Pflanzen, wie man sie oft in der Weinhefe findet (Fig. 17d).\nDieser Fortpflanzungsvorgang wird vegetativ, indem der auswach-sende Theil der Zelle, statt eine Wand zu bilden und sich abzu-l\u00f6sen, in seinem Wachsthum fortf\u00e4hrt und zum r\u00f6hrenf\u00f6rmigen Zellschlauch sich verl\u00e4ngert, welcher durch Wiederholung des n\u00e4mlichen Processes sich verzweigt (Fig. 17 h, i). Auf diesem Wege sind die Siphoneen unter den Algen und die schlauchf\u00f6rmigen Fadenpilze entstanden.\n*) *\u00bb b, c, d sind Saccharomyces ; e, f, g sind einteilige Algen, die ich fr\u00fcher unter dem Namen Exococct\u00bb zusammengefamt habe, die aber wahrscheinlich als Sprossformen so anderen Gattangen einteiliger Algen geh\u00f6ren. Diese systematische Frage ist bez\u00fcglich der phylogenetischen Bedeutung der Erscheinung ohne Belang.","page":365},{"file":"p0366.txt","language":"de","ocr_de":"\u00e266 VU. Phylogenetische \u00c9ntwickiungsgeeetie dee Pflanzenreiche\u00ab.\nBei der Sprossung findet an der sich erhebenden Stelle der Oberfl\u00e4che ein starkes Wachsthum der Membran durch Einlagerung statt, welches man im Gegens\u00e4tze zu der \u00fcbrigen nicht wachsenden Membran bildlich als Neubildung bezeichnen kann, und unter der entstehenden Membranausbuchtung eine Anh\u00e4ufung und wohl auch Neubildung von Plasma. Durch diese Vorg\u00e4nge wird die Sprossung, wonn sie in den vegetativen und dauernden Zustand \u00fcbergeht, noth-wendig zum Scheitelwachsthum der sich r\u00f6hrenf\u00f6rmig verl\u00e4ngernden Zelle und ihrer Verzweigungen, indem nach dem Scheitel hin Wanderung von Plasn^ und am Scheitel Neubildung von Plasma und Membran stattfindet, indess r\u00fcckw\u00e4rts vom Scheitel Inhalt und Membran mit zunehmender Entfernung zunehmende Alterszust\u00e4nde zeigen.\nDer Sprossungsvorgang kann auch erst in einem sp\u00e4teren Zustande, wenn n\u00e4mlich die Scheidewand schon gebildet ist, vegetativ werden, indem die Kindzelle, statt sich abzul\u00f6sen, mit der Elterzelle verbunden bleibt. Wiederholt sich die Sprossung an der neugebildeten Zelle und findet das Auswachsen mit der ganzen Breite der Zelle an ihrem Scheitel statt, so entsteht ein ausschliesslich durch Theilung der Scheitelzelle in die L\u00e4nge wachsender Zellfaden (Fig. 17 k, l,m). Da die durch Sproenmg sich vermehrende einzellige Pflanze das Verm\u00f6gen besitzt, wiederholt zu sprossen (Fig. 17 c.e), so kann auch, wenn der Vorgang vegetativ geworden ist, jede Gliederzelle des Zellfad^ is in einen oder mehrere Aeete auswachsen (Fig. 17 m). Es gibt verzweigte eon-feigenartige Pflanzen, welche den Sproescolonien der einzelligen Pilie (Fig. 17 d) ganz \u00e4hnlich sehen. \u2014 Viele Algen und Schimmelpilze verdanken ihren phylogenetischen Ursprung der geschilderten Umwandlung. Es sind r\u00f6hrenzePige Algen und Pilze, denen in der Septirung auch das zweite Element der Sprossung geblieben ist\nIff\t^ m\nIW\u00ab ^jlVyOnfTl?90iw8 \u00abfevWiZ\u00ab\nDie durch freie Zellbildung entstehenden Fortpflanzungssellen werden zu Inhaltsk\u00f6rpern der Zelle.\nEs gibt hez\u00fcglicn des Zelleninhaltes in den untersten Regionen des Pflanzenreiches drei ziemlich scharf geschiedene Stufen, 1. formlose\u00ab Plasma, 2. Plasma mit einfachen Plasmak\u00f6rpern, 3. Plasma","page":366},{"file":"p0367.txt","language":"de","ocr_de":"V\u00fc. Phylogenetische Entwicklungsgesetz de\u00ab Manxe welche*.\nmit zusammengesetzten Plasmak\u00f6rpern. Bei den niedersten Pflanzen sowie wahrscheinlich in dem ganzen Reiche der Probien kommt nur formloses Plasma vor, noch ohne bestimmte Plasmak\u00f6rper wie Zellkerne u. s. w. Die Fortpflanzung dieser ersten Stufe geschieht bald durch Theilung bald durch freie Zellbildung (S. 349). Wenn nun in dem letztem Falle die sich besondernde Plasinapartie, statt sich von dem Elterindividuum los zu machen und vollkommen selbst\u00e4ndig zu werden, vegetativ wird und als integrirender Theil des Elterindividuums in dessen Inhalt verbleibt, so haben wir eine Zelle der zweiten Stufe mit einfachen Plasmak\u00f6rpem in dem formlosen Plasma.\nZu den Zellen der ersten Stufe mit durchaus formlosem Plasma geh\u00f6ren alle Nostochinen (Chroococcaceen, Nostochacoen, Oscillaria-ceen, Rivulariaceen, Scytonemaceen), ferner ohne Zweifel die Spaltpilze und vielleicht die Sprosspilze (Saccharomyces). Zu den Zellen der zweiten Stufe mit einfachen Plasmak\u00f6rpem im formlosen Plasma geh\u00f6ren viele Algen und Pilze, unter den letzteren vielleicht auch die Sprosspilze. Die Plasmak\u00f6rper sind entweder farblos oder gef\u00e4rbt und dann vorzugsweise Chlorophyllk\u00f6mer oder andere Farbk\u00f6raer darstellend. Die Kerne haben noch keine Kernchen (Kemk\u00f6rper-chen) oder andere geformte Plasmaeinschl\u00fcsse. Die niedrigsten Zellen dieser Stufe haben nur einen einzigen Kem oder nur ein einziges Chlorophyllkora, welches dann gleichsam als der Kem der Zelle erscheint (Palmellinen). In h\u00f6her entwickelten Zellen dieser Stufe finden sich mehrere Chlorophyllk\u00f6mer, in noch h\u00f6her entwickelten Kerne und Chlorophyllk\u00f6mer zugleich, beide in gr\u00f6sserer oder geringerer Zahl. In den Chlorophyllk\u00f6rnera bilden sich meistens St\u00e4rkek\u00f6mer.\nDie Plasmak\u00f6rper, welche die zweite Stufe gegen\u00fcber der ersten Stufe unterscheiden, sind dadurch charakterisirt, dass sie sich im Innern des formlosen Plasmas ausscheiden. Auf der ersten Stufe kommt es auch wohl vor, dass, wenn das Plasma im Verh\u00e4ltniss zur Zellfl\u00fcssigkeit in geringer Menge vorhanden ist, einzelne Partieen desselben mechanisch losgetrennt werden und scheinbare PLtsma-k\u00f6rper darstellen; dieser Vorgang kommt h\u00e4ufig auch in den Zellen der zweiten und der dritten Stufe vor. Die eigentlichen Plasmak\u00f6rper aber, welche diese zwei Stufen auszeichnen, sind im Entstehen von formlosem Plasma umschlossen ; ihre Bildung setzt daher","page":367},{"file":"p0368.txt","language":"de","ocr_de":"\u00e268 Vil. Phylogenetische \u00cbntwicklmtgegeaetie de\u00ab frUnsenreiche\u00ab.\neine besondere organisirende Th\u00e2tigkeit voraus, welche den Plasmar k\u00f6rper mittels eines hyalinen H\u00e4utchens isolirt.\nWenn die Zellen der zweiten Stufe durch freie Zellbildung sich vermehren, so enthalten die in ihrem Inhalte auftretenden neuen Zellen schon Plasmak\u00f6rper wie die Eiterzelle, oder sie besitzen wenigstens das Verm\u00f6gen, sp\u00e4ter solche zu bilden. Werden aber diese neuen Zellen vegetativ, und bleiben sie, ohne eine Cellulosemembran zu bilden, als Zelleninhalt in der Elterzelle, so stellen sie Kerne dar, in denen sich Kernchen und auch andere\tPlasma*\nk\u00f6rper befinden. Ausser diesen Kernen kommen dann noch die verschiedenen andern einfachen Plasmak\u00f6rper der zweiten Stufe in den Zellen der dritten Stufe vor. Diese Zellen der dritten Stufe enthalten meistens nur einen einzigen Kern, der in jugendlichen Zust\u00e4nden einen sehr ansehnlichen Theil des gesammten Zelleninhaltes ausmachen kann. Sie kommen schon bei einzelligen Pflanzen (Desmidiaceen) vor.\nDie Phylogenie gibt uns Aufschluss \u00fcber die urspr\u00fcngliche Bedeutung der organischen Erscheinungen, welche sp\u00e4terhin dann verschiedene Modificationen eingehen kann. Dieselbe vermag nna auch einige Aufkl\u00e4rung \u00fcber die noch r\u00e4thselhafte Bedeutung der Plasmak\u00f6rper, namentlich des Zellkerns, zu verschaffen. Der Plasmak\u00f6rper ist urspr\u00fcnglich aus einem durch freie Zellbildung entstehenden Keim hervorgegangen; er enthielt somit Idioplasma mit Em\u00e4hrungsplasma in concentrirterer Beschaffenheit Diese Natur d\u00fcrfte ihm \u00fcberall geblieben sein, wo er in der urspr\u00fcnglichen Einzahl verharrte. Wir werden daher den Kern gleichsam als ein Magazin von Idioplasma und Ern\u00e4hrungsplasma ansehen; die Anordnung der Plasmastr\u00f6mchen, die von dem Kerne ausgehen und zu demselben zur\u00fcckkehren, deutet ohnehin darauf, dass sich hier ein Centrum von Stoff und Kraft befindet, wenn auch noch jede Vorstellung mangelt, in welcher Weise dasselbe auf das Zellenleben einwirkt. Hat der Kern diese Bedeutung, so ist begreiflich, dass seine Theilung der Zelltheilung normal vorausgehen muss. Der auf den tieferen Stufen in der Einzahl vorhandene Kern oder Plasmak\u00f6rper kann aber auch auf einer h\u00f6heren Stufe sich theilen, ohne dass Theilung der ganzen Zelle nachfolgt. Je h\u00f6her die Zahl der in einer Zelle vorhandenen Kerne oder Plasmak\u00f6rper ansteigt, um so geringer wird selbstverst\u00e4ndlich ihre Bedeutung f\u00fcr die Lebens-","page":368},{"file":"p0369.txt","language":"de","ocr_de":"Phylogenetische Entwicklungsgesetze de\u00ab Pflanzenreiche\u00ab. 369\nVorg\u00e4nge, und die Theilung der Zelle tritt ein, ohne dass vorher die Kerne oder Plasmak\u00f6rper sich theilen m\u00fcssen.\nIV. phylogenetisches Gesetz.\nDie durch Verzweigung entstehenden Theile eines Pflanzenstockes legen sich zusammen und bilden einen geflecht- oder gewebeartigen K\u00f6rper.\nDie phylogenetischen Vorg\u00e4nge, welche den drei ersten Gesetzen sich unterordnen und die bis jetzt besprochen wurden, bestehen darin, dass einzellige Keime, die sich auf der unteren Stufe lostrennen, um sich zu selbst\u00e4ndigen Individuen zu entwickeln, auf der h\u00f6heren Stufe vereinigt bleiben und ein mehrzelliges Gebilde darstellen. Eine andere Wirkung, welche das organisatorische Bestreben der Phylogenie nach Vereinigung hervorbringt, besteht darin, dass durch Verzweigung entstandene Theile, die auf der unteren Stufe, mit Ausnahme der angewachsenen Basis, getrennt sind und den Pflanzenstock zusammensetzen, auf der h\u00f6heren Stufe sich zu Einem K\u00f6rper mehr oder weniger innig vereinigen.\nDiese Vereinigung kommt schon bei den aUemiedrigsten Pflanzen vor und ist hier auch am h\u00e4ufigsten. Die aus einer einzigen schlauchf\u00f6rmigen Zelle bestehenden R\u00f6hrenalgen (Siphoneen) breiten ihre Verzweigungen bei Vaucheria, Bryopsis, Caulerpa frei aus; bei den Codieen legen sie dieselben zu einem dichten Geflecht zusammen. In gleicher Weise bilden die einreihigen F\u00e4den, deren Aeste bei den confervenartigen Algen und bei den Schimmelpilzen frei bleiben, auf einer h\u00f6heren Stufe durch Verflechtung und Verwachsung k\u00f6rperliche Gebilde, welche bei den Schw\u00e4mmen und Flechten alle Ueber-g\u00e4nge von de- lockeren, bloss durch Gallerte zusammengehaltenen bis zur innigsten gewebeartigen Vereinigung zeigen. Beispiele f\u00fcr das erstere Extrem der Vereinigung finden wir \u00fcberdem in den Wurzelhaaren mancher Algen, welche sich als Berindungsf\u00e4den an die St\u00e4mmchen anlegen, Beispiele f\u00fcr das letztere Extrem in den Wurzelhaaren anderer Algen, die zu Haftscheiben verwachsen, und dann namentlich in dem Gewebe der Corallineen und \u00fcberhaupt der Florideen.\nT. N igelt, AbaUmmwigslehre.\n34","page":369},{"file":"p0370.txt","language":"de","ocr_de":"370 VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflarsenreichos.\nZugleich mit der Vereinigung tritt sowohl bei den r\u00f6hrenf\u00f6rmigen (monosiphonen) als bei den einreihigen (gegliederten) Faden meistens eine sehr reichliche Verzweigung ein, welche wohl theilweise die Veranlassung zu dem phylogenetischen Fortschritt ist. Im allgemeinen lassen sich drei Typen der Vereinigung unterscheiden. Der erste besteht darin, dass die Spitzen der Aeste an andere Aeste an wachsen, wo sie dieselben ber\u00fchren ; er tritt besonders ausgezeichnet bei der Algengattung Microdictyon auf, wo die verwachsenen Verzweigungen ein Netz bilden, ebenso bei Dictyurus, ferner bei Ana-dyomene, bei welcher auch die in einer Ebene liegenden Seiten der einzelligen Aeste sich vollst\u00e4ndig ber\u00fchren.\nDer zweite Typus zeichnet sich dadurch aus, dass sich viele unter einander gleichwertige Faden Zusammenlegen ; der \u00abiaiiuw entstehende K\u00f6rper ist aus Fasern zusammengesetzt, die, mit der Achse im allgemeinen parallel laufend, nach oben bogenf\u00f6rmig auseinander gehen, und von denen jede gewissermaassen selbst\u00e4ndig an der Spitze in die L\u00e4nge w\u00e4chst Dabei ist der K\u00f6rper entweder verk\u00fcrzt und nimmt die mannigfaltigsten Gestalten an (mehrere Codieen, die Fruchtk\u00f6rper der Pilze, viele Flechten, die aus Rhizoiden verwachsenen Haftscheiben mancher Algen), oder er streckt sich in die L\u00e4nge und verzweigt sich (Codium tomentosum, Usnea).\nDer dritte Typus f\u00fcr die Vereinigung von F\u00e4den besteht darin, dass die Grundlage des ganzen Systems durch eine einzige axile Zellenreihe gebildet wird, mit der sich ihre seitlichen Auszweigungen vereinigen. Der daraus hervorgehende K\u00f6rper ist immer verl\u00e4ngert und gew\u00f6hnlich verzweigt; er w\u00e4chst mit einer Scheitelzelle in die L\u00e4nge (Batrachospermum, Chara, Ceramium u. s. w.). Dieser Typus verwirklicht sich bloss unvollst\u00e4ndig, wenn die seitlichen Verzweigungen nur unter sich, nicht mit dem Hauptstrahl verwachsen, so bei Acetabularia.\nDas merkw\u00fcrdigste Beispiel f\u00fcr den phylogenetischen Ver-einigungsprocess gegliederter und verzweigter F\u00e4den bieten uns die Florideen dar. Ich will die bez\u00fcglichen Erscheinungen nur f\u00fcr diejenige Abtheilung betrachten, deren vegetative Organe mit einer sich horizontal theilenden Scheitelzelle in die L\u00e4nge wachsen (Callithamnion, Ceramium, Polysiphonia, Laurencia, Nitophyllum, Deles-8eria). Wenn wir diese Reihe der Florideen mit derjenigen Reihe der Fuco\u00efden vergleichen, bei denen die Scheitelzelle ebenfalls durch","page":370},{"file":"p0371.txt","language":"de","ocr_de":"VIL Phylogenetische Entwicklungsgesetze dos Pflanzenreiches. 37 J\nhorizontal\u00ab W\u00e4nde sich theilt (Ectocarpus1), Sphacelaria, Cladostephus, Dictyota, Halyseris, Fucus), so bemerken wir in der Gewebebildung einige auffallende und tiefgreifende Unterschiede.\nDer eine Unterschied zwischen Fucolden und Florideen zeigt sich in der Theilung der Gliederzelle. Bei jenen wird dieselbe durch eine mit der Achse zusammenfallende L\u00e4ngswand halbirt (Fig. 18 a), worauf jede H\u00e4lfte in gleicher Weise sich noch \u00abinmal halbirt (b)' soda88 zun\u00e4chst 4 cylinderquadrantische Zellen von der L\u00e4nge des Gliedes entstehen. Bei den Florideen dagegen theilt sich die Gliederzelle zuerst durch eine extraaxile, mit der Achse parallel laufende Wand (Fig. 18 c), worauf noch mehrere solcher W\u00e4nde folgen (d, e), soda8s sich eine Achsenzelle und ein Kranz von gleichlangen Aussen* zellen, meistens in der Zahl von 4 oder 5, bilden. Dem entsprechend finden wir auch, wenn die Zelltheilung des Dickenwachsthums weitergeht, im Centrum des Querschnittes bei den Fucolden ein Kreuz von Scheidew\u00e4nden, bei den Florideen eine axile Zelle.\nrtf. is.\nDer andere Unterschied zwischen Fucolden und Florideen besteht darin, dass bei den ersteren neben der peripherischen auch inter-calare Zelltheilung th\u00e4tig ist. w\u00e4hrend die intercalare Zelltheilung bei den Florideen ganz mangelt. Bei den Ectocarpeen (Fucolden) theilt sich die Scheitelzelle nur kurze Zeit; dann sind bloss noch die Gliederzellen theilungsf\u00e4hig ; es folgt also auf das Scheitelwachsthum intercalares L\u00e4ngenwachsthum. Bei den im Bau auf gleicher Stufe stehenden Callithamnieen (Florideen) wird das L\u00e4ngenwachsthum ausschliesslich durch die Theilung der Scheiteizelle bewerk-stelligt. \u2014 Beim Breitenwachsthum von Dictyota (Fucolden) theilen sich alle Fl\u00e4chenzellen, bei dem Breitenwachsthum von Nitophyllum und Delesseria (Florideen) theilen sich bloss die Randzellen. \u2014 Bei\nl) dieser Gattung h\u00f6rt die Theilung der Scheitelaelle schon frQhieitig auf.\n24*","page":371},{"file":"p0372.txt","language":"de","ocr_de":"372 VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.\nden aus Zellk\u00f6rpern bestehenden Fucolden findet neben der Theilung der Aussenzellen auch Theilung der Innenzellen statt, wodurch inter-calares L\u00e4ngen-, Breiten- und Dickenwachsthum erfolgen kann. Bei den k\u00f6rperlichen Florideen sind bloss die Aussenzellen theilungsf\u00e4hig.\nDie beiden erw\u00e4hnten Unterschiede in der Gewebebildung der Fucolden und Florideen erkl\u00e4rt sich daraus, dass die Phylogenie bei den beiden Gruppen g\u00e4nzlich verschieden ist. Bei den Fucolden kommt n\u00e4mlich die Gewebebildung der Zellfl\u00e4chen und Zellk\u00f6rper phylogenetisch durch Vegetativwerden von Keirozellen (nach Gesetz I), bei den Florideen dagegen durch Vereinigung von Verzweigungen zu Stande. Da wir von beiden Gruppen den genaueren Anschluss nach unten nicht kennen, so m\u00fcssen wir den phylogenetischen Fortschritt mit den Ectocarpeen und Callithamnieen beginnen. Diese beiden Anf\u00e4nge der Fucolden und Florideen sind schon wesentlich verschieden. Bei den Ectocarpeen theilen sich, wie schon erw\u00e4hnt, vorzugsweise die Gliederzellen ; die Fortpflanzungszellen (geschlechtslose Schw\u00e4rmsporen) entstehen durch wiederholte Zweitheilung des Inhaltes von Gliederzellen (Snorangien). Indem dieser Process der Fortpflanzung vegetativ wird, verwandelt sich der einreihige Faden von Ectocarpus in das anf\u00e4nglich einschichtige Thallom von Dictyota und in das k\u00f6rperliche Thallom von Sphacelaria und Dasycladus.\nVon einer ganz anderen Grundlage aus verl\u00e4uft der phylogenetische Process in der Gruppe der Florideen. Bei den Callithamnieen theilen sich zum Behufe des L\u00e4ngenwachsthums bloss die Scheitelzellen- Die Gliederzellen k\u00f6nnen nur seitlich auswachsen und durch Abschn\u00fcrung eine seitlich angeheftete Astzelle bilden, welche als erste Scheitelzelle den Anfang eines Astes darstellt. Dieses ausschliesslich peripherische Wachsthum (Theilung der Scheitelzelle und Bildung von Astzellen) ist auch bei der Erzeugung der Fortpflanzungszellen, resp. deren Elterzellen, ausschliesslich th\u00e4tig. Da nun die geschlechtlichen Fortpflanzungszellen nicht zur Bereicherung der gemeinsamen Ontogenie beitragen k\u00f6nnen (S. 362\u2014363), da ferner die Tetrasporen nicht endogen im Thallom entstehen, da endlich der Mangel eines intercalaren Wachsthums eine intercalare Fortbildung der Ontogenie ebenfalls nicht gestattet (vgl. Gesetz V und VI), so k\u00f6nnen die Callithamnieen nur dadurch sich phylogenetisch weiterbilden und namentlich nur dadurch zu einem fl\u00e4chenartigen und k\u00f6rperlichen Bau gelangen, dass die Verzweigung durch Vereinigung","page":372},{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"VH. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.\n373\nzur Gewebebildung wird. Dieser Vorgang tritt uns denn auch aufs deutlichste entgegen.\nDen ersten Schritt der Vereinigung zeigen, wenn wir von den nur sehr locker sich anlegenden Wurzelhaaren (Berindungsf\u00e4den) einiger Callithamnieen absehen, die Ceramieen. Hier legen sich die unmittelbaren Auszweigungen der Gliederzellen, sowie die weiteren (secund\u00e4ren, terti\u00e4ren etc.) Auszweigungen alle an die Hauptstrahlen an und bilden die Rinde derselben. Das Thallom verzweigt sich bloss durch Dichotomie in den Scheitelzellen. Aber das Gewebe des Thalloms hat noch nicht den vollst\u00e4ndigen Charakter eines wahren Zellgewebes, indem seine Zellen in ungleich innigem Grade unter einander Zusammenh\u00e4ngen. Der Ursprung desselben aus einem System von Verzweigungen gibt sich deutlich dadurch kund, dass sich bloss zwischen \u00fcenjenigen Zellen je ein Porus (T\u00fcpfel) befindet, welche, wenn die Verzweigungsstrahlen frei w\u00e4ren, an einander grenzen w\u00fcrden.\nBei den Ceramieen tr\u00e4gt jede Gliederzelle einen Quirl von 4 bis 14, meistens 5 bis 8 prim\u00e4ren Rindenzellen (Astzellen). Dieselben haben anf\u00e4nglich die ganze L\u00e4nge der Gliederzelle, ber\u00fchren also auch die prim\u00e4ren Rindenzellen des n\u00e4chst unteren und n\u00e4chst oberen Gliedes. Nachher bleibt ihr Wachsthum in der Richtung der L\u00e4ngsachse des Thalloms zur\u00fcck; sie trennen sich von den prim\u00e4ren Rindenzellen der angrenzenden Glieder, bilden somit einen G\u00fcrtel an den Gelenken, und sind durch Poren nur mit der Gliederzelle, nicht unter einander verbunden. Die Ceramieen sind jedenfalls aus einer Urform hervorgegangen, welche bloss den G\u00fcrtel von prim\u00e4ren Rindenzellen an jedem Gelenke und weiter keine Berindung besass. Aus einer solchen Urform ist durch einen anderen phylogenetischen Fortschritt die Gattung Polysiphonia entstanden.\nDas Thallom von Polysiphonia ist ein gegliederter Faden ; jedes Glied besteht aus einer Achsenzelle und einem Kranz von gleichlangen Rindenzellen, welche nicht nur mit der axilen Zelle, sondern auch unter einander und namentlich auch mit den angrenzenden Rindenzellen des oberen und unteren Gliedes durch Poren verbunden sind. Die Bildungsweise der (prim\u00e4ren) Rindenzellen erfolgt bei Ceramium und bei Polysiphonia ganz in der n\u00e4mlichen Weise (vgl. Fig. 18 c, d, e, auf 8. 371), und die Jugendzust\u00e4nde der Glieder sind bei beiden identisch. Bei der weiteren Entwicklung erweist","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"o /4 VH Phylogenetische Entwicklongegesetae des Pflnii*enreichee.\nsich aber die Vereinigung der Zellen bei Polysiphonia viel inniger als bei den Ceramieen.\nBei Laurencia, Rhodomela u. a. theilen sich die prim\u00e4ren Rindenzellen, sodass die axile Zellreilie von mehreren Zellschichten umschlossen ist, die von innen nach aussen kleinzelliger werden. Rings um jede Achsenzelle befindet sich ein Kreis von gleichlangen prim\u00e4ren Rindenzellen; auf jeder von diesen liegen bei Laurencia 4 secund\u00e4re Rindenzellen, auf jeder secund\u00e4ren Rindenzelle 4 terti\u00e4re; dann k\u00f6nnen wieder je 4 oder auch weniger quart\u00e4re Rindenzellen folgen. Bei andern Gattungen ist die Zunahme der Zeilenzahl von innen nach aussen eine geringere. Die Zelltheilung erfolgt wie bei der Berindung der Ceramieen dadurch, dass von den Aussenzellen ik;ken oder Kanten abgeschnitten werden, und entspricht somit im allgemeinen einer doldenf\u00f6rmigen Verzweigung; aber die Zellen nehmen vollst\u00e4ndig die Eigenschaften von Gewebezellen an.\nAuch bei den fl\u00e4chenf\u00f6rmigen Florideen hat die Gewebebildung in morphologischer R\u00fccksicht den Charakter einer wiederholten Verzweigung. Bei Nitophyllum bilden sich an den Gliederzellen bloss 2 opponirte Astzellen; aus diesen setzen sich die weiteren Zellbildungen in einer Ebene fort und erzeugen eine einfache Zellschicht. Bei den Delesserieen entstehen zwar an jeder Gliederzelle 4 Astzellen (prim\u00e4re Rindenzellen); aber von denselben sind 2 gegenst\u00e4ndige gef\u00f6rdert und aus ihnen erfolgt die weitere Bildung von Zellreihen und deren Verzweigungen wie bei Nitophyllum in einer Ebene. In der auf diese Weise entstandenen Zellschicht kann stellenweise Dickenwachsthum beginnen und mehrschichtige Nervationen bilden. Die Nitophyllen und Delesserien sind phylogenetisch aus den Ptiloteen und weiterhin aus den in einer Ebene verzweigten Callithamnieen hervorgegangen. Die Zellbildung wiederholt sich auf diesen verschiedenen Stufen oft bis in die Einzelheiten genau.\nIch muss mich bez\u00fcglich der Phylogenie der Florideen auf die gegebene allgemeine Schilderung beschr\u00e4nken, da der Nachweis im einzelnen hier zu weit f\u00fchren w\u00fcrde. Die Zusammenlegung ganzer Verzweigungssysteme zu einer ununterbrochenen Masse l\u00e4sst sich Schritt f\u00fcr Schritt verfolgen, wobei namentlich zwei Stufen der Vereinigung hervortreten. Die urspr\u00fcnglich freien Verzweigungsstrahlen legen sich zuerst locker aneinander und bilden ein Geflecht \\on Beringungsf\u00e4den, indem zwischen den Zellen verschiedener Strahlen","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 375\neine innigere Verbindung durch Poren noch unterbleibt. Dann wird diese Verbindung, wie die auftretenden Poren anzeigen, eine physiologisch festere und das Geflecht geht in ein wahres Zellgewebe \u00fcber.\nMit der fortschreitenden Vereinigung kann auch die Lage der Scheidew\u00e4nde, die sich bei der Zelltheilung bilden, nach und nach eine andere werden, sodass man in dem Endglied einer phylogenetischen Reihe kaum mehr den Anfang derselben erkennen w\u00fcrde, wenn nicht die verkn\u00fcpfenden Zwischenstufen den Weg anzeigten. Der Charakter dieser Ver\u00e4nderung gibt sich in einzelnen F\u00e4llen bestimmt darin zu erkennen, dass die anf\u00e4nglich zur Achse der Zellroihe rechtwinkligen Scheidew\u00e4nde mehr und mehr eine schiefe Lage annehmen, was durch die zunehmende Difforenzirung zwischen den verschiedenen Zellendurchmessem zu erkl\u00e4ren ist (vgl. Gesetz VI).\nDa bei den Callithamnieen, die den Ausgang f\u00fcr die phylogenetischen Reihon der Florideen bilden, die Zellreihen bloss durch Theilung der Scheitelzelle wachsen, so mangelt auch bei den h\u00f6heren Gruppen dieser Pflanzenklasse die intercalare Zelltheilung g\u00e4nzlich. Damit soll aber nicht gesagt sein, dass bloss die am Rande oder an der Oberfl\u00e4che befindlichen Zellen sich theilen. Denn bei der Zusammenlegung eines complicirten Verzweigungssystems kommen auch manche Strahlen desselben ins Innere zu liegen. Daher gibt es auch viele innere Zellen, die sich theilen; aber es ist dies niemals eine wirkliche intercalare Theilung, sondern, soweit man die Zellbildung im Raume genau verfolgen kann, nachweisbar stets entweder Theilung der Scheitelzelle eines oft sehr kurzen Fadens (Verzweigungsstrahles) oder Bildung von Astzellen an einem solchen Zellfaden1).\nEs kommen nicht nur Vereinigungen von Zellf\u00e4den bei niederen Pflanzen (Algen, Pilzen, Flechten), sondern auch Verwachsungen von gr\u00f6sseren, aus Zellgewebe gebildeten Organen bei den Gef\u00e4ss-pflanzen vor. Seltener sind dieselben an den Laubbl\u00e4ttem i.nd\n) Das geschilderte Wachsthain gilt f\u00f6r die genannten and die ihnen verwandten Florideen. F\u00fcr andere Groppen dieser Klasse mangeln mir hinreichende entwicklnngsgeschichtliche Thatsachen, am sa entscheiden, ob Bie dem n\u00e4mlichen phylogenetischen Gesetze folgen. Wenn die Bangiaceen wirklich zu den Flotideen geh\u00f6rten, za denen man sie jetzt stellt, so w\u00fcrden sie der Ausgangspunkt sein f\u00fcr eine zweite ganz verschiedene phylogenetische Reihe, welche Analogie mit der Reine der Fucolden haben k\u00f6nnte; denn die Bangiaceen unterscheiden sich von den Callithamnieen in \u00e4hnlicher Weise wie die Ectocarpeen.","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":"376 VII. Phylogenetische Entwicklongsgeeetse des Pflsuenreiches.\ntreten hier vorzugsweise in der Art auf, dass quirlstftndige und oppo-nirte Bl\u00e4tter r\u00f6hrig verwachsen (Equisetum, Casuarina, Blattbasen bei Dipaacns, Chlora, Lonicera etc.). Bloss ausnahmsweise wird normale Verwachsung zwischen den auf einander folgenden spiralst\u00e4ndigen Bl\u00e4ttern beobachtet (Pycnophyllum molle), w\u00e4hrend dieselbe als abnormale Erscheinung etwas h\u00e4ufiger auftritt.\nEs ist mir ferner nur eine Pflanze bekannt (Struthiopteris germanica), bei welcher die dicht \u00fcber einander liegenden spiralst\u00e4ndigen Laubbl\u00e4tter auf eine kurze Strecke nahe \u00fcber ihrer Basis zu einem ununterbrochenen Gewebe verwachsen sind. Dieses Gewebe bildet einen Mantel, der den ganzen Stamm umschliesst, mit demselben verwachsen, aber von ihm durch zahlreiche kleine L\u00fccken (je innerhalb einer Blattbasis) getrennt ist und das ganze Netz der Ge-f\u00e4ssstr\u00e4nge enth\u00e4lt, sodass der Stamm selbst bloss aus Parenchym besteht.\nBei den Phanerogamen treten Verwachsungen normal in der Bl\u00fcthenregion h\u00e4ufig auf. Dieselben sind bei den Kelchbl\u00e4ttern, Kronbl\u00e4ttern, Staubgef\u00e4ssen und Fruchtbl\u00e4ttern so bekannt, dass ich nur daran zu erinnern brauche. Ich beschr\u00e4nke mich auf eine Bemerkung \u00fcber die Berechtigung der Bezeichnung. Mit R\u00fccksicht auf die Entwicklungsgeschichte ist gegen die \u00bbVerwachsungen\u00ab Einsprache erhoben worden, weil die genannten Bl\u00fcthentheile vom ersten Anf\u00e4nge an vereinigt sind und nicht erst aus einem freien Zustande unter einander verwachsen. Dagegen k\u00f6nnte erwiedert werden, dass die Ausdr\u00fccke \u00bbverwachsen\u00ab und \u00bbangewachsen\u00ab nicht nothwendig ein urspr\u00fcngliches Getrenntsein voraussetzen, sondern da\u00ab\u00ab 8ie auch bloss eine innige Verbindung bedeuten. Aber die Ausstellung hat nur dann einen Schein von Begr\u00fcndung, wenn man sich auf die Betrachtung der einzelnen Ontogenie beschr\u00e4nkt. Erhebt man sich auf den Standpunkt der vergleichenden Morphologie und namentlich zu einem Urtheil \u00fcber das phylogenetische Werden, so kann kein Zweifel \u00fcber den Verwachsungsvorgang bestehen. Es waren die verwachsenen Organe bei den Vorfahren wirklich getrennt und f\u00fchren also ihren Namen auch der subtilsten Kritik gegen\u00fcber mit vollem Rechte.\nWas den unterst\u00e4ndigen Fruchtknoten betrifft, so ist dar\u00fcber noch folgendes zu bemerken. Derselbe soll nach der jetzt vorherrschenden Lehre lediglich der vertiefte becherf\u00f6rmige Blftthenboden","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"VIL Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 377\nsein, welcher auf dem Rande die beinahe auf die Griffel reducirten Carpelle, sowie die \u00fcbrigen Bl\u00fcthenbl\u00e4tter trage. Nach dieser Hypothese, welche sich einzig auf die mikroskopische Beobachtung der jungen Zust\u00fcnde st\u00fctzt und die Vergleichung verwandter Bildungen vernachl\u00e4ssigt, w\u00e4re das Gyn\u00e4ceum bei Pflanzen mit oberst\u00e4ndigem und unterst\u00e4ndigem Fruchtknoten, die einander oft sehr nahe verwandt sind, nach einem wesentlich verschiedenen Plane gebaut. Die Carpelle w\u00e4ren von der Mitte des Bl\u00fcthenbodens, wo sie sich bei \u00fcberst\u00e4ndigkeit befinden, ziemlich weit weg auf den vorstehenden Rand gewandert und h\u00e4tten auf dieser Wanderung ihren wesentlichsten Theil, den Fruchtknoten eingeb\u00fcsst; es w\u00e4ren dabei auch alle inneren Erscheinungen (Septirung u. s. w.), die sonst dem aus Carpellen gebildeten Fruchtknoten zukommen, auf den vertieften Bl\u00fcthenboden \u00fcbergegangen. Es scheint mir nun nicht, dass der Uebergang von so wesentlich verschiedenen Bildungen in nahe verwandten Familien phylogenetisch denkbar w\u00e4re.\nDi\u00ae gegenteilige Ansicht dagegen, nach welcher im unterst\u00e4ndigen Fruchtknoten die Carpelle enthalten sind, st\u00f6sst auf gar keine Schwierigkeiten. Wir sehen in der Familie der Rosaceen, dass die verschiedenen Formen des Bl\u00fcthenbodens leicht in einander \u00fcbergehen ; denn es gibt hier Gattungen mit gew\u00f6lbtem, flachem und becherf\u00f6rmig vertieftem Bl\u00fcthenboden. Tritt Vertiefung ein, so r\u00fccken aber die Carpelle nicht etwa allm\u00e4hlich nach aussen, sondern sie behalten ihre Anheftung im Grunde des Bechers (Rosa) und verwachsen in dieser Stellung mehr oder weniger mit der Wandung des Bechers (Pomeen). Wird die Verwachsung noch inniger und reicht sie vollst\u00e4ndig bis oben, so ist der wirklich unterst\u00e4ndige Fruchtknoten fertig.\nDie Ansicht von der theilweisen Carpellnatur des unterst\u00e4ndigen Ovariums wird also durch Uebergangsbildungen begr\u00fcndet. Ueber-dem gewinnt dieselbe eine ausserordentliche Wahrscheinlichkeit durch den Umstand, dass die F\u00e4cherung dieses Ovariums mit der Stellung und Zahl de- Griffel \u00dcbereinstimmt, und dass auch die Anheftung der Ovula ganz die gleiche ist wie im oberst\u00e4ndigen Ovarium.\nIst einmal die Verwachsung phylogenetisch vollzogen, so ist es sehr begreiflich, dass die individuelle Entwicklungsgeschichte von dem Zustandekommen nichts mehr sehen l\u00e4sst. Denn die Ontogenie ist zwar die Wiederholung der Phylogenie, aber nur in ganz sum-","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378 VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.\nmarischer Weise. Sie w\u00fcrde, ihrem Urspr\u00fcnge gem\u00e4ss, das Werden der Ah8tamraungslinie bis ins Einseine wiederholen, wenn nicht die phylogenetische Reduction (Gesetz VII) eine Menge von Ueberg\u00e4ngen in den Ontogenien unterdr\u00fcckt und nur die Hauptstadien \u00fcbrig gelassen h\u00e4tte. Die Wirkungen dieser Reduction liegen im Pflanzenreiche und namentlich in der individuellen Entwicklungsgeschichte der h\u00f6heren Thier\u00a9 in anschaulicher Weise und reichlicher Menge vor. Dem entsprechend sehen wir auch von den phylogenetisch erfolgten Verwachsungsprocessen im Individuum gew\u00f6hnlich nur noch das Resultat.\nDie ontogenetisclie Entwicklungsgeschichte ist zwar f\u00fcr die Deutung der Erscheinungen ein al)solutes Erfordemiss, ohne welches ein Schluss nicht zul\u00e4ssig ist; aber sie ist dazu nicht ausreichend. Sie l\u00e4sst, eben weil sie fragmei.tarisch ist, verschiedene Deutungen zu, und sie kann erst mit H\u00fclfe der systematischen Verwandtschaft und vergleichenden Beobachtung zu der richtigen phylogenetischen Erkl\u00e4rung gelangen.\nWenn es sicher ist, dass in dem unterst\u00e4ndigen Fruchtknoten Carpelle enthalten sind, so folgt daraus nicht nothwendig, dass immer auch der becherf\u00f6rmige Bl\u00fcthenboden daran theilnehme. Eis w\u00e4re m\u00f6glich, dass, wie dio Staubgef\u00e4sse an die Blumenkrone oder an den Griffel anwachsen k\u00f6nnen, in manchen F\u00e4llen auch Kelch, Krone und Staubf\u00e4den mit dem Fruchtknoten, ohne Beih\u00fclfe des Bl\u00fcthenbodens, verwachsen und denselben unterst\u00e4ndig machen.\nDie phylogenetischen Gesetze I\u2014IV stimmen darin \u00fcberein, dass Zellen, Zell\u00e4ste oder vielzellige Organe, welche auf der fr\u00fcheren Stufe sich ganz von einander lostrennen oder nur stellenweise verbunden sind, auf der sp\u00e4teren Stufe sich Zusammenlegen und mit einander verschmelzen. Wir k\u00f6nnen datier die 4 Gesetze als ein einziges allgemeines phylogenetisches Gesetz, n\u00e4mlich das der Vereinigung, aussprechen.\nTheile, die ganz oder theilweise getrennt sind, haben die Neigung, sich immer vollst\u00e4ndiger und inniger in ein continuirliches Gewebe zu vereinigen.\nDiese phylogenetische Vereinigung geschieht auf zweierlei Arten. Die eine Art besteht darin, dass Theile (Zellen), welche auf","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"Vn Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflwuenreiches. 379\nder fr\u00fcheren Stufe bei der Entstehung einander ber\u00fchren und sich nachher trennen, um selbst\u00e4ndig su loben, auf der sp\u00e4teren Stufe zeitlebens vereinigt bleiben und einen zusammenh\u00e4ngenden K\u00f6rper bilden (Ges. I\u2014III). Mehrere individuelle Existenzen werden also zu einer einzigen. Die \u00bbVereinigung\u00ab, wenn auf das Wort Gewicht gelegt wird, besteht nicht darin, dass getrennte Theile w\u00e4hrend der ontogenetischen Entwicklung in Ber\u00fchrung mit einander gelangen, sondern darin, dass die Trennung, die auf der unteren phylogenetischen Stufe eintritt, auf der h\u00f6heren ausbleibt.\nDie andere Art der Vereinigung besteht darin, dass Theile, die auf der unteren Stufe nicht in Ber\u00fchrung sind, auf der h\u00f6heren Stufe sich an einander legen und mit einander verwachsen. Diese Theile h\u00e4ngen auf der unteren Stufe meistens durch Verzweigung zusammen, sodass der eine mit seinem Grunde an dem andern befestigt ist oder dass mehrere gleichwertige auf einem gemeinsamen Tr\u00e4ger stehen und mittelbar durch diesen Zusammenh\u00e4ngen ; auf der h\u00f6heren Stufe ber\u00fchren sie sich der L\u00e4nge nach, entweder theilweise oder vollst\u00e4ndig (Ges. IV). Auch dieser Process wird in der ontogenetischen Entwicklung der h\u00f6heren Stufe gew\u00f6hnlich nicht mehr als Vereinigungs- oder VerwachsungsVorgang sichtbar, indem die Theile, die auf dev fr\u00fcheren Stufe getrennt waren, auf der h\u00f6heren schon bei ihrem Entstehen sich ber\u00fchren (congenitale Verwachsung). \u2014 Hiervon gibt es jedoch Ausnahmen, indem es auch vorkommt, dass Theile w\u00e4hrend der n\u00e4mlichen Ontogenie zuerst getrennt auf-treten und nachher mit einander verwachsen. Ein Beispiel, wo dies mit selbst\u00e4ndigen Zellen der Fall ist, finden wir bei den (einzelligen) Hydrodictyeen, deren Zellen bei der Entstehung sich ber\u00fchren, dann sich losl\u00f6send einzeln schw\u00e4rmen und nachher sich fest an einander anlegen.\nDie phylogenetische Vereinigung spielt im Pflanzenreiche zwar eine \u00fcberaus wichtige Rolle, da ohne Je die Pflanzen nicht aus der Einzelligkeit herausgekommen w\u00e4ren ; aber sie ist hier doch in viel geringerem Umfange th\u00e4tig als im Thierreich. In dem letzteren sind die Organe meistens zu einem Leib vereinigt, und es sind vorzugsweise nur die Bewegungsorgane, die sich in ihrer Freiheit erhalten haben. Im Pflanzenreiche verlangen die Assimilation, wegen ihres Lichtbed\u00fcrfnisses, und die Aufnahme der Nahrung eine grosse Oberfl\u00e4che, daher Verzweigung und Ausbreitung der Substanz. Diese","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380 VIL Phylogenetische Entwicklungswege tie dee PfUuuenreichee.\nExistenzbedingungen verhindern die unbeschr\u00e4nkte Verwirklichung des Vereinigungsbestrebens. Die Vereinigung beschr\u00e4nkt sich, nachdem die Organe zu einer bestimmten St\u00e4rke gelangt sind, vorz\u00fcglich auf die Sph\u00e4re der Fortpflanzung.\nDie Verl\u00e4ngerung der Ontogenie ist in den bis jetzt betrachteten F\u00e4llen (Ges. I\u2014III) dadurch geschehen, dass am Ende derselben ein neues St\u00fcck angef\u00fcgt wurde, was durch Vegetativwerden der geschlechtslosen Keime erfolgte. Ein solcher Vorgang erscheint uns aber, wie schon fr\u00fcher bemerkt wurde, als unm\u00f6glich, sobald die Fortpflanzung durch geschlechtlich differenzirte Elemente erfolgt, aus dem einfachen Grunde, weil eine gleichartige Weiterbildung durch Anf\u00fcgung ungleichartiger Theile nicht denkbar ist. Erfolgt er gleichwohl, so hat er nicht mehr die Bedeutung einer Verl\u00e4ngerung der gemeinsamen Ontogenie, sondern nur die ungleichartige Verl\u00e4ngerung derselben in der Geschlechtssph\u00e4re, indem aus einfachen m\u00e4nnlichen und weiblichen Fortpflanzungszellen nach den er\u00f6rterten drei verschiedenen Normen (I, H, IV) vielzellige, eigent\u00fcmlich gebaute Geschlechtsorgane werden.\nDie Verl\u00e4ngerung der gemeinsamen Ontogenie bei den Geschlechtspflanzen geschieht also durch Einschiebung neuer Theile an irgend einer Stelle zwischen dem Anfang und dem Ende der vegetativen Entwicklung vom Keimstadium bis zur Geschlechtssph\u00e4re und l\u00e4sst sich allgemein ausdr\u00fccken als\nV. phylogenetisches Gesetz.\nEin bestimmtes fr\u00fcher beschr\u00e4nktes Wachsthum dauert an, oder eine bestimmte fr\u00fcher nur einmal vorhandene Bildung von Theilen einer Ontogenie wiederholt sich (Ampliation).\nBeispiele f\u00fcr dieses Gesetz der bloss quantitativen Zunahme sind \u00fcberall vorhanden bei den Geschlechtspflanzen, indem jede einzelne mit der n\u00e4mlichen Fortpflanzung begabte Reihe mit kleineren , aus einer geringeren Zahl von Zellen und Organen bestehenden Pflanzen beginnt und zu gr\u00f6sseren, mehr zusammengesetzten Pflanzen ansteigt, so bei den Phanerogamen, den Moosen,","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"VIL Phylogenetische Entwicklungsgesetz dee PfUnaenreicbes. ggj\nden I lorideen und den anderen Algengroppen. Aber der reine gesetzm\u00e4ssige Vorgang der Ampliation tritt kaum je klar hervor, weil er immer mit anderen phylogenetischen Entwicklongaprooeesen vergesellschaftet ist und durch sie verdeckt wird. W\u00e4hrend aie Weiterbildung der Configuration des Idioplasmas ein verl\u00e4ngertes ontogenetisches Wachsthum und eine vermehrte Bildung von Theilen des Individuums bewirkt, verursacht sie zugleich verschiedene Ver\u00e4nderungen in Bau und Verrichtung, die als Differenzirung und Arbeitsteilung, sowie als Bereicherung durch neue ohmtiWh\u00ab und plastische Vorg\u00e4nge uns entgegentreten und unsere Aufmerksamkeit fesseln, und die ich t.1* VI. phylogenetisches Gesetz zusammenfassen werde. Ich habe die rein quantitative Zunahme\tPartien\nder Ontogenie als besonderes Gesetz ausgesprochen, weil dieselbe nicht nothwendig mit der qualitativen Ver\u00e4nderung des VI. Gesetzes verbunden, sondern bis zu einem gewissen Grad selbst\u00e4ndig erscheint. Denn es kann einerseits eine starke Zunahme bei wehr geringer Ver\u00e4nderung, und andrerseits eine betr\u00e4chtliche Ver\u00e4nderung bei geringer oder mangelnder Zunahme erfolgen. Deeshalb sind diese beiden Componenten der phylogenetischen Entwicklung in der wissenschaftlichen Betrachtung auseinander zu holten\nDie quantitative Zunahme der Ontogenie ist \u00fcberall als \u2122*gfc\u00bbh zu denken, wo bereits ein Wachsthumsprooess th\u00e4tig ist; denn sie setzt bloss voraus, dass dieses Wachsthum andauere, d. h. dass die Errqpmg der bez\u00fcglichen Anlage im Idioplasma sich After als Ki\u00abw wiederhole. Desshalb kann jeder Organismus bloss in bestimmten Richtungen seine Ontogenie verl\u00e4ngern. Nur wenn beispielsweise eine bestimmte intercalare Zelltheilung schon vorhanden ist, Van\u00bb sie im Verlaufe der Fhylogenie h\u00e4ufiger eintreten; aber es kann keine andersartige intercalare Zelltheilung neben ihr erfolgen. Die\nFlorideen, die der fr\u00fcher besprochenen Reihe angeh\u00f6ren (8.372_374),\nverm\u00f6gen nicht auf dem Wege der intercalaren Zelltheilung sich weiter zu bilden, weil ihnen diese Zelltheilung g*n\u00ab mangelt; ihre phylogenetische Entwicklung geschieht bloss durch Zunahme des Scheitelwachsthums und der Zweigbildung. Die Nostochaceen und D*cillariaceen, bei denen das intercalare Wachsthum Moss in Richtung th\u00e4tig ist, k\u00f6nnen auch nur in dieser Richtung sich weiter entwickeln, wie wir dies bei den Scytonemaoeen und Rivulariaoeen sehen; und wenn in einer Familie der Nostochinen (bei den Stigone-","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382 vn. Phylogcnetbdte Entwicklungagf*etie dm PflanaenreiclM\u00bb.\nmaceen) auch Zelltheilung in anderer Richtung auftritt, ao kommt dabei noch eine andere phylogenetische Ursache sur Geltung.\nJeder Organismus und jede individuelle Partie desselben besteht, wenn wir die phylogenetischen Reihen weit genug r\u00fcckw\u00e4rts verfolgen, urspr\u00fcnglich aus gleichen Theilen. Die Regionen einer Zelle, ebenso die Richtungen in derselben, unterscheiden sich nicht von einander, deesgleichen die Zellen eines vielseitigen Gebildes und die Organe eines Organcomplexes, indem jeder Theil die n\u00e4mlichen Funktionen ans\u00fcbt wie die andern. Dann weiden die Theile ungleich , indem die Functionen, die fr\u00fcher unterschiedslos su-kamen, sich so scheiden, dass jeder einseine bloa? eine Partie derselben \u00fcbernimmt, was gew\u00f6hnlich als Differensirung bezeichnet wird. Die Ungleichheit der differensirten Theile ist gering; sie wird im phylogenetischen Verlaufe betr\u00e4chtlicher, indem die Differenxirung in verst\u00e4rktem Grade durchgef\u00fchrt wird, indem ferner die geschiedenen Functionen eine Steigerung erfahren, nnfl indem endlich als nothwendige Folge der stattgefundenen Umlagerung neue Functionen in den ungleich gewordenen Theilen auftreten (S. 341 \u00a7 2).\nJede Differensirung kann eine r\u00e4umliche oder eine seitliche \u00ab\u00abn Bei der r\u00e4umlichen Differensirung werden die neben einander vorkommenden Theile einer Ontogenie, m\u00f6gen dieselben gleichseitig oder ungleichseitig entstanden sein, ungleich. Bei der seitlichen Differensirung werden, die Von einander abstammenden und einander ersetzenden Theile, m\u00f6gen dieselben Generationen von selbst\u00e4ndigen Individuen oder Entwicklungsstadien eines Individuums darstellen, ungleich. Gew\u00f6hnlich bezeichnet man nur die erstem Ver\u00e4nderung als Differensirung; die letztere zeigt aber die gleichen Erscheinungen und folgt den n\u00e4mlichen Gesetzen. Wir k\u00f6nnen somit die allgemeine Norm folgendermaassen aussprechen:\nVI BkvflAAAflAltAilk\u00e2\u00ea flaaafs\nDie Theile einer Ontogenie werden ungleich, indem die fr\u00fcher vereinigten Functionen aus einander gelegt, und indem in den verschiedenen Theilen neue ungleich-","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"383\nVH. Phylogenetische Entwicklnngagesetse de* Pflanzenreiche\u00ab.\nartige Functionen erzeugt werden. Diese Differenzirung ist entweder eine r\u00e4umliche zwischen den neben einander vorkommenden, oder eine seitliche zwischen den von einander abstammenden Theilen der Ontogenie.\nVon den im Pflanzenreiche ftusserst zahlreich vertretenen r\u00e4umlichen Differenzirungen will ich einige herausheben, bei denen der Vorgang klar hervortritt. Unter den Lycopodiaceen gibt es Arten (L. Selago), bei denen die Laubbl\u00e4tter nicht bloss die Assimilation vollbringen, sondern auch dieSporangien erzeugen. Bei anderen Arten (L. clavatum) hat sich die Scheidung der vegetativen und reproduc-tiven Processe in der Weise vollzogen, dass die unteren Bl\u00e4tter gr\u00fcn und ohne Sporangien, die obersten, zu Frucht\u00e4hren oder vielmehr Bl\u00fcthen zusammengestellten Bl\u00e4tter blassgr\u00fcn und sporangientragend sind. \u2014 Eine analoge Differenzirung findet bei den Farnen statt. Die Mehrzahl derselben tr\u00e4gt die Fruchth\u00e4ufchen auf den unver\u00e4nderten gr\u00fcnen Bl\u00e4ttern. Bei einigen (Osmunda, Schisaea, Lygo-dium, Aneimia) ist der untere Theil der Bl\u00e4tter ansgebreitet und gr\u00fcn, der oberste zusamroengezogen und fruchttragend. Einige andere (Struthiopteris, Alloeorus, Blechnum) haben, neben den breiteren, bloss assimihrenden Bl\u00e4ttern schm\u00e4lere, ganz mit Sporangienh\u00e4ufchen bedeckte Bl\u00e4tter. \u2014 Weitergehende Differenzirungen, sowohl zwischen den Theilen eines Blattes als zwischen den ganzen Bl\u00e4ttern, vollziehen namentlich sich bei den Phanerogamen, bieten aber in ihrer Mehrzahl einer genauen Analyse des Vorganges grossere Schwierigkeiten dar.\nDie Verzweigungen einer Pflanze sind auf den untersten Stufen einer jeden phylogenetischen Reihe qualitativ einander gleich, indem sie gleichen Bau und gleiche Verrichtungen besitzen; auf den folgenden Stufen treten zwei, dann mehrere Ungleichheiten auf. Die erste Differenzirung besteht gew\u00f6hnlich darin, dass die einen Verzweigungen ausschliesslich vegetativ, die andern reproductiv werden, womit meistens der andere Unterschied verbunden ist, dass die vegetativen Strahlen (Achsen) ein st\u00e4rkeres, h\u00e4ufig ein unbegrenztes Ijftngenwachstiram zeigen, w\u00e4hrend die reproductiven Strahlen k\u00fcrzer und immer begrenzt bleiben. \u2014 Als Beispiel will ich den Bl\u00fcthen-stand der Phanerogamen anf\u00fchren. Bei manchen derselben geht der Laubblattspross in einen terminalen Bl\u00fcthenstand aus, an welchem jeder Strahl mit einer Bl\u00fcthe abechliesst (Fig. 19 a); die Bl\u00fcthen","page":383},{"file":"p0384.txt","language":"de","ocr_de":"-34 VU. Phylogenetische Sntwiddangageeetse dt\u00bb PfUnmnreichte.\nsind durch di\u00ab kleinen Kreis\u00ab angedeutet. Andere haben sich in der Weise weitergebildet, dass der mittlere Strahl des Bl\u00fcthenstandes, indem seine Bl\u00fcthe verk\u00fcmmert, zum Trftger f\u00fcr die bl\u00fcthengekr\u00fcnten Seitenstrahlen wird, wobei er sich gew\u00f6hnlich durch st\u00e4rkeres L\u00e4ngen-wachsthum auszeichnet (Fig. 19 b). Die gleichseitige Ver\u00e4nderung, die darin besteht, dass die Seitenstrahlen, von denen die unteren urspr\u00fcnglich grosser und st\u00e4rker verzweigt sind, einander gleich und unverzweigt werden (Fig. 19c), ist mittels vollst\u00e4ndig durchgef\u00fchrter Differemirung unter Mitwirkung einer anderen Ursache (der Reduction), die in dem VH. phylogenetischen Gesetz dargelegt wild, zu erkl\u00e4ren. Die gleiche Umbildung eines geschlossenen Systems (Fig. 19a) in ein ungeschloesenes (b, c) kommt bei lateralen Inflorescenzen vor. \u2014 Durch R\u00fcckschlag kann der ungeschlossene Bl\u00fcthenstand abnormal zu einem geschlossenen werden, indem die phylogenetisch verk\u00fcm-\n*+ \u00bb.\nmorte, aber noch als latente Anlage im Idioplasma vorhandene Mittelbl\u00fcthe wieder zur Entfaltung gelang* (Scrophulariaceen, Um-belliferen).","page":384},{"file":"p0385.txt","language":"de","ocr_de":"VII. Phylogenetische Entwiaklnngagesetse des Pflsnxenreichee. 335\nIn dem angef\u00fchrten Beispiel findet eine m\u00f6glichst geringe Differenzirung statt, indem der mittlere Strahl des Bl\u00fcthenstandes, der auf den unteren Stufen einer phylogenetischen Reihe selber bl\u00fcthenbildend ist und die bl\u00fcthenbildenden Seitenstrahlen erzeugt, auf den h\u00f6heren Stufen die erste Function vollst\u00e4ndig den Seitenstrahlen \u00fcberl\u00e4sst und daf\u00fcr die zweite um so ausgiebiger vollzieht. Eine bedeutendere Differenzirung besteht darin, dass auf den unteren Stufen die Laubblattsprosse in Bl\u00fcthen oder Bl\u00fcthenst\u00e4nde ausgehen, also zugleich vegetativ und reproductiv sind (Ranunculaceen, Cruci-feren), indess auf den h\u00f6heren Stufen ein ausschliesslich vegetatives Verzweigungssystem seitliche reproductive Verzweigungssysteme (Inflo-rescenzen) tr\u00e4gt (Papilionaceen). Auf den unteren Stufen endigt der Laubblattspross in eine Bl\u00fcthe oder in eine Bl\u00fcthenspindel mit seit-lichen Bl\u00fcthen, auf den h\u00f6heren Stufen sind die Laubblattsprosse bis zur Spitze, die meistens unbegrenzt in die L\u00e4nge w\u00e4chst, mit Laubbl\u00e4ttern besetzt. Die Differenzirung von den unteren zu den h\u00f6heren Stufen hat sich ohne Zweifel allm\u00e4hlich vollzogen, in der Weise, dass die Hauptsprosse sich immer mehr verl\u00e4ngerten und zuletzt ausschliesslich vegetativ wurden, indess die seitlichen Sprosse sich verk\u00fcrzten und am Ende unter Verlust der Laubbl\u00e4tter nur noch die Function der Bl\u00fcthenbildung behielten. Hiebei hat ebenfalls die Reductionsureache des VII. Gesetzes mitgewirkt.\nEine Differenzirung der j\u00e4hrlich aus dem Wurzelstock auf-schiessenden Triebe in vegetative und reproductive findet in der Gattung Equisetum statt Die einen Arten (E. palustre) besitzen einen Laubetengel, der in eine Frucht\u00e4hre (Bl\u00fcthe) ausgeht, w\u00e4hrend bei E. arvense u. s. w. die einen Triebe nicht fructifizirend und gr\u00fcn, die anderen nichtgr\u00fcn, \u00abchaftartig und fructifizirend sind.\nWenden wir unsern Blick nach dem Aufbau der Organe aus den Zellen, so l\u00e4sst die grosse Mannigfaltigkeit in der Gewebebildung der Gef\u00e4sspflanzen auch auf eine vorausgegangene reichliche Differenzirung schliessen. Allein die Deutung ist meistens nicht so einfach, als es auf den ersten Blick scheinen m\u00f6chte. Die wichtigsten Differenzirungen treten uns n\u00e4mlich schon fertig entgegen und lassen sich nicht in ihrem Entstehen verfolgen, da ja die ganze phylogenetische Entwicklungsreihe vom Moossporogonium bis zur Gef\u00e4sspflanze ausgestorben ist. Man spricht zwar bez\u00fcglich der Gewebebildung der Gef\u00e4sspflanzen viel von Differenzirung, indem man den urspr\u00fcng-\nT. Kigali, AbaUuamangatoUi\u00ab.\tor,","page":385},{"file":"p0386.txt","language":"de","ocr_de":"386 VH Phylogenetisch\u00ab Entwicklangsgeaetse dee PfUneenieichee.\nlichen gleichf\u00f6nnigen meriamatbchen Zustand als einen undifleren-sirten beseichnet, der sich dann zu der mannigfaltigen Beschaffenheit des fertigen Zustandes differenzire. Doch hat das Wort bei Anwendung im Grunde bloss einen wissenschaftlichen Klang. Wenn wir mit demselben einen wissenschaftlichen Begriff verbinden wollen, so kann es wohl nur so geschehen, wie ich es im VI. phylogen* tischen Gesetz ausgesprochen habe, dass n&mlich gleichartige Theile durch Scheidung ihrer Functionen, also durch Arbeitsteilung, ungleich werden. Die Differenzirung ist ein phylogenetischer Vorgang; sie kommt nicht w\u00e4hrend der ontogenetischen Entwicklung zu Stande. Was man hier mit Unrecht als Differenzirung bezeichnet, ist nur die Entfaltung der ungleichen Anlagen. Die Zellen in den j\u00fcngsten Geweben sind bloss scheinbar gleich; in Wirklichkeit sind sie eben so sehr verschieden wie im entfalteten Zustande ; aber die Verschiedenheiten entziehen sich unserer Wahrnehmung, weil sie sich noch im Zustande der Anlage befinden. \u2014 In manchen F\u00e4llen gibt uns zwar die ontogenetische Entwicklung Aufschluss \u00fcber das phylogenetische Werden. Aber gerade r\u00fccksichtlich der Gewebebildung trifft diese Uebereinstimmung gewiss am seltensten und auch am wenigsten auff\u00e4llig zu.\nWir m\u00fcssen daher sichere Beispiele f\u00fcr Differenzirungen zwischen Zellen bei den sog. Zellenpflanzen aufsuchen\u00ab und wir finden sie da um so leichter, je einfacher und n\u00e4her verwandt die phylogenetischen Stadien sind, die durch die jetzt lebenden Pflanzen angedeutet werden. Die augenf\u00e4lligsten Tbatsachen bietet uns auch hier die Scheidung der vegetativen und reproduction Vorg\u00e4nge, indem im allgemeinen auf den untersten Stufen jede Zelle zuerst vegetativ ist und nachher Keime bildet, indess auf den folgenden Stofen die einen Zellen ihre vegetative Natur zeitlebens behalten, andere Zellen aber die Assimilationsth\u00e4tigkeit mehr oder weniger beschr\u00e4nken und daf\u00fcr die Fortpflanzung \u00fcbernehmen.\nEben so offen liegt die Arbeitsteilung zwischen den Fortpflanzungszellen selber. Auf der untersten Stufe sind die Schw\u00e4rm-sporen der Algen einander in jeder Beziehung vollkommen gleich; aus jeder entsteht eine neue Pflanze. Der erste Diffeienzirungsprocess gibt sich darin kund, dass die Schw\u00e4rmsporen einander anziehen, in Folge dessen in Ber\u00fchrung kommen und verm\u00f6ge ihrer weichen plasmatischen Beschaffenheit mit einander zu Einer Zelle verschmelzen.","page":386},{"file":"p0387.txt","language":"de","ocr_de":"VH. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiche\u00bb. $87\nDiese Ansehung kann nach unserer jetzigen Kenntnis\u00ab der Natur* krftfte bloss elektrischer Natur sein (8. 220). Jedenfalls muss, wie klar ans den beobachteten Thatsachen hervorgeht, die Anziehung durch Krftfte bewirkt werden, welche sich insofern wie die Elektri-dt\u00e4ten verhalten, als die ungleichnamigen sich anziehen. Denn es gibt Algen, bei denen die Schwftrmsellen des n\u00e4mlichen Sporangiums (Ulothrix, Acetabularia) oder der n\u00e4mlichen Pflanze (Dasycladus) unf\u00e4hig sind, sich mit einander zu oopuliren, die sich also nicht anziehen sondern abstossen. Die Vereinigung findet in diesen F\u00e4llen nur dann statt, wenn die Schw\u00e4rmsporen mit solchen aus bestimmten caderen Sporangien oder von bestimmten anderen Pflanzenindividuen Zusammenkommen.\nDiese Erscheinung kann auf keine andere Weise erkl\u00e4rt werden als durch die Annahme, dass die Schw\u00e4rmsporen von doppelter Beschaffenheit sind , a und b, dass nur a mit b sich zu copuliren vermag, und dass die einen Zellen oder die einen Pflanzenst\u00f6cke bloss a, die andern bloss b erzeugen. Wenn es im Gegens\u00e4tze hiezu auch solche Algen gibt, bei denen Copulation zwischen den Schw\u00e4rm* zellen des n\u00e4mlichen Sporangiums stattfindet (Hydrodictyon, Botry-dium, Endosphaera, Chlorochytrium), so zeigt dieser Umstand bloss, dass schon Geschwisterzellen die ungleiche Natur a und b annolimJ k\u00f6nnen.\nDie einfachste und nat\u00fcrlichste Deutung des phylogenetischen Vorganges ist nun die, dass in den Schw\u00e4rmsporen der ersten Stufe die beiden (a und b) Kr\u00e4fte vereinigt sind und sich neutraliairen, dass dieselben auf der zweiten Stufe sich getrennt haben, so die einen Schw\u00e4rmsporen negativ, die andern positiv, die einen m\u00e4nnlich also Spermatozo\u00efde, die andern weiblich also F.i\u00ab>1ton sind. Diese Deutung erleidet keinen Eintrag durch die Thatsache, dass zuweilen mehr als zwei Schw\u00e4rmzellen sich mit einander vereinigen (Botrydimn, Hydrodictyon). Es ist leicht denkbar, dass die positiven und negativen Kr\u00e4fte der Geschlechtszellen quantitativ ungleich sind, und dass beispielsweise eine b*Zelle durch 2 bis 6 a-Zellen oder 2 b-Zellen durch 3 a*Zellen neutralisirt werden.\nDie vorgetragene Theorie erkl\u00e4rt auch den sonst r\u00e4thselhaften Umstand, dass die differenzirten und zur Copulation bestimmten Schw\u00e4rmsporen f\u00fcr sich allein nicht keimf\u00e4hig sind. Als Bedingung der Entwicklungsf\u00e4higkeit ist ein gewisses Gleichgewicht der elek-","page":387},{"file":"p0388.txt","language":"de","ocr_de":"388\nVII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des PflansenreicliM.\nirischen Kr\u00e4fte nothwendig und dieses ist in den Geschlechtszellen gest\u00f6rt. Die Erscheinung, dass ausnahmsweise die Schw\u00e4rmsporen der zweiten Stufe, ohne sich zu copuliren, zur Keimung gelangen, ist als R\u00fcckschlag auf die erste Stufe zu betrachten, indem die Scheidung der sexuellen Kr\u00e4fte unterbleibt und die Geschlechtszellen parthenogenetisch oder, wenn es m\u00e4nnliche Zellen sind, eitheogenetisch sich entwickeln. M\u00f6glicher Weise ist ferner der allererste Schritt der Differonzirung nicht vollst\u00e4ndig und der sexuelle Charakter der untersten Geschlechtspflanzen noch wenig ausgesprochen, indem die Fortpflanzungszellen neben neutralisirter Geschlechtselektricit\u00e4t geringe Mengen von positiven oder negativen Kr\u00e4ften enthalten und in Folge dessen eben so wohl zum Einzelleben als zur Copulation befthigt sind.\nDie sich copulirenden Schwarmsporen der zweiten Stufe haben sich bloss r\u00fccksichtlich der Geschlechtselektricit\u00e4ten diflerenzirt. M\u00e4nnliche und weibliche Elemente sind einander in Gr\u00f6sse, Gestalt und Beschaffenheit der Substanz vollkommen gleich. Deeswegen wurde auch ihre Vereinigung als Copulation gleicher Zellen betrachtet. Insbesondere kommt ihnen die n\u00e4mliche Beweglichkeit und der n\u00e4mliche Gehalt an Ern\u00e4hrungsplasma und an nicht plasmatischen Substanzen zu. Diese Eigenschaften sind es nun, welche zu weiterer Differonzirung die Veranlassung geben. Den m\u00e4nnlichen Elementen bleibt die Beweglichkeit, indess sie die nicht idioplas-raatischen Substanzen verlieren und zuletzt bloss noch aus Idioplasma bestehen. Die weiblichen Elemente hingegen verlieren die Beweglichkeit und werden daf\u00fcr mit Em\u00e4hrungsplasma und mit nichtplasmatischen Stoffen ausgestattet. Die Verschiedenheit zwischen den m\u00e4nnlichen und weiblichen Zellen wird \u00fcbrigens noch sehr gesteigert durch die hinzutretenden Anpassungsver\u00e4nderungen. \u2014 Die genannten Differenzirungen haben sich ganz allm\u00e4hlich vollzogen, was auch von Seite der Erfahrung durch die noch vorhandenen Uebergangsglieder best\u00e4tigt wird. Uebrigens ist noch zu bemerken, dass die angef\u00fchrte Differonzirung einer bestimmten phylogenetischen Reihe angeh\u00f6rt, und dass es \u00fcberdem Andeutungen f\u00fcr andere mehr oder Weniger abweichende Reihen bei den Algen gibt\nEine gleiche Differonzirung wie an den Schw\u00e4rmsporen vollzieht sich an den (ruhenden) Tetrasporen der Gef\u00e4sskryptogamen. Diejenigen der Filices sind noch undifferenzirt ; aus jeder Spore ent-wickelt sich ein gleicher Vorkeim (Prothallium). Bei den Equisetaceen","page":388},{"file":"p0389.txt","language":"de","ocr_de":"VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetz des Pflanzenreiches. 3g9\nhaben sich die geschlechtlichen Kr\u00e4fte geschieden; bei gleicher Gr\u00f6sse und Gestalt erzeugen die einen Sporen m\u00e4nnliche, die anderen weibliche Vorkeime. Die h\u00f6chsten Gef\u00e4sskryptogamen haben m\u00e4nnliche und weibliche Sporen, die ausserdem noch in Gr\u00f6sse und Zahl sich von einander unterscheiden, indem Anpass* ng (Gesetz VIII) und Reduction (Gesetz VII) zu der Geschlechtsdifferenz hinzuge-kommen sind.\nAls Beispiel, wie die Differenzirung zwischen den Zellen erfolgt, will ich noch die Theilung derselben betrachten und zwar die Zweitheilung der gew\u00f6hnlichen, mit einer Cellulosemembran umkleideten Pflanzenzellen, so dass der Process charakterisirt wird durch die Gestalt und Beschaffenheit der Zellen und die Lage der Scheidewand. Die Art und Weise, wie eine Zelle sich theilt, h\u00e4ngt \u00fcberhaupt von der Anordnung der scheidewandbildenden Stoffe und Kr\u00e4fte ab, in diesem Falle, da es sich um die phylogenetischen Ver\u00e4nderungen der erblichen Eigenschaften handelt, von der Beschaffenheit und Anordnung des Idioplasmas und dpr durch die vorausgehende Th\u00e4tigkeit des Idioplasmas erzeugten nicht idioplas-matischen Substanzen.\nAuf den untersten Stufen der phylogenetischen Entwicklungsreihen sind die Stoffe und Kr\u00e4fte in den einzelligen Pflanzen ganz gleichm\u00e4ssig um den Mittelpunkt vertheilt, wodurch die Kugelgestalt der Zelle und die Theilung derselben in zwei gleiche H\u00e4lften bedingt wird (manche Chroococcaceon und Palmellinen). Weiterhin findet eine Reihe von Differenzirungen zwischen den verschiedenen Richtungen innerhalb der Zelle statt, indem sich eine Achsenrichtung mit gleichen Achsenenden ausscheidet und die Dimensionen in den zur Zellenachse senkrechten Ebenen verschiedene Abstufungen der Symmetrie annehmen. Der Charakter der Theilung bleibt aber noch derselbe, indem die entstehende Scheidewand, welche die Achse stets rechtwinklig schneidet, die Zelle in zwei gleiche H\u00e4lften zerlegt. Beispiele hief\u00fcr finden wir bei einzelligen Pflanzen : Chroococcaceen, Palmellinen, Desmidiaceen, Diatomeen und Schizomyceten, und bei vielzelligen Familien: Nostochaceen\u2019) Oscillariaceen, Zygnemaceen und anderen Algen.\n\u2018) Die Angabe, dass in den Hurinogonien (Fadenstacken) von Nostoc die Zelltheilungen, statt in der Richtung der Achse de\u00ab Fadens, auch senkrecht xu derselben geschehen, kann ich nach vieljahrigen Beobachtungen nicht best\u00e4tigen,","page":389},{"file":"p0390.txt","language":"de","ocr_de":"390 VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.\nEine neue und wichtige Differenzirung tritt nun in der Achsenrichtung selber ein, so dass die Zelle zwei ungleiche Enden (Pole) hat und durch die zur Achse senkrechte Theilungswand in zwei ungleiche H\u00e4lften zerf\u00e4llt. Die beiden Kindzellen k\u00f6nnen bei gleicher Gr\u00f6sse und Gestalt ungleichen Inhalt, d. h. ungleiche Mengen von Idioplasma und anderen Substanzen, enthalten, oder es k\u00f6nnen auch ihre Gr\u00f6sse und Gestalt verschieden sein. Diese Ungleichheit ist auf den tieferen Stufen einer bestimmten phylogenetischen Reihe gering; sie wird auf den folgenden Stufen betr\u00e4chtlicher, bis sie zuletzt den ausgesprochensten Charakter der eigentlichen Sprossung angenommen hat (S. 365, Fig. 17 1, k, g, f, a).\nEine andere phylogenetische Reihe f\u00fchrt zum Scheitelwachsthum des einreihigen Zellfadens. Die Ungleichheit in der Verkeilung des Idioplasm as und Em\u00e4hnmgsplasmas auf die beiden Achsenseiten wird schliesslich so gross, dass von den beiden Kindzellen die eine vollkommen die Natur der Elterzelle hat und wieder eine Scheitelzelle ist, w\u00e4hrend die andere als Gliederzelle wesentlich andere Eigenschaften besitzt Der Zelleninhalt der Scheitelzelle ist wie auf den vorausgehenden phylogenetischen Stufen in den die Achse rechtwinklig schneidenden Ebenen gleichm\u00e4ssig \u00fcber die verschiedenen Radien vertheilt, und in Folge dessen schneidet die entstehende Theilungswand die Achse immer noch unter einem rechten Winkel\n(manche Confervolden, Fucolden, viele Florideen, die Characeen etc ; Fig. 20 a).\nDie einzig noch m\u00f6gliche Differenzirung in der Anordnung des Inhaltes der Scheitelzelle bez\u00fcglich der Richtung besteht darin, dass die zur Achse rechtwinkligen Ebenen ungleichh\u00e4lftig werden, indem auf der einen, mit der Achse parallel laufenden Seite Idioplasma und Erri\u00e4hrungsplasma sich anders verhalten als auf der gegen\u00fcber liegenden Seite. Damit vertr\u00e4gt sich eine zur Achse senkrechte Theilungswand nicht mehr. Aus der ungleichen Anordnung des Inhaltes in der L\u00e4ngsrichtung und in der Querrichtung der Scheitelzelle ergibt sich mit mechanischer Nothwendigkeit eine schiefe Lage der Theilungsebene. Diese Differenzirung in der Querrichtung ging\nnnd ich glaube, dass jener Angabe ein Irrthum, veranlasst durch die bei den Schiiophyten nicht aeltene Verschiebung der Zellen, su Grunde liegt Diese Ver Schiebungen sind oft so gross, dass man nur bei genauer Verfolgung der Entwicklungsgeschichte sich surecht su finden vermag.","page":390},{"file":"p0391.txt","language":"de","ocr_de":"VII. Phylogenetluche Entw)cklungnge\u00abetao de\u00ab Pflanzenreiche\u00ab.\n39!\nohne Zweifel phylogenetisch ganz allm\u00e4hlich vor sich (Fig. 20 b stellt eine Uebergangsstufe dar; Andeutungen hiezu finden sich bei Florideen), und f\u00fchrte zu dem Bcheitelwachsthum durch schiefe W\u00e4nde, welche auf der einen Seite die Aussenwand der Scheitelzelle, auf der andern Seite die fr\u00fchere Theilungswand ber\u00fchren (Fig. 20 c), wie es bei den h\u00f6heren Florideen, den Moosen, Gef\u00e4sskryptogamen und einigen Phanerogamen bekannt ist.\na\nb\nc\nF%. M.\nEine analoge Differenzirung wie beim Scheitelwachsthum, welches als peripherisches L\u00e4ngenwachsthum gegen\u00fcber dem intercalaren zu bezeichnen ist, vollzieht sich ebenfalls bei dem \u00fcbrigen peripherischen Wachsthum. Auch hier ist in den Zellen eine Achsenrichtung mit ungleichen Enden bereits ausgebildet; auf den tieferen Stufen besteht in den zur Achse rechtwinkligen Ebenen allseitiges Gleichgewicht der auf die Theilung einwirkenden Stoffe und Kr\u00e4fte, indess auf den h\u00f6heren Stufen dieses Gleichgewicht gest\u00f6rt ist.\nBeim peripherischen Breiten wachs thum sind es die Rand-zellen eines einschichtigen oder eines flachen mehrschichtigen Organs, welche sich theilen. Wenn der bei der Theilung der Randselle maassgebende Inhalt rings um ihre auf die Mitte des Randes treffende Medianlinie gleichm\u00e4ssig angeordnet ist, so zerf\u00e4llt die Randzeile entweder durch eine mit der Randfl\u00e4che parallele Wand in eine Fl\u00e4chenzelle und eine neue Randzelle (Fig. 21 a) oder durch eine mit der Medianlinie znsammenfallende halbirende Wand in zwei neue Randzellen (Fig. 21 b). \u2014 Ist der Inhalt in Folge eingetretener Differenzirung rings um die Medianline ungleichm\u00e4ssig vertheilt, so erfolgt schiefe Theilung und zwar gew\u00f6hnlich in der Weise, dm\u00bb\u00ab eine Kante (meist die akroskope) durch eine Wand abgeschnitten","page":391},{"file":"p0392.txt","language":"de","ocr_de":"392 VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.\nwird (Fig. 21 c), worauf dann die andere Kante ebenfalls durch eine schiefe Wand abgetrennt wird (Fig. 21 d). Das Resultat der zwei auf einander folgenden Theilungen ist eine von zwei Randzellen bedeckte Fl&chenzelle. In den Figuren ist der Rand mit x x, die zuletzt gebildete Wand durch eine punktirte Linie angegeben. ~ Das \u00e4ussere Ende der schiefen Wand berfihrt nicht immer den Rand wie in Fig. 20 c, sondern in selteneren F\u00e4llen auch die andere Seitenwand. In Fig. 20 e sind die schiefen W\u00e4nde mich einander von links nach rechts entstanden; nur die letzte trifft auf den Rand. Dies kommt bei Gelidium und einigen anderen Florideen vor.\nI\nFig. tl.\nDas peripherische Dickenwachsthum geschieht durch Thei-lung der Aussenzellen. Wenn die scheidewandbildenden Elemente derselben in den zur Oberfl\u00e4che parallelen Ebenen gleichm\u00e4\u00dfig vertheilt sind, so erfolgt entweder Theilung vermittelst einer mit der Au\u00dfenfl\u00e4che parallelen Wand in eine Innenzelle und eine neue Aussen zelle, oder Halbirung vermittelst einer auf der Aussenfl\u00e4che rechtwinklig aufsitzenden Wand in zwei neue Aussenzellen; die\nDu re h sch n it 1 sar sichten sind die n\u00e4mlichen wie in Fig. 20 a und b._\nIst aber Differenzirung in den mit der Oberfl\u00e4che parallelen Ebenen emgetreten, so bilden sich schiefe Theilungsw\u00e4nde, welche meistens entweder \u00e4ussere Kanten oder \u00e4ussere Ecken abechneiden; die Durchschnittsansichten gleichen den in Fig. 20 c und d gezeichneten Aus einer Aussenzelle geht durch eine Folge von 2 bis 4 solchen\nschiefen Theilungen eine von 2 bis 4 Aussenzellen bedeckte Innenzelle hervor.\nDie geschilderten Differentirungen in den Rand- und in den Aussensellen treten vorz\u00fcglich bei Algen auf. und vielleicht suent","page":392},{"file":"p0393.txt","language":"de","ocr_de":"393\nVII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiche\u00ab.\nbei der Bildung von Anfangszeilen seitlicher Organe. Bei einer grossen Gruppe der Florideen erfolgt die Gewebebildung fast ausschliesslich durch solche schiefe Zelltheilungen, welche hier bestimmt von der Verzweigung einfacherer Formen vererbt worden sind (S. 372\u2014735).\nIch habe bis jetzt die Differenzirung der Zellen mit R\u00fccksicht auf die Lage der l>ei der Theilung entstehenden Scheidewand betrachtet, wodurch die Gestalt und die Stellung der Geschwisterzellen bedingt wird. Die aus der Theilung hervorgegangenen Zellen werden ai*v,h in verschiedenen anderen Beziehungen mehr oder weniger ungleich. Die n\u00e4chst liegende Eigenschaft, welche der Differenzirung unterliegt, ist die Dauer und Theilungsf\u00e4higkeit der Zellen. Der Vorgang l\u00e4sst sich am einfachsten bei der Klasse der Nostochinen verfolgen.\nGewisse einzellige Chroococcaceen werden, indem die Zellen nach der Theilung vegetativ in Vereinigung bleiben, phylogenetisch zu einem einreihigen Faden (vgl. Ges. I S. 367), dessen Glieder auf der ersten Stuie vollkommen ihre fr\u00fchere Theilungsf\u00e4higkeit bewahrt haben; alle Zellen eines Fadens wachsen und theilcn sich in der n\u00e4mlichen Weise; der Faden verl\u00e4ngert sich unbegrenzt (Nostocha-eeen). Die erste Differenzirung besteht darin, dass die beiden End zellen eines Fadens etwas lebhafter wuchsen und sich theilen als die \u00fcbrigen Zellen, also gleichsam Scheitelzellen darstellen ; die \u00fcbrigen Zellen sind in dem unbegrenzt sich verl\u00e4ngernden Faden vollkommen gleich; bricht derselbe entzwei, so nehmen die Endzeilen die angegebene Natur von Scheitelzellen an (Oscillariaceen)1).\nEine fernere Differenzirung trifft die zwischen den Enden befindlichen Fadenst\u00fccke. Die beiden Scheitelzellen zeichnen sich\n*) Man mochte vielleicht geneigt sein, das etwas st\u00e4rkere Wachsthnm der Endsellen bei Oscillaria als eine Folge der Wassereinwirknng, somit als Anpassung zu betrachten. Allein die Thatsachen, dass bei den Nostochaceen die Enden sich nicht von den \u00fcbrigen Theilen des Fadens unterscheiden, dass bei den \u00f6cyto-nemaceen das Wachsthnm der Enden game ausserordentlich gefordert ist, und dass l>ei den Rivnlariaceen die Enden ein vermindertes und bald ersterbendes Wachsthum zeigen, \u2014 dass also bei so nahe verwandten Familien der Wachs-thums\u00fcberschuss der Enden bald in ungleichem Grade positiv, bald negativ und bald null ist, \u2014 beweisen wohl deutlich, dass hier innere Ursachen maassgebend sein m\u00fcssen.","page":393},{"file":"p0394.txt","language":"de","ocr_de":"394 VIL Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.\ndann noch deutlicher durch st\u00e4rkeres Wachsthum uhd h\u00e4ufigere Theiiung aus ; nach r\u00fcckw\u00e4rts von denselben vermindert sich Wachs-thura und Theilungsf\u00e4higkeit allm\u00e4hlich und h\u00f6rt in einer gewissen Entfernung ganz auf. Hat der Faden eine gr\u00f6ssere L\u00e4nge erreicht, so besitzt er innerhalb der beiden vegetirenden Enden, die aus der Scheitelzelle, einer durch intercalate Theiiung wachsenden und einer ausgewachsenen Partie bestehen, ein abgestorbenes Mittelstack. Da sp\u00e4terhin der Faden in zwei F\u00e4den zer&llt, so gewinnt es den Anschein, als ob jeder derselben ein unteres und ein oberes Ende besitze (Scytonemaceen).\nIn der Klasse der Nostochinen erf\u00e4hrt diese Differenzirung keine weitergehende Steigerung. Dagegen tritt sie noch bestimmter bei manchen Confervolden auf, bei denen ausser der unbegrenzt wachsenden und sich vermehrenden Scheitelzelle je die obersten Gliederzellen sich bloss noch einige Male theilen. Bei den Characeen ist das mtercalare L\u00e4ngenwachsthum durch Zellenbildung auf ein Minimum beschr\u00e4nkt, indem die durch Theiiung der Scheitelzelle abgeschnittene prim\u00e4re Gliederzelle sich bloss einmal durch eine horizontale Wand in zwei secund\u00e4re Gliederzellen theilt H\u00f6rt auch diese Theiiung auf, so hat die Differenzirung ihr Maximum erreicht und das Scheitelwachsthum bleibt ausschliesslich auf die Theiiung der Scheiielzelle beschr\u00e4nkt, wie dies bei den Florideen so charakteristisch der Fall ist. \u2014 Dieses Ziel wird auch auf einem anderen phylogenetischen Wege, n\u00e4mlich durch Vegetativwerden der durch Sprossung entstehenden Keimzellen erreicht (Ges. H S. 336).\nEine andere, gewissermaassen gegentheilige Differenzirung tritt in dem urspr\u00fcnglichen aus ganz gleichen Zellen bestehenden Faden dadurch auf, dass Wachsthum und Zelltheilung in dem oberen Fadenende tr\u00e4ger werden und dann ganz aufh\u00f6ren ; dieses Ende wird zugleich d\u00fcnner und seine Zellen, die sich nicht mehr theilen, strecken sich in die L\u00e4nge, so dass der Faden in eine haarf\u00f6rmige Spitze ausgeht. Das Aufh\u00f6ren der Zelltheilung, die Streckung der Zellen und das Absterben derselben schreitet in basipetaler Richtung fort (Rivulariaceen, verschiedene Confervolden).\nDiese Differenzirung geht noch einen Schritt weiter, indem der Uebergang der Zellen in den Dauerzustand nicht bloss von der Spitze abw\u00e4rts, sondern auch von der Basis aufw\u00e4rts fortschreitet, so dass nur die Partie dos Fadens, welche unterhalb der haar-","page":394},{"file":"p0395.txt","language":"de","ocr_de":"VII. Phylogenetisch\u00ab* Entwicklnngsgesetic des PfUnsenreiches. 395\nf\u00f6rmigen Spitze sich befindet, in fortdauernder Zelltheilung verharrt (Ectoearpus).\nDie er\u00f6rterten phylogenetischen Erscheinungen, die mit dem Wachsthum durch Zelltheilung verbunden sind, geh\u00f6ren einem ganz allgemeinen Differenzirungsvorgang an. Bei den niedrigsten Pflanzen sind alle Lebensfunctionen in Einer Zelle vereinigt. Die zuerst beginnende Differenzirung scheidet die vegetativen und die reproduc-tiven Processe, welche in den Abetammungslinien immer strenger auf verschiedene Zellen verthult werden. Eine andere etwas spftter auftretende Differenzirung, die ebenfalls nach und nach scharfer ausgepr\u00e4gt wird, scheidet die gesammte Vegetation in zwei Sph\u00e4ren, die wir als Assimilation und Wachsthum bezeichnen k\u00f6nnen. Die Vegetation hat nftmlich im grossen und ganzen zwei Aufgaben zu erf\u00fcllen :\n1.\tDie von aussen aufgenommenen Nahrungsstoffe in eine f\u00fcr den pflanzlichen Organismus verwendbare Form \u00fcberzuf\u00fchren: hie-her geh\u00f6rt Aufnahme, Umsetzung, Transport, Ausscheidung. '\n2.\tDie a88imilirten Verbindungen f\u00fcr den Aufbau zu verwenden, indem aus den molecular gel\u00f6sten Stoffen molecular unl\u00f6sliche Verbindungen gebildet und als Micelle eingbordnet werden: hieher geh\u00f6rt das Wachsthum des Idioplasmas, des Emfibrungsplasmas und der nicht plasmatischen Substanzen.\nDie Scheidung in Assimilation und Wachsthum beginnt schon bei einzelligen Pflanzen; sie bewirkt hier die Sprossung, indem, wahrend die ganze \u00dcbrige Zelle assimilirt, das Wachsthum auf einen peripherischen Punkt concentrirt wird. Das Andauern dieser Scheidung verursacht die Bildung der r\u00f6hrenf\u00f6rmigen, mit Scheitelwachsthum begabten Zellen (Siphoneen) und die Bildung der durch ausschliessliche Theilung der Scheitelzelle ausgezeichneten niederen Florideen (Callithamnieen). Diese Scheidung geht als Erbtheil auf die h\u00f6heren Pflanzen \u00fcber, wo sie zun\u00e4chst den Gegensatz des mit achsthum begabten Scheitels und der assimilirenden, unter der Scheitelregion befindlichen Partien bedingt. Daraus erkl\u00e4rt sich die Erscheinung, dass die normale Bildung der seitlichen Organe des Stengels auf die Scheitelregion desselben beschrankt ist, und dass die st\u00e4rksten und wichtigsten seitlichen Organe (die Bl&tter sammt den Axillarknospen) ausschliesslich in akropetaler Folge entstehen. Dies betrifft das Wachsthum im allgemeinen ; die verschiedenen","page":395},{"file":"p0396.txt","language":"de","ocr_de":"396 VII. Phylogenetisch\u00ab Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.\nModificationen desselben gehen aus weiteren untergeordneten Diffe-renzirungen hervor.\nBis jetzt suchte ich die Art und Weise klar zu legen, wie die r\u00e4umliche Differenzirung erfolgt: An die Stelle der neben einander befindlichen gleichartigen Theile treten ungleichartige, welche zusammen dio Eigenschaften jener besitzen. Das Zustandekommen dieses Processes setzt voraus, dass die sich differenzirenden Theile auf einander einwirken, dass sie somit unter einander in Vorbindung stehen. Meistens liegen dieselben unmittelbar neben einander, und dann ist kaum ein Zweifel \u00fcber die Bedeutung des Vorganges m\u00f6glich. Man darf aber wohl annehmen, .dass die Differenzirung auch ein-treten kann, wenn die Theile an dem n\u00e4mlichen Individuum weiter von einander entfernt sind, weil ja die Differenzirung im Idioplasma geschieht und dieses durch den ganzen Organismus in dynamischer Verbindung steht. In diesem Falle wird die Bedeutung des phylogenetischen Vorganges sich leicht der Erkenntniss entziehen.\nBez\u00fcglich des weiteren Schicksals der differenzirten Theile k\u00f6nnen wir uns einmal die Frage stellen, ob dieselben, wie sie unter gegenseitiger dynamischer Einwirkung zn Stande gekommen sind, auch nur unter gegenseitiger Einwirkung, also nur gemeinsam, oder ob sie auch getrennt sich weiter zu entwickeln und zu entfalten verm\u00f6gen. Dies h\u00e4ngt offenbar von der Beschaffenheit ihrer Eigenschaften ab. K\u00f6nnen diese unabh\u00e4ngig von einander bestehen, so entfalten sich die idioplasmatischen Anlagen, nachdem sie sich geschieden haben, selbst\u00e4ndig, und setzen auch ihre Weitere Entwicklung in selbst\u00e4ndiger Weise fort. Es kann somit von zwei urspr\u00fcnglich zusammengeh\u00f6rigen und durch Differenzirung geschiedenen Eigenschaften jede sich eigenartig weiter ausbilden und ebenso f\u00fcr sich zur Entfaltung gelangen, indess die andere latent bleibt. Dadurch geht der Anschein der Zusammengeh\u00f6rigkeit und des gemeinsamen Ursprungs verloren, und es ist nur dann m\u00f6glich, diesen Ursprung nachzuweisen, wenn alle phylogenetischen Uebergangsstufen der Beobachtung zug\u00e4nglich sind.\nEs gibt andere Eigenschaften, welche, gleich wie sie gemeinsam entstanden sind, auch stetsfort nur gemeinsam sich weiter entwickeln und auch nur gemeinsam zur Entfaltung gelangen k\u00f6nnen. Dies","page":396},{"file":"p0397.txt","language":"de","ocr_de":"VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 397\nist dann der Fall, wenn sie nicht \u00fcber eine ontogenetische Periode hinaus unabh\u00e4ngig von einander su bestehen verm\u00f6gen, sondern periodisch wieder in Beziehung zu einander, gewissermaassen zu einer Vereinigung kommen m\u00fcssen, um sich von neuem zu scheiden. Die Trennung der Geschlechter gibt uns ein Beispiel hief\u00fcr und wir finden dies nicht unbegreiflich, wenn gem\u00e4ss der von mir ausgesprochenen Vermuthung die Trennung in einer Scheidung der beiden hlektricit\u00e4ten besteht. Geschlechtliche Trennung und Vereinigung findet naturgemftss in jeder Ontogenie einmal statt.\nDie Vereinigung der Geschlechter tritt je im Momente des Ueber-ganges von einer Ontogenie in die folgende ein. Die Scheidung derselben aber ist nicht an einen bestimmten Zeitpunkt gebunden; sie kann in einem fr\u00fchem oder sp\u00e4teren Stadium erfolgen. Urspr\u00fcnglich, d. h. auf der untersten phylogenetischen Stufe einer Reihe, findet die Differenzirung zwischen eben den Zellen statt, die sich dann als Geschlechtszellen mit einander vereinigen. Die Elterzelle ist geschlechtslos; von den in derselben entstehenden Zellen sind die einen m\u00e4nnlich, die anderen weiblich (Hydrodictyon, Botry-dium, Endosphaera, Chlorochytrium). Auf der n\u00e4chst h\u00f6heren Stufe geschieht die geschlechtliche Scheidung zwischen den Elterzellen der Geschlechtszellen und gibt sich dadurch kund, dass die einen Zellen nur m\u00e4nnliche, die anderen nur weibliche Fortpflanzungszellen erzeugen (Ulothrix,Acetabularia,Oedogoniumpart.,Volvoxu.A.). Auf einer noch h\u00f6heren Stufe sind schon vielzellige Organe des n\u00e4mlichen Pflanzenstockes geschlechtlich getrennt, wie die Sporangien der h\u00f6chsten Gef\u00e4sscryptogamen, von denen die einen Androsporen, die andern Gynosporen enthalten, ferner die Staubgef\u00e4sse und Carpelle der Phanerogamen.\nDer letzte Schritt in dieser phylogenetischen Stufenleiter vollzieht sich dadurch, dass die Individuen selbst geschlechtlich geschieden werden. Ein solches geschlechtliches Individuum kann sich auf geschlechtslosem Wege vermehren und in dieser Weise eine ganze Reihe von Generationen innerhalb derselben Ontogenie durchlaufen. Ich f\u00fchre als Beispiel die aus abgeschnittenen Zweigen erwachsenen Weiden und Pappeln an ; eine grosse Zahl von Trauerweiden, ebenso von italienischen Pappeln, die in Europa fast ausschliesslich in m\u00e4nnlichen Exemplaren Vorkommen, geh\u00f6rt der n\u00e4mlichen Ontogenie an. Zur Erzeugung eines Embryos aber ist die geschlechtliche","page":397},{"file":"p0398.txt","language":"de","ocr_de":"398 VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze dee Pflanzenreiches.\nNeutralisinmg vermittelst der Vereinigung von m\u00e4nnlichen und weiblichen Fortpflanzungszellen erforderlich. Unmittelbar nach der Befruchtung besitzt auch das Product derselben schon wieder einen bestimmten, m\u00e4nnlichen oder weiblichen, Charakter').\nDiese phylogenetische Stufenfolge zeigt uns jedenfalls, dass die Organismen das Bestreben haben, auch die geschlechtlichen Eigenschaften selbst\u00e4ndiger zu machen. Denn die ungeschlechtliche, der Geschlechtsdifferenzirung vc rausgehende Partie der ontogenetischen Periode wird immer k\u00fcrzer. Zuletzt dauert sie nur noch einen Augenblick, indem mit der Vereinigung der von Vater und Mutter kommenden m\u00e4nnlichen und weiblichen Zellen auch das Geschlecht des Kindes entschieden ist. Als ein weiterer Schritt in dieser Richtung ist die Parthenogenesis anzusehen, bei welcher die weiblichen Fortpflanzungszellen das Verm\u00f6gen erlangt haben, ohne Ausgleichung mit einer m\u00e4nnlichen Zelle eine neue Ontogenie einzuleiten und die Generationenreihe fortzusetzen. Auch die Apogamie* *) der h\u00f6heren\n*) Die Beobachtungen, welche daf\u00fcr angef\u00fchrt werden, dass das Geschlecht nicht schon bei der Bildung des Keims, sondern erst sp\u00e4terhin durch ftnssere Einfl\u00fcsse bestimmt werde, lassen slhmsehr eine exacte experimentelle Behandlung vermissen, um gegen\u00fcber den andern Gr\u00fcnden und Erfahrangsthatsachen Ber\u00fccksichtigung su verdienen. Die 8cheidung des Geschlechts besteht im Idio-plasma, in welchem sich die m\u00e4nnliche und weibliche Anlage befindet. Bei den hermaphroditischen und einh\u00e4usigen Pflanzen sind beide Anlagen entfaltungsstet; nur stehen sie bei den enteren und letzteren mit ungleichen anderen Anlagen in Verbindung. Bei den sweihlusigen (eingeschlechtigen) Pflanzen ist nur die eine geschlechtliche Anlage entfaltungsf\u00e4hig, die andere bleibt latent Beim phylogenetischen Uebeigang von der Einh\u00e4uaigkeit zur Zweih\u00e4usigkeit befindet sich die eine Geschlechtsanlage, vor dem v\u00f6lligen Latentwerden, zuerst in einem geschw\u00e4chten Zustande und vermag bloss unter g\u00fcnstigen innem und \u00e4uasern Umst\u00e4nden sich zu entfalten, so dass die m\u00e4nnliche Pflanze auch einzelne weibliche Bl\u00fcthen hervorbringen kann und umgekehrt\n*) Unter dem neuen Namen Apogamie (Geschlechtsverlust) werden zwei Erscheinungen vereinigt, die in physiologischer und phylogenetischer Beziehung sich verschieden verhalten:\n1. die Parthenogenesis, bei welcher die weibliche Zelle, ohne befrachtet zu werden, entwicklungsf\u00e4hig ist;\n8. die vegetative Wucherung mit geschlechtsloser Vermehrung, wobei die Geschlechtszellen entweder gar nicht gebildet oder, wenn vorhanden, functionslos werden. Diese Erscheinung tritt infolge des den Pflanzenz\u00fcchtem l\u00e4ngst be kannten Wechselverh\u00e4ltnisses zwischen geschlechtlicher und ungeschlechtlicher Fortpflanzung ein und geh\u00f6rt sehr wahrscheinlich bloss de. Cultur an. Die merkw\u00fcrdigsten F\u00e4lle sind diejenigen, wo die vegetative Wucherung in unmittelbarer N\u00e4he neben den steril bleibenden oder ganz geschwundenen Geschlechtszellen","page":398},{"file":"p0399.txt","language":"de","ocr_de":"VH Phylogenetische Entwicklungsgesetz des Pflansenreiches. 399\nPik\u00a9 (de Bary). denen sich Organe bilden, die den Geschlechtsorganen analog sind, aber keinen Befruchtungsact vollziehen, ist vielleicht als eine \u00e4hnliche weitere Stufe zu betrachten, aber physiologisch noch nicht sicher zu deuten.\nEine andere Erscheinung, die das weitere phylogenetische Schicksal der differenzirten Theile betrifft, ist die, dass zu den Eigenschaften, die urspr\u00fcnglich sich geschieden haben, sp\u00e4ter noch andere ungleiche Eigenschaften sich gesellen und dass diese ungleiche Ausbildung nicht bloss die Theile selbst trifft, um die es sich bei der Differenzirung eigentlich handelt, sondern gleichsam mit r\u00fcckwirkender Kraft auch diejenigen Theile, von denen sie erzeugt werden. Am besten l\u00e4sst sich diese Erscheinung bei der geschlechtlichen Differenzirung nachweisen, weil die geschlechtlichen Eigenschaften so charakteristisch sich von den andern Merkmalen unterscheiden. Nicht nur die m\u00e4nnlichen und weiblichen Fortpflanzungszellen weiden in der phylogenetischen Reihenfolge immer ungleicher, sondern es tritt dies auch bei den Elterzellen derselben ein (Oedogonium etc.), bei den ganzen erzeugenden Organen (Phanerogamen) und bei den geschlechtlich geschiedenen Individuen (einige Pflanzen, fast alle Thiere). Wenn ich von R\u00fcckwirkung gesprochen habe, so besteht dieselbe nur scheinbar. Die geschlechtliche Differenzirung ist ja als Anlage im Idioplasma enthalten und somit in allen Theilen und allen Entwicklungsstadien vorhanden. Aber ihre Entfaltungsf\u00e4higkeit ist urspr\u00fcnglich beschr\u00e4nkt, ihr Gebiet wird dann nach und nach gr\u00f6sser, und an die geschlechtlichen Eigenschaften schlossen sich theils infolge anderweitiger Differenzirungen, theils infolge anderweitiger phylogenetischer Vorg\u00e4nge fernere Verschiedenheiten an.\nDurch die zeitliche Differenzirung werden die von abstammenden Theile in ihren auf einander folgenden Generationen ungleich. Die geringste Ver\u00e4nderung besteht darin, dass eine Function, die auf fr\u00fcheren phylogenetischen Stufen in ihrer Richtung unbestimmt war, auf einer sp\u00e4teren Stufe in den successiven Genera-\nerfolgt, wie im Embryoeack der Phanerogamen (8trasbniger) oder auf dem Pro* thallium der Farne (de Bary).\nOb die Apogamie der Pilz rar ersten oder tweiten Kategorie ra s\u00e4hlen sei, taut sich noch nicht entscheiden.","page":399},{"file":"p0400.txt","language":"de","ocr_de":"400 VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.\ntionen bestimmt ist, was sich sehr deutlich an der Zelltheilung nachweisen l\u00e4sst. Ls gab jedenfalls in jeder der verschiedenen phylogenetischen Reihen, die mit der Urzeugung begannen, eine Stufe, auf welcher die Richtung der Scheidewand bei der Zweitheilung bloss durch \u00e4ussere Kr\u00e4fte beeinflusst wurde. Die Bedingungen f\u00fcr eine solche noch ganz undifferenzirte Zelle sind offenbar eine kugelige Gestalt und eine auf den verschiedenen Radien gleiche Verkeilung von Kr\u00e4ften und Stoffen. Wenn eine solche Zelle sich theilt, so kann die Theilungsrichtung nicht durch innere Ursachen bestimmt sein.\nDie erste Differenzirung erfolgt nun in der Weise, dass die auf die Bildung der Scheidewand einwirkenden Verh\u00e4ltnisse in der Zelle eine zur vorausgehenden Theilungsrichtung bestimmte Lage annehmen. W\u00e4hrend auf der fr\u00fcheren Stufe alle durch den Mittelpunkt geiegten ebenen f\u00fcr die Wandbildung gleich g\u00fcnstig gestimmt waren, besitzt jetzt bloss noch eine Ebene diese g\u00fcnstige Stimmung; alle anderen sind dazu nicht bef\u00e4higt. Es ist selbstverst\u00e4ndlich, dass diese Differenzirung nur mit R\u00fccksicht auf die vorausgehende Theilung erfolgen kann, weil durch diese selbst die Stoffe und Kr\u00e4fte in einer bestimmten Weise gerichtet werden. Hat dieser Vorgang eine Nachwirkung, so ist die nothwendig sich ergebende Theilungsrichtung entweder senkrecht auf die vorausgehende oder parallel zu derselben.\nDer geringste Grad der Differenzirung, der am wenigsten von der vollst\u00e4ndigen Unbestimmtheit der fr\u00fcheren Stufe abweicht, besteht darin, dass die Theilungsebenen der auf einander folgenden Generationen sich rechtwinklig schneiden und in den drei Richtungen des Raumes wechseln, so dass die vierte mit der ersten parallel l\u00e4uft. Die Differenzirung wird bestimmter, indem die sich rechtwinklig schneidenden W\u00e4nde in zwei Richtungen mit einander wechseln, so dass einerseits die Generationen mit geraden Ziffern, andrerseits diejenigen mit ungeraden Ziffern in der Theilungsrichtung \u00fcbereinstimmen. Noch bestimmter scheidet sich die scheidewandbildende Richtung in der Zelle aus, wenn sie in allen Generationen die n\u00e4mliche bleibt. Diese Verh\u00e4ltnisse lassen sich bei einzelligen Pflanzen bloss dann sicher entscheiden, wenn die Zellen nach stattgefundener Theilung sich nicht von einander trennen, sondern zu Colonien verbunden bleiben. Sie liegen dann entweder w\u00fcrfelf\u00f6rmig beisammen wie bei Chroococcus, Gloeocapsa, Sarcine u. a., oder in einschichtigen T\u00e4felchen wie bei Merismopedia, Gonium u. a., oder in einreihigen","page":400},{"file":"p0401.txt","language":"de","ocr_de":"VH. Phylogenetische Entwicklungagesctze des Pflanzenreiche\u00ab. 401\nF\u00e4den wie bei Gloeothece, Bacterium, bei einigen Diatomeen, Desmi-diaceen und Palmellinen. Fig. 22 a u. b zeigen einreihige Colonien mit gleichbleibender Theilungsrichtung, Fig. 22 c\u2014g eine einschichtige Colonie mit zwei alternirenden Theilungsrichtungen. \u2014 Ein-\nn\u00bb. n.\nzellige Pflanzen, bei denen die Theilungsrichtung noch nicht idio-plasmatisch bestimmt w\u00e4re, sondern von \u00e4usseren Einfl\u00fcssen bedingt w\u00fcrde, sind nicht bekannt; denn die scheinbar unregelm\u00e4ssigen Zusammenlagerungen der Zellen kommen durch Verschiebung zu Stande.\nDie besprochene Differenzirung zwischen den Theilungsrichtungen der auf einander folgenden Generationen geschieht \u00fcbrigens, wie alle Differenzirung, m\u00f6glichst allm\u00e4hlich. Damit ist nicht gesagt, dass die Theilungsebenen durch Mittelstellungen in einander \u00fcbergehen, sondern dass der Wechsel zwischen den verschiedenen Stellungstypen zuerst unregelm\u00e4ssig auftritt und erst nach und nach zu einer constanten Regelm\u00e4ssigkeit gelangt. Der Uebergang durch mittlere schiefgestellte Theilungsw\u00e4nde erscheint als eine mechanische Unm\u00f6glichkeit, da die Ver\u00e4nderung des Idioplasmas bei schiefwinkligem Wechsel offenbar gr\u00f6sser sein m\u00fcsste als bei rechtwinkligem Wechsel. Die Erfahrung best\u00e4tigt die hier ausgesprochene theoretische Behauptung, indem die Zusammenordnung in den Colonien einzelliger Pflanzen in gewissen F\u00e4llen wohl die unregelm\u00e4ssige Folge der rechtwinkligen Kreuzung, aber nicht eine schiefe Stellung der Scheidew\u00e4nde darthut.\nN\u00e4gel 1, AbeUmmungelehre.\n26","page":401},{"file":"p0402.txt","language":"de","ocr_de":"402 VH. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiche\u00ab.\nDer Fortschritt von solchen einzelligen Pflanzen, bei denen die Zelltheilung in allen drei Richtungen des Raumes regelm\u00e4ssig abwechselt, zu solchen, wo der Wechsel bloss in zwei Richtungen statthat, muss also in der Weise gedacht werden, dm\u00ab die Theilungen in der dritten Richtung nach und nach seltener werden und zuletzt ganz unterbleiben. Auf einem analogen Wege kann aus einer Pflanze der ersten Art sich eine solche herausbilden, bei welcher die Zelltheilung nur in einer Richtung erfolgt, indem die Theilungen in den zwei andern Richtungen allm\u00e4hlich sp\u00e4rlicher eintreten und endlich ganz aufh\u00f6ren. Es wird n\u00e4mlich in Folge der sich langsam vollziehenden Differenzirung im Idioplasma die Zelltheilung in den einen Richtungen immer mehr beg\u00fcnstigt und diejenige in den \u00fcbrigen Richtungen in den latenten Zustand verwiesen.\nMan k\u00f6nnte vielleicht zu der Ansicht geneigt sein, dass die Theilung mit gleichbleibender Richtung die einfachere und urspr\u00fcnglichere sei und dass die Theilung mit wechselnder Richtung (in 2 oder 3 Dimensionen des Raumes) die complicirtere und abgeleitete sein m\u00fcsse. Eine solche Meinung k\u00f6nnte man aber nur dann fest-halten wollen, wenn man die genannten Theilungen bloss f\u00fcr sich betrachtet und dieselben gleichsam auf einer tabula rasa beginnen l\u00e4sst. Wir d\u00fcrfen eine phylogenetische Et'scheinung jedoch nur mit R\u00fccksicht auf die ihr vorausgehenden Zust\u00e4nde, aus denen sie entsprungen ist, beurtheilen. Diese Zust\u00e4nde bestanden nun ihrem Wesen nach darin, dass die Zellen sich in ganz gleiche H\u00e4lften theilten; dabei war die Theilung srichtung unbestimmt, was mit der noch sehr einfachen und wenig bestimmten Anordnung der Kr\u00e4fte zusammenhing. Als diese Anordnung complicirter und bestimmter wurde, stellte sich auch allm\u00e4hlich ein Unterschied zwischen den beiden H\u00e4lften einer Zelle, der alten, von der Elterzelle geerbten, und der neuen, nach der Theilung zugewachsenen, heraus. W\u00e4re nun die Theilung zwischen der alten und neuen H\u00e4lfte, also parallel der fr\u00fcheren Theilung erfolgt, so w\u00e4ren die zwei sich bildenden Geschwisterzellen unter einander ungleich gewesen. Die Theilung in zwei gleiche H\u00e4lften war nur m\u00f6glich, wenn die Scheidewand die alte und die neue H\u00e4lfte halbirte, also senkrecht zu der n\u00e4chst vorausgehenden gerichtet war. Aus dem gleichen Grunde musste die folgende Theilung rechtwinklig auf ihren beiden Vorg\u00e4ngerinnen stehen. \u2014 Erst von diesen Zust\u00e4nden aus konnte dann","page":402},{"file":"p0403.txt","language":"de","ocr_de":"VU. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 403\ndurch noch weiter gehende Differenzirung die Theilungzrichtung in einer und nachher in zwei Richtungen verloren gehen und der\nscheinbar einfachste Fall, die Theilung mit gleichbleibender Richtung eintreten.\nEine andere Art der zeitlichen Differenzirung betrifft die Dauer der auf einander folgenden Generationen. Am einfachsten stellt sich dieselbe bei einzelligen Pflanzen dar. Auf der unteren Stufe ist die Dauer der Generationen gleich gross; geschieht die Fortpflanzung durch Theilung, so wachsen die Kindzellen stets zum Volumen und rar Form der Elterzellen heran, ehe sie sich von neuem theilen (Chroococcaceen, viele Palmellinen). Dann tritt Ungleichheit ein, indem die einen Generationen ihre Lebensdauer verk\u00fcrzen, die andern sie verl\u00e4ngern; diejenigen mit k\u00fcrzerer Dauer erlangen auch eine geringere Gr\u00f6sse. Die Differenzirung erreicht den h\u00f6chsten Grad, indem, im Gegensatz zu einer einzigen, langlebigen und wachsthum* f\u00e4higen Generation, eine ganze Reihe von Generationen eine sehr kurze Dauer und kein Wachsthum besitzt.\nEs theilt sich beispielsweise bei Cystococcus eine kugelige Zelle in zwei halbkugelige, diese sogleich wieder in zwei, und die Theilung wiederholt sich sofort noch mehrmals, ohne dass die Zellen der auf einander folgenden Generationen eine Ver\u00e4nderung in der Gr\u00f6sse, Gestalt und im Inhalt erfahren. Die Theilung h\u00f6rt auf, wenn inner-\nFl*. 13.\nhalb der Membran der urspr\u00fcnglichen kugeligen Zelle eine grosse Menge von kleinen Zellen eingeschlossen ist. Diese Individuen der letzten Generation haben sich also in den Raum und die Substanz","page":403},{"file":"p0404.txt","language":"de","ocr_de":"404 VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.\ndes Ahnenindividuuras getheilt. Dieselben werden dann frei und trennen sich von einander, worauf jede allm\u00e4hlich zu der urspr\u00fcnglichen Form und Grosse heran w\u00e4chst; und nach l\u00e4ngerer Dauer beginnt in ihr, als Ausgang einer neuen Reihe, wieder der Theilungs-process. Die beistehende Figur (23 ar\u2014f) zeigt den geschilderten Vorgang; a, b, c, d sind successive Theilungszust\u00e4nde; in e ist die Theilung beendigt und die Zellen der letzten Generation haben sich bereits von einander losgel\u00f6st und abgerundet; f successive Wachsthumszust\u00e4nde einer Zelle der Uebergangsgeneration. Zur Vergleichung sind in g, h, i drei Generationen einer einzelligen Alge, bei der die Differenzirung noch nicht eingetreten ist, dargestellt. Bei der letzteren sind die Individuen durch weiche Gallertmembranen mit einander verbunden; mit der Zunahme der Zellen wird die Gallertkugel in entsprechendem Maasse gr\u00f6sser.\nBei dieser Differenzirung tritt die Individualit\u00e4t der Reihengenerationen mehr und mehr zur\u00fcck; zuletzt erscheint die ganze Reihe der Wiederholungsgenerationen bloss als der Fortpflanzungsakt der langlebigen Uebergangsgeneration. Die zeitliche Differenzirung hat in diesem, wie in andern F\u00e4llen, den n\u00e4mlichen Erfolg, der dem phylogenetischen Organisationsprocess \u00fcberhaupt zukommt, dass n\u00e4mlich die individuellen und selbst\u00e4ndigen Erscheinungen der untern Stufe Theile des Individuums der h\u00f6heren Stufe werden.\nDie Beispiele f\u00fcr die zeitlichen Differenzirungen, die ich angef\u00fchrt habe, sind alle den einzelligen Pflanzen entnommen, weil der Vorgang hier nicht durch andere Erscheinungen verdunkelt wird. Auch bei den mehrzelligen Pflanzen kommen ohne Zweifel Differenzirungen zwischen den auf einander folgenden Generationen der Zellen und der Organe, also zwischen verschiedenen Entwicklungsstadien vor. Allein die Processe sind auf diesem Gebiete nicht leicht klar zu legen, weil die bestehenden Ungleichheiten meistens schon geerbt sind und weil Ort und Zeit, sowie die Art und Weise ihres Entstehens wegen der L\u00fccken in den A hfitammungaTBihan\nund wegen Mangels an sicherem Beobachtungsmaterial verborgen bleiben.\nDie Differenzirungen erfolgen, soweit es die Organisationsverh\u00e4ltnisse erlauben, ganz allm\u00e4hlich, so dass von dem undifferen-","page":404},{"file":"p0405.txt","language":"de","ocr_de":"VH. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanienreidies.\n405\nzirten Zustande bis zu einem hohen Grade der Differenzirung alle Uebergangsstufon durchlaufen werden. Die Mittel hierzu werden, wenn sie nicht ohnehin vorhanden sind, durch die Vermehrung der Theile geliefert, welche vorg\u00e4ngig oder gleichzeitig eintritt (Gesetz V, S. 380). Es befinden sich daher bei der r\u00e4umlichen Differenzirung zwischen den beiden Extremen zahlreiche Uebergangsbildungen ; und bei der zeitlichen Differenzirung folgen diese Uebergangsbildungen durch Abstammung auf einander. Dieser Umstand gibt nun zu einem neuen phylogenetischen Process Veranlassung, zu der Reduction der differenzirten Theile.\nVN. phylogenetisches Gesetz.\nDie durch Differenzirung ungleich gewordenen Theile erfahren eine Reduction, indem die Zwischen-bildu'ngen unterdr\u00fcckt werden, und zuletzt bloss die qualitativ ungleichen Gestaltungen mit qualitativ ungleichen Functionen erhalten bleiben.\nDie Reduction der differenzirten Theile erscheint auch, weil sie die Ueberg&nge unterdr\u00fcckt und die st\u00e4rksten Gegens\u00e4tze r\u00e4umlich oder zeitlich unmittelbar neben einander bringt, als eine bestimmtere Differenzirung, l\u00e4sst sich aber aus dem Gesetz der Differenzirung allein nicht erkl\u00e4ren.\nDie drei phylogenetischen Processe: die intercalare Ampliation der Ontogenie (V), die Differenzirung (VI) und die Reduction (VH) wirken in der Art, dass der erste die Theile quantitativ vermeint, der zweite sie qualitativ ver\u00e4ndert und der dritte sie quantitativ vermindert, so dass statt der urspr\u00fcnglich beschr\u00e4nkten Zahl von gleichen Theilen zuletzt eine ebenfalls beschr\u00e4nkte Zahl von ungleichen Theilen vorhanden ist. Der h\u00f6chste und letzte Organisationszustand, der durch Wiederholung der drei phylogenetischen Processe erlangt wird, ist eine m\u00f6glichst grosse Zahl von qualitativen Ungleichheiten in einer m\u00f6glichst geringen Zahl von Theilen.\nWenn ein Organ bei einer Pflanze in geringer, bei einer anderen in gr\u00f6sserer Zahl vorhanden ist, so kann die Deutung dieses Verh\u00e4ltnisses zweifelhaft sein. Die gr\u00f6ssere Zahl zeigt m\u00f6glicher Weise einen phylogenetischen Fortschritt an, wenn sie als Ampliation eine neue Differenzirung einleitet. Es stellt aber m\u00f6glicher Weise auch die geringere Zahl die h\u00f6here Stufe dar, wenn sie die Folge","page":405},{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"406 VU. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.\ndes Reductionsprocesses ist. Es sind also in jedem Falle die beiden M\u00f6glichkeiten zu erw\u00f6gen. Wenn die gr\u00f6ssere Zahl keine beginnenden neuen Verschiedenheiten wahrnehmen l\u00f6set, so wird sie in der Regel als die tiefer stehende Stufe zu beurtheilen sein. Die kleinere Zahl ihrerseits kann um so eher als die h\u00f6here Entwicklung gelten, wenn mit ihr auch eine bessere morphologische Ausbildung und eine vollkommenere Function bemerkbar ist. Die Bedeutung der durch Reduction erlangten geringeren Zahl offenbart sich in sehr \u00fcberzeugender Weise im Thierreiche, wo die Organe nach oben hin an Zahl abnehmen und auf der h\u00f6chsten Stufe meistens bloss noch in der Einzahl oder Zweizahl vorhanden sind.\nDie Endresultate der Reductionsprocesse treten uns \u00fcberall im Pflanzenreiche entgegen, w\u00e4hrend die verschiedenen Stadien derselben nur selten bei verschiedenen Pflanzen noch erhalten sind. Doch gibt es einzelne F\u00e4lle, wo der Vorgang der Reduction sehr deutlich sich kundgibt.\nDie verschiedenen Blattformen der Phanerogamen waren urspr\u00fcnglich durch allm\u00e4hliche Uebergftnge verbunden. Es gibt jetzt noch Pflanzen, bei denen diese Ueberg\u00e4nge die L\u00fccken zwischen einzelnen Blattformen \u00fcberbr\u00fccken: zwischen Niederbl\u00e4ttem und Laubbl\u00e4ttem, zwischen Laubblflttem und Hochbl\u00e4ttern (Deckbl\u00e4ttern), zwischen diesen und den Kelchbl\u00e4ttern, zwischen Kelch- und Kron-bl\u00e4ttem, zwischen den letzteren und den Staubgef\u00e4ssen. So gehen bei den Cacteen die Hochbl\u00e4tter allm\u00e4hlich in die Kelch- und Blumenbl\u00e4tter, bei Nymphaea die Kelchbl\u00e4tter allm\u00e4hlich in die Blumenbl\u00e4tter und Staubgef\u00e4sse \u00fcber.\nDer phylogenetisch h\u00f6chste Organisationszustand ist erreicht, wenn die f\u00fcr den Lebensprozess nothwendigen Blattformen einerseits in geringster St\u00fcckzahl, andrerseits in gr\u00f6sster Ungleichheit und Vollkommenheit ohne Zwischenstufen neben einander liegen. So ist beispielsweise das Vorhandensein eines Blattkreises zwischen Blumenkrone und Staubgef\u00e4ssen oder eines Blattkreises zwischen Staubgef\u00e4ssen und Stempel nicht etwa als ein h\u00f6her stehender Bereicherungszustand, sondern als die tiefer stehende, einer noch nicht vollst\u00e4ndig gewordenen Reduction entsprechende Bildung zu betrachten.\nWenn der geschlossene rispige Bl\u00fcthenstand durch Differenzirung in den ungeschlossenen traubigen Bl\u00fcthenstand \u00fcbergeht (8. 384), so findet eine Reduction der seitlichen Verzweigungen zu einfachen","page":406},{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"VIL Phylogenetische Entwicklungsgesetze des PfUtuenreiches. 407\nBl\u00fcthenstielen statt. Die seitlichen Inflorescenzen (z. B. der Papi-lionaceen) waren urspr\u00fcnglich die Enden von Laubeprossen; durcit Reduction ging die Assimilation derselben verloren (8. 386).\nManche aus einreihigen F\u00e4d\u00f6n bestehende Algen endigen in mehr-zellige haarf\u00f6rmige Spitzen. Bei Bulbochaete sind dieselben auf eine einzige borstenf\u00f6rmige, am Grunde zwiobelf\u00f6rmig erweiterte Zelle r\u00bb duzH; die phylogenetischen Vorfahren von Bulbochaete hatten ohne Zweifel mehrzellige, allm\u00e4hlich in den K\u00f6rper des Fadens \u00fcbergehende Borsten.\nSehr deutlich zeigt sich der Reductionsprocess in der Zahl der weiblichen Sporen (Gynosporen, Makrosporen) der h\u00f6chsten Ge\u00d6Lw-kryptogamen. Bei den Vorfahren waren anf\u00e4nglich die Sporen geschlechtslos und gleichf\u00f6rmig, wie sie es jetzt noch bei der Mehrzahl der Gef\u00e4sskryptogamen sind. Dann trat Differenzirung in m\u00e4nnliche und weibliche Sporen ein, wobei dieselben in Gr\u00f6sse, Bau und Beschaffenheit einander noch gleich waren, wie dies jetzt noch mit den geschlechtlich differenzirten Sporen von Equisetum der Fall ist. Der weitere phylogenetische Entwicklungsgang bewirkte mit zunehmender Gr\u00f6sse der Gynosporen eine stetige Abnahme ihrer Zahl; die Art und Weise, wie dieser Reductionsprocess erfolgte, l\u00e4sst sich noch aus den ontogenetischen Entwicklungsstadien der wenigen \u00fcberlebenden Glieder der Abstammungsreihen erkennen.\nBei Iso\u00ebtes, wo die Reduction am weitesten fortgeschritten ist, bildet sich in jedem Fach der Androsporangien (Mikrosporangien) aus zahlreichen Elterzellen (Sporenmutterzellen) durch Viertheilung eine grosse Menge von Androsporen. In den Gynosporangien dagegen ist in jedem Fach die Zahl der Elterzellen auf eine einzige beschr\u00e4nkt, welche 4 Gynosporen erzeugt. \u2014 Das Andro-sporangium von Selaginella enth\u00e4lt im jugendlichen Zustande zahlreiche Elterzellen, von denen jede 4'A.ndrosporen bildet. Das Gyno-8porangium verh\u00e4lt sich im Jugendzustande ebenso; aber nur eine einzige der Elternzellen theilt sich und bringt 4 Gynosporen hervor, sodass also das Gynosporangium bloss viersporig ist. \u2014 Bei den Mar-8iliaceen sind die beiderlei Sporangien in einem fr\u00fcheren Entwicklungsstadium ebenfalls gleich ; in jedem treten 16 Sporenelterzellen auf, die sich je in 4 Zellen theilen. In den Androsporangien werden alle diese Zellen zu Androsporen, deren Zahl somit 64 betr\u00e4gt. In den jungen Gynosporangien w\u00e4chst anf\u00e4nglich an jeder der 16 Tetroden eine","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"408 VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze de\u00ab Pflanzenreiches.\nZelle st\u00e4rker als die 3 \u00fcbrigen; nachher h\u00f6ren 16 Tetroden auf su wachsen und gehen su Grunde, und nur an einer Tetrode ver-gr\u00f6ssert sich die bevorsugte Zelle und wird mit Unterdr\u00fcckung der drei Geschwistersellen sur Gynosport, sodass das Gynosporangium lsporig ist. Eine fr\u00fchere phylogenetische Stufe hatte l\u00f6sporige, eine noch fr\u00fchere 64sporige Gynoeporangien.\nDie wenigen bis jetst angef\u00fchrten Beispiele von Reduction en, die aus der Masse von Thatsachen aufs Gerathewohl herausgegriffen wurden, zeigen die numerische Abnahme der aus der r\u00e4umlichen Differensirung hervorgegangenen, neben einander liegenden Theile einer Ontogenie. Die durch Abstammung auf einander folgenden Theile werden in gleicher Weise reducirt. Die niedrigsten einzeiligen Pflanzen theilen sich in den successiven Generationen durch Scheidew\u00e4nde, die in den 8 Richtungen des Raumes altemiren (S. 400). Der phylogenetische Fortschritt, der durch Differensirung und Reduction zugleich bewirkt wird, besteht darin, dass zuerst eine, dann auch die andere Theilungsrichtung unterdr\u00fcckt wird. Es fallen also von 3 Generationen gleichsam 2 aus; dadurch wird der Gegensatz zwischen der gleichbleibenden scheidewandbildenden Richtung und den \u00fcbrigen Richtungen, in denen andere Functionen vor sich gehen, auf ein Maximum gesteigert.\nBei den niedrigsten einzelligen Pflanzen sind die auf einander folgenden Generationen an Dauer, Wachsthum und Gr\u00f6sse einander gleich. Durch Differensirung und Reduction vermindert sich die Lebensdauer und das Wachsthumsverm^gen aller Wiederholungsgenerotionen (8. 403). Durch noch weitere Reduction geht, indem gleichsam die ganze Reihe der genannten Generationen verschwindet, die successive Theilung in Simultantheilung \u00fcber, wie sie z. B. bei Hydrodictyon und Sciadium vorkommt.\nDie Gef\u00e4sspflanzen haben Generationswechsel; ihre Ontogenie besteht aus zwei Generationen, einer geschlechtslosen, Sporen erzeugenden und einer geschlechtlichen, m\u00e4nnliche und weibliche Elementarorgane hervorbringenden Generation. Auf der untersten Stufe der Gef\u00e4sspflanzen ist die Geschlechtsgeneration ein kleines a88imilirendes Pfl\u00e4nzchen (Filices). Auf den folgenden Stufen wird die Gr\u00f6sse der Geschlechtspfl\u00e4nzchen mehr und mehr reducirt und die Assimilationsf\u00e4higkeit geht nach und nach verloren, bis auf der h\u00f6chsten Stufe die m\u00e4nnliche und weibliche Generation bloss","page":408},{"file":"p0409.txt","language":"de","ocr_de":"Vn. Phylogenetische Entwicklungsgesetz des Pflanzenreiche. 409\nnoch aus einer oder einigen wenigen Zellen besteht. Noch viel deutlicher zeigt sich diese Reduction, wenn wir die phylogenetische Reihe von den lebermooeartigen Pflanzen beginnen lassen, aus denen die Gef\u00e4sspflanzen hervorgegangen sind.\nNeben der genannten Reduction der einen Generation verl\u00e4uft ein Vergr\u00f6sserungs- und Bereicherungsprocess der andern mit ihr altemirenden Generation. Dieses Wechselverhflltniss zwischen den zwei Generationen, aus denen die Ontogenien der Hauptreihen des Pflanzenreiches bestehen, geh\u00f6rt zu den merkw\u00fcrdigsten Erscheinungen der phylogenetischen Entwicklung. Diejenige Generation, welche aus der Vereinigung der Geschlechtszellen hervorgeht und auf geschlechtslosem Wege Sporen erzeugt, ist auf den untersten Stufen h\u00f6chst einfach in Bau und Function, indem sie bei confervenartigcn Algen bloss von einer einzigen Zelle dargestellt wird. Sie nimmt dann zu, ist aber bei den Moosen erst ein kugeliges bis l\u00e4ngliches, \u00e4usserlich fast ungegliedertes Sporogonium mit sehr einfachem inneren Bau. Bis zu den Gef\u00e4sspflanzen dagegen hat sie so sehr zugenommen, dass sie als der ganze, \u00e4usserlich und innerlich reich gegliederte Pflanzenstock auftritt.\nDie andere Generation, welche aus einer geschlechtslos erzeugten Spore entspringt und selber die Geschlechtszellen hervorbringt, zeigt den umgekehrten Entwicklungsgang. Auf der untersten Stufe ist sie die ganze Pflanze (Confervolden). Sie nimmt zwar auf den folgenden Stufen absolut etwas zu, aber relativ (im Verh\u00e4ltniss zur geschlechtserzeugten Generation) sehr deutlich ab. Bei den Moosen ist sie noch ein ziemlich hoch organisirter, antheridien- und archegonientragender Pflanzenstock. Bei den Gef\u00e4sspflanzen aber hat sie, wie schon erw\u00e4hnt, auch nach absolutem Maass abgenommen, und verh\u00e4ltniss-m\u00e4ssig (im Vergleich mit der andern Generation) zeigt sie sich hier zuletzt auf das \u00e4usserste beschr\u00e4nkt.\nZur urs\u00e4chlichen Erkl\u00e4rung dieses Wechselverh\u00e4 Unisses weiss ich nichts anderes als das Streben nach Differenz!rung anzuf\u00fchren. Es scheint, dass die Pflanze die Neigung hat, die Erzeugung der Geschlechtszellen von den \u00fcbrigen Functionen zu trennen, um den Sexualact desto vollkoromner ausf\u00fchren zu k\u00f6nnen. Die Erzeugung der Geschlechtszellen ist anf\u00e4nglich mit allen andern Functionen auf dem n\u00e4mlichen Individuum vereinigt, w\u00e4hrend das mit demselben alternirende aus der Verschmelzung der Geschlechtszellen","page":409},{"file":"p0410.txt","language":"de","ocr_de":"410 VH. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.\nhervorgehende Individuum bloes einen einzelligen Uebergang darstellt. Dadurch nun, dass die geschlechtserzeugende Generation durch Reduction kleiner, die geschlechtserzeugto Generation aber durch Ampliation und Differenzirung gr\u00f6sser wird, gehen die vegetativen Functionen nach und nach auf die letztere \u00fcber, und der ersteren bleibt auf der h\u00f6chsten Stufe keine andere Function, als die Geschlechtszellen hervorzubringen.\nDie Vorg\u00e4nge, die in den drei vorhergehenden Gesetzen dargclegt wurden, die Ampliation (V), Differenzirung (VI) und Reduction (VII), stehon in inniger Beziehung zu einander und haben das gemeinsame Resultat, dass sie einen Organismus mit einfachem Bau und beschr\u00e4nkten Functionen in einen solchen mit zusammengesetzterem Bau und zahlreicheren Functionen umwandeln. In der Vorstellung lassen sich die Vorg\u00e4nge stets aus einander halten; in der Wirklichkeit sind sie sehr h\u00e4ufig mit einander zu einem Gesammtprocess verbunden. Wir k\u00f6nnen daher die genannten drei Gesetze in oin einziges phylogenetisches Gesetz, n\u00e4mlich das der Complication zusammenfassen.\nDas gleichartige St\u00fcck einer Qntogenie wird, indem es sich vergr\u00f6ssert, innerlich ungleich, und die Ungleichheit steigert sich, indem die Uebergangs-glieder der ungleich gewordenen Theile verschwinden und nur die extremen Bildungen \u00fcbrig bleiben.\nDer Gesammtprocess der Complication durchl\u00e4uft also zwei Perioden, die meistens auch zeitlich auf einander folgen. In der ersten Periode findet Ampliation mit Differenzirung, in der zweiten Reduction mit zunehmender Differenz statt. Die beginnende Differenzirung, welche die Functionen auseinander legt, bedarf naturgem\u00e4ss eines vergr\u00f6sserten Feldes ihrer Th\u00e4tigkeit, weil die r\u00e4umlich neben einander befindlichen oder zeitlich auf einander folgenden Theile, die von dem gleichartigen in den ungleichartigen Zustand \u00fcbergehen, zuerst eine Menge von Ueberg\u00e4ngen zeigen. Die fortgesetzte Differenzirung, welche die Ungleichheiten erh\u00f6ht, wird naturgem\u00e4ss dadurch unterst\u00fctzt, dass der Organismus die Uobergangsstufen preisgibt und bloss die extremen Bildungen beibeh\u00e4lt, denen er nun mehr Kraft und Stoff zuf\u00fchren kann.","page":410},{"file":"p0411.txt","language":"de","ocr_de":"VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 4JJ\nIst in diesen zwei Perioden auch, wie die Erfahrung zeigt, der gew\u00f6hnliche Verlauf ausgedr\u00fcckt, so kann doch, wie es scheint, uuch jedes einzelne Moment derselben, die Ampliation, die Reduction, die Differenzirung allein th\u00e4tig sein, indem dasselbe in gewissen F\u00e4llen unzweifelhaft vorhanden ist, w\u00e4hrend die \u00fcbrigen sich der Wahrnehmung entziehen.\n;n Die phylogenetischen Processe, die gem\u00e4ss den vorausgehenden Gesetzen (I\u2014VII) orfolgen, haben das Bestreben, die Organisation der Pflanzen mannigfaltiger und den Zusammenhang ihrer Theile inniger zu machen. Diese Vervollkommnungsbewegung g3ht ohne R\u00fccksicht auf die von aussen auf die Organismen einwirkenden Einfl\u00fcsse vor sich. Sie erh\u00e4lt aber durch die letzteren ein bestimmtes Gepr\u00e4ge, sodass die concreten Pflanzenformen, wie sie in die Erscheinungtreten, als die Resultirende der zusammentreffenden inneren und \u00e4usseren Kr\u00e4fte zu betrachten sind. Die Wirkung der \u00e4usseren Ursachen gibt uns das letzte Gesetz der Abstammungsgeschichte.\nVIII. phylogenetisches Besetz.\nDie \u00e4usseren Verh\u00e4ltnisse, unter denen die Pflanzen leben, wirken direkt als Reiz oder indirekt als empfundenes Bed\u00fcrfniss ver\u00e4ndernd ein, verleihen dadurch der Gestaltung und den Verrichtungen einen bestimmten zeitlichen und \u00f6rtlichen Ausdruck und bringen somit verschiedene Anpassungen zu Stande. Die Anpassungen sind durch Vererbung best\u00e4ndig, gehen aber, wenn neue andere Anpassungen sie ausser Wirksamkeit setzen, wieder allm\u00e4hlich verloren.\nIch habe die s\u00e4mmtlichen Anpassungen in Ein allgemeines Gesetz zusammengefasst, weil ich dasselbe nicht in die besonderen Gesetze zu zerlegen vermag. Es gibt offenbar verschiedene Arten, wie die Anpassungen zu Stande kommen, gleichwie es verschiedene Arten f\u00fcr den Fortschritt der Vervollkommnungsbewegung gibt. Man kann auch nach verschiedenen Gesichtspunkten bestimmte Kategorien der Anpassung unterscheiden ; allein diese Gesichtspunkte beziehen sich weder auf die mechanischen Vorg\u00e4nge noch auf die Ursachen der Ver\u00e4nderung, und haben daher f\u00fcr die vorliegende Betrachtungsweise der Abstammungslehre keinen Werth.","page":411},{"file":"p0412.txt","language":"de","ocr_de":"412 VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches.\n\u2666 Die Erkenntnis der Anpr\u2019ssungs Vorg\u00e4nge wird dadurch erschwert, dass sie, weil auf dem langsamen phylogenetischen Wege erfolgend, dem Experiment nicht zug\u00e4nglich sind, \u2014 ferner dadurch, dass die neuen Anpassungen oft gleichsam auf die von fr\u00fcher her vererbten Anpassungen gepfropft werden und eine Verbindung mit denselben bilden, \u2014 endlich dadurch, dass die Anpassungen mit den Errungenschaften des Vervollkommnungsprocesses ein einheitliches und unheilbares Ganze darstellen. Die Anpassangsursachen sind \u00fcberdem so verschiedenartig und wirken in so mannigfaltigen Combinationen\nein, dass es nur selten gelingt, eine Ursache in ihren Wirkungen zu erfassen.\nEs wurden bereits oben (S. 142\u2014166) mehrere Anpassungen, die auf directem Wege durch Reize oder auf indirectem Wege durch das Bed\u00fcrfnis8 verursacht werden, besprochen. Um eine Anpassungs-Ver\u00e4nderung vollst\u00e4ndig zu begreifen, muss man wissen, woraus sie geworden, welche Ursachen sie hervorgebracht haben, und wie diese mechanisch eingewirkt haben. Nur in wenigen F\u00e4llen sind uns alle drei Momente hinreichend bekannt. Wir wissen beispielsweise, woher die Wurzelhaare (Rhizo\u00efde) der niedrigsten Algen her-kommen. Es werden n\u00e4mlich die Ausw\u00fcchse der einzelligen Pflanze auf der untersten Stufe zur Fortpflanzungszelle (durch Sprossung); indem letztere vegetativ wird, w\u00e4chst sie zum Thallom oder zum Trichom aus. Die Trichome sind zuerst reproductiv; auf einer h\u00f6heren Stufe werden sie steril, in welchem Zustande sie verschiedene Anpassungsumbildungen erfahren, von denen eine das Wurzelhaar ist. Die Ursachen dieser Anpassung, unter denen sich jedenfalls die Schwerkraft befindet, entziehen sich noch unserer Einsicht.\nEtwas deutlicher gibt sich die Wurzelbildung der Gefesspflanzen zu erkennen. Es ist unzweifelhaft, dass die eigentlichen Wurzeln aus unterirdischen Caulomen (Ausl\u00e4ufern) hervorgegangen sind. Die Ver\u00e4nderung in der Lage der mechanischen Gewebe, und die Umkehr des anf\u00e4nglichen Wachsthums der Gef\u00e4ssstrflnge, welche dabei eingetreten sind, lassen sich aus den ver\u00e4nderten mechanischen Angriffen erkl\u00e4ren (S. 146). Die wichtigste Anpassung aber besteht in der Unterdr\u00fcckung der Blattbildung und in der Bildung einer Wurzelhaube; sie ist durch den Druck zu erkl\u00e4ren, den die Spitze des sich verl\u00e4ngernden Organs in der Erde erf\u00e4hrt. Die Caulome der Gef\u00e4ss-kryptogamen haben an der Spitze eine ScheitelzeUe, die sich durch","page":412},{"file":"p0413.txt","language":"de","ocr_de":"VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. A13\naltemirend schiefe W\u00e4nde theilt (v in Fig. 24 a). Wild w\u00e4hrend einer langen Reihe von Generationen fortw\u00e4hrend durch den Druck ein Reiz auf die Scheitelzelle ausge\u00fcbt, so reagirt dieselbe in der Art, dugs das ihr specifisch zukommende Scheitelzellenplasma durch d\u00ab\u00ab Ern\u00e4hrungsplasma von dein Scheitelpunkt zur\u00fcckgedr\u00e4ngt wird. Das letztere verdickt dann zun\u00e4chst die Aussenwand, und in Folge st\u00e4rkerer, d. h. noch l\u00e4nger andauernder Reizeinwirkung wird die \u00e4ussere, das Ern\u00e4hrungsplasma enthaltende Partie durch eine Scheidewand als Zelle abgeschnitten, aus welcher die zum Schutz des Scheitels dienende Wurzelhaube sich bildet. (Fig. 24 b zeigt zwei mit r bezeichnte Initialzellen der Wurzelhaube). Dies stimmt mit der allgemeinen Thatsache \u00fcberein, dass ein Reiz vermehrtes Wachsthum und vermehrte Zell-theilung bewirkt.\nDurch den von aussen ausge\u00fcbten Druck wird ferner und zwar schon vor der Wurzelhaubenbildung das Wachsthum der Bl\u00e4tter unterdr\u00fcckt. Die unterirdischen als Wurzeln functionirenden Caulome von Psilotum zeigen uns eine erste Stufe dieses Vorganges ; dieselben haben bloss wenigzellige nicht \u00fcber die Oberfl\u00e4che vorspringende Blatt-\nanf\u00e4nge, die sich nicht weiter entwickeln (f in Fig. 24 c). Diese Gaulome besitzen aber noch keine Wurzelhaube ; der Druck, den ihre Scheitelzelle (v) erf\u00e4hrt, ist durch die betr\u00e4chtliche Dicke des Caulomk\u00f6rpers und die flache Gestalt der Scheitelregion bedeutend vermindert;","page":413},{"file":"p0414.txt","language":"de","ocr_de":"414 VII. Phylogenetische Entwickln ngegeeeUe des Pflanzenreiche\u00ab.\nwenn aber Psilotum eine k\u00fcnftige Erdperiode erlebt, so wird es bis dahin wohl auch zur Bildung einer Wurzelhaube gelangen.\nIst die Wurzelhaubenbildung eingetreten, so sind die Segmente, aus denen die Bl\u00e4tter entstehen sollten (s in Fig. 24 b), mit einer Zelle bedeckt. Die Bildung der Blattanf\u00e4nge unterbleibt nun in Folge der ver\u00e4nderten Umgebung g\u00e4nzlich. Es ist aber noch unklar, auf welche mechanische Weise die Initialzelle der Wurzelhaube auf die unterliegende Segmontzelle einwirkt. Wir wissen nur, dass die Bildung der Blattanf\u00e4nge immer in einer Aussenzelle erfolgt, und da\u00ae8 durch die Wurzelhaubenbildung die sonst blatterzeugende Zelle (s in Fig. 24 a) zur Innenzelle geworden ist.\nEin anderes Beispiel, wo wir den Ursprung einer Anpassungsver\u00e4nderung kennen und auch ihre Ursache mit gr\u00f6sster Wahrscheinlichkeit vermuthen k\u00f6nnen, aber den mechanischen Vorgang nicht begreifen, geben uns die fl\u00e4chenf\u00f6rmigen Organe. Auf den tiefsten Stufen waren die in die L\u00e4nge wachsenden Organe s\u00e4mmtlich cylin-drisch mit allseitiger Verzweigung. Es ist dies die urspr\u00fcngliche Form, die sowohl durch den Mangel einer Differenzirung in den zur Achse rechtwinkligen Ebenen als durch bekannte allgemeine mechanische Ursachen bedingt wurde. Auf den folgenden Stufen findet einerseits Verzweigung der noch cylindrkchen F\u00e4den in einer Ebene statt (Bryopsis, Ptilota etc.), andrerseits nehmen die Thallome in ihrer Totalit\u00e4t oder in einzelnen Theilen eine fl\u00e4chenf\u00f6nnige Gestalt an (Caulerpa, Udotea, Porphyre, Nitophyllum etc.). Der Erfolg dieser\nVer\u00e4nderung ist eine ausgiebigere Einwirkung des Lichtes auf die Zellen.\nDen Anstoss zu der Ver\u00e4nderung mag die durch innere Ursachen erfolgende Differenzirung geben ; die Einwirkung des Lichtes bestimmt dann jedenfalls die Richtung, welche die fl\u00e4chenf\u00f6nnige Ausbildung annimmt. Vielleicht aber verursacht die letztere allein den ganzen phylogenetischen Umbildungsprocess. \u2014 Was nun das Verm\u00f6gen des Lichtes in Bezug auf Ver\u00e4nderungen an den Pflanzen bedingt so wissen wir, dass dasselbe ungleiche Wachsthumsprocesse an dw beleuchteten und an der beschatteten Seite von verschiedenen assi-milirenden Organen hervorbringt. Die nothwendige Consequenz hiervon ist, dass die beiden Seiten, welche in der zu den einfallenden Lichtstrahlen rechtwinkligen Ebene liegen, sich anders verhalten m\u00fcssen als die beleuchtete und die beschattete Seite, und es ist nicht","page":414},{"file":"p0415.txt","language":"de","ocr_de":"VH. Phylogenetische Entwicklungsgesetse des Pflanienreichc\u00bb. 415\nunm\u00f6glich, dass in dieser Ebene durch den Einfluss des Uchtes Wachsthum und Verzweigung beg\u00fcnstigt werden.\nVon den verschiedenen Beziehungen, unter denen wir die Anpassungen betrachten k\u00f6nnen, ist der Nutzen, den sie gew\u00e4hren, in der Regel die am besten bekannte. Aus demselben l\u00e4sst sich in einzelnen F\u00e4llen auf die Ursachen schlieesen, w\u00e4hrend in anderen F\u00e4llen die Wirkung keine Andeutung \u00fcber die Ursache und deren mechanische Th\u00e4tigkeit gibt. Als Beispiel f\u00fcr letzteres k\u00f6nnen manche Schutzeinrichtungen angef\u00fchrt werden. Besonders sind es die Fortpflanzungsorgane, dann auch die jungen noch im Stadium der Zelltheilung befindlichen Partien, welche vor mechanischen Einwirkungen und vor den Angriffen von Thieren gesch\u00fctzt werden.\nEine Art des Schutzes besteht darin, dass die solche Theile tragende Oberfl\u00e4che sich vertieft. Ist die Anpassung vollst\u00e4ndig, so hat sich die Vertiefung zu einer mit engem Ausf\u00fchrungsgang versehenen Grube ausgebildet. Wir finden diese Einrichtung schon bei Algen, n\u00e4mlich als Sorusgr\u00fcbchen und Fasergr\u00fcbchen bei den Fuca-ccen, als Antheridiengr\u00fcbchen bei wenigen Florideen (Corallina, Graci-laria), als vertiefter Scheitel (Laurencia, Fucaceen). Der Nutzen der Einrichtung ist unverkennbar; die Ursache derselben d\u00fcrften wohl Reize sein, denen die im Wachsthum begriffenen Theile ausgesetzt waren. Aber wir haben keine Vorstellung davon, wie durch einen solchen Reiz das Fl\u00e4chenwachsthum der Aussenzellen local gesteigert und das durch die Innenzellen bewirkte Dickenwachsthum an derselben Stelle vermindert wird.\nEine andere \u00e4hnliche Schutzvorrichtung besteht darin, dass ein Organ durch Einrollung der Spitze seinen zellenbildenden Scheitel umh\u00fcllt (unter den Algen Padina, Ceramium, Rhodomela). Sie sohliesst sich an die vorhergehende Einrichtung in der Beziehung an, dass die Fortpflanzungsorgane sich auf der concaven, also gesch\u00fctzten Seite befinden. Der Grund aber, warum die (concave) Bauchseite anf\u00e4nglich weniger stark in die L\u00e4nge w\u00e4chst als die (convexe) R\u00fcckenseite, bleibt zur Zeit noch ebenso unbekannt. \u2014 Viel h\u00e4ufiger wird der Schutz junger Theile dadurch zu Stande gebracht, dass \u00e4ltere Organe dieselben umgeben und bedecken, was ebenfalls schon bei Algen vorkommt Auch diese Einrichtung wird aus noch verborgenen Ursachen durch st\u00e4rkeres L\u00e4ngenwachsthum auf der (convexen) R\u00fcckenseite der Schutzorgane bewirkt.","page":415},{"file":"p0416.txt","language":"de","ocr_de":"416 Vil. Phylogenetiache Entwictiungflgeaetse dea Pflanzenreiche\u00ab.\nWie bereits Eingangs dieses Abschnittes bemerkt wurde und wie sich auch aus den angef\u00fchrten Beispielen ergibt, trifft die Anpassungs-Ver\u00e4nderung mit dem durch innere Ursachen bewirkten Vervollkommnungsfortschritt zusammen und verleiht dem letzteren den concreten specifischen Charakter. Es sind daher f\u00fcr eine Erscheinung sehr h\u00e4ufig zweierlei Ursachen aufzusuchen und man w\u00fcrde leicht in Irrthum gerathen, wenn man beispielsweise eine bestimmte Ver\u00e4nderung bloss als die Folge der Differenzirung oder bloss als die Folge der Anpassung betrachten wollte, w\u00e4hrend in Wirklichkeit die vollst\u00e4ndige Erkl\u00e4rung nur durch die beiden zusammenwirtenden Momente gegeben wird.\nDies zeigt sich unter anderem deutlich bei den Anpassungen, welche durch den Wechsel der Jahreszeiten bedingt, durch die Differenzirung aber unterst\u00fctzt oder eingeleitet werden. Dieselben treten mis bei allen Pflanzen in gr\u00f6sserem oder geringerem Umfange entgegen, am augenf\u00e4lligsten bei den h\u00f6heren Gew\u00e4chsen, die im Winter wie unsere B\u00e4ume und Str\u00e4ucher nach Verlust der Bl\u00e4tter, oder wie unsere ausdauernden Kr\u00e4uter nach Verlust der s\u00e4mmtlichen \u00fcber der Erde befindlichen Theile einen Ruhezustand durchmachen. Die einfachsten Verh\u00e4ltnisse und das sicherste Urtheil gew\u00e4hren aber die niederen, aus einer einzigen Zelle oder aus einer geringen Zahl von Zellen bestehenden Pflanzen.\nDie niedrigsten Pflanzen in jeder Beziehung sind die Schizo-phyten, zu denen die Nostochinen (im weitesten Sinne) und die Spaltpilze geh\u00f6ren. Bei manchen derselben beschr\u00e4nken sich die Lebensvorg\u00e4nge darauf, dass die Zellen, zwischen denen noch gar keine Verschiedenheit besteht, auf die doppelte Gr\u00f6sse anwachsen und dann sich theilen. Werden die \u00e4usseren Verh\u00e4ltnisse f\u00fcr diese Lebensvorg\u00e4nge ung\u00fcnstig, so stehen dieselben still, um jeder Zeit, wenn die \u00e4usseren Umst\u00e4nde sich wieder g\u00fcnstiger gestalten, von neuem zu beginnen. Bei den einen dieser Schizophyten ist gar kein Unterschied zwischen dem Vegetationszustand und dem Ruhezustand zu bemerken; bei den anderen wird mit der Abnahme der Vegetation der Zelleninhalt wenig dichter und die Membran etwas derber. In diesem Zustande verharren die Zellen w\u00e4hrend der Ruhezeit, wobei eme gr\u00f6ssere oder kleinere Zahl derselben, je nach der Ungunst der \u00e4usseren Einfl\u00fcsse, zu Grunde geht. Es ist hier noch ganz unbestimmt, welche Zellen ausdauem und die Sippe erhalten.","page":416},{"file":"p0417.txt","language":"de","ocr_de":"VII. Phylngcnetifichc Entwlcklun{r\u00abgeHetze <le* Pflanzenreiche\u00ab. 4J7\nAuf der n\u00e4chst h\u00f6heren Stufe gehen die Zellen vor der Ruhezeit, theils durch die weiter gehende Anpassung, welche in Folge der fortgesetzten Einwirkung der \u00e4usseren Agentien statthat, theils durch zeitliche und r\u00e4umliche Difforenzirung in den Sporenzustand \u00fcber, indem die Membran dick und fest, der aus Fett und Eiweiss bestehende Inhalt dicht (wasserarm) wird. In diesem Zustande sind die Zellen gegen die Unbilden, welchen sie w\u00e4hrend der Vegetationsruhe ausgesetzt sind, viel widerstandsf\u00e4higer. In der phylogenetischen Reihenfolge sind es zuerst alle Zellen, welche ohne eine Gestaltsver\u00e4nderung zu Sporen sich umbilden, wie dies noch bei Nodularia der Fall ist. Dann tritt Scheidung zwischen den Zellen ein, indem in den einen die vegetative Zelltheilung fortdauert, w\u00e4hrend die andern, statt sich weiter zu theilen, betr\u00e4chtlich an Gr\u00f6sse zunehnien und zu Sporen werden. Erst sind es unbestimmt viele Zellen, die in den Sporenzustand \u00fcbergehen ; daun ist es nur noch eine einzige in einem Faden oder Fadenst\u00fcck (Rivularia).\nDiese Anpassung an den Wechsel der Jahreszeiten hat einen Generationswechsel zur Folge. Sind die Pflanzen einzellig, so wird die Reihe der gew\u00f6hnlichen Generationen durch eine Generation abgeschlossen , welche als Ruhespore w\u00e4hrend des Vegetationsunter-bruchcs ausdauert und beim Beginn der n\u00e4chsten Vegetationszeit die Theilung in unver\u00e4nderter Weise fortsetzt. Sind die Pflanzen mehrzellig, so vermehrt sich eine Reihe von Generationen durch Zerfallen der F\u00e4den in St\u00fccke, und die Uebergangsgeneration bildet Ruhesporen.\nAuf der h\u00f6heren Stufe tritt zu der Differenzirung und Anpassung, welche auf der untersten Stufe die Ruhesporen erzeugen, noch die weitere Differenzirung in Geschlechtszellen ein. Durch Copulation zweier \u00e4usserlich gleicher Zellen oder einer Eizelle mit Spermatozoiden entsteht eine Zelle, die zur Ruhespore (Zygospore oder Oospore) wird. I\u00aet die Pflanze einzellig, so besteht der Generationswechsel darin, dass eine Reihe von Generationen sich auf ungeschlechtlichem Wege fortpflanzt, w\u00e4hrend die Uebergangsgeneration geschlechtlich dif-ferenzirt ist und sich zu einem den Vegetationsunterbruch \u00fcberdauernden Product vereinigt (Volvox, Pandorina, Hydrodictyon). Ist die Pflanze mehrzellig, so bildet eine Reihe von Generationen Schw\u00e4rmsporen ; die letzte Generation der Vegetationszeit al>or erzeugt\nV. Nftgcll, iibeUunmiingsk-lirc.\t27","page":417},{"file":"p0418.txt","language":"de","ocr_de":"41H VII. PhylofcenetifM'lie Entwickhmgitgeftcti!\u00ab \u00ablen Pflanzenreiche\u00ab.\nGeschlechtszellen, aus deren Vereinigung die Ruhesporen hervor-gehen (Ulothrix).\nAuf dieser Stufe trifft also Geschlechtsdifferenz und Bildung von Ruhesporen mit dem Wechsel der Jahreszeiten zusammen und zeigt demnach den Charakter der Anpassung. Die ganze Einrichtung verliert al>er bald ihre Bedeutung als Anpassung, und l>eweist auch durch diesen Umstand, dass sie nicht hloss durch die von aussen wirkenden Einfl\u00fcsse hervorgebracht wunle. Auf der n\u00e4chst h\u00f6heren Stufe n\u00e4mlich findet Befruchtung und Bildung von Ruhesporen nicht nur am Ende der Vegetationszeit, sondern auch wiederholt w\u00e4hrend dersell>en statt (Vaucheria, Oedogonium).\nWerden auf den folgenden Stufen die Pflanzen mehrj\u00e4hrig, so treten andere Anpassungserscheinungen in der vegetativen Sph\u00e4re und in der geschlechtslosen Fortpflanzung auf, welche die Uebcr-dauerung des Vegetationsunterhruches erm\u00f6glichen oder erleichtern. Die geschlechtliche Befruchtung al>er hat den Charakter der Anpassung an den Wechsel der Jahreszeiten g\u00e4nzlich eingeh\u00fcsst; sie erfolgt w\u00e4hrend der Vegetationszeit und leitet sofort Wachsthum mit Zellthcilung ein (Moose, Gef\u00e4sspflanzen).\nDie Trennung der Geschlechter ist urspr\u00fcnglich ein reiner l)ifferenzirung8act, indem die m\u00e4nnlichen und weiblichen Zellen mit Ausnahme der getrennten Geschlechtselektricit\u00e4t einander noch ganz gleich sind (S. 387). Die Differenzirung schreitot dann weiter fort; zugleich aber kommen Anpassungsver\u00e4nderungen hinzu. Die Pflanzen, in denen die Gescldechtsdifferenzirung beginnt, haben schon von ihren Vorfahren das durch Anpassung erlangte Bestreben geerbt, ihre Keime mit N\u00e4hrstoffen zu versehen (S. 163). Die ersten geschlechtlichen Schw\u00e4rmzellen sind damit noch sehr sp\u00e4rlich ausgestattet. Indem Anpassung und Differenzirung sich steigern, werden die einen (die weiblichen) mit reichlicher Nahrung ausger\u00fcstet und verlieren dadurch ihre Beweglichkeit ; sie werden entweder bloss von der Mutterpflanze ausgestossen oder bleiben in derselben liegen, indem durch eine Oeffnung der Zugang f\u00fcr die Spermatozoide frei gemacht wird. Die andern geschlechtlichen Schw\u00e4rmzellen (die m\u00e4nnlichen) werden, gleichsam durch Compensation, von N\u00e4hrstoffen ganz ent-bl\u00f6sst und gewinnen daf\u00fcr an Beweglichkeit. Durch weitere An-ptiHsung gehen sie in die l\u00e4ngliche (Eudorina) und dann in die","page":418},{"file":"p0419.txt","language":"de","ocr_de":"VII. Phylogenetische Entwicklungsgegctze des Pflanzenreiches. 4|y\nfadenf\u00f6rmige Gestalt (Chara) \u00fcber, und werden mehr und mehr schraulxmf\u00f6rmig, wie auch die lebhaft vorw\u00e4rts gehenden und sich drehenden Pfl\u00e4nzchen von fadenf\u00f6rmiger Gestalt (Spirillum, Spiru-lina) zu Schrauben geworden sind.\nEin anderes Beispiel, wo mit der Anpassung auch Differenzirung durch innere Ursachen mitgewirkt hat, finden wir in der Ver\u00e4nderung der Gewebe durch mechanische Einwirkung. Ich habe aus der letzteren die Entstehung der sog. mechanischen Zellen abgeleitet (S. 14G). Das Resultat h\u00e4tte aber nicht so bestimmt und charakteristisch aus-fallen k\u00f6nnen, die mechanischen Zellen w\u00e4ren von dem angrenzenden Gewebe nicht so scharf geschieden, wie es gew\u00f6hnlich der Fall ist, wenn nicht noch eine andere Ursache dal>ei th\u00e4tig gewesen w\u00e4re! Es ist dies die Neigung des Idioplasmas zur Differenzirung; dieselbe \u00fcbergab \u00ablie einen Zellen g\u00e4nzlich oder gr\u00f6sstentheils ihrem mechanischen Berufe, stattete sie mit dicken festen Membranen aus und entbl\u00f6sste sie an Inhalt, w\u00e4hrend die angrenzenden Zellen d\u00fcnnwandig blieben und andere Verrichtungen \u00fcbernahmen.\nEin solches Zusammenwirken dor \u00e4usseren mechanischen Ursachen und der inneren Neigung zur Differenzirung glaulie ich schon auf der untersten Stufe des Pflanzenreiches l>ei der Entstehung dor Grenzzellen in den Familien der Nostochacee\u00bb, Scytonemaeeen und Rivulariaceen annehmen zu d\u00fcrfen. Werden einreihige Zellf\u00e4den durch abseitiges Wachsthum (Theilung aller Zellen) sehr lang, so brechen sie leicht entzwei, wenn irgend eine mechanische Ursache auf sie omwirkt (Oseillariaceen, Zygnemaceen). Daliei trennen sich entweder die Endzeilen der 1 leiden H\u00e4lften einfach von einander,\noder es wird eine Zelle zwischen den leiden H\u00e4lften zerdr\u00fcckt und stirbt ab.\nBei den genannten Familien der Nostochinen wird an der Stelle, wo die Trennung der Fadenst\u00fccke stattfinden soll, eine Zelle zur sog. Grenzzelle, indem sic ihre Membran verdickt, ihren Inhalt verliert und abstirbt. Von dieser Zelle l\u00f6sen sich die Fadenst\u00fccke ab, und aus dem Umstande, dass dieselbe gew\u00f6hnlich noch an dem einen Jaden haften bleibt, hat sie den Namen Grenzzelle erhalten. Dass bei deren Bildung die Differenzirung wesentlich betheiligt ist, ersieht man daraus, dass die der Grenzzelle anliegenden Zellen oft zu Sporen werden (Cylindrospermum, Rivularia), oder in F\u00e4den uus-waebsen (Rivulariaceen, Scytonemaeeen). Aber es liesse sich das\n27*","page":419},{"file":"p0420.txt","language":"de","ocr_de":"420 VII. Fhylogenetische Entwirklnnp\u00bbgeBot\u00ab\u00bb de* Pflanzenreiche\u00ab\nEntstehen der Grenzzellen aus der Differenzirung allein kaum begreifen.\nDass eine mechanische Ursache dabei mitgeholfen habe, ist mir desswegen wahrscheinlich, weil die Grenzzelle in der Regel sich in der Mitte des Fadens bildet, also da, wo Druck und Zug bei der Biegung des Fadens am st\u00e4rksten empfunden werden, und weil die Grenzzelle die n\u00e4mlichen Ver\u00e4nderungen erf\u00e4hrt wie die mechanischen Zellen. Die mechanische Wirkung ist jedoch nicht etwa als eine unmittelbare und ontogenetische aufzufassen. Sondern es hat die fortw\u00e4hrend wiederholte mechanische Einwirkung w\u00e4hrend einer langen Generationenreihe eine erbliche Anlage im Idioplasma geschaffen, die nun allen Zellen zukommt, und die sich in derjenigen Zelle eines Fadens entfaltet, auf welche die maassgebenden Einfl\u00fcsse, wozu auch die durch mechanische Einwirkung hervorgerufene Span-nung geh\u00f6rt, sich concentriren.\nDas Vorhandensein der phylogenetischen Vorg\u00e4nge, welche sich den 8 aufgestellten Gesetzen oder den 3 allgemeinen Gesetzen der Vereinigung, Complication und Anpassung unterordnen, ist deutlich zu erkennen, und es kann dar\u00fcber kein Zweifel bestehen. Dagegen erhebt sieh nun die wichtige Frage, ob damit der ganze Organisationsprocess ersch\u00f6pft sei, oder ob es Erscheinungen gebe, welche sich daraus nicht erkl\u00e4ren lassen und welche auf noch anderweitige Vorg\u00e4nge hinweisen. Letzteres scheint mir nicht der Fall zu sein. Es gibt zwar eine Menge von Organisationsverh\u00e4ltnissen, \u00fcber deren Zustandekommen wir uns vollkommen im Ungewissen befinden; aber nicht desswegen, weil sie uns etwas neues darbieten, sondern einmal weil sie noch zu wenig erforscht und erkannt sind, ferner weil wegen ihrer Complicirtlieit und wegen der vorausgehenden L\u00fccken in der phylogenetischen Reihenfolge keine bestimmte Andeutung gegeben ist, durch welche Combination und Stufenreihe der bekannten Vorg\u00e4nge sie entstanden sein k\u00f6nnten. Damit ein Organisationsverh\u00e4ltniss mit anderen in genauer Weise verglichen und daraufhin phylogenetisch richtig gedeutet werden kann, muss seine Entwicklungsgeschichte bis in alle Einzelheiten klar gelegt sein.","page":420},{"file":"p0421.txt","language":"de","ocr_de":"VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze de\u00ab Pflanzenreiche\u00ab.\n421\nWenn ich sage, dass nach meiner Ansicht die 8 Gesetze ausreichen, um alle Erscheinungen im Pflanzenreiche zu erkl\u00e4ren, so setze ich voraus, dass die niedrigsten Pflanzen, mit denen die phylo-genotischen Reihen beginnen, l>eroits diejenigen Eigenschaften besitzen , welche sie aus dem Probienreich geerbt hal>en, und welche die allgemeinsten Erscheinungen des Wachsthums und der Fortpflanzung der Organismen umfassen (vgl. \u00a7 1\u20147 8. 341\u2014350). Da die genannten 7 Erscheinungen als Anlagen im Idioplasma aller Pflanzen enthalten sind, so k\u00f6nnen sie unter gUnstigon Umst\u00e4nden auch stets zur Entfaltung gelangen, und ebenso werden sie je nach Umst\u00e4nden einen gr\u00f6sseren oder geringeren Antheil an der weiteren phylogenetischen Entwicklung des Idioplusmas geltend machen.\nDiese phylogenetische Entwicklung des Idioplasmas Weht, wie sich aus der ganzen vorliegenden Untersuchung ergibt, darin, dass die Configuration dessell>en zusammengesetzter wird, dass die Zahl und die Verschiedenheit der idioplasmatischen Anlagen zuninimt, und dass zugleich die Anlagen in innigere Beziehung zu einander treten, indem die Idioplasmamicelle in bestimmten Richtungen des Querschnitts der Str\u00e4nge fester Zusammenschl\u00fcssen und somit dynamisch besser auf oinander oinwirken k\u00f6nnen. Dal>ei erh\u00e4lt die ganze Zusammenordnung der Anlagen naturgem\u00e4ss ein ihrer suc-ccssiven Entstehung entsprechendes Gef\u00fcge; ihre ontogenetische Entfaltung wiederholt daher in gewissem Maasse die vorausgehende phylogenetische Reihe und ihre weitere Entwicklung bedingt einen entsprechenden Fortschritt in der Ontogenie.\nAus dieser phylogenetischen Entwicklungsgeschichte des Idioplasmas und aus ihrer Beziehung zur jeweiligen ontogenetischen Entfaltung ergeben sich die verschiedenen phylogenetischen Entwicklungsgesetze, wie sie mittels einer Vergleichung der entfalteten Organismen l>eurtheilt und abgeleitet wurden. Dieselben bestehen im allgemeinen darin, dass die den Ontogenicn angeh\u00f6renden Tlieile, welche auf den fr\u00fcheren Stufen zeitlich und r\u00e4umlich sich ganz fsler theilweise trennten, auf den sp\u00e4teren Stufen sich vereinigen und in dauernde Beziehung zu einander treten (Ges. I\u2014IV), w\u00e4hrend zugleich Lebensvorg\u00e4nge, die fr\u00fcher in jedem der getrennten Theile lHM8ammen waren, nun in den zu einem Ganzen vereinigten Theilen aus einander gelegt werden (Differenzirung VI). Ferner erfolgen unter der Einwirkung des umgeiinderten und complicirter gewor-","page":421},{"file":"p0422.txt","language":"de","ocr_de":"422 VII. Phylogenetische KntwkklangHfreseUc tics m\u00fcnzen reiches.\ndenen Idioplasmas andere chemische und plastische Processe (VI). Dus Auftreten dieser neuen Processe und des eigentlichen Differen-zirungsactes selber verursachen eine Verl\u00e4ngerung des l>etreffenden ontogenetischen Abschnittes (Ampliation V), w\u00e4hrend andere Abschnitte der Ontogenie, in denen die Differenzirung vollendet ist, durch Unterdr\u00fcckung von Zwischenbildungen auf das qualitativ Verschiedene reducirt werden, so dass die Gegens\u00e4tze sch\u00e4rfer hervor und einander n\u00e4her treten (VII).\nOb nun der phylogenetische Fortschritt auf jeder Stufe in der einen oder anderen Weise erfolge, muss einmal von der gunzen vorausgehenden phylogenetischen Bewegung und somit von der Beschaffenheit der Ontogenie abh\u00e4ngen. Er kann aber auch von den \u00e4usseren Einfl\u00fcssen bedingt werden, welche nicht nur bestimmte Anpassungen verursachen, sondern ohne Zweifel auch in vielen F\u00e4llen bestimmen, welche von den inneren Ursachen des phylogenetischen Fortschritts die Oberhand gewinnen. In dieser Beziehung d\u00fcrften sich die Phylogenien gerade so verhalten, wie die Ontogenien. Die letzteren entfalten mit unbedingter Nothwendigkeit eine gewisse Summe von Anlagen, w\u00e4hrend es von den \u00e4usseren Ursachen (Nahrung, Feuchtigkeit, Licht, W\u00e4rme, Schwerkraft) abh\u00e4ngt, ob und welche von gewissen anderen Anlagen zur Entfaltung gelangen. So muss es in der Phylogenie bestimmte Entwicklungen des Idioplasmas geben, welche unbedingt durch die bisherige phylogenetische Bewegung bewirkt werden, w\u00e4hrend in F\u00e4llen, wo die inneren Lrsachen fast mit gleicher Energie zwei verschiedene Entwicklungsvorg\u00e4nge anstreben, die von aussen kommenden Reize den Ausschlag geben. Man muss also annehmen, dass, w\u00e4hrend in den einen F\u00e4llen die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse sich indifferent verhalten und eine Pflanzensippe sich \u00fcberall in der n\u00e4mlichen Weise fortbildet, in anderen F\u00e4llen die Abk\u00f6mmlinge der n\u00e4mlichen Sipjx, in einem w'armen und einem kalten Klima, im Wasser und auf dem Lande, abgesehen von der ungleichen Anpassung, auch eine verschiedene phylogenetische Entwicklung durch innere Kr\u00e4fte erfahren k\u00f6nnen.\nAus dem Zusammenwirken der verschiedenen phylogenetischen Processe erkl\u00e4ren sich nicht nur alle einzelnen Erscheinungen, aus denen die Ontogonien zusammengesetzt sind, sondern es stellen sich auch die Ontogenien als Totalerscheinungen und ihr Wechsel in der Generationeniolge als eine nothwendige Folge jener Processe dar.","page":422},{"file":"p0423.txt","language":"de","ocr_de":"' Phylogenetische KntwicklungsgcHetw* \u00abIch Pflanzenreiche\u00bb\u00ab. 4'2\u2018<)\nUm liier einen Hauptpunkt hervorzulieben, so m\u00f6chte oh uns, wenn wir die Individuen f\u00fcr sich lietrachten, als ein fast unl\u00f6sbares Rftthscl Vorkommen, warum dieselben bis zu einer bestimmten Gr\u00f6sse heranwachsen und nach einer bestimmten Dauer mit Ausnahme der win-zigcn Keime, die sie abgesondert haben, zu Grunde gehen.\nDies kann uns um so riithselhaftor erscheinen, da die einfachsten Organismen in der genannten Beziehung sich anders verhalten. W\u00e4hrend fast dio ganze Substanz der h\u00f6heren Pflanzen und Thiere nothwendig abstirbt, muss von der Substanz der niedrigsten Lebewesen mit Nothwendigkeit gar nichts absterben. Dies ist der Fall bei den meisten einzelligen und bei einigen mehrzelligen Pflanzen. Eine Chroococcus- oder Microeoccuszelle, die f\u00fcr sich ein selbst\u00e4ndiges Individuum bildet, theilt sich in 2 Zellen, die sich wieder in gleicher Weise theilen. Von Substanz geht bei dieser Fortpflanzung nichts verloren, da die beiden Kinder sich stets in die ganze Sul>-stanz und Leliensf\u00e4higkeit ihres Elters theilen. Alles Abeterbon ist hier ein zuf\u00e4lliges, durch die Ungunst der \u00e4usseren Verh\u00e4ltnisse bedingtes, wobei nicht Theile der Individuen, sondern die ganzen Individuen zu Grunde gehen. \u2014 Mit den genannten Gattungen der Schizophyten stimmen die meisten einzelligen Gew\u00e4chse \u00fcberein, indem die l>ei ihnen m\u00f6gliche zeitliche Differenzirung, welche die succesaiven Generationen ungleich macht und den Generationswechsel bedingt, die volle Existenzf\u00e4higkeit nnd Fortpflanzungsf\u00e4higkeit jeder einzelnen Generation nicht beeintr\u00e4chtigt. Die r\u00e4umliche Differenzirung al>er, welche die Zellen der n\u00e4mlichen Generation ungleich macht, bringt bei den einzelligen Organismen bloss geschlechtlich geschiedene Individuen hervor, welche an dem Be-fruchtungsprocess mit ihrer ganzen Plasmasubstanz sich betheiligen, so dass also auch bei der geschlechtlichen Fortpflanzung ausser den umh\u00fcllenden nichtplasmatischen Substanzen nichts zu Verlust geht.\nEin anderes Ergebniss hat die r\u00e4umliche Differenzirung, nachdem \u00ablurch andere phylogenetische Vorg\u00e4nge aus den einzelligen mehrzellige Organismen geworden sind, indem nun die verschiedenen Functionen auf die verschiedenen Zellen sich vertheilt haben. F\u00fcr die vorliegende Frage kommt nur Eine Scheidung in Betracht, diejenige n\u00e4mlich in Zollen, welche die Fortpflanzung \u00fcbernehmen, und in solche, welche die mannigfaltigen anderen Verrichtungen zur Erhaltung des Individuums besorgen. Schon bei den einzelligen","page":423},{"file":"p0424.txt","language":"de","ocr_de":"424 VII. Phylogunetiache Kntwicklunp\u00ab\u00bbn\u2018Hvtei* <1ch rtluiiM-invirhcH.\nPflanzen kommt oine analoge zeitlicho Differenzirung vor, n\u00e4mlich zwischen den \u00fcbrigen Generationen und der Sporengeneration; al>er hier haben alle Individuen (Zellen) zur bestimmten Zeit das Verm\u00f6gen, in den Sporonzustand \u00fcberzugehen. Bei den mehrzelligen Pflanzen wird die Differenzirung eine r\u00e4umliche, und von vielen Zellen werden nur einzelne Zellen zu Sporen.\nAuf der untersten Stufe der mehrzelligen Pflanzen unterscheiden sich die zu Ruhesporen werdenden Zellen bloss durch die F\u00e4higkeit, w\u00e4hrend der Vegetationsruhe (resp. w\u00e4hrend des Winters) auszu-daucro, indess die \u00fcbrigen Zellen zu Grunde gehen. Die Differenzirung hat hier durch die Anpassung ihren bestimmten Charakter erhalten; das Individuum stirbt mit Notliwendigkeit in seiner gr\u00f6sseren Partie ab. Bei der weiteren phylogenetischen Entwicklung wird, wie dies stets eintritt, die Anpassungsanlage selbst\u00e4ndig und von der Anpassungsursache imabh\u00e4ngig. Sie kann sich nun zu jeder Zeit entfalten und ist in dieser Beziehung nicht mehr an das Ende der \\ egetationszeit gebunden. Zun\u00e4chst findet Ruhesporenbildung mehrmals w\u00e4hrend einer Vegetationsperiode statt, so dass mehrere Ontogenien w\u00e4hrend eines Jahres auf einander folgen und die Sporen der letzten Ontogenie \u00fcberwintern. Auf h\u00f6heren phylogenetischen Stufen dagegen gelangt h\u00e4ufig das Individuum erst nach mehreren Jahren zur Sporenbildung, so dass die Ontogenie einen gr\u00f6sseren Zeitraum in Anspruch nimmt.\nObgleich at)er die Differenzirung in absterbende Zellen und in solche, welche w\u00e4hrend der Vegetationsruhe lebensf\u00e4hig bleiben, urspr\u00fcnglich eine Anpassung an den Wechsel der Jahreszeiten war, so beh\u00e4lt sie, nachdem sie von den \u00e4usseren Einfl\u00fcssen unabh\u00e4ngig geworden, doch mit Nothwendigkeit durch Beharrung (Vererbung) ihren vollst\u00e4ndigen Charakter, welcher im Gegens\u00e4tze der beiden /eilenarten besteht, bei. Mit der Sporenbildung oder allgemein mit der Fortpflanzung geht naturgem\u00e4ss der \u00fcbrige Thoil des Individuums zu Grunde. Verm\u00f6ge weiterer phylogenetischer Fortschritte geschieht es dann, dass die Individuen nicht mehr in Folge der Fortpflanzung sofort absterben, sondern dass sie wiederholt sich fortpflunzen k\u00f6nnen; aber die beschr\u00e4nkte Dauer ihrer Existenz ist ihnen nothwendig als Erbtheil geblieben.\nDie genaue Er\u00f6rterung der phylogenetischen Ursachen zeigt uns also, dass von allen Zellgenerationenreihcn, in dio ein Orga-","page":424},{"file":"p0425.txt","language":"de","ocr_de":"VII. IMiylogunetischc Entwicklungsgesetz .les Pflanzenreiches. 425\nnismiiK sich gliedert, die meisten mit Nothwondigkeit einem durch dio Diffcrenzirung gesotzten Ende verfallen sind, w\u00e4hrend einige wenige das Verm\u00f6gen lwsitzen, sich unbegrenzt zu verl\u00e4ngern, indem sie periodisch sich durch den Zustand von Fortpflanzungszellen erneuern. Mit anderen Worten, die Organismen sterben nach einer bestimmten Lebensdauer und bleiben nur in den von ihnen erzeugten Keimen lebensf\u00e4hig.","page":425},{"file":"p0426.txt","language":"de","ocr_de":"Der Generationswechsel in ontogenetischer und phylogenetischer Beziehung.\nDas Pflanzenreich beginnt mit Zellen; es muss daher f\u00fcr die Betrachtung der phylogenetischen Entwicklung, insofern dieselbe als Generationenfolge aufgefasst wird, die Zelle als die einfachste uns bekannte selbst\u00e4ndige Einheit zu Grunde gelegt werden. Die niedersten Pflanzen sind Zellen, die wieder ganz gleiche Zellen erzeugen; alle Generationen sind einander gleich, und die Kenntniss einer Generation gen\u00fcgt zur vollst\u00e4ndigen Erkenntniss der Pflanze. Sowio die Zellgenerationen ungleich werden und somit ein Zell-generutionswechsel eintritt, bedarf es zu dieser Erkenntniss nunmohr der Kenntniss eines ganzen Cyclus von Generationen, n\u00e4mlich der Reihenfolge von einer Zelle bis zur Wiederkehr einer ganz gleichen Zelle. Dieser Cyclus von Zellgenerationen ist das Element f\u00fcr die Vergleichung der Organismen und als ontogenetische Periode1) zu bezeichnen.\nDie ontogenetische Periode umfasst also den Abschnitt der phylogenetischen Entwicklungsbewegung zwischen je zwei gleichen\n*) M\u00bb habe diesen Begriff fr\u00fcher (Systemat. Uelnsrsicht der Erscheinungen im Pflanzenreich. 1853), um einen neuen Namen zu vermeiden, in weniger passender Weise als \u00bb Artperiode, bezeichnet. Die von H\u00e4ckel eingef\u00fchrten Worte \u00bbOntogenie\u00ab und \u00bbPhylogenie\u00ab dr\u00fccken die f\u00fcr die Abstammungslehre allgemeinsten Begriffe sehr gut aus, wenn unter Ontogenie nicht die Geschichte des Individuums, sondern der sich wiederholende Cyclus, mag er aus einem oder aus vielen Individuen bestehen, verstanden wird.","page":426},{"file":"p0427.txt","language":"de","ocr_de":"VIII. Der Generationswechsel in ontogenet. und phylogenet. Beriehung. 427\nPunkten. Sie nimmt in den Abstammungsreihen an L\u00e4nge, d. h. an Zahl der Zellgenerationen, im allgemeinen immer mehr zu. Die letzteren k\u00f6nnen entweder, nachdem sie sich gebildet haben, sich von einander trennen und einzellige Individuen darstellen, \u2014 oder sie k\u00f6nnen partienweise vereinigt bleiben, soduss die Ontogenie aus einer Anzahl mehrzelliger Individuen, h\u00e4ufig auch aus mehrzelligen und einzelligen Individuen besteht, \u2014 oder endlich sie k\u00f6nnen alle zu einem einzigen, die ganze Ontogenie ausf\u00fcllenden Individuum verbunden sein. Im letzteren Falle sind die auf einander folgenden Individuen einander gleich; in den beiden ersten F\u00e4llen sind sie notwendig ungleich und es besteht Generationswechsel im gew\u00f6hnlichen Sinne.\nF\u00fcr die Darstellung und Beurtheilung des Generationswechsels kommt es darauf an, welchen Umfang man dem Pflanzenindividuum gibt. Wird beispielsweise, entsprechend der Vorstellung mancher Morphologen, der einzelne Spross als das Individuum der h\u00f6heren 1 flanzen angesehen, so folgt an einem Baum eine ganze Menge Generationen auf einander, w\u00e4hrend derselbe nach der gew\u00f6hnlichen Ansicht ein einziges Individuum und somit eine Generation darstellt.\nDoch ist diese A erschiedenheit der Anschauung von geringerem Belang, es hat mehr eine formelle Bedeutung, ob wir eine Folge von individuellen Bildungen als ebenso viele Pflanzenindividuen oder als Theile eines einzigen Individuums, dem dann der Name Pflanzenstock beigelegt wird, ansehen. Dagegen ist es von Wichtigkeit, dass dem Begriff des Individuums und somit auch dem Generationswechsel , so weit es m\u00f6glich ist, eine gleiche Ausdehnung gegel>en werde, \u2014 und von noch gr\u00f6sserer Wichtigkeit, dass f\u00fcr den Generationswechsel und somit f\u00fcr die ontogenetische Periode der n\u00e4mliche Ausgangspunkt gew\u00e4hlt werde, weil nur dadurch die \\ er8chiedenen Stufen der phylogenetischen Reihen sich richtig mit einander vergleichen lassen.\nDa die grosse Mehrzahl der Pflanzen geschlechtlich differenzirt ist, ur.d auf eine ontogenetische Periode bloss einmal geschlechtliche Befruchtung trifft, so wechselt eine Gesehlechtsgeneration mit einer oder mit vielen geschlechtslosen Generationen. Da ferner der geschlechtliche Befruchtungsact die Grenze zwischen zwei auf einander folgenden Individuen oder Generationen bildet, so ist es naturgem\u00fcss, denselben als Grenzstein zwischen den Cyclen des Generationswechsels","page":427},{"file":"p0428.txt","language":"de","ocr_de":"428 VIII. Der Generationswechsel in ontogenct. und phylogcnct. Besiehung.\nzu setzen. Da endlich die Geschlechtszellen phylogenetisch auf die geschlechtslosen Zellen folgen und aus densell)en durch Differen-zirung entstehen, so muss die Bildung der Geschlechtszellen an das Ende des Generaiionencyclus oder der ontogeuetischen Periode gesetzt werden.\nDie ungleichen Generationen, welche den Generationswechsel verursachen, sind entweder in Einzahl vorhanden, sodass 2 oder 3 ungleichartige Individuen regelm\u00e4ssig mit einander abwechseln, oder eine der Generationen wiederholt sich eine unliestimmte Zahl von Malen in der n\u00e4mlichen Weise; der Generationencyclus besteht dann aus einer Reihe von Wiederholungsgenerationen und einer Einzelgeneration, von denen die letztere bei Vorhandensein von Gcsehlechtsdifferenz entweder durch die m\u00e4nnlichen und weiblichen Zellen allein dargestellt wird oder mit densellxm beginnt. Meistens sind auch die der Geschlechtsgeneration oder dor androgynon Generation, wie ich sie zur Vermeidung von Missverst\u00e4ndnissen nennen will, vorausgehonden und nachfolgenden Einzelgeneratiouen von den Wiederholungsgenerationen verschieden.\nEhe ich auf die phylogenetische Bedeutung des Generationswechsels eintrete, will ich einige Beispiele betrachten, an denen die Folge der Generationen sicher und deutlich ist. Ich w\u00e4hle sie vorzugsweise aus den niederen Stufen des Pflanzenreiches, weil hier ein Irrthum in der Beurtheilung am ehesten ausgeschlossen ist.\nDie einfachsten uns bekannten Pflanzen sind die Schizophyten, denen die geschlechtliche Differenzirung noch mangelt. Unter den einzelligen Schizophyten gibt es solche ohne Generationswechsel; die auf einander folgenden Generationen sind einander ganz gleich, nicht bloss in der Beschaffenheit der Zellen, sondern auch darin,\u2019 dass die Zelltheilung, wodurch je zwei neue Individuen erzeugt werden, in der n\u00e4mlichen Richtung stattfindet; beim Aufh\u00fcren der Vegetation dauern die Individuen unver\u00e4ndert bis zum Beginn der n\u00e4chsten Vegetationsperiode aus (Gloeothece, Synechocoecus, Micrococcus; Fig. 22 a, b auf S. 401). - Andere haben einen einmaligen oder zweimaligen Generationswechsel, je nachdem die Theilungs-richtung regelm\u00e4ssig in 2 oder in 3 Richtungen des Raumes wechselt. Bei einmaligem Wechsel sind je die geraden und je die ungeraden","page":428},{"file":"p0429.txt","language":"de","ocr_de":"Vin. Der Generationswechsel in ontogenet. und phylogcnct. Beziehung. 429\nGenerationen (also n 2, t\u00bb und w -j- 2) einander gleich (Merismo-pedia, Fig. 22 c\u2014g auf S. 401); bei zweimaligem Wechsel stimmt je die #\u00bb** Generation mit der n \u2014 3ten und mit der n -f 3*\u00aen \u00fcberein (Chroococcus, Gloeocapsa). Auch bei diesen tritt eine Ver\u00e4nderung der Individuen beim Uebergang in die Yegetationsruhe meist nicht ein.\nNehmen aber am Ende einer Vegetationsperiode die Zellen der letzten Generation den Charakter von Sporen an, indem sie den Inhalt verdichten und die Zellmembran st\u00e4rker und fester machen, wie dies bei Gloeocapsa und Bacterium vorkommt, so folgt auf eine Reihe von Wiederholungsgenerationen die einzelne geschlechtslose Sporengeneration, mit welcher der ontogenetische Cycluu abschliesst. Die Reihe der Wiederholungsgenerationen gliedert sich, wenn die rheilung8richtung in 2 oder in 3 Richtungen des Raumes abwechselt, in 2 oder 3z\u00e4hlige Perioden.\nDie mehrzelligen Schizophyten sind fast ausschliesslich einreihige F\u00e4den. Diese Individuen vermehren sich durch Theilung, indem die Theilungsstellen durch Grenzzellen (S. 419) bestimmt werden, oder indem der Faden auch ohne Grenzzellenbildung in kurze St\u00fccke (Hormogonien) zerf\u00e4llt. Bei den einen tritt keine weitere Erscheinung auf, indem sie unver\u00e4ndert die Zeit des Vegetationsunterbruches \u00fcberdauern ; hier mangelt ein Generationswechsel (Oscillaria). Bei den andern bildet die letzte Generation einer Vegetationsperiode Ruhesporen, indem eine gr\u00f6ssere oder kleinere Zahl von Zellen sich vergr\u00f6ssert, die Wandung verdickt und sich mit dichtem Inhalte anf\u00fcllt; hier folgt auf eine Reihe von Wiederholungsgenerationen eine einzelne sporenbildende Generation (Cylindro-8permum, Rivularia).\nW\u00e4hrend bei den geschlechtslosen Pflanzen die einzelne Sporen-gencration einer Reihe von ganz gleichen Wiederholungsgenerationen gegen\u00fcbersteht, weichen bei den geschlechtlichen Pflanzen, welche einen Generationswechsel mit Wiederholungsgenerationen he\u2019 n, die erste und letzte der ungeschlechtlichen Generationen mehr oder weniger von den \u00fcbrigen ab. Bei diesen Pflanzen gilt folgendes Schema f\u00fcr die Folge der Generationen eines ontogenetischen Cyclus:\nA JB,... Bm C D,\nwenn mit Bx... liH die Wiederholungsgenerationen, mit C die geschlechtserzeugende (gamotoke), mit D die androgyne und mit A die geschlechtserzeugte (gamogenc) Generation bezeichnet wird.","page":429},{"file":"p0430.txt","language":"de","ocr_de":"480 VIII. Der Generationswechsel in ontogcnct. und phylogenet. Beziehung.\nBez\u00fcglich des Umfanges der androgynen Generation k\u00f6nnte man verschiedener Meinung sein. Am deutlichsten stellen sich die zwei m\u00f6glichen Ansichten bei den einzelligen Pflanzen heraus. Entweder brachtet man die m\u00e4nnliche und weibliche Zelle und ihr Vereinigungsproduct, die befruchtete Eizelle (Zygote), als eine einzige oder als zwei Generationen. Das erstere erscheint mir als \u00ablas natur-gem\u00e4sse; denn \u00ab1er Befruchtungsact ist doch eigentlich keine Fortpflanzung. Es widerstrebt dem nat\u00fcrlichen Gef\u00fchl, die weibliche /eile vor und nach der Befruchtung als zwei verschiedene Generationen zu bezeichnen und somit auch anzunclnnen, dass bei der Parthenogenesis eine Generation ausfalle. L\u00e4sst man die Geschlechtszellen und ihre Zygoten als Eine Generation gelten, so muss man doch zwei Stadien derselben unterscheiden : die androgyne Generation als getrennte m\u00e4nnliche und weibliche Zollen (/)\u2019) und dieselbe nach \u00ab1er Verschmelzung dieser Zellen (ZT). Damit ist jedem Be\u00abl\u00fcrfniss Gen\u00fcge geleistet und zugleich die Analogie mit den anderen Generationen gewahrt.\nAls Beispiel der nie\u00ablrigsten Geschlechtspflanzen mag zun\u00e4chst Chlamydomonns pulvisculus dienen. Die Wie\u00ablerholungsgenerationen (If, ... Bn) sind einzellige Pfl\u00e4nzchen, welche zeitlel>en8 als zwoi-wimprige, mit einer Membran umh\u00fcllte Schw\u00e4rmzellen herumschwimmen , und durch wie\u00ablerholte Zweitheilung mehrere Kinder erzeugen. Darauf folgt eine Generation, \u00ablie letzte der ungeschlechtlichen (C), deren Individuen sich ungleich verhalten. Die einen erzeugen n\u00e4mlich 2 bis 4 gr\u00f6ssere weibliche, die andern erzeugen 8 kleinere m\u00e4nnliche Schw\u00e4rmzellen. Von \u00ab1er Geschlechtsgeneration (/>') legen sich je eine m\u00e4nnliche und eine weibliche Pflanze mit ihren Wimperenden an einander an, verwachsen daselbst, indem sie ihre Wimpern verlieren, und nach Resorption der Zellmembran an der Verwachsungsstelle wandert der Inhalt \u00ab1er m\u00e4nnlichen Zelle in die H\u00f6hlung der weiblichen Zelle \u00fcber, worauf aus den vereinigten beiden Zellinhalten die Zygospore entsteht (ZT). Aus der letzteren werden nach der Ruhezeit mehrere Schw\u00e4rmzellen gebildet; es ist dies die geschlechtserzeugte Generation (A). \u2014 Die beiden Generationen C und A unterscheiden sich bei Chlamydomonas \u00e4usserlich noch nicht wesentlich von den Wiederholungsgenerationen B,... Zf, ; man erkennt die erstere daran, dass sie ein andersartiges Zeugungsverm\u00f6gen, die letztere daran, dass sie einen andersartigen Ursprung besitzt.","page":430},{"file":"p0431.txt","language":"de","ocr_de":"VIII. Der Cieneratiuiutwechsel in ontogenot. und jdiylogenet. BoaehunR. 43 \\\nBei der verwandten einzelligen Alge Pandorina morum sind die zweiwimprigen Individuen der Wiederholungsgenerationen zu 10 bis 04 in schw\u00e4rmende kugelige Colonien vereinigt. Bei der Fortpflanzung entstehen durch wiederholte Theilung des Inhaltes aus den einzelnen Zellen eben so viele kugelige Colonien, die sich von einander trennen {B,... JiH). Dio letzte ungeschlechtliche (generation (C) unterscheidet Hieb auch hier von den vorausgehenden Wiederholungsgenerationen nur durch das Product ; ihre Individuen erzeugen n\u00e4mlich geschlechtlich differenzirte, bloss Hzellige Colonien. Von diesen Colonien der androgynen Generation {!)) sind die einen m\u00e4nnlich, die andern weiblich, ohne \u00fcbrigens sich \u00e4usserlich sonst von einander zu unterscheiden. Sie zerfallen schon im jugendlichen Zustande in \u00ablie einzelnen Zellen, welche schw\u00e4rmen und sich, je eine m\u00e4nnliche und eine weibliche, vereinigen um eine kugelige Zygosj\u00bbore zu bilden. Nach \u00ab1er Ruhezeit erzeugt die Zygospore 1\u20143 gr\u00f6ssere Schw\u00e4nnzellen, welche die erste ungeschlechtliche Generation darstellen (A) und durch wiederholte Theilung in l\u00df Zellen die erste Wiederholungsgeneration (B,) hervorl>ringen.\nDie androgyne Generation von Pandorina durchl\u00e4uft 3 Zust\u00e4nde: im ersten sind die Geschlechtszellen zu m\u00e4nnlichen und weiblichen Colonien verbunden, im zweiten schw\u00e4rmen sie einzeln, im dritten sind sie zu Zygosporen verschmolzen. Die zwei ersten Stadien werden auch als zwei Generationen betrachtet, indem man sagt, dass die\nZellen der Colonie je ein geschlechtliches Individuum erzeugen, _____\neine Vorstellung, die mir bei Vergleichung mit andern verwandten Pflanzen nicht gerechtfertigt erscheint.\nDas Wassernetz (Hydrodictyon) verh\u00e4lt sich bez\u00fcglich der Generationenfolge im Wesentlichen ebenso wie Pandorina. Die cylin-drischen Zellen der Wiederholungsgenerationen sind in grosser Zahl zu weitmaschigen geschlossenen Netzen verwachsen. Die Fortpflanzung geschieht dadurch, dass in jeder Zelle des Netzes durch simultane Theilung des Inhaltes bis zu 20 000 Zellen entstehen, welche innerhalb der Membran ihrer Elterzelle schw\u00e4rmen und sich dann zu einem Netz vereinigen, das, nachdem es frei geworden, sich stark vergr\u00f6ssert. Die geschlechtserzeugende Generation (C) bildet viel zahlreichere m\u00e4nnliche und weibliche Zellen (bis zu 100 000), welche sich nicht zu einem Netz zusammenordnen, sondern einzeln schw\u00e4rmen, dann zu 2 oder auch zu mehreren mit einander verschmelzen","page":431},{"file":"p0432.txt","language":"de","ocr_de":"432 VIII. Dor Generationswechsel in ontopenet. und phylopenet. Beziehung.\nund ruhende kugelige Zygosporen darstellen. Beim Wiederbeginn der Vegetation erzeugt jede Spore einige wenige grosse Schwftrmzellen, welche nach kurzer Zeit zur Ruhe gelangen und eine polyedrische Gestalt annehmen (A); aus ihnen entstehen die noch rudiment\u00e4ren Netze der ersten Wiederholungsgeneration (2A).\nBei den der Gattung Pandorina nahe stehenden Gattungen Eu-dorina und Volvox zeigt der Generationswechsel eine bemerkens-werthe Verschiedenheit zwischen der m\u00e4nnlichen und der weiblichen Gesehlechtssph\u00e4re. In der letzteren wird n\u00e4mlich eine Generation unterdr\u00fcckt, indem die Zellen, welche sonst die geschlechtserzeugende Generation (C) darstellen, ungetheilt bleiben und zu weiblichen Geschlechtszellen (Eizellen) werden. In der m\u00e4nnlichen Geschlechtssph\u00e4re dagegen erzeugt jede Zolle der Generation C durch wiederholte Theilung eine Mehrzahl von m\u00e4nnlichen einzelligen Individuen (Spermatozoiden). Diese Verschiedenheit stimmt mit der bekannten Erscheinung der mehrzelligen Pflanzen \u00fcberein, dass in der m\u00e4nnlichen Geschlechtssph\u00e4re eine gr\u00f6ssere Zahl von Zellgenerationen durchlaufen wird als in der weiblichen; nur gibt sie sich hier bei den einzelligen Pflanzen als eine Verschiedenheit in dem Wechsel der Individuen kund. \u2014 Aus dem Verhalten von Eudorina und A olvox ergibt sich \u00fcbrigens auch f\u00fcr den Generationswechsel der einzelligen Pflanzen die Nothwendigkeit, die gesehlechtserzeugende Generation C von den Wiederholungsgenerationen (I\u00ce, . .. ]im) zu trennen.\nGehen wir von den einzelligen zu den vielzelligen Geschlechtspflanzen \u00fcl)er, so finden wir in der Algengattung Ulothrix ein h\u00f6chst einfaches Vergleichsobject. Die Wiederholungsgonerationen, die im Herbst und Winter leben, sind unverzweigte einfache Zellreihen (gegliederte Wasserf\u00e4den). Dieselben pflanzen sich durch 4wimprige, nackte Schwftrmsporen, welche meistens zu 4 in den Gliedern des Fadens entstehen, fort. Die geschlechtserzeugende Generation (C) gleicht vollkommen den Wiederholungsgenerationen, aber sie bildet in ihren Zellen zahlreichere kleine Schw\u00e4rmzellen, welche geschlechtlich differenzirt sind und sich je 2 oder auch je 3 zu einer Zygospore vereinigen (D). Letztere dauert den Sommer \u00fcber aus und erzeugt im Herbst mehrere Schw\u00e4nnsporen, welche den Anfang der geschlechts-","page":432},{"file":"p0433.txt","language":"de","ocr_de":"VIH. Der (\u00bbcnerationswerhwl in ontogenct. und phylogenet. Heriehung. 433\nerzeugten Generation {A) darstellen und wahrscheinlich in ihrer weiteren Entwicklung sich analog den Wiederholungsgenerationen verhalten.\u2014 Bei Ulothrix unterscheidet sich also die androgyne Generation von allen andern Generationen dadurch, dass sie einzellig ist. Das Schema der Generationen, die zu einer Ontogenie geh\u00f6ren, ist das n\u00e4mliche wie das oben (S. 42\u2018J) f\u00fcr eine Gruppe von einzelligen Pflanzen aufgestellte\nA B{...Bn C D.\nBei Oedogonium, f\u00fcr welche Gattung das n\u00e4mliche Schema gilt, sind die Wiederholungsgenerationen (Ji,... B\u201e) ebenfalls unverzweigt** Zellreihen. Aus den Gliedern dieser Wasserf\u00e4den tritt je der ganze /clleninhalt als nackte, mit einem Kranz von Wimpern versehene Schw\u00fcrmspore heraus, welche sich sofort zu einem Wasserfaden entwickelt. Die letzte oder die geschlechtserzeugende Generation (C) ls'sitzt zwei neue Organe, die durch DifFerenzirung aus den Schw\u00e4rm-sj\u00bboreil-bildendei\\ Gliedern hervorgegangen sind. Einzelne bestimmte Gliederzellen sind angcschwollen (Oogonien); ihr Inhalt zieht sich etwas zusammen und stellt die Eizelle dar; seine der sich bildenden Oeffnung zugekehrte Seite ist der farblose Keimfleck. Einzelne h\u00f6her gelegene, ebenfalls bestimmte Glieder des Fadens (wenn die Pflanzen mon\u00f6cisch sind) theilen sich in wenige k\u00fcrzere Zellen, welche je ihren ganzen Inhalt als kleines bewegliches, ebenfalls einen Wimper-knmz tragendes Zellchen heraustreten lassen. Dies sind die Spermatozo\u00efde, welche durch die Oeffnung der Oogonien zu der Eizelle hineinschwimmen und mit dem Keimfleck verschmelzen. Die l>e-fruchtete Eizelle (/>\") wird durch Bildung einer Membran zur Oospore, welche nach einer Ruheperiode 4 Schw\u00e4rrnsporen erzeugt, aus denen wieder gegliederte Wasserf\u00e4den (,4) sich entwickeln.\nOedogonium stimmt mit Ulothrix in der Einzelligkcit der andro. gynen Generation und im ganzen Verhalten des Generationswechsels \u00fcberein, unterscheidet sieh aber von der letzteren Gattung durch die weitgediehenc Ungleichheit der geschlechtlich differenzirten Zellen und darin, dass die geschlechtserzeugende Generation auch \u00e4usser-lich von den Wiederholungsgenerationen abweicht, n\u00e4mlich durch die angeschwollenen Oogonienglieder und die kurzen Antheridien-glieder. Die androgyne Generation tritt weniger deutlich als 1 \u00bbeson-derc Generation hervor, weil die weiblichen Zellen (Eizellen) sieh nicht von der ElterpHanze loetrennen.\nv. N&gell, AlmUmmungtilclin:.\n2b","page":433},{"file":"p0434.txt","language":"de","ocr_de":"434 VIII. Der Generationswechsel in ontngenct. und phylogenet. Bestehung.\nMan nennt die geschlechtserzeugende Generation von Oedogonium die Geschlechtsgeneration, und dies ist insofern ganz richtig, als sie die Geschlechtsorgane tr\u00e4gt. Damit begeht man aber unwillk\u00fcrlich eine Inconsequenz gegen\u00fcber dem Verfahren bei den einzelligen Pflanzen, wo die m\u00e4nnlichen und weiblichen einzelligen Individuen unbestritten die Geschlechtsgeneration darstellen. Die allgemein als Geschlechtspflanzen bezeichneten F\u00e4den von Oedogonium und anderen Algen sind eigentlich nur die geschlechtserzeugenden Individuen, und erst die einzellige androgyne Generation ist in Wirklichkeit die Geschlechtsgeneration. Um aber Missverst\u00e4ndnisse zu verh\u00fcten, habe ich sie die androgyne Generation genannt, und diesen Ausdruck gew\u00e4hlt, um zugleich den Unterschied von dem Begriffe gynandrisch anzudeuten. Was ich soeben bez\u00fcglich einiger fadenf\u00f6rmiger Algen gesagt habe, gilt auch f\u00fcr alle \u00fcbrigen vielzelligen Pflanzen mit Geschlechtsdifferenz ; bei denselben sind die sogenannten geschlechtlichen Individuen stets die geschlechtserzeugenden und erst ihre Kindindividuen stellen die androgyne Generation dar.\nEine Gruppe von Oedogonium zeichnet sich dadurch aus, dass in der m\u00e4nnlichen Geschlechtssph\u00e4re eine Generation eingeschaltet wird. Die geschlechtserzeugende Generation bildet ihre Oogonien und Eizellen ganz in der vorhin angegebenen Weise; aber statt der Spermatozo\u00efde bringt sie m\u00e4nnliche Schw\u00e4rmsporen (Androsporen) hervor, welche in der Gr\u00f6sse die Mitte halten zwischen den ungeschlechtlichen Schw\u00e4rmsporen und den Spermatozoiden. Aus denselben entstehen Zwfci\u2019gm\u00e4nnchen, die meistens aus zwei Zellen bestehen, von denen die obere zum mehrgliedrigen Antheridium wird und Spermatozo\u00efde erzeugt. Diese eingeschaltete Generation geh\u00f6rt nicht dem gemeinsamen Generationswechsel an, sondern ist als eine phylogenetische Bereicherung der m\u00e4nnlichen Geschlechtssph\u00e4re zu betrachten. Sie kann auf einer folgenden phylogenetischen Stufe dadurch, dass die Androsporen sich nicht lostrennen, sondern als Gewebezellen mit dem elterlichen Individuum verbunden bleiben, zum zusammengesetzten m\u00e4nnlichen Geschlechtsorgan werden.\nDas Thallom von Vaucheria ist in allen Generationen eine r\u00f6hrenf\u00f6rmige (nicht septirte) verzweigte Zelle. Die Wiederholungsgenerationen (B|.. . \u00dfn) lassen aus den keulenf\u00f6rmig angeschwollenen Enden der Schl\u00e4uche je eine grosse, an der ganzen Oberfl\u00e4che kurz-bewimperte Schw\u00e4rm spore heraustreten, die nach kurzer Zeit keimt.","page":434},{"file":"p0435.txt","language":"de","ocr_de":"Vin. Der Generationswechsel in ontogenet und phylogenet. Beziehung. 435\nDie geschlechtserzeugende Generation (C) bildet in kleinen Seitenzweigen die Geschlechtszellen, und zwar in d\u00fcnnem gebogenen Antheridienzweigen mehrere sehr kleine zweiwimprige Spermatozoide, in den bauchigen Oogonienzweigen je oine nicht heraustretende Eizelle, welche nach der Befruchtung zur Oospore (ZT) wird. Die nach einer Ruhezeit keimende Oospore wachst zu einer verzweigten Schlauchzelle aus.\nVaucheria unterscheidet sich in ihrem Generationswechsel dadurch von den bis jetzt angef\u00fchrten Wasserf\u00e4den, dass sie nur 3 verschiedenartige Generationen besitzt: 1) die Wiederholungsgenerationen (It,... Bn), 2) die geschlechtserzeugende Generation (O), welche sich von jenen auch morphologisch durch den Geschlechtsapp:.rat unterscheidet, und 3) eine Generation, welche in drei verschiedenen Stadien auftritt, n\u00e4mlich zuerst als Eizelle und als Spermatozoid (D'), dann als Ooospore (ZT) und zuletzt als r\u00f6hrenf\u00f6rmiges Thallom. Es sind also hier die androgyne Generation (D) und die geschlechtserzeugte Generation (A) in eine einzige vereinigt; der ontogenetische Cyclus zeigt folgendes Schema\nBx... Bn C (D -f- A).\nMan kann die letzte Generation (D -f A) bei Vaucheria nicht in zwei trennen ; denn es w\u00fcrde zu ganz unannehmbaren Consequenzen f\u00fchren, wenn man die Spore und ihr Keimproduct als zwei Individuen betrachten wollte. Andrerseits ist es ebenso unm\u00f6glich, die Ruhespore von Oedogonium und von Ulothrix sammt ihren Keim-producten als eine einzige Generation anzusehen, da aus einer Spore mehrere Individuen hervorgehen.\nAls Beispiel einer Alge, bei welcher der Generationswechsel noch mehr reducirt ist, f\u00fchre ich Acetabularia an. Diese Pflanze hat ein r\u00f6hriges Thallom mit einem Quirl von Aesten, die zu einer schirmf\u00f6rmigen Scheibe verwachsen sind. In den Strahlen des Schirms bilden sich zahlreiche Ruhesporen auf ungeschlechtlichem Wege. Dieselben lassen nach einigen Monaten zahlreiche zweiwimprige Schw\u00e4rmsporen heraustreten, welche geschlechtlich differenzirt und je nach den Pflanzen, von denen die Ruhesporen herstammen, m\u00e4nnlich oder weiblich sind. Aus der Verschmelzung je zweier oder auch mehrerer dieser Geschlechtszellen entstehen Zygosporen, welche nach mehrmonatlicher Ruhe keimen und kleine Pfl\u00e4nzchen bilden. Von\n28*","page":435},{"file":"p0436.txt","language":"de","ocr_de":"43G VIII. Der Generationswechhel in ontogenct. und phylogenet. Beziehung.\ndenselben \u00fcberwintert der basale Theil, der, in den folgenden Jahren starker werdend, auch an St\u00e4rke zunehmende Triebe hervorbringt, bis dieselben zur fortpflanzungsf\u00e4higen Schirmpflanze geworden sind.\nAeetabularia hat also nur zweierlei Generationen, die beide sich nicht wiederholen. Die ungeschlechtlich entstandenen Ruhesporeu stellen die kurzlebige geschlechtserzeugende Generation (C) dar. Die langlebige Generation durchl\u00e4uft eine Reihe von Stadien, deren erstes die m\u00e4nnlichen und weiblichen Schw\u00e4rmsporen, das zweite die Zygo-sporen, die \u00fcbrigen aber die auf einander folgenden Jahrestriebe sind. Vergleichen wir Aeetabularia mit dem Schema des Generationen-cyclus, wie es f\u00fcr Chlamydomonas, Pandorina, Ulothrix, Oedogonium gilt, so entspricht die langlebige Generation in ihren Stadien zugleich der androgynen (D), der geschlechtserzeugten (A) und der ganzen Reihe von Wiederholungsgenerationen (Bx... Bn), so dass also das Schema der ontogenetischen Periode von Aeetabularia sich also darstellt\nC (D+ A + Bx...Bn).\nBei vielen h\u00f6heren Algen mangelt der Generationswechsel g\u00e4nz. lieh, so dass hier die getrennten Generationen der niederen Algen bloss noch mehr oder weniger deutlich als Entwicklungsstadien des n\u00e4mlichen Individuums zu erkennen sind. Als Beispiele sind zu nennen Ectocarpus, Fucus, Chara.\nAuch die Zygnemaceen haben keinen Generationswechsel. Aus der Zygospore entsteht eine unvorzweigte Zellreihe (gegliederter Wasserfaden), welche zuf\u00e4llig in mehrere F\u00e4den zerfallen kann und deren Zellen durch Conjugation Zygosporen bilden. \u2014 Die nahe verwandte Ordnung der Desmidiaceen dagegen, welche \u00abiwrallig ist, l>esitzt Generationswechsel. Die Wiederholungsgenerationen vermehren sioh durch Zelltheilung. Die letzten durch TheUung entstandenen Individuen bilden Zygosporen, in welchen nach der Ruhezeit wieder Zelltheilung l>eginnt. Das erste Product derselben ist die geschiechtserzeugte Generation, die sich durch einfacher gebaute Zellen von den darauffolgenden Wiederholungsgenerationen unterscheiden. Der Generationswechsel der Desmidiaceen stimmt also mit demjenigen anderer geschlechtlich differenzirter einzelliger Algen \u00fcl>erein, nur mit dem Unterschiede, dass hier die androgyne Generation vor deni Conjugations- und Befruchtungsprocess vollkommen den Wiederholungsgenerationen gleicht, und dass somit auch die","page":436},{"file":"p0437.txt","language":"de","ocr_de":"VIII. Der Generationswechsel in ontngonet. nnd phylogonct. Bestellung. 437\nvorausgehende geschlechtserzeugende Generation nicht unterschieden werden kann.\nBei den Moosen nimmt man jetzt gew\u00f6hnlich zwei Generationen an. Die gr\u00fcne, oft mit Bl\u00e4ttern begabte, den Assimilationsprocess besorgende Moospflanze, welche die m\u00e4nnlichen und weiblichen Organe (Antheridien und Archegonien) tr\u00e4gt, wird als die Geschlechtsgeneration bezeichnet. Die Moosfrucht, welche aus der ^fruchteten Eizelle entsteht und Tetrasporen erzeugt, ist die ungeschlechtliche Generation. Vergleichen wir die Moose bez\u00fcglich des Generationswechsels mit den Algen, so entspricht die Generation, welche mit den Spermutozoiden und der Eizelle beginnt und durch die befruchtete Eizelle zum Sporogonium fortschreitet, der vereinigten androgynen und geschlechtserzeugten Generation (7)-f-A). Dio andere Generation, welche mit einer Spore beginnt und mit Bildung von Antheridien und Archegonien abschliesst, stellt die vereinigten Wioderholungs-gonorationen sammt der geschlechtserzeugenden Generation dar (B,... Bm + CT).\nBei den Gef\u00e4sscryptogamen wechseln, genau wie bei den Moosen, rogelm\u00e4ssig zwei Generationen mit einander ab. Das aus der Spore hervorgehende die Geschlechtsorgane tragende Protliallium wird als die geschlechtliche, der bl\u00e4ttertragende aus der befruchteten Eizelle am Prothallium entspringende Stengel, welcher die Sporangien bildet, als die ungeschlechtliche Generation in Anspruch genommen.\nDie angef\u00fchrten Beispiele gen\u00fcgen, um einen deutlichen Begriff von dem Generationswechsel im Pflanzenreiche zu geben. Demsell>on kann, wie ich schon eingangs bemerkte, bei manchen Pflanzen eine verschiedene Form gegeben werden, je nach der Grundlage, von der man ausgeht. Es ist daher diese Grundlage, das Individuum, n\u00e4her zu pr\u00fcfen und festzustellen.\nDie Auffassung der ontogenctischen Generationenfolge oder des Generationswechsels h\u00e4ngt davon ab, was wir unter Individuum verstehen. Beide Begriffe stehen in innigster Beziehung zu dom Verlaufe des phylogenetischen Entwicklungsvorganges ; die Betrachtung des letzteren f\u00fchrt naturgem\u00e4ss auch zu der Beurtheilung der Frage, was als Pflanzenindividuum in Anspruch zu nehmen sei.","page":437},{"file":"p0438.txt","language":"de","ocr_de":"438 VIII. Dur Generationswechsel in ontngenet untl phylngenet. Beziehung.\nDiese Frage ist in der verschiedenartigsten Weise beantwortet worden. Scheinbar hat sie f\u00fcr das Pflanzenreich eine andere Bedeutung und bietet viel gr\u00f6ssere Schwierigkeiten dar als f\u00fcr das Thierreich. In Wirklichkeit abor sind die Schwierigkeiten nicht gr\u00f6sser, sondern liegen nur viel offenkundiger da und bieten daher auch Gelegenheit, leichter \u00fcberwunden zu werden.\nAls Pflanzenindividuum ist von Gallesio die ganze aus dem Samen hervorgehende Entwicklung betrachtet worden, sodass die ungeschlechtliche Vermehrung nicht im Stande w\u00e4re, neue Individuen hervorzubringen ; nach dieser Theorie ist Individuum identisch mit Ontogenie. Manche Morphologen dagegen nehmen nach dem Vorg\u00e4nge E. Darwin\u2019s die Knospe und den daraus erwachsenden Spross als das Individuum in Anspruch, sodass der Baum eine zusammenh\u00e4ngende Colonie oder Familie von Individuen w\u00e4re. Endlich verk\u00fcndete Schleiden, dem Anstoss von Turpin folgend, die Zelle als das eigentliche Pflanzenindividuum. Jede dieser Annahmen hat in ihrer Einseitigkeit eine gewisse Berechtigung ; aber keine gibt die L\u00f6sung der allgemeinen Frage. Dies habe ich schon im Jahre 1853 ausgesprochen mit den Worten1):\n\u00bbJede individuelle Erscheinung im Pflanzenreich : Zelle, Organ, Pflanze oder Pflanzenstock, um die dazwischen liegenden Erscheinungen zu \u00fcbergehen, hat ihre Berechtigung ; keine aber darf als das Individuum schlechthin betrachtet werden. Bald ist die Selbst\u00e4ndigkeit der Zelle, bald die des Organs, bald die der ganzen Pflanze \u00fcberwiegend ; und es ist gerade die Aufgabe der Wissenschaft, zu zeigen, wie nach und nach die Zelle und das Organ an Selbst\u00e4ndigkeit verlieren und die Individualit\u00e4t des ganzen Pflanzenstockes erstarkt, c\nDiese Theorie habe ich im Jahre 1856 allgemein begr\u00fcndet und weiter ausgef\u00fchrt, dabei namentlich auch hervo^gehoben, dass man im Pflanzenreiche verschiedene Begriffe der Individualit\u00e4t aus einander halten m\u00fcsse. Ich unterschied morphologische und physiologische Individuen, indem ich unter morphologischem Individuum jede Erscheinung mit \u00bbeinheitlichem Ursprung, eigenth\u00fcm-licher Entwicklung und innerlich bestimmtem Abschluss\u00ab, unter\n*) In einer Anmerkung zu \u00bbSystematische Uebersicht der Erscheinungen im Pflanzenreich\u00ab 8. 33.","page":438},{"file":"p0439.txt","language":"de","ocr_de":"VIII. Dor Generationswechsel in oiitngonet. und jdiylugeuct. Beziehung. 43\u00ab)\nphysiologischem Individuum jcdo Erscheinung, die \u00bbselbst\u00e4ndig f\u00fcr sich leben kann\u00ab, verstund1).\nIndividuum ist seinem Wortlaute nach ein Ding, das nicht ge* * theilt werden kann, ohne sein Wesen cinzub\u00fcssen, womit nichts anderes gesagt \u00abviid, als dass es kein Conglom\u00e9rat von gleichartigen Dingen sein kann. Mechanisch aufgefasst ist das Individuum ein materielles System, welches aus Thoilsystemen bestellt, die von dem Ganzen wesentlich verschieden sind. Ein Sandhaufen, eine Wasser-mussc, ein Gasvolumen k\u00f6nnen nicht als Individuen betrachtet werden. Desswegen habe ich auch die aus gleichen Zellen bestehenden Aggregate der niederen Algen nicht als mehrzellige Pflanzen, sondern als Colonien von einzelligen Pflanzen erkl\u00e4ren zu m\u00fcssen geglaubt, selbst in den F\u00e4llen, wo die Zellen, wie bei Pcdiustrum, Hydrodictyon u. A. fest mit einander verwachsen sind*).\nNun kann aller das einheitliche Wesen bei den Organismen, je nach dem Standpunkt, auf den man sich stellt, in verschiedener Weise aufgefasst werden. Die morphologische Einheit oder Individualit\u00e4t wird nach dem Bau und der Zusammensetzung aus Theilen beurtheilt ; sie kann ein Ganzes oder irgend ein Theil eines Ganzen sein, muss aber stets von einem einheitlichen Ursprung ausgegangen sein. Insofern gibt es Individuen verschiedener Grade, wie ich schon oben erw\u00e4hnt habe (S. 12), indem je das Ganze einem h\u00f6heren Individualit\u00e4tsgrad angeh\u00f6rt als die dassellie zusammen-setzonden Theile. Man wird dies leicht zugestehen, sow'eit das individuelle Ganze aus zusammenh\u00e4ngenden Theilen besteht, wie beispielsweise der Pflanzenstock.\nAber nicht nur zusammenh\u00e4ngende K\u00f6rper sind als Individuen zu betrachten, sondern auch getrennte K\u00f6rper, die aus einander entstehen und in der Zeit regelm\u00e4ssig und mit innerer Nothw\u2019endigkeit uuf einander folgen. Eine individuelle Erscheinung ist also jedes organische Individuum sammt einer gr\u00f6sseren oder kleineren Reihe von Vorfahren und von Nachkommen, somit eine Abstammungslinie (nier ein Stammbaum, insofern nicht durch Befruchtung andere Abstammungslinien sich eingemischt haben. Solche Einheiten k\u00f6nnen, gegen\u00fcber den zusammenh\u00e4ngenden Individuen, als Ketten-\nl) \u00bbDie Individualit\u00e4t in der Natur\u00ab in der Monatschrift des wissenschaftl. Vereins in Z\u00fcrich.\n*) Gattungen einzelliger Algen. 1849.","page":439},{"file":"p0440.txt","language":"de","ocr_de":"440 VIII. Dor Generationswechsel in ontogenet. und phylogcnct. Beziehung.\nindividuell unterschieden werden. Die Kettenindividuen sind entweder ontogenetische, insofern Generationswechsel t>esteht und dio Generationen bis zur Wiederkehr der n\u00e4mlichen Generation zu-sammengefasst werden (bei mangelndem Gonerat ions Wechsel ist das ontogenetische Individuum ein zusammenh\u00e4ngendes), oder phylogenetische, insofern sie aus einer Reihe von Ontogcnien l>estehen.\nF\u00fcr die Ansicht, dass eine Folge von getrennten Organismen als ein Individuum betrachtet werden kann, spricht der Umstand, dass die Nachkommen aus einer Partie von Substanz \u00ab1er Vorfahren entstehen, und namentlich die Thatoaclie, \u00ablass \u00ablurch die ganze Ab-stammungsroiho hindurch materiell das n\u00e4mliche Idioplasma bestellt und sich weiterbildet. Wenn aber auch ein ganzer Stammbaum als eine Einheit angesehen werden muss, so gilt dies nicht mehr f\u00fcr die fr\u00fchere oder sp\u00e4tere Nachkommenschaft eines Individuums ; dieselbe stellt, f\u00fcr sich betrachtet, ein Conglom\u00e9rat dar und wird bloss in Verbindung mit allen Vorfahren bis zur\u00fcck zum einheitlichen Ausgangspunkt zur wirklich individuellen Erscheinung. So k\u00f6nnen also die jetzt lebenden Arten einer nat\u00fcrlichen Familie, auch wenn sie alle von der n\u00e4mlichen Urart abstammen, f\u00fcr sich allein betrachtet bloss als eine Zusammenh\u00e4ufung von verwandten Dingen gelten, wie etwa die abgeschnittenen Zweigspitzen eines Baumes; erst in Verbindung mit ihren Abstammungslinien worden sie zum baumartigen Individuum, dessen Enden sie sind.\nDie physiologische Einheit oder Individualit\u00e4t wird nach der Verrichtung beurtlieilt, ohne R\u00fccksicht auf Bau und Ursprung. Sie setzt immer den materiellen oder wenigstens den dynamischen Zusammenhang ihrer Theile voraus, stimmt sehr h\u00e4ufig mit dem morphologischen Individuum \u00fcberein, kann aber auch von demselben abweichen. \u2014 Line besondere Art des physiologischen Individuums wird durch die Ber\u00fccksichtigung der Selbst\u00e4ndigkeit gegeben. Organische K\u00f6rper, die aus anderweitigen physiologischen oder aus morphologischen Gr\u00fcnden als individuell bezeichnet werden m\u00fcssen, k\u00f6nnen selbst\u00e4ndig oder unselbst\u00e4ndig sein und somit als Individuen gelten oder nicht, je nachdem ihre Lebensvorg\u00e4nge bloss mit den \u00e4usseren Medien oder mit anderen gleichen Individuen in Beziehung stehen. So ist die einzeln lebende Zelle selbst\u00e4ndig, die im Gewebe befindliche unselbst\u00e4ndig1). Ich habe fr\u00fcher \u00ablen selb-\n*) \\gl. \u00fcber den Unterschied von ein- und mehrzelligen Pflanzen 8. 348.","page":440},{"file":"p0441.txt","language":"de","ocr_de":"VIII. Dit GrneratioiwwecliMcl in ontogcnet. und phylofienct. Beziehung. 441\nst\u00e4ndigen Organismus als das physiologische Individuum schlechthin angenommen, indem ich nur die eine physiologische Beziehung ber\u00fccksichtigte. Es ist aber jedenfalls bezeichnender und dient zur Vermeidung von Missverst\u00e4ndnissen, wenn der Ausdruck selbst\u00e4ndiges Individuum gew\u00e4hlt wird.\nDas unselbst\u00e4ndige Individuum kann ebenso gut ein physiologisches oder ein morphologisches Individuum sein wie das selbst\u00e4ndige. Die Zelle in einem Gewebe ist, wiewohl unselbst\u00e4ndig, in morphologischer und physiologischer Hinsicht ebenso individuell als die selbst\u00e4ndig im Wasser lebende einzellige Pflanze ; die erstere \u00bbst ein materielles System, dessen Bewegungen und A7er\u00e4nderungen durch andere \u00e4hnliche materielle Systeme beeinflusst werden; dio letztoro ist ein materielles System, auf welches nur ftussero Bewegungen und Kr\u00e4fte einwirken. Das aus der ^fruchteten Eizelle der Moose hervorgehende Sporogonium und der aus der l>efruchteten Eizelle der Farne sich entwickelnde bebl\u00e4tterte Stengel sind zwar unselbst\u00e4ndige Wesen, aber doch sonst in allen Beziehungen sehr ausgesprochene individuelle Einheiten.\nDer Unterschied zwischen selbst\u00e4ndigen und unselbst\u00e4ndigen Individuen ist ein gradweiser, indem alle Ueberg\u00e4nge von der vollkommenen Selbst\u00e4ndigkeit bis zur vollkommenen Unselbst\u00e4ndigkeit Vorkommen. Es gibt Zellen, die bloss von \u00e4usseren Medien umgeben und durch dieselben bedingt werden, \u2014 ferner solche, dio ausserdem mehr oder weniger von anderen Zellen abh\u00f6ngen, \u2014 endlich solche, die ringsum in innigster Ber\u00fchrung mit Zellen stehen und bloss durch dieselben Winflusst sind. Die gleiche Abstufung IjcoI \u00bbachtet man an vielzelligen Wesen.\nDer Grad der Selbst\u00e4ndigkeit des Individuums erweist sich f\u00fcr die I\u2019hylogenie der Pflanzen von grosser Wichtigkeit, indem das n\u00e4mliche Gebilde auf der fr\u00fcheren phylogenetischen Stufe selbst\u00e4ndig ist und auf der sp\u00e4teren Stufe unselbst\u00e4ndig wird. Dabei l\u00e4sst sich zuweilen eine schrittweise Verminderung der Selbst\u00e4ndigkeit nachw'eisen. Auf diesen Vorg\u00e4ngen beruhen die ol>en aufgestellten phylogenetischen Gesetze I, II, III und IV (S. 357\u2014380).\nF\u00fcr die Gcnerationenfolge und den Generationswechsel ist die Selbst\u00e4ndigkeit und Unselbst\u00e4ndigkeit der morphologischen Individuen von wesentlicher Bedeutung; doch ist sie nicht allein entscheidend. Oefter muss ein unselbst\u00e4ndiges morphologisches Indi-","page":441},{"file":"p0442.txt","language":"de","ocr_de":"442 VIII. Der Generationswechsel in ontonenet. und phylogenet. Beziehung.\nviduum als besondere Generation betrachtet werden, weil es die Analogie, die aus der Vergleichung mit andern Pflanzen sich ergibt, fordert. Wir erhalten dadurch eine neue Kategorie von Individuen ; ich will sie das systematische Individuum nennen, weil es durch das systematische Bed\u00fcrfniss bestimmt wird.\nDas systematische Individuum ist das Ergebniss eines Compromisses zwischen den widerstrebenden Forderungen der verschiedenen Standpunkte l>ez\u00fcglich der Individualit\u00e4t zu Gunsten einer con-soquenten Behandlung. Es hat desshalb nur G\u00fcltigkeit f\u00fcr eine zusammengeh\u00f6rendo Gruppe von Pflanzen und kann in anderen Gruppen anders bestimmt werden. Als eine f\u00fcr das ganze Pflanzenreich g\u00fcltige Regel muss festgehalten werden, dass jeder selbst\u00e4ndig auftretende Theil ein Pflanzenindividuum darstellt, also jeder abgel\u00f6ste ein- oder mehrzellige Keim und jeder auf nat\u00fcrlichem oder k\u00fcnstlichem Wege losgetrennte, entwicklungsf\u00e4hige Spross.\nAber diese Regel l\u00e4sst sich nicht umkehren ; wir k\u00f6nnen nicht sagen, dass ein unselbst\u00e4ndiger Theil kein Pflanzenindividuum sein k\u00f6nne. Die Erscheinungen, welche uns die Geschlechtspflanzen darbieten, zwingen uns unbedingt dazu, in manchen F\u00e4llen einen Theil, der mit der Elterpflanze verbunden bleibt, als besonderes Individuum anzusehen. Bei den niederen Algen l\u00f6sen sich die m\u00e4nnlichen und weiblichen Fortpflanzungszellen ab und stellen l>e-sondere Individuen dar. Bei etwas h\u00f6her stehenden Algen und bei anderen Cryptogamen trennen sieh nur die m\u00e4nnlichen Zellen los, nicht al>er die Eizellen. Gleichwohl m\u00fcssen die letzteren ebenfalls als individuell gelten, selbst wenn sie auch nach der Befruchtung nicht selbst\u00e4ndig werden. Denn der weiblichen Zelle kommt der gleiche Rang zu wie der m\u00e4nnlichen, und nach der Befruchtung kann sie schon desswegen nicht als Theil des m\u00fctterlichen Individuums Ikj-trachtet werden, weil sie durch Aufnahme der Spermatozoido zur H\u00e4lfte die Fortsetzung des v\u00e4terlichen Individuums geworden ist.\nDie n\u00e4mliche R\u00fccksicht macht sich beim Uebergang von den Gef\u00e4sscrvptogameii zu den Phanerogamen geltend. Bei den ersteren l>eginnen mit den Sporen neue Individuen; und nachdem bei den h\u00f6chsten Gruppen der Gef\u00e4sscryptogamen die geschlechtliche Dif-ferenzirung der Sporen in Androsporen und Gynosporen eingetreten ist, stellen dieselben die Anf\u00e4nge von m\u00e4nnlichen und weiblichen Individuen dar. Bei den Phanerogamen trennen sich bloss noch","page":442},{"file":"p0443.txt","language":"de","ocr_de":"V'lll. Der (icneratioiiHwcdiHd in outogenet und pliylogenet. Beziehung 443\ndie Androsporen (Pollenk\u00f6rner) los, w\u00e4hrend die Gynosporen (Embryos\u00e4cke) zeitlebens mit dem Gewebe dor Elterpflanze verwachsen bleiben. Gleichwohl m\u00fcssen die Embryos\u00e4cke wegen der Analogie mit den Gynosporen der Gef\u00e4sscryptogamen und mehr noch wogen der Analogie mit den den n\u00e4mlichen Rang behauptenden Pollen-k\u00f6mern als Pflanzenindividuen und als besondere Generation betrachtet werden.\nAus dem Umstande, dass jeder selbst\u00e4ndige und lebensf\u00e4hige Theil als Pflanzenindividuum anzusehen ist, folgt noch nichts f\u00fcr dio Ber\u00fccksichtigung, welche derselbe boi der Generationenfolge und dem Generationswechsel zu beanspruchen hat. Unter den Individuen und Generationen gibt es solche, die nothwendig zur Onto-genie geh\u00f6ren und ohne welche die phylogenetische Entwicklung undenkbar ist, und andere, welche diese Bedeutung nicht haben, wiewohl sie ebenfalls zur Erhaltung der Abstammungslinien dienen. Individuen der letzteren Art sind beim Generationswechsel nicht zu ber\u00fccksichtigen. Um ein Beispiel anzuf\u00fchren, so haben die Moose einen ganz bestimmten Generationswechsel, indem das geschlechtserzeugende und das sporenbildende Individuum mit einander alterniren. Es ist eine accossorische, nicht nothwendig in don ontogenetischen Cyclus geh\u00f6rende Erscheinung, wenn das erstere der beiden Individuen, ehe es zur Bildung der Geschlechtsorgane gelangt, sich durch Brutkeime vermehrt. \u2014 I>essgleichen mangelt der Generationswechsel den Charaeeen, obgleich diese Pflanzen auch auf geschlechtslosem Wege sich vermehren k\u00f6nnen.\nWill man aber, was sich principiell nicht beanstanden liesse, die eben erw\u00e4hnten Erscheinungen als Generationswechsel bezeichnen, so muss man zwischen nothwendigem und zuf\u00e4lligem Generationswechsel unterscheiden. Dann kommt beispielsweise den Charaeeen und verschiedenen anderen Algen bloss ein zuf\u00e4lliger Generationswechsel zu. Ferner besteht dann bei den Moosen der nothwendige Wechsel darin, dass eine sporonorzeugte, geschlechtserzeugende Generation mit einer geschlechtserzougton, sporenbilden-don Generation altemirt, und der zuf\u00e4llige Wechsel darin, dass statt der erstgenannten Einzelgeneration eine Reihe von Generationen auftritt, von denen die erste aus Sporen, die folgenden aus Brutkeimen hervorgehen. F\u00fcr den systematischen Gebrauch d\u00fcrfte sich das Verfahren, welches den Generationswechsel einzig nach den","page":443},{"file":"p0444.txt","language":"de","ocr_de":"444 Vin. Der Generationswechfwl in ontogenet. un\u00abl phylogenet. Berichang.\nnothwendig der Ontogenie angeh\u00f6renden Generationen bestimmt, als das einfachere empfehlen.\nEs scheint zweckm\u00e4ssig, die Anwendung des Begriffes vom systematischen Individuum und seine Bedeutung f\u00fcr den Generationswechsel bei einigen Pflanzengruppen n\u00e4her zu betrachten. \u2014 Auf den untersten Stufen des Pflanzenreiches muss im allgemeinen das morphologische Individuum, n\u00e4mlich die Zelle, als das Pflanzenindividuum gelten, weil Selbst\u00e4ndigkeit und Unselbst\u00e4ndigkeit dor Zellen in allen Abstufungen Vorkommen und somit keine durchgreifende Tj nterscheidung zulassen. Eine einzellige Pflanze in systematischer Beziehung ist daher eine solche, bei welcher alle Zellen einander gleich sind, m\u00f6gen sie vereinzelt leben oder mehr und weniger innig mit einander Zusammenh\u00e4ngen. Wollte man die Selbst\u00e4ndigkeit der Zellen als Crit\u00e9rium ber\u00fccksichtigen, so w\u00e4ren von n\u00e4chst verwandten Sippen die einen einzellig, die andern mehrzellig; von anderen w\u00e4re es zweifelhaft, ob man sie als ein- oder mehrzellig erkl\u00e4ren sollte; und bei noch anderen w\u00fcrden die Pflanzen in einem Stadium einzellige Individuen und in einem sp\u00e4tem Stadium nur noch Theile eines mehrzelligen Individuums sein (Hydrodictyon).\nMan hat Volvox als mehrzellige Pflanze erkl\u00e4rt, weil von den zahlreichen, zu einer kugeligen Colonie zusammengeordneten Zellen regelm\u00e4ssig nur wenige der Fortpflanzung dienen. W\u00e4re in diesem Vorhalten wirklich eine ^stimmte Differenzirung zwischen den Zellen in vegetative und reproductive ausgesprochen, so Hesse sich allerdings erw\u00e4gen, ob diese Gattung als Typus einer besonderen Familie aufzustellen sei. Bei der nahen Verwandtschaft zwischen Volvox einerseits und Eudorina, Pandorina etc. andrerseits ist aber, wie mir scheint, der genannten Verschiedenheit keine so grosse Bedeutung beizulegen. Es ist n\u00e4mlich zu ber\u00fccksichtigen, dass bei den einzelligen Organismen die Zellen qualitativ zwar einander gleich sind, und dass auch jede das Verm\u00f6gen besitzt, unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden sich fortzupflanzen. Aber dieses Verm\u00f6gen kann sich nur sehr unvollst\u00e4ndig verwirklichen, und zwar schon desswegen, veil behufs Erhaltung des numerischen Gleichgewichts stets die gr\u00f6sste Zahl zu Grunde gehen muss. Bilden die einzelligen Pflanzen Colonien, so werden h\u00e4ufig ganze Colonien aussterben; aber es kann","page":444},{"file":"p0445.txt","language":"de","ocr_de":"VIII. Der OeneratioiiHweclisel in ontogenet und phylogcnet Bestellung. 445\nauch der Fall sein, dass von einer Colonie die einen Zellen sich fortpflanzen, die anderen zu Grunde gehen, je nachdem sie in quantitativer Hinsicht besser oder weniger gut ausger\u00fcstet sind. M\u00f6glicher Weise ist nun die beschr\u00e4nkte Zahl der fruchtbaren Zellen in der Volvoxkugel bloss quantitativ besser ausgestattet und deutet erst den Anfang einer Differenzirung an, wie ja der erste Schritt einer qualitativen Verschiedenheit stets in quantitativen Unterschieden besteht.\nDagegen ist in der Klasse der Conjugaten der Gegensatz zwischen einzelligen und mehrzelligen Pflanzen in bestimmter Weise durchgef\u00fchrt. Die Desmidiaceen sind einzellig, da bei der grossen Mehrzahl die Zellen einzeln loben und nur bei wenigen in einreihige Colonien vereinigt sind (Desmidium). Die Zygnemaceen sind stets einreihige F\u00e4den und k\u00f6nnen nicht als einzellig aufgefasst werden, weil jedes aus einer Zygospore hervorgehende Individuum einen andersartigen einzelligen I usstheil besitzt. Die Spore theilt sich n\u00e4mlich in zwei ungleiche Zellen , von denen die eine tlieilungsunf\u00e4hig ist und zur I usszelle wird, indess bei den Desmidiaceeen die Zygospore zwei gleiche, theilungsf\u00e4hige Zellen erzeugt.\nWesentlich anders und eigent\u00fcmlich stellt sich das Bed\u00fcrfnis f\u00fcr das systematische Individuum in der Klasse der Schizophyten heraus. Es kann hier kein Zweifel dar\u00fcber bestehen, dass die Chroo-coccaceen, deren Zellen einzeln leben oder nur lose Zusammenh\u00e4ngen, einzellig sind, eben so wenig, dass bei den Scytonemaceen und Rivu-lariaceen der ganze gegliederte (vielzellige) Faden das Individuum vorstellt, weil hier die Differenzirung zwischen den Zellen des Fadens so ausgesprochen ist (S. 393\u2014394). Dagegen kann man bez\u00fcglich der Nostocliaceen und Osc\u00fclariaceen im Zweifel sein, ob sie als einzellig oder mehrzellig zu erkl\u00e4ren seien, weil manche Formen derselben kaum eine Verschiedenheit zwischen den Zellen eines Fadens erkennen lassen. Da jedoch andere Formen in den Grenzzellen, welche das Zerfallen der I \u00e4den in St\u00fccke einleiten, und ferner in den zu Sporen werdenden Zellen bestimmte Ungleichheiten gegen\u00fcber den \u00fcbrigen Zellen zeigen, da endlich in den Oscillariaceen die Zellen eines ladens sehr innig verbunden sind, da zudem die beiden Ordnungen unverkennbar sich viel n\u00e4her an die Rivulariaceen und Scytonema-ceen anschliessen als an die Chroococcaceen, so sind sie als mehrzellig zu betrachten.","page":445},{"file":"p0446.txt","language":"de","ocr_de":"446 VIII. Der (TcncrationHwechsel in ontogenet und phylogenet. Beziehung.\nBez\u00fcglich der ebenfalls zu den Schizophyten geh\u00f6renden Schizo-myceten stellt sich ein gegenteiliges Verfahren als noth wendig heraus. Fadenf\u00f6rmige und st\u00e4bchenf\u00f6rmige Zust\u00e4nde derselben haben zwar die gr\u00f6sste Aehnlichkeit mit den Nostochaceen und Oscillariaceen und empfehlen sich als vielzellige Pflanzen besonders dann, wenn einzelne und bestimmte Zellen, z. B. die Endzeilen eines St\u00e4lndiens, zu Sporen werden oder wenn die Endzeilen eine Wimper tragen. Da aber bei Culturen in geeigneten N\u00e4hrfl\u00fcssigkeiten die St\u00e4bchen (Bact\u00e9rien) k\u00fcrzer und wenigzelliger werden und in den einzelligen Zustand \u00fcbergehen, da ferner in manchen F\u00e4llen die Entscheidung, ob einzellige oder mehrzellige Zust\u00e4nde vorliegen, ganz willk\u00fcrlich ist, sei es weil die Zellen der F\u00e4den und St\u00e4bchen sehr lose Zusammenh\u00e4ngen, sei es weil einzellige und wenigzeilige Zust\u00e4nde mit einander gemengt sind und in der Generationenfolge beliebig mit einander wechseln, so liegt unzweifelhaft das systematische Bed\u00fcrfnis vor, allen Schizomyceten den n\u00e4mlichen Character zuzuschreiben und zwar sie als einzellige Pflanzen zu betrachten, da ja f\u00fcr die einzelligen Zust\u00e4nde die Annahme der Mehrzelligkeit unm\u00f6glich ist.\nF\u00fcr die geschlechtlich differenzirten Pflanzen gilt, wie ich schon angedeutet habe, die Regel, dass mit den m\u00e4nnlichen und weiblichen Zellen, die sich vermischen, ein neues Individuum beginnt ; denn es kann ja immer der Fall eintreten, dass jene Zellen von verschiedenen Individuen herstainmen, und dass das Befruchtungsproduct desshalb nicht als riieil der Pflanze, mit der es verbunden bleibt, angesehen werden darf. So muss also die Moosfrucht unbedingt ein Pflanzenindividuum darstellen und den Moosen Generationswechsel zukommen. Der Vorkeim aber stellt bei diesen Pflanzen keine besondere Generation dar, selbst wenn er wie bei den Laubmoosen einen ganz abweichenden Bau zeigt. Denn es kommt vor, dass ein Spross des confervenartigen Protonema nach oben sich unmittelbar in das bebl\u00e4tterte Moosst\u00e4mm-chen fortsetzt, und ebenso, dass das letztere selbst unmittelbar aus derjenigen Zelle des Vorkeims, welche der Spore entspricht, entsteht, so dass also in diesem Falle das Vorkeimstadium bei der ontogene-tischen Entwicklung morphologisch \u00fcbersprungen wird.\nDie Gef\u00e4s8cryptogamen verhalten sich wie die Moose bez\u00fcglich des Generationswechsels ; es sprechen die n\u00e4mlichen Gr\u00fcnde f\u00fcr die Nothwendigkeit der Annahme, dass auch bei ihnen die Ontogenie zwei Individuen durchlaufe. \u2014 R\u00fccksichtlich der Phanerogamen habe","page":446},{"file":"p0447.txt","language":"de","ocr_de":"VIII. Der Gencratioiwwechsel in ontogenet. und phylogenet Beziehung. 447\nich bereits dargethan, dass eine Generation mit den Pollenk\u00f6mem und den Embryos\u00e4cken beginnt. Eine zweite Generation muss mit der Befruchtung der Eizelle anheben. Dies wird, ausser dem fr\u00fcher an8e\u00dfe^)enen Grund, auch dadurch bewiesen, dass es einige wenige Phanerogamen gibt, welche im Embryosack 2 Eizellen bilden (San* talum). Die eine Generation, diejenige n\u00e4mlich, die der geschlechts-erzeugenden bei den niedern Cryptogamen entspricht, ist aber so sehr reducirt, dass sie nur einen kleinen Theil des Fortpflanzungsapparates ausmacht.\nIch will noch die Verh\u00e4ltnisse einer Pflanzengruppe besprechen, bei denen die Beschaffenheit des Generationswechsels zweifelhaft ist. Die Florideen haben 3 Fortpflanzungsorgane, die fast ausschliesslich auf verschiedene Pflanzen vertheilt sind. Es gibt m\u00e4nnliche oder Antheridien-, weibliche oder Cystocarpien-, und ungeschlechtliche oder Tetrasporen-Pflanzen. Da die Tetrasporen bei den Moosen und bei den Gef\u00e4sspflanzen den Anfang derjenigen Generation darstellen, welche die Geschlechtsorgane oder wenigstens die m\u00e4nnlichen und weiblichen Zellen erzeugt, so scheint die Vermuthung sehr nahe zu liegen, dass auch bei den Florideen eine Tetrasporen- und eine Antheridien-Cy8tocarp-Generation mit einander altemiren. Es gibt aber wichtige Gr\u00fcnde gegen diese Auffassung.\nSchon der Umstand erregt Bedenken, dass bei allen Florideen die geschlechtlichen und die ungeschlechtlichen Pflanzen einander ganz gleich sind. H\u00e4tte die Tetrasporenfortpflanzung die gleiche Bedeutung wie bei den Moosen und den Gef\u00e4sscryptogamen, so m\u00f6chte man erwarten, dass, wie es bei diesen der Fall ist (S. 408\u2014409), auch l>ei den Florideen, sofern Abstammungsreihen sich unterscheiden lassen, das Verh\u00e4ltniss der Tetrasporengeneration zu der Geschlechtsgeneration sich stetig \u00e4ndere.\nEine andere Thatsache, warum den Florideen ein regelm\u00e4ssiges Alterniren einer Tetrasporengeneration mit einer Antheridien-Cysto-carp-Generation nicht zugeschrieben werden darf, besteht darin, dass, wenn auch die tri\u00f6cische Vertheilung der drei Fortpflanzungsorgane die Regel ausmacht, doch in verschiedenen Ausnahmsf\u00e4llen geschlechtliche und ungeschlechtliche Fortpflanzungsorgane auf der n\u00e4mlichen Pflanze gefunden wurden. Das Verh\u00e4ltniss dieser Organe zu einander muss also ein anderes sein als bei den Moosen und Gef\u00e4sscryptogamen;","page":447},{"file":"p0448.txt","language":"de","ocr_de":"44H Vm. Der GeneratioiiHwecliHol in onbigenet. uml jihylngenet. Beziehung.\ntlonn es w\u00e4re unm\u00f6glich, dass auf dem Vorkeim (Prothallium) eines Farnkrautes Tetrasporen oder auf dem Famblatt Antheridien und Archegonien enst\u00e4nden.\nDer wichtigste Grund aber gegen die Gleichstellung der Tetrasporengeneration der 1 lorideen mit der Tetrasporengenoration der Moose und Gef\u00e4sscryptogamen Iwruht darin, dass die Florideeu Iwreits eine der letzteren entsprechende Generation halxm. Dieselbe beginnt mit der Befruchtung und endigt mit der Bildung der Cystocarp-sporen. Das Sporogon der Florideen ist vollkommen demjenigen der Moose analog.\nEs gibt nun zwei M\u00f6glichkeiten, zwischen denen noch keine bestimmte Entscheidung getroffen werden kann. Nach der einen stimmen die Florideen im Generationswechsel genau mit den Moosen \u00fclierein, so dass die Ontogenie ihrem wesentlichen und noth wendigen Begriffe nach durch die Antheridien- und Cystocarp-tragenden Pflanzen ersch\u00f6pft ist. Die Tetrasporenbildung erfolgt dann mehr zuf\u00e4llig auf derjenigen Generation, die eigentlich die Geschlechtsorgane erzeugen sollte, und ist analog der Bildung von Brutkeimen auf den Spitzen von Bl\u00e4ttern und Stengeln von Jungermannien. Dabei ist anzunehmen, dass die Tetrasporenbildung regelm\u00e4ssig die geschlechtliche Sterilit\u00e4t des Individuums zur Folge habe, wie dies h\u00e4ufig auch bei den Jungermannien der Fall ist. Aus den Sporen der Kapselfr\u00fcchte m\u00fcssten also sowohl m\u00e4nnliche und weibliche als auch geschlechtslose Pflanzen erwachsen, und das Gleiche w\u00e4re auch mit den Tetrasporen der Fall. Es w\u00e4re ferner ganz begreiflich, dass es auch Florideen gibt, denen die Tetrasporen ganz mangeln (Lemaneaceen und Nemalieen).\nDie andere M\u00f6glichkeit besteht darin, dass der Generationswechsel der Florideen so beschaffen sei, wie bei vielen anderen Algen (Ulo-thrix, Oedogonium etc.), dass n\u00e4mlich auf mehrere Wiederholungsgenerationen eine einzelne geschlechtserzeugende und eine androgyne Generation folge. Die Tetrasporenpflanzen stellen dann die Wiederholungsgenerationen, und die Pflanzen, welche Antheridien und Cysto-carpien tragen, die geschlechtserzeugende Generation dar; aus den Cystocarp8poren k\u00f6nnen bloss Tetrasporenpflanzen, aus den Tetrasporen aber entweder Tetrasporen- oder Antheridien-Cystocarppflanzen hervorgehen. Der Umstand, dass im allgemeinen die Totrasporen-tragenden Pflanzen bei den Florideen viel h\u00e4ufiger sind uls die mit","page":448},{"file":"p0449.txt","language":"de","ocr_de":"VIII. Dit (lonorationHwechwl in ontogenet. und phylogenct. Beziehung. 44D\nGeschlechtsorganen ausger\u00fcsteten h\u00e4tte, in dem Generationswechsel ihre nat\u00fcrliche Ursache. Dass die Wiederholungsgenerationen und die geschlechtserzeugende Generation vegetativ gleich entwickelt sind, erregt kein Bedenken, da dies auch bei den andern Algen eintrifft. Dass es Beispiele gibt, wo Tetrasporen mit Geschlechtsorganen auf dem n\u00e4mlichen Individuum Vorkommen, ist ebenfalls kein Grund mehr gegen die Annahme eines Generationswechsels, da auch bei Oedogonium die geschlechtserzeugenden Pflanzer noch Schw\u00e4rm-sporen (das Fortpflanzungsproduct der Wiederholungsgenerationen) hervorbringen k\u00f6nnen. Die Vereinigung der geschlechtlichen und ungeschlechtlichen Fortpflanzungsorgane auf dem n\u00e4mlichen Individuum w\u00fcrde also bei den Florideen ebenfalls nur bei der geschlechtserzeugenden Generation m\u00f6glich sein und den Wiederholungsgenerationen mangeln.\nDer Generationswechsel wurde bis jetzt nach seinem ontogene-tischen Verhalten beprochen. Wir fragen uns nun, welche phylogenetische Bedeutung ihm zukomme. Auf der alleruntersten Stufe des Pflanzenreiches sind die Generationen der einzelligen Individuen einander gleich. Eine Art der phylogenetischen Entwicklung besteht darin, dass durch innere Differenzirung und durch Anpassung an den Wechsel der Jahreszeiten beim Beginn der Ruhezeit eine andersartige Generation auftritt, die bis zum Beginn der folgenden Vegetationsperiode im ruhenden Zustande verharrt. Damit ist der Gegensatz zwischen der Reihe von Wiederholungsgenerationen, welche ein St\u00fcck der urspr\u00fcnglichen endlosen Reihe darstellt, und der Uebergangsgeneration gegeben. Die letztere tritt gem\u00e4ss ihrer Entstehung als Einzelgeneration und in der Form der Ruhespore auf.\nDer Unterschied zwischen den Wiederholungsgenerationen und der Uebergangsgeneration wird nach und nach gr\u00f6sser, \u2014 am gr\u00f6ssten, wenn diese sich in m\u00e4nnliche und weibliche Zellen diffe-renzirt und somit androgyn wird. Weicht die Uebergangsgeneration in bedeutendem Maasse ab, so wirkt sie auch auf die ihr zun\u00e4chst vorausgehende und auf die ihr zun\u00e4chst folgende Generation ein, die ebenfalls mehr oder weniger andersartig werden. Jene ist aus\nv. Xlgoli, AhntammungiOehre.\t29","page":449},{"file":"p0450.txt","language":"de","ocr_de":"4f)0 VIII. D\u00ab*r Generationswechsel in ontogenot. un<l phylogenet. Beziehung.\nder letzten, diese aus der ersten \u00ab1er Wie<lerholungsgenerationon hervorgegangen. Es wird nun also der Uebergang zwischen je zwei Reihen von Wiederholungsgenerationen durch 6 Einzelgenerationen gebildet, und die ontogenetische Periode hat die allgemeine Form\nA Bt... Bh C D\nwenn D die androgyne Generation bedeutet.\nAusser der soeben angef\u00fchrten Differenzirung, welche mit der Anpassung an die Jahreszeiten zusammentrifft, spielt eine amlere Differenzirung im Generationswechsel eine Rolle. Es tritt eine periodische Ungleichheit zwischen den durch Zweitheilung sich vermehrenden Zellen einer Generationenreihe auf, meist in der Weise, dass eine Generation in dem Maasse an Dauer und Wachsthum zunimmt, als die Periode der darauf folgenden Generationen darin beschr\u00e4nkt wird. Die Generationenreihe besteht nun also aus einer Reihe von (k\u00fcrzeren oder l\u00e4ngeren) Perioden; dies gilt uueh f\u00fcr das obige Schema, in welchem f\u00fcr diesen Fall jedes Zeichen nicht eine einzelne Generation, sondern eine Periode von Generationen bedeutet. Mit der zunehmenden DifEerenzirung geht die Periode von Zellen, die sich durch Zweitheilung vermehren, in eine einzige, viele Fortpflanzungszellen erzeugende Generation \u00fcber (S. 403).\nDas Zustandekommen des Generationswechsels der einzelligen Pflanzen, wie er in dem obigen Schema ausgesprochen ist, wird \u2022lurch die vorhandenen Beispiele, welche verschiedenen Stufen \u00ab1er Differenzirung angeh\u00f6ren, klar begr\u00fcndet. Der n\u00e4mliche Generationswechsel findet sich auch bei den einfacheren Formen der mehrzelligen Pflanzen. F\u00fcr die Art und Weise, wie er hier zu Stande gekommen ist, wird einer der m\u00f6glichen Wege \u00ablurch die Thatsachen ebenfalls unzweifelhaft angezeigt. Derselbe nimmt seinen Ausgang von den vorhin erw\u00e4hnten Perioden, welche durch Differenzirung in der Generationenreihe einer Gntogenie von einzelligen Pflanzen entstehen.\nDenken wir uns eine einzellige Pflanze, welche wie Chlamydo-monas zeitlebens schw\u00e4rmt und Generationswechsel besitzt. Die Reihe der urspr\u00fcnglich gleichen Wiederholungsgenerationen wild dann durch eintretende Ampliation und Differenzirung in Perioden gegliedert, in der Art, dass einzelne Generationen ihre Schw\u00e4mibewegung","page":450},{"file":"p0451.txt","language":"de","ocr_de":"Vm. Der Generationswechsel in ontogenet. and phylogenet. Beidehn n\u00ab. 451\nbehalten, w\u00e4hrend die zwischen ihnen liegenden Perioden von Generationen die Beweglichkeit verlieren, mit einander erst lose, nachher fester verbunden bleiben und schliesslich zu mehrzelligen Individuen werden. Ist die phylogenetische Umwandlung fertig, so besteht die Ontogenie, statt aus einer Reihe von Perioden einzelliger Generationen, aus einer Reihe von eben so vielen mehrzelligen Individuen, die sich durch Schw\u00e4rmzellen fortpflanzen. In der ver\u00e4nderten Ontogenie sind die der androgynen Generation vorausgehende und die ihr nachfolgende Generation (die geschlechtserzeugende und die geschlechtserzeugte) ebenfalls mehrzellig, wie dies von ihrer nahen Verwandtschaft mit den Wiederholungsgenerationen erwartet werden konnte. Dagegen ist die androgyne Generation nothwendig einzellig, da sie einer Einzelgeneration, nicht einer Periode von Generationen im onto-genetischen Cyclus der einzelligen Pflanze entspricht\nAuf dem eben angegebenen Wege ist der Generationswechsel einiger mehrzelliger Algen entstanden; ich habe von denselben Ulothrix und Oedogonium als Beispiele angef\u00fchrt (8. 432\u2014433). An diese beiden Gattungen schliesst sich Volvox (S. 432, 444) unter den einzelligen Algen so nahe an, dass man letztere Gattung fast als mehrzellig betrachten k\u00f6nnte. \u2014 Die androgyne Generation, die bei Ulothrix und Oedogonium einzellig ist, kann durch weitere phylogenetische Entwicklung mehrzellig werden, so dass dann der ganze Generationswechsel aus mehrzelligen Individuen besteht\nEs gibt noch einen andern Weg, wie aus einzelligen Pflanzen ein Generationswechsel von mehrzelligen Individuen entstehen kann. F\u00fcr diesen Weg liegen bei dem d\u00fcrftigen Beobachtungsmaterial, das zur Zeit vorhanden ist, noch keine Stationen vor, die wirklich durchlaufen werden. Aber er l\u00e4sst sich von seinem Ausgangspunkte bis zu seinem Ziele verfolgen, indem man dazu keine anderen Vorg\u00e4nge in Anspruch nimmt als solche, die erwiesenermaassen in der Natur Vorkommen.\nZuerst geht die ganze ontogenetische Reihenfolge einzelliger Generationen in ein einziges mehrzelliges Individuum \u00fcber, wie dies in den Klassen der Schizophyten (8. 357, 393, 445) und Conjuguten (S. 445) so augenscheinlich vorkommt. Hatte die Ontogenie der einzelligen Pflanzen die durch Differenzirung erlangte Form\nA Bt...Bn C D,\n29*","page":451},{"file":"p0452.txt","language":"de","ocr_de":"4\u00d62 VIII. Der Generationswechsel in ontogenet. and phylugenet. Beziehung.\nso zeigt das daraus hervorgegangene Individuum in seiner vegetativen Entwicklung die n\u00e4mliche Form, indem aus der Spore zuerst eine eigenartige Zellgeneration (= A) hervorgeht, worauf eine Reihe von imbestimmt vielen gleichartigen Zellgenerationen (=B, und dann wieder eine andersartige Zellgeneration (= C) folgt, welche die Sporen (= D) erzeugt. Nahm bei der einzelligen Pflanze der ontogenetische Cyclus von Generationen eine Vegetationszeit in Anspruch und ging die androgyne Generation als Dauerzelle in den Ruhezustand \u00fcber, so f\u00fcllt auch das Individuum der mehrzelligen Pflanze eine Vegetationsperiode aus und bildet mit dem Ende derselben die Sporen zu Ruhesporen aus.\nDie durch Differenzirung und Anpassung entstandene Ruhesporenbildung ist als erbliche Erscheinung in der Folge nicht mehr noth wendig an den Wechsel der Jahreszeiten gebunden und kann zu beliebiger Zeit eintreten. Wenn nun durch Ampliation die ganze Entwicklung beschleunigt wird, so folgen w\u00e4hrend einer Vegetationsperiode mehrere vielzellige Individuen mit Sporenbildung auf einander, wie auch die Ontogenien von Vaucheria, Oedogonium u. A. sich w\u00e4hrend einer Vegetations zeit \u00f6fter wiederholen k\u00f6nnen. Die vielzelligen Individuen, die w\u00e4hrend eines Jahres auf einander folgen, sind urspr\u00fcnglich gleich; es bildet sich dann durch neue Differenzirung nach und nach ein Generationswechsel aus, worin die letzte Jahresgeneration sich andersartig verh\u00e4lt. Die Sporen der \u00fcbrigen Generationen verlieren den Charakter von Ruhesporen g\u00e4nzlich, ebenso ihre androgyne Beschaffenheit, indem sie nach Unterdr\u00fcckung des m\u00e4nnlichen Geschlechtes parthenogenetisch erzeugt werden. Ist die phylogenetische Um\u00e4nderung vollendet, so folgt auf eine Reihe scheinbar geschlechtsloser Pflanzen eine Geschlechtsgeneration, welche Ruhesporen hervorbringt und die in ihren Merkmalen ebenfalls weiter fortgeschritten ist. Dieser Generationswechsel hat niemals eine einzellige Generation, kann \u00fcbrigens in seiner allgemeinen Form ganz mit demjenigen \u00fcbereinstimmen, dessen Eutstehungsweise zuerst besprochen wurde.\nDas weitere Schicksal des also beschaffenen Generationswechsels mehrzelliger Pflanzen, er mag auf die eine oder andere Weise entstanden sein, l\u00e4sst sich nicht mehr Schritt f\u00fcr Schritt verfolgen. Die Beobachtung zeigt uns nur, dass derselbe auf den folgenden Stufen des Pflanzenreiches einfacher wird, dass zwei oder mehr Gene-","page":452},{"file":"p0453.txt","language":"de","ocr_de":"Vm. Der Generationswechsel in ontogenet. und phylogenet Beziehung. 453\nration en der tieferen Stufe auf der h\u00f6heren Stufe in eine einzige Generation vereinigt zu \u00abein scheinen, und dass zuletzt bloss noch zwei Generationen mit einander altemiren oder dass der Generations Wechsel ganz unterdr\u00fcckt ist. Dabei sind augenscheinlich zwei phylogenetische Processe thfttig, n\u00e4mlich 1. die Vereinigung fr\u00fcher getrennter Zellen zu einem Gewebe, wodurch die androgyne Generation mit der geschlechtserzeugten verschmilzt und die Wiederholungsgenerationen zu einem Individuum mit Sprossgenerationen verwachsen, und 2. in andern F\u00e4llen die Reduction der (einander gleichen) Wieder-hoiung8generationen auf eine einzige. \u2014 Um das Einfacherwerden des Generationswechsels anschaulich zu machen, will ich die sicher bekannten F\u00e4lle schematisch zusammenstellen, indem die zu einem Individuum vereinigten Generationen in () eingeschlossen, und indem wie fr\u00fcher die androgyne Generation mit D, die geschlechtserzeugte mit A, die Wiederholungsgenerationen mit B,... Bm und die ge-schlechtserzeugende Generation mit C bezeichnet sind.\n\u00bb\n1- -D\tA\tBi...Bn\tC\n2\t(B+A)\tBi ... B\u00bb\tC\n3.\t(J) A Bi .. . Bu)\tC\n4.\t(V + A + Bi ...\u00c4-f C)\n5\t(*>+-*)\t(A...\u00c4. + C)\n1.\tUlothrix, Oedogoniuin.\n2.\tVaucheria.\n3.\tAcctabularia.\n4.\tCham, Fucus, Ectocarpus.\n3.\tMoose, Gef\u00e4sspflanzen.\nAus dem, was man bis jetzt sicher \u00fcber den Generationswechsel im Pflanzenreiche weiss, geht dessen phylogenetische Bedeutung deutlich hervor. Er ist der Uebergangszustand von einzelligen zu vielzelligen und von einfacheren vielzelligen zu complicirteren vielzelligen Pflanzen. Der Vorgang besteht immer darin, dass die Generationen, die auf der unteren Stufe gleich sind, auf der h\u00f6heren Stufe durch Differenzirung und Anpassung ungleich werden und einen Generationswechsel darstellen, und dass auf noch h\u00f6heren Stufen diese ungleichen Generationen des' ontogenetischen Cyclus sich zu einem innerlich gegliederten Individuum vereinigen, indem also der Generationswechsel zu einem Wechsel in der vegetativen Entwicklung wird.","page":453},{"file":"p0454.txt","language":"de","ocr_de":"454 Vlll. Dur Generationswechsel in ontogenet. und phylogenet Beziehung.\nAls Folge des phylogenetischen Umwandlungsprocesses ergibt sich, dass die morphologische und physiologische Bedeutung des Pflanzenindividuums auf den successiven Stufen einer Abstammungslinie sich stetig \u00c4ndert, und dass die Theile, die anf\u00e4nglich ihre volle Selbst\u00e4ndigkeit besitzen, sp\u00e4ter immer weniger selbst\u00e4ndig werden, indem sie auf der ersten Stufe ihrer Existenz vollst\u00e4ndige Pflanzen sind und dann von Stufe zu Stufe einen kleineren Theil des Pflanzenindividuums ausmachen. Dies l\u00e4sst sich am anschaulichsten f\u00fcr die Zelle nachweisen; es gilt aber ebensowohl f\u00fcr vielzellige Theile.","page":454},{"file":"p0455.txt","language":"de","ocr_de":"Morphologie und Systematik als phylogenetische\nWissenschaften.\nDie naturgesch ich t liehen Discipliner! sind in der Neuzeit zu der Einsicht gelangt, dass irgend eine Erscheinung nur dann sicher erkannt werden kann, wenn man ihre Entstehungsweise erforscht. Es ist dies eigentlich nients anderes als eine Anwendung des viel allgemeineren Axioms, dass die erste und unerl\u00e4ssliche Bedingung zur Erkenntniss eines Dinges in der Erforschung seiner Ursachen lxjsteht. Die Entwicklungsgeschichte jedoch bildet nur den ersten Schritt und die unumg\u00e4ngliche Voraussetzung, um zu einer causalen Einsicht zu gelangen. Sie ist, wie man vielfach \u00fcbersehen hat, nicht etwa schon die Erf\u00fcllung jener allgemeinsten Forderung. Denn wenn ich auch schon genau weiss, wie etwas geworden ist, so weiss ich desswegen noch nicht, warum und wodurch es geworden ist.\nAl)er auch die rationelle Forderung nach Entwicklungsgeschichte ist, wenigstens bez\u00fcglich des Pflanzenreiches, fast allgemein unrichtig aufgefasst worden, indem man darunter allein das Werden des Individuums verstanden hat. Es unterliegt nun keinem Zweifel, dass, wenn man eine Erscheinung, beispielsweise ein einzelnes Organ oder eine /u8aminenordnung von Organen, von den kleinsten Anf\u00e4ngen, im g\u00fcnstigsten Falle von der ersten Zelle aus, Schritt f\u00fcr Schritt verfolgen kann, man \u00fcber vieles aufgekl\u00e4rt wird, was bei ausschliesslicher Beobachtung des entwickelten Zustandes verborgen bleibt. Allein man sollte nicht \u00fcbersehen, dass damit das eigentliche Ent-","page":455},{"file":"p0456.txt","language":"de","ocr_de":"456 IX. Morphologie and Systematik als phylogenetische Wisaenachaftcn\nstehen und die wirkliche genetische Bedeutung nicht erforscht sind. Im Individuum kommen grossentheils bloss Anlagen zur Entfaltung, die durch Erbschaft von den Vorfahren erhalten wurden. Dies gilt von allen individuellen Erscheinungen, die eine Entwicklungsgeschichte haben. Zwar ist ja jedes Individuum am phylogenetischen Fortschritt betheiligt; allein sein Antheil ist so winzig klein, dass er bei solchen Untersuchungen vollst\u00e4ndig vernachl\u00e4ssigt werden kann.\nUm die genetische Bedeutung irgend einer Erscheinung zu erfassen , muss man sie also in den Abstammungsreihen zur\u00fcckverfolgen bis da, wo sie begonnen hat. Kann dies mit H\u00fclfe der Beobachtung und der Combination geschehen, so ist auch die M\u00f6glichkeit gegeben, die Ursachen der Erscheinung zu erkennen, ob es innere (Vereinigung getrennter Theile, Complication) oder \u00e4ussere (Anpassung an irgendwelche \u00e4ussere Einfl\u00fcsse) sind. Zur Zeit als man die Entwicklungsgeschichte noch nicht als Disciplin kannte, suchte man durch vergleichende morphologische Betrachtung der fertigen Zust\u00e4nde die systematische Bedeutung einer Erscheinung zu bestimmen, und es haben in dieser Beziehung besonders C. Schim-per, A. Braun und Wydler sehr werthvolle Ergebnisse erlangt. Als dann die Entwicklungsgeschichte nicht nur in bewusster Weise als wissenschaftliche Forderung, sondern eben so sehr in unbewusster Weise als Modesache betrieben wurde, kam sie oft in Conflict mit der fr\u00fcheren vergleichenden Morphologie. Statt beide Methoden in rationeller Weise zu vereinigen, glaubten die Neuerer, dass die Entwicklungsgeschichte allein ausreichend sei, und dass sie sich \u00fcber die vergleichende Behandlung, die ja auch mehr Kenntnisse, mehr Arbeit und Nachdenken erforderte, hinwegsetzen k\u00f6nnten.\nDer Gegensatz trat nur im Gebiete der Phanerogamen recht auffallend zu Tage, da eigentlich bloss hier sich eine vergleichende Morphologie ausgebildet hatte, und war besonders f\u00fcr die Auffassung des Baues der Bl\u00fcthe und des Bl\u00fcthenstandes von Wichtigkeit. Mit H\u00fclfe der ontogenetischen Entwicklungsgeschichte Hessen sich die Phyllome (Bl\u00e4tter) und ebenso die Caulome (Sprosse) bis auf kleine Zellh\u00f6cker zur\u00fcckverfolgen. Damit konnte man nun allerdings Bl\u00fcthe nnd Bl\u00fcthenstand einer Pflanze f\u00fcr sich und unabh\u00e4ngig von anderen Pflanzen besser als bisher construiren. Man konnte auch die unterscheidenden Merkmale zwischen dieser Pflanze und jeder andern in gleicher Weise untersuchten vollst\u00e4ndiger als bisher angeben. Aber","page":456},{"file":"p0457.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologie und \u00abSystematik als phylogenetische Wissenscliaften. 457\nh\u00f6her hinaus reichte die neue Methode nicht, und es war eine gedankenlose Ueberhebung, wenn man weiter gehen und verwandtschaftliche systematische Beziehungen, die nur durch die phylogenetische Bedeutung der Baupl\u00e4ne gegolten sind, im Widerspruche mit der vergleichenden Morphologie, feststellen wollte.\nDie Beobachtung eines primordialen Zellgewebsh\u00f6ckers gestattet uns ja nicht einmal eine vollst\u00e4ndige ontogenetiache Entwicklungsgeschichte, indem derselbe in verschiedener Weise aus den Initialzellen entstehen und somit eine verschiedene ontogenetische Bedeutung haben kann. Vollends aber k\u00f6nnen wir aus einer Anordnung von primordialen H\u00f6ckern nichts \u00fcber deren phylogenetischen Zusammenhang mit andersartigen Anordnungen ersehen. Der einzelne H\u00f6cker stellt beispielsweise nicht immer eine Blatteinheit dar. Es ist m\u00f6glich, dass er phylogenetisch aus 2 oder 3 getrennten Blatteinheiten hervorgegangen ist und somit ein Paar oder eine Dreiheit von \u00dflatt-einheiten, die im j\u00fcngsten Zustande mit einander verschmolzen sind, bedeutet. Es ist ferner m\u00f6glich, dass zwei oder mehrere H\u00f6cker phylogenetisch aus einer einzigen Blatteinheit entstanden sind, und durch das mit dem Caulom verschmolzene Basalgewebe1) zusammenh\u00e4ngend, die Theile eines zusammengesetzten Blattes repr\u00e4sentiren. Es ist endlich m\u00f6glich, dass zwischen den vorhandenen primordialen H\u00f6ckern andere durch phylogenetische Reduction abortiv geworden sind, sodass die mikroskopische Beobachtung nichts mehr von ihnen wahmimmt.\nEs sind dies alles nicht wegzul\u00e4ugnende M\u00f6glichkeiten, und es ist gar keinem Zweifel unterworfen, dass bald die eine, bald die andere der Wirklichkeit entspricht. Ob und inwiefern sie in Betracht zu ziehen sind, muss durch ein vergleichendes Verfahren, das im wesentlichen nur ein phylogenetisches sein kann, festgestellt werden, und zwar, wie sich von selbst versteht, unter Ber\u00fccksichtigung aller einschl\u00e4gigen Thatsachen, mit gr\u00f6sster Umsicht und Vermeidung willk\u00fcrlicher Hypothesen.\nWir kommen, m\u00f6gen wir von allgemeinen Gesichtspunkten ausgehen oder eine bestimmte einzelne Erscheinung zu erkl\u00e4ren versuchen, immer zu dem Satze, dass nur die phylogenetische Einsicht\n*) Der unterst\u00ab' Theil eines Blattes ist in \u00bblein Gewebe \u00ables Stengeln ein-gesenkt, wie sich sehr deutlich an \u00ablen verk\u00fcmmerten Bl\u00e4ttern von Psilotum zeigt (f in Fig. 24 c auf S. 413).","page":457},{"file":"p0458.txt","language":"de","ocr_de":"458 IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften.\nuns \u00fcber die Bedeutung der organischen Einrichtungen und ihre Stellung im ganzen Bauplan der organischen Natur Auskunft zu geben vermag. Dabei d\u00fcrfen wir aber nat\u00fcrlich nie aus dem Auge verlieren, dass dies nur f\u00fcr die erblichen Eigenschaften der Organismen gilt. \u2014 Ich habe in dieser ganzen Schrift stets darauf hingewiesen, dass es im Organismus zwei scharf zu trennendo Gebiete gibt, welche aus ungleichen Ursachen hervorgehen und daher auch eine ungleiche wissenschaftliche Behandlung verlangen. Es sind 1. das Gebiet der ererbten Eigenschaften, welche die solide und unver\u00e4nderliche Grundlage der ontogenetischen Entwicklung bilden, und 2. das Gebiet derjenigen Erscheinungen, welche an jedem Individuum durch die \u00e4usseren Ursachen ontogenetisch bewirkt werden und nicht im Idio-plasma des Keimes als vererbbare Anlagen auf die Kinder \u00fcbergehen.\nDie scharfe Unterscheidung dieser zwei Gebiete ist die noth-wendige Bedingung f\u00fcr eine richtige Orientirung in den physiologischen und morphologischen Wissenschaften. Man m\u00f6chte wohl glauben, dass f\u00fcr das Gebiet der von \u00e4usseren Ursachen unmittelbar bewirkten Erscheinungen fast kein Raum \u00fcbrig bleibe, da dem Anscheine nach alle sichtbaren Eigenschaften innerhalb der Art und selbst innerhalb der geringsten Variet\u00e4ten constant sind, oft selbst die kleinsten Verschiedenheiten in Form, Gr\u00f6sse, F\u00e4rbung. Aber es ist zu ber\u00fccksichtigen, dass die vollst\u00e4ndige U \u00dcbereinstimmung zwischen Eltern und Kindern zum Theil darauf beruht, dass sie die gleiche \u00e4ussere Einwirkung namentlich des Lichtes and der Schwerkraft erfahren. Wenn wir von zwei Samen der n\u00e4mlichen Pflanze den oinen im Sonnenlichte, den andern in einem finstern Raume heranwachsen lassen, so werden die zwei Geschwister sehr ungleich, und fast noch gr\u00f6sser w\u00e4re die Verschiedenheit, wenn man die eine Pflanze wie gew\u00f6hnlich unter dem Einfluss der Schwerkraft und die andere ohne diesen Einfluss sich entwickeln lassen k\u00f6nnte.\nDie erblichen Eigenschaften sind eben im Keime nur als An- -lagen vorhanden, deren Entfaltung durch die \u00e4usseren Verh\u00e4ltnisse mehr oder weniger modificirt wird. Die experimentelle Physiologie zeigt uns, inwieweit die Erscheinungen im Individuum dio unmittelbaren Folgen der \u00e4usseren Ursachen sind. Wenn die experimentelle Behandlung auf alle Erscheinungen in der Pflanze und zwar in allen Beziehungen ausgedehnt wird, und wTenn es ihr gelingt, alles Vor-","page":458},{"file":"p0459.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologic uiul Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 459\n\u00e4nderliche und die Nonnon desselben festzustellen, so entspricht ihr Inhalt genau dem Gebiet, das ich, als durch \u00e4ussere Ursachen onto-genetisch bewirkt, dem Gebiet der erblichen Erscheinungen entgegengesetzt habe. Aber sie muss sich vor der Klippe bewahren, auch erbliche Dinge in ihren Bereich ziehen zu wollen.\nSo geh\u00f6ren beispielsweise fast alle Erscheinungen, welche \u00ablas Licht an lichtempfindlichen Pflanzen und deren Theilen hervorbringt (auch die gr\u00fcne F\u00e4rbung der Lauborgane, zum Theil die Farben der Bl\u00fcthon etc.), zu dem experimentellen Gebiet. Dagegen ist die F\u00e4higkeit, in einer gewissen Weise auf den Lichtreiz zu reagiren, eine geerbte Eigenschaft; sie besteht in einer bestimmten chemischen und physikalischen Beschaffenheit der Substanz, welche durch die Anlagen im Idioplasma hervorgebracht wird und welche allen experimentellen Eingriffen unerreichbar ist. Nur wenn ein Versuch mit einer bestimmten Lichtwirkung durch Jahrtausende fortgesetzt werden k\u00f6nnte, m\u00f6chte es vielleicht gelingen, eine bez\u00fcgliche neue Anlage zu schaffen oder eine schon vorhandene abzu\u00e4ndern. Das exj>eri-mentelle Verfahren kann also zugleich dazu dienen, um die Grenze der beiden Gebiete festzustellen. Da wo die Macht des exjierimen-tellen Eingriffes aufh\u00f6rt, beginnt die Herrschaft der erblichen Anlagen.\nDabei darf man sich nat\u00fcrlich nicht durch den Umstand t\u00e4uschen lassen, dass es eine Kategorie von Anlagen gibt (die entfaltungsvagen), deren Entfaltung durch \u00e4ussere Ursachen verhindert oder bef\u00f6rdert werden kann. Wenn aber auch das Ergebniss eines Versuches bez\u00fcglich der Deutung zweifelhaft w\u00e4re, so kann durch ein fortgesetztes experimentelles Verfahren immer ermittelt werden, ob die beobachtete Ver\u00e4nderung von einer geerbten entfaltungsvagen Anlage oder von einer Neuwirkung der \u00e4usseren Einfl\u00fcsse herr\u00fchre. \u2014 Die Versuche geben uns also nicht bloss Aufschluss \u00fcber die Wirkungen der \u00e4usseren Agentien, sondern auch \u00fcber die innere ererbte Natur der Organismen. Die letztere Bedeutung kommt auch allen Experimenten zu, die \u00fcber Kreuzung und Bastardirung angestellt werden ; dieselben zeigen, welche Anlagen bei der Vermischung ungleichen Blutes in den latenten oder manifesten Zustand \u00fcbergehen und in welcher Weise die Entfaltung erfolgt.\nIch habe das Gebiet der experimentellen Wissenschaft nur dess-\\^egen erw\u00e4hnt, um das Gebiet der Wissenschaft von den erblichen Eigenschaften, das haupts\u00e4chlich in der \u00e4usseren und inneren Mor-","page":459},{"file":"p0460.txt","language":"de","ocr_de":"460 IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenscliaften.\nphologie besteht, genau zu umgrenzen. Von den rein morphologischen Erscheinungen geh\u00f6ren nur wenige zu den nicht erblichen Dingen. Wenn wir die Nalirung und das Klima, ferner das Licht und die Schwerkraft ausnehmen, welche auf Gr\u00f6sse, Gestalt und Richtung, \u00fcberhaupt auf die Quantit\u00e4ten unmittelbaren Einfluss aus\u00fcben , so gibt es wohl nur noch den Druck der Theile gegen einander, wodurch Verschiebungen, und den Druck \u00e4usserer Gegenst\u00e4nde, wodurch vollst\u00e4ndige Gestaltsentstellungen entstehen k\u00f6nnen. Solche Verschiedenheiten werden immer beobachtet, wenn zwei Individuen der gleichen Variet\u00e4t, am besten zwei Geschwister, unter verschiedenen Umst\u00e4nden sich befinden ; sie lassen den Betrag der von den \u00e4usseren Ursachen hervorgebrachten Modificalionen erkennen.\nWachsen aber zwei Individuen verschiedener Variet\u00e4ten, Arten, Gattungen u. s. w. ungehindert unter den n\u00e4mlichen \u00e4usseren Einfl\u00fcssen, so sind die Verschiedenheiten als Ausdruck der geerbten Anlagen anzusehen. Handelt es sich nun bloss um die Feststellung der erblichen (constanten) Unterschiede, so gen\u00fcgt eine genaue Vergleichung, wobei aber wo m\u00f6glich nicht bloss die entfalteten Individuen, sondern die ganzen Ontogenien zu vergleichen sind. Handelt es sich aber um die Bedeutung der Unterschiede im ganzen Aufbau des Organismus, also um die phylogenetische Bedeutung der betreffenden morphologischen Erscheinungen, so gibt es, wie ich bereits wiederholt l>etonte, nur einen einzigen wissenschaftlichen Weg.\nDie genannten erblichen Erscheinungen sind da aufzusuchen und zu betrachten, wo sie in ihren Abstammungslinien entstanden sind. Denn von jenem Zeitpunkt an sind sie durch Vererbung \u00fcberliefert, dabei aber m\u00f6glicher Weise mehr oder weniger ver\u00e4ndert worden. Da wo sie entstanden sind, m\u00fcssen die Ursachen ihres Entstehens, und wo sie sich abge\u00e4ndert haben, die Ursachen der Ver\u00e4nderung studirt werden. Es gibt nun manche F\u00e4lle, wo die Bedingungen f\u00fcr eine phylogenetisch-wissenschaftliche Untersuchung vorhanden sind, und wo sieh mit ziemlicher Sicherheit oder doch mit grosser Wahrscheinlichkeit bestimmen l\u00e4sst, in welchem Stadium (1er Abstammungslinien und auch durch welche Ursachen eine l>e-stimmte Erscheinung hervorgebracht wurde. Ich unterlasse es, hier wieder einzelne Beispiele aufzuf\u00fchren, da ich in fr\u00fcheren Abschnitten (III. Ursachen der \\ er\u00e4nderung S. 102 und VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze S. 360) gezeigt habe, wie nach meiner Ansicht","page":460},{"file":"p0461.txt","language":"de","ocr_de":"IX Mt>':>hologie und Systematik als phylorrmattoche WiHHemtchaften. 461\ndie verschiedenen Kategorien der organischen Bihlungen aufzufassen sind.\nLs ist fr\u00fcher und auch in neuerer Zeit versucht worden, organische Bildungen nach irgend welchem Axiom zu construiren. Das Axiom wurde ohne Begr\u00fcndung hingestellt, auf die Ursachen nicht eingetreten, die Hypothese auch den widerstrebenden Thatsachen aufgezwungen oder letztere ignorirt. Ein solches Verfahren ist ein Nachklang aus der naturphilosophischen Epoche, wenn auch der Flug minder k\u00fchn geworden ist. Wir verlangen aber jetzt einerseits ein streng objectives Verfahren mit genauer Beobachtung des Thats\u00e4chliclien und andrerseits streng logische Folgerungen aus sicheren Thatsachen oder Gesetzen. Soweit die sinnliche Wahrnehmung reicht, darf kein beobachtetes Factum der aufgestellten Thoorie widersprechen, oder es m\u00fcssen f\u00fcr die Ausnahmen |die Ursachen nachgewiesen werden. Verh\u00e4ltnisse, welche jenseits der sinnlichen Wahrnehmung liegen, d\u00fcrfen nur auf Grund ganz sicherer physikalischer und chemischer Thatsachen mit H\u00fclfe eines exacten mechanischen Verfahrens \u2018beurtheilt und entschieden werden.\nDies sind ja die Grunds\u00e4tze, die allgemein g\u00fcltig f\u00fcr die moderne Wissenschaft sind, wodurch sie sich als exacte Methode von dem fr\u00fcheren Meinungsverfahren unterscheidet. Ist aber die zu beurtheilende Bildung organischer Natur, so muss nach den vorausgehenden Er\u00f6rterungen zuerst entschieden wrerden, ob sie dem erblichen Gebiet angeh\u00f6re oder nicht, und ob sie demnach nach \u00ab1er phylogenetischen oder nach der experimentellen Methode zu entscheiden sei.\nIch hebe noch einmal ausdr\u00fccklich hervor, dass nach meiner Ansicht die Bedeutung einer jeden vererbten, physiologischen oder morphologischen Erscheinung im Baupl\u00e4ne des ganzen Pflanzenreiches nur auf dem phylogenetischen Wege erforscht werden kann, und ich wiederhole dies, um bei der Besprechung der andern Aufgabe, n\u00e4mlich der systematischen Bedeutung der einzelnen Pflanzensippen, nicht missverstanden zu werden. So leicht verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig der phylogenetische Nachweis bez\u00fcglich der einzelnen Theilerschei-nungen einer Ontogenie gelingt, so schwer oder unausf\u00fchrbar ist meistens der phylogenetische Nachweis f\u00fcr die ganze Ontogenie, und also auch f\u00fcr die Sippe. Man schl\u00e4gt gew\u00f6hnlich das umgekehrte \\ erfahren von demjenigen ein, das man nach meiner Ansicht an wenden","page":461},{"file":"p0462.txt","language":"de","ocr_de":"402 IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften.\nsollte. Man besch\u00e4ftigt sich n\u00e4mlich viel mit der Abstammung der Pflanzensippen, aber nicht mit der Herleitung der einzelnen Organe und Theile der Pflanzen, und doch muss diese vorausgehen und den Boden f\u00fcr jene bereiten. Um die phylogenetische Bedeutung jeder einzelnen Theilerscheinung der Ontogenie zu bestimmen, kann man dieselbe \u00fcberall, wo sie vorkommt, benutzen. Um die phylogenetische Bedeutung der ganzen Ontogenie, also der Sippe, festzustellen , muss eine Reihe von Sippen gefunden werden, in der alle Einzelerscheinungen von einander abstammen, was sehr selten m\u00f6glich ist.\nWenden wir uns nun zu der Frage, inwiefern die systematische Bedeutung der Pflanzensippen phylogenetisch erkannt werden k\u00f6nne, und was aus den bisherigen Ergebnissen bez\u00fcglich des Stammbaums oder besser der Stammb\u00e4ume des Pflanzenreiches f\u00fcr die Construction des Pflanzensystems folge. Nach der bisherigen Abstammungslehre ist diese Frage, wenigstens theoretisch, entschieden ; phylogenetische und systematische Verwandtschaft sollen identische Begriffe sein. Sagt doch Darwin, \u00bbdie Gemeinsamkeit der Abstammung (die einzige bekannte Ursache der Aehnlichkeit organischer Wesen) sei, wie er glaube, das durch mancherlei Modificationsstufen verborgene Band, welches durch unsere nat\u00fcrliche Classification theilweise ent-h\u00fcllt werden k\u00f6nne\u00ab, und H\u00e4ckel geradezu: \u00bbDas nat\u00fcrliche System ist der Stammbaum der Organismen\u00ab.\nDies w\u00e4re nun auch als theoretischer Satz unbedingt zuzugeben, wenn die Reiche einen einheitlichen (monophyletischen) Ursprung h\u00e4tten, wie man sich das wohl urspr\u00fcnglich vorstellte. Eine solche Vorstellung ist aber unnat\u00fcrlich und darf bei wissenschaftlichen Er\u00f6rterungen nicht in Betracht gezogen werden. Als die Verh\u00e4ltnisse auf der Erde sich so gestaltet hatten, dass Eiweiss spontan entstehen und sich organisiren konnte, musste Urzeugung \u00fcberall auf der Erdoberfl\u00e4che, wodieg\u00fcnstigenUmst\u00e4nde zusammentraten,stattfinden, und sie musste sp\u00e4terhin immer eintreten, wo die n\u00e4mlichen Bedingungen gegelnm waren. Wenn nun aber im Anf\u00e4nge einerseits am Nordpol, andrerseits am S\u00fcdpol, wo die f\u00fcr organisches Leben nothwendige Temperaturemiedrigung zuerst eintrat, sich Organismen aus unorganischen Verbindungen bildeten, ferner wenn in der Urzeit, dann zur","page":462},{"file":"p0463.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologic und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 463\nKohlenzeit und in allen andern Perioden unserer Erde Organismen entstanden sind, so kann man doch f\u00fcr die von diesen verschiedenen Anf\u00e4ngen ausgehenden phylogenetischen Linien keine Gemeinsamkeit der Abstammung und keine Blutsverwandtschaft in Anspruch nehmen, wenn sie einander auch noch so \u00e4hnlich ausfallen m\u00f6chten.\nUm diese unbequeme Consequenz abzuschw\u00e4chen, sieht sich H\u00e4ckel denn auch zu dem Ausspruche gen\u00f6thigt, dass \u00bbder scheinbar sehr bedeutende Gegensatz zwischen der monophyletischen und der polyphyletischen Hypothese im Grunde von sehr geringer Wichtigkeit sei\u00ab, da ja beide auf Moneren zur\u00fcckgehen m\u00fcssten. Er nimmt \u00fcbrigens den monophyletischen Ursprung der Organismen als den\u201c wahrscheinlicheren an, indem er behauptet, dass die Stammform einer jeden gr\u00f6sseren oder kleineren Gruppe nur einmal im Laufe der Zeit und nur an einem Orte der Erde entstehen konnte. \u2014 Mit R\u00fccksicht auf die Bed\u00fcrfnisse der Lehre ist es ja ganz klar, dass die monophyletische Hypothese f\u00fcr eine \u00fcbersichtliche Darstellung sich als sehr bequem erweist, aber es ist zugleich wahr, dass eine solche Darstellung, indem sie die systematische Verwandtschaft in dem Prokrustesbett zustutzt, nur eine oberfl\u00e4chliche werden kann.\nGegen den monophyletischen Ursprung der Organismen sprechen eben so sehr die Gr\u00fcnde einer richtigen Theorie als die Thatsachen der Erfahrung. Was die Theorie betrittt, so ist der merkw\u00fcrdige Ausspruch Hack el\u2019s, die Verschiedenheit zwischen dem einfachen und dem vielfachen Ursprung sei ohne Belang, offenbar eine Folge seiner Hypothese, dass die einfachsten Organismen mit den Eiweissmolek\u00fclen identisch seien. Die Unhaltbarkeit dieser Hypothese ist tareits in dem Abschnitt \u00fcber die Urzeugung nachgewiesen worden. Wenn auch das allererste Product der Urzeugung als Eiweissmolek\u00fcl \u00fcberall das n\u00e4mliche ist, so gestatten doch die vielen Millionen von Eiweissmolek\u00fclen, \u00ablie ein urspr\u00fcnglicher Plasmatropfen enth\u00e4lt, in der Micellbildung und in der Zusammenordnung der Micelle eine fast unendliche Zahl von Combinationen, welche durch die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse bestimmt werden. Wir k\u00f6nnen mit vollster Sicherheit annehmen, dass nicht zwei Urzeugungen identisch sind. Es werden somit den autonomen Entwicklungsbewegungen schon von Anfang an verschiedene Richtungen angewiesen, die, wenn auch zuerst und vielleicht durch lange Zeitr\u00e4ume unmerklich klein, doch","page":463},{"file":"p0464.txt","language":"de","ocr_de":"464 IX. Morphologie und Systematik \u00abla phylogenetische Wissenschaften.\nsich stetig steigern und endlich deutlich hervortreten m\u00fcssen. Ferner bedingen, sobald einmal einfachste Organismen gebildet sind, die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse Anpassungs\u00e4nderungen, welche zu verschiedenen Zeiten und auf verschiedenen Punkten der Erdoberfl\u00e4che ungleich ausfallen m\u00fcssen, und die bei der weiteren phylogenetischen Ausbildung ebenfalls, wenn auch in geringerem Maasse, mitwirken.\nDie polyphyletische Abstammung der Reiche hat also jedenfalls eine andere Bedeutung als die monophyletische, selbst dann, wenn nur in der Urzeit spontane Bildung von Organismen statt gefunden h\u00e4tte. Von besonderer Wichtigkeit aber ist der Gegensatz zwischen einmaliger und fortdauernder Urzeugung; denn die Beschaffenheit der organischen Reiche in der Gegenwart muss offenbar wesentlich verscliieden ausfallen, wenn alle Organismen ohne Ausnahme von Wesen der Urzeit abstammen, oder wenn je die Stammb\u00e4ume der einfacheren Organismen in immer sp\u00e4teren Perioden ihren Ursprung hatten.\nDie entscheidende Frage ist also: Hat die spontane Entstehung nur einmal, n\u00e4mlich beim Beginn des organischen Lebens, oder hat sie zu allen Zeiten stattgefunden? Nach meiner Ansicht, \u2014 die ich stets gehegt und namentlich auch in der Schrift \u00bbEntstehung und Begriff der naturhistorischen Art\u00ab 1865 Anmerkung. \u00bbGibt es eine Urzeugung?\u00ab verfochten habe, \u2014 l\u00e4sst -sich bloss die letztere der zwei Annahmen wissenschaftlich begr\u00fcnden. Die theoretischen Gr\u00fcnde daf\u00fcr ergeben sich aus den Bedingungen der Urzeugung, die ich oben (S. 88 ff.) er\u00f6rtert habe. Wenn einmal aus unorganischen Stoffen organische Verbindungen und Organismen entstehen konnten, so musste dies stets eintreten, wo und wann jene Bedingungen vorhanden waren.\nWas die Erfahrung betrifft , so spricht die gegenw\u00e4rtige Be-s< haffenheit der organischen Reiche entschieden zu Gunsten der Annahme, dass zu allen Zeilen Urzeugung stattgefunden habe. Im Pflanzen- und Thierreich sind alle Stufen der Organisation, auch die allereinfa^hsten, als Spaltpflanzen (Schizophyten) und Moneren vertreten , und wenn die noch einfacheren Wesen, die nach meiner Theorie den letztgenannten vovausgehen m\u00fcssen und die ich Probien genannt habe, zu mangeln scheinen, so erkl\u00e4rt sich dies zur Gen\u00fcge aus dem Umstand, dass sich dieselben wegen ihrer Kleinheit und wegen ihrer \u00fcbrigen noch so wenig ausgesprochenen Eigenschaften der Beobachtung entziehen.","page":464},{"file":"p0465.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 4\u00dfft\nDas jetzige Vorhandensein einfachster Pflanzen und Thiere ist nach der gew\u00f6hnlichen Annahme dadurch zu erkl\u00e4ren, dass sie seit der Urzeit auf der n\u00e4mlichen Organisationsstufe stehen geblieben sind, nach meiner Theorie dagegen, dass sie erst in einer der letzten geologischen Perioden sich gebildet haben. Um die Wahrscheinlichkeit der einen und andern dieser beiden Annahmen zu pr\u00fcfen, haben wir uns die zwei Fragen vorzulegen : Ist es denkbar, dass ein Organismus w\u00e4hrend der Dauer der organischen Reiche, also sozusagen w\u00e4hrend unbegrenzter Zeit, beinahe unver\u00e4ndert fortlebe? Wie muss eine sehr alte Sippe beschaffen sein?\nDie erste Frage muss ich nach der Theorie, die ich in dieser ganzen Schrift ausgef\u00fchrt habe, verneinen. Wenn wir die Conse-quenzen, die sich aus den inneren Ursachen der Ver\u00e4nderung ergeben, ber\u00fccksichtigen, und damit dasjenige, was wir aus Erfahrung \u00fcber die Entwicklungsgeschichte der organischen Reiche wissen, vergleichen, so m\u00fcssen wir zu dem Schl\u00fcsse gelangen, dass das Idio-plasma sich sehr langsam aber stetig fortbildet und dass die Organismen dem entsprechend m Bau und Verrichtungen immer complicirter werden, \u2014 ferner dass, wenn in manchen Abstammungslinien das Idioplasma und mit ihm die Gesammtheit der Entfaltungsmerkmale auf einen Punkt kommen, wo ein weiterer Fortschritt nicht m\u00f6glich ist, dann die Sippe l\u00e4ngere Zeit, als es sonst der Fall w\u00e4re, unver\u00e4ndert fortbesteht, aber nach einer begrenzten Zeit nothwendig zu Grunde geht.\nDit\u00abe Ansicht stimmt offenbar auch besser mit der Thatsache \u00fcberein, dass zwischen Phylogenie und Ontogenie eine gewisse Ueber-einstimmung herrscht und dass die Ontogenie die Entwicklungsstufen, welche die Phylogenie durchlaufen hat, in morphologischer Beziehung wiederholt. Die Ontogenie macht dabei keine langen Pausen und bringt ein Entwicklungsstadium njcht eine unbestimmte Zahl von Malen hervor, sondern geht stetig von einem Stadium zum folgenden. Man darf nun wohl erwarten, dass es sich mit ihrem Urbild ebenso verhalte und dass die Phylogenie ebenfalls nicht auf irgend einer Stufe unbegrenzt stehen bleibe, sondern nothwendig zu einem weitern Schritt oder zum Untergang gedr\u00e4ngt werde. Dabei kann allerdings die phylogenetisine Fortschrittsbewegung in den verschiedenen Abstammungslinien eine ziemlich ungleiche Geschwindigkeit besitzen.\nT. Nftgell, AbsUmmuiignlehr\u00ab.\ty)","page":465},{"file":"p0466.txt","language":"de","ocr_de":"400 IX. Morphologie un-J Systematik als phylogenetische Wissenschaften.\nPr\u00fcfen wir nun die andere Frage, wie n\u00e4mlich eine Sippe beschaffen sein m\u00fcsse, die w\u00e4hrend ungew\u00f6hnlich langer Zeit unver\u00e4ndert blieb, somit als alt bezeichnet werden muss. Hiezu ist folgendes \u00fcber die Sippenbildung zu bemerken. Die autonome Ver\u00e4nderung, welche, wenn sie weit genug gediehen ist, eine h\u00f6here Stufe der Organisation herboif\u00fchrt, findet gleichm\u00e4ssig in allen Individuen der einf\u00f6rmigen Sippe statt, weil ja alle das n\u00e4mliche Idioplasma besitzen. Die Ver\u00e4nderung durch \u00e4ussere Reizeinfl\u00fcsse, welche die Anpassungen verursachen, erfolgt ungleichm\u00f6ssig und macht die Sippe vielf\u00f6rmig. Die entstehenden Formen bilden sich mit der Zeit weiter aus und werden zu Variet\u00e4ten, Arten, Gattungen; zugleich variiren sie von neuem, sowie die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse sich dauernd ver\u00e4ndern. Die Variation h\u00e4lt aber nur so lange an, als das Idioplasma in autonomer phylogenetischer Fortbildung begriffen ist und somit auch gegen\u00fcber den \u00e4ussem Reizeinwirkungen sich als bildungsf\u00e4hig erweist.\nEs kann also zweierlei geschehen. Entweder dauert die autonome Entwicklung des Idioplasmas fort: dann gelangen die aus der urspr\u00fcnglichen Sippe durch ungleiche Anpassung hervorgegangenen Sippen, die einen fr\u00fcher, die andern sp\u00e4ter, auf eine h\u00f6here Stufe des Baues und der Verrichtungen, wo die Variation durch \u00e4ussere Einfl\u00fcsse ein neues Feld der Th\u00e4tigkeit findet. Oder die autonome Fortbildung des Idioplasmas wird aus irgendwelchen Ursachen unm\u00f6glich und h\u00f6rt auf: dann steht auch die Variation still, und da die von der urspr\u00fcnglichen Sippe abstammenden Sippen sich nicht mehr vermehren, so nehmen sie an Zahl ab und verschwinden zuletzt ganz, weil bald die eine bald die andere verdr\u00e4ngt wird oder vor Altersschw\u00e4che zu Grunde geht.\nDemnach wird es auf allen Organisationsstufen Sippen in jedem Entwicklungsstadium, also auch altersschwache und aussterbende geben , und viele Organisationsstufen sind in dem jetzigen Reiche gar nicht vertreten, weil ihre Repr\u00e4sentanten entweder auf eine h\u00f6here Stufe vorger\u00fcckt oder ausgestorben sind. Als eine altersschwache und aussterbende Gruppe gibt sich im Pflanzenreiche die Familie der Cycadeen zu erkennen. Aber auch andere Familien stehen, wenn auch nicht in so offenkundigerWeise, auf dem Aussterbeetat, ebenso viele einzelne Gattungen und Arten.\nWenn entsprechend der gew\u00f6hnlichen Annahme die spontane","page":466},{"file":"p0467.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologie und flyntematik al\u00bb phylogenetische Wissenschaften. 4\u00df7\nEntstehung der Pflanzen nur im Anf\u00e4nge stattgefun^en h\u00e4tte, so w\u00e4ren unter den jetzt lebenden Sippen die niedrigsten (einzelligen) als die \u00e4ltesten, die h\u00f6chsten dagegen (angiosperme Phanerogam en) als die j\u00fcngsten zu betrachten. Nun scheinen mir aber gerade di< allerniedrigsten Pflanzen, die ganze Gruppe der Schizophyten, ganz entschieden den Charakter einer noch sehr jungen und nicht einer sehr alten Gruppe an sich zu tragen. Denn die Vielf\u00f6rmigkeit in den Sippen ist so gross, die Formen sind einander so nahe stehend und in einander \u00fcbergehend, dass Variet\u00e4ten, Arten, Gattungen sich nicht sicher trennen lassen. Die Chroococcaceen, die Nostochaceen, die Oscillariaceen, die Scytonemaceen, die Rivulariaceen, die Spaltpilze sind in dem Zustande, wie man es von noch ganz jungen Familien erwarten m\u00f6chte. Wie die unterste Gruppe der Pflanzen, die Schizophyten, verh\u00e4lt sich im wesentlichen auch die n\u00e4chst folgende, die der (einzelligen) Palmellinen (Protococco\u00efden), nur dass sich hier die einzelnen Sippen schon sch\u00e4rfer herausheben.\nMeiner Ansicht nach haben die Abstammungslinien der jetzt lelienden Pflanzen zu den verschiedensten Zeiten der Erdgeschichte begonnen. Diejenigen der Schizophyten sind die j\u00fcngsten, die der Palmellinen sind im Durchschnitt etwas \u00e4lter, die der Conjugaten und Diatomeen noch \u00e4lter, u. s. f.; die \u00e4ltesten Abstammungslinien sind die der Phanerogamen. Wenn von den in der Urzeit entstandenen Wesen noch Abk\u00f6mmlinge vorhanden sind, so m\u00fcssen wir sie jedenfalls unter den h\u00f6chsten Phanerogamen suchen. Es ist aber auch m\u00f6glich, dass alle Abstammungslinien der ersten Zeit schon in den Lepidodendrecn, Calamitecn, Asterophylliten, Sigillarien oder noch fr\u00fcher in uns unbekannten Gruppen ausgestorben sind.\nDie Abstammungsreihen der Pflanzen sind aber verschiedener Art. Es gibt solche Anf\u00e4nge, die sich stets und \u00fcberall bilden ; ihre Abk\u00f6mmlinge stellen scheinbar eine zusammenh\u00e4ngende Entwicklungsreihe dar. Hieher sind zu rechnen die Palmellinen', Confervo\u00efden, Moose, Gef\u00e4s8kryptogamen, Phanerogamen. Andere Abstammungsreihen bilden sich seltener und haben auch eine beschr\u00e4nkte Fortbildungsf\u00e4higkeit. Hieher geh\u00f6ren nach meiner Vermuthung die Schizophyten; es gibt keine h\u00f6here Pflanzengruppe, die man mit einiger Wahrscheinlichkeit von einer schizophyten\u00e4hnlichen Pflanze herleiten k\u00f6nnte. Ob und wie weit die Schizophyten sich phylogenetisch noch entwickeln werden, l\u00e4sst sich nicht bemessen.\n80*","page":467},{"file":"p0468.txt","language":"de","ocr_de":"468 IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften.\nDie Diatomeen haben eine noch viel ausgesprochenere Eigenartigkeit; es gibt keine niedere Pflanze, von der man vermuthen d\u00fcrfte, dass ihre Abk\u00f6mmlinge diatomeenfthnlich werden k\u00f6nnten, und keine h\u00f6here Pflanze, die von einer diatomeen\u00e4hnlichen Pflanze abzuleiten w\u00e4re. Ich m\u00f6chte glauben, dass die Diatomeen sich phylogenetisch \u00fcberhaupt nicht weiter bilden k\u00f6nnen.\nJe isolirter und eigenartiger eine Pflanzensippe ist, um so eher k\u00f6nnen wir annehmen, dass die ihr entsprechenden Anf\u00e4nge sich selten bilden und dass die Abstammungslinien derselben eine beschr\u00e4nkte Entwicklungsf\u00e4higkeit besitzen. An die Diatomeen und Schizophyten schliessen sich in dieser Beziehung die Florideen und vor allem aus die Myxomyceten an, deren Zugeh\u00f6rigkeit zum Pflanzenreiche mir \u00fcbrigens sehr zweifelhaft ist.\nEs k\u00f6nnen aber auch von den gew\u00f6hnlichen und h\u00e4ufig sich bildenden Anf\u00e4ngen aus fr\u00fcher oder sp\u00e4ter sich eigenartige Abstam-mungslinien von t)eschr\u00e4nkter Entwicklungsf\u00e4higkeit abzweigen. Die Siphoneen, Conjugaten, Characeen geben uns Beispiele hievon.\nDas Pflanzenreich in seiner historischen Totalit\u00e4t ist sonach ' nicht ein einziger, sehr stark verzweigter phylogenetischer Stamm, noch auch mehrere St\u00e4mme, die gleichzeitig von identischen Anf\u00e4ngen > ausgegangen w\u00e4ren und somit gleichsam als Aeste desselben Stammes \u25a0 angesehen werden k\u00f6nnten. Sondern das Pflanzenreich, \u2014 und ! ebenso verh\u00e4lt es sich mit dem Thierreiche \u2014 ''als der Inbegriff aller der vegetabilischen Formen, die je gelebt haben, besteht aus einer von phylogenetischen St\u00e4mmen, welche zu allen Zeiten und i an d\u00eaii verschiedenste\u00eeTSlellen der Erdoberfl\u00e4che ihren Ursprung genommen haben, eine ungleiche Dauer, Entwicklungsh\u00f6he und Verzweigung erreicht haben und zum gr\u00f6ssten Theil ausgestorben sind. Die jetzt lebenden^Pflanzen sind Enden von zahlreichen Abstammungs-\\ linien > welche verschiedene UeKurtest\u00e4tten und ein verschiedenes Alter besitzen und somit in keiner genetischen Verwandtschaft zu einander stehen.\nWie viele verwandte Arten und Gattungen demselben Stamme angeh\u00f6ren, l\u00e4sst sich nie mit Sicherheit bestimmen. Wir sind geneigt, einf\u00f6rmige Familien, wie die Cruciferen, die Gramineen etc. als Abk\u00f6mmlinge eines einzigen Stammanfanges zu lotrechten; und wir k\u00f6nnen daf\u00fcr wohl eine grosse Wahrscheinlichkeit, aber keine absolute Gewissheit in Anspruch nehmen. Es ist ferner ganz gut m\u00f6glich,","page":468},{"file":"p0469.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 461)\ndass mehrere oder viele Pflanzenfamilien von einem Punkte ausgegangen und somit phylogenetisch verwandt sind ; aber es ist ebenso gut denkbar, dass jede derselben einen besonderen Ursprung hat, dass die Gr\u00e4ser und Halbgr\u00e4ser, der Apfelbaum und der Kirschbaum, der Haselnussstrauch und der Eichbaum, ebenso im Thierreiche der Fisch und das Amphibium, der Affe und der Mensch in keinem genetischen Zusammenh\u00e4nge stehen und ihre besonderen Abstammungslinien besitzen. Das schliesst nicht aus, dass ihre Ahnen einander noch \u00e4hnlicher waren, als sie seihst es sind; es ist dies sogar gewiss, da die Abstammungslinien nicht anders als diver-girend gedacht werden k\u00f6nnen. Wir d\u00fcrfen auch immerhin sagen, die Phanerogamen stammen von Gef\u00e4sskryptogamen, diese von Lebermoosen, der Mensch vom Affen u. s. w. ab; aber diese Redensart ist nur bildlich zu verstehen, insofeme die Ahnen der jetzigen Organismen, w'onn wir sie etwa aus palaeontologischen Ueberresten kennten, allerdings in die Gruppe der Gef\u00e4sskryptogamen, Lebermoose, Affen zu stellen w\u00e4ren; denn die systematische Verwandtschaft setzt keineswegs die genetische voraus.\nWenn Darwin sagt, die Gemeinsamkeit der Abstammung sei die einzige bekannte Ursache der Aehnlichkeit organischer Wesen, und wenn H\u00e4 ekel behauptet, dass die Stammform einer jeden gr\u00f6sseren oder kleineren Gruppe nur einmal und nur an einem Orte entstehen konnte, so ist solchen Ausspr\u00fcchen gegen\u00fcber doch damn zu erinnern, dass die Erfahrung von keiner einzigen Art die Abstammung kennt, und dass die Theorie zur Sache nichts anderes lieizubringen vermag als das unzweifelhafte Axiom, dass gleiche Ursachen gleiche Wirkungen und \u00e4hnliche Ursachen \u00e4hnliche Wirkungen halicn. Es ist unbestreitbar, dass mehrere oder viele Urzellt \u00bb, die unter den n\u00e4mlichen Verh\u00e4ltnissen, aller unabh\u00e4ngig von einander, spontan entstanden sind, w enn ihre Abstammungslinien w\u00e4hrend gleichlanger Zeit unter gleichen Verh\u00e4ltnissen sich entwickeln, auch zu ganz \u00e4hnlichen Organismen f\u00fchren m\u00fcssen.\nUeber die M\u00f6glichkeit, dass zwei einander mehr oder weniger nahe stehende Organismen der gegenseitigen Blutsverwandtschaft ent-1 lehren, kann also kein Zweifel obwalten. Eine~~ganz~andere Be-wandtniss hat es mit dem Grade der Wahrscheinlichkeit, ob Blutsverwandtschaft bestehe oder nicht. Wenn wir alle Umst\u00e4nde in Betracht zielion, die seit dem Ursprung einer Abstammungslinie","page":469},{"file":"p0470.txt","language":"de","ocr_de":"470 IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften.\nbis auf den heutigen Tag mit deren Entwicklung verkn\u00fcpft waren und auf die ich hier nicht n\u00e4her eintrcten will, so kommen wir noth wendig zu folgendem Schl\u00fcsse. F\u00fcr einen bestimmten Grad der systematischen Verwandtschaft nimmt wegen der Divergenz der Abstammungslinien die Wahrscheinlichkeit der gemeinsamen Abstammung zu, je h\u00f6her entwickelt der Organismus ist, d. h. je l\u00e4nger die phylogenetische Entwicklung gedauert hat. Bei den allerniedrigsten Organismen k\u00f6nnen wir f\u00fcr zwei nahe verwandte Arten keine Blutsverwandtschaft behaupten, w\u00e4hrend wir sie f\u00fcr die Gattungen einer ganzen Familie in den h\u00f6heren Regionen der Reiche f\u00fcr \u00e4usserst wahrscheinlich erachten. \u2014 Von grosser Wichtigkeit ist auch das Verhalten der Sippen zu einander. Zwei extremen Gattungen oder Arten, die nicht den niedrigsten C assen angeh\u00f6ren, werden wir die Blutsverwandtschaft kaum absprechen k\u00f6nnen, wenn sie durch eine Reihe V1\u00b0n Zwischengattungen oder Zwischenarten innig verbunden sind.\nDie allseitige Blutsverwandtschaft der jetzt lebenden Organismen und ebenso das phylogenetische System sind also in Wirklichkeit nichts weiter als ein sch\u00f6ner Traumj sie k\u00f6nnen aber wegen der Einheit der gesetzm\u00e4ssigcn Entwicklung, welche durch die ganzen organischen Reiche besteht, in symbolischer Weise als allgemeine Norm gelten, da die Organismen, wenn sie auch genetisch nicht verwandt sind, sich doch im grossen und ganzen so zu einander verhalten, als ob diese Verwandtschaft best\u00e4nde.\nIm einzelnen jedoch findet das Symbol der genetischen Verwandtschaft im Pflanzenreiche nur sehr beschr\u00e4nkte Anwendung. Soweit es aber zul\u00e4ssig erscheint, l\u00e4sst sich der Werth der systematischen Verwandtschaft in einigermaassen theoretisdh genauer Weise bestimmen, wenn wir von dem Anpassungsgepr\u00e4ge absehen und uns nur an die durch die autonome Entwicklung erzeugten Organisationsmerkmale halten. Die Verwandtschaft ist eine zweifache, je nachdem die zu vergleichenden Sippen der gleichen oder verschiedenen phylogenetischen Linien angeh\u00f6ren. Im ersten Falle ist es Verwandtschaft in auf- oder absteigender, im zweiten Verwandtschaft in Collaterallinien, analog wie im Erbrecht.\nDer Grad der erstgenannten Verwandtschaft wird bestimmt durch die Entfernung der zwei Sippen in ihrer Abstammungslinie, d. h. von der Zahl und Gr\u00f6sse der phylogenetischen Stufen, welche durchlaufen wurden, um die eine Sippe in die andere \u00fcberzuf\u00fchren, \u2014","page":470},{"file":"p0471.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologie und Syntcmatik al\u00bb phylogenetische Wi\u00abHennchaften 471\nder Grad dor collateralen Verwandtschaft dagegen durch die Entfernung von dem Funkte, von welchem die beiden Abstammungslinien ausgegangen sind, d. h. durch die Zahl der phylogenetischen Stufen, welche durchlaufen wurden, um die gemeinsame Ahnensippe in die beiden fraglichen Sippen umzuwandeln.\nIn l>eiden Verwandtschaftsf\u00e4llen handelt es sich darum, ob die zu vergleichenden Sippen, sei es wirklich oder bildlich, von einander abstammend gedacht werden k\u00f6nnen. Ihre Beziehungen sind nach den oben festgestellten phylogenetischen Gesetzen (S. 336) zu be-urtheilen, wobei als allgemeine Regol festzuhalten ist, dass die Organismen in ihrer ontogenetischen Entwicklungsgeschichte die vorausgehende phylogenetische Reihe in abgek\u00fcrzter Form durchlaufen.\nLetzteres gilt schon l\u00e4ngst als Erfahrungssatz; die urs\u00e4chliche Erkl\u00e4rung gibt uns die Theorie des Idioplasmas. Die Anlagen entstehen im Idioplasma nach Maassgabe, als sich die Abstammungslinie entwickelt, und gelangen in jeder Ontogenie, da die Art und Weise ihrer Einordnung eine phylogenetische ist, auch in gleicher Reihenfolge zur Entfaltung (S. 49 f.). Die Ontogenie ist deshalb die Wiederholung der Phylogenie ; aber die fr\u00fcheren Stadien werden im allgemeinen wegen der Reduction, die fortw\u00e4hrend im Lauf der Abstammungslinie th\u00e4tig war, rasch zur\u00fcckgelegt. \u2014 Unter Umst\u00e4nden k\u00f6nnen ausnahmsweise aber auch einzelne fr\u00fchere Stadien der Ontogenie auf h\u00f6heren Stufen der phylogenetischen Reihe von l\u00e4ngerer Dauer sein, eine Ampliation erfahren und neue Differenzirungen oder andere phylogenetische Fortbildungen eingehen, w\u00e4hrend diese Ver\u00e4nderungen gew\u00f6hnlich nur in den sp\u00e4teren Stadien der Ontogenie auf treten.\nDie phylogenetische Erkenntniss einer Sippe setzt voraus, dass wir wissen, woraus sie entstanden ist, somit welcher Abstammungslinie sie angeh\u00f6rt. Damit zwei Sippen als Stufen der gleichen phylogenetischen Reihe angesehen werden k\u00f6nnen, muss sich nachweisen lassen, dass die Ontogenie der tieferstehenden mit der entsprechenden Partie in der Ontogenie der h\u00f6herstehenden \u00fcbereinstimme und dass somit die letztere sich als phylogenetische Fortbildung aus der ersteren betrachten lasse Dabei darf der Aehnlichkeit im \u00e4usseren Ansehen und im inneren Bau wenig Bedeutung beigemesson werden, da die eine und die andere auf verschiedenem Wege zu Stande kommen kann.","page":471},{"file":"p0472.txt","language":"de","ocr_de":"472 IX. Morphologic und Syntcinatik hIh phylogeneti\u00bbcli<> Wi\u00abM>n*cliaften.\nUm die Methode der Behandlung bez\u00fcglich dor Abstammung deutlicher zu machen, will ich als Beispiel die phylogenetische Hauptreihe der Pflanzen betrachten, welche von den Confervo\u00efden durch die Lebermoose zu den Gef\u00e4sskryptogamen und Phanerogamen aufsteigt und deshalb Schwierigkeiten darbietet, weil sic nur sehr l\u00fcckenhaft unter den lebenden Pflanzen vertreten ist.\nWenn wir von einer solchen phylogenetischen Reihe sprechen und als Durchgangspunkte derselben jetzt lebende Pflanzen t\u00bbe-zeichnen, so hat das nach dem fr\u00fcher Gesagten nur bildliche Bedeutung, insofern als die jetzigen Phanerogamen von vorzeitlichen Gef\u00e4sskryptogamen, diese von lebermoosartigen Pflanzen einer fr\u00fcheren Periode und diese von Confervo\u00efden einer noch fr\u00fcheren Zeit abstammten. Von den zwei grossen L\u00fccken in dieser Reihe befindet sich die eine zwischen Lebermoosen und Algen. Wir fragen uns nun, welcher bekannten Alge die Ahnensippe, von der die Lelier-moose herstammen, wohl \u00e4hnlich gewesen sein mag. Die \u00e4usseren Merkmale scheinen deutlich auf Coleochaete hinzuweisen. Diese Pflanze hat einige Merkmale,' wodurch sie gleichzeitig von den \u00fcbrigen S\u00fcsswasseralgen abweicht und den Lebermoosen \u00e4hnlich ist. Ihre gegliederten F\u00e4den legen sich zusammen und bilden .in fl\u00e4chenf\u00f6rmiges Thallom, welches einige \u00e4ussere Aehnlichkeit mit den einfachsten Lebermoosen hat ; das Oogonium verl\u00e4ngert sich in einen Hals, so dass man es als die Urform der Archegonien in Anspruch nehmen m\u00f6chte; nachtr\u00e4glich wird das Oogonium berindet, so dass die Oospore eingeschlossen ist, \u00e4hnlich wie die Eizelle im Archegonium.\nDoch sind diese Analogien zwischen Coleochaete und den Lebermoosen nur scheinbar und d\u00fcrfen uns nicht irreleiten. Vergleichen wir die Ontogenie der ersteren mit derjenigen der letzteren, so finden wir einen wesentlichen Unterschied im Generationswechsel. Die Ontogenie der Coleochaete besteht, in analoger Weise wie bei Oedo-gonium, in den Generationen (vgl S. 433, 453)\nBy... Bn\tCDA,\ndiejenige eines Lebermooses in den zwei Generationen\n[Bt... Bn -j- C)\t(X> \u2014j- A).\nDie Frage ist nun, ob die Generationenreihe von Coleochaete Bi.. Bn -f C phylogenetisch in eine einzige Generation, mit anderen","page":472},{"file":"p0473.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologie ami Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 473\nWorten in das Thallom der Lebermoose \u00fcbergehen k\u00f6nne. Dies stellt sich uns nach dem, was wir aus anderen F\u00e4llen wissen, als ganz unwahrscheinlich dar. Es kommt zwar h\u00e4ufig vor, dass auf der niederen Stufe die Ontogenie aus einer gr\u00f6sseren, auf der h\u00f6heren Stufe aus einer geringeren Zahl von Generationen besteht. Der l ebergang geschieht aber dadurch, dass die Generationen vereinigt bleiben und ein vergr\u00f6sscrtes Individuum darstellen. So wird aus einer Generationenreihe einzelliger Pflanzen eine einzige vielzellige Pflanze. Es ist mir nun kein sicheres Beispiel daf\u00fcr bekannt, wie eine Generationenreihe vielzelliger Individuen zu Einem Indi-\\ iduum sich umbildet. Sehr plausilxfl w\u00e4re der Uebergang in eine Pflanze mit einer Mehrzahl von Sprossgenerationen, indem jede Generation der niederen Stufe zum Spross der h\u00f6heren Stufe w\u00fcrde.\nIn dem vorliegenden Falle aber m\u00fcsste eine ganze Reihe von Coleo-chaetetlmllomen zu einem einzigen denselben \u00e4hnlichen I^bermoos-thallom werden, was nur durch Reduction geschehen k\u00f6nnte. Ob nun die Verminderung einer Generationenreihe auf eine einzige Generation wirklich durch Reduction erfolgen kann, l\u00e4sst sich wohl noch nicht sicher entscheiden, ist aber nicht gerade wahrscheinlich. Wenn dies aber bei Coleochaete geschehen sollte, so m\u00fcsste ihr 1 hallom zugleich in dasjenige eines Lebermooses sich umbilden, ein phylogenetischer Process, dessen M\u00f6glichkeit sich wohl ebenfalls noch nicht beurtheilen l\u00e4sst. Ohne hier\u00fcber in eine Besprechung einzutreten, will ich bloss bemerken, dass nur, wenn ich alle Umst\u00e4nde ber\u00fccksichtige, die Entstehung des I-ebermoosthalloms aus einer Ulothrix-\u00e4hnlichen Pflanze viel wahrscheinlicher vorkommt.\nWas die Abstammung des Moosarchegoniums aus dem Oogonium von Coleochaete betrifft, so ist dio Berindung des letzteren, da sie erst nach der Befruchtung entsteht und eine andere morphologische Bedeutung besitzt, eher ein Grund gegen jene Abstammung; denn die fragliche Berindung h\u00e4tte l>ei der phylogenetischen Umwandlung nieder verschwinden m\u00fcssen. Aber auch die Umwandlung des Oogoniums in das Archegonium muss ich nach phylogenetischen Gesetzen f\u00fcr unm\u00f6glich halten, wenn es mir auch wahrscheinlich ist, dass die halsartige Verl\u00e4ngerung bei beiden dur3h analoge Ursachen herbeigef\u00fchrt wurde.\nF\u00fcr die Abstammung der Lebermoose m\u00f6chte ich im Anschluss an sichere bekannte Vorg\u00e4nge folgende Vermuthung aufstellen. Die","page":473},{"file":"p0474.txt","language":"de","ocr_de":"474 IX. Morphologie und Systematik al* phylogenetische Wissenschaften.\nzu den Algen geh\u00f6rende Ahnensippe hatte aussenst\u00e4ndige einzellige Sporangien, von denen die einen m\u00e4nnliche, die anderen weibliche Schw\u00e4rmsporen in gr\u00f6sserer Zahl erzeugten. Durch das Zusammenwirken zweier phylogenetischer Processe, n\u00e4mlich durch das Streben nach Differenzirung und nach Vereinigung, wurden die m\u00e4nnlichen Sporangien zu Antheridien, die weiblichen zu Archegonien. Bei beiden ging die Schw\u00e4rmsporenbildung, indem die Zelltheilung durch Ampliation zunahm, zum Theil in den vegetativen Zustand ttl>er, wol>ei die unteren und \u00e4usseren Zellen zu Stiel und Wandung wurden und nur die inneren, einer sp\u00e4teren Zellgeneration angeh\u00f6renden Zellen ihren reproduction Charakter beibehielten. Damit hatten die Antheridien im wesentlichen den Bau erreicht, den sie bei den Moosen besitzen. Die weiblichen Organe aber mussten \u00fcberdem, um zu Moosarchegonien zu werden, die Zahl der Schw\u00e4rmsporen auf Eine reduciren und diese zur grossen und unbeweglichen Eizelle machen,\nabgesehen von der Bildung des Halses, welche durch andere Vorg\u00e4nge zu Stande kam.\nDie Ahnensippe musste ferner einen Generationswechsel ohne Wiederholungsgenerationen besitzen: die geschlechtliche Pflanze erzeugte m\u00e4nnliche und weibliche Schw\u00e4rmsporen; die befruchtete Eizelle theilte sich in mehrere Ruhesporen. Der Generationswechsel war also \u00fcbereinstimmend mit dem der Moose, mit dem Unterschiede, dass aus der befruchteten weiblichen Zelle nicht ein Sporogonium, sondern unmittelbar die Sporen entstanden. Dass dies so sein musste, daf\u00fcr gibt es zwei Gr\u00fcnde, die aus der Entstehung und aus der Weiterbildung der Ahnensippe entnommen sind.\nWenn wir von unten zu der Ahnensippe zu gelangen suchen, so musste sie wohl aus einer Confervo\u00efde entstehen, die einen Generationswechsel wie Ulothrix hatte und deren Zygosporen mehrere Schwarmzeiten erzeugten. Alle Generationen mit Ausnahme der androgynen vereinigten sich dann zu einem Individuum; damit gingen nothwendig die von dieser androgynen Generation erzeugten Schw\u00e4rmsporen in Ruhesporen \u00fcber.\nSuchen wir von oben zu der Ahnensippe zu gelangen, so ist der Umstand enscheidend, dass, sowie wir in der Abstammungslinie r\u00fcckw\u00e4rts gehen, von den Phanerogamen und Gef\u00e4sskryptogamen zu den Moosen die sporenerzeugende Generation an Gr\u00f6sse und Dauer abnimmt, indem sie dort ein sporangientragender Pflanzenstock,","page":474},{"file":"p0475.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 475\nliier nur noch ein Sporangium ist. Auf fr\u00fcheren Stufen musste die sporenbildcndo Generation noch kleiner, auf den fr\u00fchesten eine einfache sporenbildende Zelle sein.\nDer Fortschritt vom einzelligen Sjiorangium der Ahnensippe zum Sporogonium der Moose vollzieht sich in \u00e4hnlicher Weise, wie ich sie f\u00fcr die Bildung der Antheridien und Archegonien in Anspruch genommen habe. Die in der befruchteten Eizelle lieginnendc Zell-t hei lung nimmt durch Ampliation zu; durch das Bestreben zur Differenzirung und zur Vereinigung der fr\u00fcher getrennten Zellen werden die unteren und \u00e4usseren Zellen vegetativ, indem nur einer Gruppe von inneren Zellen die Sporenbildung bleibt.\nBetr\u00e4chtlich l\u00e4nger und auch schwieriger zu construiren ist der Weg von den Lebermoosen zu den Gef\u00e4sskryptogamen. W\u00e4hrend die geschlechtliche Generation auf diesem Wege mehr oder weniger redueirt wird, erf\u00e4hrt die sporenbildende Generation eine ganz gewaltige Bereicherung, die sich indess durch die phylogenetischen Vorg\u00e4nge der Ampliation, Differenzirung und des Vegetativwerdens der reproductiven Erscheinungen erkl\u00e4ren l\u00e4sst.\nAm meisten Schwierigkeiten machen, wenn wir die Umbildung des Moossporogons in den Stengel der Gef\u00e4sspflanzen nicht bloss oberfl\u00e4chlich in Bausch und Bogen sich vollziehen lassen, sondern Schritt f\u00fcr Schritt genau verfolgen, die allerersten Schritte. Das Sporogon ist seiner morphologischen Bedeutung nach jedenfalls noch kein Caulom (Stengel), denn dieses setzt Phyllome (Bl\u00e4tter) voraus, welche es seitlich an seiner Spitze erzeugt. Richtiger vergleichen wir es mit dem Thallom vieler Lebermoose selber und der Algen. Es ist sonach schon von vornherein aus phylogenetischen Gr\u00fcnden gar nicht unwahrscheinlich, dass auch die Gef\u00e4sspflanzen in ihrer Abstammungslime zuerst ein Thallomstadium durchmachten und dasselbe auch jetzt noch in ihrer Ontogenie durchlaufen. Ich komme hier auf die n\u00e4mliche Vermuthung, die ich schon fr\u00fcher aus rein mitogenetischen Gr\u00fcnden ausgesprochen habe, dass das erste Stadium einer phanerogamen Pflanze, n\u00e4mlich das Stengelchen des Embryos sammt den Samenlappen, ein Thallom sei. Es gibt Lebermoos-sporogonien, welche genau die gleiche Zelltheilung besitzen, wie die Embryokugel von Capselia.","page":475},{"file":"p0476.txt","language":"de","ocr_de":"47(\u00ee IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften.\nSchon innerhalb der Gruppe der Lebermoose vollzieht sich eine Fortbildung des Sporogons, welche f\u00fcr unsere Betrachtung von Wichtigkeit ist. Dasselbe bildet n\u00e4mlich auf der untersten Stufe in seinem ganzen Innern Sporen; auf der h\u00f6heren Stufe verl\u00e4ngert es sich und verwendet bloss eine kleine obere Partie des Gewebes f\u00fcr die Fortpflanzung. Es ist nun denkbar, dass sp\u00e4ter auch dieser Rest vegetativ wird und dass das Sporogon als eine Sprossbildung seitlich an der Spitze sich bildet ; ferner dass dieses Sporogon durch weitere Umbildung in der sogleich zu er\u00f6rternden Weise zum bl\u00e4tter-tragenden Stengel wird. In diesem Falle h\u00e4tten wir als erstes Product aus der befruchteten Eizelle der Gef\u00e4sspflanzen einen thallomartigen\nEmbryo, aus dem ein bebl\u00e4tterter Stengel als zweite Sprossgeneration entspringt.\nEs ist wahrscheinlich, dass es Abstanimungslinien des Moos-sporogoniums gab, welche bloss ein durch Sprossung sich vermehrendes Thallom besassen, und dass die Lemnaceen noch Ueber-bleibsel solcher Bildungen sind.\nEs ist aber andrerseits auch denkbar, dass das thallomartige Sporogon, indem es vegetativ wird, unmittelbar (nicht erst durch seitliche Sprossung) zum bl\u00e4ttertragenden Stengel sich verl\u00e4ngert, so dass der daraus hervorgehende Spross am Grunde Thallomnatur l>esitzt und weiter oben zum Caulom wird. Das ist ja nichts unerh\u00f6rtes; denn an dem Protonema der Moose gibt es einzelne Aesto, welche, nachdem sie einen aus mehreren Gliedern bestehenden proto-nematisehen, also thallomartigen Fuss gebildet haben, eine andersartige Zellbildung in der Scheitelzelle beginnen und als directe Fortsetzung das blftttertragende Moosst\u00e4mmchen erzeugen.\nHiezu k\u00f6nnen wir uns daran erinnern, dass in der Gruppe der Laubmoose das Sporogoninm sich noch weiter bildet als es l>ei den jetzt liekannten Lebermoosen der Fall ist, indem das L\u00e4ngen wachs-thum wenigstens in einem sp\u00e4teren Stadium durch altemirend-schiefe rheilung der Scheitelzelle erfolgt und auch Verzweigung als Ausnahmsfall schon vorkommt. Diese Thatsachen zeigen uns, dass die Moose ihre idioplasmatischen Anlagen, n\u00e4mlich L\u00e4ngenwachsthum (urch schiefe Theilung der Scheitelzellen und Verzweigung, auch auf das Sporogon \u00fcbertragen k\u00f6nnen. Tritt die Verzweigung vereinzelt auf, so erscheint dieselbe als Sprossung und kann, wie vorhin angenommen wurde, seitlich unter dem Scheitel ein Sporogon bilden","page":476},{"file":"p0477.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologic und Systematik als phylogenetische WiaxenHchaftcn. 477\nTritt sie aber in Folge von Ampliation regelm\u00e4ssig und in Gemeinschaft mit fortgesetztem Scheitelwachsthum auf, so ist es begreiflich, dass sie in den der Scheitelzelle jeweilen zun\u00e4ehstliegenden Zellen, n\u00e4mlich in den Segmentzellen, mit schiefen Theilungen beginnt, in analoger Weise, wie die erste schiefe Theilung im Moossporogonium in der Zelle statthat, welche den Scheitel einnimmt.\nMit dem fortgesetzten L\u00e4ngenwachsthum des Sporogons r\u00fcckt der sporenbildende Theil desselben hinter dem Scheitel in die H\u00f6he, so dass daraus ein gestieltes Sporogon wird. Die seitlichen Zweige werden ebenfalls fruchtbar und bilden sich zu sitzenden Sporogonien aus. Ls entsteht also ein \u00e4hrenf\u00f6rmiger Sporogonienstand, der die directe Fortsetzung, oder wenn, wie zuerst angenommen wurde, <lurch Sprossung ein laterales Sporogonium sich bildete, die seitliche Fortsetzung des urspr\u00fcnglichen thallomartigen K\u00f6rpers ist. Ob das eine oder andere erfolgt, d\u00fcrfte davon abh\u00e4ngen, ob dieser K\u00f6rper, n\u00e4mlich das urspr\u00fcngliche Sporogon, eine einzige Scheitelzelle oder eine Mehrzahl gleichwertiger Zellen am Scheitel besass.\nBeim weiteren phylogenetischen Fortschritt ttird durch Ampliation, Differenzirung und Reduction der \u00e4hrenf\u00f6rmige Sporogonienstand, welcher als das erste phylogenetische Stadium gelten mag, l\u00e4nger, die seitlichen Sporogonien nehmen an Zahl zu, das terminale 8{>orogon schwindet, so dass die sterile Spindel nun ein fortgesetztes L\u00e4ngenwachsthum erlangt. Ferner vergr\u00f6ssern sich die Sporogonien, indem sie theilweise in den vegetativen Zustand \u00fcbergehen. Diese seitlichen Sporogonien zeigen nun einen \u00e4hnlichen phylogenetischen Entwicklungsgang, wie das urspr\u00fcngliche Sporogon; ihr Haupt-k\u00fcrper, der nur noch an einzelnen Stellen Sporogonien erzeugt, wird \u00fcberdem durch Anpassung blattartig. Die zweite Stufe ist also ein unverzweigter bebl\u00e4tterter Stengel ; die noch Lc \u201ehst einfach gestalteten Bl\u00e4tter sind alle gleich und sporogonientragend ; die Sporogonien befinden sich an verschiedenen Stellen des Blattes, auf der R\u00fcckseite, am Rande, auf der Bauchseite, auch einzeln am Grunde der Bauchseite. In der Abstammungslinie der Lycopodiaceen mag diese Stufe grosse Aelmlichkeit mit einem unverzweigten Lycopodium Selago gehabt haben.\nWenn auch die Sporogonien bei den meisten Selaginellen nicht wie bei Lycopodium aus der Blattbusis, sondern eicht \u00fcber den Bl\u00e4ttern aus dem Stengel zu entspringen scheinen, so muss ich sie","page":477},{"file":"p0478.txt","language":"de","ocr_de":"478 IX. Morphologie und flyntenmtik ala phylogenetische Wissenschaften.\ndoch f\u00fcr blattst\u00e4ndig halten, denn ein Theil des morphologischen Blattes (im Gegensatz zum \u00e4usserlich erkennbaren) ist jedenfalls in das Gewebe des Stengels eingesetzt, wie ich schon fr\u00fcher bemerkt hal)e und wie sich aus den verk\u00fcmmerten Bl\u00e4ttern von Psilotum ergibt (f in Fig. 24 c auf S. 413). Das die sichtbare Blattbasis zun\u00e4clist umgebende Gcwete der Stengeloberfluche geh\u00f6rt also h\u00f6chst wahrscheinlich dem Blatte an und tr\u00e4gt bei Selaginella die Sporogonien. F\u00fc diese Deutung spricht auch ganz entschieden die nahe phylogenetische Verwandtschaft zwischen Dycopodium und Selaginella.\nEine der m\u00f6glichen phylogenetischen Weiterbildungen, die von der zweiten Stufe aus erfolgen, besteht darin, dass der Stengel, nachdem er eine gr\u00f6ssere oder kleinere Zahl von Bl\u00e4ttern gebildet hat, seitlich am Scheitel \u00fcber dem obersten Blattanfang einen Ast bildet oder sich dichotomisch theilt, worauf er weiter w\u00e4chst, um sp\u00e4ter die acrogene Verzweigung zu wiederholen. Diese dritte Stufe hat, wenn sie sich auf der Abstammungslinie der Lycopodiaceen befindet, schon grosse Aebnlichkeit mit dieser Familie.\nEine andere Fortbildung der zweiten Stufe geschieht dadurch, dass das Spo vegetativ wird und dass sich \u2014 was auf dieser Stufe die naturgem\u00e4sse Art des Vegetativwerdens erscheint \u2014 an seiner Stelle eine Knospe bildet, die in einen bebl\u00e4tterten Stengel ausw\u00e4chst. Vorz\u00fcglich waren es die Bl\u00e4tter mit axillaren Sporogonien (wie bei Lycopodium und Selaginella), welche die F\u00e4higkeit zur Reproduction gegen diejenige, axillare Knospen zu bilden, vertauschten. Damit ist die axillare oder phyllogene Verzweigung gegeben, welche principiell von der acrogenen verschieden ist. Ob die letztere den dichotomischen oder monopodialen Charakter annehme, ist von untergeordneter Bedeutung und vielleicht bloss eine nachtr\u00e4gliche ungleiche Fortbildung urspr\u00fcnglich \u00fcbereinstimmender Anf\u00e4nge.\nDie acrogene Verzweigung kommt bei den meisten Gef\u00e4sskrypto-gamen, die phyllogene bei den Phanerogamen vor. Die letztere wurde zuerst wohl so geregelt, dass die oberen Bl\u00e4tter am Stengel reproductiv blieben, die unteren aber Aeste (resp. Knospen) erzeugten, so dass Stengel und Aeste in endst\u00e4ndige sog. Frucht\u00e4hren ausgingen (wie dies unter den acrogen verzweigten Pflanzen bei Lycopodium vorkommt), aus welchen dann sp\u00e4ter durch mehrfache Diffe-renzirungen in den Bl\u00e4ttern die terminalen Bl\u00fcthen sich ausbildeten.","page":478},{"file":"p0479.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologie unil Systematik ala phylogenetische Wissenschaften 479\nDus Schwinden eines Sporogons hatte nicht nothwendig die Folge, dass an seiner Stelle die F\u00e4higkeit, eine Knospe zu bilden, sich einstellte. Vielmehr scheint die phyllogene Verzweigung zu der acrogenen im Verhftltniss der Ausschliessung zu stehen. Pflanzen, denen die letztere zukommt, entbehren gew\u00f6hnlich der ersteren und umgekehrt. Am ausgesprochensten findet sich die acrogene Verzweigung bei Lycopodium und Selaginella vor, wo die Axillar\u00e4ste fehlen. In der Gruppe der Farne kommt acrogene und phyllogene Verzweigung vor, letztere aus allen Theilen des Blattes, wie auch die Sporc-gonien \u00fcberall tun Blatte stehen k\u00f6nnen. Die Equisetaceen und die Phanerogamen besitzen allgemein die blattb\u00fcrtige Verzwei-gung, w\u00e4hrend ihnen die acrogene mangelt.\nBei der Abstammung der Gef\u00e4sspflanzen von den Moosen und Algen kommen bloss ganz allgemeine Sippen in Betracht. Wir k\u00f6nnen weder bestimmte Confervo\u00efden, noch bestimmte Lebermoose, noch bestimmte Gef\u00e4sspflanzen in die Abstammungslinie einsetzen; denn dies w\u00fcrde das Vorhandensein einer Unzahl von vermittelnden Formen in der jetzigen Pflanzenwelt, die als Typen dienen k\u00f6nnten, voraussetzen. Selbst in Gebieten, wo dem Anschein nach eine Menge aller m\u00f6glichen Formen uns zug\u00e4nglich ist, wie z. B. in der Gruppe der Phanerogamen, lassen sich keine phylogenetischen Reihen feststellen, weil dieselben einen genau bestimmten Charakter haben m\u00fcssten und weil daf\u00fcr die uns bekannten Beispiele l\u00e4nge nicht ausreichen.\nDagegen bieten die Phanerogamen einen Ueberfluss von Thatch\u00ae1*\u00bb um die phylogenetische Entwicklungsgeschichte der einzelnen Merkmale zu studiren. Das Princip ist nat\u00fcrlich das n\u00e4mliche wie f\u00fcr den stufenweisen Fortschritt eines phylogenetischen Stammes, nur mit dem Unterschiede, dass beim letzteren immer alle seine Merkmale bez\u00fcglich ihres stillstehenden oder fortschrittlichen Ver* halten8 zu ber\u00fccksichtigen sind. \u2014 Ich will die wichtigsten Merkmale der Phanerogamen der Reihe nach mit R\u00fccksicht auf ihre phylogenetische Ausbildung betrachten. Es sind ausschliesslich Eigen-th\u00fcmlichkeiten des \u00e4usseren Baues, wie sie bisher stets von den Systematikern f\u00fcr die Beschreibung 'benutzt wurden. Der innere","page":479},{"file":"p0480.txt","language":"de","ocr_de":"480 IX. Morphologie und Systematik ala phylogenetische Wissenschaften.\nBau gibt bis jetzt nur wenige systematisch brauchbare Merkmale, uml diese eignen sich noch keineswegs f\u00fcr eine phylogenetische Betrachtung.\nA, B, C. Aufbau des Pflanzenstockes.\nAuf der untersten Stufe sind die Verzweigungen unregelm\u00e4ssig und unbestimmt; jeder Caulomspross ist mit Laubbl\u00e4ttern besetzt und endigt normal in eine Bl\u00fcthe. Im weiteren phylogenetischen Verl\u00e4ufe scheiden sieh zwei gleichwertige Typen A, und Bt aus.\nAx. Die Verzweigung ist untergipflig und geschieht in der Art, dass je die Hauptstrahlen l\u00e4nger werden und sich st\u00e4rker verzweigen als ihre Seitenstrahlen. Das Entwieklungsverm\u00f6gen nimmt also in den successiven Strahlenordnungen stetig ab. Dies ist der racem\u00f6se oder botrytische Typus in seinen ersten noch durchaus belaubten Anf\u00e4ngen.\nBx. Die Verzweigung ist \u00fcbergipflig, indem die Seitenstrahlen je \u00fcber die Hauptstrahlen hinauswachsen, so dass also das Entwicklungsverm\u00f6gen von einer Strahlenordnung auf die folgende ungeschw\u00e4cht \u00fcl \u00bbertragen wird und in dieser somit l\u00e4nger andauert Dies ist der cym\u00f6se Typus in seinen ersten noch belaubten Anf\u00e4ngen. Es sind stets die obersten Zweige einer Ordnung, welche das st\u00e4rkste Entwicklungsverm\u00f6g\u00bb, besitzen.\nIch will zuerst die phylogenetische Fortbildung von At verfolgen. Aus dieser ersten Stufe gehen nach einander die folgenden Stufen Alt As, A\u201e At hervor.\nA'- Durch Differenzirung werden die obersten Theile der Verzweigung von A, zur Hochblattregion. Diese Ver\u00e4nderung erstreckt sich mehr oder weniger weit nach unten; der Uebergang von den Hochbl\u00e4ttern in die Laubbl\u00e4tter der unteren Partien erfolgt zuerst allm\u00e4hlich, in den sp\u00e4teren phylogenetischen Stadien pl\u00f6tzlich. Die Laubblattcaulome endigen auf dieser Stufe in einen geschlossenen, rispigen Bl\u00fcthenstand. \u2014 Ranunculus, Rosaceen, Alisma Plan-tago etc.\nA>. Durch Reduction werden die prim\u00e4ren Seitenstrahlen der terminalen Inflorenscenz von A, einbl\u00fcthig, so dass nun also die Laubblattcaulome in einfach traubige oder \u00e4hrige Bl\u00fcthenst\u00e4nde ausgehen. Durch weitere Differenzirung werden dieselben doldig oder kopff\u00f6rmig. Durch Verk\u00fcmmerung der Endblttthe wird fr\u00fcher oder","page":480},{"file":"p0481.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 481\nspiitor die Inflorescenz ungeschlossen. \u2014 Cruciferen, Scrophularia-ceen part., Gompositen part. etc.\nDer Uebergang kann in doppelter Art siattfinden. Entweder verk\u00fcmmert die Endbl\u00fcthe, ehe die Reduction der Seitensprosse auf einfache Bl\u00fcthen vollendet ist, so de^s der Bl\u00fcthenstand den Bau von Fig. 19 b auf S. 384 hat (Labiaten, Scrophulariaceen part., Aconitum, Delphinium). Oder der Bl\u00fcthenstand beh\u00e4lt seine Endbl\u00fcthe, bis die genannte Reduction vollendet ist (Campanulaceen).\nA>- Die allgemeine, unter den Inflorescenzen befindliche Verzweigung in der Stufe geschah durchaus in der Laubblattregion. Durch Differenzirung werden die obersten Aeste zuHochblattcaulomen j es vollzieht sich die n\u00e4mliche Umwandlung wie in A2, so dass nun die Laubblattsprosse in einen zusammengesetzten Bl\u00fcthenstand ausgehen. Die Hauptverzweigung desselben ist urspr\u00fcnglich, ihrer Entstehung aus Ax gem\u00e4ss, eine untergipflige Rispe; im phylogenetischen Verlaufe kann sie sich in eine gleich- oder in eine \u00fcber-\ngipflige Rispe umbilden. \u2014 Compositae part., rispige Gramineen, Cyperus.\nA0. Die seitlichen Hochhlatt\u00e4ste von A, werden, abgesehen von ihrer terminalen Inflorescenz, durch Reduction unverzweigt, so dass der allgemeine Bl\u00fcthenstand aus dem rispigen in den traubigen und \u00e4hrigen Bau \u00fcbergeht, also eine gleiche Fortbildung zeigt wie von At zu A3, wobei der Hauptstrahl urspr\u00fcnglich in einen einlachen Bl\u00fcthenstand endigt, im phylogenetischen Verlaufe aber durch Verk\u00fcmmerung desselben blind aufh\u00f6ren kann. \u2014 Aehrige Gramineen wie Triticum, Lolium.\nSind die besonderen Bl\u00fcthenst\u00e4nde von A, doldig oder kopff\u00f6rmig, hat also die Pflanze, wie sich aus diesem Umstande ergibt, \u00abheNeigung, ihre obersten Intemodien zu verk\u00fcrzen, so tritt leicht eine H\u00e4ufung der oberen Aeste des allgemeinen Bl\u00fcthenstandes ein. Werden dieselben durch Reduction unverzweigt, so entstehen die \u00ab1er zusammengesetzten Aehre gleichwerthigen Inflorescenzen: die zusammengesetzte Dolde (Umbelliferen) und der zusammengesetzte Kopf (Echinops, Vemoniaceen).\nBei allen diesen Umbildungen endigt der Hauptstrahl urspr\u00fcnglich in einen besonderen Bl\u00fcthenstand und kann im phylogenetischen Verlaufe durch Verk\u00fcmmerung desselben blind ausgehen. Durch R\u00fcckschlag kommt dio verloren gegangene terminale Bl\u00fcthe sowohl\nT. N\u00e4gcll, At\u00abtaran'iinjr*1\u00ab<lm>\t\u00bb\u00ab","page":481},{"file":"p0482.txt","language":"de","ocr_de":"4K2 rX Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften.\nin den besonderen Bl\u00fcthenst\u00e4nden als im allgemeinen BlQthenstand wieder zum Vorschein (Umbelliferen).\nDie phylogenetischen Entwicklungen von B, erfolgen in analoger Weise, wie die eben betrachteten von At, so dass ich mich hier k\u00fcrzer fassen kann.\nBt. Die laubige \u00fcbergipflige Rispe von B, erf\u00e4hrt die n\u00e4mliche Fortbildung, wie sie beim Uebergang von Ax zu At stattfinde., indem der oberste Theil der Verzweigung durch Differenzirung zum hochblatttragenden Bl\u00fcthenstand wird, wobei wie in B, je die obersten Strahlen einer Ordnung am l\u00e4ngsten werden und sich am st\u00e4rksten verzweigen.\nB,\t. Durch Reduction schwinden in B, die unteren Strahlt n einer Ordnung und es bleiben bloss die obersten und entwicklungsf\u00e4higsten in der Zahl von 1, 2 oder mehreren, ziemlich gleich hoch inserirten \u00fcbrig. Die \u00fcbergipflige Rispe verwandelt sich in das Pleiochasium, Dichasium, Monochasium.\nDie heutige Morphologie geht bei der Darlegung der Bl\u00fcthenst\u00e4nde von den sogenannten einfachen Inflorescenzen wie z. B. Traube und Dichasium aus und leitet daraus die zusammengesetzten ab, zu denen auch die Rispe geh\u00f6ren soll. Dies ist jedenfalls nicht der phylogenetische Entwicklungsgang; denn aus dem in eine Bl\u00fcthe endigenden Bl\u00fcthenstiel kann gewiss nie ein Bl\u00fcthenstand sich entwickeln. Wenn wir einfache und zusammengesetzte Inflorescenzen unterscheiden wollen, m\u00fcssten wir einfach diejenige nennen, die aus gleichen Strahlen besteht, zusammengesetzt diejenige, die aus verschiedenen Strahlen zusammengesetzt ist; dann w\u00e4re die Rispe ein einfacher, die Traube ein zusammengesetzter Bl\u00fcthenstand. In dieso Lehre kann \u00fcberhaupt erst dann volle Klarheit kommen, wenn sie nach phylogenetischer Methode bearbeitet wird. Alle phylogenetische Entwicklung geht aber von dem undifferenzirten, unbestimmten und der Zahl nach mehrfachen aus; und dieses ist bez\u00fcglich der Verzweigung die Rispe.\nC.\tDie beiden phylogenetischen Reihen, die in A und B l>e-trachtet wurden, haben das gemeinsam, dass das laubblatttragende Caulom in eine Bl\u00fcthe oder einen Bl\u00fcthenstand endigt. Zu ihnen g\u20ac\u2018h\u00f6it die grosse Mehrzahl der Phanerogamen. Indessen gibt es eine Minderzahl, bei welchen die Laubblattsprosse unbegrenzt fort-w ach sen oder auch jedes Jahr durch einen mit Niederbl\u00e4ttern begin-","page":482},{"file":"p0483.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphol\u00ab\u00bbgift urol Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 483\nnenden Trieb sich verl\u00e4ngern und die Bl\u00fcthen oder Bl\u00fcthenst\u00e4ndc seitlich tragen. Man k\u00f6nnte meinen, dass diese unbegrenzten Laub-blattcaulome eine urspr\u00fcngliche Bildung seien, und vom phylogenetischen Gesichtspunkte aus w\u00e4re dies ganz gut denkbar. Indessen erweist sich die Annahme f\u00fcr die meisten F\u00e4lle als unm\u00f6glich, weil bei n\u00e4chst verwandten Pflanzen, die h\u00f6chst wahrscheinlich von gleicher Abstammung sind, die Laubblattsprosse durch Bl\u00fcthen oder Bl\u00fcthenst\u00e4nde begrenzt werden.\nWir k\u00f6nnen uns nun recht gut vorstellen, dass jede Stufe der Reihe A sich phylogenetisch zu unbegrenzten Laubblattsprossen um-wandelt. Am leichtesten freilich geschieht es bei der Stufe A, und \u00fcberhaupt bei denjenigen Formen, wo die Laubbl\u00e4tter am h\u00f6chsten hinaufreichen. Der Vorgang ist folgender: Der Hauptspross, der ohnehin eine gr\u00f6ssere Entwicklungsf\u00e4higkeit besitzt als die von ihm seitlich erzeugten Strahlen, steigert sein Wachsthum verm\u00f6ge der nun platzgreifenden Ampliation immer mehr und wird, indem durch einen andern phylogenetischen Process die Hochbl\u00e4tter und Bl\u00fcthen-blfttter, die er tr\u00e4gt, vegetativ und zu Laubbl\u00e4ttem werden, zuletzt unbegrenzt, wobei er selbstverst\u00e4ndlich auch die F\u00e4higkeit erlangt, seitliche unbegrenzte Laubblattcaulome zu erzeugen. Die \u00fcbrigen Seitenstrahlen gehen, je nach der Stufe, von welcher die phylogenetische Abzweigung erfolgt ist, durch Reduction entweder in achsel-st\u00e4ndige Bl\u00fcthen (Viola, Tropaeolum) oder in axillare Bl\u00fcthenst\u00e4nde (Papilionaceen, Plantago) aus.\nDer haupts\u00e4chlichste phylogenetische Fortschritt, den die ganze vorstehende Auseinandersetzung darzulegen sucht, besteht darin, dass das Ger\u00fcste derGef\u00e4sspflanzen anf\u00e4nglich aus gleichwerthigen Strahlen besteht, indem jedes Caulom unten Laubbl\u00e4tter und am Ende Bl\u00fcthen-bl\u00e4tter tr\u00e4gt, also in eine Bl\u00fcthe ausgeht, und dass das Caulom-ger\u00fcste auf den folgenden Stufen aus 2, 3 und 4 Strahlen von verschiedener Werthigkeit zusammengesetzt ist. Diese Werthigkeiten wurden im \u00bbMikroskop\u00ab (H. Auflage S. 694 und 620) als Rangstufen und die verschiedenen Pflanzen als 1-, 2-, 3- und 4 stufige (statt der unpassenden Benennung 1\u20144 axige) bezeichnet. Ich habe diese Ausdr\u00fccke jetzt vermieden, um keine Verwechslung mit den phylogenetischen Stufen zu veranlassen, und will sie in der Folge haplo-caulisch, diplo-, triplo-, tetrapocaulisch nennen. Es haben also von den angef\u00fchrten Stufen Att Ait Btt 2?,, B, einen haplocaulischeu,\n31*","page":483},{"file":"p0484.txt","language":"de","ocr_de":"4H4 IX Morphologie and Systematik als phylogenetische Wissenschaften.\nAit At, A, part, und C part, einen diplocaulischen, At part, und C part, einen triplocaulischon Aufbau.\nD, E, F. Gestaltung, Anordnung und Verwachsung der Blitter.\nD. Die Gestaltung der Phyllome durchlauft 3 Stufen.\nA. Urspr\u00fcnglich stellt das Blatt ein Organ dar, das \u00e4usserlich noch keine Pifferenzirung wahrnehmen l\u00e4sst (Lycopodiaceen).\nDt. Durch Pifferenzirung tritt Scheidung in Bluttspreite, Blattstiel und Blattscheide ein. Die Blattspreite wird mehr oder weniger zertheilt und geht durch weitere Differenzirung in die folgende Stufe \u00fcber.\nD\u00bb. Das zusammengesetzte Blatt besitzt auf dem verzweigten Blattstiel mehrer oder viele Spreiten.\nDurch Anpassungsmetamorphosen und durch Reduetionen werden die Stufen D. und 71, in vielfacher Weise ver\u00e4ndert, Unter den Reduetionen gibt es solche, die als ein Uebergang auf eine h\u00f6here Stufe zu betrachten sind; dies ist dann der Fall, wenn bei gleich-bleibender oder selbst sich vervollkommnender Qualit\u00e4t das quantitative oder numerische Verh\u00e4ltniss sich vermindert, wenn z. B. ein zusammengesetztes Blatt mit zahlreichen Bl\u00e4ttchen ohne Ver\u00e4nderung des Verzweigungscharakters in ein solches mit wenigen gr\u00f6sseren Bl\u00e4ttchen \u00fcbergeht. \u2014 Die meisten Reduetionen aber sind mit Anpassungs\u00e4nderungen verbunden oder selbst eine Folge der Anpassung. Letzteres m\u00fcssen wir annehmen, wenn ein Blatt Spreite und Stiel verliert und zur Schuppe wird, oder wenn ein zusammengesetztes Blatt, wie bei Acacia- und Oxalisarten, sieh in ein Phyl-1 odium umwandelt. Als Anpassungsreduction muss es wohl ebenfalls betrachtet worden, wenn ein Phyllom scheinbar ganz verschwindet, wie dies zuweilen mit den Tragbl\u00e4ttem der Bl\u00fcthenstiele der Fall ist. Man kann nicht sagen, dass das Blatt hier ganz fehle; denn ohne Zweifel ist es nur auf den im Stengelgewebe eingesenkten Theil beschr\u00e4nkt, und somit von \u00e4hnlicher Beschaffenheit wie die verk\u00fcmmerten Phyllome an den wurzelartigen Caulomen von Psilotum (f in Fig. 24 c auf S. 413).\nK. Gesammtbebl\u00e4tterung des Pflanzenstockes.\nEx. Auf der untersten Stufe lies teilt die Bebl\u00e4tterung aus ganz gleichen Phyllomen, wie dies t\u00bbei Lycopodium Selago vorkommt.","page":484},{"file":"p0485.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologie und HyHtematik als phylogenetische Wissenschaften. 4Hf>\nEt. Durci\u00ee Differenzirung in der Gestalt und in den Functionen gehen die gleichf\u00f6rmigen Bl\u00e4tter von E, in Niederbl\u00e4tter, Laubhl\u00e4tter, Hochbl\u00e4tter und Rl\u00fcthenbl\u00e4tter \u00fcber. Diese verschiedenen Formen, von denen jede in grosser Zahl vertreten ist, sind noch durch allm\u00e4hliche Uel\u00bbcrgangsformcn verbunden.\nE4. Durch Reduction der Zwischenglieder stellt sich ein sprungweiser Uebergang von einer Blattform zur andern ein. Im weitem phylogenetischen Verlauf vermindert sich die Zahl der einer Blatt-form angeh\u00f6renden Phyllome immer mehr, bis auf der h\u00f6chsten Stufe die einzelne Form nur noch durch ein einziges oder einige wenige Bl\u00e4tter vertreten ist. \u2014 Diese Reduction geschieht nicht, wie es bei dem vorhin (unter D) besprochenen Schwinden der Fall ist, durch Beschr\u00e4nkung auf das im Stengel verborgene Basalgewebe, sondern durch Verminderung der Gaulomglieder (Intemodien). Wir haben also, worauf ich hier Gewicht legen m\u00f6chte, zweierlei Arten des Schwindens der Phyllome zu unterscheiden. Die eine erfolgt durch Reduction des Cauloms auf eine geringere Zahl von Gliedern, womit, da jedes Glied ein Phyllom oder einen Phyllomquirl tr\u00e4gt, indirect auch eine Beschr\u00e4nkung der Bl\u00e4tterzahl verbunden ist. Die andere Art des Schwindens ist eine Reduction der Phyllome selber, erst auf einen noch sichtbaren, dann auf einen unsichtbaren verk\u00fcmmerten Rest. \u2014 Eine Reduction, wie die letztgenannte, auf eine im Caulom verborgene Partie ist auch dann anzunehmen, wenn, was in Bl\u00fcthen nicht selten vorkommt, aus einem Quirl einzelne Phyllome oder zwischen zwei opponirten Quirlen der intermedi\u00e4re mit ihnen altemirende Quirl so vollst\u00e4ndig verk\u00fcmmert, dass keine Spur davon sichtbar bleibt.\nF. Stellung und Verwachsung der Phyllome. Diese beiden scheinbar so verschiedenen Erscheinungen stehen doch in sehr inniger Beziehung zu einander, indem die Verwachsung wohl nur eine Folge der bei der Entstehung sehr gedr\u00e4ngten Stellung ist.\nFt. Die unterste Stufe besitzt einzelnstehende Bl\u00e4tter (spiralige oder altemirende Stellung). Anf\u00e4nglich sind dieselben durch ungef\u00e4hr gleiche verticale Abst\u00e4nde (Intemodien) getrennt ; bei der phylogenetischen Weiterbildung zeigen sie regionenweise ungleiche Abst\u00e4nde, indem im allgemeinen die ersten und letzten Intemodien eines Jahrestriebes verk\u00fcrzt sind.","page":485},{"file":"p0486.txt","language":"de","ocr_de":"486 IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften.\nF,. Durch Differenzirung werden altemirend die einen Internodien sehr stark verk\u00fcrzt, und zwar zuletzt so sehr, dass sie ganz zu mangeln scheinen, indess die mit ihnen in verschiedener Weise abwechselnden Interaodien sich verl\u00e4ngern. Dadurch entsteht die Quirlstellung der Phyllome.\nFs. Die Bl\u00e4tter eines Quirls verwachsen mit ihren R\u00e4ndern unter einander und bilden dadurch ein zusammengesetztes r\u00fchriges Organ.\nFt. Die Bl\u00e4tter der aufeinander folgenden Quirle verwachsen mit ihren Fl\u00e4chen, sodass aus mehreren Quirlen eine einzige R\u00f6hre entsteht.\nIch betrachte also die altemirende Stellung der Bl\u00e4tter bei den Gef\u00e4sspflanzen als die urspr\u00fcngliche und die quirlst\u00e4ndige als die phylogenetisch daraus hervorgegangene. Dies bedarf eines erl\u00e4uternden Zusatzes. Wenn ich den Quirl als aus einer Spirale entstanden erkl\u00e4re, so ist dies nicht etwa eine Wiederholung der Lehre von C. Sch imper und A. Braun, dass jeder Quirl aus einer den Abst\u00e4nden seiner Bl\u00e4tter entsprechenden Spirale sich gebildet habe, beispielsweise der 2-, 3- und 5 z\u00e4hlige Quirl je aus dem Umlauf (resp. aus zwei Uml\u00e4ufen) einer Spirale mit der Divergenz V\u00bb, */*, \u2022.'* oder Vs, und dass der Schritt vom letzten Blatt eines Quirls (Cyclur) zum ernten des folgenden (Cyclarch) durch einen positiven oder negativen Zuschlag (Prosenthese genannt) ver\u00e4ndert (vergr\u00f6ssert oder verkleinert) worden sei. Solche Betrachtungen haben bloss geometrische Bedeutung und stehen in keiner Beziehung weder zur ontogenetischen noch zur phylogenetischen Entwicklungsgeschichte.\nNach meiner Ansicht sind alle Quirle aus einer ununterbrochenen gleichf\u00f6rmigen Spirale entstanden, deren Bl\u00e4tter gruppenweise zu Quirlen vereinigt blieben, wol>ei das regelm\u00e4ssige Altemiren der Quirle als mechanische Folge klar vorliegender Ursachen zu deuten ist. Durch diesen Process hat die urspr\u00fcnglich gleiche Divergenz sowohl innerhalb der Quirle als in dem Uebergang vom Cyclur zum Cyclarch eine nothwendige Ver\u00e4nderung erfahren.\nDie Divergenzen der urspr\u00fcnglichen Spiralen waren verschieden; sie lassen sich unschwer aus den von ihnen herstammenden Quirlstellungen berechnen. F\u00fcr dio 2z\u00e4hligen Quirle oder die opponirte Blattstellung betr\u00e4gt der Abstand der erzeugenden Spirale\nI. Divergenz = (y+ -^)4 ,t \u00ab \u00bb. \u201e = 136,","page":486},{"file":"p0487.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologic und Hyntematik ala phylogenetische Wissenschaften. 487\nAlle raehrz\u00e4liligon Quirle k\u00f6nnen verschiedenartig aufgefasst und aus Spiralen mit ungleichen Divergenzen abgeleitet werden. Es h\u00e4ngt dies davon ab, ob man von dem letzten Blatt eines Quirls zu dem einen oder andern Blatt des folgenden Quirls \u00fcbergehe, ob man also die \u00bbProsen these\u00ab gr\u00f6sser oder kleiner, positiv oder negativ annehme. Die 3z\u00e4hligen\tQuirle lassen\tdrei Annahmen (II, III\tund\tIV)\tzu.\nII. Divergenz =\t(2 * 3 + y) y ^ = y$ 1C = 140\u00b0-\nUI. Divergenz =\t(2 y -f\t= yg n = 100\u00b0.\nIV. Divergenz =\t(2. * 4.12 \u2022 y-f-i)!\u00ab: = i-7r =\t120\u00b0.\nZur Berechnung bemerke ich, dass die Divergenz gleich ist der Summe aller Schritte vom Cyclarch eines Quirls bis zum Cyclarch des folgenden Quirls, getheilt durch die Zahl dieser Schritte, also f\u00fcr\ndie 3 z\u00e4hligen Quirle n und IU: 2 mal -jj 7i -f- der Abstand vom\no\nCyclur zum Cyclarch, die ganze Summe getheilt durch 3. Bei U betr\u00e4gt der Schritt vom Cyclur zum Cyclarch ~ ^also die \u00bbProsenthese\u00ab -}- ~\nl>ei III betr\u00e4gt er n ^also die Prosenthese \u2014Bei IV wechseln\ndiese Werthe von Quirl zu Quirl, sodass zur Berechnung der mittleren Divergenz die Summirung von 2 Quirlen erforderlich ist.\nDie Berechnung, sowie auch die Vorstellung der Entstehung von Quirlen aus ununterbrochenen Spiralen wird durch folgende Diagramme deutlicher werden, in welchen auf der flachgelegten Stengeloberfl\u00fcche die Lage der Quirle angegeben ist. Der Stengel ist in horizontaler Lage dargestellt und die Olierfl\u00e4che in 6 gleiche L\u00e4ngsstreifeu getheilt. Auf den Grenzlinien dieser Streifen sind die Bl\u00e4tter inserirt und nach der Reihenfolge, die sie in der urspr\u00fcnglichen Spirale hatten, numerirt. Die Quirle erscheinen, wegen der horizontalen Richtung des Stengels, als verticale Reihen.\nII\t\t\tin\t\t\t\tIV\t\t\n\t\t. 0 .\t\t. 7 .\t. 0\t\t6\t\t. 12\n\t\t\t\t\t\t3\t,\t9\t\n\t\t. 1 .\t\t\t. 1\t# ,\t7\t,\t. 13\n\t\t\t\t\t\t4\t,\t10\t1\n\t\t. 2 .\t\t\t. 2\t, ,\t8\t#\t. 14\n. . . 5 .\t, \u2022\t\t. 3 .\t\t\t&\t,\t11\t, ,\n)\t\t\u2022 (\u00bb) \u2022\t\u2022 (0) \u2022\t\t. (7) .\t. (0)\t\u2022 \u2022\t(6) .\t\u2022\t\u2022 (12)\n(0)","page":487},{"file":"p0488.txt","language":"de","ocr_de":"488 IX. Morphologic* und Systematik als phylogenetische Wissenschaften.\nNimmt die Bl\u00e4tterzabl der Quirle zu, so vermehren sich dio M\u00f6glichkeiten der Ableitung aus Spiralen. Zun\u00e4chst ist die Frage, aus wie viel Uml\u00e4ufen der urspr\u00fcnglichen Spirale ein Quirl gebildet sei; davon h\u00e4ngt am wesentlichsten die Gr\u00f6sse der Divergenz ab. Nach meiner Ansicht sind die 4- und 5 z\u00e4hligen Quirle stets 2uinl\u00e4ufig. Wollte man sie 1 uml\u00e4ufig nehmen, so betr\u00fcge die Divergenz der erzeugenden Spirale h\u00f6chstenfalls 101,25\u00b0 f\u00fcr die Vierzahl und U3,\u00fc\u00b0 f\u00fcr die F\u00fcnfzahl. So kleine Divergenzen kommen, wie ich glaulxi, bei alternirenden Phanerogamenbl\u00e4ttern wohl nicht vor; die unzweifelhaft sicheren befinden sich in den Grenzen von 120\u00b0 und\n180\u00b0, Div. = -g-und-^-. Die kleinen Abst\u00e4nde der auf einander\nfolgenden Bl\u00e4tter bei einigen Phanorogamen und Gef\u00e4sskryptogamen (Lycopodiaeeen und Equisetum mit zu einer Spirale aufgel\u00f6sten Quirlen) sind wohl aus Spaltung (Verzweigung) der Blatteinheiten hervorgegangen und somit auch die Quirle von Equisetum gleich denen von Galium zu deuten.\nUnter der eljen er\u00f6rterten Voraussetzung lassen die 5z\u00e4hligen Quirle folgende f\u00fcnf M\u00f6glichkeiten zu:\nV. Divergenz =\nVI.\tDivergenz =\nVII.\tDivergenz =\n-(\n(4 =\n(4 ' t+n>)\u00ef,r = \u00e0\u00ab \u201d = 136-8\"-\n(4.1 4- 1 ^ 1\u201e _ 21 t _ 15| ....\n\\\t5 + 2 / 5\t50 1Jl*\n4.i.f 3 4.4.2 4.iU\u00eef-i 5 ^ 10 '\t5+10*10\n25 r\nVIII. Divergenz\n6\t\\- 5 ' 10 1 \u201c 5\nIX. Divergenz = (4 \u2022 ? 4- 4- -4- 4 \u2022 \u2014 4- JL\\ * lt \u2014 \u2014n \u2014 6\tV\t5 ^ 10^\t5^2*10\t5\n120,0\".\n144\".\nDer Abstand vom Cyclur zum Cyclarch ist bei V bei VI j-\n1\tQ\t1\nund bei VII \u2014- 71 ; bei VIII alternirend und bei IX alternirend 8 1\njlj un<* ~2 7l'\tfolgenden Diagramm sind die Stellungen V,\nVI, VII und IX zur Anschauung gebracht.","page":488},{"file":"p0489.txt","language":"de","ocr_de":"IX. MorplMilitai\u00ab' iiml Systematik als |\u00bbIivl<ln- Wiss<\u2018iiHt\u2018liafU*n 4H'J\n0 .\tV\tM .\t. 0 .\tVI\t111.\t. 0\tVII\t12 .\t. 0 .\tIX . 10 .\t\n\t. \u00ab .\t\t\t\t\t\t\t\t\t\t18\n3 .\t. . .\t12 .\t. 3 .\t.\t11.\t. ;i\t\t10 .\t. 3 .\t. 18 .\t\n\t\t\t\t\t\t\t\t\t\t\t10\nI .\t\t10 .\t. 1 .\t.\t14 .\t. 1\t\tKt .\t. 1 .\t. 11 .\t\n\t\t\t\t\t\t\t\t\t\t\t\n4 .\t\u2022 . .\t13 .\t. 4 .\t.\t12 .\t. 4\t\t11 .\t. 4 .\t.\t14 .\t\n\t\t\t\t\t\t\t\t\t\t\t17\n*2\t. .\t11 .\t. 2 .\t. \u2022\t10 .\t. 2\t\u2022 \u2022 \u2022\t14 .\t.\t. 12 .\t\n\t. 8 .\t\t\t\t\t\t\t\t\t\t\n(0) .\t. . .\t(14) .\t. (0) .\t\u2022 \u2022\t(in).\t. (0;\t.\t(12..\t. (0 ) .\t. (10) .\t.\nFtwus complicirter wird die Suche I\u00bbei 4 /.uniigoii Quirlen, weil die Abst\u00e4nde in dem 2uml\u00fcufig unbenommenen Quirl ungleich uustullcn. Die Ableitung aus einer ununterbrochenen Spirale erluuht hier drei Annahmen.\nX. Divergenz \u2014\nXI.\tDivergenz ==\nXII.\tDivergenz =\n( 2 4 \u00cf H 2 -I i ) \\ = n* =\n(4 + 1 + l + H ) \u00ce \" '\u25a0= s\u00ae \u201d = l4li>25\"\nG4!4 \u00ee4 i + \u00e4 + l + i'1\t=\t,3f>\"\nDer Abstand vom Cyclur zum Cyelarch betr\u00fcgt l\u00bbei X -i-,\n8\n1*9 XI , l**i XII uhwcehselnd -7- und \u2014.\n\u00ab\tSh\nX\t\t\tXI\t\t\tXII\t\t\n0 . . . .\t. 11 .\t. 0 .\t.\t10 .\t. 0\t. . 8\t.\t1 i\n...\t0\t\t.\tr>\t\u2022 \u2022 .\t. .\t0 . .\t14\t\n8 . . . .\t!\u00bb .\t. 8 .\t\t8 .\t. 8\t. . 11\t\t19\n...\t4\t.\t\u2022\t\u00ab\t\u2022\t# #\t4 .\t.\t12\t\n1 ...\t. 10 .\t. 1 .\t.\t. 11 .\t. 1\t. .\t9\t\t17\n. . .\t7\t.\t\u2022\t4\t\u2022 \u2022 .\t\t7 .\t.\t15\t\na ... .\t8 .\t\u2022 2 .\t\t!\u00bb .\t. 2\t. . 10\t\t18\nr>\t\t\t7\t\u2022 \u2022 \u2022\t.\tf\u00bb .\t.\t13\t\n(<>) ....\t\u2022 \u00d6D \u2022\t\u2022 (0) .\t. \u2022\t\u25a0 (1\u00ab) \u2022\ti . (0)\t\u2022 \u2022 (\u00ab)\t\u2022\t(10)\n\\ on \u00d6zfthligen Quirlen, die stets 2und\u00fcufig zu nehmen sind und die schon eine gr\u00f6ssere Zahl von Ableitungen aus den erzeugenden Spiralen offen lassen, will ich nur diejenigen drei F\u00fclle unf\u00fchren, die wohl am ehesten Vorkommen.","page":489},{"file":"p0490.txt","language":"de","ocr_de":"4\u2018.K) IX. Morphologie und Hyntematik al\u00ab phylogenetiaehu WiMseiiHcliHftm.\nXIII. Divergenz =\nXIV. Divergonz \u2014 XV. Divergenz =\n(*\u2022 9 + ] +2 -\u00ff + I2K1 * *= \u00bb \" = 13r>\u201d (2' 3 + 2 +2' \u00cf+ 4) \u00ab * = 72\" = 12ft'\n(2'3+2 + 2'3 + i2+2'9+|+2\u00bb+j)fi!\n7t\n144 7C \u2014 130\u00ae*\nBei XIII betr\u00fcgt der Schritt vom Cyclur zum Cyelarch bei\nIm\nXIV bei XV abwechselnd ~ und /i n\n8\n12\n12\n12\n\tXIII\t\t\tXIV\n0 .\t\u2022 \u2022 \u2022 \u2022\t16 .\t. 0 .\t\n. .\t. . 11 .\t\u2022 \u2022\t\u2022\t. 6\n3 .\t....\t14 .\t. 3 .\t\n\u2022 .\t. . !\u00bb .\t\u2022 \u2022 \u2022\t\u2022 \u2022\t. 0\n1 .\t\u2022 \u2022 \u2022 \u2022\t17 .\t. 1 .\t\n\u2022 .\t. . 9 .\t\u2022 \u2022 \u2022\t\t. 7\n4 .\t\u2022 \u2022\t12 .\t. 4 .\t\n. .\t. . 7 .\t\u2022 \u2022 \u2022\t\t. 10\n2 .\t\u2022\t15 .\t. 2 .\t\n\u2022 .\t. . 10 .\t\u2022 \u2022 \u2022\t. . .\t. 8\n5 .\t\u2022\t13 .\t. 5 .\t\n\u2022 \u2022\t. . 8 .\t\u2022 \u2022 \u2022\t\u2022 \u2022 \u2022\t. 11\n(0) \u2022\t....\t(1\u00ab) .\t\u2022 (0) .\t.\n17 .\t. 0\tXV . . 14 .\t\t. 25\n.\t\u2022 \u2022\t. 11\t. ,\t22 .\n12 .\t. 3\t\u2022\t17 .\t. 2\u00ab\n. . .\t\t. 6\t. ,\t20 .\n16 .\t. 1\t. .\t12 .\t. 26\n. .\t\u2022 \u2022\t. 9\t# .\t23 .\n13 .\t. 4\t. .\t15 .\t. 29\n. .\t. .\t. 7\t. .\t18 .\n16 .\t. 2\t. .\t13 .\t. 24\n\t. \u00ab\t. 10\t\t21 .\n14 .\t. 5\t\u2022 .\t16 .\t. 27\n. .\t\u2022 \u2022\t. 8\t\u2022 .\t19 .\n(17) .\t\u2022 (0)\t\u2022\t(14) .\t\u2022 (<5)\nEs k\u00f6nnen also Quirle mit der n\u00e4mlichen Zahl von Bl\u00e4ttern aus Spiralen mit verschiedener Divergenz entstehen, ebenso wie umgekehrt Quirle mit verschiedener Bl\u00fctterzuhl aus Spiralen mit der gleichen Divergenz sich bilden. Die Reihenfolge der Bl\u00e4tter in den succe8siven Quirlen und somit der Charakter der erzeugenden Spirale lassen sich zuweilen aus der Deckung der Blattr\u00e4nder und aus andern Erscheinungen direct bestimmen. \u2014 Wenn, was nicht selten vorkommt, an den Individuen der n\u00e4mlichen Pflanze Quirle mit verschiedener Bl\u00e4tterzahl wechseln (die einen Stengel haben beispielsweise 2z\u00e4hlige, die andern 3z\u00e4hlige Blattquirle, die einen Bl\u00fcthen sind 4-, die andern \u00f6z\u00fchlig, oder die einen 5-, die andern flz\u00e4hlig), so m\u00fcssen diese verschiedenen Zahlen aus der n\u00e4mlichen Spirale","page":490},{"file":"p0491.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologie utul HyHtematik uIh phylogenetische Witweuschcfteu. 4<J1\nentstanden soin, und duraus l\u00e4sst sieh oft ein Schluss von einem Quirl auf einen andersz\u00e4hligen machen. Es sei beispielsweise durch irgendwelche Gr\u00fcnde festgestellt, dass 5 z\u00e4hlige Quirle dem Schema VI folgen (Divergenz der erzeugenden Spirale ld(i,\u00ab\u00b0), so k\u00f6nnen 4 z\u00e4hlige Quirle, die bei den n\u00e4mlichen Pflanzen stellvertretend Vorkommen, nur nach dem Schema XII (Div. = 135\u00b0) und stellvertretende* 0z\u00e4hlige Quirle nur nach dem Schema XIII (Div. = 135\u00b0) gebaut sein. Wir d\u00fcrfen \u00fcberhaupt folgende Schemate als vicarirend ansehen: I und II, dann II und VI oder auch II und IX, ferner VI, XII und XIII, endlich IV, X und V u. s. w.\nDie soeben als stellvertretend genannten Schemata stimmen in den Divergenz-Werthen der erzeugenden Spirale nicht ganz \u00fcberein. Aber es machen diese Werthe \u00fclx;rhaupt keinen Anspruch auf absolute Geltung. Wenn sich beispielsweise f\u00fcr das so h\u00e4ufig bei den Dico tylen verwirklichte Schema VI die Divergenz 136,8\u00b0 berechnet, so heisst das nichts anderes als dass Spiralen mit nahe kommenden, etwa zwischen 135\u2014139\u00b0 oder zwischen noch weiteren Grenzen befindlichen Divergenzen die jenem Schema folgende Anordnung erzeugen. Es ist sehr leicht m\u00f6glich, dass die relative H\u00e4ufigkeit der stellvertretenden Quirle theilweise von der Divergenz der erzeugenden Spirale bedingt wird, wrof\u00fcr ich folgendes Beispiel anf\u00fchren will. Die \u00f6z\u00e4hligeii Quirle nach Schema VI entsprechen der Divergenz 136,8\u00b0, die 4z\u00e4hligen nach Schema XII der Divergenz 135\u00b0. Von zwei verschiedenen Arten, deren idioplosmatische Anlugen ebenso leicht die F\u00fcnfzahl als die Vierzahl sich entfalten lassen, und von denen die eine urspr\u00fcnglich eine Blattspirale mit der Divergenz 137\u00b0, die andere eine solche mit der Divergenz 135\u00b0 hatte, wird diejenige mit der urspr\u00fcnglichen Divergenz 137\u00b0 eine Menge 5 z\u00e4hlige und wenige 4 z\u00e4hlige, diejenige mit der urspr\u00fcnglichen Divergenz 135\u00b0 eine Menge 4 z\u00e4hlige und wenige 5 z\u00e4hlige Quirle in den Ontogenien verwirklichen. Das ist nat\u00fcrlich so zu verstehen, dass aus der einen urspr\u00fcnglichen Divergenz sich normal die F\u00fcnfzahl, aus der andern die Vierzahl erg\u00e4be, dass uoer die inneren und \u00e4usseren Ursachen, welche noch auf Blattstellung Einfluss haben, die angef\u00fchrten Variationen hervorbringen.\nVon 4- und 6z\u00e4liligen Quirlen wird meistens angenommen, dass sie aus zwei je 2- oder 3 z\u00e4hligcn Quirlen zusammengesetzt seien, und selbst 5 z\u00e4hlige Quirle sollen in gewissen F\u00e4llen aus einem 2- und","page":491},{"file":"p0492.txt","language":"de","ocr_de":"402 IX. Morphologie im<l SyHteiimtik als phylogenetische WiswiiHdiaften.\neinem 3 zfddigen Quirl gebildet sein. Wenn solche Vorstellungen bloss arithmetische und goomctrischo 1 Jedentung lieanspnicheu, so ist ja nichts dagegen ein/.uwenden, Al\u00bber ich glaulw nicht, dass man sie als den Ausdruck des phylogenetischen Geschehens nehmen darf, zweifle auch, dass die Hypothese, es seien irgend einmal den \u00f6z\u00e4hligen Quirlen alternirende, 2- und 3 z\u00e4hlige vorausgegangen, im Ernste behauptet werden k\u00f6nnte. Ebenso wenig ist anzunehmen, dass die 4- und \u00f6z\u00e4hligen Quirle aus 2- oder 3 z\u00e4hlige n Quirlen entstanden seien, denn diese w\u00fcrden alterniren und bei ihrem Zusammenr\u00fccken opponirte (nicht alternirende) 4* und fl z\u00e4hlige Quirle erzeugen.\nDio einfachste und nat\u00fcrlichste Annahme ist doch die, dass von der urspr\u00fcnglichen Spirale in einem Fall je 4, im anderen je 5, im dritten je (i Bl\u00e4tter zum Quirl vereinigt bleiben; und ebenso k\u00f6nnen noch gr\u00f6ssere Zahlen von Phyllomen (10, 12 etc.) sich in alternirende Kreise ordnen. Per urs\u00e4chliche Vorgang ist folgender-maassen zu erkl\u00e4ren. Im Idioplusma bildet sich eine neue Anlage, verm\u00f6ge welcher statt der ununterbrochenen Spirale nun die lietref-fende Quirlstellung sich entfaltet. Ist die Bl\u00e4tterzahP der Quirle nicht constant, variiren beispielsweise bei der n\u00e4mlichen Pflanze 4-, 5- und <> z\u00e4hlige Quirle, so werden verm\u00f6ge der idioplasmatischen Anlage unbestimmt grosse Abschnitte der urspr\u00fcnglichen Spiralo (n\u00e4mlich je 4 bis 6 Bl\u00e4tter) zu Quirlen, und es h\u00e4ngt dann von verschiedenen inneren und \u00e4usseren Ursachen ab, ob do. eine oder andere Zahl sich verwirkliche. So sehen wir nicht selten, dass mit dem Stftrkerwerden des Cauloms die Bl\u00e4tterzahl der Quirle sich erh\u00f6ht. Bei der phylogenetischen Fortbildung des Idioplasmas k\u00f6nnen die Anlagen sich dann so ver\u00e4ndern, dass die quirlbildenden Abschnitte der urspr\u00fcnglichen Spinde gr\u00f6sser oder kleiner, und dass sie numerisch mehr und mehr l>estimmt werden.\nDie Quirlbildung, die wir an den Pflanzen beobachten, ist r\u00fcek-sichtlich der Stellung der Phyllome zu mehr oder weniger genauer Vollendung gelangt. Manchmal erkennt man noch aus verschiedenen Merkmalen die Folge der urspr\u00fcnglichen Spindstellung; in anderen F\u00e4llen sind alle Spuren davon verwischt. Nur selten ist die Quirlbildung in ihren Anfnngszust\u00e4nden zu l>eobachten, wie z. B. bei Lycopodium-Arten. Die Aufl\u00f6sung der Quirle zu einer ununterbrochenen Spirale, welche als abnormale Erscheinung vorkommt,","page":492},{"file":"p0493.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologic mul .Syntciimtik uln pliylogcnotiHclic Winw'nwlmfU'n. 4\u00ab|\u00abJ\nist ein phylogenetischer R\u00fcckschlag und zeigt dann den urspr\u00fcnglichen Zustand an.\nEs ist nicht nothwendig, dass die Umbildung der Spiral- in die Quirlstelhing sich l>ei der ontogenetischen Entwicklung wiederhole, da ja von allen andern, in einer Ahstammungslinie vorausgegangenen phylogenetischen Stadien eine Menge vollst\u00e4ndig unterdr\u00fcckt wird. M\u00f6glich w\u00e4re aller auch, dass dio urspr\u00fcngliche Spiralstellung in \u00ab1er ontogenetisehen Entwicklungsgeschichte gesehen w\u00fcrde, wenn \u00ablie.se his auf die ersten Zellen zur\u00fc\u00ab-kverfolgt werden k\u00f6nnte.\nWenn eine continuirliclie Spirale in St\u00fccke zerf\u00e4llt, welche zu altemirenden Quirlen sich gestalten, so finden Verschiebungen der Bl\u00e4tter in horizontaler Richtung statt, um die gleichm\u00e4ssigen Ahst\u00e4nde zu gewinnen. Es sind dies aber, elienso wie die relativen Lage\u00e4nderungen in verticaler Richtung, nicht etwa durch eigentlichen Druck bewirkte Verr\u00fcckungen, sondern \u00ablie Folgen ungleichen Wachsthums. Die Blattanf\u00e4nge Italien auf dem engen Umfang der Caulom-spitze ungleiche horizontale Abst\u00e4nde; mit dem Dickerwenlen des Cauloms wachsen die Zwischenr\u00e4ume in ungleichem Maasse und dadurch gelangen \u00ablie Bl\u00e4tter in gleiche Entfernungen von einander. Dies war wenigstens der phylogenetische Vorgang, als die Quirle sich aus \u00ab1er Spirale bildeten und blieb gewiss lange der ontogenc-tische Entwicklungsvorgang. Es ist aber m\u00f6glich, dass, wenn die Quirle phylogenetisch so gefestigt sind, dass die F\u00e4higkeit der Umbildung in andersz\u00e4hlige Quirle oder des R\u00fcckschlages in die Spiralstellung verloren gegangen ist, dann schon die allerersten Blattanf\u00e4nge eines Quirles in der sp\u00e4teren regelm\u00e4ssigen Verkeilung auftreten.\nDie Annahme von phylogenetisch urspr\u00fcnglicher (nicht aus der Spiralstellung hervorgegangener) Quirlbildung ist in keiner Beziehung l>erechtigt. Die ontogenetische Entwicklungsgeschichte gibt uns, wie schon gesagt , in vielen F\u00e4llen keinen Aufschluss \u00fcber das phylogenetische Werden. Die Berufung auf die unzweifelhaft origin\u00e4re Quirlbildung bei Characeen und Florideen ist m\u00fcssig, da ja die Organisationsverh\u00e4ltnisse ganz andere sind, und unstatthaft, weil keine genetischen Beziehungen zwischen den Gef\u00e4sspflanzen und jenen Algen bestehen. \u2014 An und f\u00fcr sich w\u00fcrde ja Quirlstellung f\u00fcr die aus dem Moossporogonium hervorgehenden Organcomplcxe ebenso m\u00f6glich erscheinen als Spiralstellung. Aber \u00ablamm handelt","page":493},{"file":"p0494.txt","language":"de","ocr_de":"404 IX. Morphologie und Systematik \u00ab1h phylogenetiwhe Wimenachaften.\nes sich nicht, sondern um das, was aus einer Vergleichung und sorgf\u00e4ltigen Erw\u00e4gung sich als wirklich ergibt. Nun haben wir vier Thatsachen, welche das N\u00e4mliche darthun und nach meiner Ansicht f\u00fcr die vorgetragene Theorie bez\u00fcglich der Phanerogamen entscheidend sind :\n1.\tder ganz allm\u00e4hliche Uebergang von einem oder zwei Uml\u00e4ufen einer Spirale bis zu dem ausgesprochensten Quirl, wenn man viele Pflanzen mit einander vergleicht;\n2.\tdas Vorkommen der Spiralstellung und der Quirlstellung bei dem n\u00e4mlichen Organ ganz nahe verwandter Pflanzen;\n3.\tdie Unm\u00f6glichkeit, eine phylogenetisch zusammengeh\u00f6rige Gruppe von Pflanzenfamilien auszuscheiden, bei welcher in einer bestimmten Region des ontogenetischen Aufbaues ausschliessliche Quirlstellung vorhanden w\u00e4re;\n4.\tder zuweilen als Abnormit\u00e4t auftretende R\u00fcckschlag einer Quirlstellung in die Spiralstellung.\nDie Um\u00e4nderung der Spiralstellung in die Quirlstellung ist, wie schon gesagt, ein phylogenetischer und nicht etwa ein onto-genetischer Process. Sie kommt nach und nach durch lange Zeiir r\u00e4ume zu Stande, indem zuerst unbestimmte und unregelm\u00e4ssige Quirle, dann solche, denen man noch deutlich ihre Herkunft aus einer Spirale ansieht, endlich Quirle, in denen die Phyllome vollkommen gleichwerthig erscheinen, auftreten. Jede dieser Entwicklungsstufen vererbt sich durch zahllose Generationen. Ueber die Ursache der Ver\u00e4nderung wissen wir nichts anderes, als dass eben ein im Idioplasma beruhender Antrieb die Differenzirung bewirkt. Wenn etwa von Morphologen das Schwenden er\u2019sehe Gesetz der mechanischen \\ er\u00e4nderung der Blattstellung angezogen wird, um zu erkl\u00e4ren, dass in einer Familie bei den einen Pflanzen spiralige, l>ei den anderen cyklische Stellung der Phyllome vorkommt, so liegt darin eine Verkennung der Tragweite jenes Gesetzes. Nach demselben k\u00f6nnen nur die Stellungen gedr\u00e4ngt stehender Bl\u00e4tter in bestimmte andere Stellungen, auch spiralige in quirlst\u00e4ndige \u00fcbergehen, also die urspr\u00fcnglichen morphologisch gegebenen Stellungen der Ontogenien ver\u00e4ndert werden; aber die beim ontogenetischen Wachsthum an den Caulomspitzen prim\u00e4r auftretenden Stellungen sind best\u00e4ndig und durch Vererbung bestimmt, was sich namentlich bei der vergleichenden Morphologie der Bl\u00fcthen klar heraus teilt. Somit","page":494},{"file":"p0495.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morpholntcie nml Systematik ala phylogenetische Wissenschaften. 495\nsind auch die in den j\u00fcngsten Zust\u00e4nden schon vorhandenen spiraligen und cyclischen Stellungen verwandter Pflanzen als erbliche und demnach als phylogenetische zu betrachten.\nDa die Ursachen der Quirlbildung innere sind, so entzieht sich auch unserer Beurtheilung der Grund, warum oft an der n\u00e4mlichen Pflanze die einen Caulome oder Caulomregionen spiralige, die anderen cyclische Bl\u00e4tter tragen, warum der n\u00e4mliche Unterschied zuweilen zwischen Arten der gleichen Gattung beobachtet wird und ebenso wie die zwischen so weiten Grenzen variirende Zahl der Phyllome eines Quirls zu erkl\u00e4ren ist. In letzterer Hinsicht m\u00f6chte ich jedoch auf eine Beziehung zu einer anderen, ebenfalls durch innere Ursachen bedingten Erscheinung, n\u00e4mlich zu der verli\u00e4ltnissm\u00e4ssigen Breite der Blattbasis aufmerksam machen. Ich habe bereits bemerkt, dass mit dem ontogenetischen St\u00e4rkerwerden des Cauloms zuweilen eine Erh\u00f6hung der Bl\u00e4tterzahl in den Quirlen eintritt. Es scheint mir nun, dass die Zunahme des Gaulomumfanges, wenn dieselbe eine individuell ver\u00e4nderliche Erscheinung ist, stets gr\u00f6sser ausf\u00e4llt, als die Zunahme, welche die Breite der Blattanheftung zeigt, und hieraus leitet sich unschwer folgende Theorie ab.\nEs gibt bez\u00fcglich der Constanz zwei Arten der Quirlbildung; bei der einen ist die Zahl dur Phyllome in einem Quirl idioplas-11 uitisch bestimmt und unabh\u00e4ngig von der individuellen Ver\u00e4nderlichkeit. Bei der anderen Quirlbildung treten stets soviel Bl\u00e4tter zu einem Quirl zusammen, als es das Verh\u00e4ltniss zwischen der Breite der Blattbasis und dem Caulomumfang erlaubt. Daraus erkl\u00e4rt sich, dass lieim St\u00e4rkerwerden des Cauloms auch die Phyllomzahl in den Quirlen w\u00e4chst, ferner dass im allgemeinen die Laubblattquirle wenigz\u00fchliger sind, als die Quirle in der Bl\u00fcthe (die Laubbl\u00e4tter halien breitere Anheftungsstellen) und dass in Bl\u00fcthen mit dicken Caulomen die Phyllomzahl in den Quirlen hoch ansteigen kann (Sempervivum und andere Crassulaceen), endlich dass die Laubblattquirle bei den Monocotylen verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig viel seltener sind als liei den Dicotylen (jene haben breitere Blattbasen als diese; und Bl\u00e4tter, die mehr als den halben Stengelumfang einnehmen, scheinen zur Quirlbildung unf\u00e4hig zu sein). Es liegt nun die Annahme nahe, dass die zweite Art der Quirlbildung \u2014 d. h. diejenige, bei welcher die Pflanze idioplasmatisch erst \u00fcberhaupt Neigung zu cyclischer Anordnung der Phyllome erlangt hat und jeweilen die nach den","page":495},{"file":"p0496.txt","language":"de","ocr_de":"4IK\u00ce IX. Morphologie und Systematik rIk phylogenetische Wissenschaften.\nUmst\u00e4nden gestattete Maximalzahl verwirklicht \u2014 phylogenetisch zuerst auftrete, und dass aus ihr dann im weiteren phylogenetischen Verlauf die erstgenannte Quirlbildung \u2014 d. h. diejenige, bei welcher das Idioplasma eine Beziehung zu der Zahl der Quirlphyl-lome gewonnen hat \u2014 sich entwickle. Die numerische Beziehung im Idioplasma besteht zuerst darin, dass der Zahl gewisse nicht \u00fcbersteigbare Grenzen gesetzt werden, und schreitet dann durch Beschr\u00e4nkung dieser Grenzen zu tostimmten Zahlen fort. Durch R\u00fcckschlag kann ahnornal die bestimmte Zahl zur fr\u00fcheren un-1 \u00abstimmten oder die Quirlstellung zur fr\u00fcheren Spiralstellung zur\u00fcckkehren.\nEs wurden im vorstehenden die phylogenetischen Stufen, welche die Entwicklung der Caulome und Phyllome im allgemeinen wahrnehmen l\u00e4sst, dargelegt. Die Beschaffenheit der Bl\u00fcthe und ihrer Theile verlangt noch eine 1 \u00absondere Besprechung.\n6. Aufbau der Blothe.\nDer Bl\u00fcthenbau zeigt die n\u00e4mlichen Verh\u00e4ltnisse, die ich schon bez\u00fcglich der Bebl\u00e4tterung des Pflanzenstockes (S. 484) und bez\u00fcglich der Stellung der Phyllome (S. 485 ff.) er\u00f6rtert habe. Es lassen sich zun\u00e4chst folgende Stufen in der Stellung der Bl\u00fcthenbl\u00e4ttcr unterscheiden.\nGt. Alle Bl\u00fcthenphyllome spiralst\u00e4ndig: acyclische oder spiroi-dische Bl\u00fcthen.\nGj. Die einen Phyllome spiral-, die andern quirlst\u00e4ndig: spiro-cyclische Bl\u00fcthen1).\nGj. Alle Phyllome in altemirenden Quirlen : holocyclische oder schlechthin cyclische Bl\u00fcthen.\nJede dieser drei Stellungen kann durch Reduction mehr oder weniger ver\u00e4ndert werden. Die spiralst\u00e4ndigen Bl\u00fcthenphyllome treten zuerst in grosser und unbestimmter Zahl auf und werden\n*) Die spiroidischen Bl\u00fcthen werden auch weniger pausend \u00bbaphanocyclischc\u00ab genannt. Da dieses Wort \u00bbmit undeutlichen, unsclieinl>aren oder unsichtbaren Quirlen\u00ab l>edeutct, so liesse es sich eher da anwenden, wo die Quirle \u00ablurch Verschiebung umleutlich geworden sin\u00abl. \u2014 Klienso ist die Bezeichnung \u00bbhemicyclisch\u00ab statt spirocycliscli zu l>eanstanden, \u00abla Hemicyclns ein Halbkreis ist.","page":496},{"file":"p0497.txt","language":"de","ocr_de":"HC. Morphologie und RyHtemaiik uIh phyhnrenetiKohe WiHHenxehuften 497\nzuletzt auf wenige beschr\u00e4nkt ; es Hisst sieh l*ei ihnen eine Anfangsund eine Endstufe unterscheiden:\n1. polymer, 2. oligomer.\nDie cyclischen Bl\u00fcthenphyllomc erscheinen zuorst in gr\u00f6ssfrer und unbestimmter Quirlzahl und werden dann auf eine bestimmte oder gesetzm\u00e4ssigo Zahl von Quirlen reducirt, die regelm\u00e4ssig altcr-niren. Eino weitere Reduction f\u00fchrt eine Verminderung ohne Stel-lungsftnderung herliei, so dass, wenn nur ein Quirl oiler wenn drei Quirle ausfallcn, Opposition der Cyclen cintritt. Daraus ergeben sich drei phylogenetische Stufen:\n1. polycyclisch, 2. nomocyclisch, 3. oligocyclisch.\nIn dem einzelnen Quirl k\u00f6nnen durch Reduction einzelne oder mehrere Phyllome schwinden, so dass aus diesem Umstande zwei Stufen unterscheidbar werden :\n1. mit vollst\u00e4ndigen, 2. mit unvollst\u00e4ndigen Quirlen.\nDie angedeuteten phylogenetischen Stufen des Bl\u00fcthenbaues verlangen eine weitere Auseinandersetzung. Der Beginu der Bl\u00fcthcn-bildung ist gegenw\u00e4rtig noch in der Gattung Lycopodium erhalten. W\u00e4hrend bei Lycopodium Selago die Laubbl\u00e4tter Sporangien tragen, sind bei den anderen Arten die fruchttragenden Phyllome auf das Ende der Caulome beschr\u00e4nkt, und damit ist die Bl\u00fcthe in ihrer einfachsten Constitution und zugleich der allgemeine Begriff der Bl\u00fcthe gegeben als ein Caulomende oder kurzes laterales Caulom, das mit fruchttragenden Phyllomen besetzt ist.\n. Von diesem einfachsten Stadium bis zu den phylogenetisch am weitest fortgeschrittenen Bildungen gibt es viele Entwicklungsreihen. Da die Ausbildung in verschiedenen Beziehungen geschehen kann, welche sich vielfach verschlingen, so l\u00e4sst sich wohl in jeder einzelnen Beziehung eine stufenweise Gliederung feststellen, aber f\u00fcr die Ge-sammtheit des Aufbaues lassen sich keine gemeinsamen Stufen unterscheiden, sondern nur eine Anfangsstufe und eine Menge von Endstufen.\nDie Anfangsstufe ist die vorhin genannte, n\u00e4mlich ein Caulomende mit gleichartigen Sporenbl\u00e4ttern und einigen, denselben vorausgehenden unfruchtbaren Hochbl\u00e4ttern, alle in ununterbrochener Spirale. Ber\u00fccksichtigen wir zuerst diejenigen Entwicklungsreihen, in denen die ununterbrochene Spirale erhalten bleibt und fassen\nT. Nftgell, Abntammnngiilchre.\t09","page":497},{"file":"p0498.txt","language":"de","ocr_de":"41)8 IX. Morphologic mul KyHtomiitik tils phylogenetische Wissenschaften.\nwir sic tils eine Grupi>e zusammen, so finden weh in dieHer Gruppe schon ziemlich hoch entwickelte Bl\u00fcthen.\nEin erster Schritt besteht darin, dass die Sporenbl\u00fctter sieh i\\i m\u00e4nnliche und weibliche scheiden, welche sp\u00e4ter in die Staubgef\u00e4sso und Carpelle \u00fcbergehen. Bemerkenswerth ist, dass die unteren Stufen hei den lebenden Gef\u00fcsspHanzen (Gef\u00e4sskryptogainen, gymnospermo Plmnerogamen) bloss eingeschlechtige Bl\u00fcthen Itositzen, so dass also die einen Bl\u00fcthen (Frucht\u00e4hren) der untersten Stufen m\u00e4nnlich, die anderen weiblich wurden.\nEs musste alter auch von den urspr\u00fcnglichen ungeschlechtlichen Bl\u00fcthen \u00ab1er Gef\u00e4sskryptogamen aus Entwicklungsroihen gelten, in welchen die Sporogonien der oberen Bl\u00e4tter weiblich, die der unteren Bl\u00e4tter m\u00e4nnlich wurden, und welche weiterhin in die hormaphro-ditischen Phanerogamenbl\u00fcthen \u00fcbergingen. Wahrscheinlich ltefund sich zwischen den lteiden Geschlechtsbl\u00e4ttern urspr\u00fcnglich eine Anzahl durch Geschlechtsvermischung steril gewordener Bl\u00e4tter. Diese storilcn Bl\u00e4tter haben sich in einigen F\u00e4llen noch sehr lange erhalten , insoferne die zwischen Androeceum und Gynaeceum vorhandenen sterilen Bl\u00e4tter nicht etwa als umgewandelte Stauhgef\u00e4sse oder Fruchtbl\u00e4tter zu deuten sind. Meistens alter sind sie verschwunden, indem die Caulomglieder (Internodien) sich verminderten und somit die Stellen der geschwundenen Phyllome von den einander sich n\u00e4hernden Staubgef\u00e4ssen und Carpellen eingenommen wurden.\nIn manchen, m\u00f6glicherweise in allen Sippen der Anfangsstufe gingen die unfruchtbaren Hochbl\u00e4tter zuerst allm\u00e4hlich in die fruchtbaren \u00fclter: ein Zustand, der in den meisten der von hier aufsteigenden Reihen bald ein Ende nahm, indem die unteren Bl\u00e4tter dieser Ueltergungszono ganz unfruchtbar, die eiteren ganz fruchtltar wurden. In einigen Reihen blieb er erhalten, so dass noch zwischen den unfruchtbaren Hochbl\u00e4ttern \u00abnier den Kelchbl\u00e4ttern und den Staubbl\u00e4ttern und noch sp\u00e4ter, als die Blumenkronen sich gebildet, zwischen \u00ablen Kelchbl\u00e4ttern un\u00bbl den Kr\u00f6n bl\u00e4ttern abgestufte Ueber-gangsgljeder vorlmmlen waren.\nDie jetzt besprochene Gruppe zeichnet sich, wie gesagt, dadurch aus, dass die Phyllome der Bliithc in einer ununterbrochenen Spirale stehen. Diese Gruppe enth\u00e4lt viele div\u00abjrgircnd aufsteigenden Reihen. V\u00ab>n jedem Punkte oiner joden Reihe kann nun der phylogenetische Fortschritt in anderen Bahnen beginnen, indem Quirlbildung und","page":498},{"file":"p0499.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Mor|>liolnpi<> mid KynUuuutik uIh |>liyl<nC\u2018netiwlic WiH*wMwlnift\u00ab*ii 4J)J)\ndaraui Schwinden von ganzen Quirlen oder von Theilen dcrsellien erfolgt.\nBez\u00fcglich der Beschaffenheit der Quirle zeigt die Bl\u00fcthenhildung die merkw\u00fcrdige Thatsache, dass jeder derselben schon l>ei der Entstehung aus ganz gleichen Elementen zusammengesetzt ist. Man m\u00f6chte vielleicht ein ganz anderes Verhalten erwarten. Eine spiroi-dische Bl\u00fcthe bestehe aus m Kelchbl\u00e4ttern, \u00bb Kronbl\u00e4ttem, p Sta-minodien, 7 Staubgef\u00e4ssen und r Carpellen, wenn m, \u00bb, p, 7, r Zahlen l)edeuten. Es w\u00e4re nun gewiss nicht auffallend, wenn daraus gloichz\u00e4hlige Quirle hervorgingen, unter denen sich auch einzelne gemischte l>ef\u00e4nden, z. B. einer aus Kelch und Kronbl\u00e4ttem, ein anderer aus Kronbl\u00e4ttem und Staminodien, einer aus Staminodien und Staubgef\u00e4ssen und einer aus Staubgef\u00e4ssen und Carpellen gemischt. Dies w\u00fcrde wohl auch eingetreten sein, wenn die Zahlen der verschiedenen Phyllome (m, n, p, 7, r) bestimmt w\u00e4ren. Sie sind aber bei Spiralstellung immer unbestimmt.\nEs variire nun beispielsweise die Zahl der Staubgef\u00e4sse (7) in einer gewissen Sippe zwischen 20 und 42 und es trete bei deren Nachkommen Quirlbildung ein, so muss die Zahl der Quirle clien-falls unbestimmt sein. Die Pflanze hat al>er zugleich das Bestrelien, jeden Quirl gleichartig zu gestalten. Daher ist in dem angegebenen Falle die Zahl der sich bildenden \u00f6gliedrigen Staubgef\u00e4ssquirle gleich q\t20____42\n-g- oder-----\u00a3----, mit der Beschr\u00e4nkung, dass mit Vernachl\u00e4ssigung\nder Br\u00fcche nur die ganzen Zahlen Geltung haben ; es kommen also den Abk\u00f6mmlingen der Sippe unmittelbar nach der phylogenetischen Umbildung 5\u2014H l'\u00fcnfz\u00e4hlige Staubgef\u00e4ssquirle zu. Und so verh\u00e4lt es sich mit den iibrgen Organen \u00ab1er Bl\u00fcthe. Wenn Ungleichartigkeit der Quirle vorkommt, indem z. B. die einen Elemente eines Quirls Staubgef\u00e4sse, die anderen Staminodien sind, so ist dies keine urspr\u00fcngliche Bildung, sondern erst nachtr\u00e4glich durch Differenzirung oder Reduction entstanden.\nDie Quirlbildung in \u00ab1er Bl\u00fcthe kann entw\u2019eder nach und nach (succedan) eintreten, so \u00abhiss zuerst bloss einzelne Organe, z. B. Kelch und Krone quirlst\u00e4mlig werden, indess die nachfolgenden Bl\u00e4tter (Gc-schlechtsphyllonio) noch spiralst\u00e4ndig sind. 0\u00abler sie kann auf einmal (simultan) perfect werden. Letzteres beobachtet man schon auf der niedrigsten Stufe, noch bevor die Differenzirung der G\u00ab\n32*","page":499},{"file":"p0500.txt","language":"de","ocr_de":"\u00d4(X) IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften.\nschlechter eintritt, n\u00e4mlich bei Equisetum, wo allerdings auch schon die Laubhl\u00e4tter Quirlstellung zeigen. In den anderen F\u00e4llen, wo olle Bl\u00fcthenphyllome in Quirlen stehen, ist es oft zweifelhaft, oh nicht phylogenetische Zust\u00e4nde mit partieller Quirlstellung vorausgegangen sind.\nDas vorhin angef\u00fchrte Beispiel von Equisetum gibt die Veranlassung zu einer Bemerkung \u00fcl\u00bber das Verh\u00e4ltnis der Blattstellung in den Bl\u00fcthen zu der in den \u00fcbrigen Theilen der Pflanze. Eine volle Uebereinstimmung zwischen beiden kommt im allgemeinen nur bei durchgehender Spiralstellung vor. Ist dage gen Quirlstellung eingetreten , so mangelt diese Uebereinstimmung, sei es dass in den einen Partien die Phyllome noch schraubenst\u00e4ndig, in den anderen quirlst\u00e4ndig sind, sei es dass die Quirlstellung in den verschiedenen Partien ungleich ausgefallen ist. H\u00e4ufig ist Quirlstellung in den Bl\u00fcthen allein vorhanden ; es k\u00f6nnen aber auch die Laubhl\u00e4tter quirlst\u00e4ndig sein, w\u00e4hrend die Hochbl\u00e4tter oder Theile der Bl\u00fcthen altemirend stehen.\nEquisetum bietet ein seltenes Beispiel f\u00fcr \u00fcl>ereinstimmende Quirlstellung an der ganzen Pflunze. Es ist mir unwahrscheinlich, dass dicsellH) erst eingetreten sei, nachdem die Differenzirung zwischen vegetativen und reproductive!! Bl\u00e4ttern schon stattgefunden hatte, denn in einem solchen Falle sehen wir sonst immer, dass Laul>-bl\u00e4tter und Fortpflanzungsbl\u00e4tter in ungleicher Weise Quirle bilden. Ich vermutlie daher, dass in der Abstammungslinie von Equisetum sich eine Ahnensippe befand, in welcher alle Bl\u00e4tter einander gleich (also sporogonienbildend) und \u00fcl\u00bberdem spiralst\u00e4ndig waren, dass diese Spiralstellung bei einer folgenden Sipj>e zur Quirlstellung wurde, und dass erst in einer noch sp\u00e4teren Sippe Differenzirung in sterile und fertile Bl\u00e4tter statt hatte, wobei dann nat\u00fcrlich beide die n\u00e4mliche Quirlstellung zeigen mussten.\nEbenso sehr als durch die Quirlbildung wird der Aufbau der Bl\u00fctlie ver\u00e4ndert durch die Reduction der Phyllome oder der Phyl-lomquirle. Diesellnj kann auf die fr\u00fcher er\u00f6rterte doppelte Art geschehen, entweder durch Verminderung der phyllomtragendenCaulom-glieder oder durch Verk\u00fcmmerung der Phyllome; im ersteren Falle gehen die entsprechenden Stellen am Caulom verloren, im letzteren bleiben sie erhalten (S. 48\u00f6). In den spiraligen sowie in den cyclischen Bl\u00fcthen k\u00f6nnen ganze Abtheilungen der Bl\u00fcthenbl\u00e4tter schwinden,","page":500},{"file":"p0501.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 5()|\nwodurch die Bl\u00fcthen beispielsweise upetal oder eingeschlechtig werden, ln den spiroidischon Bl\u00fcthen k\u00f6nnen die Phyllome der einzelnen Abteilungen, die urspr\u00fcnglich vielz\u00e4hlig sind, bis auf eine Mininialzahl verloren gehen.\nDie quirligen Bl\u00fcthen sind urspr\u00fcnglich polycyclisch mit un* liestimmter Quirl zahl l>esonders im Andrfieceum und Gynaeceum. Die Reduction der (Quirle zeigt, wie ich glaul>e, zwei scharf zu trennende Vorg\u00e4nge, zuerst Verminderung auf eine bestimmte l\u00bbe-sch rankte Zahl von Cyclen, welche durch Reduction der Caulom* glieder erfolgt und die polycyclischen Bl\u00fcthen in norm \u00bbcyclische umwandelt. Es bleibt dal>ei \u00bblie urspr\u00fcngliche Alternanz der Quirle, insofern sie gloichz\u00e4hlig waren, oder ein anderweitiges urspr\u00fcngliches Stellungsverh\u00e4ltniss der successiven (Quirle, insofern die Zahl ihrer Elemente wechselte, erhalten. Der zweite Reductionsprocess nimmt aus den nomocyclischen Bl\u00fcthen einzelne Quirle hinweg, deren Stelle frei bleibt (oligocyclische Bl\u00fcthen). Dabei wird das Stellungsverh\u00e4ltniss der auf einander folgenden Quirle m\u00f6glicherweise ver\u00e4ndert ; aus drei alternirenden Quirlen werden beispielsweise durch Schwinden des mittleren Quirls zwei opponirte.\nEndlich besteht eine Art des Schwindens darin, \u00bblass aus den vollst\u00e4ndigen Quirlen ein oder mehrere Elemente verloren gehen, was gew\u00f6hnlich mit einer starken Ausbildung der Dorsiventralit\u00e4t \u00bb1er Bl\u00fcthe zusammenh\u00e4ngt.\nDie h\u00f6chsten Stufen der Entwicklungsreihen sind erreicht, wenn in der Bl\u00fcthe die Quirlbildung vollst\u00e4ndig und die Reduction am weitesten durchgef\u00fchrt ist. Wir m\u00fcssten es als das nicht zu \u00fcberschreitende Ende ansehen, wenn jedes qualitativ verschiedene und als noth-wendig erscheinende Organ, n\u00e4mlich Kelch (als Schutz \u00ab1er Bltithen-knospe), Krone (zur Anziehung der Insekten), Staubgef\u00e4sse und Stempel bloss je in einem einzigen Quirl vertreten, und wenn dieser Quirl bis auf ein einziges Phyllom geschwunden w\u00e4re, was beim Androeeeum und Gynaeceum zuweilen der Fall ist.\nDer phylogenetische Aufbau der Bl\u00fcthe, wie ich ihn dargelegt hal\u00bbe, weicht von \u00bblen bisherigen Vorstellungen \u00fcber die \u00dfl\u00fcthen-bildung wesentlich ab. Die vergleichende Morphologie geht jetzt","page":501},{"file":"p0502.txt","language":"de","ocr_de":"502 IX. Mnrphuloirie und Syntematik alt* phylogenetische Wissenschaften.\nvon verschiedenen \u00bbTypen\u00ab aus und erkl\u00e4rt daraus namentlich mit Zuh\u00fclfenahme von Abort, Vervielfachung (Verdoppelung, Spaltung) und Verschiebung das abweichende Verhalten verwandter Pflanzen. Damit ist gegen\u00fcber dem rein 1 jeschreibenden Verfahren sehr viel gewonnen, indem der \u00dfl\u00fcthenbau ganzer Familien oder ganzer Gruppen von Familien auf einen einheitlichen Plan zur\u00fcckgef\u00fchrt wurde. Al>er es wird durch dieses Verfahren nur das gegenseitige Verh\u00e4ltnis derjenigen Bildungen erkl\u00e4rt, die von einem Typus abgeleitet werden k\u00f6nnen. F\u00fcr die Beziehung der verschiedenen Tyj\u00bben unter einander ist damit noch nichts geschehen, oIjoubo wenig f\u00fcr die \u00fcberall so zahlreich auftretenden Ausnahmen und Variationen.\nUnter \u00bbTypus\u00ab versteht man ferner nicht bloss ein Vorbild, dom andere nachgebildet sind, sondern sehr h\u00e4ufig auch \u00fcberhaupt diejenige Form, die am li\u00e4ufigsten vorkommt oder die den Vorstellungen der Schule am congruentesten ist. Mun sagt beispielsweise : \u00bbIn dieser Familie sind 5 Carpelle typisch; aber es kommen auch bloss 4, \u00f6 und 2 und andrerseits 10 und mehr Carpelle vor; ferner k\u00f6nnen die .2 Carpelle auf verschiedene Arten orientirt sein u. s. w.\u00ab Bei solchen Vorkommensverh\u00e4ltnissen h\u00e4tte das Wort typisch nur dann einen rationellen Sinn, wenn dus der einen Bildung die anderen erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnten. Dies wird aber nicht versucht und k\u00f6nnte auch nicht durchgef\u00fchrt werden.\nEs muss also, abgesehen von allen anderen Abweichungen in der Bl\u00fcthe, schon wegen des Gynaeceums f\u00fcr eine solche Familie ein Obertypus aufgesucht werden, aus dem sich alle Vorkommnisse begreifen lassen ; \u2014 denn dass man nicht einfach neben den als typisch erkl\u00e4rten Bildungen von Ausnahmen und Variationen gleichsam als von einem Naturspiel sprechen darf, liegt doch auf der Hand. Jede Bildung hat ihre reale Existenz, ihre bestimmten Ursachen und muss erkl\u00e4rt werden. Erst wenn f\u00fcr alle Variationen in einer Familie die phylogenetischen Ursachen nachgewiesen sind, kann von systematischer Erkenntniss die Rede sein.\nIch will bloss im allgemeinen zeigen, wie nach meiner Ansicht die phylogenetische Methode sich gestalten d\u00fcrfte. Die Hauptr Schwierigkeiten beginnen erst mit der Quirlbildung; diese kommt, wie ich bereits erw\u00e4hnt habe, jedenfalls auf zweierlei Art zu Stande, entweder simultan oder suceedan. Den einfacheren Fall stellt die simultane Bildung dar, wenn n\u00e4mlich alle Bl\u00e4tter der Bl\u00fcthen gleich-","page":502},{"file":"p0503.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologic uiul Systematik al\u00bb phylogcnctiBchc WissenHcliuften.\nziiitig oder in rascher Folge (etwu von unten noch oIhjii) zu Quirlen sich ordnen. Dtuin werden ulle Quirle glcichz\u00fchlig sein und regelm\u00e4ssig ulterniren. Ferner werden die Quirle ziemlich zahlreich sein. Bloss allenfalls von Kelch und Krone ist anzunehmen, dass sie urspr\u00fcnglich schon einquirlig sein konnten, denn sie sind schon liei spiraliger Stellung meistens wenigzfthlig. Die Stauhgefasse und die Carpelle dagegen sind l>ei Spiralstellung gew\u00f6hnlich vielz\u00fchlig und daher ist f\u00fcr diesell>en auch eine Mehrzahl von urspr\u00fcnglichen Quirlen sehr wahrscheinlich.\nDie Quirlzahl war ferner urspr\u00fcnglich eine unbestimmte. Erst im phylogenetischen Verlaufe wurde sie, indem sie sich verminderte, constant und zwar zuerst f\u00fcr die Stauhgefftsse ; denn es wurde zugleich die fr\u00fcher unbestimmte Orientirung des ersten Carpells (und somit des ersten Carpellquirls) eine mit R\u00fccksicht auf Kelch und Krone bestimmte. Damit war die constante Zahl der Staubgel\u00fcss-quirle von seihst gegel>en. F\u00fcr die Limitirung der Carpellzahl war keine solche Ursache vorhanden; daher sehen wir denn, dass die-sell>e in so vielen F\u00fcllen noch variirt, in denen dos Androeccum ganz Wst\u00fcndig ist. Da die Carpelle al \u00bber, wenn sie verwachsen, nur in wenigen F\u00e4llen eine Sonderung in hinter einander stehende Quirle gestatten, so lieobachten wir, statt der Unliest\u00e4ndigkeit der Quirle, eine Un Inst\u00e4ndigkeit in der Zahl der Ovariumf\u00e4cher oder der wandst\u00e4ndigen Plucenten sowie der Narl\u00bben.\nSimultane Quirlbildung fand wohl bei den Ahnen der meisten Monoeotylen statt, da lad denselben gleichzahlige Quirle durch die ganze Bliithe so h\u00e4ufig sind, ferner wahrscheinlich auch hei munchcn Dicotylen. \u2014 Nehmen wir beispielsweise an, eine liestimmte Bliithe IiuIh), nachdem die Quirlzahl dos Androeceums fixirt war, folgendes Schema geh\u00fcbt:\nsep(v), pot(e), stain (t> -fv + v), carp (unbestimmt).\nBedeutet i einen 2umlftutigen Quirl, so k\u00f6nnen liei Vierzahl <nh*r Sechszahl auch 2 zweiz\u00e4hlige oder 2 dreiz\u00e4ldige Quirle daf\u00fcr eintreten. Werden dio Carpelle auf v reducirt, so stehen sie \u00fcl\u00bber 'len Blumenbl\u00e4ttern. Schwindet der untere Staubgcf\u00fcssquirl, so hat man liei F\u00fcnfzuhl der Quirle eine typische obdiplostemonische, schwinden die 2 ol>eren Staubgef\u00e4ssquirle, eine typische haploste-monische Bl\u00fcthe: ersteres beiden Ericaceen, Geraniaceen, Zygophyl-","page":503},{"file":"p0504.txt","language":"de","ocr_de":"f\u00bb(U IX. Morphologie und Kyatcmatik ata phylogenetische Wissenschaften.\nlaceen, Crassulaceen etc., letzteres bei den Convolvulaceen, Solanaceen, Caini>anulaceen etc. ; von diesen beiden Typen ist weder der eine noch der andere als nomocyclische Bildung einer quirligen Bl\u00fcthe zu betrachten.\nVon der vorhin schematisirten Bl\u00fcthe kann auch der diplo-stemonische Typus herstammen. Die in unbestimmter Zahl vorhandenen Carj>elle schwanden anf\u00e4nglich uuf die nomocyclische Zahl von zwei Quirlen (r -f-1); gi.ig nun der untere Carpellquirl und der oberste Staubgef\u00e4ssquirl verloren, so ist die typische diplostemonische Bl\u00fcthe gegeben: Primulaceen, Plumbaginaceen, Sapotaceen.\nUm die Herleitung der 3 genannten Typen von dem nomo-cyclischen Bau anschaulicher zu machen, will ich den letzten noch einmal und zwar mit Andeutung der Alternanz schematisiren :\n12\t3\t4\t5\t6\t7\nsep....\tutam\t. .\t. stam\t. .\t. carp\n.\t.\t. pet .\t. stam .... carp .\t.\nDie Zahlen 1\u20147 bezeichnen die auf einander folgenden Quirle. Die in der oberen Horizontalreihe befindlichen Quirle sind einander siqjerponirt, ebenso diejenigen der unteren Reihe; 3, 5, 7 stehen also \u00fcber den Kelchbl\u00e4ttern, 4 und 6 \u00fcber den Kronbl\u00e4ttern. Das Schwinden von Quirl 4, 5 und 7 gibt die lmplostemonischen (I), das Schwinden von 3 und 7 den olxliplostemonisehen (II) und das Schwinden von 5 und 6 den diplostemonischen Typus (III):\n1\t2\t3\t4\t5\t6\t7\nj fsep . . . stam.....................................\n\\ \u2022 \u2022 \u2022 pet...........................carp . . .\nII\t.......................stam..................\n\\. . . pet\tstam . . . carp .\nIll\t/*^I*\t\u2018 stam..............................carp\n\\. . . i>et . . . stam..............................\nMan wird mir wohl von morphologischer Seite antworten, dies sei eine blosse Hypothese; die Annahme, dass bei dem hapiostemo-nischen und diplostemonischen Typus (I und III) je zwei Quirle geschwunden seien, erscheine \u00fcberfl\u00fcssig ; wenn auch beim letzteren die Carpelle urspr\u00fcnglich zahlreicher waren, so sei es doch unwahrscheinlich, dass der unterste Quirl derselben schwinde und der zweite \u00fcbrig bleibe. Ich verkenne keineswegs, dass, wrenn man sich auf die Betrachtung der einem Typus angeh\u00f6renden Bl\u00fcthen und deren ontogenetischer Entwicklungsgeschichte beschr\u00e4nkt, diese Ein w\u00fcrfe","page":504},{"file":"p0505.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologie und Syntematik a\u00ceH phylogenetinrhe \\ViKW*n\u00abohaften. 505\nals gegr\u00fcndet gelten k\u00f6nnen. Aber sie verlieren ihren Halt, sowie man alle verwandten Bildungen unber\u00fccksichtigt. Ich betrachte meine Annahme aus folgenden Gr\u00fcnden als die wahrscheinlichere.\nErstens gibt es viele F\u00e4lle, wo einer der drei genannten Typen bei verwandten Gattungen oder verwandten Fumilien mit polymeren oder polycyclischen Staubgef\u00e4ssen wechselt. Dies ist ein deutlicher Fingerzeig, dass jene Typen sich durch Reduction des Androeceums gebildet haben, und es steht der Annahme, dass l>ei ihnen freie Stellen von geschwundenen Staubgef\u00e4ss<juirlen vorhanden seien, nichts im Wege.\nZweitens ist zu bemerken, dass, wie sich aus zahlreichen Beispielen ergibt, die Stellung der unter die noinocyclische Zahl (auf einen Quirl oder weniger) reducirten Carpelle, nicht von der Stellung der vorausgehenden Staubgef\u00fcsse. sondern von derjenigen des Kelches und der Orientirung der ganzen Bl\u00fcthe bedingt wird. Daraus ergibt sich, dass f\u00fcr diese F\u00e4lle zwischen Androeceuin und Gynueceum Elemente durch Schwinden verloren gegangen sind. Es gibt nun nicht wenige Familien unter den Choripetalen (Polypetalen), in denen in Bl\u00fcthen mit gleicliz\u00e4hligen Quirlen bald epipetale, bald episepale Car|\u00bbelle Vorkommen. Dies Iwweist uns, dass hier das Gynaeceum urspr\u00fcnglich dicyclisch war und dass bald der \u00e4ussere, bald der innere Carpellkreis geschwunden ist.\nDrittens ist hervorzuhelajn, dass, wenn in Bl\u00fcthen mit \u00f6z\u00e4hligen Quirlen das Gynaeceum noch mehr reducirt wird, dann die in der Zahl von 4, 3 und 2 vorhandenen Carj>elle verschiedene Stellungen zeigen k\u00f6nnen, die aber f\u00fcr die Gattungen constant sind; es haben\n2 1\nz. B. 3 Carpelle die Stellung j oder ^ > indem 2 hinten, 1 vorne\nsich befindet und umgekehrt. Diese verschiedenen Stellungen lassen sieh nicht als Ueberbleibsel eines einzigen Quirls, wohl aber die einen als Ueberre8te des episepalen, die anderen als Ueberreste des epijie-tulen Quirls von Carpellen erkl\u00e4ren. W\u00fcrden die einen Stellungen bloss mit episepalem, die anderen bloss mit epipetalem Gynaeceum in der n\u00e4mlichen Familie Vorkommen, so best\u00e4nde mit R\u00fccksicht auf diese oligomeren Carpelle kein Grund zur Annahme zweier urspr\u00fcnglicher Carpellkreise. Da aber die verschiedenen reducirten Stellungen mit einander einerseits in der n\u00e4mlichen Familie mit episepalem Gynaeceum und andrerseits ebenso in einer und derselben Familie mit epipetalem Gynaeceum sich finden, so muss man an-","page":505},{"file":"p0506.txt","language":"de","ocr_de":"500 IX. Morphologie und HystenmUk ul h phylogenetisch\u00ab- W\u00ceHMei\u00e0Hchaften\nnehmen, dass sowohl die entere als die letztere Familio urspr\u00fcnglich ein 2quirliges Gynaeceum hatte. Es gibt selbst reducirte Gynaecoen, n\u00e4mlich die 2- und die 4z\u00e4hligon (bei sonstiger 5 Z\u00e4hligkeit der Quirle), von denen man aimelunen m\u00f6chte, dass die eine H\u00e4lfte ihrer Carj>ollo von dem opiscpalen und die andere H\u00e4lfte von dem epipo-talen Quirl des Gynaecemns \u00fcbrig gehliehen sei.\nViertens^st noch daran zu erinnern, dass in vielen Familien mit typischem episepalem oder epijwtiilem Carpelh|uirl einzelne Gattungen mit doppeltz\u00e4hligem oder mehrz\u00e4hligem Gynaeceum Vorkommen. Da nun die zwei- und mehrquirligcn Bildungen nicht aus dem einfachen Quirl, wohl aber der letztere aus den erstcren auf naturgem\u00e4ssem phylogenetischem Wege entstehen kann, so sind die genannten typischen Bildungen nicht als urspr\u00fcngliche, sondern als secund\u00e4re, aus einem dicyclischen Gynaeceum hervorgegangene zu betrachten.\nDie eben angestellten Betrachtungen betreffen vorzugsweise Bl\u00fcthen mit urspr\u00fcnglich gleichz\u00fchligen Quirlen und von denen allenfalls an genommen werden kann, dass die cyclische Anordnung simultan stattgefunden halw. Wenn die Quirlbildung in der Bl\u00fctlie succedan eintritt, so beginnt sie gew\u00f6hnlich unten mit den Kroiscn des Perigons, w\u00e4hrend die Staubgef\u00e4sso und Carj\u00bbelle noch in grosser Zahl und in schraubenf\u00f6rmiger Stellung vorhunden sein k\u00f6nnen. Tritt Verwachsung int Gynaeceum ein, so ordnen sich die Carpelle in einen Kreis, und lassen bloss aus den unljestiminton Zahlen Verh\u00e4ltnissen wahrnehmen, dass der nomocyclische Typus noch nicht eingetreten sei. Dies ist unverkennbar, wenn beispielsweise die Zahl der im Kreise stehenden Carpelle bei Nymphaea alba zwischen 12 und 20, bei Papaver somniferum zwischen 7 und 15 wechselt. Ich m\u00f6chte also ein solches Gynaeceum noch f\u00fcr polycyclisch halten und dasselbe erst daim als in das nomocyclische Stadium eingetreten ansehen, wenn die Zahl der Carpelle oine absolut oder relativ (n\u00e4mlich im \\ erli\u00e4ltniss zu anderen Quirlen der Bl\u00fcthe) bestimmte geworden ist. Wie das Gynaeceum vermindert auch das Androeceum mit dem phylogenetischen Fortschreiten die Zahl der Phyllome und ordnet sie dann cyclisch an. Die Zahl der Quirle ist wahrscheinlich zuerst unbestimmt und wird dann l>estimmt.\nEine Bl\u00fcthe, in der die Quirlbildung succedan stattgefunden hat, wird also nach der ersten Fixirung der Quirlzahl jetles Organs in","page":506},{"file":"p0507.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologie und Systematik als phylogone\u00dcHche WittHenscliaftcn. 5()7\ndas gleiche Studium eingetreten \u00bbein, in welchen die Bl\u00fcthen mit simultaner Quirlbildung uuf k\u00fcrzerem Woge gelungen ; und m\u00f6glicher Weise sind in diesem Zustande boido nicht von oinundor zu unterscheiden. Oft \u00fcber wird darin ein Unterschied liestehen, dass, w\u00e4hrend die letzteren gleichz\u00e4hlige, die ersteren ungleichz\u00e4hlige Quirle besitzen.\nVon dem nomocyclischen Studium aus verl\u00e4uft die phylogenetische Weiterbildung in allen BlUthen, sie m\u00f6gen durch simultane oder succ\u00e9dan\u00e9 Quirlbildung sich entwickelt h\u00fcben, in gleicher Weise durch Schwinden ganzer oder auch partieller Quirle, und ferner, wenn ein Gegensatz zwischen K\u00fccken- und Bauchseite sich geltend macht, durch Schwinden einzelner Quirltheilc und Differcnzirung sowohl der vollst\u00e4ndigen als der defocten Quirle in Gestaltung und Function.\nIch kunn den Procoss nicht weiter ins Einzelne verfolgen. Das Bisherige wird gen\u00fcgen, um die phylogenetische Methode f\u00fcr den Aufbau der Bl\u00fcthe verst\u00e4ndlich zu machen. Die Aufgabe besteht also darin, Reihen zu begr\u00fcnden, in denen die Anordnung von der urspr\u00fcnglich spiraligen und viclz\u00e4hligen zu der cyclischen und reducirt wenigz\u00fchligen Bl\u00fcthe, Stufe f\u00fcr Stufe, fortschreitet, und weiterhin festzustellen, welcher Reihe jeder einzelne, genetisch zusammengeh\u00f6rige Complex von Phanerogumen angeh\u00f6re. Man m\u00f6chte vielleicht meinen, dass diese Aufgabe zu unbestimmt gefasst sei und der Willk\u00fcr grossen Spielraum gestatte. Bei n\u00e4herer Uel>erlegung wird man al>er finden, dass dies durchaus nicht der Fall ist. Die phylogenetische Methode, wie ich sie entwickelt hal>e, hilft zwar leicht \u00fcber einige Schwierigkeiten der bisherigen Betrachtungsweise hinweg, indem sie die betreffenden Vorkommnisse (z. B. Wechsel verschiedenz\u00e4hliger Quirle bei verschiedenen Individuen) in einfachster Weise erkl\u00e4rt, aber im allgemeinen bleilnm die R\u00fccksichten des bisherigen vergleichenden Verfahrens in unver\u00e4nderter Kraft. Eis kommen ausserdem noch viele neue R\u00fccksichten hinzu, indem alles, was bisher als Ausnahmen und als Variationen unerkl\u00e4rt blieb, durch die phylogenetische Methode erkl\u00e4rt und daf\u00fcr die Norm festgcstellt werden muss. Diese Methode erfordert also viel mehr Umsicht in der Bcurtheilung der thats\u00e4ch-lichen Vorkommnisse im Bl\u00fcthenhau als das bisherige vergleichende \\ erfahren, verspricht daf\u00fcr aber auch um so sicherere Resultate.\nDas bisherige vergleichende Verfahren besch\u00e4ftigte sich vorz\u00fcglich damit, die Zahl der Quirle nach dem Gesetz der Alternanz festzustellen, n\u00f6tigenfalls zu emendiren, und die Art und Weise der Auf-","page":507},{"file":"p0508.txt","language":"de","ocr_de":"508 IX. Morphologie \u00abmtl Systematik al\u00ab phylogenetische Witwciinchaftcn.\ncinandorfolge zu bestimmen, ferner namentlich mit R\u00fccksicht auf das h\u00e4ufigste Vorkommen duu sogenannten Typus zu iixiren. Das phylogenetische Verfuliren )>enutzt dazu ausserdem alle Variationen und sucht namentlich aus den polymeren Variationen die innerhalb einer Grupj>e von verwandten Pflanzen Vorkommen, und aus der Stellung der nach der Reduction \u00fcbrig hleil>endcn Organe den ganzen Entwicklungsgang und tiesonders den nomoc/clischen Aufbau als Gnindplan, aus dem die verschiedenen sogenannten typischen Bildungen durch Reduction hervorgehen, festzustellen.\nSo ergibt sich !>eispielswcise mit R\u00fccksicht auf den vielbesprochenen \u00dfl\u00fcthcnlmu der Oruciferen aus dem jsilymcren Androeeeum, das l>ei einigen Oraciforen seller, dann lxd anderen Familien der Rhoeadeen (Papaveraceen, Oapparideen, Rcscdaceen) vorkommt, die wahrscheinliche Folgerung, dass in der Ahstaminungslinic dieser Klasse die Quirlhildung succ\u00e9dait (zuletzt iin Androeeeum) eingetreten ist, dass die Quirle urspr\u00fcnglich 4z\u00e4hlig und in gr\u00f6sserer Zahl vorhanden waren, dass sie sich dann im Androeeeum auf die Zahl von 2 limitirten, und dass schliesslich das Androeeeum durch Schwinden zweier Phyllome des unteren Quirls in den f\u00fcr die ('nici-feren \u00bbtypischen\u00ab Zustund \u00fcl>crging, \u2014 wol*ei ich die Vervielfachung (\u00bbVerdoppelung\u00ab) der Staubgef\u00fcsse in einzelnen F\u00e4llen durchaus nicht leugnen will, wenn sic nicht eher als R\u00fcckschlag zu erkl\u00e4ren ist.\nDas Gynaeceum der Oruciferen ltcstand urspr\u00fcnglich ebenfalls aus zahlreichen Phyllomen (Papaveraeeen, ( -apparideen, Resedaccen) und wurde wohl zuerst auf zwei, dann auf einen einzigen 4z\u00e4hligen Quirl reducirt, der bei den Oruciferen durch Schwinden der zwei medianen (bei den Rescdaceen auch durch Schwinden der zwei transversalen) Oarpello 2z\u00e4hlig geworden. Die Variationen inden\u00dfl\u00fcthen der Rhoeadeen mit 3-, 5- und Gz\u00e4hligen Quirlen w\u00fcrden eine Itesonderc Betrachtung mit genauer Ber\u00fccksichtigung der Stellungsverh\u00e4ltnisse verlangen, sind aber wahrscheinlich so zu deuten, duss, w\u00e4hrend in dem einen Zweig der Abstammungslinie, der zu den Oruciferen f\u00fchrt, strenge Vierzahl herrscht, in einem anderen die Zahl der Quirlelemente zwischen 4, 5 und 6 wechselt, und dass die 6- und 3 z\u00e4hligon Gynaeaceen der Rescdaceen, wie ihre Orientirungen beweisen, die Reste eines gesetzm\u00fcssig dopjtelt Gz\u00e4hligen Oarpellkreises sind.","page":508},{"file":"p0509.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morplin|<\u00bbf;i<> mul Systomutik hIh phylo^cnctiwlic Winw-nwliafu-n fjQ\u00bb|\nH, I, K. Einzelne Theile der Blothe.\nNach.lcm \u00ablor Auflmu der Bl\u00fctlie im allgemeinen Mrachtet wordon ist, verlangen die Besomlerheiten ihrer Thoilo mieli eine eigene kurze Besprechung.\n11. Porig on. Die Phyllonie des Perigons durchlaufen die bereits liesproehenen Stufen der Stellung:\n1. spiralig, 2. eyeliscli, die Stufen der Verwachsung:\n1. alle Phyllonie getrennt, 2. die einen Cyclus bildenden r\u00fchrig verwachsen, die suecessiven Quirle mit einander verwachsen\nmal endlich die Stufen der Reduction, fm \u00fcbrigen ist \u00bblas Porigon wesentlich durch Anpassung entstanden; \u00ableshalb m\u00f6chte ich nament-\nlich \u00bblarauf aufmerksam machen, \u00ablass man nicht etwa\n1. Peritfmmangel, 2. gleichartiges Perigon, 3. in Kelch un\u00bbl Krone geschie\u00bblenes Perigon\nals drei phylogenetische Stufen ansehe. Diese drei Bildungen stehen nach meiner Ansicht in keiner genetischen Beziehung zu einunder, da urspr\u00fcnglich auf die Hochbl\u00e4tter (Bracteen) die Staubbl\u00e4tter f\u00ab\u00bblgten, dann Kelch o\u00bbler kelchartiges Perigon aus den oliersten Hochbl\u00e4ttern, Krone \u00abnier kronartiges Perigon aus den untersten Staubbl\u00e4ttern uml Zwischenbildungen zwischen Kelch- und Kron-bl\u00e4ttem aus Uelierg\u00e4ngen zwischen Hochbl\u00e4ttern und Staubbl\u00e4ttern hervorgingen.\n1. Androeccum. R\u00fccksichtlich der Gestaltung der Staulc M\u00e4tter, welche mehr Schwierigkeiten darbietet als diejenige \u00bb1er \u00fcbrigen Phyllonie, liegen zwoi Stufen klar vor:\nly. Staubbl\u00e4tter schuppenf\u00f6rmig mit mehreren Staubs\u00e4cken (Cy-cadeen und einige Coniferen);\n!.. Staubbl\u00e4tter \u00bblifferenzirt in einen Staubkoilien (Anthere) mit zwei Staubs\u00e4cken und einen Staubfaden, zuweilen mit nelielblatt-artigen Gebilden am Grun\u00able.\nDiese lieiden Stufen scheinen mir Anfang und Ende \u00bb1er phylogenetischen Umbildung zu bezeichnen. Auf die erste Stufe folgt die Verzweigung oder Theilung des Staubblattes, auch wohl Vervielfachung (\u00bbVer\u00bblop]>elung\u00ab, Iwisale Verzweigung), aller, wie ich glaube, zuletzt immer R\u00fcckkahr durch Reduction zum unverzweigten, in Stiel und Anthere differenzirten Staubgef\u00e4ss. Es gibt noch, ahge-","page":509},{"file":"p0510.txt","language":"de","ocr_de":"\u00d4U) IX. Morpholugi\u00ab und Systematik als phylogenetische Wissenschaften\nsehen vom inneren Bau, verschiedene Modifieationen in der Gestaltung der Staubbl\u00e4tter, deren phylogenetische Bedeutung zweifelhaft ist, und die vielleicht als Anpassungen zu betrachten sind.\nIm \u00fcbrigen finden wir beim Androeceum die fr\u00fcher liesproclienen Stufen der Stellung und Verwachsung 1. spiralig, 2. cyclisch,\n1. irei, 2. mit den Staubf\u00e4den oder mit den Staubl>euteln verwachsen,\n1. bodenst\u00e4ndig, 2. kelchst\u00e4ndig oder kronst\u00e4ndig oder pistillst\u00e4ndig, d. h. mit Kelch, Krone oder Pistill verwachsen, letzteres in den gynandrischen Bl\u00fcthen, und die verschiedenen Stufen der Reduction\n1. polymer, 2. oligomer (bei spiralig3r Stellung),\n1. polycyclisch, 2. nomocyclisch, 3. oligocyclisch (l>ei Quirlstellung),\n1. mit vollst\u00e4ndigen, 2. mit unvollst\u00e4ndigen Quirlen.\nDie Pollenk\u00f6rner sind 1. frei oder 2. in Gruppen oder 3. in ganze Pollenmassen verwachsen.\nK. Gynaeceum. Gestaltung und Verwachsung der Carj\u00bbeile zeigen vier Stufen:\nKx. Carpelle schuppenf\u00f6rmig, flach (Gymnospermen).\nKt. Carjielle in Scheide, Stiel und Spreite differenzirt, die Scheide mit den R\u00e4ndern zum Fruchtknoten verwachsen (Ranunculacecn, Papilionaceen etc.).\nK^. Wie 2, aber die quirlst\u00e4ndigen Carpelle mehr oder weniger hoch mit einander verwachsen; Fruchtknoten mehrcarpellig, mehrf\u00e4cherig ^Liliaceen, Solanaceen, Geraniaceen etc.).\nDurch Reduction oder Zur\u00fcckziehen der Scheidew\u00e4nde auf den Rand verwandelt sich \u00ab1er mehrf\u00e4cherige Fruchtknoten von \u00c0', in einen typisch einf\u00e4cherigen mehrcarpelligcn, indem nun die Fruchtbl\u00e4tter in gleicher Weise wie die Kelchbl\u00e4tter in dem r\u00fchrigen Kelch klappig verwachsen sind (Papaveraceen, Violarieen, Crueiferen; \u2014 - Uebergang von K, in K, l\u00bbei den Caryophyllaceen).\nBez\u00fcglich der Stellung der Carj>elle haben wir den gew\u00f6hnlichen Fortschritt von der Spiral-zur Quirlstellung; aber die letztere unterscheidet sich von der der \u00fcbrigen Phyllome dadurch, dass nur in Ausnahmef\u00e4llen \u00fcber einander stehende Quirle auftreten, und dass gew\u00f6hnlich alle Carpelle sich in einen einzigen Kreis ordnen","page":510},{"file":"p0511.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologic mul Systematik als pliylo^ciictischc WiaMmacliaftcn. 51J\n(S. t\u00e4Mi). Daher l\u00e4sst \u00ableim tiuch \u00ablie Reduction Moss eine Verminderung dor Elemente dieses Kreises wahrnelnnon und das noino-cyclische Gynaeceum lntsteht hloss in einem ltcstinnntcn Vielfachen der in der Bl\u00fcthe herrschenden Glietlcrzuhl tier (Quirle (z. B. 2 X &)\u2022 Wir halten somit r\u00fccksichtlich tier Stellung und Reduction die Stufen :\n1.\tspiralig a) polymer, b) oligomer,\n2.\teycliseh a) polycyclisch oder polymer, b) nttmocyclisch\noder nomomer, c) oligomer.\nMit R\u00fccksicht auf die Lage zu den \u00fcbrigen Phyllomen der Bl\u00fcthe sintl zwei Stufen zu unterscheiden\n1. Fruchtknoten olterst\u00e4ndig, 2. Fruchtknoten unterst\u00e4ndig.\nDas unterst\u00e4ndige Ovarium ist jedenfalls die h\u00f6here Entwicklungsstufe, mag dasselbe durch Verwachsung mit dem Kelch und tien \u00fcbrigen Bl\u00fcthenphyllomen oder mit dem vertieften \u00dfl\u00fcthen-boden zu Stande kommen (vgl. S. 37(5\u2014377).\nDas Ovulum (Samenknospe) scheint bez\u00fcglich seiner Umh\u00fcllung drei Stufen zu durchlaufen\n1. mit nacktem Kern, 2. mit 1 Eih\u00fclle, 3. mit 2 Eih\u00fcllen.\nR\u00fccksichtlich der Gestaltung schreitet das gerade (orthotrope) Ovulum einerseits zum umgebogenen (anatropen), andrerseits zum zusammengeltogcnen (campylotropen) Ovulum fort.\nL. Samen. Ein phylogenetischer Fortschritt gibt sich in der zunehmenden Gr\u00f6sse der Samen kund, indem darin die vermehrte Sorge f\u00fcr dit; Brut ausgesprochen ist. Von gleich grossen Samen sintl unter \u00fcbrigens gleichen Umst\u00e4nden diejenigen, welche einen grossen Embryo enthalten, phylogenetisch weiter fortgeschritten als diejenigen, welche mit dem kleineren Keimling noch einen Eiweiss-k\u00f6rj>er Itcsitzen. \u2014 Vorstehendes ist in Ueltereinstimmung mit der Thatsacho, dass die h\u00f6heren Thicre (V\u00f6gel) gr\u00f6ssere Eier halten als die niederen, und dass \u00ablie h\u00f6chsten Tliiere (S\u00e4uget liiere) einen Embryo im Mutterleib bilden.\nWas dit; Samen1api>en lietrifft, so scheinen mir \u00ablie bekannten Verh\u00e4ltnisse drei Stufen anzudeuten.\nLy. Mehrere quirlst\u00e4ndige Stunenlappen (Conifcren).\nLt. Zwei opponirte Samenlap|ten mit schmaler Basis (Dicotylen).\nLy. Ein einziger Samenlappen mit scheidenf\u00f6nniger Basis (Mono-cotylen).","page":511},{"file":"p0512.txt","language":"de","ocr_de":"512 IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften.\nDies ist keineswegs im Widerspruch mit der fr\u00fcheren Annahme, dass quirlst\u00e4ndige Bl\u00e4tter phylogenetisch h\u00f6her stehen als schraul \u00bben-st\u00e4ndige. F\u00fcnf einzelstehende Bl\u00e4tter erfahren einen Fortschritt, wenn sie zum Quirl sich vereinigen, und abermals einen Fortschritt, wenn sie durch Reduction auf zwei und auf eines sich vermindern. Uelx>rdein ist eine breite Anheftung seitlicher Organe als die vollkommenere zu betrachten, weil sie oine innigere Vereinigung anzeigt. Die mannigfaltigen Umh\u00fcllungen der Samen mit den Samen-1 l\u00e4uten und weiterhin mit den verschiedenartigen Fruchtgeh\u00e4usen werden wesentlich durch Anpassungsorscheinungen verursacht und erlauben keine Gliederung in phylogenetische Stufen.\nDie vorstehende Aufz\u00e4hlung macht keineswegs Anspruch auf Vollst\u00e4ndigkeit. So fehlt Lage und Gestalt der Placenta mit der Anheftung der Ovula. Ich habe diesel!\u00bb \u00fcbergangen, weil ich dar\u00fcber in phylogenetischer Beziehung nichts Treffendes zu sagen weiss. Man darf jedoch die Bedeutung der hierher z\u00e4hlenden Merkmale nicht \u00fcbersch\u00e4tzen. Denn es ist wohl keinem Zweifel unterworfen, dass der morphologische Werth der Placenten und der Eichen \u00fcl\u00bbrall der n\u00e4mliche ist. Die Placenta ist nichts anderes als eine verdickte Stelle des Fruchtblattgewebes und das Ovulum ist ein auf dem Carpell entstehendes Trichom oder Emergenzgebilde.\nDie Ovula sind phylogenetisch die Fortsetzung der weiblichen Sporogonien der heterosporen Gef\u00e4sskryptogamen, wie die Staul\u00bb-s\u00e4cke die Abk\u00f6mmlinge der m\u00e4nnlichen Sporogonien sind. Die Sporogonien der Gef\u00e4sskryptogamen aber gehen aus einer oder mehreren oberfl\u00e4chlichen Zellen verschiedener Regionen des Sporenblattes hervor (S. 477) und haben somit trichomatische oder Emer-genz- Natur. Ihre Nachkommen, die Ovula, m\u00fcssen die n\u00e4mliche Natur besitzen und Theile der Fruchtbl\u00e4tter sein'). Eine andere\n') Gegen diese Deutung der Natur der Ovula wird wohl der Einwurf er holten werden, dass sie einen Gefttssstrang ltesiUen und daher keine Triehome sein kttnnen. Es ist ja ein nicht mehr seltenes Verfahren, dass inan Anwesenheit und Verlauf der Gefkssstr\u00e4nge als Merkmal f\u00fcr die Natur, den Ursprung und \u00ablie Stellung eines Orguns verwendet. Ein solches Verfahren kann aber nur als ein irrth\u00fcndiches lieaeiclinet werden, welches seinen Grund in der Begriffsver wirrung fln.let, \u00ablie noch so vielfach bez\u00fcglich der Erscheinungen im Pflanzen reiche herrscht Was \u00ablie morphologische Bedeutung eines Organs (als Caulom, Phyllom, Wurzel, Trichom) ltetrifft, um die es sich hier handelt, so wird dieselbe durch \u00ablie Rolle bestimmt, die es beim AuH.au des Pflanzenstockes oinnimmt,","page":512},{"file":"p0513.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 513\nBedeutung k\u00f6nnten sie auf phylogenetischem Wege bloss etwa scheinltar durch Reduction erlangen, indem das Carpell bis auf ein Minimum schw\u00e4nde und somit fast nur das Ovulum \u00fcbrig bliebe, in \u00e4hnlicher Weise wie das m\u00e4nnliche Prothallium bei den h\u00f6chsten Gef\u00e4sskrypto-gamen fast bis auf das Antheridium schwindet. Das Ovulum erschiene uns dann f\u00e4lschlich in der W\u00fcrde eines Phylloms. Bei den Primulaceen w\u00e4ren, wenn die centrale Placenta als Caulomspitzo sich erweisen sollte, die daran befestigten Ovula solche reducirte Carpelle. Doch halte ich f\u00fcr wahrscheinlicher, dass die Plaeenten in allen F\u00e4llen Blatttheile sind und im angef\u00fchrten Falle durch die Basis der Carpelle gebildet werden.\nDas Ovulum aber f\u00fcr ein Caulom resp. f\u00fcr eine Knospe (Samenknospe) zu erkl\u00e4ren, scheint mir phylogenetisch ganz unhaltbar, wie auch keine einzige der verschiedenen mitogenetischen Beziehungen nur cinigemiaa8sen daf\u00fcr spricht.\nWenn man zwei Pflanzenfamilicn der Phanerogamen nach den phylogenetischen Stufen ihrer Merkmale vergleicht, so findet man fast ausnahmslos, dass die eine in den einen, die andere in den anderen Merkmalen eine h\u00f6here Stufe erreicht hat. Dies beweist, dass sie verschiedenen Abstammungslinien angeh\u00f6ren; denn w\u00e4ren sie auch nur bildlich Stufen der n\u00e4mlichen Linie, und w\u00fcrfle somit die eine von der anderen abstanunen, so k\u00f6nnte selbstverst\u00e4ndlich die erzeugende Familie in keinem Merkmale h\u00f6her entwickelt sein als die erzeugte, sondern ihr h\u00f6chstens gleichkommen. Daraus geht hervor, dass die Phanerogamen einer gr\u00f6sseren Menge von Abstammungslinien angeh\u00f6ren und dass fast jede der jetzigen nat\u00fcrlichen Familien das Ende einer solchen Linie bildet.\nDie zwei Fragen, welche uns nun am meisten interessiren w\u00fcrden, 1. wie die Familien genetisch mit einander verwandt\nn\u00e4mlich durch den Ort, wo es entsteht, and durch die Art und Weise*, wie es selber Organe hervorbringt. Die Bildung \u00ab1er Gef\u00e4ssstr\u00e4nge dagegen ist eine nachtr\u00e4gliche, durch physiologische Functionen hervorgebraehte Erscheinung, \u00ablie mit jener Rolle in keiner Beziehung steht. Daher gibt es ausnahmsweise Phyl-lome, Canlome (H. Wurzeln ohne Gef\u00e4ssstr\u00e4nge, \u2014 und es ist kein Grund vorhanden, warum Trichome, die zu grosserer und ungew\u00f6hnlicher Entwicklung gelangen, nicht solche Itekommen k\u00f6nnten.\n\u25bc. Nigel I, Abstammungslehre.\too","page":513},{"file":"p0514.txt","language":"de","ocr_de":"514 IX. Morphologie und 8yBtematik ala phylogenetische Wissenschaften.\nsind und wie der ganze Stammbaum sich aufbaut, und 2. wie sich die Familien, welche ungleichen Abstammungslinien angeh\u00f6ren, bez\u00fcglich ihrer Vollkommenheit zu einander verhalten und welche als die h\u00f6chst entwickelte zu erkl\u00e4ren ist, \u2014 lassen sich noch gar nicht beantworten. Was die erste re Frage betrifft, so haben wir als Grundlago der genetischen Verwandtschaft bloss die systematische Affinit\u00e4t und als Grundlage f\u00fcr den Stammbaum einzig das System, welches wohl in einigen Hauptz\u00fcgen feststeht und dem Stammbaum entsprechen d\u00fcrfte, in allen anderen Beziehungen aber willk\u00fcrlich gestaltet wird.\nWas aber die Sch\u00e4tzung der gr\u00f6sseren oder geringeren Vollkommenheit der Familien betrifft, so h\u00e4ngt dieselbe von der Beurtheilung der Merkmale ab, und man kann daher, da die Familien bald in den einen, bald in den anderen Merkmalen eine h\u00f6here phylogenetische Stufe erreicht haben, ganz ungleiche Familien als die vollkommensten erkl\u00e4ren, je nachdem man dem einen oder anderen Merkmale den Vorrang einr\u00e4umt. In dieser Beziehung liegt das Pflanzenreich der Erkenntnis ungleich ferner als das Thierreich, weil bei diesem eine bestimmte Gruppe (die Wirbelthiere) so deutlich sich als die vollkommenste darstellt, und in dieser Gruppe sich der vollkommenste Organismus so deutlich heraushebt.\nWenn wir w\u00fcssten, welches die vollkommensten Pflanzen sind, so w\u00e4ren wir um einen grossen Schritt dem Ziele n\u00e4her ger\u00fcckt, und wir k\u00f6nnten wenigstens in allgemeinen Z\u00fcgen das phylogenetische System der Phanerogamen zu entwerfen versuchen. Man hat aber \u00fcl>er jene Frage die verschiedenartigsten Ansichten. Verdienen die Papilionaceen, die Pomaceen, die Ranunculaceen, die Umbelliferen oder irgend eine andere Familie den Rang der h\u00f6chsten Pflanzen ? \u2014 Wir k\u00f6nnen zwar mit Sicherheit sagen, dass diejenige als die h\u00f6chste Pflanze erkannt wird, in welcher Differenzirung, Reduction und Vereinigung am weitesten fortgeschritten sind ; aber wenn wir nach diesen Merkmalen zu vergleichen suchen, so gibt as keine Gruppe, welche in allen Beziehungen \u00fcl>er die anderen hinausragt. Es stellt denn auch fast jeder Systematiker eine andere Familie an die Spitze seines Systems. Allerdings mag dies zuweilen nur eine unabsichtliche kolge der systematischen Anordnung sein; von anderen Autoren aber wird ausdr\u00fccklich eine bestimmte Familie als die h\u00f6chste in Anspruch genommen.","page":514},{"file":"p0515.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologie und Systematik als phylogenetisoho Wissenschaften 5J5\nDa die einen Pflanzenfamilien in den einen, andere in anderen Merkmalen als die h\u00f6herstehenden sich erweisen, so erhebt sich die f\u00fcr alle systematische Vergleichung so bedeutungsvolle Frage, welche von den verschiedenen Eigenschaften als die wichtigeren zu betrachten seien. Die Praxis hat darauf die Antwort gegeben, dass die Merkmale der Bl\u00fcthe und der Frucht einen viel gr\u00f6sseren Werth besitzen als die der vegetativen Organe. Es ist selbst fast allgemein als Axiom festgehalten worden, dass nur die ersteren zu Gattungsunterschieden benutzt werden d\u00fcrfen, indess die Speciesunterschiede \u00fcberall genommen werden, wo man sie findet.\nVersuchen wir die L\u00f6sung der eben gestellten Frage auf den zwei Wegen, deren Uebereinstimmung allein die Wahrheit verb\u00fcrgt, n\u00e4mlich mit Hilfe der Erfahrung und der Theorie. Von Seite der Erfahrung ist von zwei Merkmalen stets demjenigen die gr\u00f6ssere Wichtigkeit zuzuerkennen, welches die gr\u00f6ssere Constanz, oder, da wir die letztere eigentlich nicht zu l>eurtheilen verm\u00f6gen, die gr\u00f6ssere Permanenz (vergl. S. 239\u2014240) besitzt. Von diesem Standpunkte aus rechtfertigt sich nun das Verfahren der Systematiker, der Bl\u00fcthe und Frucht eine gr\u00f6ssere Bedeutung l\u00bbeizulegen, als den vegetativen Oiganen, wenn auch nicht in der Ausschliesslichkeit, mit der es durchgef\u00fchrt wird. Manche Bl\u00fcthen- und Samenmerkmale zeichnen sich durch eine sehr grosse Permanenz aus, indem sie in ganzen Familien oder in gr\u00f6sseren Ahtheilungen des Pflanzenreiches unver\u00e4nderlich jedem Individuum zukommen. Dagegen gibt es allerdings auch Merkmale der Bl\u00fcthe und namentlich der Frucht, welche selbst in den Arten einer Gattung variiren; und andrerseits Eigen-th\u00fcmlichkeiten in der vegetativen Sph\u00e4re, welche sich als sehr permanent erweisen.\nVon Seite der Theorie ist, wenn wir von den fr\u00fcheren misslungenen Versuchen der Naturphilosophie absehen, eine L\u00f6sung der vorliegenden Frage nicht unternommen worden. Dieselbe kann nur auf phylogenetischem Wege gelingen, und vielleicht ist folgende Erw\u00e4gung geeignet, die maassgeltcnden Gesichtspunkte anzudeuten.\nEine Abstammungslinie \u2014 der Einfachheit halber will ich geschlechtslose Fortpflanzung voraussetzen \u2014 ist eine Kette von aufeinander folgenden Individuen, von denen jedes an dem endlichen Resultat, n\u00e4mlich an der Beschaffenheit der Individuen der letzten Generation, die ich als A bezeichnen will, betheiligt ist. Alle anderen\n33*","page":515},{"file":"p0516.txt","language":"de","ocr_de":"516 IX. Morphologie and Systematik ala phylogenetische Wissenschaften.\nAbstammungslinien, die von fr\u00fcheren Punkten der genannten Linie abgegangen sind, m\u00f6gen sie ausgeetorben sein oder zu anderen Resultaten (B, C, D....) gef\u00fchrt haben, fallen ausser Betracht, wenn es sich bloss um A und die Ursachen von A handelt. \u2014 Es gibt selbst Individuen, die an keiner Abstammungslinie \u00fcberhaupt Theil nehmen ; es sind dies die von Natur zur Unfruchtbarkeit bestimmten, wie die Arbeiterinnen der Ameisen und Bienen. Irgendwelche Ver\u00e4nderungen in diesen Individuen w\u00fcrden f\u00fcr das Resultat der Abstammungslinien indifferent bleiben.\nWir k\u00f6nnen eine Abstammungslinie statt als eine Kette von Pflanzen- oder Thierindividuen, auch als eine Kette von Organen oder von Zellen ansehen. Dann ist es von allen Organen oder Zellen der auf einander folgenden Ontogenien verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig nur eine geringe Zahl, welche dieser Kette angeh\u00f6rt; alle anderen stellen appendiculftre Theile derselben dar. \u2014 Nehmen wir die Zelle als da* Element der Abstammungslinie und l\u00f6sen wir also das Individuum in die einzelnen Zellen auf, so beginnt mit der befruchteten Eh eile eine wiederholte Zweitheilung ; es geht von ihr ein fast ins Unendliche verzweigter Stammbaum von Zellen aus. Alter nur wenige der so zahlreichen Abstammungszellreihen f\u00fchren zu den befruchteten Eizellen, mit denen die Individuen der folgenden Generation beginnen ; alle \u00fcbrigen Abstammungszellreihen sind accessorische und haben keine Nachkommen. Jene wenigen Reihen bezeichnen den unmittelbaren Wog der durch das Individuum verlaufenden phylogenetischen Entwicklung. Insofeme k\u00f6nnen wir die ihr angeh\u00f6rigen Zellen als phylodische bezeichnen, w\u00e4hrend alle \u00fcbrigen Zellen dos Individuums, als ausserhalb des phylogenetischen Weges liegend, paro-disch genannt werden k\u00f6nnen. Eine verwandte Betrachtung diente mir oben (S. 423) dazu, um die Nothwendigkeit des Absterbens der Individuen darzuthun.\nWie mit den Zellen verh\u00e4lt es sich mit den Organen. Nur wenige derselben befinden sieh l>ei den h\u00f6heren Pflanzen auf dem directen phylogenetischen Wege, sind also phylodisch, n\u00e4mlich der aus dem Samen erwachsende Stengel sammt den zu den Bl\u00fcthen f\u00fchrenden Verzweigungen und die Fortpflanzungsphyllome (Staubgef\u00e4sse und Carpelle). Alle \u00fcbrigen Organe liegen abwegs und sind parodisch, n\u00e4mlich alle Trichome, alle Wurzeln, alle Phyllome mit Ausnahme der die Staubs\u00e4cke und Ovula tragenden und manchmal auch gewisse","page":516},{"file":"p0517.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenscliaften 517\nCaulorae ; nur ausnahmsweise wird etwa das eine (nier dos andere der parodischen Organe in den phylodischen Weg aufgenommen (Sprossung aus Wurzeln, aus Laubblftttom).\nMan wird es nun an und f\u00fcr sich nicht unwahrscheinlich finden, dass die pliylodischen und die parodischen Organe oder Zellen nicht die n\u00e4mliche phylogenetische Bedeutung besitzen, womit dann zugleich ausgesprochen ist, dass die Bedeutung der pliylodischen TheiJc gr\u00f6sser sein muss. Dies stimmt vollkommen mit der Theorie ties Idioplasmas, wie ich sie in dieser Schrift entwickelt habe, \u00fcberein. Den phykv dischen Theilen einer Pflanze m\u00fcssen die Hauptztige der idioplas-matischen Configuration, den appeudiculftren odor parodischen Theilen m\u00fcssen mehr untergeordnete idioplasmatische Gruppen entsprechen. Daraus folgt, dass die erstereu Inst\u00e4ndiger, also uuch permanenter sind als die letzteren.\nDie einen und die anderen Organe besitzen zweierlei erbliche Merkmale, solche, welche durch innere, und solche, welche durch \u00e4ussere Ursachen hervorgebracht wurden. Die letzteren oder die Anpassungsnlerkmale haben eine viel geringere Permanenz (Constuuz) und somit auch eine geringere Wichtigkeit; aller es macht keinen Unterschied, ob sie den pliylodischen oder den parodischen Organen zukommen. Wohl aber sind sie an den parodischen Theilen ungleich h\u00e4ufiger, was sich leicht daraus erkl\u00e4rt, dass diese im allgemeinen gleichsam als seitliche Anh\u00e4ngsel die pliylodischen Theile umgeben und diesellien wenigstens in den j\u00fcngeren Stadien vollst\u00e4ndig einh\u00fcllen und somit vor \u00e4usseren Angriffen sch\u00fctzen, indem sie seil k t diese Angriffe aushalten. Man denke an die zahllosen Modifications der Phyllome und der Trichome, zum Tlieil auch der Wurzeln. Den pliylodischen Organen kommt ebenfalls die F\u00e4higkeit der Anpassung zu, da sie in den \u00e4lteren Stadien frei und den \u00e4usseren Einfl\u00fcssen ausgesetzt sind ; sicher aller erfahren in ihnen nur die aus parodischen Zellen gebildeten Gewebe eine Anpassung.\nEs entspricht also vollkommen der Theorie, wenn den Bl\u00fcthen und Samen summt \u00dfl\u00fcthenstand die h\u00f6chste Bedeutung in der Systematik einger\u00e4umt wird; denn in ihnen sind die meisten phylodischen Theile der Pflanze enthalten. Es fehlt sogar gar nichts von den phylodischen Theilen, wenn das Wesentliche des Bl\u00fcthen Standes im \\ erh\u00e4ltniss des Bl\u00fcthencauloms zu den \u00fcbrigen Caulomen der Pflanze, also im Aufbau des ganzen Pflanzenstoekes gefunden wird (S. 480\u2014483).","page":517},{"file":"p0518.txt","language":"de","ocr_de":"518 IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften.\nIn der obigen Betrachtung \u00fcter die phylogenetischen Entwicklungen in der Gruppe der Phauerogamen (8. 47\u2018J\u2014513) sind die wichtigsten phylodischen Merkmale, welche sich auf die \u00e4ussere Gestaltung beziehen, aufgez&hlt. Dieselben k\u00f6nnen im allgemeinen als sehr permanent und wichtig gelten. Dti>>ei ist ater nicht ausgeschlossen, dass jedes Merkmul in denjenigen Familien variiren kann, in welchen der Fortschritt von der niederen zu der h\u00f6heren Stufe noch im Werden begriffen oder noch jung und nicht hinreichend befestigt ist.\nMan darf ferner nicht etwa den Einwand machen, dass die Stellung und Verwachsung der Phyllome (FS. 485), soweit dieselben nicht Staubbl\u00e4tter \u00bbder Carpelle sind, die Zahl der Samenlappen (L S. 511), die Bebl\u00e4tterung der Pflanze (E S. 484) nach meiner eten gemachten Auseinandersetzung keine wichtigen Merkmale w\u00e4ren, da sie von purodischen Theilen entnommen seien. Allerdings sind die Phyllome im allgemeinen parodisclie Organe; ater ihre Stellung und ihre Zahl geh\u00f6ren, weil dieselben unmittelbar von dem erzeugenden Caulom abh\u00e4ngen, eigentlich zu den Merkmalen des Cauloms, somit zu den phylodischen Merkmalen. Die Verwachsung der Bl\u00e4tter unter einander, besonders der Perigonbl\u00e4tter, ist eine Folge der Quirlstellung und tritt wohl immer, wenn nicht etwa die schmalen Blattstiele ein Hindemiss bilden, im phylogenetischen Verlaufe ein; sie wird also ebenfalls durch das Verhalten des Cauloms, Eines phylodischen Organs, bestimmt. Dagegen ist die Gestaltung der Phyllome sowie der \u00fcbrigen purodischen Organe (Trichome, Wurzeln) von geringer phylogonetischer Bedeutung.\nSchliesslich will ich noch tez\u00fcglich einiger Pflanzen, denen man den h\u00f6chsten Rang im Reiche einr\u00e4umen wollte, und bez\u00fcglich einiger anderer, die wohl ebenso sehr diesen Rang h\u00e4tten tean-spruehen k\u00f6nnen, untersuchen, inwiefern ihre Merkmale \u00fcberhaupt zu einem Schl\u00fcsse auf gr\u00f6ssere Vollkommenheit terechtigen. Ich wiederhole hier, dass wir als die vollkommensten diejenigen Pflanzen zu betrachten haben, in welchen in den wichtigsten Organen die Differonzirung und zugleich die Reduction sowie ferner die Vereinigung am weitesten fortgeschritten sind. Die gr\u00f6sser Zahl der","page":518},{"file":"p0519.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wisseuscliaften. 519\nOrgane ist also nicht das Merkmal einer h\u00f6heren Stufe, sondern iui allgemeinen das Gegenthoil davon, und die qmuititative Verschiedenheit, welche in einer Menge von Abstufungen liesteht, ist unvollkommener als der Zustand, in welchem nach Unterdr\u00fcckung aller Ueberg\u00e4nge bloss die wenigen ausgepr\u00e4gten Bildungen \u00fcbrig bleiben und unvermittelt neben einander liegen.\nDie Ranunculacecn, die als die vollkommensten Pflanzen an der Spitzo des Systems von A. P. de Candolle stehen, erreichen in keinem einzigen Merkmale einen hohen phylogenetischen Rang. Der Aufbau des Pflanzenstockes bleibt auf der untersten Stufe, indem die \u00dfl\u00fcthen an den Laubblattsprossen terminal sind. Elionso stellen das Androeceum und Gynaeceum bez\u00fcglich Stellung und Verwachsung niedrige Bildungen dar, da die Stauhgef\u00e4ssc und Carpelle gew\u00f6hnlich zahlreich, sch rauf jenst\u00e4ndig und nicht mit einander verwachsen sind.\nDie Pomaeeen, von Oken f\u00fcr die h\u00f6chsten Pflanzen gehalten , liefindcn sich bez\u00fcglich des Aufbaues des Pflanzenstockes auf der n\u00e4mlichen niedrigen Stufe wie die eben genannte Familie. Androeceum und Gynaeceuin jedoch stehen etwas h\u00f6her, indem die Staubbl\u00e4tter kelchst\u00e4ndig und in Quirle geordnet sind, deren Zahl al\u00bber noch nicht normirt ist, und indem die (zwar unter sich freien) Carpelle mit dem vertieften Bl\u00fctlienlioden zu einem unterst\u00e4ndigen Fruchtknoten verwachsen sind.\nBei den Papilionaceen, die von Endlicher au die Spitze des Syst\u00e8mes gestellt wurden, erreicht der Aufliau des Pflanzen-stockes die h\u00f6chsten Stufen (er ist diplo-triplo- und tetraplocaulisch ), elienfalls die Gestaltung der Laubbl\u00e4tter. Dagegen bleiben die Bl\u00fcthen r\u00fccksichtlich * der Verwachsung ihrer Theile auf niederen Stufen stehen, und das Gynaeceuin, wenn cs auch die h\u00f6chste Reduction (auf 1 Carpell) erlangt hat, ist, wie sich aus seinem Bau und aus der ganzen Verwandtschaft schliessen l\u00e4sst, als der Rest einer Mehrzahl von getrennten Caqiellen, also einer niederen Bildung zu lie-trachten.\nDie Umbelliferen, gleichfalls schon f\u00fcr dio vollkommensten Pflanzen gehalten, stehen zwar bez\u00fcglich des Aufbaues des Pflanzenstockes etwas hinter der vorhergehenden Familie zur\u00fcck, indem sie zwar diplo- und triplocaulisch sind, aber leicht durch R\u00fcckschlag auf die haplocaulische Stufe zur\u00fccksinken, wie auch die Dorsi-","page":519},{"file":"p0520.txt","language":"de","ocr_de":"520 IX. Moqriiologic mul Systematik alu phylogenetische Wissenschaften.\nventralit\u00e4t der Blttthe noch wenig ausgebildet ist. Dagegen befindet sich im \u00fcbrigen die Bl\u00fcthe entschieden auf einer h\u00f6heren Stufe. Wu8 den Bauplun l>e trifft, so ist das Androeceum und Gynaeceum wahrscheinlich durch Reduction aus der noinocyclischen Zahl 3 mal 5 Staubbl\u00e4tter und 2 mal 5 Carpelle entstanden, wie es durch Monstrosit\u00e4ten und durch das Verhalten der verwandten Araliaceen nahe gelegt wird. Besonders al>er ist es der streng unterst\u00e4ndige Fruchtknoten mit urspr\u00fcnglich 2, durch Verk\u00fcmmerung auf 1 beschr\u00e4nkten Eichen in jedem der beiden F\u00e4cher, welcher die Umbelliferen \u00fcber alle vorhergenannten Familien erhebt.\nDie bisherigen Familien, deren ich deswegen erw\u00e4hnt habe, weil sie schon an die Spitze von Pflanzensystemen gestellt wurden, geh\u00f6ren den Choripetalen an, welche die Systematiker gew\u00f6hnlich f\u00fcr die h\u00f6chste Pflanzengruppe halten. Ich will damit noch eine Familie der Gamopetalen vergleichen. Die Compositen, l>ereits von E. Fries f\u00fcr die vornehmste Familie erkl\u00e4rt, k\u00f6nnen in mehreren Beziehungen mit den Uml>elliferen zusammengestellt werden. Der Aufbau des ganzen Pflanzenstockes ist etwas weiter fortgeschritten, n\u00e4mlich diplocaulisch oder triplocaulisch ohne R\u00fcckschlag zu einer terminalen Bl\u00fcthe. Der Bauplun der Bl\u00fcthe scheint mir durchaus identisch mit dem der Umbelliferen und die typische Zahl (5 Sep. 5 Pet. 5 Stam. 2 Carp.) aus der n\u00e4mlichen nonio-cyclischen Zahl durch Reduction entstanden. Die Conif>ositen stehen aber h\u00f6her als die Umbelliferen, indem die Staubf\u00e4den mit den Blumenbl\u00e4ttern r\u00f6hrig verwachsen und ebenso die Anthereu unter sich in eine R\u00f6hre verschmolzen sind, und indem ferner das unter-st\u00e4ndige aus 2 Carpellen verwachsene Ovarium 1 f\u00e4cherig und leiig ist.\nObgleich die Monocotylen ausnahmslos als den Dicotylen untergeordnet behandelt werden, will ich doch zur Vergleichung zwei Familien derselben heranziehen. Die Orchideen stehen bez\u00fcglich ihres ganzen Aufbaues ziemlich auf derselben Stufe mit den Papi-lionaceen und Compositen, indem sie diplo- und triplocuulisch sind. Viele zeichnen sich durch eine starke Reduction ihrer Phyllome aus, indem die Zahl der Laubbl\u00e4tter nicht selten auf 2 oder ein einziges sich beschr\u00e4nkt. Der cyclische Aufbau der Bl\u00dcthen zeigt im Androeceum die gr\u00f6sstm\u00f6gliche Reduction auf ein Staubblatt, im Gynaeceum die Reduction auf 3 (fruchtbare) Carpelle. Einen sehr hohen Entwicklungsgrad zeigen auch die Unterst\u00e4ndigkeit des Ovariums, dessen","page":520},{"file":"p0521.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologie und Systematik ala phylogenetische Wiaaenachaften. 521\nklappige Verwachsung und die Gynandrie an. Dagegen bieten die Samen wegen ihrer grossen Zahl und wegen der geringen Ausbildung des Embryos ein bei Phanerogamen seltenes Beispiel der Unvollkommenheit; denn es ist ja ein Merkmal der niederen Organismen, zahlreiche, schlecht ausgestattete Keime hervorzubringen, w\u00e4hrend die h\u00f6heren Organismen ihre wenigen Keime viel besser versorgen.\nDie Gramineen, meistens an eine der untersten Stellen im System der ungiospennen Phanerogamen verwiesen, sind im ganzen Auflwtu diplocaulisch, und zeigen eine selten in solchem Maasse erreichte Scheidung zwischen Laub- und verk\u00fcmmerten Hochbl\u00e4ttern. Die cyclisch gebauten Bl\u00fcthen sind im Perigon aufs \u00e4usserste, im Androeceum meist auf 3, im Gynaeceum auf 1 (vielleicht auf 2) Curpclle roducirt. Jedenfalls ist das Ovarium, auch wenn es 1 carpellig ist, phylogenetisch aus mehreren klappig verwachsenen Carpellen entstanden, wie uns den verwandten Cypeiaceen zu ersehen ist, und entspricht somit bez\u00fcglich seines Baues und ebenso, weil es ein einziges Ovulum einschliesst, der h\u00f6chsten Entwicklungsstufe, w\u00e4hrend es in der Oberstendigkeit hinter den Orchideen zur\u00fcckbleibt.\nDer Grund, warum den Gramineen gew\u00f6hnlich eine so tiefe Stelle im System angewiesen wird, liegt in der rudiment\u00e4ren Beschaffenheit des Perigons und wohl uueh in der Spelzennatur der Hochbl\u00e4tter, sowie in der Gestalt und Consistenz der Luubbl\u00e4tter. lX>ch sind dies alles Anpassungseigenschaften und von geringerer systematischer Bedeutung; und ebenso wenig darf den Orchideen wegen ihres grossen, bunten und mannigfaltig gestalteten Perigons ein h\u00f6herer Platz im System einger\u00fcumt werden. Welche von den beiden Familien die andere \u00fcberrage, w\u00fcsste ich nicht zu entscheiden; und wie sich dieselben zu den h\u00f6her stehenden Familien unter den Dicotylen verhalten, h\u00e4ngt vorz\u00fcglich von dem gegenseitigen tVerthe der Dicotylen und Monocotylen ab.\nWas nun die Stellung dieser beiden grossen Pflanzengruppen betrifft, so datirt sich die tiefere Stellung der Monocotylen von Jussieu, dem Begr\u00fcnder des nat\u00fcrlichen Pflanzensystemes her, dessen dreiHauptabthcilungeH'Acotyledonen.Monocotyledonen, Dicotyledoneu in dieser Anordnung die nat\u00fcrliche Reihenfolge gefunden zu haben schienen. Als man dann zu der Einsicht kam, dass in den Dicotylen von Jussieu eine Pflanzengruppe, die Gymnospermen, enthalten sei, welche zwischen den \u00fcbrigen Phanerogamen und den","page":521},{"file":"p0522.txt","language":"de","ocr_de":"522 IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften.\nKryptogamen stehe, so r\u00e4umte mun ihnen diesen Platz ohne weitere Aenderung im System ein, so dass nun auf die Gefftsskryptogamen nach einander Gymnospermen, Monocotylen, Dieotylen folgten; w&lireud doch die richtigere Reihenfolge unter den Phanerogamen gewesen w\u00e4re :\n1.\tGymnospermen oder Polycotylen. Mit 2 bis vielen um Grunde schmalen Samenluppen, Gef\u00e4ssstr\u00e4nge des Cauloms zu\nund zur Verschmelzung in einen\nRing bef\u00e4higt.\n2.\tDieotylen. Mit 2 (selten mehreren) am Grunde schmalen Samenlappon, Gef\u00e4ssstr\u00e4nge des Cauloms zu fortgesetztem Dickenwachsthum und zur Verschmelzung in einen Ring bef\u00e4higt.\n3.\tMonocotylen. Mit 1 am Grunde schoidenf\u00f6rmig verbreiterten Samenlappen, Gef\u00e4ssstrilnge des Cauloms zerstreut, weder zu fortgesetztem Dickenwachsthum noch zur Verschmelzung in einen Ring f\u00e4hig.\nDass der monocotyle Embryo als das h\u00f6here phylogenetische Merkmal zu betrachten sei, habe ich oben gesagt (S. 511). Doch w\u00fcrde aus diesem einen Merkmal noch nichts f\u00fcr die ganzen Pflanzen und die ganzen Gruppen folgen. \u2014 Man kann die Vorgleichung der Monocotylen und Dieotylen nach drei Gesichtspunkten vornehmen: 1. nach dem Ursprung derselben, 2. nach dem durchschnittlichen Bau der zu ihnen geh\u00f6renden Pflanzen, 3. nach dem Bau der h\u00f6chst entwickelten Pflanzen.\nWas zuerst den Ursprung Iwtrifft, so w\u00e4re der genetische Werth entschieden, wenn wahrscheinlich gemacht worden k\u00f6nnte, dass die Dieotylen aus den Monocotylen oder diese aus jenen entstanden seien Aber es ist weder das eine noch das andere m\u00f6glich, soweit es sich um den jetzigen Umfang der Gruppe handelt. Man muss jedenfalls die Abstain mungslinien der Gymnospermen, der Monocotylen und der Dieotylen sehr weit zur\u00fcckverfolgen, ehe man zu dem gemeinsamen Ausgangspunkte kommt. M\u00f6glicher Weise ist jede dieser Gruppen mit mehreren oder vielen getrennten St\u00e4mmen von den niedersten ausgestorlienen Gef\u00f6sskryptogamen ausgogangen, oder alle ihre Abstammungslinien waren auf der Stufe der niedersten Gef\u00e4sskiyptogamen in einen einzigen oder in einige wenige St\u00e4mme vereinigt. Ob das eine oder das andere der Wirklichkeit entspricht macht aber keinen Unterschied f\u00fcr den phylogenetischen Werth","page":522},{"file":"p0523.txt","language":"de","ocr_de":"IX. Morphologie und Hystematik ala phylogenetische Wissenschaften. 523\nBez\u00fcglich des durchschnittlichen Buues kann wohl kein Zweifel bestehen, dass die Monocotylen den h\u00f6heren Rang einnehmen, da bei \u00fcbrigens gleichen Verh\u00e4ltnissen die Bl\u00fcthen in der grossen Mehrzahl cyclisch, und zwur meist nomocyclisch oder oUgocyclisch (die Quirle und Quirlelemente durch Reduction auf eine geringe Zahl vermindert) sind. Die durchschnittliche hohe Ausbildung der Monocotylen deutet aber vielleicht bloss durauf hin, dass sie die \u00e4ltere Gruppe sind und ihre niederen Familien meistens durch Aussterben verloren haben.\nFragen wir uns endlich, ob die h\u00f6chst organisirte Pflanze bei den Monocotylen oder Dicotylen sich finde, so ist dies jetzt wohl noch nicht mit Sicherheit zu beantworten. Nach meiner Ansicht muss als der h\u00f6chste Organismus derjenige 1 \u00abtrachtet werden, der den zusammengesetztesten Bau und die gr\u00f6sste Theilung der Functionen besitzt, oder mit anderen Worten derjenige, dessen Organisation die gr\u00f6sste Zahl von voruusgegangenen Entwicklungsstufen voraussetzt. Nun sind aber bei den phanerogamischen Gew\u00e4chsen mehrere Organe an dem phylodischen Theil der Ontogenie betheiligt und jedes derselben kann eine gr\u00f6ssere oder geringere Zahl von Entwicklungsstufen zur\u00fcckgelegt haben. Es handelt sich also bei jeder Pflanze um eine Summirung, f\u00fcr deren exacte Ausf\u00fchrung es noch an einer wissenschaftlichen Methode fehlt. Die Werthsch\u00e4tzung h\u00e4ngt somit zum guten Theil von subjectiver Meinung ab. Nach meinem Gef\u00fchle w\u00fcrde ich den Compositen einen, wenn auch nur geringen, Vorrang vor allen anderen Dicotylen und Monocotylen einzur\u00e4umen geneigt sein. Man k\u00f6nnte auch daran sich erinnern, dass dieselben jedenfalls diejenige Pflanzenfamilie darstellen, welche in der j\u00fcngsten Zeit die st\u00e4rkste phylogenetische Vermehrung erfahren hat, in der jetzigen Pflanzenwelt alle anderen tui Zahl der Sippen \u00fcbertriffi und wahrscheinlich zu dem Maximum ihrer numerischen Vertretung gelangt ist, so dass in Zukunft wohl wieder Verminderung der Sippenzahl eintreten wird. Al\u00bber aus dieser Thatsuche, durch welche sich die Compositor so charakteristisch im Pflanzenreiche herausheben, l\u00e4sst sich kaum etwas uuf ihren Rung in demselt>en entnehmen.","page":523},{"file":"p0524.txt","language":"de","ocr_de":"Zusammenfassung.\nIn dieser Zusammenfassung verfolge ich im allgemeinen den umgekehrten Weg von dem, welchen die Abhandlung eingesclilagen hat. Ich gehe n\u00e4mlich von dem unorganischen Urzust\u00e4nde aus und suche zu zeigen, wie in demselben die miccll\u00f6s-organisirte Substanz und aus dieser die Organismen mit ihren mannigfaltigen Eigenschaften entstanden sind. Da eine solche Synthese noch weit von einer streng naturgesetzlichen Folgerung aus den gegebenen Stoffen und Kr\u00e4ften entfernt ist, so wird sie auch nur durch die genaue Kenntniss der vorausgegangenen Er\u00f6rterungen verst\u00e4ndlich und einleuchtend. Obgleich das synthetische Verfahren die M\u00e4ngel der Theorie offener darlegt als die analytischen Untersuchungen, so hielt ich es doch f\u00fcr n\u00fctzlich, diese Darstellung zu versuchen, um ein anschaulicheres Bild der ganzen mechanisch - physiologischen Lehre zu geben und zugleich ihre Leistungsf\u00e4higkeit zu pr\u00fcfen.\nI. Aufbau der unorgamsirteu K\u00f6rper (Kristallbildung).\nWenn die getrennten und sich durch einander bewegenden Molek\u00fcle des gel\u00f6sten oder gesclunolzenen Zustandes irgend einer Substanz nach Verminderung der Trennungs- und Bewegungsursachen (der W\u00e4rme oder des L\u00f6sungsmittels) in den ruhenden Zustand \u00fcbergehen, so legen sie sich zu festen, f\u00fcr Fl\u00fcssigkeiten undurchdringlichen Massen an einander, welche durch Auflagerung an der Ober-","page":524},{"file":"p0525.txt","language":"de","ocr_de":"X. ZuMunraenfamang.\n525\nflttche wachsen und, wenn die Molecularkr\u00e4fte ungest\u00f6rt wirken k\u00f6nnen, den regelm\u00e4ssigen inneren Bau und die regelm\u00e4ssige \u00e4ussere Gestillt der Krystalle annehmen. Von den \u00e4usseren Umst\u00e4nden h\u00e4ngen Zahl und Gr\u00f6sse, die Modification der \u00e4usseren Gestalt und die Verwachsungen der Krystalle ab.\n8. 93\u201495.\n2. Aufbau der lebenden organisirten (micell\u00f6sen) K\u00f6rper.\nEinige organische Verbindungen, darunter das Eiweiss, sind weder molecularl\u00f6slich, trotz ihrer grossen Verwandtschaft zu Wasser, noch auch schmolzl>ar und werden deshalb im micell\u00f6sen Zustande erzeugt. Dieselben bilden sich in Wasser, wol>ei sich die unmittelbar ,ieben einander entstehenden Molek\u00fcle zu Krystallanf\u00e4ngen oder Micellen an einander legen. Von den in der Folge sich bildenden Molek\u00fclen k\u00f6nnen nur solche, die ein Micell ber\u00fchren, zur Ver-gr\u00f6sserung desselben beitragen, w\u00e4hrend die \u00fcbrigen wegen ihrer Unl\u00f6slichkeit neue Micelle erzeugen. Daher bewahren die Micelle eine auch f\u00fcr das liewaffnete Auge unsichtlwre Kleinheit.\nDie Micelle umgelxm sich, wegen der Verwandtschaft ihrer Substanz zu Wasser, mit einer verdichteten Wasserh\u00fclle. Ueber dieselbe hinaus \u00fcl>erwiegt die Anziehung zu gleicher Substanz. Daher vereinigen sich die mit Wasser umh\u00fcllten Micelle zu festen (von Wasser durchdrungenen) Massen, wenn nicht die bewegenden Kr\u00e4fte die Anziehung \u00fcberwinden und eine micellare L\u00f6sung herstellen (Eiweiss, Leim, Gummi), wobei die wenig beweglichen Micelle die Neigung zeigen, in kettenartigen und anderen Verb\u00e4nden zusammen zu h\u00e4ngen. Sehr h\u00e4ufig kommen, namentlich beim Eiweiss, halbfl\u00fcssige, zwischen dom ersteren und dem letzteren Zustand befindliche Modificationen vor.\nDie innere und \u00e4ussere Beschaffenheit der micell\u00f6sen K\u00f6rper h\u00e4ngt wesentlich von der Gr\u00f6sse, Gestalt und dynamischen Natur ihrer Micelle ab, indem diese Momente die Anordnung der urspr\u00fcnglich sich vereinigenden und die Einordnung der sp\u00e4ter sich bildenden Micelle bedingen. Die \u00e4usseren Umst\u00e4nde haben auf die Structur geringen und auf die \u00e4ussere Gestalt vorz\u00fcglich nur insofern maasjgebenden Einfluss, als sie die freie Ausbildung mechanisch hemmen k\u00f6nnen.","page":525},{"file":"p0526.txt","language":"de","ocr_de":"520\nX. Zusammenfassung.\nDie Eiweiss- oder Plasmamicelle sind der gr\u00f6ssten Mannigfaltigkeit f\u00e4hig, sowohl r\u00fccksichtlich der Gestalt und Gr\u00f6sse als r\u00fccksichtlich der chemischen Zusammensetzung, da sie aus ungleichartigen Gemengen von verschiedenen Eiweissverbindungen bestehen und \u00fcberdem mit verschiedenen organischen und unorganischen Stoffen als Auf- oder Zwischenlagerungeu vermengt sind. Deswegen verhalten sich auch die chemischen und physikalischen Eigenschaften des Plasmas so sehr verschieden; dasselbe zeigt in Folge der ungleichen Verwandtschaft der Micelle zu Wasser alle Abstufungen von der Micellarl\u00f6sung bis zu ziemlich festen Massen.\nS. 35\u201437, 60\u201468, 95\u201499.\n3. Urzeugung. Leben. Waehsttwm.\nWenn in einer unorganischen Unterlage die Molecnlarkr\u00e4fte so combinirt sind, dass spontane Eiweissbildung stattfindet, so sind mit der Vereinigung der Micelle die primordialen Plasmamassen der Urzeugung gegeben. Im Inneren der letzteren geht fortan unter dem Einfluss ihrer Molccularkr\u00e4fte die Erzeugung von Albumin noch leichter von Statten als ausserhalb in der Fl\u00fcssigkeit. Es treten daher die in der unorganischen Unterlage vorhandenen, der Eiweissbildung f\u00e4higen Verbindungen vorzugsweise in die Plasmamassen ein und bewirken durch Einlagerung von Eiweissmicellen das Wachsthum dersellien. Hierin besteht das organische Leben in seiner einfachsten Form.\nDie Urzeugung setzt die Entstehung von Plasmamicellen aus den Molek\u00fclen voraus und kann daher nicht durch Eiweiss- oder Peptonl\u00f6sungen, da dies micellare Usungen sind, eingeleitet werden. Das Leben setzt die Einlagerung von Plasmamicellen voraus; es h\u00f6rt daher auf, sobald durch sch\u00e4dliche Einfl\u00fcsse die Micellar-\nanordnung so weit gest\u00f6rt ist, dass jener Wachsthumsprocess unm\u00f6glich wird.\nDas durch Urzeugung entstehende Wesen muss vollkommen einfach, eine Plasmamasse mit noch ungeordneten Micellen sein, weil jede Organisation ohne eine vorausgehende organisirende Th\u00e4tig-keit undenkbar ist. Deswegen k\u00f6nnen die bekannten Organismen nicht spontan entstanden sein; es muss ihnen ein Reich von einfacheren Wesen (Probien) vorangegangen sein.","page":526},{"file":"p0527.txt","language":"de","ocr_de":"X. Zusammenfassung.\n527\nDas Wachsthum der Plasmamassen dauert an, so lange die Ern\u00e4hrungsverh\u00e4ltnisse g\u00fcnstig sind. Werden diese ung\u00fcnstig, so tritt je nach Umst\u00e4nden (N\u00e4hrstoffmangel, Temperaturerniedrigung, relatives Austrocknen) Vegetationsruhe (latentes Lehen) oder partieller oder vollst\u00e4ndiger Tod ein. Das Wachsthum der Pflanzen und Thiere ist nichts anderes als die Fortsetzung des im primordialen Plasma l>egonnenen Wachsthums, welches jeweilen in den lebensf\u00e4higen Resten weiter geht.\nS. 83\u2014101.\n4. Partielles Absterben der Individuen. Fortpflanzung.\nDa die primordialen Plasmamassen in unltegrenztcr Weise die N\u00e4hrstoffe anziehen und zum Wachsthum verwenden, so gehen bald da bald dort die N\u00e4hrstoffe aus und \u00ablie Substanz, die nicht mehr ern\u00e4hrt wird, geht gr\u00f6sstentheils zu Grunde. Es stellt sich nun ein allgemeiner Gleichgewichtszustand ein, indem die lebenskr\u00e4ftigen PUismamassen stets ungef\u00e4hr so viel durch Wachsthum zunehmen, als abgestorbenes Plasma zersetzt und in die urspr\u00fcnglichen N\u00e4hrstoffe zur\u00fcck'verwandelt wird.\nDieses Rilanzverfahren ist im primordialen Zustande und auch noch sp\u00e4ter l\u00bbci manchen der nie\u00ablrigsten Organismen ungeregelt und zuf\u00e4llig. Es winl phylogenetisch nach und nach regelm\u00e4ssiger, in der Weise, \u00abhiss die Individuen nur mehr ein 1 gestimmtes Maass der Gr\u00f6sse und \u00ab1er Dauer erreichen und dann zu Grun\u00able gehen, indem bloss die von ihnen abgesonderten Keime lebensf\u00e4hig bleiben. Diese als Fortpflanzung bekannte Erscheinung hat einen doppelten Ursprung.\nA. Das zu lietr\u00e4chtlicher Gr\u00f6sse anwachsende primordiale Plasma, als oine weiche fast halbfl\u00fcssige Masse, zerf\u00e4llt durch die mechanische Wirkung der \u00e4usseren Umst\u00e4nde in kleinere Partien von unbestimmter Zahl und Gr\u00f6sse. Damit ist die unregelm\u00e4ssige und zuf\u00e4llige Fortpflanzung der untersten Stufe gegeben.\nIn den Abk\u00f6mmlingen des primordialen Plasmas wird in Folge \u00ab1er Organisirung der Substanz, besonders in Folge der Hautbildung an \u00ablerselben, \u00ablie Theilung nach und nach regelm\u00e4ssiger, bis endlich in mikroskopisch kleinen Massen, die nunmehr Zellen heissen, die Zweitheilung stets eintritt, nachdem dieselben etwa auf das Doppelte der urspr\u00fcnglichen Gr\u00f6sse angewachsen sind. Nach der Theilung trennen","page":527},{"file":"p0528.txt","language":"de","ocr_de":"528\nX. Zusammenfassung.\nsich die beiden H\u00e4lften von einander und stellen selbst\u00e4ndige Individuen dar.\nIm weiteren phylogenetischen Verlaufe tritt die Zweitheilung der Zellen zwar in der n\u00e4mlichen regelm\u00e4ssigen Weise ein. Al \u00bber die Zellen bleiben mit einander verbunden und bilden mehrzellige, durch Zelltheilung sich vergr\u00f6ssemde Individuen, welche auf den untersten Stufen zuweilen in regelm\u00e4ssigen Intervallen in kleinere Individuen, wohl auch zuletzt in die einzelnen Zellen zerfallen, aus denen aber sonst sich periodisch Zellen abl\u00f6sen, die sich als Keime zu neuen mehrzelligen Individuen entwickeln.\nB. Eine andere Erscheinung, welche am primordialen Plasma oder dessen n\u00e4chsten Abk\u00f6mmlingen ointritt, ist die, dass unter gewissen ung\u00fcnstigen Ern\u00e4hrungsumst\u00e4nden der gr\u00f6ssere Theil des Plasmas zu Grunde geht, indess ein kleinerer Theil auf dessen Unkosten noch orn\u00e4hrt wird und dann w\u00e4hrend der Vegetationsruhe lebenskr\u00e4ftig bleibt.\nDiese Erscheinung wird in den Nachkommen nach und nach zur freien Zellbildung, welche vor der Vegetationsruhe oder vor dem Absterl\u00bben vieler ein- und mehrzelliger Organismen stattfindet und aus einem Theil des Inhaltes der lietreffenden Elterzellen Keime bildet.\nDie Keimbildung durch Zelltheilung (.1) oder durch freie Zellbildung (B) ist die Fortpflanzung der Organismen. Die Keime sind die Elemente, in denen sich das Lelien und das Wachsthum des elterlichen Individuums fortsetzt.\nS. 342 ff. \u00a7 3 u. 4 ; 349.\n5. Morphologie des Idioplasmas im allgemeinen.\nVon dem ungeordneten, weichen und gleichartigen primordialen Plasma, das durch Micelleinlagerung w\u00e4chst, wird der gr\u00f6ssere Theil zu wasserreichem Em\u00e4hrungsplasma mit ungeordneten und leicht beweglichen Miccllen. Der kleinere Theil verwandelt sich phylogenetisch in Idioplasma, indem an einzelnen g\u00fcnstigen Puuklen die unter dem Einfluss der Molecularkr\u00e4ftc sich einlagemden Micelle zu Schaaren mit gleicher Orientirung sich anordnen und daher K\u00f6rper von geringerem Wassergehalt und gr\u00f6sserer Festigkeit bilden. Jeder Idioplasmak\u00f6rper besteht anf\u00e4nglich nur aus einer Micellschaar, die","page":528},{"file":"p0529.txt","language":"de","ocr_de":"X. Zusammenfassung.\n529\naber mit der zunehmenden Einlagerung nothwcndig in mehrere Schaaren zerf\u00e4llt. Die Micellschaaren des Idioplasmas werden verm\u00f6ge ihrer dynamischen Einwirkung auf ihr eigenes Wachsthum theils sch\u00e4rfer ausgepr\u00e4gt und bestimmter geschieden, theils durch neue abweichende Einlagerungen in ihrem Innern abermals diffe-renzirt. Dieser phylogenetische Process, bei welchem die neue Kr\u00e4fte-combination eii\u00eee neue Configuration erzeugt und umgekehrt, setzt sich ohne Ende fort, so dass der Idioplasmak\u00f6rper lediglich durch innere Ursachen, d. h. durch die Molecularkr\u00e4fte der Eiweissmicelle, unter deren Einfluss das Wachsthum vor sich geht, eine stets zunehmende Complication der Configuration annimmt: autonome Vervollkommnung oder Progression des Idioplasmas, Entropie der orga-nisirten Substanz (vgl. \u00a7 8).\nB. Die eben charakterisirtc phylogenetische Vervollkommnung des Idioplasmas durch innere Ursachen wird kaum l>eeintr\u00e4chtigt durch die verschiedene Ern\u00e4hrung und durch die klimatischen Einfl\u00fcsse, welche die Ern\u00e4hrung modificiren. Dagegen sind alle diejenigen \u00e4usseren Kr\u00e4fte, welche w\u00e4hrend langer Zeitr\u00e4ume in gleicher Weise als Reize einwirken, bei der Einlagerung der Micelle in das Idioplasma und bei den molecularen Vorg\u00e4ngen zwischen den Micellen in sehr bemerkbarer Weise betheiligt (\u00a7 11). Die Reizwirkungen voranlassen die eigenartige Ausbildung der unter dem Einfluss des Vervollkommnungstriel>es sich neu einordnenden Micellschaaren. So nimmt die stetig complicirter werdende Configuration des Idioplasmas auch stetig einen den \u00e4usseren Verh\u00e4ltnissen e. \u201e-sprechenden Loealton an: Anpassung des Idioplasmas.\nS. 22\u2014 29, 116\u2014119, 173 \u2014 182.\n6. Function des Idioplasmas im allgemeinen.\nDie ungeordneten Eiweissmicelle des spontan entstandenen Plasmas haben vor dem unorganisirten Zustande, aus dem sie her-vorgegangen, noch keinen anderen Vorzug, als den, dass unter dem Einfluss ihrer Molecularkr\u00e4fte die Bildung neuer gleicher Eiweissmicelle leichter erfolgt. So wie sich al\u00bber durch die fernere Wirkung der Molecularkr\u00e4fte Idioplasmak\u00f6rper mit Schaaren gleich orientirtcr Micelle bilden, so werden die Molecularkr\u00e4fte dieser letzteren zu Massenwirkungen summirt und dadurch neue chemische Processe\ny. N\u00e4gell, Alietammungslchre.\t!14","page":529},{"file":"p0530.txt","language":"de","ocr_de":"630\nX. Zusammenfassung.\neingeleitet, plastische Bildungen aus plasmatischen und nicht plasmatischen Substanzen erzeugt und Massenbewegungen hervorgebracht; \u2014 und da die Idioplasmak\u00f6rper unter dem Einfluss der \u00e4usseren Reizwirkungen sich ausbilden, so treten auch ihre eben genannten Producte stets init einem bestimmten Charakter der An-passung an die Aussenwelt auf.\nSowie dann im weiteren phylogenetischen Verlauf die Idioplasmak\u00f6rper immer complicirter werden und aus einer gr\u00f6sseren Zahl unter sich verschiedener Micellschaaren bestehen, so m\u00fcssen auch die Organismen zusammengesetzter werden und sich in eine gr\u00f6ssere Zahl von Theilen gliedern, weil jede Micellschaar des Idioplasmas ihre specifische Wirkung r\u00fccksichtlich des inneren Baus, der \u00e4usseren Gestaltung und der Verrichtungen aus\u00fcbt.\nS. 30\u201436, 43\u201463, 129\u2014132, 173\u2014182.\n7. Anlagen; Entstehen und Verschwinden derselben.\nDa eine eigenartige Gruppe oder Schaar von MiceUen des Idioplasmas eine eigenartige Erscheinung am Organismus hervorbringt, so wird die erstere als die Anlage der letzteren bezeichnet Der Organismus muss also mindestens so viele Anlagen in seinem Idio-plasma enthalten, als seine erbliche Ontogenie aus verschiedenen Erscheinungen zusammengesetzt ist, und wenn in derselben neue Erscheinungen auftreten, so m\u00fcssen vorher neue Micellgruppen in das Idioplasma eingelagert oder schon vorhandene bez\u00fcglich der Orien-tirung und Anordnung der Micelle umgewandelt werden. Die Bildung einer solchen Anlage, sie mag die Vervollkommnung der Organisation oder die Anpassung an die Aussenwelt betreffen geht immer sehr langsam vor sich; und in der Regel wird sie erst, wenn sie fertig ist, auch entfaltungsf\u00e4hig. Neben den fertigen Anlagen\nbefinden sich daher immer werdende oder unfertige im Idioplasma.\nWenn eine Abstammungslinie unter andere \u00e4ussere Verh\u00e4ltnisse kommt und andere \u00e4ussere Reize auf sie einwirken als bisher, so tritt phylogenetisch eine denselben entsprechende neue eigenartige Micell-anordnung im Idioplasma auf. Dabei bleiben die anderen Anpassungsanlagen entweder ungest\u00f6rt, oder die neue Anlage bildet sich auf Unkosten bereits vorhandener verwandter Anlagen aus, welche zuletzt","page":530},{"file":"p0531.txt","language":"de","ocr_de":"X. Zasammenfassang.\n531\nganz verschwinden k\u00f6nnen. Neben den werdenden und fertigen Anlagen enth\u00e4lt daher das Idioplasma immer auch geschw\u00e4chte und verschwindende Anlagen. Dadurch dass ein phylogenetischer Stamm mehrmals unter andere \u00e4ussere Verh\u00e4ltnisse ger\u00e4th, kann er zuletzt in seinem Idioplasma eine grosse Zahl von werdenden, fertigen und vergehenden Anpassungsanlagen vereinigen. Diese Zahl vermehrt sich betr\u00e4chtlich, wenn infolge von Kreuzung eine Verschmelzung der Idioplasmen verschiedener Sippen stattfindet.\n8. Bestimmte Vorstellung Ober die Morphologie des Idioptasmas.\nIndem bei der phylogenetischen Entwicklung des Plasmas sich in dem weicheren Em\u00e4hrungsplasma das dichtere Idioplasma ausscheidet (\u00a7 6), hat das letztere von Natur die Neigung, eine netzf\u00f6rmige Anordnung anzunehmen. Die Balken dieses Netzes bestehen ihrem Urspr\u00fcnge gem\u00e4ss aus parallelen, der L\u00e4nge nach verlaufenden Micellreihen, welche zu Schaaren niederer und h\u00f6herer Ordnungen vereinigt sind, so dass der Querschnitt der Balken die Configuration des IdioplaBmas darstellt.\nJede Ontogenie (Individuum) beginnt mit einem winzigen Keim, in welchem eine kleine Menge von Idioplasma enthalten ist. Dieses Idioplasma zerf\u00e4llt, indem es sich fortw\u00e4hrend in entsprechendem Maasse vermehrt, bei den Zelltheilungen, durch welche der Organismus w\u00e4chst, in eben so viele Partien, die den einzelnen Zellen zukommen. Die ontogenetische Vermehrung des Idioplasmas geschieht durch das L\u00e4ngenwachsthum der Balken, n\u00e4mlich durch intercalare Einlagerung von Micellen in jede Micellreihe der Balken, welche sich dadurch verl\u00e4ngern, ohne ihre Querschnittsconfiguration zu \u00e4ndern. Demzufolge enth\u00e4lt jeder Idioplasmabalken alle Anlagen, die das betreffende Individuum im Keime geerbt hat, und jede Zelle des Organismus ist idioplasmatisch bef\u00e4higt, zum Keim f\u00fcr ein neues Individuum zu werden. Ob diese Bef\u00e4higung sich verwirklichen k\u00f6nne, h\u00e4ngt von der Beschaffenheit des Em\u00e4hrungs-plasma8 ab. Das Verm\u00f6gen hierzu kommt bei niederen Pflanzen jeder einzelnen Zelle zu ; bei den h\u00f6heren Pflanzen haben es manche Zellen verloren; im Thierreiche besitzen es im allgemeinen nur die zu ungeschlechtlichen oder geschlechtlichen Keimen normal bestimmten Zelien.\n84\u00bb","page":531},{"file":"p0532.txt","language":"de","ocr_de":"632\nX. Zuaammenlaarong.\nDie phylogenetische Fortbildung der Idioplasmastr\u00e4nge geschieht durch das Wachsthum in der Querrichtung. Ihre Querschnittscon-figuration, welche die Summe aller Anlagen enth\u00e4lt, \u00e4ndert sich im allgemeinen nur dann, wenn neue Micellreihen eingelagert werden. Die Micellreihen des Idioplasmas schliessen aber, entsprechend der Dichtigkeit desselben, enge an einander, so dass nur selten neue Reihen eintreten k\u00f6nnen, und zwar nur an den bestimmten Stellen, wo der Zusammenhang weniger fest ist und daher von den Spannungen \u00fcberwunden wird. Der Zusammenhang ist in unregelm\u00e4ssiger Weise ungleich, weil die Configuration des Querschnittes gem\u00e4ss dem Urspr\u00fcnge nie regelm\u00e4ssig ist; die Spannungen werden durch das ungleiche L\u00e4ngenwachsthum der einzelnen Micellreihen verursacht. Auf den Zusammenhang und die Spannungen haben einen entscheidenden Einfluss die dynamischen Einwirkungen, welche die Micellschaaren der bereits erlangten Configuration auf einander aus\u00fcben und welche durch die von aussen kommenden Reize modifient werden k\u00f6nnen.\nDas Idioplasma ver\u00e4ndert mit der Zunahme in den auf einander folgenden Ontogenien seine Configuration stetig, aber verh\u00e4ltniss-m\u00e4ssig \u00e4usserst langsam, so dass dieselbe von dem Keim einor Generation bis zum Keim der n\u00e4chsten Generation einen winzigen Fortschritt macht. Die Summirung dieser Fortschrittsdifferentialc durch eine ganze Abstammungslinie stellt die Stammesgeschichte eines Organismus dar, indem derselbe allein durch sein Idioplasma in ununterbrochener Continuit\u00e4t mit dem einzelligen Anfang seines Stammes zusammenh\u00e4ngt.\nS. 37\u201443, CO\u201468, 116\u2014121\u00bb, 177\u2014182.\n9. Bestimmte Vorstellung ober die Function des Idioplasmas.\nEine plasmatische Substanz verursacht nur dann bestimmte chemische und physikalische Ver\u00e4nderungen, wenn sie sich in einem gewissen Bewegungszustande befindet. Die eigenartige Wirksamkeit, welche das Idioplasma in jedem ontogenetischen Entwicklungsstadium und in jedem Theil des Organismus vollbringt, h\u00e4ngt davon ab, dass jeweilen eine bestimmte Micellgruppe des Strangquerschnittes oder ein Complex von solchen Gruppen th\u00e4tig wild, indem diese locale Erregung durch dynamische Einwirkung und durch Ueber-tragung eigent\u00fcmlicher Schwingungszust\u00e4nde bis auf eine mikro-","page":532},{"file":"p0533.txt","language":"de","ocr_de":"X. Zusammenfassung.\n685\nskopi8ch sehr geringe Entfernung die chemischen und plastischen Proc\u00e8s so beherrscht.\nDer wirksame Erregungszustand einer plasmatischen Substanz wird von ihrer eigenen Beschaffenheit und von der Einwirkung, die sie von aussen empf\u00e4ngt, bedingt. Welche Micellgruppe des Idioplasmas in Erregung gerathe, h\u00e4ngt von der Configuration desselben, von den vorausgegangenen Erregungen und von der Stelle im individuellen Organismus ab, an welcher sich das Idioplasma befindet. Die Anlagen sind w\u00e4hrend der ganzen Abstammungszeit von der Primordialzelle aus nach einander entstanden ; die Configuration des Idioplasmas ist daher eine phylogenetische und die Anlagen in demselben haben von Natur die Neigung, in der Reihenfolge sich zu entfalten, in der sie sich gebildet haben. Indem ferner bei der Keimbildung die neue Ontogenie als einzelliges Individuum beginnt, so kommt diejenige Anlage des Idioplasmas zur Entfaltung, die in dem einzelligen Vorfahr entstanden war, und ebenso unterst\u00fctzen die weiterhin folgenden Entwicklungsstadien die jeweilige Entfaltung der Anlagen, die in den ihnen analogen Vorfahren ihren Ursprung hatten. Die beiden zusammenwirkenden Ursachen, die phylogenetische Configuration des Idioplasmas und die durch dieselbe bedingten auf einander folgenden morphologischen Entwicklungsstadien des Individuums haben zur nothwendigen Folge, dass die Ontogenie die Wiederholung der Phylogenie ist.\nWenn in einer Ontogenie die ganze \u00fcbrige Reihe der idioplas-malischen Anlagen zur Entfaltung gelangt ist, so folgt schliesslich sowohl nach der Configuration des Idioplasmas als nach der Beschaffenheit des Organismus die Erregung der keimbildenden Anlagen; das Individuum ist fortpflanzungsf\u00e4hig und in den Keimen beginnen die neuen Ontogenien.\nS. 30\u201435, 43\u201453, 129\u2014132, 177\u2014182.\n10. Uebertragung der idioplasmatischen Anlagen bei localer Ver\u00e4nderung\nund bei der Befruohtung.\nDie autonome, progressive (oder Vervollkommnungs-) Umwandlung des Idioplasmas ist wahrscheinlich in allen Entwicklungsstadien th\u00e4tig lind erfolgt in allen Theilen des Organismus gleichm\u00e4ssig, weil das Idioplasma seine Configuration w\u00e4hrend der Ontogenie stets","page":533},{"file":"p0534.txt","language":"de","ocr_de":"634\tX. ZoHunmanlMsaiig.\nund \u00fcberall bewahrt Die von aussen kommenden Reise treffen den Organismus gew\u00f6hnlich an einer bestimmten Stelle; sie bewirken aber nicht bloss eine locale Um\u00e4nderung des Idioplasmas, sondern pflanzen sich auf dynamischem Wege auf das gesammte Idioplasma, welches durch das ganse Individuum in ununterbrochener Verbindung sich befindet, fort und ver\u00e4ndern es \u00fcberall in der n\u00e4m-lichen Weise, so dass die irgendwo sich ablOsenden Keime jene localen Reiswirkungen empfunden\timd vererben.\nBei der Keimbildung der geschlechtlichen Fortpflanzung m\u00fcssen die beiden elterlichen Idioplasmen in Ber\u00fchrung mit einander kommen, worauf entweder eine materielle Vereinigung nml Bildung eines gemischten Idioplasmas oder eher eine dynamische Einwirkung und dadurch eine Umbildung, welche aber jenem gemischten Idioplasma vollkommen gleichwertig ist, erfolgt. Befruchtung durch Dicsmose des m\u00e4nnlichen Zeugungsstoffes ist unm\u00f6glich.\nIn dem Idioplasma des bei Kreuzung ungleicher Individuen entstandenen Keimes haben die Micellreihen der \u00abinmlnftp Anlagen bald eine mittlere Beschaffenheit und bringen Eigenschaften an Organismus hervor, welche zwischen den elterlichen die Mitte halten. Bald liegen die v\u00e4terlichen und die m\u00fctterlichen Micellreihen in dem Idioplasma des Kindes unver\u00e4ndert und in verschiedener Gruppirung neben einander und bringen \u00abn Organismus die beiderseitigen Merkmale entweder ebenfalls unvermittelt neben einander oder nur das eine der elterlichen Merkmale hervor, \u00bbnHam das andere latent bleibt.\nWegen der bei der Befruchtung erfolgenden Vereinigung der beiden Idioplasmen verm\u00f6gen zwei zeugungsf\u00e4hige Organismen um so eher mit einander einen entwicklungsf\u00e4higen Keim zu bilden, je n\u00e4her sie genetisch mit einander verwandt sind, je mehr also das m\u00e4nnliche und das weibliche Idioplasma in ihrer Configuration und chemischen Beschaffenheit \u00fcbereinstimmen, weil in diesem Falle die Micell&nordnungen am besten in einander passen und das Idioplasma des beginnenden Keims in der m\u00fctterlichen Ern\u00e4hrung den geeignetsten Unterhalt findet. Wenn trotzdem Selbstbefruchtung oder die engste Inzucht oft Producte von geringerer Existenzf\u00e4higkeit liefert und von der Natur vermieden wird, so ist dies die Folge von sp\u00e4terhin sich geltend machenden Nachtheilen, indem in allzu nahe verwandten Idioplasmen gleichsinnige Storungen vorhanden sein","page":534},{"file":"p0535.txt","language":"de","ocr_de":"X. Zasammenfueang.\n536\nk\u00f6nnen, die bei ungehemmter Ausbildung gef\u00e4hrlich werden; dies trifft um so mehr zu, je complicirter das Idioplasma gebaut ist, w\u00e4hrend den einfachsten (ungeschlechtlichen) Organismen der absolute Mangel der Kreuzung keinen Schaden bringt.\ng. 53\u201460, 206\u2014206, 216\u2014230.\nHl Wirkung der \u00c4usseren Einfl\u00fcsse.\nDie Einfl\u00fcsse der Aussenwelt liefern dem Organismus vor allem Kraft und Stoff f\u00fcr die Lebensvorg\u00e4nge ; sie verursachen, wenn bei den bez\u00fcglichen Kingriffen die idioplasmatischen Ellas ti ci t\u00e4te grenzen nicht \u00fcberschritten werden, keine bleibenden Ver\u00e4nderungen nnH haben nur ontogenetische Bedeutung; sie unterhalten das Wachsthum und den Stoffwechsel der Individuen und bedingen individuelle (nicht erbliche) Verschiedenheiten, welche die Er n&hr un g s-modificationen ausmachen; die von ihnen hervorgebrachten Leistungen erscheinen als die unmittelbaren Folgen der wirkenden Ursachen.\nDie Einfl\u00fcsse der Aussenwelt bewirken ferner, indem ihre Angriffe die idioplasmatischen Elasticit\u00e4tsgrenzen \u00fcberschreiten, dauernde Ver\u00e4nderungen, welche in dem einzelnen Individuum zwar immarlrlinh gering, aber wenn sie durch lange Zeitr\u00e4ume in gleichem Sinne th\u00e4tig sind, sich zu bemerkbarer Gr\u00f6sse steigern. Diese Ver\u00e4nderungen sind als erbliche von phylogenetischer Bedeutung und f\u00fchren zur Variet\u00e4ten- und Speciesbildung; sie erscheinen wohl immer als die Folgen von mehr oder weniger vermittelten Reactionen, welche auf die von den \u00e4usseren Ursachen ausge\u00fcbten Reize eintreten.\nDie von der Aussenwelt auf den Organismus ausge\u00fcbten Reize werden auf das Idioplasma fortgepflanzt. Da der erstere bei jedem Wechsel der Ontogenien zu Grunde geht und nur das letztere ausdauert, so bewirken die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse einzig in dem Idioplasma bleibende Ver\u00e4nderungen, welche erst, nachdem sie zu fertigen und entfaltungsf\u00e4higen Anlagen sich entwickelt haben, an dem Organismus sichtbare Umbildungen hervorbringen.\nDie phylogenetischen Wirkungen der \u00e4usseren Reize geben der durch innere Ursachen complicirter werdenden Configuration des Idioplasmas das bestimmte Anpassungsgepr\u00e4ge und verm\u00f6gen dieses Gepr\u00e4ge wahrscheinlich nur nach Maassgabe der autonomen Ausbildung des Idioplasmas umzugratalten.","page":535},{"file":"p0536.txt","language":"de","ocr_de":"536\nX. ZuuunmeofMsang.\nWenn eine \u00e4ussere Ursache endlos auf eine Abstammungslinie einwirkt, so erreicht die ihr entsprechende Ver\u00e4nderung des Idio-plasmas nach einer gewissen Zeit ihr Maximum und damit ihr Ende, entweder weil in Folge der Umpr\u00e4gung, die den Charakter der Abwehr zeigt, die Ursache nicht mehr als Reiz empfunden wird, oder weil die Beschaffenheit der Substanz keine Steigerung der Umpr\u00e4gung erlaubt. Dauert die Reizeinwirkung nur kurze Zeit, so steht die begonnene Umbildung des Idioplasmas nachher entweder still, oder sie geht infolge des erlangten Anstosses selbst\u00e4ndig fort und die Anlage wird entfaltungsf\u00e4hig, nachdem ihre Ursache l\u00e4ngst schon zu wirken auf geh\u00f6rt hat.\nDa auf einen Reiz eine vielfach vermittelte Umsetzung im Organismus folgt, so kann das Endresultat, das als Reaction zum Vorschein kommt, sehr verschiedenartig ausfallen, und die n\u00e4mliche \u00e4ussere Ursache kann je nach der Beschaffenheit dee Organismus und der \u00fcbrigen Verh\u00e4ltnisse sehr ungleiche Ver\u00e4nderungen zur Folge haben. Sie bewirkt aber im bestimmten Falle imm\u00abr auch ganz bestimmte Ver\u00e4nderungen.\nWegen der mannigfaltigen Vermittlung ist es oft schwer, die \u00e4ussere Ursache einer bestimmten phylogenetischen Anpassungsver\u00e4nderung aufzufinden ; in manchen F\u00e4llen erkennen wir sie zwar unschwer in einer bestimmten mechanischen Action, oder in der W\u00e4rme, im Licht, in der Verdunstung. Meistens erweckt der Reiz in dem Organismus bloss ein Bed\u00fcrfniss, dem letzterer durch Reaction abzuhelfen bestrebt ist, und es scheint, dass auch das Bed\u00fcrfniss oder der Mangel allein schon eine solche Reaction hervorzurufen vermag. In der Geschlechtssph\u00e4re wirken ferner (elektrische?) Anziehungen und Abstoesungen zwischen den idioplasmatischen Anlagen zu phylogenetischen Ver\u00e4nderungen mit.\nDie Anpassungen des entfalteten Organismus, welche Folgen der \u00e4usaern Einfl\u00fcsse sind, bestehen entweder bloss in einer eigent\u00fcmlichen molecularen Beschaffenheit (Reizbarkeit), verm\u00f6ge welcher das Individuum auf jene Einfl\u00fcsse mit vor\u00fcbergehenden oder dauernden Erscheinungen zu antworten bef\u00e4higt ist, \u2014 oder in fertigen Einrichtungen. Die letzteren haben im allgemeinen eine doppelte Function: entwedor sch\u00fctzen sie den Organismus vor den \u00e4usseren Einfl\u00fcssen, deren Folgon sie sind, oder sie setzen ihn in den Stand, dieselben zu seinem Vortheil zu verwenden. Das Vor-","page":536},{"file":"p0537.txt","language":"de","ocr_de":"X. ZaBammenfaMong.\n637\nwiegen der einen oder anderen Reaction f\u00fchrte zu der Entwicklung des Pflanzen- und des Thierreiches. Ira einen Falle bildete das primordiale Plasma in der Colluloeehaut eine reizfeste Bedeckung; wegen dieser f\u00fcr Reize unempfindlichen Zellmembran beschr\u00e4nkten sich die Anpassungen im Pflanzenreiche wesentlich auf die Ern\u00e4h-rungs- und Fortpflanzungssphftre. Im anderen Falle steigerte sich die Reizbarkeit und Beweglichkeit des primordialen Plasmas in der Weise, dass es in den Stand gesetzt wurde, vor dem Reize zur\u00fcckzuweichen oder denselben durch Entgegenkommen dienstbar zu machen; die reizempffingliche Zelle f\u00fchrte im Thierreich zur Bildung der Sinnesorgane und des Nervensystems.\nS. 102\u2014116, 132\u2014182, 316\u2014326.\n12. Phylogenetische EntfaltungsffthigkeH der Anlagen. RflckscMAge.\nLn primordialen Zustande f\u00e4llt Bildung und Entfaltung der Anlagen zusammen, indem das den Organismus constituirende Plasma die F\u00e4higkeit besitzt, durch Einlagerung neuer Micelle zu wachsen und das Wachsthum durch innere und \u00e4ussere Ursachen zu ver\u00e4ndern. Sowie aber das primordiale Plasma sich in Idioplasmu und Em\u00e4lirungsplasma scheidet, so besteht die Anlagenbildung in der Ver\u00e4nderung des Idioplasmas und die Anlagenentfaltung in der Erzeugung von Ern\u00e4hrungsplasma und von nicht plasmatischen Substanzen unter dem Einfluss des Idioplasmas.\nNur die fertige Anlage vermag sich zu entfalten, zumal wenn zugleich eine verwandte, bisher wirksame Anlage. in den entfaltungsunf\u00e4higen Zustand zur\u00fcckgedr\u00e4ngt werden muss. Aber auch wenn es sich um eine ganz neue Anpassungserscheinung handelt, die nicht an die Stelle einer anderen tritt, muss ihre Anlage, ehe sie manifest werden kann, so weit heranwachsen, dass die Molecular-kr\u00e4fte eine hinreichend grosse Summe darstellen. Desswegen \u00e4ndern sich die Merkmale des entfalteten Organismus meistens sprungweise, indess die Umbildung seines Idioplasmas ganz \u00abllmithlifih vor sich gegangen ist.\nDa die Configuration des Idioplasmas durch die autonome Vervollkommnungsbewegung complicirter wird, wodurch der Organismus auf immer h\u00f6here Organisationsstufen sich erhebt, so m\u00fcssen die entfaltungsf\u00e4higen Organisations- oder Vervollkonimnungnanlftgqn","page":537},{"file":"p0538.txt","language":"de","ocr_de":"538\nX. ZuB&mmenfMgung\ndurch jene Bewegung stets nach einer gewissen Zeit \u00fcberholt und in den latenten Zustand versetzt, dann immer mehr geschw\u00e4cht und zuletzt ganz vernichtet werden. Nur in der ersten Zeit nach ihrem Latentwerden verm\u00f6gen solche Anlagen wieder in den entfaltungs-f\u00e4higen Zustand \u00fcberzugehen und somit den Organismus auf die n\u00e4chst fr\u00fchere Organisationsstufe Zur\u00fcckschlagen zu lassen.\nDa die durch innere Ursachen complicirter werdende Configuration des Idioplasmas durch die \u00e4usseren Ursachen stets ein bestimmtes Anpassungsgepr\u00e4ge annimmt, so k\u00f6nnen die entfaltungs&higen Anpassungsanlagen, wenn andere \u00e4ussere Ursachen andere Anpassungsaulagen bewirken, stets geschw\u00e4cht und latent gemacht werden ; sie k\u00f6nnen aber auch jeder Zeit durch die fr\u00fcheren Ursachen wieder gest\u00e4rkt und zur Entfaltung bef\u00e4higt werden, und der Organismus kann daher bez\u00fcglich seiner Anpassung die verschiedenartigsten R\u00fcckschl\u00e4ge zeigen. Bei solchen R\u00fcckschl\u00e4gen kommen aber nie wieder genau die fr\u00fcheren Formen zu Stande, weil mittlerweile das Idioplasma durch die autonome Fortbildung eich etwas ver\u00e4ndert und desshalb auch den Anpassungen, die den fr\u00fcheren Charakter annehmen, einen etwas andern Ausdruck verleiht.\n8. 132\u2014136, 183\u2014191, 330\u2014333.\n13. Ontegenettache Entfaltung der Anlagen.\nDa die urspr\u00fcnglich allein vorhandene Anlage die F\u00e4higkeit des primordialen Plasmas zu wachsen ist, so besteht die ganze Ontog\u00e9nie auf dieser ersten Stufe in der Zunahme der abgel\u00f6sten Partie zu der fr\u00fcheren Gr\u00f6sse. In gleicher Weise ist auch auf allen folgenden Stufen die Entfaltung der Anlagen nichts anderes als das Wachsthum der als Keim abgel\u00f6sten Substanz nach Maassgabe der im phylogenetischen Verlaufe ver\u00e4nderten Beschaffenheit ihres Idioplasmas, wobei auf den untersten Stufen alle Anlagen zur Entfaltung gelangen k\u00f6nnen, auf den h\u00f6heren aber eine zunehmende Zahl von Anlagen latent bleiben muss.\nUnter den entfaltungs&higen Anlagen gibt es solche, die unbedingt w\u00e4hrend jeder ontogenetischen Periode, ferner stellvertretende, von denen unbedingt die eine oder andere, und endlich solche, die nur unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden zur Entfaltung gelangen. Welche von zwei stellvertretenden Anlagen sich entfalte, h\u00e4ngt bald von","page":538},{"file":"p0539.txt","language":"de","ocr_de":"X. Zuaammenfamung.\n539\ninneren, bald von \u00e4usseren Ursachen ab, je nachdem die betreffende Anlage phylogenetisch durch innere oder \u00e4ussere Ursachen ent-standen ist. Auf das Manifestwerden von entfaltungsvagen Anlagen wirken vorz\u00fcglich die klimatischen und Ern\u00e4hrungs-Einfl\u00fcsse ein. Ebenso kommt es, wenn eine Anlage, wie so h\u00e4ufig im Pflanzenreiche, sich wiederholt entfalten kann, vorz\u00fcglich auf die Ern\u00e4hrung an, ob die entsprechende Erscheinung sich sp\u00e4rlich oder h\u00e4ufig wiederhole. Eine geschw\u00e4chte Anlage wird zuweilen durch eine bestimmte Reizwirkung zu vor\u00fcbergehender Entfaltung gebracht.\nLeidet die Integrit\u00e4t des Organismus durch abnormale Eingriffe Schaden, so entfalten sich ausnahmsweise Anlagen an solchen Stellen, wo dies im normalen Zustande nicht der Fall ist; der Vorgang wird angeregt durch Anh\u00e4ufung von N\u00e4hrstoffen und durch \u00e4ussere Reize unter der maassgebenden Leitung des Bed\u00fcrfnisses, welches der verst\u00fcmmelte Organismus empfindet.\nS. 191-196.\n14. Wesen eines Organismus.\nDas Wesen eines Dinges beruht in seinen Ursachen und in seinen Wirkungen. Die Organismen entstehen aus einem Keim, der aus Idioplasma besteht, und erzeugen wieder gleiche Keime. Ihr Wesen beruht also in ihrem Idioplasma, d. h. in der ganzen Summe ihrer idioplasmatisehen Anlagen. Die Beobachtung der Organismen, selbst in der vollst\u00e4ndigsten Entwicklungsgeschichte, gibt uns einen unvollkommenen und \u00fcberdem einen ungetreuen Begriff von ihrem wahren Sein, da sie nur die \u00e4usseren groben Merkmale und diese in einer von zuf\u00e4lligen Ern\u00e4hrungseinfl\u00fcssen abh\u00e4ngigen Modification, nicht aber die in der molecularen Physiologie und Morphologie begr\u00fcndeten feineren Eigenschaften und namentlich nicht die im Idioplasma latenten Anlagen zeigt.\nF\u00fcr die Beurtheilung der idioplasmatischen Eigenschaften sind wir aber auf die wahrnehmbaren Merkmale angewiesen. Die Erkenntniss des wahren Wesens setzt daher allerdings die vollst\u00e4ndige Erforschung der Merkmale in ihrer Aufeinanderfolge w\u00e4hrend der ganzen Ontogenie voraus ; die Ergebnisse m\u00fcssen jedoch durch Vergleichung mit andern Organismen und durch ein m\u00f6glichst umfassendes experimentelles Verfahren (Kultur unter verschiedenen Verh\u00e4ltnissen und Kreuzung","page":539},{"file":"p0540.txt","language":"de","ocr_de":"640\nX Zusammenfassung.\nmit n\u00e4heren und entfernteren Verwandten! gepr\u00fcft und erg\u00e4nzt werden. Durch das experimentelle Verfahren sollen namentlich die Modifications-und allf\u00e4llige Kreuzungsmerkmale von den specifischen Merkmalen geschieden und latente Anlagen zur Erscheinung gebracht werden\n8. 197\u2014198.\n15. Fortpflanzung und Verh<niss zwischen Eltern und Kindern.\nDie Fortpflanzung ist nichts anderes als* der Uebergang von einer Generation zur n\u00e4chstfolgenden, vermittelt durch das Idioplasma des Keims. Bei der ungeschlechtlichen (monogenen) Fortpflanzung besteht Continuit\u00e4t des n\u00e4mlichen Idioplasmas; das elterliche Individuum setzt im Kinde sein specifisches Leben fort, wie der Stamm in seinem Aste, und es bleiben alle durch das Idioplasma bedingten Eigent\u00fcmlichkeiten im Kinde unver\u00e4ndert. Das letztere, als die unmittelbare Fortsetzung der vorhergehenden Ontogenie, kn\u00fcpft an der Stelle an, wo der Keim dieselbe verlassen hat, sodass, je nachdem der Keim am Schlusso der Ontogenie oder fr\u00fcher sich abl\u00f6st, das Kind bald die ganze Ontogenie bald nur den Rest oder einen Theil derselben durchl\u00e4uft (letzteres beim Generationswechsel nnd bei der geschlechtslosen Vermehrung der Geschlechtspflanzen).\nBei der geschlechtlichen (digenen) Fortpflanzung besteht die Keimbildung in der Vereinigung der beiden elterlichen Idioplasmen, und zwar zu gleichen Theilen; das Kind ist die Resultirende aus Kraft und Stoff der Eltern und stellt seinem Wesen nach die geeinte Fortsetzung ihrer Ontogenien dar. Die Entfaltungsmerkmale des Kindes aber h\u00e4ngen ab von der Entfaltungsf\u00e4higkeit der Anlagen in dem gemischten Idioplasma, in welchem sich ein neues Gleichgewicht gebildet hat. Wenn daher das Kind dem Vater oder der Mutter \u00e4hnlicher ist, so kommt dies daher, dass von den geerbten Anlagen die einen sich entfalten, die andern latent bleiben; und wenn das Kind in den wahrnehmbaren Merkmalen \u00fcber beide Eltern hinausgeht, so wird dies nur dadurch m\u00f6glich, dass in ihm Anlagen, die in diesen latent blieben, zur Entfaltung gelangen. Durch den Umstand, dass die Mutter den Keim mit Em\u00e4hrungsplasma versieht oder selbst eine Zeit lang ern\u00e4hrt, wird weder der m\u00fctterliche Erb-schaftsantheil an Anlagen, noch die Entfaltungsf\u00e4higkeit der von der Mutter herstammenden Anlagen erh\u00f6ht.","page":540},{"file":"p0541.txt","language":"de","ocr_de":"X. Zusammenfassung.\n541\nGerathen bei der geschlechtlichen Fortpflanzung zwei stellvertretende Merkmale, von denen das eine dem Vater, das andere der Mutter zukommt, mit einander in Conflict, so kann in dem Kind das eine oder das andere oder selbst ein drittes stellvertretendes Merkmal, das bisher in latenter Anlage vorhanden war, sich entfalten ; es k\u00f6nnen aber auch die l>eidon elterlichen Merkmale zugleich und zwar in verschiedenartigen Vereinigungen auftreten. Ob die Entfaltung in der einen oder andern Weise erfolge, h\u00e4ngt ab von der St\u00e4rke der einzelnen Anlagen, von der Art ihrer idioplasmatischen Zusammonordnung und von ihrem Zusammenstimmen mit der Beschaffenheit des neu constituirten Idioplasmas.\nS 198\u2014215.\n16. Vererbung und Ver\u00e4nderung.\nVerorbung und Ver\u00e4nderung sind, wenn sie nach dem wahren Wesen der Organismen (\u00a7 14) bestimmt werden, nur scheinbare Gegens\u00e4tze. Da von einer Ontogenie auf die n\u00e4chstfolgende bloss Idioplasma \u00fcbertragen wird, so besteht die phylogenetische Entwicklung lediglich in der continuirlichen Fortbildung des Idioplasmas, und der ganze Stammbaum von dem primordialen Plasmatropfen bis zu dem jetzt lebenden Organismus (Pflanze oder Thier) ist eigentlich nichts anderes als ein aus Idioplasma bestehendes Individuum, welches in jeder Ontogenie einen neuen, seinem Fortschritt entsprechenden individuellen Leib bildet.\nIn diesem idioplasmatischen Individuum ist die autonome oder Vervollkommnungsver\u00e4nderung immer th\u00e4tig, sodass das Idioplasma einer Abstammungslinie durch Vermehrung der darin enthaltenen Aidagcn stets w\u00e4chst, wie ein Baum w\u00e4hrend seiner ganzen Lebensdauer durch Verzweigung gr\u00f6sser wird. Die durch \u00e4ussere Reize verursachte Anpassungsver\u00e4nderung dagegen ist nur in denjenigen Perioden der Abstammungslinie wirksam, in welchen das Idioplasma und mit ihm die Individuen nicht das erreichbare Maximum der Anpassung an die jeweilige Umgebung besitzen. Diese beiden idioplasmatischen Ver\u00e4nderungen geschehen so langsam, dass erst nach langen Reihen von Generationen die neuen Anlagen entfaltungsf\u00e4hig und durch Umwandlung der sichtbaren Merkmale manifest werden.\nAusser den genannten phylogenetischen Ver\u00e4nderungen, die nach Massgabe des ontogenetischen Wachsthums stattfinden, erleidet","page":541},{"file":"p0542.txt","language":"de","ocr_de":"542\nX. ZoMunmenfusang.\ndas Idioplasma in Folge der Kreuzung, somit beim Wechsel der Ontogenien, KreuzungsVer\u00e4nderungen, die man als still-stehende bezeichnen kann, da durch die Vermischung der geschlechtlich verschiedenen Idioplasmen nur neue Zusammenordnungen der vorhandenen Anlagen (nicht Neubildungen von Anlagen) und damit auch neue Combinationen der Entfaltungsmerkmale entstehen (\u00a7 15).\nIn Folge sch\u00e4dlicher \u00e4usserer Einwirkungen treten in dem Idioplasma abnormale oder Krankheits-Ver\u00e4nderungen auf, bestehend in Verschiebungen seines Gleichgewichts, ebenfalls ohne Neubildung von Anlagen ; dadurch werden die vorhandenen Anlagen veranlasst, in abnormalen Verh\u00e4ltnissen und meistens in R\u00fcckschl\u00e4gen sich zu entfalten.\nAbgesehen von den aufgez\u00e4hlten erblichen Ver\u00e4nderungen des Idioplasmas und den damit zusammenh\u00e4ngenden Umwandlungen der sichtbaren Merkmale, erfahren das Em\u00e4h ungsplasma und die nichtplasmatischen Substanzen durch die Einfl\u00fcsse der Ern\u00e4hrung und des Klimas gr\u00f6ssere oder geringere Ver\u00e4nderungen, welche die Ern\u00e4hrungsmodificationen darstellen und im grossen und ganzen, da das Idioplasma unber\u00fchrt bleibt, nur so lange andauem als die Ursachen, die sie hervorgerufen haben.\nVon Vererbung als einer specifischen Erscheinung kann, wenn wir das innere Wesen der Organismen im Auge haben, eigentUch keine Rede sein, da die Abstammungslinie ein continuirliches Individuum von Idioplasma ist. In diesem Sinne ist sie nichts anderes als die Beharrung der organisirten Substanz in einer sich ver\u00e4ndernden Bewegung oder der nothwendige Uebergang einer idioplasmatischen Configuration in die n\u00e4chstfolgende; und sie ist nicht bloss zwischen den ontogenetisch geschiedenen Pflanzen- und Thierindividuen, sondern auch innerhalb dieser Individuen \u00dcberall da vorhanden, wo individuelle Theile (Zellen, Organe) der Zeit nach auf einander folgen. Erbliche Erscheinungen sind solche, die mit Nothwendigkeit auf die folgenden Generationen \u00fcbergehen, und im allgemeinen solche, die im Idioplasma ihren Sitz haben, da die nichtidioplasmatische Substanz sich nur durch eine begrenzte Zahl von Zellgenerationen zu vererben vermag.\nGew\u00f6hnlich beurtheilt man Ver\u00e4nderung und Vererbung nicht nach dem innem Wesen, sondern nach dem Verhalten der entfalteten Individuen in den successiven Generationen, indem man","page":542},{"file":"p0543.txt","language":"de","ocr_de":"X. Zusammenfamong.\n543\nVererbung annimmt, wenn die Entfaltungsmerkmale die n\u00e4mlichen bleiben, Ver\u00e4nderung, wenn bisher latente Merkmale manifest werden. Diese Erscheinungen geh\u00f6ren aber einem andern Qebiete an; sie betreffen die Entfaltungsf\u00e4higkeit und Entfaltung der idioplasmatischen Anlagen.\nS. 272\u2014283.\n17. Variet\u00e4t, Ratte, Modification.\nAus den verschiedenartigen Ver\u00e4nderungen der Organismen gehen verschiedene Kategorien von Sippen hervor. Die Variet\u00e4ten entstehen durch die \u00e4usserst langsamen Vervollkoramnungs- und Anpassungs\u00e4nderungen des Idioplasmas, welche, da sie von den n\u00e4mlichen Ursachen bedingt werden, auch in allen Individuen der gleichen Variet\u00e4t in gleichm\u00e4\u00dfiger Weise erfolgen. Die Variet\u00e4ten sind einf\u00f6rmig, unter den verschiedensten \u00e4usseren Verh\u00e4ltnissen durchaus constant, kreuzen sich im allgemeinen nur schwer mit verwandten Variet\u00e4ten, werden durch allf\u00e4llige solche Kreuzungen nicht ver\u00e4ndert und haben eine Dauer von Erdperioden. Die Variet\u00e4ten geh\u00f6ren, im Gegensatz zur Cultur, der freien Natur an ; sie k\u00f6nnen, unbeschadet ihrer specifischen Merkmale, alle m\u00f6glichen Modificationen annehmen, aber keine Kassenunterschiede zeigen, indem Anfang\u00ab zur Rassenbildung durch die Concurrenz stets vernichtet werden ; ihr Verh\u00e4ltnis zu den Species beruht nur darin, dass sie als n\u00e4her verwandte Species oder die Species als entfernter stehende Variet\u00e4ten zu bezeichnen sind, w\u00e4hrend jeder andere unterscheidende Charakter mangelt.\nDie Rassen entstehen durch die Kreuzungs- und Krankheits\u00e4nderungen des Idioplasmas; im ersten Fall setzen sie Kreuzung zwischen verwandten Variet\u00e4ten oder Species, im zweiten Fall eine gesteigerte Empfindlichkeit und Schw\u00e4chung des Idioplasmas voraus ; sehr h\u00e4ufig unterst\u00fctzen sich die beiden Momente, indem die Kreuzung leichter erfolgt, wenn das Idioplasma durch sch\u00e4dliche Einfl\u00fcsse geschw\u00e4cht wird, und indem die Reizbarkeit und Schw\u00e4chung des Idioplasmas sich vermehrt, wenn Kreuzung vorausgegangen ist. Die Rassenbildung beginnt in einzelnen Individuen, und weil die Ursachen verschieden sind, bei mehreren Individuen in verschiedener Richtung, und kann daher eine grosse Vielf\u00f6rmigkeit zeigen. Die Rassen zeichnen sich durch mehr oder weniger abnormale Merkmale aus, sie entstehen rasch, oft in einer einzigen Generation, und besitzen eine sehr ungleiche","page":543},{"file":"p0544.txt","language":"de","ocr_de":"544\nX. Zusammenfassung.\nConstant, die nur bei strengster Inzucht einigermaassen gesichert ist; durch Kreuzung gehen alle Rassen, manche aus Krankheits\u00e4nderungen entstandene Rassen gehen auch schon durch geschlechtliche Fortpflanzung (bei Selbstbefruchtung) zu Grunde. Die Rassen geh\u00f6ren ausschliesslich dem Cultiirzustande an, wo sie vor der Con-currenz gesch\u00fctzt sich entwickeln und bestehen k\u00f6nnen.\nW\u00e4hrend Variet\u00e4ten und Rassen durch fortschrittliche oder stillstehende Ver\u00e4nderungen des Idioplasmas entstehen, werden die Modificationen durch solche Einfl\u00fcsse der Ern\u00e4hrung und des Klimas erzeugt, welche bloss auf das Ern\u00e4hrungsplasma und die nicht plasmatischen Substanzen einwirken und daher nicht erbliche Eigenschaften an den Organismen hervorbringen. Die Modificationen haben nur so lange Bestand, als ihre Ursachen an dauern, und gehen unter anderen Verh\u00e4ltnissen alsbald in die denselben entsprechenden Modificationen \u00fcber ; der Uebergang vollzieht sich bei den niedersten Pflanzen durch eine beschr\u00e4nkte Zahl von Zellengenerationen, bei den h\u00f6heren Pflanzen am n\u00e4mlichen Stock w\u00e4hrend der Bildung eines Jahrestnebes. Jede Variet\u00e4t und jede Rasso tritt stets in einem bestimmten Modificationskleide auf und kann dasselbe in einem ihr eigent\u00fcmlichen Umfange wechseln.\nS. 229\u2014 272, 297\u2014310.\n18. GeseNschaftiiche und gesonderte Entstehung der Arten.\nDie Art geht weder aus der Ern\u00e4hrungsmodification noch aus der Rasse hervor; sie ist stets eine weiter gediehene Variet\u00e4t, und Artbildung daher mit Variet\u00e4tenbildung identisch. Grund zur Ver\u00e4nderung und somit zur Variet\u00e4tenbildung ist immer gegeben, wenn entweder, auch bei gleichbleibenden \u00e4usseren Verh\u00e4ltnissen, die autonome Ver\u00e4nderung des Idioplasmas soweit gediehen ist, dass die Ontogenie sich auf eine h\u00f6here Stufe der Organisation und Arbeitsteilung erhebt, oder wenn die von aussen kommenden Reizeinfl\u00fcsse in oiner mit der bisherigen Anpassung nicht \u00fcbereinstimmenden Weise w\u00e4hrend hinreichend langer Zeit ein wirken. Es entstehen daher leicht verschiedene Variet\u00e4ten aus einer einf\u00f6rmigen Sippe, wenn diese durch locale Trennung unter ungleiche \u00e4ussere Einfl\u00fcsse ger\u00e4th, weil an den gesonderten Orten einerseits die autonome Weiterbildung ungleich rasch vor sich geht und andrerseits die Anpassung ungleich ausf\u00e4llt.","page":544},{"file":"p0545.txt","language":"de","ocr_de":"X. Zusammenfassung.\n545\nIm allgemeinen aber m\u00fcssen die verschiedenen Variet\u00e4ten aus einer einf\u00f6rmigen Sippe gesellschaftlich entstehen, weil die beisammen lebenden Individuen der letzteren wegen der grossen Ungleichheit der \u00e4usseren Einfl\u00fcsse auf die kleinsten Entfern tingln ungleich angeregt werden, und weil ferner auch bei geringer individueller Verschiedenheit auf die n\u00e4mlichen \u00e4usseren Einwirkungen oft ungleiche Reactionen erfolgen. Wenn identische Individuen gleich sehr zu verschiedenen Reactionen auf den n\u00e4mlichen Reiz geneigt sind, so entscheidet manchmal die Richtung der ersten Ver\u00e4nderung \u00fcber den Charakter der Anpassung und somit \u00fcber die Beschaffenheit der Variet\u00e4t, weil die einmal begonnene Ver\u00e4nderung auch unter etwas verschiedenen Einfl\u00fcssen unbeirrt weiter fortschreitat, \u2014 so dass also die auf benachbarten ungleichen Standorten durch Umbildung des Idioplasmas begonnenen verschiedenen Variet\u00e4ten, welche wegen der leichten Verbreitung durch Samen r\u00e4umlich bald vermengt werden, auf allen Standorten in Gesellschaft mit einander sich divorgirend ausbilden.\nDie gesellschaftliche Variet\u00e4tenbildung wird durch die Kreuzung, welche allein die Rassenbildung beherrscht, im Allgemeinen nicht gest\u00f6rt. \u2014 Sie wird erfahrungsgem\u00e4\u00df best\u00e4tigt durch die \u00fcberall sich wiederholende Thatsache, dass mehrere Anf\u00e4nge von allern\u00e4chsten Variet\u00e4ten nicht nur in der n\u00e4mlichen Gegend, sondern selbst auf den n\u00e4mlichen Standorten zusammen Vorkommen, w\u00e4hrend die geographische Verbreitung der besseren Variet\u00e4ten und der verwandten Arten keinen Aufschluss \u00fcber deren Entstehen, sondern bloss \u00fcber die letzten grossen Wanderungen der Pflanzenwelt bietet, weil sie, wie schon aus ihrer Verbreitung selbst sich ergibt, vor dieser Periode entstanden sind.\nEbenso wie verschiedene Variet\u00e4ten gleichzeitig an dem n\u00e4mlichen Orte aus einer Sippe sich bilden, so kann die n\u00e4mliche Variet\u00e4t an weit von einander entfernten Orten entstehen, wenn die analogen \u00e4usseren Reizeinfl\u00fcsse im Idioplasma eine identische Umbildung verursachen. Die erfahrungsgem\u00e4sse Best\u00e4tigung findet sich in der Thatsache, dass die gleichen Variet\u00e4tsanf\u00e4nge oft in weiten Entfernungen von einander auftreten.\nEine scheinbare gesellschaftliche Entstehung der Variet\u00e4ten ist dann gegeben, wenn dieselben die ungleichen Anlagen, die sie an verschiedenen Orten gowonnen haben, enit, nachdem sie durch\n\u25bc. N\u00e4geli, AbsUmmangalehre.\t3g","page":545},{"file":"p0546.txt","language":"de","ocr_de":"546\nX. Zasa\u0153menfuBung.\nWanderung zusammen gekommen sind, entfalten, \u2014 eine scheinbare gesonderte Entstehung der n&mlichen oder auch verschiedener Variet\u00e4ten dann, wenn die Bildung der Anlagen an einem und demselben Ort stattfindet, die Entfaltung der Anlagen aber erst, nachdem die Sippe durch Wanderung sich zerstreut hat, eintritt.\nS. 248\u2014259, 297\u2014310.\n19. Allgemeines Verhalten der phylogenetischen Stimme in den organischen Reiohen.\nDa das Wesen eines Organismus allein auf der Summe seiner idioplasmatischen Anlagen beruht (\u00a7 14), so besteht die Entwicklung eines phylogenetischen Stammes in der Entwicklung dos Idioplasmas, welche aus der mit ihr im allgemeinen parallel gehenden Um\u00e4nderung der sichtbaren ontogenetischen Merkmale erkannt wird. Das Idicplasma ver\u00e4ndert sich auf zweierlei Weise: 1. durch autonome Vervollkommnung, 2. durch die Anpassung an die \u00e4usseren Verh\u00e4ltnisse.\nVerm\u00f6ge der autonomen Ver\u00e4nderung des Idioplasmas erlangen die Ontogenien einer Abstammungslinie eine stets complicirtere Organisation und gr\u00f6ssere Theilung der Functionen, wobeT aber nur die qualitative Verschiedenheit, nicht die quantitative und numerische Vertretung maassgebend ist. Da das Zusammengesetztere mehr Com-binationen zul\u00e4sst als das Einfachere, so kann sich ein phylogenetischer Stamm, wenn er durch die autonome Entwicklung eine h\u00f6here Stufe erreicht, in mehrere St\u00e4mme spalten, von denen jeder als seine Fortsetzung erscheint.\nDa die Anpassungs\u00e4nderung nur von dem Wechsel der \u00e4usseren Verh\u00e4ltnisse abh\u00e4ngt, so kann ein Organismus auf eine h\u00f6here Stufe der Organisation und Arbeitsteilung sich erheben, indem er seine Anpassung beh\u00e4lt und dieselbe bloss entsprechend seiner reicheren Gliederung weiterbildet. Er kann aber auch, indem er auf der n\u00e4mlichen Organisationsstufe verharrt, seine Anpassung ver\u00e4ndern ; und da die Anpassungs\u00e4nderung, obwohl im Verh\u00e4ltniss zur Dauor der Ontogenien \u00e4usserst langsam, doch im Vergleich mit der autonomen Entwicklung rasch sich vollzioht, so kann ein Organismus, so lange er auf der n\u00e4mlichen Stufe der Organisation und Arbeitsteilung verharrt, mehrmals seine Anpassung wechseln. Da es","page":546},{"file":"p0547.txt","language":"de","ocr_de":"X. ZuuammenftuMung.\n547\nforner zahlreiche verschiedenartige Anpassungen gibt, so kann ein Stamm sich auf jeder Stufe in mehrere Anpassungsformen und selbst in ganze Verzweigungssysteme von Anpa.*,'ngsformen spalten, die im System als Arten, Gattungen, oft selbst als ganze Familien erscheinen, wiewohl in andern F\u00e4llen innerhalb einer Familie auch verschiedene Organisationsstufen vertreten sind.\nS. 129\u2014132, 177\u2014182, 197\u2014198.\n20. Entwicklungsgesetze des Pfluizenreiches.\nIn dem probialen Reich, das dem Pflanzen- und Thierreiche vorausgeht, bildet sich aus dem spontan entstandenen Plasma allm\u00e4hlich die selbst\u00e4ndige Zelle mit ihren charakteristischen Eigenschaften : Wachsthum durch Micelleinlagerung, Bildung einer plasmatischen Hautschicht und einer nichtplasmatischen Membran um dieselbe, Theilung der Zelle, Trennung der so entstandenen Zellen, Zellbildung frei im Inhalte. Diese Eigenschaften vererben sich von den Probien auf die phylogenetisch ihnen folgenden Pflanzen und Thiere. Die Entwicklung des Pflanzenreiches geschieht durch folgende gcsctzm\u00e4ssige Processe, die ihre Wirksamkeit durch die ganzen phylogenetischen Reihon bewahren.\nGesetz der phylogenetischen Vereinigung. Die aller-einfachsten Pflanzen sind Zellen von rundlicher Gestalt, welche wachsen und sich durch Theilung, Sprossung oder freie Zellbildung fortpflanzen. Dadurch, dass die Kindzellen, statt sich von einander zu trennen und zu sell>st\u00e4ndigen Pflanzenindividuen zu weiden, mit einander vereinigt bleiben, entstehen aus den einzelligen Pflanzen vielzellige. Der n\u00e4mliche Uebergang der Fortpflanzungszellen in (sich nicht abl\u00f6sende) Gewebezellen wiederholt sich noch mehrmals bei vielzelligen Pflanzen und dient dazu, das Individuum zu ver-gr\u00f6ssem. In diesem phylogenetischen Process gibt sich das Bestreben dor Pflanze kund, Theile, die auf den tieferen Stufen sich losl\u00f6sen und selbst\u00e4ndig werden, auf den h\u00f6heren Stufen zu einem zusammengesetzten K\u00f6rper zu verbinden. Ein gleiches Vereinigungsbestroben zeigt sich auch bei solchen Pflanzentheilen, die durch Verzweigung entstanden sind und nur stellenweise zusammenh\u00e4ngend ein \u00e4stiges System darstellen ; dieselben legen sich auf den h\u00f6heren\n36*","page":547},{"file":"p0548.txt","language":"de","ocr_de":"548\tX. Zusammenfassung.\nStufen zusammen und verwachsen unter einander zu einem con-tinuirlichen Gewebe.\nGesetz der phylogenetischen Complication oder der Ampliation, Differenzirung und Reduction. Die Zellen und \u00fcberhaupt die Theile der Pflanzen, die r\u00e4umlich neben einander liegen, oder zeitlich auf einander folgen, sind auf den tieferen Stufen stets einander gleich. Durch Differenzirung werden sie ungleich, so dass die Summe der Functionen, die unterschiedslos allen Theilen zukam, nun auf die einzelnen Theile geschieden ist, wobei jeder Theil die ihm zukommende Function um so besser auszuf\u00fchren vermag. Die Differenzirung wiederholt sich im phylogenetischen Verlaufe, indem zuerst alle Theile einer Onto-genie sich in zwei oder mehr Partien, dann die Theile dieser Partien sich abermals scheiden u. s. f. \u2014 Neben diesem Scheidungsprocess ist stets ein anderer Vorgang th\u00e4tig, der jenem gleichsam den Boden bereitet, n\u00e4mlich die Ampliation, verm\u00f6ge welcher das Wachsthum der ganzen Ontogenie oder einzelner Abschnitte derselben eine quantitative Steigerung erf\u00e4hrt, so dass ein Organ eine gr\u00f6ssere Zahl von Zellen, ein Verzweigungssystem eine gr\u00f6ssere Zahl von Organen gewinnt Nach dieser numerischen Zunahme der Theile eines Onto-genieabschnittes erfolgt die Differenzirung, soweit es die Natur der Functionen zul\u00e4sst, in der Weise, dass die am meisten geschiedenen Theile durch Zwischenbildungen in einander \u00fcbergehen. Durch den weiteren phylogenetischen Process der Reduction werden dann die Zwischenbildungen unterdr\u00fcckt, so dass zuletzt nur die extremen Producte der Differenzirung, und auch diese quantitativ und numerisch so viel als m\u00f6glich beschr\u00e4nkt, r\u00e4umlich neben einander liegen oder zeitlich auf einander folgen.\nNeben den genannten phylogenetischen Processen, welche durch die autonome Fortbildung des Idioplasmas geschehen, ist eine stete ( Einwirkung der \u00e4usseren Einfl\u00fcsse th\u00e4tig, die dem Organismus jeweilen ein seiner Umgebung entsprechendes locales Gepr\u00e4ge verleihen und den Gesetzen der Anpassung folgen (\u00a75, 11).\nS. 338\u2014425.\n21. Der Generationswechsel in phylogenetischer Beziehung.\nDa die einfachsten Pflanzen Zellen sind und die zusammengesetzteren aus Zellen sich aufbauen, so kann eine ganze Abstain-","page":548},{"file":"p0549.txt","language":"de","ocr_de":"X. Zusammenfassung.\n549\nmungslinie als eine Reihe auf einander folgender Zellgenerationen betrachtet werden. Auf der untersten Stufe sind alle Zellgenerationen einander gleich; auf allen \u00fcbrigen zeigen sie stets gr\u00f6sser und zahlreicher werdende Verschiedenheiten. Es besteht also Generationswechsel der Zellen, indem ihre Generationenreihe in immer mannigfaltigerer Weise sich in Perioden gliedert. Unter diesen Perioden umfasst die ontogenetische Periode oder Ontogenie alle Generationen von einer Zelle bis zur Wiederkehr der ganz gleichen Zellenart. Auf den untersten Stufen der Zellenungleichheit sind die Zellen der successiven Generationen alle selbst\u00e4ndig; die ontogenetische Periode besteht aus einem Cyclus von Generationen einzelliger Pflanzen. Sp\u00e4ter sind die Zellgenerationen einer Ontogenie partienweise zu Pflanzenindividuen verbunden; die ontogenetische Periode besteht aus einem Cyclus von vielzelligen und einzelligen oder bloss von vielzelligen Pflanzengenerationen. Wenn alle Zellgenerationen einer ontogenetischen Periode zu einem einzigen Individuum sich vereinigt haben, so sind die auf einander folgenden Pflanzengenerationen gleich und der Generationswechsel hat aufgeh\u00f6rt.\nDie Ungleichheit der Generationen entsteht entweder durch die inneren Ursachen der zeitlichen Differenzirung allein, oder durch zeitliche Differenzirung, welche ein bestimmtes Gepr\u00e4ge durch den Wechsel der Jahreszeiten erh\u00e4lt. Im letzteren Falle geht aber das Merkmal der Anpassung im phylogenetischen Verlaufe wieder verloren und der Generationswechsel erfolgt dann ohne R\u00fccksicht auf die Jahreszeit. Ist bei den niederen Pflanzen mit dem Generationswechsel die angegebene Anpassung verbunden, so wiederholt sich w\u00e4hrend der ontogenetischen Periode die eine der ungleichen Pflanzengenerationen eine unbestimmte Zahl von Malen (Wiederholungsgenerationen), w\u00e4hrend die andere nur einmal und zwar bei Beginn der Ruhezeit eintritt und in Foim einer Dauerspore bis zum Anfang der n\u00e4chsten Vegetationszeit latent bleibt. An diese eigentliche Uebergangsgeneration, welche auf den tieferen Stufen geschlechtslos, auf den folgenden durch Zusammentreten einer m\u00e4nnlichen und einer weiblichen Zelle entstanden, also androgyn ist, reihen sich gew\u00f6hnlich sp\u00e4ter noch zwei Einzelgenerationen an, n\u00e4mlich eine vor und eine nach der androgynen Generation, jene als geschlechts-crzeugende, diese als geschlechtserzeugte Generation.","page":549},{"file":"p0550.txt","language":"de","ocr_de":"550\nX. Zn\u2014nmenf\u00c9arong.\nDie phylogenetische Bedeutung des Generationswechsels besteht darin, dass er eine Uebergangsstufe von den einzelligen zu den einfacheren vielzelligen und von diesen zu den zusammengesetzteren vielzelligen Pflanzen darstellt. Die Pflanzengenerationen auf irgend einer phylogenetischen Stufe vermehren sich durch Ampliation, werden durch zeitliche Differenzirung ungleich (Generationswechsel) und vereinigen sich zu einem gegliederten Pflanzenindividuum, dessen ungleiche Abschnitte den ungleichen Pflanzengenerationen der fr\u00fcheren Generationenreihe entsprechen.\nS. 426\u2014464.\n22. Morphologie als phylogenetische Wissenschaft.\nAlle Erscheinungen, welche die Organismen darbieten, geh\u00f6ren ihren Ursachen nach zwei verschiedenen Gebieten an. 1. Die einen sind in jeder Ontogenie die Folgen der \u00e4ussem Einfl\u00fcsse und vererben sich nicht ; sie stellen die Em\u00e4hrungsmodifl cationen dar, werden durch Versuche gepr\u00fcft und machen den Inhalt der experimentellen Physiologie aus. 2. Die andern sind geerbt und vererben sich wieder; sie geh\u00f6ren der Physiologie des Idioplasmas an. Das Hauptgebiet der letzteren besch\u00e4ftigt sich mit der Entstehung der Anlagen, sohin mit der Variet\u00e4ten- und Artbildung; es ist allen Versuchen unzug\u00e4nglich und macht die Phylogenie oder die Physiologie der Anlagenbildung aus. Ein kleineres Nebengebiet l>e-sch\u00e4ftigt sich mit der Entfaltung der vorhandenen Anlagen, sohin mit der Rassenbildung ; es wird vorz\u00fcglich durch Kreuzungsversuche\ngef\u00f6rdert und kann als Physiologie der Anlagenentfaltung bezeichnet werden.\nDie morphologischen Erscheinungen, welche in der Systematik ihre Verwendung finden , geh\u00f6ren ausschliesslich dem phylogenetischen Gebiet an. Die ontogenetische Entwicklungsgeschichte gibt uns keinen Aufschluss \u00fcber ihre wahre Bedeutung; diese kann bloss auf phylogenetischem Wege durch Vergleichung einer Erscheinung mit denjenigen, aus denen sie im Verlaufe der Abstammungslinie hervorgegangen ist, erkannt werden.\n8. 456\u2014462, 472\u2014479.","page":550},{"file":"p0551.txt","language":"de","ocr_de":"X. Zusammenfassung.\n551\n23. Das Pflanzensyttem vom phylogenetischen Standpunkt\nDie spontane Entstehung der Organismen hat zu allen Zeiten und an allen Orten stattgefunden, insofern die dazu nothwendigen Bedingungen vereinigt waren. Nach der Entstehung beginnt die autonome phylogenetische Entwicklung und schreitet best\u00e4ndig fort; in Folge dessen erhebt sich die Abstammungslinie von Zeit zu Zeit auf h\u00f6here Stufen der Organisation und Functionstheilung, stirbt aber, wenn die autonome Fortbildung aufh\u00f6rt, als altersschwach aus. Die Abstammungslinien der jetzt lebenden Organismen haben daher ein ungleiches Alter; diejenigen der h\u00f6chst entwickelten Pflanzen und Thiere nahmen ihren Ursprung in den fr\u00fchesten Perioden des organischen Lebens, diejenigen der niedrigsten Organismen in den letzten Perioden. Es besteht also keine allgemeine genetische Verwandtschaft zwischen den jetzt lebenden Sippen; bloss die nahe verwandten und ziemlich auf gleicher Organisationsstufe stehenden k\u00f6nnen als Zweige des n\u00e4mlichen phylogenetischen Stammes betrachtet werden. Ein phylogenetisches Pflanzensystem besteht nicht wirklich, sondern bloss bildlich.\nWenn zwischen zwei Sippen genetische Verwandtschaft, in Wirklichkeit oder als Symbol, angenommen werden kann, so l\u00e4sst sich ihr Verwandtschaftsgrad in theoretisch genauer Weise durch die Zahl und Gr\u00f6sse der phylogenetischen Schritte bestimmen, welche, je nachdem die Sippen der n\u00e4mlichen oder collateralen Linien angeh\u00f6ren, entweder zwischen ihnen beiden oder zwischen ihnen und dem gemeinsamen Ausgangspunkt sich befinden. \u2014 Die Zugeh\u00f6rigkeit zweier Organismen zur n\u00e4mlichen Abstammungslinie ist daran zu erkennen, dass die Ontogenie dos h\u00f6her stehenden diejenige des tiefer stehenden umfasst und als deren naturgem\u00e4sse Weiterbildung sich kund gibt.\nDa wegen der grossen L\u00fcckenhaftigkeit der jetzigen Pflanzenwelt nur eine verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig geringe Zahl von bekannten Formen als Symbole f\u00fcr die ausgestorbenen Entwicklungsstufen eintreten kann, so lassen sich nur wenige und ganz allgemein gehaltene Abstammungslinien feststellen ; eine solche geht von den gr\u00fcnen Fadenalgen durch die Lebermoose zu den Gef\u00e4sspflanzen. In dem Gebiete der scheinbar so reich vertretenen Phanerogamen k\u00f6nnen bloss phylogenetische Entwicklungsreihen der einzelnen Organe, aber keine","page":551},{"file":"p0552.txt","language":"de","ocr_de":"552\nX. ZofiammenfaMiing.\nAbetammung8linien der Familien ermittelt werden. Ein phylogenetisches System der Phanerogamen ist nicht einmal in den rohesten Anf\u00e4ngen zu wagen ; selbst das Rangverh\u00e4ltniss zwischen den beiden Hauptabtheilungen der angiokarpischen Phanerogamen, zwischen Monocotylen und Dikotylen, bleibt fraglich, und ebenso fraglich, welche Familie in jeder dieser beiden Abtheilungen als die vollkommenste zu betrachten sei.\nS. 462\u2014523.","page":552},{"file":"p0553.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schranken\nder\nnatu rwissenschaftl ichen Erken ntn iss.","page":553},{"file":"p0555.txt","language":"de","ocr_de":"Die nachfolgende Abhandlung ist eine Gelegenheitsschrift, welche in dem Tageblatt der 50. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerate in M\u00fcnchen 1877 ver\u00f6ffentlicht und in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt wurde. Sie kam aber nicht bloss gelegentlich, sondern auch eilfertig zu Stande, wie ich schon bei der Ver\u00f6ffentlichung zur Erkl\u00e4rung der wenig sorgf\u00e4ltigen Ausarbeitung eines \u00f6ffentlichen Vortrages in einer Anmerkung1) darzuthun veranlasst war. Ich lasse dem Vortrage seine urspr\u00fcngliche Form und schalte nur eine kurze Ausf\u00fchrung \u00fcber die Grenze zwischen der unorganischen und organischen Natur ein, wie dieselbe schon in dem ersten Entwurf enthalten war.\nWenn aber auch die Abhandlung in ihrer Form das gelegentliche und fl\u00fcchtige Machen verr\u00e4th, so gilt dies nicht von ihrem Inhalte. Derselbe war nicht bloss Jahre lang erwogen worden, sondern er stellte selbst das Ergebniss der Gedankenarbeit eines ganzen Lebens dar, und auch seit der Abfassung haben weder fremde Ein-wtirfe, noch eigene Ueberlegung mich zu irgend einer Aenderung zu veranlassen vermocht.\nEs sei mir gestattet, den Entwicklungsgang meiner Erkenntniss in seinen allgemeinen Z\u00fcgen daraulegen. Schon in meinen Lehr-\n*) \u00bbDieser Vortrag musste einen der Vortr\u00e4ge des Programms, f\u00fcr weiche ausw\u00e4rtige Mitglieder aufgefordert worden, ersetzen. Am Schl\u00fcsse des Sommersemesters machte Herr Prof. Tschermak die Anzeige, dass er verhindert sei, nach M\u00fcnchen zu kommen. In Folge dessen erhielt der Verfasser von den Gesch\u00e4ftsf\u00fchrern die Aufforderung, in die L\u00fccke einzutreten. Derselbe war im Begriffe dringende Gesch\u00e4fte zu erle<ligen und nachher eine Reise in die Alpen anzutreten. Der Vortrag tr\u00e4gt die Spuren seines Ursprungs, indem auf einer Gebirrsreise weder Gelegenheit, noch die n\u00f6thigo Sammlung zu einer sorgf\u00e4ltigeren Ausarbeitung gegeben sind.\u00ab","page":555},{"file":"p0556.txt","language":"de","ocr_de":"556\nDie Schranken der natarwiesenschaftUchen Erkennte!\u00bb.\njahren, als ich auf der Universitftt mich mit Naturwissenschaften zu besch\u00e4ftigen begann, hatte ich den Drang, das Aufgenommene unter sich in Verbindung zu bringen und unter allgemeinen Gesichtspunkten zusammen zu fassen. Diese angeborene Neigung wurde durch das Colleg Oken\u2019s \u00fcber Naturgeschichte gef\u00f6rdert und auf das Allerallgemeinste hingeleitet. Gl\u00fccklicherweise fand sie eine Correctur in einer anderen angeborenen und ebenso starken Neigung zur Kritik, welche mir verbot, irgend eine Theorie als richtig anzuerkennen, wenn dieselbe nicht durch sichere Thatsachen begr\u00fcndet war oder wenigstens nicht in Widerspruch mit solchen sich befand. Deswegen war ich zwar von dem idealen Streben Oken's begeistert, konnte mich aber mit seiner willk\u00fcrlich schematischen Ausf\u00fchrung nicht befreunden, ebenso wenig als ich es vermochte seine Naturphilosophie zu h\u00f6ren.\nUeberhaupt versagte mir ein strenger Realismus, welcher eine Verallgemeinerung nur dann begriff, wenn sie an concretan Beispielen klar gemacht werden konnte, jedes Verst\u00e4ndniss f\u00fcr metaphysische Dinge. Am Schl\u00fcsse meiner Studienjahre versuchte ich es zwar noch in Berlin, einem Colleg \u00fcber Hegel\u2019sehe Philosophie zu folgen und aus den Schriften Hegel\u2019s mir eine Vorstellung \u00fcber seinen Gedankenflug zu bilden. Es war dies aber ein ganz fruchtloses Bem\u00fchen ; ich konnte in den voTgetragenen Abstractionen mit dem besten Willen nichts Verst\u00e4ndliches und Vern\u00fcnftiges finden. Ich erw\u00e4hne dieses Umstandes namentlich auch deswegen, weil wenige Jahre nachher Schleiden mich als Hegelianer denunzirte. Bei Anlass einer Polemik \u00fcber den Unterschied zwischen Flechten und Pilzen, in welcher ich zeigte, dass die thats\u00e4chlichen Verh\u00e4ltnisse im Widerspruche mit den Behauptungen Schleiden\u2019s seien, lenkte derselbe mit der ihm eigenen kecken Dialektik die Aufmerksamkeit des Lesers auf ein ganz fremdes Gebiet mit dem Ausspruch : \u2022 \u00bbMein Freund N\u00e4geli ist Hegelianer\u00ab, womit wohl nahegelegt werden sollte, dass zwischen einem Kant - Friesianer und einem Hegelianer eine Verschiedenheit der Auffassung nicht \u00fcberraschen k\u00f6nne. \u2014 Ich hatte seit jener Zeit keine Gelegenheit, \u00fcber das Ver-h\u00e4ltniss der Naturforschung zur Philosophie zu sprechen und war darum auch nie im Falle, mich gegen den Ausspruch Schleidens verwahren zu k\u00f6nnen. Da er in den \u00bbGrundz\u00fcgen der wissenschaftlichen Botanik\u00ab enthalten war und daher auch allgemein bekannt","page":556},{"file":"p0557.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schranken dor naturwissenschaftlichen Erkenntnis*.\t557\ngeworden ist, so spreche ich jetzt noch davon ; denn es m\u00f6chte sonst wohl r\u00e4thselhaft erscheinen, wie die einstige Heeresfolge Hegel\u2019s sich zu dem strengen Realismus und der n\u00fcchternen Kritik, wie sie in dieser Abhandlung vertreten sind, entwickeln konnte.\nWas dieVeranlassung zu der sonderbaren Aeusserung Schleiden\u2019s gegeben hat, weiss ich zwar nicht sicher, vermuthe aber, dass es der Ausdruck \u00bbabsolute Begriffe\u00ab war, den ich gebraucht hatte, und mit dem ich \u2014 weit entfernt von einer Hegel\u2019schen Abstraction \u2014 bloss den Charakter der absolut verschiedenen, specifischen Erscheinungen im Pflanzenreiche bezeichnen wollte. Ich befand mich n\u00e4mlich damals noch auf dem bei den Botanikern und Zoologen allgemein herrschenden Standpunkt von absoluten, nicht durch Ueber-g\u00e4nge verbundenen specifischen Unterschieden, ohne deswegen die schon von Lamarck gelehrte Abstammung der Arten von einander *u verwerfen. Damit komme ich nun auf die selbst\u00e4ndigen Bestrebungen der Wanderjahre. Die genannten absoluten Begriffe gingen aus folgendem Gedankengang hervor, der mir in jenem Stadium der geistigen Entwicklung zu der richtigen Erkenntniss der nat\u00fcrlichen Dinge zu f\u00fchren schien.\nDie g\u00f6ttliche, alle Materie durchdringende Vernunft hat die realen Erscheinungen geschaffen; ihr Abbild, die menschliche Vernunft, vermag bloss die formalen Begriffe der Mathematik hervorzubringen. In beiden Gebieten des Schaffens m\u00fcssen analoge Gesetze walten; das Verh\u00e4ltniss, in dem die Begriffe der nat\u00fcrlichen Dinge zu einander stehen, muss dem Verh\u00e4ltniss zwischen den formalen Begriffen entsprechen. Gleichwie die letzteren von der Mathematik aus einander abgeleitet werden, so m\u00fcssen die Begriffe der materiellen Existenzen von den Naturwissenschaften aus einander sich entwickeln lassen. Da aber die mathematischen Begriffe zum Theil absolut von einander verschieden sind (z. B. die Linien oder Fl\u00e4chen verschiedener Ordnungen), so folgt eine gleiche absolute Verschiedenheit auch f\u00fcr viele nat\u00fcrlichen Erscheinungen, und f\u00fcr die Organismen eine sprungweise Aufeinanderfolge.\nDieser Standpunkt der Wanderjahre, in welchem ein K\u00f6rnchen Wahrheit von einem grossen Irrthum umh\u00fcllt ist, wurde durch das genaue und gr\u00fcndliche Studium der concreten Dinge bald \u00fcberwunden. Schon im Jahre 1853 war ich der Ueberzeugung, dass von absoluten Unterschieden in der Naturgeschichte f\u00fcglich nicht","page":557},{"file":"p0558.txt","language":"de","ocr_de":"f)58\nDio Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis\u00ab.\ndie Redo sein k\u00f6nne, und im Jahre 1856 habe ich es bestimmt ausgesprochen, dass die Arten durch allm\u00e4hliche Ueberg\u00e4nge sich in einander verwandeln m\u00fcssten. F\u00fcr das Absolute fand ich in dem wissenschaftlich zu erkennenden Gebiete keinen Platz mehr und setzte die Grenze f\u00fcr das Wissen \u00fcberall da, wo die Unendlichkeit in Zeit, Raum und Theilbarkeit l>cginnt; \u00bbwas ausserhalb der endlichen materiellen Erscheinung liege, liege auch ausserhalb der Macht der Naturwissenschaften\u00ab. F\u00fcr das geistige Gebiet glaubte ich noch eine andere Behandlung als die der exacten naturwissenschaftlichen Methode fordern zu sollen1).\nSeitdem gelangte ich immer mehr zu der klaren Ueberzeugung, dass cs in der Natur keine Kluft gibt, welche verschiedene Gebiete trennte, dass in allen ihren Erscheinungen die n\u00e4mlichen Gesetze herrschen, dass das geistige Leben nicht im Menschen oder im Thier als etwas principiell Neues beginnt, sondern dass die Elemente, aus denen es l>esteht, schon in der Pflanze und im Unorganischen vorhanden, al>er nur viel einfacher combinirt sind. Daraus ergab sich als logische Folgerung, dass f\u00fcr die Erkonntniss in allen Erscheinungen ohne Ausnahme die gleichen Bedingungen und somit die gleichen Grenzen bestehen, dass mit dem Complicirtcrwerden der Erscheinungen die Schwierigkeiten des Erkennens zwar gr\u00f6sser al)er nicht qualitativ andere werden, dass das Gebiet des Vorstellbaren und Wissharen alles Endliche und Relative an den Dingen, das Gebiet des Mystischen und Unbegreiflichen al>er das Absolute, Unendliche, Ewige, G\u00f6ttliche ist. Dieser Gedanke nun wird in der vorliegenden Abhandlung ausgef\u00fchrt und begr\u00fcndet.\nDa ein exactes Urtheil nur so weit m\u00f6glich ist, als der eigene Horizont reicht und als ein Jeder die Dingo wirklich zu \u00fcberschauen vermag, so sind auch die Urtheile \u00fcber das Gebiet, welches unserer Vorstellung und Erkenntniss zug\u00e4nglich ist, verschieden. Ich unterlasse es, auf polemische Beurtheilungen, welche mein Vortrag erfahren hat, einzugehen. Bedingung f\u00fcr die Verst\u00e4ndigung w\u00e4re ja stets ein gleicher geistiger Horizont, und es w\u00fcrde mir ohne Zweifel von einer der gegnerischen Seiten vorgehalten werden, dass der meinige nach der Seite des metaphysischen Gebietes hin beschr\u00e4nkt sei, was ich unbedingt zugebo, ohne deswegen einzur\u00e4umen, dass\n*) In der Einleitung zn \u00bbDie Individualit\u00e4t in der Natur\u00ab. 185C>.","page":558},{"file":"p0559.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schranken \u00ab1er iiaturwiBAcniic.'iaftlichen Erkenntnis.\t559\nder gegnerische um etwas anderes als um eine duftige und gestaltlose Feme erweitert ist.\nDie Bestimmung der Grenze, bei welcher grunds\u00e4tzlich die Er-kcnntniss aufh\u00f6ren und derGlaube beginnen muss, hat als L\u00f6sung eines theoretischen Problems bloss wissenschaftliche Bedeutung. Sie gibt nur die un\u00fcberschreitbare Linie f\u00f6r das Wissbare \u00fcberhaupt, nicht aber ein Maass des Gewussten und cljenso wenig eine Norm f\u00fcr das Glaubensgebiet des Einzelnen, welches stets durch den Umfang des verstandesmftssigen Begreifens bestimmt wird. Das praktisch Ver-werthbare findet sich h\u00f6chstens in dem gewonnenen Bewusstsein, dass die Schranke, wo dem menschlichen Wissen f\u00fcr immer Halt geboten ist, uns so nahe liegt, und dass, wonn wir einige der diesseits gelegenen kleinen R\u00fcthsei wirklich zu l\u00f6sen verm\u00f6gen, die jenseitigen grossen R\u00e4thsel an und f\u00fcr sich unl\u00f6sbar sind. Dieses Ergebniss zeigt nur im allgemeinen, dass die exacte wissenschaftliche Erkenntniss mit der im Menschen lebenden Ahnung nicht im Widerspruche steht. Dasselbe tritt in scharfe Opposition gegen die Uebcrhebung, deren sich sowohl die Philosophie als der philosophische Materialismus schuldig machen, wenn sie den menschlichen Geist ganz oder zum Tlieil an die Stelle dos Ewigen setzen und Fragen, die jenseits der Endlichkeit liegen, beantworten wollen; al>er es l\u00e4sst die den jeweiligen Bed\u00fcrfnissen entsprechenden Glaubenssymbole unl>er\u00fchrt. Es zeugte daher von keinem besonderen Verst\u00e4ndniss, wenn meinem Vortrage materialistische, von der orthodox - protestantischen Kreuzzeitung sogar nihilistische Tendenzen vorgeworfen wurden, \u2014 wenngleich anderseits die gute Note, welche die ultramontan-katholische Germania dem Vortrag durch vollst\u00e4ndigen Wiederabdruck ertheilt hat, nicht weniger \u00fcberraschend war.","page":559},{"file":"p0560.txt","language":"de","ocr_de":"Hochgeehrte Versammlung!\nMein heutiges Thema wurde vor einigen Jahren bei der Zusammenkunft in Leipzig 1872 von Herrn Prof. Du Bois Reymond in ausgezeichneter Weise besprochen. Wenn ich den n\u00e4mlichen Gegenstand wieder aufnehme, so geschieht es, weil ich densell>en von einem etwas verschiedenen und umfassenderen Gesichtspunkte aus betrachten m\u00f6chte.\nAuch in Form und Sprache will ich mir eine Abweichung von den mannigfaltigen bisherigen Behandlungen erlauben. Der Gegenstand in seiner Allgemeinheit verleitet leicht zu Streifz\u00fcgen auf das philosophische Gebiet und zu der entsprechenden Ausdrucksweise. Ich werde mich einer m\u00f6glichst einfachen und n\u00fcchternen Sprache bedienen und nichts anderes voraussetzen, als die Kenntniss der elementarsten Erscheinungen in den verschiedenen Gebieten der Natur. In allgemeinen Dingen wird ja der Ausdruck stets um so einfacher und verst\u00e4ndlicher, je mehr man sich der Klarheit und damit auch der Wahrheit n\u00e4hert.\nEhe ich den Gegenstand selbst in Angriff nehme, scheint es zweckm\u00e4ssig, kurz der verschiedenen Arten zu gedenken, wie die Frage \u00fcber die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss von den Naturforschern meistens aufgefasst und beantwortet wird.\nEs ist eine unter den sogenannten Praktikern weit verbreitete Ansicht, dass eine sichere und bleibende Erkenntniss nat\u00fcrlicher Erscheinungen \u00fcberhaupt unm\u00f6glich sei. Dieselben wissen, dass ihre Systeme und Meinungen bisher keinen Bestand hatten, und sie denken sich, dass die wissenschaftlichen Theorien \u00fcberhaupt nur Versuche seien, sich der unerreichbaren Wirklichkeit zu n\u00e4hern, Versuche, welche mit den Anschauungen der Zeit Inhalt und Ausdruck","page":560},{"file":"p0561.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis\u00ab.\t5\u00dfj\nvor\u00e4ndem. Dies ist augenscheinlich keine grunds\u00e4tzliche Ansicht, sondern die durch den Misserfolg hervorgerufene Verzweiflung, die nothwendige Folge der falschen Methode und der naturwissenschaftlichen Unf\u00e4higkeit.\nDer Praktiker verl\u00e4sst sich angeblich auf seine Erfahrung. Diese al>er kommt auf folgende Weise zu Stande. Bei jeder Naturerscheinung sind verschiedene, oft zahlreiche Ursachen und begleitende Umst\u00e4nde betheiligt. Die Aufgabe des Naturforschers ist es, zu ermitteln, was von den einzelnen Ursachen und Umst\u00e4nden bewirkt wird ; sie kann in den meisten F\u00e4llen durch Beobachtung allein nicht gelbst werden. Der Praktiker greift nun irgend eine Ursache oder einen Umstand heraus, der ihm gerade in die Augen springt und findet darin den Grund der Erscheinung ; dies nennt er seine Erfahrung. Es ist daher begreiflich, dass .die Praktiker unter einander verschiedener Ansicht \u00fcber die n\u00e4mliche Erscheinung sind, dass ihre Meinungen das Gepr\u00e4ge der wissenschaftlichen Epoche tragen und mit der Zeit wechseln. Es ist ebenfalls begreiflich, dass die auf sogenannte Erfahrung sich berufenden Theorien in denjenigen Gebieten noch ihre \u00fcppigsten Bl\u00fcthen treiben, wo die Erscheinungen am verwickeltsten sind, in der organischen Morphologie, in der Physiologie und Pathologie.\nDas Problem einer Naturerscheinung ist eine algebraische Gleichung mit vielen unbekannten Gr\u00f6ssen. Der Praktiker sieht sich die Gleichung an und versucht die L\u00f6sung derselben, indem er f\u00fcr die eine oder andere Unbekannte einen meist grossen und entscheidenden Werth einsetzt; die Probe der Richtigkeit macht er nicht. \u2014 Es erfordert nicht viel zur Einsicht, dass auf diesem Wege allerdings die L\u00f6sung und damit die Erkenntniss in Ewigkeit nicht erreicht wird.\nDie L\u00f6sung einer Gleichung mit vielen Unbekannten ist nur m\u00f6glich, wenn man dazu ebenso viele Gleichungen zu gewinnen weiss, in denen die n\u00e4mlichen Unbekannten enthalten sind. Da dies bei Naturerscheinungen gew\u00f6hnlich nicht m\u00f6glich ist, so sucht man sich Gleichungen zu verschaffen, in denen nur eine unbekannte Gr\u00f6sse vorkommt. Dies geschieht durch den wissenschaftlichen Versuch, der mit dem sogenannten Versuch der Praktiker nichts gemein hat, da alle unbekannten Gr\u00f6ssen bis auf eine einzige entfernt und dadurch derWerth und dieWirkung dieser einen sicher ermittelt worden.\nT. Nllfelt Ab\u00abUminnnn1i>)<n>\tq,;","page":561},{"file":"p0562.txt","language":"de","ocr_de":"Mil\tt)ie Schranken der R\u00e4turwiMenachaftlichen Krkenntnim.\nSchon l\u00e4ngst hat die Physik den Weg dos wissenschaftlichen Experimentes eingeschlagen. Die Physiologie hat denselben erst in neuerer Zeit allgemeiner als den richtigen erkannt. Auf diesem zwar m\u00fchsamen und zeitraubenden, aber einzig sicheren und f\u00f6rdernden Wege werden allerdings nicht grosse Geb\u00e4ude von Systemen aufgef\u00fchrt, die nur das Schicksal haben k\u00f6nnten, bald wieder zusammenzust\u00fcrzen ; \u2014 sondern es werden bloss einzelne, an und f\u00fcr sich vielleicht unscheinbare Thatsachen gewonnen, die aber f\u00fcr immer ihren Werth bewahren und zur Auffindung neuer Thatsachen bef\u00e4higer. So vermehrt sich der Stock der erkannten Thatsachen zwar langsam aber stetig. Eine Schnecke, die den geraden Weg nach ihrem Ziele einschl\u00e4gt, kommt vorw\u00e4rts, indess die Heuschrecke mit ihren Kreuz- und Querspr\u00fcngen auf der Stelle bleibt. So beweist die wissenschaftliche Empirie den praktischen Empirikern durch die That, dass vermittelst der exacten Methode sichere und bleibende Erkenntnisse der Naturerscheinungen gewonnen werden k\u00f6nnen.\nViele methodisch.! Naturforscher, welche auf exactem Wege den Stock der feststehenden Thatsachen vennehren, geben auf die Frage nach den Grenzen der Naturorkenntniss, indem sie eine grunds\u00e4tzliche L\u00f6sung f\u00fcr unzul\u00e4ssig halten, bloss die thats\u00e4chliche Antwort: \u00bbDer Glaube beginnt immer da, wo das Wissen aufh\u00f6rt.\u00ab Dabei verfolgen sie diesen Gedankengang. Die Menschheit tritt an die Gesammtheit der Natur heran. Ihre Einsicht bew\u00e4ltigt durch Forschung und Nachdenken stets neue Gobiete. So ist beispielsweis die Jetztzeit in der Erkenntniss der Natur viel weiter voigcdrungen als Mittelalter und Altorthum, und die europ\u00e4ische Cultur ist der \u00fcbrigen Menschheit weit voran. Mit der fortschreitenden geistigen Arbeit wird also das Reich des Wissens immer umfangreicher, und das Reich, wo wir uns mit dem Glauben begn\u00fcgen m\u00fcssen, immer mehr beschr\u00e4nkt.\nDiese Auffassung hat einen unverkennbaren Werth in gewisser Beziehung. Sie gibt uns den Maassstab f\u00fcr die Stufe, welche dio naturwissenschaftliche Bildung im allgemeinen in jedem Jahrhundert erreicht hat, und ebenso den Maassstab im einzelnen f\u00fcr die verschiedenen Menschenrissen und V\u00f6lker, f\u00fcr verschiedene (Hassen","page":562},{"file":"p0563.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis\u00ab.\t5^3\neines Volkes un<l endlich f\u00fcr jedes einzelne Individuum. Eis gew\u00e4hren solche Erhebungen ebenso grosses wissenschaftliches Interesse f\u00fcr den Geschichtsforscher und Anthropologen, als praktisches Interesse f\u00fcr den Theologen, den Politiker und selbst f\u00fcr eine Menge von \u00dferufsarten.\nDer Satz, dass unser Glaube da beginne, wo das Wissen aufh\u00f6re, ist eine thats\u00e4chlichc L\u00f6sung f\u00fcr bestimmte Zwecke. Damit ist unser Interesse nicht befriedigt. Mit besonderer Theilnahme wenden wir uns der theoretischen Seite des Problems zu. Wir w\u00fcnschen zu wissen, ob die Grenze, wo das menschliche Wissen Halt machen mu\u00e7s, \u00fcberhaupt bestimmbar sei oder nicht, \u2014 wenn ja, wie weit die Erkenntniss \u00fcberhaupt in die Natur einzudringen verm\u00f6ge, wie viel die Menschheit von der Natur wissenschaftlich zu begreifen verm\u00f6chte, wenn sie eine ungemessene Zeit, sagen wir geradezu eine Ewigkeit, sich mit Naturwissenschaften besch\u00e4ftigte und wenn ihr dazu alle denkbaren Hilfsmittel zu Gebote st\u00e4nden, \u2014 welches also die Schranken seien, welche die wissenschaftliche Erkenntniss der Natur niemals und unter keinen Bedingungen zu \u00fcberschreiten vermag, \u2014 welches die grunds\u00e4tzliche Grenze zwischen dem Gebiete des Wissens und dem Gebiete des Glaubens sei.\nDie strenge Untersuchung dieser Frage verdient um so mehr wiederholt in Angriff genommen zu werden, als bekanntlich von zw^i entgegengesetzten Seiten mit vollkommener Bestimmtheit die absolute Herrschaft des menschlichen Geistes \u00fcber die Natur in Anspruch genommen wird, \u2014 mit abnehmender Energie von der naturphilosophischen, mit zunehmender Energie von der materialistischen Geistesrichtung. Jene w\u00e4hnt, die formale Natur aus sich con-struiren zu k\u00f6nnen, und das Naturerkennen besteht f\u00fcr sie in nichts anderem als darin, f\u00fcr die construirten abstracten Begriffe die con-creten Naturerscheinungen aufzusuchen, \u2014 wobei ihr freilich in keinem Punkte die Selbstt\u00e4uschung erspart bleibt, die Begriffe nach Maassgabe dor sinnlichen Wahrnehmungen, statt aus sich zu con-struiren. Diese l\u00e4sst nichts anderes als Kraft und Stoff in Zeit und Raum gelten und es erscheint ihr daher eine vemunftgem\u00e4sse Annahme, dass der aus Kraft und Stoff aufgebaute Mensch die aus den gleichen Faetoren zusammengesetzte Natur bew\u00e4ltigt. Beide, die naturphilosophische und die materialistische Richtung stellen den Menschen auf eine f\u00fcr sein Selbstbewusstsein sehr schmeichel-\n36*","page":563},{"file":"p0564.txt","language":"de","ocr_de":"564\nDio Schranken der naturwiaaennchaftlichon Erkenntnis\u00ab.\nhafte Hohe; \u2014 sie erkl\u00e4ren ihn zum Herrn der Welt, zwar nicht zum wirklichen Herrn, der die Welt macht, aber doch zum eingebildeten Herrn, der das Werk des wirklichen Herrn begreift. \u2014 K\u00f6nnen wir diese Herrscherrolle mit Qrund beanspruchen?\nDiese Frage ist \u00f6fter und von verschiedenen Standpunkten aus zu beantworten versucht worden, wohl am besten von meinem Vorg\u00e4nger in diesem Kreise, von Du Bois Reymond in der vielbesprochenen und vielfach missverstandenen Rede >Ueber die Grenzen des Naturerkennens\u00ab. Ich werde nur diese letztere Antwort ber\u00fccksichtigen, welche in geistreicher Weise und in bilderreicher poetischer Sprache die Edelsteine der Gedanken mit den sch\u00f6nsten Redeblumen verziert und umh\u00fcllt. Es w\u00e4re n\u00fctzlich gewesen und h\u00e4tte manchen, der nicht so leicht den Kern aus der Schale l\u00f6st, auf den richtigen Weg gewiesen, wenn Ergebniss und Begr\u00fcndung in einigen kurzen S\u00e4tzen zusammengefasst worden w\u00e4ren.\nDer Redner will, gleich einem Welteroberer der alten Zeit an einem Rasttage, die wahren Grenzen des unermesslichen Reiches, welches die weltbesiegende Naturwissenschaft ihrer Erkenntniss unterworfen hat, klar vorzeichnen und kommt zu diesen drei Schl\u00fcssen : 1. Naturerkennen ist Zur\u00fcckf\u00fchren eines Naturvorganges auf die Mechanik der einfachen oder untheilbaren Atome. 2. Atome in diesem Sinne gibt es nicht und daher auch \u00fcberhaupt kein wirkliches Erkennen. 3. Wenn aber auch die Welt aus der Mechanik der Atome erkannt werden k\u00f6nnte, so verm\u00f6chten wir doch Empfindung und Bewusstsein nicht aus derselben zu begreifen.\nEs d\u00fcrfte wohl das allgemeine Yerstftndniss wesentlich erleichtert haben, wenn diese Ergebnisse sich nicht als Grenzen des Naturerkennens, sondern als Nichtigkeit oder Unm\u00f6glichkeit des Naturerkennens eingef\u00fchrt h\u00e4tten. Denn, da der Redner nicht \u00fcber die Negation hinausgeht, so kann die erkennende Naturwissenschaft, wenn ihr das Reich, \u00fcber das sie gebietet, mangelt, auch die Grenzen desselben nicht abstecken, \u2014 und wenn ihr sogar die Einsicht in die i. ateriellen Vorg\u00e4nge f\u00fcr immer abgeht, so verschl\u00e4gt es ihr, als einer depossedirten Herrscherin, wenig, ob sie bei vorausgesetzter Herrschaft auch Anspr\u00fcche auf das geistige Gebiet erheben k\u00f6nnte.\nMan kann mit den einzelnen Gedanken von Du Bois Reymond vollkommen einverstanden sein und doch die Ueberzeugung haben, dass sie nicht vollst\u00e4ndig und umfassend genug sind, um","page":564},{"file":"p0565.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schranken der natal \u00abrimennchaftiichen Erkenntnis\u00ab.\n666\ndie naturwissenschaftliche Erkenntniss nach allen Seiten hin abzugranzen, dass sie in ihrer Unyollstftndigkeit zn falschen und mit dem naturwissenschaftlichen Bewusstsein im Widerspruche stehenden Folgerungen f\u00fchren, und dass es w\u00fcnschbar ist, die Frage nicht bloss nach der negativen Seite zu behandeln, sondern zu unter suchen, ob nicht der menschliche Geist zu naturwissenschaftlicher Erkenntniss bef\u00e4higt sei, von welcher Beschaffenheit und in welchem Umfange?\nDie L\u00f6sung der Frage: In wie fern und wie weit vermag ich die Natur zu erkennen ? wird offenbar durch Dreierlei bedingt, durch die Beantwortung von drei Theilfragen: 1. die Beschaffenheit und Bef\u00e4higung dos Ich, 2. die Beschaffenheit und Zug\u00e4nglichkeit der Natur und 3. die Forderung, welche wir an das Erkennen stellen. Es sind also Subject, Object und Copula bei der L\u00f6sung l$theiligt.\nMan m\u00f6chte vielleicht eine solche Trennung f\u00fcr \u00fcberfl\u00fcssig, selbst f\u00fcr unstatthaft halten, weil ja das Erkennen des Objects durch das Subject ein untheilbarer Process sei. Indessen ist sie doch richtig, weil die Beurtheilung bald den einen, bald den andern Factor mehr in den Vordergrund r\u00fcckt, und n\u00fctzlich, weil sie eine ersch\u00f6pfendere Behandlung fordert. Die Schwierigkeiten, die sich f\u00fcr das Erkennen mit R\u00fccksicht auf das Subject oder das Object ergeben, treten selbst am deutlichsten hervor, wenn wir den andern Factor durch die Annahme, dass er keine Schwierigkeit darbiete, ganz bei Seite schaffen.\nWas die Bef\u00e4higung des Ich betrifft, die nat\u00fcrlichen Dinge zu erkennen, so ist daf\u00fcr die unzweifelhafte Thatsache entscheidend, dass, mag unser Denkverm\u00f6gen wie immer beschaffen sein, uns nur die sinnliche Wahrnehmung Kunde von der Natur gibt. Wenn wir nichts sehen und h\u00f6ren, nichts riechen, schmecken und betasten k\u00f6nnten, so w\u00fcssten wir \u00fcberhaupt nicht, dass etwas ausser uns ist, noch auch dass wir selber k\u00f6rperlich sind.\nEs besteht also f\u00fcr die Richtigkeit unserer Vorstellungen immer die Bedingung, dass unsere \u00e4usseren und inneren Sinne richtig berichten. Unsere Erkenntniss ist nur wahr, soferne die sinnliche Wahrnehmung und die innere Vermittelung wahr sind. Dass aber","page":565},{"file":"p0566.txt","language":"de","ocr_de":"566\nDie Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis\u00ab\nbeide zuletzt auch zur objectiven, im Object begr\u00fcndeten Wahrheit f\u00fchren, daf\u00fcr besteht eine unendlich grosse Wahrscheinlichkeit deswegen, weil die Irrth\u00fcmer, die der Einzelne, oder die Gesammt-heit begeht, schliesslich stets als solche erkannt und nachgewiesen werden, und weil die Naturwissenschaften, je weiter sie fortschreiten, immer mehr die scheinbaren Widerspr\u00fcche zu beseitigen und alles unter einander in Uebereinstimmung zu bringen wissen.\nHalten wir uns in dieser Beziehung f\u00fcr beruhigt, so erhebt sich die Frage, in welcher Ausdehnung und in welcher Vollst\u00e4ndigkeit die Sinne uns Kunde von den Naturerscheinungen geben. R\u00fccksichtlich der Ausdehnung darf bloss an die Schranken erinnert werden, um sie jedermann klar vor die Seele treten zu lassen. In der Zeit ist uns nur die Gegenwart und im Raume nur dasjenige zug\u00e4nglich, was unseren eigenen r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnissen entspricht. Wir k\u00f6nnen unmittelbar nichts von dem bemerken, was in der Vergangenheit war und in der Zukunft sein wird, nichts von dem, was im Raume zu entfernt ist und was eine zu grosse oder /u kleine Ausdehnung hat.\nR\u00fccksichtlich der Vollst\u00e4ndigkeit der sinnlichen Wahrnehmungen besteht eine andere Schranke, an die man gew\u00f6hnlich nicht denkt und auf die ich etwas n\u00e4her eintreten muss. Die wissenschaftliche Zergliederung ergibt uns Folgendes: In der Gesammtheit von kraftbegabten Stoffen, welche wir die Welt nennen, steht jedes Stofftheilchen durch alle ihm eigent\u00fcmlichen Kr\u00e4fte mit allen anderen in Beziehung ; es wird von allen beeinflusst und wirkt seinerseits auf alle ein, nat\u00fcrlich nach Maassgabe der Entfernungen. Und wie das einzelne Stofftheilchen verh\u00e4lt sich selbstverst\u00e4ndlich eine Vereinigung von solchen; die Wirkung, die sie empf\u00e4ngt und aus\u00fcbt, ist die Summe der Wirkungen aller einzelnen Theilchen. Der Krystall, die Pflanze, das Thier, der Mensch empfindet die Anwesenheit aller Stofftheilchen, jedes einzelnen f\u00fcr sich und jeder Vereinigung von solchen, und zwar mit R\u00fccksicht auf alle Kr\u00e4fte, die denselben innewohnen, und in Folge dessen mit R\u00fccksicht auf alle Bewegungen, welche dieselben ausf\u00fchren. Aber diese Empfindungen sind in ihrer unendlichen Mehrzahl so schwach, dass sie als unmerklich vernachl\u00e4ssigt werden k\u00f6nnen.\nDem menschlichen Organismus steht also theoretisch die M\u00f6glichkeit offen, von allen Erscheinungen in der Natur k\u00f6rperliche","page":566},{"file":"p0567.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis\u00ab.\n5fi7\nWahrnehmungen zu empfungon. Wie gestaltet sich al>cr die Sache in Wirklichkeit? welche Eindr\u00fccke sind so milchtig, dass sie f\u00fcr uns bemerkbar werden, und welche gehen als zu geringf\u00fcgig f\u00fcr uns verloren?\nUnter den mis bekannten Wesen hat der Mensch mit den h\u00f6heren Thieren das voraus, dass einzelne Theile sich zu Sinneswerkzeugen ausgebildet haben, welche f\u00fcr bestimmte Naturerscheinungen sehr empfindlich sind. Diese Sinnesorgane haben sich im Laufe zahlreicher auf einander folgender Arten und zahlloser Generationen innerhalb jedor einzelnen Art von unscheinlmren Anf\u00e4ngen aus auf hohe Stufen vervollkommnet.\nDer geniale Gedanke Dar win\u2019s, dass in der organischen Natur nur solche Einrichtungen zur Ausbildung gekommen sind, welche dein individuellen Tr\u00e4ger Nutzen gewahren, ist so einfach, so vernunftgem\u00e4ss und so sehr in Uebereinstimmung mit aller Erfahrung, dass die hier allein competente Physiologie unbedingt zustimmt und sich h\u00f6chstens verwundert, dass nicht schon l\u00e4ngst ein Columbus dieses physiologische Ei festgestellt hat.\nDemgem\u00e4ss entspricht der Grad der Vollkommenheit, zu dem sich jedes Sinneswerkzeug ausgebildet hat, genau dem Bed\u00fcrfnisse, und es gibt keines, in welchem der menschliche Organismus nicht von irgend einer Thierspecies sich weit \u00fcbertroffen s\u00e4he, wenn derselben die ausserordentliche Feinheit einer besonderen Sinneswahr-nohmung zur Bedingung des Daseins wurde. \u2014 Demgem\u00e4ss hat alier auch der menschliche und der thierische Organismus nur f\u00fcr diejenigen \u00e4usseren Einwirkungen Sinnesorgane ausgebildet, welche seine Existenz im g\u00fcnstigen oder ung\u00fcnstigen Sinn erfolgreich treffen.\nWir haben beispielsweise ein feines Gef\u00fchl f\u00fcr die Temperatur; es ist f\u00fcr unser Bestehen nothwendig, wir k\u00f6nnten sonst, ohne es zu ahnen, durch K\u00e4lte oder Hitze zu Grunde gehen. Wir haben ein feines Gef\u00fchl f\u00fcr das Licht; es gibt uns die beste und schnellste Kunde von allen Gegenst\u00e4nden, die uns umgeben, und die uns Schaden oder Nutzen bringen k\u00f6nnen. Dagegen haben wir kein Gef\u00fchl f\u00fcr die uns umgebende Elektricit\u00e4t. W\u00e4hrend wir die Zu-und Abnahme der W\u00e4rme und des Lichtes wahmehmen, wissen wir nicht, ob die Luft, in welcher wir athmen, freio Elektricit\u00e4t enth\u00e4lt oder nicht, ob diese Elektricit\u00e4t positiv oder negativ ist. Wenn wir","page":567},{"file":"p0568.txt","language":"de","ocr_de":"568\nDie Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis\u00bb.\nden Telegraphendraht ber\u00fchren, sp\u00fcren wir nicht, ob die Thoilchen desselben elektrisch in Ruhe oder in Bewegung sich befinden.\nEs hatte keinen Nutzen, dass der Sinn f\u00fcr Elektricit\u00e4t in den h\u00f6heren Thieren und im Menschen besonders ausgebildet wurde, weil es f\u00fcr die Species gleichg\u00fcltig ist, ob j\u00e4hrlich einige Individuen vom Blitze erschlagen werden oder nicht. W\u00fcrde diese Gefahr alle Individuen t\u00e4glich bedrohen, so h\u00e4tte die Empfindung f\u00fcr Elek-tricit\u00e4t, welche die niedersten Thiere, geradeso wie die Empfindung f\u00fcr das Licht und die W\u00e4rme, in den ersten Anf\u00e4ngen besitzen, sich nothwendig weiter ausgebildet. Wir w\u00fcrden dann durch ein besonderes Sinnesorgan die N\u00e4he einer in elektrischer Spannung befindlichen Substanz bemerken und dem Blitzschl\u00e4ge entfliehen k\u00f6nnon. Wir w\u00fcrden geringe Ver\u00e4nderungen des elektrischen Zustandes, schwache elektrische Str\u00f6me in unserer N\u00e4he wahmohmen und auch die Geheimnisse des Telegraphendrahtes abzufangen verm\u00f6gen. -\nDer Mangel eines solchen Organs h\u00e4tte leicht die Ursache sein k\u00f6nnen, dass wir von der Elektricit\u00e4t nichts w\u00fcssten. Wir k\u00f6nnen uns die Atmosph\u00e4re der Erdkugel ganz gut ohne Blitz und Donner denken. Diese grossen elektrischen Entladungen haben uns zur Elektricii\u00e4tslehre verholfen. Wenn sie zuf\u00e4llig mangelten, wenn \u00fcberdem einige ganz zuf\u00e4llige Erfahrungen, welche eine durch Reibung erzeugte anziehende oder abstossende Kraft offenbarten, nicht gemacht worden w\u00e4ren, so h\u00e4tten wir vielleicht keine Ahnung von der Elektricit\u00e4t, keine Ahnung von derjenigen Kraft, welche in der unorganischen und organischen Natur wohl die gr\u00f6sste Rolle spielt, welche die chemische Verwandtschaft wesentlich bedingt, welche bei allen molecul\u00e4ren Bewegungen in den organisirten Wesen wohl entscheidender eingreift als irgend eine andere Kraft, und von welcher wir die wichtigsten Aufkl\u00e4rungen \u00fcber physiologisch und chemisch noch r\u00e4thselhafte Vorg\u00e4nge erwarten.\nUnsere Sinne sind eben nur f\u00fcr die Bed\u00fcrfnisse der k\u00f6rperlichen Existenz, nicht aber daf\u00fcr organisirt, dass sie unser geistiges Be-d\u00fcrfniss befriedigen, dass sie uns Kenntniss von allen Erscheinungen der Natur verschaffen und uns dar\u00fcber belehren sollen. Wenn sie zugleich diese Function \u00fcbernehmen, so geschieht es nur nel>onbei. Wir k\u00f6nnen uns also nicht darauf verlassen, dass die sinnlichen Wahrnehmungen uns \u00fcber alle Erscheinungen in der Natur Kunde","page":568},{"file":"p0569.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis\u00ab.\t5fi<j\ngeben. Wie wir auf die elektrischen Vorg\u00e4nge, die in jedem Stoff-thoilchen ihren Sitz haben, gleichsam nur durch Zufall etwas er-iuhren haben, so ist es leicht m\u00f6glich, selbst sehr wahrscheinlich, dass es auch noch andere Naturkr\u00e4fte, noch andere molecul\u00e4re Be-wcgungsformen gibt, von denen wir keine sinnlichen Eindr\u00fccke bekommen, weil sie sich nie zu einer f\u00fcr unsere unvollkommenen und unvollst\u00e4ndigen Sinnesorgane bemerkbaren Summe vereinigen, und die uns deshalb verborgen bleiben. \u2014 Wenn uns einer der Sinne, wenn uns besonders der Gesichtssinn fehlte, so w\u00e4ren wir \u00fcber die Naturerscheinungen viel mangelhafter unterrichtet, als wir es wirklich sind. H\u00e4tten sich aber ausser den f\u00fcnf Sinnen noch einige andere an unserem Organismus ausgebildet, so w\u00fcrden wir wohl von den nat\u00fcrlichen Dingen Manches erfahren, was uns jetzt verborgen bleibt.\nUnser Verm\u00f6gen, die Natur unmittelbar durch unsere Sinne wahrzunehmen, ist somit in zwei Beziehungen sehr beschr\u00e4nkt. Es mangelt uns wahrscheinlich die Empfindung f\u00fcr ganze Gebiete des Naturlebens, und so weit wir sie wirklich haben, trifft sie in Zeit und Raum nur einen verschwindend kleinen Theil des Ganzen.\nFreilich beschr\u00e4nkt sich unsere Naturerkenntniss nicht auf das sinnlich Wahrnehmbare. Wir k\u00f6nnen durch Schl\u00fcsse auch Kenntniss von dem bekommen, was die Sinne nicht erreichen. Der fernste Planet unseres Sonnensystems, der Neptun, war seiner fe. llung, seiner Gr\u00f6sse und seinem Gewichte nach durch Rechnung bekannt, ehe die Astronomen ihn mit dem Fernrohr entdeckt hatten. Wir wissen, obgleich wir es auch mit den besten Mikroskopen nicht sehen, dass das Wasser aus kleinsten in Bewegung befindlichen Theilchen oder Molek\u00fclen besteht, und wenn es Zuckerwasser oder Salzwasser ist, so kennen wir auch genau das verli\u00e4ltnissm\u00e4ssige Gewicht und die verli\u00e4ltnissm\u00e4ssige Zahl der Wasser-, Zucker- und Salztheilchen, welche es zusammensetzen.\nDur<h Schl\u00fcsse aus Thatsachen, die mit Hilfe der Sinne erkannt werden, gelangen iGr.zu ebenso sicheren Thatsachen, die sinnlich nicht mehr wahrnehmbar sind. Man k\u00f6nnte deshalb allenfalls die sanguinische Hoffnung hegen, dass von dem kleinen Gebiete aus, welches uns die Sinne aufschliessen, nach und nach das Gesammtgebiet der Natur durch den Verstand erobert werde. Aber diese Hoffnung kann niemals in Erf\u00fcllung gehen. Wie die Wirkung einer Naturkraft mit der Entfernung abnimmt, so vermindert sich","page":569},{"file":"p0570.txt","language":"de","ocr_de":"570\nr>ie Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis\u00ab.\nuuch die M\u00f6glichkeit der Erkenntnis\u00bb, nach Maassgabe, als die zeitliche und r\u00e4umliche Entfernung w\u00e4chst. Ueber die Beschaffenheit, die Zusammensetzung, die Geschichte eines Fixsterns letzter Gr\u00f6sse, \u00fcl>er das organische Leben auf seinen dunklen Trabanten, \u00fcber die stofflichen und geistigen Bewegungen in diesen Organismen werden wir nie etwas wissen. In gleicher Weise vermindert sich die M\u00f6glichkeit, eine noch unbekannte Naturkraft, eine noch unbekannte Bewegungsform der kleinsten Stofftheilchen zu erkennen, je weniger dieselbe ihrer Eigent\u00fcmlichkeit nach bef\u00e4higt ist, zu einer gr\u00f6sseren Gesammtwirkung zusammen zu treten. Wir werden uns gl\u00fccklich sch\u00e4tzen d\u00fcrfen, wenn wir nur eine Ahnung davon erlangen.\nDie heschr\u00e4nkte Bef\u00e4higung des Ich gestattet uns somit nur eine \u00e4usserst fragmentarische Kenntnissnahme des Weltalls.\nGehen wir nun von der Betrachtung des Subjoetes zu der des Objectes, der Beschaffenheit und Zug\u00e4nglichkeit der Natur \u00fcl>er. Die Schranken, welche die Natur selbst unserer Erkenntniss entgegensetzt, springen am deutlichsten in die Augen, wenn wir die hypothetische Annahmo machen, der Mensch h\u00e4tte seinerseits die vollkommenste Bef\u00e4higung f\u00fcr die Naturerkenntniss. Dies w\u00e4re dann der Fall, wenn das Hemmniss von Zeit und Raum f\u00fcr ihn nicht best\u00e4nde, wenn er jede Vergangenheit so gut beurtheilen k\u00f6nnte w\u2019io die Gegenwart, wenn der fernste Gegenstand ihm nicht mehr Schwierigkeit machte, als derjenige in seiner unmittelbaren N\u00e4he, wenn er die gr\u00f6ssten Fixsternsysteme und die kleinsten Atome ebenso leicht \u00fcbersehen w\u00fcrde als einen K\u00f6rper seiner eigenen Gr\u00f6sse, wenn er endlich mit so vollst\u00e4ndigen Sinnen ausger\u00fcstet w\u00e4re, dass alle Erscheinungen der Natur, alle Kr\u00e4fte und alle Bewegungsformen von ihm unmittelbar empfunden w\u00fcrden.\nEine in dieser Weise ausgestatteto Menschheit k\u00f6nnte allenfalls sich vermessen, an die L\u00f6sung des W\u00fclimten Problems von Laplace zu gehen. Derselbe sagt : \u00bbEin Geist, der f\u00fcr einen gegebenen Augenblick alle Kr\u00e4fte, welche in der Natur wirksam sind, und die gegenseitige Lage der Wesen, aus denen sie besteht, kennte, wenn sonst er umfassend genug w\u00e4re, um diese Angaben der Analysis zu unterworfen \u2014 w\u00fcrde in derselben Formel die Bewegungen der gr\u00f6ssten Weltk\u00f6rper und des leichtesten Atoms vereinigen. Nichts","page":570},{"file":"p0571.txt","language":"de","ocr_de":"Dio Soli ranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss.\n571\nw\u00e4ro ungewiss f\u00fcr ihn, und Zukunft wie Vergangenheit w\u00e4re seinem Blicke gegenw\u00e4rtig. Der menschliche Verstand bietet in der Vollendung, die er der Astronomie zu geben vermochte, ein schwaches Abbild solchen Geistes dar.\u00ab\nAber auch ein so universeller Geist, wie Laplace ihn voraussetzt, w\u00fcrde die ihm gestellte Aufgabe nicht l\u00f6sen k\u00f6nnen. De in die andere Voraussetzung, von der Laplace nicht spricht, von der er aber stillschweigend ausgeht, ist die Endlichkeit der Welt nach allen Beziehungen, und diese ist nicht gegoben. Die Schwierigkeit, welche die Natur der menschlichen Erkenntniss entgegensetzt, ist ihre Endlosigkeit, Endlosigkeit des Raumes und der Zeit, und von allem, was als nothwendige Folge dadurch bedingt wird.\nDie Natur ist r\u00e4umlich nicht bloss unendlich gross; sie ist endlos. Das Licht legt in 1 Secunde eine Strecke von 42000 geographischen Meilen zur\u00fcck; um die ganze uns jetzt bekannte Fixsternwelt zu durcheilen, bed\u00fcrfte es nach wahrscheinlicher Sch\u00e4tzung 20 Millionen Jahre. Versetzen wir uns in Gedanken an das Ende dieses unermesslichen Raumes, auf den fernsten uns bekannten Fixstern, so w\u00fcrden wir nicht ins Leere hinausblicken, sondern es th\u00e4te sich ein neuer gestirnter Himmel vor uns auf. Wir w\u00fcrden glauben, wieder in der Mitte der Welt zu sein, wie jetzt die Erde uns als deren Centrum erscheint. Und so k\u00f6nnen wir in Gedanken den Flug vom fernsten Fixstern zum fernsten Fixstern endlos fortsetzen, und unser jetziger Sternenhimmel ist schliesslich gegen\u00fcl>er dem Weltall noch unendlich viel kleiner als das kleinste Molek\u00fcl im Vergleich zum Sternenhimmel.\nWio mit dem Ruum verh\u00e4lt es sich mit der Gruppirung im Raum, mit der Zusammensetzung, Organisirung und Individualisirung des Stoffes, welche das Object der besehreil>enden oder morphologischen Naturwissenschaften ist. Jedes der uns bekannten Dinge l>e-stelit aus Theilen und ist selbst Theil eines gr\u00f6sseren Ganzen. Der Organismus ist zusammengesetzt aus Organen, diese aus Zellen, die /eilen aus kleineren Elementartheilen. Indem wir weiter zerlegen, kommen ivir bald zu den chemischen Molek\u00fclen und den Atomen der chemischen Elemente. Die letzteren widerstehen zwar zur Zeit noch der fecheidekunst, aber schon ihrer Eigenschaften wegen m\u00fcssen sie als zusammengesetzte K\u00f6rper angesehen werden. So k\u00f6nnen wir in Gedanken die Theilung weiter und endlos fortsetzen. In der That","page":571},{"file":"p0572.txt","language":"de","ocr_de":"572\nDie Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis.\nkann es keine physischen Atome im strengen Sinne des Wortes geben, keine K\u00f6rperchen, die wirklich untheilbar w\u00e4ren, keine Ur-oder Punktatome1). Alle Gr\u00f6sse ist ja nur relativ ; der kleinste K\u00f6rper, von dessen Dasein wir Kunde haben, das Theilchen des Licht- und W\u00e4rme\u00e4thers wird beliebig gross f\u00fcr unsere Vorstellung, selbst unendlich gross, wenn wir uns daneben hinreichend klein denken. Wie die Theilbarkeit nicht aufh\u00f6rt, so m\u00fcssen wir nach Analogie dessen, was wir im ganzen Bereiche unserer Erfahrung best\u00e4tigt finden, annehmen, dass auch die Zusammensetzung aus indi' viduellen, von einander gesonderten Theilen nach unten sich endlos fortsetze. Ebenso sind wir gen\u00f6thigt, eine endlose Zusammensetzung nach oben zu immer gr\u00f6sseren individuellen Gruppen vorauszusetzen. Die Weltk\u00f6rper sind die Molek\u00fcle, welche sich zu Gruppen niederer und h\u00f6herer Ordnungen vereinigen, und unser ganzes Fixsternsystem ist nur eine Molek\u00fclgruppe in einem unendlich viel gr\u00f6sseren Ganzen, das wir uns als einheitlichen Organismus und wieder nur als Theilchen einee noch gr\u00f6sseren Ganzen vorzustellen haben*).\nWie der Raum nach allen Richtungen endlos ist, ist es die Zeit nach zwei Seiten ; sie hat nicht begonnen und sie wird nicht aufh\u00f6ren. Die Bibel sagt : Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und die Geologie sagt: Im Anfang war die Welt eine gasf\u00f6rmige Masse, aus welcher sich die Weltk\u00f6rper verdichteten. Aber dieser Anfang ist nur ein relativer, der Anfang einer Endlichkeit, und die Zeit, die seit diesem Anfang verfloss, ist nur ein Augenblick im Vergleich zur Ewigkeit vor demselben.\nAus der Vereinigung von Zeit und Raum geht ein Reich von Erscheinungen hervor, welches neben den beschreibenden Naturwissenschaften den Inhalt der andern H\u00e4lfte der Naturbetrachtung, der physikalischen und physiologischen Wissenschaften ausmacht. Der den Raum erf\u00fcllende Stoff ist nicht in Ruhe, sondern in Bewegung befindlich, und da die Stofftheilchen mit verschiedenen (anziehenden und abstossenden) Kr\u00e4ften auf einander einwirken, so setzt jeder sich bewegende K\u00f6rper auch die anderen in Bewegung, vielmehr er ver\u00e4ndert deren Bewegungen. Er gibt von seiner Bewegung und potentiellen Energie an andere ab, diese wieder an\n*) 8. Zusatz 1 : Physische und metaphysische Atomistik.\n*) 8. Zusatz 2 : Unendliche Abstufung in der Zusammensetzung und Organisation des 8toffes.","page":572},{"file":"p0573.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schranken der naturwissciwchaftlichen Erkenntnis.\n573\nandere und so fort. Dies ist dio Kette von Ursache und Wirkung, gleichfalls endlos, da sie f\u00fcr unsere Vorstellung weder mit einer ersten Ursache ihren Anfang nehmen, noch mit einer letzten Wirkung abschliessen kann.\nDie Natur ist \u00fcberall unerforschlich, wo sie endlos oder ewig wird. Sie kann daher als Ganzes nicht erfasst werden, denn ein Process des Erkennens, welcher weder Anfang noch Ende hat, f\u00fchrt nicht zur Erkenntnis. \u2014 Deswegen erscheint auch das Problem von Laplace von vornherein als nichtig. Es ist zwar erlaubt, jede Voraussetzung zu machen, die aus irgend einem Grunde unm\u00f6glich, aber keine, die undenkbar ist. Undenkbar aber ist eine Formel, f\u00fcr welche selbst die einzuf\u00fchrenden Gr\u00f6ssen mangeln, und welche, w\u00e4ren dieselben gegeben, nie zu Ende k\u00e4me. Die Kenntnis aller Kr\u00e4fte, welche f\u00fcr die Formel von Laplace gefordert wird, setzt voraus, dass die K\u00f6rper bis in ih-e letzten kraftliegabten Stoff-theilchen zerlegt werden, was wegen der endlosen Theilbarkeit unm\u00f6glich ist. Es fehlen also die Elemento, aus denen die Formel sich zusammensetzen soll, die einfachen Naturkr\u00e4fte; man kann mit dem Ansetzen der Formel nicht einmal beginnen, \u2014 und wenn man es k\u00f6nnte, so verm\u00f6chte man, wegen der r\u00e4umlichen Endlosigkeit des Weltalls, dieselbe niemals fertig zu bringen. Du Bois Reymond hat bereits die erste Endlosigkeit als eine un\u00fcberwindliche Grenze bezeichnet; die andere w\u00e4re, k\u00f6nnte auch die erste \u00fcl>er-wunden werden, immer noch eine ebenso un\u00fcbersteigbare Schranke.\nWenn die Formel von Laplace nur etwa das uns sinnlich bekannte Weltall oder auch ein unendlich viel gr\u00f6sseres (aber kein wirklich endloses) umfasste, und wenn in dieselbe etwa die Kr\u00e4fte der uns bekannten chemischen Elemente und der supponirten Aether-theilchcn oder auch noch viel kleinerer Stofftheilchen eingesetzt werden k\u00f6nnten, so verm\u00f6chte sie besonders f\u00fcr die Mitte des Systems und f\u00fcr die gr\u00f6sseren Erscheinungen vielleicht f\u00fcr sehr lange Zeitr\u00e4ume von der Gegenwart aus vor- und r\u00fcckw\u00e4rts auszureichen. Es m\u00fcssten aber sofort einerseits von dem Umfange aus St\u00f6rungen eintreten, welche zuletzt die Formel auch f\u00fcr die Mitte unbrauchbar machten ; anderseits m\u00fcssten die St\u00f6rungen auch auf jedem einzelnen Punkte beginnen und, da sie sich fortw\u00e4hrend steigerten, schliesslich zu merklichen Ungenauigkeiten f\u00fchren, weil ja die angenommenen \u00bbAtome\u00ab keine wirklichen Einheiten sind und","page":573},{"file":"p0574.txt","language":"de","ocr_de":"574\nDio Schranken :1er naturwissenschaftlichen Erkenntnis\u00ab.\nweil die Resultirende, mit der jedes einzelne \u00bbAtom\u00ab als ein aus gesonderten Theilen zusammengesetzter K\u00f6rper in die Gesamratlieit eingreift, nicht constant bleibt, sondern mit der wechselnden Umgebung einen ebenfalls stetig wechselnden Werth annimmt. Immerhin br\u00e4chte uns eine solche Formel, wie es die astronomische Berechnung wirklich thut, eine innerhalb gewisser Grenzen richtige, ____\neine praktische, aber keine grunds\u00e4tzliche L\u00f6sung.\nDer Naturforscher muss sich wohl bewusst werden, das. seine Forschung nach allen Beziehungen innerhalb endlicher Grenzen gebannt ist, dass von allen Seiten das unerkennbare Ewige ihm ein kategorisches Halt gebietet. Dass dies nicht immer klar eingesehen, dass namentlich das unendlich Grosse und unendlich Kleine mit dem Endlosen und dem Nichts verwechselt werden, hat zu mehrfachen irrigen Vorstellungen gef\u00fchrt. Zu denselben geh\u00f6ren die Theorien \u00fcber die physischen Atome im kleinen, \u00fcber Anfang und Ende der Welt im grossen. Ich will nur von den letzteren sprechen.\nMan nimmt an, dass die Masse der Weltk\u00f6rper im Anfang gasartig vertheilt gewesen sei; und Du Bois Reymond findet daran nur die eine Schwierigkeit: W\u00e4re diese Materie, wie es theoretisch gefordert wird, ruhend und gleichm\u00e4ssig vertheilt gewesen, so w\u00fcsste er nicht, woher Bewegung und ungleiche Vertheilung gekommen.\nSeit unendlicher Zeit nun, d. h. seit jenem vorausgesetzten Anf\u00e4nge, geht Verdichtung der Materie vor sich, erst zu Nebeln, dann zu feurig-fl\u00fcssigen Tropfen, welche zu dunkeln K\u00f6rpern erkalten. Wir befinden uns in der Gegenwart auf einem solchen erstarrten , nicht mehr leuchtenden Welttropfen. Nach den uns bekannten Naturgesetzen m\u00fcssen die noch feurigen und die schon verdunkelten Weltk\u00f6rper ihren W\u00e4rmevorrath mehr und mehr an den Weltraum abgeben. Sie m\u00fcssen sp\u00e4ter auf einander st\u00fcrzen, und wenn auch dabei local wieder Erw\u00e4rmung stattfindet, so dient dieselbe nur dazu, um den Erkaltungsprocess im grossen und ganzen zu beschleunigen. Am Ende aller Dinge aber werden die Weltk\u00f6rper zu einer dunklen, starren, eiskalten Masse vereinigt sein, auf der es keine Bewegung und kein Leben mehr gibt.\nDieses ist das Ergebniss einer nach unseren jetzigen Kenntnissen correcten physikalischen Betrachtung. Sie zeigt uns das trostlose Ende der bewegungsreichen und wechselvollen, der farlien-gl\u00fchenden und lebenswarmen Gegenwart. \u2014 In der That aber ist","page":574},{"file":"p0575.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis\u00ab.\t575\ndieses Ergehniss nur die Folge unserer menschlich beschr\u00e4nkten Einsicht; es w\u00e4re nur dann eine logische Nothwendigkeit, wenn wir alles w\u00fcssten und daher unser Wissen zu einem Schluss auf den Anfang und das Ende benutzen d\u00fcrften. Da wir aber nur einen winzigen Theil des Weltalls \u00dcbersehen und auch nur eine mangelhafte Kenntniss der Kr\u00e4fte und Bewegungsformen in diesem winzigen Theil besitzen, so k\u00f6nnen zwar die Schl\u00fcsse r\u00fcckw\u00e4rts und vorw\u00e4rts f\u00fcr gewisse allgemeine Verh\u00e4ltnisse vielleicht auf Billionen Jahre ohne merkbaren Fehler sein. Sie m\u00fcssen aber mit der gr\u00f6sseren Zeitfeme unsicherer und zuletzt ganz fehlerhaft werden. Es l\u00e4sst sich dies besonders f\u00fcr die Vergangenheit sehr anschaulich machen.\nDas Sicherste, was wir von der Vergangenheit wissen, ist der feurig-fl\u00fcssige Zustand, in dem sich einst unser Erdball befand, und wir ziehen daraus den nahe liegenden Analogieschluss, dass auch die \u00fcbrigen Planeten unseres Systems leuchtende K\u00f6rper waren, wie es die Sonne zur Zeit noch ist. Von diesen Sonnen r\u00fcckw\u00e4rts gelangen wir durch weitere Schl\u00fcsse zu zusammengeballten Wolken, den Embryonen der sp\u00e4teren Sonnen, zu Wolkenringen und weiterhin zu der ziemlich gleichm\u00e4ssig vertheilten gasf\u00f6rmigjn Masse, dem Anfangszustande, \u00fcber den mit unserer jetzigen Einsicht nicht hinauszukommen ist.\nDies alles zeigt uns deutlich, dass, wie auf der Erde ein steter Wechsel herrscht, auch der Himmel sich ver\u00e4ndert. Jede Ver\u00e4nderung besteht in einer Summe von Bewegungen, und setzt voraus eine fr\u00fchere Ver\u00e4nderung oder Summe von Bewegungen, aus der sic mit mechanischer Nothwendigkeit hervorging, und weiterhin eine von Ewigkeit her dauernde Kette von Ver\u00e4nderungen. So muss auch dem gasf\u00f6rmigen Zustande unsers Sonnensystems eine conti-nuirliche und endlose Reihe von Ver\u00e4nderungen vorausgegangen sein, und wenn unsere wissenschaftliche Einsicht uns nicht dazu f\u00fchrt, uns nicht einmal dazu berechtigt, so beweist sie damit nur ihre Mangelhaftigkeit.\nAus der Ewigkeit der Ver\u00e4nderungen im Weltall m\u00fcssen wir vielmehr schliessen, dass der ganze Entwicklungsprocess unseres Sonnensystems oder des ganzen Sternenhimmels von der urspr\u00fcnglichen Gasmasse durch die kugeligen Nebelmassen, feurigen und dunkeln B\u00e4lle zur kalten, dichten und starren Masse nur eine der zahllosen auf einander folgenden Perioden ist, und dass analoge","page":575},{"file":"p0576.txt","language":"de","ocr_de":"576\tDio Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis\nVorg\u00e4nge ohne Ende vorausgegangen sind und nachfolgen weiden. Nun ist uns zwar nach den jetzigen physikalischen Kenntnissen ganz begreiflich, dass eine sich verdichtende Gasmasse W\u00e4rme erzeugt und dass die heisse verdichtete Masse diese W\u00e4rme abgibt, bis sich ihre Temperatur mit der Umgebung, in unserem Falle mit dem kalten Weltenraume ansgeglichen hat. Aber es ist uns unbegreiflich, wie die feste Masse wieder gasf\u00f6rmig werden, wie sich die dazu nOthige, im Weltenraume vertheilte W\u00e4rme wieder mmmflln soll.\nEs besteht hier offenbar eine L\u00fccke in unseren Kenntnissen, die vielleicht, trotz der fast vollst\u00e4ndigen Unwissenheit der Physik und Chemie \u00fcber die Eigenschaften der chemischen Elemente und der Aethertheilchen, in folgender Weise auszuf\u00fcllen ist Don chemischen Atomen muss, wie aus ihren mannigfaltigen, unter einander abweichenden Eigenschaften hervorgeht, eine complicirte Zusammensetzung aus zahlreichen, mit verschiedenen Kr\u00e4ften begabten Theilchen zukommen, feie m\u00fcssen ferner, wie alles Endliche und Zusammengesetzte, sich ver\u00e4ndern, indem ihre Theilchen in andere Zusammenordnungen \u00fcbergehen. Dadurch wird die Verwandtschaft der Atomoberfl\u00e4che f\u00fcr denW\u00e4rme\u00e4ther grosser oder kleiner und die physikalisch umgestimmte ^Substanz bindet neue W\u00e4rme oder l\u00e4sst W\u00e4rme austreten, so dass auch der Aggregatzustand bei gleicher Temperatur ein anderer werden kann. Die jetzt festen oder geschmolzenen Elemente und Verbindungen, welche die Planeten amftnmnflnafttjfon_ waren in der nebularen Urzeit gasf\u00f6rmig trotz der grossen K\u00e4lte des Weltenraumes. Wie sie nun ihre damalige Natur aus nna unbekannten Gr\u00fcnden ge\u00e4ndert haben und unter W\u00e4rmeabgabe fl\u00fcssig und fest geworden sind, so k\u00f6nnen sie auch durch die entgegengesetzte Ver\u00e4nderung wieder W\u00e4rme binden und gasf\u00f6rmig werden1).\nDieses Beispiel zeigt uns, dass wir unsere Erfahrungen \u00fcber das Endliche auch nur zu Schl\u00fcssen innerhalb des Endlichen benutzen d\u00fcrfen. Sowie der Mensch dieses Gebiet, das ihm seine Sinne er\u00f6ffnen und das seinem Erkennen zug\u00e4nglich ist, \u00fcberschreiten und sich eine Vorstellung vom Ganzen machen will, so verf\u00e4llt er dem Aberwitz. Entweder er l\u00e4sst das durch Anschauung und Nachdenken Gewonnene unber\u00fccksichtigt, dann ger\u00e4th er in willk\u00fcrliche und haltlose Phantasien ; oder er geht consequent von den Gesetzen\n*) \u00ae. Zuaat* 3: Naturphilosophische Weltanschauungen. Entropie.","page":576},{"file":"p0577.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schranken der natonriseenschaftUchen Erkenntnis\u00ab.\n677\ndes Endlichen aus, dann langt er schlirsslich bei ganz absurden Folgerungen an.\nUm letzteres anschaulich zu machen, mag mir wieder da\u00ab vorhin angef\u00fchrte Beispiel dienen. Die uns bekannte Welt verftndert sich. Verfolgen wir diese Ver\u00e4nderung nach dem Gesetze der Causalitftt r\u00fcckw\u00e4rts in die Vergangenheit und vorw\u00e4rts in die Zukunft, so ergeben sich, wenn wir uns auf den fr\u00fcher besprochenen physikalischen Standpunkt der Nebulartheorie stellen und das uns Bekannte als maassgebend betrachten, nach beiden Zeitrichtungen Zust\u00e4nde, welche sich der vollkommenen Ruhe immer mehr n\u00e4hern, ohne dieselbe je vollst\u00e4ndig zu erreichen. Wenn wir uns aber auf einen weiteren Standpunkt stellen und annehmen, dass Weltk\u00f6rper und Weltk\u00f6rpersysteme ohne Ende im Weltenraume entstehen und vergehen, so stehen uns wieder zwei Wege offen : entweder haben die auf einander folgenden Zust\u00e4nde, nach materialistisch-philosophischer Auffassung, den gleichen Werth; oder sie ver\u00e4ndern, nach idealistisch-philosophischer Auffassung, ihren relativen Werth continuirlich, indem sie vollkommener werden, wobei das Weltall in der ewigen Vergangenheit der absoluten Unvollkommenheit (somit der Ruhe) und in der ewigen Zukunft der absoluten Vollkommenheit (somit wieder der Ruhe) immer n\u00e4her kommen w\u00fcrde. \u2014 Alle drei Annahmen sind in gleichem Grade widersinnig. Die erste (physikalisch-philosophische) und dritte (idealistisch-philosophische) lassen die Welt von todter Ruhe erwachen und wieder zu solcher einschlafen. Die zweite (materialistisch-philosophische) verurtheilt sie zu ewiger Ruhe, denn eine gleichbleibende Ver\u00e4nderung bedeutet f\u00fcr die Ewigkeit nichts anderes als Ruhe1).\nNicht besser als mit der Zeit geht es uns mit dem Raum. Es ist ein naheliegender Wunsch, sich das Weltganze als von endlicher r\u00e4umlicher Ausdehnung zu denken und damit unserer Vorstellung zug\u00e4nglich zu machen. Da aber der stofferf\u00fcllte Raum \u00fcberall wieder an stofferf\u00fcllten Raum angrenzen muss, so kommen wir auf die absurde Folgerung, die endliche Welt grenze an ihrem Umfange \u00fcberall an sich selber an. \u2014 Lassen wir aber dem Weltenraum die Endlosigkeit, die er nach r\u00e4umlichen Begriffen haben muss, so folgen\n*) 8. Zu \u00abatz 8: Natarphilosophische Weltanschauungen.\nv. N\u00e2gel I, Abstammungslehre.","page":577},{"file":"p0578.txt","language":"de","ocr_de":"578\nDie Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis\u00ab.\nohne Ende Woltk\u00f6rper auf Weltk\u00f6rper in verschiedener Gr\u00f6sse, verschiedener Zusammensetzung, verschiedenem Entwicklungszustande. Da nun Gr\u00f6sse, Zusammensetzung und Entwicklungszust\u00e4nde innerhalb endlicher Grenzen sich bewegen, so machen auch die m\u00f6glichen Combinationen zwar eine nach sprachgebrftuchliehem Ausdruck unendlich grosse, aber doch nicht endlose Zahl aus. Wenn diese Zahl ersch\u00f6pft ist, m\u00fcssen sich die gleichen Combinationen wiederholen. Wir k\u00f6nnen dagegen nicht aufkommen mit der Ueber-legung, dass Centillionen von Weltk\u00f6rpem oder Weltk\u00f6rpersystemen nicht gen\u00fcgen, um die Zahl der m\u00f6glichen Combinationen voll zu machen. Denn Centillionen sind ja iu der Endlosigkeit weniger als ein Tropfen Wasser im Ocean. \u2014 Wir langen somit bei der mathematisch richtigen, aber f\u00fcr unsere Vernunft abgeschmackten Folgerung an, dass unsere Erde, gerade so wie sie jetzt ist, im endlosen Weltall mehrfach, ja zahllos vorkomme und dass auch das Jubil\u00e4um, das wir feiern, auf vielen andern Erden jetzt gerade ebenso begangen werde.\nDie logischen Folgerungen dieser Art lassen sich vervielf\u00e4ltigen. Die Beispiele gen\u00fcgen, um zu zeigen, dass unser endlicher Verstand nur endlichen Vorstellungen zug\u00e4nglich ist und dass, wenn er noch so folgerichtig sich zu Vorstellungen \u00fcber das Ewige erheben will, ihm die Schwingen versagen, und dass er, ein zweiter Ikarus, ehe die sonnige H\u00f6he erreicht ist, in die endliche und begriffsdunkle Tiefe zur\u00fcckst\u00fcrzt.\nNachdem ich die Bef\u00e4higung des Subjects und die Zug\u00e4nglichkeit des Objects er\u00f6rtert habe, handelt es sich noch um die Forderungen, welche an das Bindeglied, an das Erkennen zu stellen sind.\nDa alle Vorstellungen, welche wir von der Natur haben, uns durch die sinnliche Wahrnehmung vermittelt werden, so kann auch unser Erkennen nicht weiter gehen, als dass wir die wahrgenommenen Erscheinungen mit einander vergleichen und sie mit R\u00fccksicht auf einander beurtheilen. Wenn eine besonders geartete Erscheinung nur einmal vork\u00e4me, wenn wir beispielsweise die einzigen Organismen w\u00e4ren, so w\u00fcrde unsere Einsicht \u00e4usserst beschr\u00e4nkt sein; denn wir sch\u00f6pfen ja die Kenntniss des menschlichen Organismus wesent-","page":578},{"file":"p0579.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis\u00ab.\t579\nlieh aus dem Zusammenhalte mit allen andern organischen Wesen.\n\u2014\tDie Vergleichung vieler Erscheinungen l\u00e4sst uns eine Einheit oder einen Maassstab gewinnen, mit dem wir jede einzelne messen und bestimmen. Wir erhalten also eben so viele Maasse, als es sinnlich wahrnehmbare oder durch das Urtheil aus den sinnlichen Wahrnehmungen abziehbare Eigenschaften in der Natur gibt. Da diese Maasse endlichen Thatsachen entnommen sind, so haben sie auch nur einen relativen Werth, und unsere Erkenntniss bleibt auch am diesem Grundo in der Endlichkeit befangen.\nWir erkennen also eine Erscheinung, wir begreifen ihren Werth in Beziehung zu den \u00fcbrigen Erscheinungen, wenn wir sie messen, z\u00e4hlen, w\u00e4gen k\u00f6nnen. Wir haben eine klare Vorstellung von der Gr\u00f6sse des niedersten Pilzes, von welchem wir 2 bis 3 Millionen Individuen hinter einander legen m\u00fcssen, um die L\u00e4nge eines Meters voll zu machen, \u2014 von der Gr\u00f6sse des Elephanten, \u2014 der Erde,\n\u2014\tunseres Sonnensystems, dessen Halbmesser etwa 622 Millionen geographische Meilen betr\u00e4gt. Wir haben eine klare Vorstellung von der Zeit, in welcher der Lichtstrahl die Schrift eines Buches, das wir lesen, in unser Auge f\u00fchrt, und die etwa den 800 millionsten Theil einer Secunde betr\u00e4gt, \u2014 von der Lebensdauer des niedersten Pilzes, welcher im Br\u00fctkasten und im menschlichen K\u00f6rper schon nach 20 Minuten von einer neuen Generation abgel\u00f6st wird, \u2014 von der Lebensdauer eines mehrtausendj\u00e4hrigen Eichbaums, \u2014 von den 500 Millionen Jahren, welche nach einer Hypothese seit Entstehung der Organismen auf unserer Erde verflossen sein sollen.\nDie Naturk\u00f6rper sind aus Theilen zusammengesetzt ; der Werth ihrer innern Beschaffenheit, ihrer Organisation wird genau bestimmt durch die Menge, Natur und Zusammenordnung der Theile. Diese geben uns also das Maass, nach dem wir das zusammengesetzte Ganze beurtheilen, mit dem wir gleichsam seine Organisation messen. Die morphologischen oder beschreibenden Naturwissenschaften haben durch dieses Messen ihren wissenschaftlichen Inhalt. Die Chemie, die zur Zeit noch eine vorzugsweise morphologische Wissenschaft ist und die Zusammenordnung der Elementatome zu Verbindungen erforscht, und die Mineralogie, welche die gleichartige Lagerung der Molek\u00fcle zur Voraussetzung hat, stehen auf einer hohen Stufe der Ausbildung. Das allgemeine Maass f\u00fcr die Organismen finden wir in der Zelle, und weiterhin im Organ, das allgemeine Maass f\u00fcr\n37\u201d","page":579},{"file":"p0580.txt","language":"de","ocr_de":"580\nPie Belt ranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis.\ndie systematischen Einheiten der organischen Natur (f\u00fcr Variet\u00e4ten, Arten, Gattungen) in den Individuen und den Generationen1).\nWir k\u00f6nnen aber nicht nur die verschiedenen Dinge mit ein* ander vergleichen und durch einander messen, sondern wir k\u00f6nnen auch ein System, eine einheitliche Gruppe von zusammengeh\u00f6rigen Dingen, insofern sie sich ver\u00e4ndert, in verschiedenen auf einander folgenden Zeiten mit sich selbst vergleichen und durch sich selbst messen. Die Erkenntniss der Ver\u00e4nderung ist vollendet, wenn der sp\u00e4tere Zustand als die nothwendige Folge des fr\u00fcheren, oder dieser als der nothwendige Vorg\u00e4nger des sp\u00e4teren nachgewiesen, wenn einer aus dem andern construirt, wenn also die beiden Zust\u00e4nde in das Verh\u00e4ltniss von Ursache und Wirkung gebracht werden k\u00f6nnen.\nIn den elementaren Gebieten des Stofflichen ist dieses urs\u00e4chliche Verh\u00e4ltniss die mechanische Nothwendigkeit, welche f\u00fcr zwei auf einander folgende Zust\u00e4nde die gleiche Summe von Bewegung mit lxistimmter Richtung (von lebendiger Kraft) und von potentieller Energie fordert. Die Astronomie nimmt unter den hieher geh\u00f6renden Wissenschaften den ersten Rang ein; an sie schliessen sich mehrere Disciplinen der Physik w\u00fcrdig an, besonders die mechanische W\u00e4rmelehre und die Optik. Die Physiologie oder die Physik des Organischen sucht in den Fusstapfen ihrer \u00e4lteren Schwester auf einem viel verwickelteren und schwierigeren Gebiete vorzudringen.\nIn den h\u00f6heren Gebieten des Stofflichen l\u00e4sst sich f\u00fcr das urs\u00e4chliche Erkennen nicht mehr die Forderung dieser mechanischen Noth wendigkeit festhaltcn. Vielleicht gilt dies selbst f\u00fcr alle Gestaltung. Sogar die Entstehung der chemischen Verbindung und des Krystalls wird wohl nie mit aller Strenge sich als das nothwendige Ergebniss von bekannten Kr\u00e4ften und Bewegungen der Elementatome und der Molek\u00fcle darthun lassen. Noch viel weniger wird dies mit der Bildung der Zellen, mit dem Wachsthum der Organismen, mit der Fortpflanzung, mit der Vererbung der Merkmale der Fall sein. Dennoch l\u00e4sst sich auch in diesen Gebieten mit einigem Rechte von urs\u00e4chlichem Erkennen sprechen ; nur sind die Elemente, von denen dasselbe ausgeht, nicht einfache Kr\u00e4fte\n') S. Zusatz 4: Roilingungen fflr empirisches Wissen und Erkennen. Mnrnho logische Wissenschaften.","page":580},{"file":"p0581.txt","language":"de","ocr_de":"Die Bchrauken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis*.\t5g)\nund Bewegungen, sondern deren sehr verwickelte Combinationen, die nicht weiter analysirt werden. Das urs\u00e4chliche Erkennen wird seine Probe bestehen, wenn es ihm gelingt, mit derselben Sicherheit und Bestimmtheit k\u00fcnftige Ereignisse vorherzusagen, wie es die Astronomie thut. Andeutungen hiezu finden wir jetzt schon in der Chemie dor Verbindungen und in der organischen Morphologie, indem es m\u00f6glich ist, aus gewissen Entwicklungszust\u00e4nden eines Organismus auf fr\u00fchere oder sp\u00e4tere Zust\u00e4nde desselben zu schliesscn. Und wir werden einmal, wenn die organischen Gesetze der noch so jungen Entwicklungsgeschichte des Individuums und der noch viel j\u00fcngeren Entwicklungsgeschichte der Species besser erforscht sind, nicht bloss von ontogenetischer und phylogenetischer Noth-wendigkeit als von einer selbstverst\u00e4ndlichen Voraussetzung sprechen, sondern dieselbe auch erkennen k\u00f6nnen.\nMan wird mir wohl einwenden, dass das urs\u00e4chliche Erkennen in der Einsicht der Nothwendigkeit bestehe, wie dies in der Mechanik der Fall sei, aber nicht in Gebieten, wo man von unerforschten zusammengesetzten Dingen ausgehen m\u00fcsse. Die Mechanik des Himmels ist gegr\u00fcndet auf die allgemeine Gravitation und die Centri-fugalkraft, beides einfache, gradlinig wirkende Kr\u00e4fte. Aber beides sind Annahmen, die bloss auf unserer Erfahrung beruhen und f\u00fcr die wir den Grund nicht kennen. Die Astronomie l\u00e4sst uns nicht die Nothwendigkeit an und f\u00fcr sich, sondern nur unter der Voraussetzung von Erfahrungsthatsachen einsehen. Wenn wir f\u00fcr unser Begreifen die Forderung erheben wollten, dass uns das Warum klar sei, so g\u00e4be es auch kein astronomisches und kein physikalisches Erkennen.1)\nDie n\u00e4mliche Berechtigung wie in der Physik und Astronomie hat das urs\u00e4chliche Erkennen in den organischen Gebieten. Aus Erfahrung ist uns ein System von Kr\u00e4ften und Bewegungen bekannt, beispielsweise die Zelle. Wir setzen f\u00fcr dieses System gewisse allgemeine Thatsachen fest (wie es die Gravitation und die Centrifugalkraft f\u00fcr den Himmelsraum sind), und wir benutzen dieselbe f\u00fcr unsere weiteren Schl\u00fcsse. Die Einsicht in die Nothwendigkeit eines Wachsthumsprocesses besteht darin, dass derselbe als eine noth wendige Folge jener Thatsachen erkannt wird.\nDie Erkenntniss der nat\u00fcrlichen Dinge beruht also darauf, dass wir sie messen entweder durch einander oder durch sich selber. Ein\n') 8. Zusatz 5: A Priorit\u00e4t des Gravitationsgesetzes.","page":581},{"file":"p0582.txt","language":"de","ocr_de":"582\tDie Schranken Jer naturwissenschaftlichen Erkenntnis\u00ab.\nanderer Weg der Betrachtung f\u00fchrt uns zu dem gleichen Ergebniss. Wir begreifen und beherrschen etwas vollst\u00e4ndig, wenn wir es selbst schaffen, denn in diesem Falle sehen wir seinen Grund ein. Das einzige im Gebiete des Wissens, was wir, gest\u00fctzt auf unsere sinnlichen Wahrnehmungen, vollbringen, ist die Mathematik. Der Inhalt dieser formellen Wissenschaft ist uns vollkommen klar, denn er ist ja mit Hilfe der allgemeinsten Erfahrung das Product unseres Geistes. Wir k\u00f6nnen daher auch die realen Dinge sicher erkennen, so weit wir an ihnen mathematische Begriffe, Zahl und Gr\u00f6ese mit allem, was die Mathematik daraus ableitet, verwirklicht finden. Das Naturerkennen beruht also in der Anwendung des mathematischen Verfahrens auf die nat\u00fcrlichen Erscheinungen; einen Naturvorgang begreifen heisst gleichsam nichts anderes, als ihn denkend wiederholen, ihn in Gedanken hervorbringen1).\nIndem ich die naturwissenschaftliche Erkenntnis als eine mathematische und zugleich als eine relative bezeichne, welche die Dinge jeweilen nach einem aus ihnen selbst abgeleiteten Maass beurtheilt, weiche ich wesentlich von meinem Vorg\u00e4nger, Du Bois Reymond, ab. Derselbe stellt als Bedingung f\u00fcr das Natuierkennen auf, dass es gelinge, die Ver\u00e4nderungen der K\u00f6rper-weit auf Bewegungen von Atomen, die durch deren von der Zeit unabh\u00e4ngige Cenixalkr\u00e4fte bewirkt werden, zur\u00fcckzuf\u00fchren, oder mit andern Worten die Naturvorg\u00e4nge in Mechanik der Atome auf-zul\u00f6sem Indem Du Bois Reymond hiebei von der unbestreitbaren Forderung ausgeht, dass etwas Zusammengesetztes nur aus semen Theilen zu erkennen ist, bleibt er jedoch nicht bei den end-\u00eechen und wirklichen Theilen stehen, sonde-u verfolgt die Theilung bis zu den f\u00fcr uns undenkbaren absoluten Einheiten und stellt damit die Bedingungen f\u00fcr das unm\u00f6gliche absolute Erkennen auf. Da es sich aber f\u00fcr uns nicht um g\u00f6ttliche, sondern um mensch-lthe Erkenntnis* handelt, so d\u00fcrfen wir von dieser auch nicht mehr verlangen, als dass sie in jeder endlichen Sph\u00e4re bis zum mathematischen Begreifen vordringe, \u2014 und der Ausspruch von Kant dass in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden k\u00f6nne, als darin Mathematik anzutreffen sei, muss immer noch als richtig gelten.\n\u2018) & Zusatz 5b: Aprioritttt der Mathematik.","page":582},{"file":"p0583.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schranken der naturwissenschaftlichen Krkonntniss.\n583\nWenn Du Bois Reymond die Analyse des Stoffes bis auf Atome mit einfachen Centralkr\u00e4ften fortsetzen will, so treibt er ein beliebtes Verfahren der neueren Physik und Physiologie zur \u00e4ussersten Consequenz, und wenn er zeigt, dass dieses Verfahren nicht zur Er-kenntniss f\u00fchrt, so bricht er den Anspr\u00fcchen auf ausschliessliche Wissenschaftlichkeit, welche dasselbe zuweilen erhebt, die grunds\u00e4tzliche Spitze ab. Wenn Physik und physikalische Physiologie auf supponirte Atome, materielle Punkte, Volumelemente, die man sich unendlich klein denkt, zur\u00fcckgehen, so ist dieser Versuch berechtigt, insoferne die wirklichen chemischen Molek\u00fcle so klein sind, dass man ohne Rechnungsfehler sich den Raum als continuirlich mit Materie erf\u00fcllt denken kann. Man kann beispielsweise an die Stelle eines aus zahlreichen Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff- und Sauerstoffatomen bestehenden Eiweissmolek\u00fcles ein Massendifferential dieser Verbindung einsetzen. Jedenfalls ist der Versuch n\u00fctzlich, indem erprobt werden muss, wie weit eine solche Vorstellung f\u00fcr die mathematische Behandlung sich als brauchbar erweist, und indem aus dem Erfolg wieder r\u00fcckw\u00e4rts Schl\u00fcsse auf die Zusammensetzung des Stoffes gezogen werden k\u00f6nnen.\nAber wir m\u00fcssen uns vor der Meinung h\u00fcten, die nicht selten mit diesem Verfahren verbunden wird, als ob dasselbe allein Naturwissenschaft w\u00e4re und allein zur Erkenntniss f\u00fchrte. Wir w\u00fcrden sonst unsere Anspr\u00fcche, die Natur zu erfassen, f\u00fcr immer auf ein einziges Gebiet beschr\u00e4nken m\u00fcssen und andere Gebiete, die einer sicheren Begr\u00fcndung f\u00e4hig sind, verlieren. Die naturwissenschaftliche Erkenntniss muss nicht nothwendig mit hypothetischen und unbekannten kleinsten Dingen beginnen. Sie finden ihren Anfang \u00fcberall, wo der Stoff sich zu Einheiten gleicher Ordnung gestaltet hat, die unter einander verglichen und durch einander gemessen werden k\u00f6nnen, und \u00fcberall, wo solche Einheiten zu zusammengesetzten Einheiten h\u00f6herer Ordnung zusammentreten und das Maass f\u00fcr deren Vergleichung unter einander und mit sich selbst ubgeben. Die naturwissenschaftliche Erkenntniss kann auf jeder Stufe der Organisation oder Zusammensetzung des Stoffes beginnen ; beim Atom der chemischen Elemente, welches die chemischen Verbindungen bildet, beim Molek\u00fcl der Verbindungen, welches den Krystall zusammensetzt, beim krystallinischen Micell, welches die Zelle und deren Theile, bei der Zelle, welche den Organismus auf-","page":583},{"file":"p0584.txt","language":"de","ocr_de":"584\tIMe Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis\u00ab.\nbaut, beim Organismus oder Individuum, welches das Element der Speciesbildung wird. Jede naturwissenschaftliche Disciplin findet ihre Berechtigung wesentlich in sich selber.\nUnser Naturerkennen ist also immer ein mathematisches und beruht entweder auf einfachem Messen, wie in den morphologischen und beschreibenden Naturwissenschaften, oder auf urs\u00e4chlichem Messen, wie in den physikalischen und physiologischen Wissenschaften. Mit Hilfe der Mathematik, mit Maass, Gewicht, Zahl k\u00f6nnen aber nur relative oder quantitative Unterschiede begriffen werden. Eigentliche Qualit\u00e4ten, absolut verschiedene Eigenschaften entziehen sich unserer Erkenntniss, da wir keinen Maassstab daf\u00fcr haben. Eigentlich qualitative Unterschiede verm\u00f6gen wir nicht zu erfassen, weil die Qualit\u00e4ten nicht verglichen werden k\u00f6nnen. Es ist dies eine wichtige Thatsache f\u00fcr die Erkenntniss der Natur. Es folgt daraus, dass, wenn es innerhalb der Natur qualitativ oder absolut verschiedene Gebiete gibt, ein wissenschaftliches Erkennen nur gesondert innerhalb jedes einzelnen m\u00f6glich ist, und dass keine vermittelnde Br\u00fccke von einem Gebiet in das andere hin\u00fcber f\u00fchrt. Es folgt daraus aber auch ferner, dass, so weit wir die Natur zusammenh\u00e4ngend erforschen k\u00f6nnen, so weit unser messendes Erkennen l\u00fcckenlos fortschreitet, so weit wir namentlich eine Erscheinung aus einer anderen begreifen oder als aus derselben entstanden nachzuweisen verm\u00f6gen, absolute Unterschiede, unausf\u00fcllbare Kl\u00fcfte in der Natur \u00fcberhaupt nicht bestehen.\nIch habe versucht, die F\u00e4higkeit des Ich, die Zug\u00e4nglichkeit der Natur und das Wesen des menschlichen Begreifens festzustellen. Es ist nun leicht, die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss abzustecken.\nWir k\u00f6nnen nur das erkennen, wovon uns die Sinne Kenntniss geben, und dies beschr\u00e4nkt sich nach Baum und Zeit auf ein winziges Gebiet und wegen mangelnder Ausbildung von Sinnesorganen wahrscheinlich nur auf einen Theil der in diesem Gebiete befindlichen Naturerscheinungen. An dem, wovon wir \u00fcberhaupt Kenntniss erhalten, k\u00f6nnen wir ferner nur das Endliche, Wechselnde, Verg\u00e4ngliche, nur das gradweise Verschiedene und Relative erkennen, weil","page":584},{"file":"p0585.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schranken der natorwimenschaftUchen Erkenntnis\u00ab\nf>H5\nwir nur mathematische Begriffe auf die nat\u00fcrlichen Dinge \u00fcber-tragen und die letzteren nur nach den an ihnen selber gewonnenen Maassen beurtheilen k\u00f6nnen. F\u00fcr alles Endlose oder Ewige, f\u00fcr alles Best\u00e4ndige, f\u00fcr alle absoluten Verschiedenheiten haben wrir keine Vorstellungen. Wir wissen gonau, was eine Stunde, ein Meter, ein Kilogramm bedeutet, aber wir wissen nicht, was Zeit, Raum, Kraft und Stoff, Bewegung und Ruhe, Ursache und Wirkung ist1).\nUmfang und Grenze unserer m\u00f6glichen Naturerkenntniss l\u00e4sst sich kurz und genau so angeben: Wir k\u00f6nnen nur das Endliche, aber wir k\u00f6nnen auch alles Endliche erkennen,\ndas in den Bereich unserer sinnlichen Wahrnehmung f\u00e4llt.\nSobald wir uns dieser Einsicht klar bewusst sind, so befreien wir die Naturbetraehtung von manchen Schwierigkeiten und Irr-th\u00fcmem, die darin bestehen, dass man einerseits nicht bloss das wirklich Endliche erforschen will, sondern demselben Ewiges beimischt und es dadurch unergr\u00fcndlich macht, \u2014 dass man anderseits das Endliche nicht strenge und unaufhaltsam verfolgt, sondern mitten in demselben, da oder dort anh\u00e4lt, indem man dasselbe mit Ewigem verwechselt.\nEs w\u00fcrde mich weit f\u00fchren, wenn ich die Folgen im einzelnen betrachten wollte, welche aus dem Mangel eines richtigen grunds\u00e4tzlichen Verfahrens entsprungen sind. Die bemerkenswerthesten, die gleichzeitig ein ganz allgemeines Interesse in Anspruch nehmen, sind die Meinmigen, dass die endliche Natur in grunds\u00e4tzlich geschiedene Gebiete getrennt sei, dass namentlich zwischen der un-organi sehen und organischen Natur oder zwischen der materiellen und geistigen Natur eine un\u00fcberschreitbare Grenze bestehe.\nDie Frage, ob zwischen den nat\u00fcrlichen Dingen der endlichen Welt absolute oder bloss relative Verschiedenheiten bestehen, kann nur dadurch entschieden werden, dass entweder von der einen Seite gezeigt wird, wie unsere Erkenntniss irgendwo auf eine nicht zu \u00fcberspringende Grenze trifft, und wie von dieser Grenze an eine neue Kraft in die Combinationen eintritt, \u2014 oder dass von der anderen Seite dargethan wird, wie das Erkennen ungehindert durch das ganze Gebiet fortschreitet, immer das eine aus dem anderen begreifend, und wie die n\u00e4mlichen Naturkr\u00e4fte \u00fcberall th\u00e4tig sind.\n*) 8. Zusatz 6 : Kraft. Stoff. Bewegung.","page":585},{"file":"p0586.txt","language":"de","ocr_de":"\u00d686\tDie Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis*\nDie Antwort hierauf ist bestimmt und sicher: Wenn wir die ganze Natur von den einfachen unorganischen bis zu den corapli-cirtesten organischen Wesen durchlaufen, so finden wir \u00fcberall die gleichen Stoffe und Kr\u00e4fte, indem das Zusammengesetzte aus dem Einfachen sich aufbaut; die neuen Qualit\u00e4ten, die auf jeder h\u00f6heren Stufe auftreten, erscheinen uns zwar nicht als nothwendige, aber doch auch nicht als unm\u00f6gliche Ergebnisse der integrirenden Bestandteile; siebekunden ihren bloss relativen Werth dadurch, dass sie sichtlich aus blossen quantitativen Verh\u00e4ltnissen hervorgehen1).\nDie Behauptung, dass in der materiellen Welt eine unausf\u00fcll-bare Kluft zwischen Unorganischem und Organischem beetelie und dass das letztere nicht aus dem ersteren begriffen werden k\u00f6nne, st\u00fctzt sich im wesentlichen auf drei Gr\u00fcnde, 1. dass zwischen den niedrigsten Organismen und den unorganischen K\u00f6rpern die verbindenden Mittelglieder mangeln, 2. dass in den Organismen andere Qualit\u00e4ten oder Pnncipien zur Geltung kommen als in der unorganischen Natur, 3; dass organisirte K\u00f6rper nicht auf k\u00fcnstlichem Wege aus unorganischen Stoffen hervorgebracht werden k\u00f6nnen.\nDer erste Einwurf ist unbedingt zuzugeben; wir kennen kein selbst\u00e4ndiges Gebilde, welches zwischen dem einfachsten Organismus und dem Eiweismolek\u00fcl st\u00e4nde. Es besteht hier f\u00fcr unsere objective Wahrnehmung eine ungeheuere L\u00fccke, denn die Theorie, dass die einfachsten einzelligen Wesen aus Eiweiss hervorgegangen, verlangt die Annahme einer ganzen Reihe von vermittelnden Gliedern*). Aber dieser Mangel in unserer Erfahrung beweist nichts, weil er nur zu wohl motivirt ist.\nBekanntlich werden die Organismen im allgemeinen um so kleiner, je einfacher sie sind. Unter den einzelligen Pflanzen besteht eine sehr grosse Verschiedenheit bez\u00fcglich der Organisation und der Gr\u00f6sse. Die einfachsten sind so klein, dass sie f\u00fcr die besten Mikroskope an der Grenze der Wahrnehmbarkeit liegen, dass sie unter den st\u00e4rksten Vergr\u00f6sserungen nur als Punkte erscheinen, und dass sie zuweilen selbst, ihren Wirkungen nach, vorhanden sein m\u00fcssen, obgleich man sie nicht sicher erkennen kann (Formen von Micrococcus). Diese unsichtbar kleinen Pflanzen haben einen Inhalt von Eiweiss und eine Membran von Cellulose. Wir k\u00f6nnen aus\n\u2018) 8. Zusatz 7 : Qualit\u00e4t in der Natur.\n) Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre, Urzeugung 8.83.","page":586},{"file":"p0587.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis\u00ab.\n687\ndiesem Umstande ganz sicher schliessen, dass es unter den einzelligen Organismen ohne Zellhaut solche geben muss, die f\u00fcr das bewaffnete Auge immer unsichtbar bleiben. Um so mehr aber m\u00fcssen alle Gebilde von noch einfacherem Bau, welche den Uebeigang zu den Eiweissmolek\u00fclen bilden, auch wenn sie vorhanden sind, ihrer Kleinheit wegen sich jeder mikroskopischen Beobachtung entziehen. Diese L\u00fccke in unserer Erfahrung hat also keine gr\u00f6ssere Beweiskraft f\u00fcr den Mangel an Uebergangsgliedem, als der Umstand, dass das Teleskop uns keine Bewohner auf den Planeten zeigt, f\u00fcr deren Unbewohntsein.\nDer zweite Einwurf, dass in der organischen Natur neue Qualit\u00e4ten oder Pnncipien auftreten, findet im Unorganischen strenge mathematische Gesetzm\u00e4ssigkeit und todte starre, ausgef\u00fcllte, regelm\u00e4ssige Formen, w\u00e4hrend in der organischen Gestaltung mehr Freiheit herrsche und die hohlen (zellenartigen) organischen Formen zu stetiger Ver\u00e4nderung in ihrem Innern, zum Wachsthum und zur Fortpflanzung bef\u00e4higt seien. Die Richtigkeit dieses thats\u00e4chlichen Gegensatzes kann nicht bestritten werden, wohl aber die Folgerung, dass er einen grunds\u00e4tzlichen und absoluten Gegensatz beweise. Denn einmal stellt sich selbstverst\u00e4ndlich die Ungleichheit zwischen Organischem und Unorganischem viel greller dar, weil das verbindende Uebergangsgebiet uns noch unbekannt ist, \u2014 wie etwa das Thierreich, wenn bloss die Wirbelthiere und die Infusorien f\u00fcr unsere naturhistorische Beobachtung vorhanden w\u00e4re, aus zwei kaum mit einander zu verbindenden Gebieten zu bestehen schiene.\nFerner sind die angegebenen Unterschiede zwischen den unorganischen und den organischen Wesen doch in der That keine andern, als wir sie zwischen dem Einfachen und dem Zusammengesetzten f\u00fcr wahrscheinlich anzunehmen berechtigt sind. Die starre Form des Krystalls ist an der Zelle in den zahllosen unsichtbar kleinen krystallinischen K\u00f6rperchen (Micellen) vertreten, aus denen alle orgamsirten Substanzen bestehen und deren regelm\u00e4ssiger kry-stallartiger Bau durch das polarisirte Licht dargethan wird, \u2014 und die ganze Zelle verh\u00e4lt sich so, wie wir es von einer Zusammenh\u00e4ufung solcher von Wasser umgebener K\u00f6rperchen erwarten k\u00f6nnen, die wegen der leichten Beweglichkeit ihrer Theilchen eine weiche, ^ zu runden hohlen Formen und zu Gestaltsver\u00e4nderungen geneigte Substanz darstellt, und wegen der leichten chemischen Umsetzbar-","page":587},{"file":"p0588.txt","language":"de","ocr_de":"r>H8\tDie Schranken der naturwiBMenHeliaftlielicn Erkenntnis.\nkoit ihrer Verbindungen auch stetig in ihrem Innern sich ver\u00e4ndert und dadurch Wachsthum und Fortpflanzung bedingt.\nDamit ist auch der Unterschied, wonach das Unorganische in der regelm\u00e4ssigen Form und Bewegung der strengen mathematischen Gesetzm\u00e4ssigkeit gehorchen, das Organische aber auch in der Gestaltung bis zu einem gewissen Grade der Natuniothwendigkeit sich entziehen und unregelm\u00e4ssige Bewegungen annehmen soll, auf sein relatives Maass zur\u00fcckgef\u00fchrt. Dies ist um so mehr der Fall, als in der unorganischen Natur selber nirgends strenge Regelm\u00e4ssigkeit offenbar wird. Zwar wirkt jede Naturkraft f\u00fcr sich mit mathemati-\u2022 scher Genauigkeit ; aber da immer noch andere Kr\u00e4fte in ungleicher, theilweise fast verschwindender St\u00e4rke mitwirken und nicht s\u00e4mmt-lich in die Rechnung aufgenommen werden k\u00f6nnen, so ^vermag uns auch die exacteste Forschung nur N\u00e4lierungswerthe zu gehen, \u2014 und da f\u00fcr jeden einzelnen Fall wegen der steten Bewegung und Ver\u00e4nderung in allen Gebieten der Natur die bedingenden Ursachen mit jedem Zeitdifferential etwas andere werden, so gibt es keine Form und keine Bewegung, welche nicht innerhalb gewisser Grenzen variirte. Es ist nun begreiflich, dass eine Erscheinung sich scheinbar um so mehr von der mathematischen Regelm\u00e4ssigkeit entfernt, je zusammengesetzter sie ist und je mannigfaltiger und ver\u00e4nderlicher die maassgebenden Kr\u00e4fte Zusammenwirken, und dass die Einsicht in die Ordnung uns bei der Zelle um so sicherer abgehen muss, als sie schon beim Struktur- und formlosen Mineral mangelt.\nDer dritte Einwurf, dass man keinen Organismus, keino Zelle, keine Muskelfaser aus den Bestandteilen zusammensetzen, die abgestorbenen nicht beleben, durch das Experiment nicht umgestaltcn k\u00f6nne, ist an und f\u00fcr sich richtig, aber unrichtig, wenn er von den unorganischen K\u00f6rpern das Gegentheil annimmt. Wir verm\u00f6gen keinen nat\u00fcrlichen Gegenstand, mag er dem Unorganischen oder dem Organischen angeh\u00f6ren, k\u00fcnstlich zu machen; wir verm\u00f6gen ihn bloss entstehen zu lassen, und dies in keiner anderen Weise, als dass wir die Umst\u00e4nde gerade so Herstellen, wie er in der Natur von selbst (ohne unser Zuthun) entsteht. Wir lassen den Krystall in der Mutterlauge ansclncssen ; wir ziehen aus dem Samen eine Pflanze, indem wir ihn in die feuchte Erde legen und ihm weitere Pflege angedeihen lassen ; wir verwandeln das Eiweiss des H\u00fchnereis in Muskeln, Nerven und andere Organe dadurch, dass wir das Ei in den","page":588},{"file":"p0589.txt","language":"de","ocr_de":"Dir Schranken dei naturwifwcnHchaftlichcn Erkenntniss.\nBr\u00fctkasten bringen. Und wenn die Chemie einmal die Constitution des Eiweissmolek\u00fcls erforscht hat, wird sie auch das Eiweiss zu machen wissen, wie ihr die Synthese so vieler organischer Verbindungen bereits gelungen ist; \u2014 und wenn einmal die Physiologie tiefer in die Elemente des organischen Lebens eindringt, wird sie auch die Bedingungen erkennen, unter denen die Uranf\u00e4nge des \u00abeil\u00bben entstehen, und sie wird im Stande sein, dieselben beliebig entstehen zu lassen. Bleibt es denn so verwunderlich, dass die Kunst die unendlich complicirten organischen Gebilde nicht hervorbringen kann, w\u00e4hrend ihr die Erzeugung so vieler einfacher Krystalle noch nicht gelungen ist. Ich erinnere nur an einen der einfachsten, an den Kohlenstoffkrystall oder Diamant, dessen Herstellung so vielfach , aber noch immer vergeblich versucht wurde. Es ist gar nicht unm\u00f6glich, dass die Chemiker das Eiweiss, die Grundlage der Organismen, und dass die Physiologen die Uranf\u00e4nge des organischen Lebens entstehen lassen werden, ehe man in den gl\u00fccklichen Fall kommt, selbstgefertigte Brillanten zu tragen.\nEs ist wahr, dass kein todtes organisches Gebilde wieder zum I^elien zur\u00fcckgerufen werden kann; al\u00bber es kann auch kein durch mechanische Gewalt oder durch Hitze zerst\u00f6rter Krystall wieder hergestellt werden, er kann nur aus dem fl\u00fcssigen Zustande auf nat\u00fcrlichem Wege neu entstehen. \u2014 Es ist ferner richtig, dass der entstehende oder wachsende Organismus durch kein Experiment, durch keine \u00e4ussere Einwirkung sich wesentlich umgestalten l\u00e4sst. El>enso wenig l\u00e4sst sich aber die Krystallform einer Substanz durch irgendwelche Mittel ab\u00e4ndern. Man kann in beiden Reichen durch k\u00fcnstliche Einwirkung die Bildung ganz verhindern, man kann sie verkr\u00fcppeln oder sonstwie krankhaft und abnormal werden lassen; dal \u00bbei bleibt aber die innere Natur des Kry stalls wie die des Organismus im wesentlichen unver\u00e4ndert.\nErweisen sich somit die Einw\u00fcrfe, welche gegen die Annahme einer bloss relativen Verschiedenheit zwischen dem Unorganischen und dem Organischen gemacht wurden, als unstichhuUig, so haben wir anderseits f\u00fcr diese Annahme einen unwiderleglichen Beweis in der Thatsache, dass das Organische aus dem Unorganischen aufgebaut wird. Wir sehen t\u00e4glich, wie in den Pflanzen organische Substanz aus unorganischen Verbindungen entsteht, und el\u00bbenso mussten beim Urspr\u00fcnge des Pflanzen- und Thierreiches die Bil","page":589},{"file":"p0590.txt","language":"de","ocr_de":"51)0\tDie Schranken der naturwissenHchaftlichen Erkenntnis\u00ab.\ndungsstoffo f\u00fcr die ersten Organismen ausschliesslich der unorganischen Natur entnommen werden. Da nun alle Kraft untrennbar mit der Materie verbunden ist, da es keine Kraft gibt, die sich von der Materie losl\u00f6son, f\u00fcr sich bostehen und wieder mit derselljcn sich vereinigen konnte, so folgt, dass die unorganischen Stoffe in der organischen Substanz nur in neuer complicirterer Combination auftreten und dass Bewegung und Gestaltung - in den Organismen nichts grunds\u00e4tzlich und absolut Verschiedenes zeigen kann.\nDie andero Behauptung, welche den innigen Zusammenhang zwischen materieller und immaterieller Natur leugnet , zieht die trennonde Kluft an verschiedenen Stellen. Einmal soll die belebte Natur \u00fcberhaupt (oder die \u00bbbeseelte\u00ab Natur, insofern man auch den Pflanzen eino Seelo zuschreibt), dann die mit Empfindung begabte Thierwelt, endlich das geistig bewusste Menschengeschlecht etwas absolut Besonderes darstellen, indem auf der h\u00f6heren Stufe neue immaterielle oder ewige Principien zur Geltung kommen. Du Bois Reymond huldigt der mittleren Ansicht. Mit der ersten Regung von Behagen, sagt er, die im Beginn des thierischen Lebens auf Erden ein einfachstes Wesen empfand, ist eine un\u00fcbersteigbare Kluft gesetzt, \u2014 w\u00e4hrend er von hier bis zur erhabensten Scelenth\u00e4tigkeit aufw\u00e4rts, anderseits von der Lebenskraft des Organischen bis zur einfachen physikalischen Kraft abw\u00e4rts nirgends eine Kluft mehr entdeckt.\nGegen die Behauptung von immateriellen Principien, die da oder dort pl\u00f6tzlich in der Natur auftauchen sollen, ist f\u00fcr den Naturforscher schwer aufzukommen, da sich dieselbe von vornherein auf einen Standpunkt stellt, der ausserhalb der Naturwissenschaft in der Luft schwebt und von ihr nicht direct angegriffen und widerlegt werden kann. Die Naturwissenschaft vermag nur zu zeigen, dass die Behauptung \u00fcberfl\u00fcssig ist, weil alles sich auf nat\u00fcrlichem Wege erkl\u00e4ren l\u00e4sst, und wahrscheinlich, weil sonst in die endliche Natur ein Widerspruch eingef\u00fchri wird, der unserer ganzen Erfahrung widerspricht und unser geistiges Bed\u00fcrfniss, \u00fcberall causale Verh\u00e4ltnisse aufzufinden, verletzt.\nDie Erfahrung zeigt uns, dass von dem klarsten Bewusstsein des Denkers durch das dunklere Bewusstsein des Kindes zur Be-","page":590},{"file":"p0591.txt","language":"de","ocr_de":"Dio Schranken dor naturwiKsoiwchaftlh hon Erkenntnis\u00ab.\n\u00d6\u00dcl\nwusstlosigkeit des Embryos und zur Gef\u00fchllosigkeit des menschlichen Eis, \u2014 durch dus dunklere Bewusstsein unentwickelter Menschenrassen und h\u00f6herer Thiere zur Bewusstlosigkeit der niederen Thiere und Sinnpflanzen und zur Gef\u00fchllosigkeit der \u00fcbrigen Pflanzen eine allm\u00e4hliche Abstufung ohne vollziehbare Grenze statt hat, und dass die n\u00e4mliche Abstufung von dem Lelxm des thierischen Eis und der Pflanzenzelle durch mehr oder weniger leblose organis\u00e9e Elementargebilde (Theilo dor Zelle) zu den Krystallen und chemischen Molek\u00fclen sich fortsetzt.\nDer Analogieschluss aber sagt uns Folgendes. Wie alle Organismen nur aus Stoffen l)estehen und gobildet worden sind, die in der unorganischen Natur Vorkommen, so sind selbstverst\u00e4ndlich aueh die den Stoffen anhaftenden Kr\u00e4fte mit in die Bildung ein-gogangen. Wenn Stoffe zusammentreten, so vereinigen sich ihre Kr\u00e4fte zu einer Resultirenden, welche die neue, allerdings nur relative Eigonschaft des entstandenen K\u00f6rpers darstellt. So ist Zinnober Quecksilber -f Schwefel - W\u00e4rme ; Schwefelkohlenstoff ist Kohle -f Schwefel + W\u00e4rme; Zucker ist Kohle -f- Wasserstoff -f Sauerstoff \u2014 W\u00e4rme. So sind auch Leben und Gef\u00fchj neue relative Eigenschaften, die den Eiweissmolek\u00fclen unter besonderen Umst\u00e4nden zukommen. Dem entsprechend zeigt uns die Erfahrung, dass das Geistesleben \u00fcberall aufs innigste mit dem Naturlelwm zusammenh\u00e4ngt, dass das eine das andere beeinflusst und ohne dasselbe nicht bestehen kann. Es ist daher nothwendig, dass, wie \u00fcberall in der Natur Kr\u00e4fte und Bewegungen nur an die Stofftheilchen gebunden sind, auch die geistigen Kr\u00e4fte und Bewegungen dem Stoffe anhaften, mit anderen Worten, dass sie aus den allgemeinen Kr\u00e4ften und Bewegungen der Natur zusammengesetzt sind und nach Ursache und Wirkung mit denselben Zusammenh\u00e4ngen1).\nDieser Forderung eines causalen Zusammenhanges kann sich kein Naturforscher, welcher nicht bewusst oder unbewusst seinem obersten Princip untreu wird, entziehen. Die Aufgal>e w\u00e4re also die, zu erkennen, wie die Kr\u00e4fte des unorganischen Stoffes in dem zu Organismen gestalteten Stoffe sich combiniren, dass ihre Resul-tirenden Leben, Gef\u00fchl, Bewusstsein darstellen. Die Erf\u00fcllung dieser\n*) 8. Zusatz 8 : ZurtlckfUhrnng Ri'istigcr Bfwrgunffpn auf stofflich\u00bb' Bc-wegnngren.","page":591},{"file":"p0592.txt","language":"de","ocr_de":"f\u00bb\u00ee>2\tDio Schranken tier imturwimciMchaftliclien ErkcnntiUHH.\nAufgal\u00ab liegt in weiter Pemo; al>er sie ist m\u00f6glich. Es lassen sich f\u00fcr jeden einzelnen Punkt gen\u00fcgende Andeutungen geben.\nEs sei mir gestattet, einen dieser Punkte n\u00e4her zu (\u00absprechen, denjenigen niimlich, in welchem mein Vorg\u00e4nger eine Grenze des Naturerkennens erblickt. Dies ist um so einladender, als Du Bois Reymond sich im \u00fcbrigen, wenn auch nicht mit so nackten Worten, doch ebenso bestimmt und unbedingt auf den Boden des Causalprincips stellt, und dass daher, wenn diese eine L\u00fccke ausgef\u00fcllt w\u00e4ro, eine andere f\u00fcr seinen Standpunkt nicht mehr best\u00fcnde. Die ganze Weltgeschichte, selbst die Weltordnung ist ihm eine Folge ^der Mechanik der Atome. Es gebe keine Geistesthat, welche nicht aus den Kr\u00e4ften und Bewegungen des Stoffes sieh berechnen liesse, wenn es m\u00f6glich w\u00e4re, diese zu kennen. Die materiellen Vorg\u00e4nge, die mit der L\u00f6sung eines Rechenexempels, mit der Seligkeit des musikalischen Empfindens, mit dem geistigen Vergn\u00fcgen \u00fclier eine wissenschaftliche Entdeckung verbunden sind, seien Produkte der Hirnmechanik. Der Geist k\u00f6nne sogar, wie Karl Vogt und vor ihm Cabanis ausgesprochen haben, als die Absonderung der Gehirnsubstanz betrachtet werden, ebenso wie die Galle das Secret der Leiter ist.\nAlles dieses erkl\u00e4rt Du Bois Reymond als im Princip liegreiflich; allein, sagt er, wir lernen nur die Bedingungen des Geistcs-lebens kennen, nicht aber wie aus diesen Bedingungen das Geistes-lelien selbst zu Stande kommt. Die Empfindung und das Bewusstsein begleiten wohl nothwendig die materiellen Vorg\u00e4nge im Gehirn, aller sie stehen ausserhalb des Causalgesetzes und bleiben uns ewige Rathsel.\nLs ist nicht ohne Interesse, die elien dargelegte Ansicht von Du Bois Reymond, die er des weiteren in Bildern und Beispielen ausf\u00fchrt, in ihre Consequenzcn zu verfolgen und uns das allgemeine Ergcbniss klar vorzulegen. Wir kommen dann auf dieses: Der endliche Geist, wie er durch das Thierreich bis zum Menschen sich entwickelt hat, ist ein doppelter \u2014 einmal der handelnde, erfindende, die Muskeln in Bewegung setzende, in die Weltgeschichte eingreifende, tiewusstlose, materielle Geist; derselbe ist nichts anderes als die Mechanik der Stofftlieilchen und unterliegt dem Causalgesetz, \u2014 dann der unth\u00e4tige, beschauliche, Lust und Schmerz Liebe und Hass empfindende, sich erinnernde, phantasirende, (\u00abwusste, im-","page":592},{"file":"p0593.txt","language":"de","ocr_de":"t>le Rohranken der naturwiMennchaftlichen Erkenntnis*.\t593\nmaterielle Geist; derselbe liegt ausserhalb der Mechanik des Stoffes und kehrt sich nicht an Ursache und Wirkung.\nGew\u00f6hnlich fasst man beide Seiten des Geisteslebens als Geist zusammen. Du Bois Reymond bezeichnet den letzteren ausschliesslich als Geist, und derselbe w&re, wenn die Trennung in der angegebenen Art best&nde, wirklich die allerdings unbegreifliche Absonderung des materiellen Geistes oder der Gehimatome ; er w\u00e4re nichts als seine nutzlose Verzierung, der ihm unfehlbar folgende, wesenlose Schatten. Denn er steht ausserhalb der Verkettung von Ursache und Wirkung; er ist ohnm\u00e4chtig und ohne Einfluss auf die Handlungen; ohne ihn h\u00e4tte sich die Weltgeschichte genau so abgesponnen, wie sie es gethan. Auch ohne Bewusstsein w\u00e4ren die mathematischen Formeln erfunden, aufgeschrieben, gelehrt und angewendet, Telegraphen und Dampfmaschinen gebaut worden, \u2014 \u2022 auch ohne Bewusstsein w\u00e4ren theologische und philosophische Disputationen gehalten, gedruckt, gelesen und ihre Verfasser unter Umst\u00e4nden verbrannt worden, \u2014 auch ohne bewusstes Ged\u00e4chtnis w\u00e4re in den Schulen auswendig gelernt und \u00fcberh\u00f6rt worden, \u2014 auch ohne musikalische Empfindung w\u00e4re Musik componirt, in den Proben wiederholt, aufgef\u00fchrt und mit allen \u00e4usseren Zeichen des Entz\u00fcckens oder Unbehagens angeh\u00f6rt worden, \u2014 auch ohne poetische und k\u00fcnstlerische Empfindung w\u00e4re gedichtet, gemalt und geformt, w\u00e4ren die Werke der K\u00fcnstler bewundert und kritisirt worden. Man h\u00e4tte also ohne empfundenes und bewusstes Geistesleben alles gedacht, gethan und gesprochen, aber bloss mechanisch und nicht anders, als ein sehr k\u00fcnstlich erfundener todter Automat denken, handeln und sprechen w\u00fcrde.\nDie Grossartigkeit dieser Weltanschauung l\u00e4sst sich nicht leugnen; sie kann auf den Naturforscher um so gr\u00f6sseren Eindruck machen, als sie \u00fcberall folgerichtig verf\u00e4hrt und gegen kein naturwissenschaftliches Princip verat\u00f6est, da ja das Immaterielle und Unbegreifliche in ein Gebiet verlegt wird, welches ausserhalb des Zusammenhanges der nat\u00fcrlichen und wirklichen Dinge liegt. Aus diesem Grunde ist auch die Anschauung naturwissenschaftlich nicht discutirbar. Doch dr\u00e4ngen sich gerade dem Naturforscher verschiedene Einw\u00fcrfe auf.\nIst es wohl denkbar, dass so viele Vorg\u00e4nge, die ganz augenscheinlich aus Empfindung und Bewusstsein entsprungen sind, einen\nv. Ntgelt, AbaUmmuncalehr*.\t3g","page":593},{"file":"p0594.txt","language":"de","ocr_de":"j>14\tI)io FVliranken \u00ab1er nnturwiiwenaehaftliehen Erkenntnins.\nanderweitigen, einen empfindungs- und bewusstlosen Ursprung haben ? Ist es wohl denkbar, dass Empfindung und Bewusstsein so ganz umsonst da seien, dass, w\u00e4lirend \u00fcberall die Zweckm\u00e4ssigkeit in der organischen Natur so deutlich hervortritt, eine so zwecklose und \u00fcberfl\u00fcssige Erscheinung gerade da eintrete, wo wir die h\u00f6chste Zweckm\u00e4ssigkeit erwarten? Ist es wohl denkbar, dass das Causal-princip, das die ganze Natur regiert, gerade an der wichtigsten Stelle seinen Dienst versage? Ist es wohl denkbar, dass der organis\u00e9e Stoff beliebig und ohie Ursache eine Eigenschaft (Empfindung und Bewusstsein) erlange, und dass er sie beliebig und ohne Wirkung wieder verliere; denn im Ei und im Embryo w\u00e4re das empfundene und bewusste Geistesleben nicht vorhanden, es w\u00fcrde nach und nach auftroten, im Schlafe jede Nacht verloren gehen, im wachenden Zustande mehr oder weniger vollst\u00e4ndig wieder gewonnen und beim Tode f\u00fcr immer vernichtet werden?\nDas naturwissenschaftliche Bewusstsein wird durch diesen neuen Dualismus, wenn es ihn auch nicht direct widerlegen kann, doch wenig l)efricdigt. Derselbe ist zwar himmelweit verschieden von dem gew\u00f6hnlichen Dualismus, indem er den Naturkr\u00e4ften die Alleinherrschaft, dem Geiste eine thatenlose nichtige W\u00fcrde zutheilt, und somit in keiner Weise die streng causalistische oder materialistische Betrachtung aller stofflichen Vorg\u00e4nge, auch derjenigen, die das Geistesleiien zu Stande bringen, liehindert. Gleichwohl w\u00fcnschen wir eine L\u00f6sung, die mehr mit unseren Erfahrungen und unseren theoretischen Vorstellungen \u00fcliereinstimmt. Und diese L\u00f6sung liegt, wie ich glaulie, ziemlich nahe, wenn wir das Urtheil filier die Erscheinungen in \u00ab1er organischen Natur auch auf diejenigen in \u00ab1er unorganischen Natur ausdehnen.\nEs ist ganz richtig, wenn Du Bois Reymond sagt, dass wir nur die materiellen Bedingungen des Geisteslebens erkennen k\u00f6nnen, \u00ablass uns aller das Zustandekommen desscllien aus \u00ablen Bedingungen fur immer vcrlxirgen bleibt. Aller es w\u00e4re ein Irrthum, anzunehmen, dass wir \u00ablas Zustandekommen des Naturlebens \u00fcberhaupt aus seinen Ursachen begreifen. Die gleiche Schranke, wie in den geistigen, finden wir in allen rein materiellen Vorg\u00e4ngen. Wir wissen aus Erfahrung, dass in der unorganischen Welt die Ureaohe in der Wirkung aufgeht, aber es ist uns unfassbar, wie die Uebertragung ge-schieht. Wir wissen aus Erfahrung, dass ein in die Luft geworfener","page":594},{"file":"p0595.txt","language":"de","ocr_de":"Dio Rehranken .1er naturwimenflohaftlielien Erkenntnis.\t5%\nStein auf <lio Erde f\u00fcllt, und wir sagen, es gesehehe deshalb, weil die Erde ihn anzicho; allein diese Anziehung ist f\u00fcr uns unbegreiflich.\nWas wir wissen, ist, dass zwei von einander entfernte K\u00f6rper so auf einander wirken, dass sie, wenn kein Hinderniss entgegen-stcht, sich bis zur Ber\u00fchrung n\u00e4hern. Worin al>er diese Einwirkung besteht, wie dioscll)e die gegenseitige Bewegung zu Stande bringt, ist uns gerade so unbegreiflich und wird uns gerade so ein ewiges Rfttli8el bleiben, wie das Zustandekommen der Empfindung und des Bewusstseins aus den materiellen Ursachen.\nDas n\u00e4mliche finden wir l>ei allen materiellen, physikalischen und chemischen Vorg\u00e4ngen. Ein positiv und ein negativ elektrischer K\u00f6rper bewegen sich gegen einander, zwei K\u00f6rper mit gleichnamiger Elektricit\u00e4t bewegen sich von einander weg. Wenn wir sagen, dass im ersten Falle Anziehung, im zweiten Abstossung stattfinde, so sind dies nur kurze Ausdr\u00fccke, welche Reihen von gleichartigen Vorg\u00e4ngen zusammenfassen, alxjr keine Erkl\u00e4rungen. Wir gew\u00f6hnen uns alxjr an solche Ausdr\u00fccke; sie werden uns nach und nach so gel\u00e4ufig, dass wir glaulxm, wir begriffen wirklich die durch sie 1h>-zeichneten Vorg\u00e4nge. Deswegen ist denn auch die Ansicht ganz allgemein verbreitet, die Natur in ihren einfacheren unorganischen Erscheinungen biete unserer Erkenntniss keine Schwierigkeiten dar, w\u00e4hrend die Schwierigkeiten grunds\u00e4tzlich \u00fcberall die n\u00e4mlichen sind.\nMan wird mir hier vielleicht einwenden, die Sache liege doch nicht ganz gleich. Bei den rein materiellen Vorg\u00e4ngen sei uns allerdings die Beziehung zweier Stofftheilchen, welche deren Bewegung veranlasst, unlx'greitlich. Bei den geistigen Vorg\u00e4ngen sei diese un-begreifliche Beziehung der Stofftheilchen ebenfalls gegeben; es komme aber noch etwas anderes, etwas neues hinzu, die geistige Regung, welche den materiellen Vorgang l^gleitet. Dieser Einwurf, wenn er wirklich sich erh\u00f6l>c, w\u00e4re aber ungegr\u00fcndet; man w\u00fcrde dabei \u00fcl>crsehon, dass die zwei Seiten, in welche man den geistigen Vorgang zerlegt, l>ei dem rein materiellen Vorgang el\u00bbenfalls vorhanden sind, hier al>cr nicht getrennt, sondern als eins aufgefasst werden, n\u00e4mlich die Empfindung und die Reaction, welche durch die Empfindung hervorgebracht wird.\nDiese Thatsache, dass dio einfachsten unorganischen Vorg\u00e4nge in ihrem Zustandekommen elxmso unzug\u00e4nglich sind, wie dio","page":595},{"file":"p0596.txt","language":"de","ocr_de":"596\tDie Rchmnken \u00ab1er naturwisneimchaftliehen farkenntnlw*.\nzusammengesetztesten Vorg\u00e4nge im menschlichen Gehirn, haut uns die Br\u00fccke, die zu einer einheitlichen Auffassung der Natur zu f\u00fchren vermag. Gehen wir von dem Bekannten aus \u2014 in diesem Falle ist es die complicirte geistige Erscheinung \u2014, um daraus eine Vorstellung \u00fcber das uns noch Unbekannte zu gewinnen.\nWir kennen das Geistesleben nur aus unseren subjectiven Erfahrungen; wir wissen, dass wir Schl\u00fcsse machen, dass wir uns erinnern, dass wir Lust und Schmerz empfinden. Dass verwandte, aber unentwickelte Vorg\u00e4nge l>ei Kindern und h\u00f6heren Thieren Vorkommen , schliessen wir aus ihren Handlungen und aus ihren k\u00f6rperlichen Aeusserungon, die wir als Ausdruck von Gem\u00fcths-bewegung und Empfindung deuten. Daf\u00fcr, dass auch die niederen Thiere noch Empfindung besitzen, die nur gradweise von der bewussten Empfindung des Menschen verschieden ist, haben wir that-s\u00e4chliche Beweise bloss in ihren auf einen Reiz erfolgenden Bewegungen und in dem wichtigen Umstande, dass diese Reizbewegungen mit den aufsteigenden Thierclassen durch alle Abstufungen in die complicirtesten Vorg\u00e4nge des menschlichen Gehirns \u00fcbergehen. Von den Reizbewegungen der niedersten Thiere kommen wir unvermerkt zu denen der einzelligen Pflanzen und der Sinnpflanzen, und von da zu den Vorg\u00e4ngen der scheinbar reizlosen Gew\u00e4chse, welche von den Vorg\u00e4ngen in der unorganischen Natur nicht zu trennen sind. Zwischen den Reizbewegungen der Pflanzen und Thiere und den scheinbar reizlosen unorganischen Bewegungen ist aber kein anderer Unterschied als der, dass beim Reiz eine m\u00e4chtige Ursache auf zahllose gleichartig geordnete Stofftheilchen einwirkt und dadurch eine unseren Sinnen bemerkbare Orts- oder Empfindungsbewegung hervorbringt, w\u00e4hrend beim Mangel dieser bemerkbaren Bewegung die Ursache der molecularen, nach verschiedenen Richtungen erfolgenden Bewegungen nicht als Reiz bezeichnet wird.\nMit den Reizbewegungen ist in der h\u00f6heren Thierwelt deutlich Empfindung verbunden. Wir m\u00fcssen dieselbe auch den niederen Thieren zugestehen, und wir haben keinen Grund, sie den Pflanzen und den unorganischen K\u00f6rpern abzusprechen. Die Empfindung versetzt uns in Zust\u00e4nde des Wohlbehagens oder Missltehagens. Im allgemeinen entsteht das Gef\u00fchl der Lust, wenn den nat\u00fcrlichen Trieben Befriedigung gew\u00e4hrt, das Gef\u00fchl des Schmerzes, wenn diese Befriedigung versagt wird. Da alle materiellen Vorg\u00e4nge aus","page":596},{"file":"p0597.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schranken der naturwimeiiHcliaftliclicn Erkenntnis.\ttyjj\nBewegungen der Molek\u00fcle und Eleirieutatome zusammengesetzt sind, so m\u00fcssen Lust und Schmerz in diesen kleinsten Theilchen ihren / Sitz haben, sie m\u00fcssen durch die Art und Weise bedingt werden, wie die kleinsten Iheilchen den auf sie einwirkenden Zug- und Druckkr\u00e4ften folgen k\u00f6nnen. Die Empfindung ist also eine Eigenschaft der Eiweissmolek\u00fcle; und wenn sie den Eiweissmolek\u00fclen zukommt, m\u00fcssen wir sie auch denen der \u00fcbrigen Stoffe zugestehen. ^\nBetrachten wir nun die Beziehung zweier Molek\u00fcle ungleicher chemischer Elemonte (z. B. eines Sauerstoff- und eines Wasscrstoff-molek\u00fcls), die in geringer Entfernung von einander sich befinden. Jedes besteht nach der Annahme der jetzigen Chemie aus zwei nicht weiter zerlegbaren, aller doch sicher zusammengesetzten Atomen. Verm\u00f6ge seiner Zusammensetzung liesitzt das Atom verschiedene Eigenschaften und Kr\u00e4fte, es \u00fcbt somit auch verschiedene Reize (Anziehungen und Abstossungen) auf die anderen Atome aus. Die fraglichen zwei Molek\u00fcle sp\u00fcren oder empfinden in verschiedener Weise ihre gegenseitige Anwesenheit, sie wirken in verschiedener Weise anziehend und abstossend auf einander ein.\nUntersuchen wir, was bei einer bestimmten Anziehung (z. B. ! der chemischen) geschieht. Es ist dreierlei m\u00f6glich, entweder folgen j die Molek\u00fcle ihrer Neigung und n\u00e4hern sich einander, oder sie sind durch andere, der Anziehung das Gleichgewicht haltende Kr\u00e4fte zur j Ruhe verurtheilt, oder sie entfernen sich von einander, indem die \u00ab ihrer Neigung feindlichen Kr\u00e4fte das Uebergewicht erlangen. Die n\u00e4mlichen drei M\u00f6glichkeiten sind f\u00fcr eine bestimmte Abstossung (z. B. durch W\u00e4rme) gegeben: die beiden Molek\u00fcle folgen ihrem nat\u00fcrlichen Triebe und entfernen sich von einander, oder sie be-harren in der gleichen Entfernung, oder sie werden mit Ueberwin-dung ihres Trielies durch andere Ursachen gegen einander gestossen.\nWenn nun die Molek\u00fcle irgend etwas besitzen, was der Empfindung wenn auch noch so ferne verwandt ist, \u2014 und wir k\u00f6nnen nicht daran zweifeln, da jedes die Gegenwart, die bestimmte Beschaffenheit, die besonderen Kr\u00e4fte des anderen empfindet und entsprechend dieser Empfindung den Trieb zur Bewegung hat und unter Umst\u00e4nden auch wirklich sich zu bewegen anf\u00e4ngt, gleichsam lebendig wird, da ferner solche Molek\u00fcle die Elemente sind, welche Lust und Schmerz im Thier und im Menschen bedingen, \u2014 wenn also die Molek\u00fcle etwas der Empfindung Verwandtes sp\u00fcren, so","page":597},{"file":"p0598.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss.\nf>{>8\nmuss os Wohlbehagen sein, wenn sie der Anziehung oder der Ab-stossung, ihrer Zuneigung oder Abneigung folgen k\u00f6nnen, Missbc-liageu, wenn sie zu einer gegenteiligen Bewegung gezwungen sind, weder Wohlbehagen noch Missbehagen, wenn sie in Itulie bleiben.\nDa nun die Molek\u00fcle mit mehreren ungleichen Zug- und Druckkr\u00e4ften auf einander einwirken, so worden, wenn sie in Bewegung geraten, von ihren Neigungen immer die einen befriedigt, die andern beleidigt. Diese verschiedenen Empfindungen sind aber notwendig nach Beschaffenheit und St\u00e4rke ungleich, je nachdem sie durch die allgemeine Gravitations- und Elasticit\u00e4tsanzieliung, durch die allgemeine Abstossung der Elastieit\u00e4t und der W\u00e4rme,\u2019 durch elektrische und magnetische Anziehung und Abstossung, durch chemischeVerwandtschaft verursacht werden. Die einfachsten Organismen, wenn ich diesen Ausdruck brauchen darf, die wir kennen, die Molek\u00fcle der chemischen Elemente und Verbindungen, werden also gleichzeitig von mehreren qualitativ und quantitativ verschiedenen Empfindungen bewegt, die sich zu einer Gesammtempfindung der Lust oder des Schmerzes zusammensetzen.\nWir finden somit auf der niedersten und einfachsten Stufe der Stofforganisation, die wir kennen, wesentlich die n\u00e4mliche Erscheinung wie auf der h\u00f6chsten Stufe, wo sie uns als bewusste Empfindung entgegentritt. Die Verschiedenheit ist nur eine gradweise* auf der h\u00f6chsten Stufe sind die Affecte infolge der reichen Gliederung nur viel zusammengesetzter und feiner und infolge massenhafter Zusammenordnung der Stofftheilchen viel lebhafter geworden.\nhassen wir das Geistesleben in seiner allgemeinsten Bedeutung als den immateriellen Ausdruck der materiellen Erscheinung als die Vermittlung von Ursache und Wirkung, so finden wir es \u00fcberall in der Natur. Geistige Kraft ist das Verm\u00f6gen der Stofftheilchen auf einander einzuwirken. Der geistige Vorgang ist die Vollziehung c loser Einwirkung, welche in Bowogung, somit in Lagever\u00e4nderung der Stofftheilchen und der ihnen anhaftenden Kr\u00e4fte besteht, und dadurch unmittelbar zu einem neuen geistigen Vorgang f\u00fchrt. So\nschlingt sich das n\u00e4mliche geistige Band durch alle materiellen Erscheinungen.\nDer menschliche Geist ist nichts anderes als die h\u00f6chste Entwicklung der geistigen Vorg\u00e4nge, welche die Natur \u00fcberall lnilelien und bewegen, auf unserer Erde. Er ist aber nicht das Alisonderungs-","page":598},{"file":"p0599.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis*\nrv.ni\nproduct der Gohirnsubstanz; ala solches wiire er oline weiteren Einfluss auf dus Gehirn, wio die abgesonderte Galle ohne weitere Bedeutung f\u00fcr die LeW ist. Empfindung und Bewusstsein haben vielmehr ihren festen Site im Gehirn, mit dem sie unaufl\u00f6slich verbunden sind, und in welchem durch ihre Vermittlung neue Vorstellungen gebildet und in Thatcn umgesetzt werden. Wie der Stein nicht zur Erde fl\u00f6ge, wenn er die Anwesenheit der Erde nicht empf\u00e4nde, so w\u00fcrde auch der getretene Wunn sich nicht kr\u00fcmmen, wenn ihm die Empfindung mangelte, und das Gehirn w\u00fcrde nicht vern\u00fcnftig handeln, wenn es ohne Bewusstsein w\u00e4re.\nDiese Anschauung befriedigt auch vollst\u00e4ndig unser causales Bed\u00fcrfniss. Es ist f\u00fcr den Naturforscher eine logische Nothwendig-keit, in der endlichen Natur nur gradeweise Unterschiede gelten zu lassen. Wie es f\u00fcr alles R\u00e4umliche, ebenso f\u00fcr alles Zeitliche ein Maass gibt, so muss es auch ein gemeinsames Maass f\u00fcr die geistigen Vorg\u00e4nge geben. Wie die materielle Natur sich vom Einfachsten\nzum Zusammengesetztesten allm\u00e4hlich abstuft, so muss auch in der ihr parallel gehenden geistigen Natur eine \u00e4hnliche Abstufung bestehen. Wir finden in den Atomen und Molek\u00fclen zwar noch nicht Lust und Schmerz, noch nicht Liel>e und Hass ausgesprochen, alter doeh die ersten Keime, gleichsam die Uranf\u00e4nge zu diesen Affecten, und es w\u00e4re die Aufgalte einor vergleichenden Psychologie, das Bewusstsein durch die unl)cwussto Empfindung bis zum empfindungslosen Reiz der Stofftheilchen zu verfolgen *).\nDas geistige Gebiet bietet aber der Erkenntniss viel gr\u00f6ssere Schwierigkeiten dar als das materielle, weil wir als unmittelbare E. lahmng bloss unsere subjectiven Wahrnehmungen benutzen k\u00f6nnen, und weil uns ein l>esonderes Sinnesorgan mangelt, um an anderen K\u00f6rpern objective Wahrnehmungen zu machen. Die Beobachtung mit unsern f\u00fcr andore Zwecke eingerichteten Sinnen gibt uns nur auf Umwogen und in sehr mangelhafter Weise Kunde von den\ngeistigen Vorg\u00e4ngen in anderen Wesen, und unser Urtheil \u00fcltor dic-sell>en wird um so unsicherer, je weiter wir uns abw\u00e4rts in der Natur von uns selber entfernen. Es wird daher vielleicht nie m\u00f6glich,\n*)\t\\ergleichung der tliieri selten Affecte mit analogen tinorga\nt\u00fcnchen Erscheinungen.","page":599},{"file":"p0600.txt","language":"de","ocr_de":"600\tDie Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss.\ndas Maass f\u00fcr die geistigen Vorg\u00e4nge wirklich aufzufinden und zu begr\u00fcnden, und die vergleichende Psychologie zu einer Naturwissenschaft zu erheben.\nDie naturwissenschaftliche Erkenntniss bleibt in der Endlichkeit befangen, der Naturforscher muss sich daher strenge auf das Endliche beschr\u00e4nken. Die Forderung, die man wohl an ihn stellt, dass er mehr philosophische Bildung haben, dass er philosophische Kritik \u00fcben m\u00fcsse, weil die metaphysische Speculation doch nicht ganz zu umgehen sei, zeigt nur, wie schwer es ist. zwei absolut verschiedene Gebiete, die einmal zur allgemeinen Verwirrung mit einander vermengt waren, von einander loszul\u00f6sen. Die Macht der Erziehung und Gewohnheit war auch bis in die neueste Zeit ein Hindemiss, dass diese Scheidung sich vollst\u00e4ndig und grunds\u00e4tzlich vollziehe, und doch ist ja von vornherein und aus Erfahrung sicher, dass jeder metaphysische Zusatz die Naturforschung nur zu einer tr\u00fcben und unklaren Legirung macht.\nDie Naturforschung muss exact sein; sie muss sich durchaus von allem, was die Grenze des Endlichen und Erkennbaren \u00fcberschreitet, von allem Transscendenten fern halten; sie muss, da ihr Object nur der endliche kraftbegabte Stoff ist, streng materialistisch verfahren, ohne zu vergessen, dass dieser richtige Materialismus ein empirischer und kein philosophischer ist, und dass ihm die gleichen Grenzen gesteckt sind, wie dem Gebiete, auf dem er sich bevegt.\nDamit soll nicht gesagt werden, dass der Naturforschei nicht philosophiren, dass er sich nicht auch auf idealen und transscendenten Gebieten bewegen d\u00fcrfe. Aber er h\u00f6rt auf Naturforscher zu sein, und was ihm dabei etwa aus seinem Berufe zu Gute kommt, ist nur das, dass er die beiden Gebiete streng auseinander h\u00e4lt, dass er das me als das reine Gebiet des Forschens und Erkennens, das Andere aber, indem er es von allem Endlichen befreit, als das verborgene Gebiet der Ahnung zu behandeln weiss. \u2014 W\u00e4hrend f\u00fcr ihn die Endlichkeit nur monistisch sein kann, so steht ihm f\u00fcr die Ahnung des Ewigen der Monismus wie der Dualismus offen. Der letztere mag ihm vielleicht selbst besser behagen, und es mag ihm vielleicht annehmbarer erscheinen, dass in der ihm sinnlich bekannten Welt","page":600},{"file":"p0601.txt","language":"de","ocr_de":"Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis\u00ab.\t(KJ|\nnicht das ganze grosse Gelieininiss eingeschlosscn sei, dass diesel l>e vielmehr nur eine der violen Gedankenreihen des h\u00f6chsten Wesens darstelle.\nDem menschlichen Geiste, seinem Forschungstriebe und seiner Erkenntniss steht die ganze sinnlich wahrnehmbare Welt offen. Er dringt vermittelst Teleskop und Rechnung in die gr\u00f6ssten Entfernungen, vermittelst Mikroskop und Combination in die kleinsten R\u00e4ume. Er erforscht den zusammengesetztesten und verwickeltsten Organismus, der ihm selber angeh\u00f6rt, nach den mannigfaltigsten Richtungen. Er erkennt die in der Natur herrschenden Kr\u00e4fte und Gesetze, und macht sich dadurch die unorganische und organische Welt, so weit er sie erreichen kann, dienstbar. Wenn er die bisherigen Errungenschaften in den Gebieten des Wissens und der Macht \u00fcberblickt und an die k\u00fcnftigen noch gr\u00f6sseren Eroberungen denkt, so kann er mit Stolz sich als den Herrscher der Welt f\u00fchlen.\nAber was ist diese Welt, die der menschliche Geist beherrscht? Nicht einmal ein Sandk\u00f6rnchen in der Raumewigkeit, nicht eine Secunde in der Zeitewigkeit und nur ein Aussenwerk an dem wahren Wesen des Alls. Denn auch an der winzigen Welt, die ihm zug\u00e4nglich ist, erkennt er nur das Ver\u00e4nderliche und Verg\u00e4ngliche. Das Ewige und Best\u00e4ndige, das Wie und das Warum des Alls bleibt dem menschlichen Geiste f\u00fcr immer unfassbar, und wenn er es versucht, die Grenze der Endlichkeit zu \u00fcberschreiten, so vermag er nur sich selbst zum l\u00e4cherlich ausgestatteten G\u00f6tzen aufzubl\u00e4hen oder das Ewige und G\u00f6ttliche durch menschliche Verunstaltungen zu entw\u00fcrdigen. Selbst der zu vollkommener naturwissenschaftlicher Einsicht gereifte Geist verm\u00f6chte in seiner Beschr\u00e4nktheit aus der Gottheit, die er von allem Endlichen und Verg\u00e4nglichen frei machen will, nur einen constitutionellen Scheink\u00f6nig zu bilden, welcher nach dem bekannten Ausspruche eines j\u00fcngst dahingegangenen Staatsmannes \u00bbherrscht, aber nicht regiert\u00ab.\nIn der endlichen Welt walten unab\u00e4nderlich die ewigen Naturkr\u00e4fte, deren Wirkungen wir als Gesetze der Bewegung und Ver\u00e4nderung erkennen. Ob und wie sie Inhalt und Ausfluss eines in Ewigkeit beharrenden, bewussten Zweckes sind, \u00fcbersteigt unser F a8sung8verm\u00f6gen.\nWenn mein Vorg\u00e4nger Du Bois Reymond seinen Vortrag mit den niederschmetternden Worten: Ignoramus und Ignora-","page":601},{"file":"p0602.txt","language":"de","ocr_de":"(>02\tDie Schranken der naturwissenschaftlichen Erkcnntnisa.\nbimus geschlossen, so m\u00f6chte ich den meiuigon mit dem Ixxlingtcn ul)er tr\u00f6stlicheren Aussi>rucho schliessen, dass die Fr\u00fcchte unseres Forsehens nicht bloss Kenntnisse, sondern wirkliche Erkenntnisse sind, welche den Keim eines hist unendlichen Waehstliumes in sich tragen, ohne deshalb der Allwissenheit um den kleinsten Schritt sieh zu n\u00e4hern. Wenn wir eine vern\u00fcnftige Entsagung \u00fcben, wenn wir als endliche und verg\u00e4ngliche Menschen, die wir sind, uns mit menschlicher Einsicht bescheiden, statt g\u00f6ttliches Erkennen in Anspruch zu nehmen, so d\u00fcrfen wir mit voller Zuversicht sagen:\nWir wissen und wir worden wissen.","page":602},{"file":"p0603.txt","language":"de","ocr_de":"Zus\u00e4tze.\nI. Physische und metaphysische Atomistik (S. 572).\nDie physikalischen Er\u00f6rterungen \u00fcl>er Atome und Atomistik werden h\u00e4utig von den philosophisch Gebildeten al*r chemisch nicht Unterrichteten missverstanden. Dies war auch mit mciucm Vortrage der Fall, indem man das, was ich \u00fcber die chemischen Atome sagte, als f\u00fcr die von Alters her bekannten metaphysischen Atome g\u00fcltig ansah. Ich ljcmorke deshalb zun\u00e4chst zur Aufkl\u00e4rung, dass das Wort Atom in doppeltem Sinne gebraucht wird und dass die l>eiden Bedeutungen gar keine Beziehung zu einander haben, wiewohl selbst Physiker und Physiologen der Neuzeit von einer \\ ermengung der Begriffe nicht frei zu sprechen sind.\nDas absolut einfache, imagin\u00e4re oder metaphysische Atom der alten und neuen philosophischen Materialisten ist ein untheilbarcs Kraftcentrum. Das reale oder physische Atom der neueren Chemie ist ein kleines ausgedehntes individuelles K\u00f6rperchen, ohne allen Zweifel aus Theilen bestehend, aber mit den jetzigen H\u00fclfsmittcln noch nicht zerlegbar. Den Materialisten des Alterthums waren die Atome zwar unendlich ungleich nach Gr\u00f6sse und Gestalt, al>er doch nicht qualitativ-verschieden, \u2014 ferner ohne innere Zust\u00e4nde und wirklich untheilbar. Die mathematische Physik der neuern Zeit hat sie als ausdehnungslose Kraftpunkte gedacht. \u2014 Im Gegens\u00e4tze hiezu sind die Atome der neueren Chemie K\u00f6rper wie ulle andern; nur sind es die kleinsten bis jetzt sicher bekannten. Es sind die t\u00fcr unsere Il\u00fclfsmittcl nicht w'eiter theilbaren Partikeln der chemischen","page":603},{"file":"p0604.txt","language":"de","ocr_de":"604\nZunft Ue.\nElementarstoffe, mit den Kr\u00e4ften und Eigenschaften dieser letzteren begabt, Individuen, welche, sobald es gelingen wird, sie zu zer-legen, in Phoile zerfallen, die von dem Individuum (dem ganzen Atome) verschieden sind. Zwei oder mehrere solcher Atoino (dio Zahl ist genau bekannt, wenn die chemische Constitution ermittelt ist) verbinden sich zu einem Molek\u00fcl. Die reale Existenz der chemischen Atome und Molek\u00fcle kann als Gewissheit betrachtet werden (vgl. Zusatz 3).\nEs ist allerdings sehr unthunlich, dass zwei so ganz verschiedene Begriffe, n\u00e4mlich das, was man wegen Unzul\u00e4nglichkeit der H\u00fclfs-mittel zur Zeit nicht mehr theilen kann, und das, was man zum ^ oraus als untheilbar erkl\u00e4rt, den gleichen Namen tragen. Ich habe daher, um sie zu unterscheiden, die einen Atome als metaphysische, philosophische oder imagin\u00e4re (Punkt- oder Ur-)Atome und die andern als chemische, physische oder reale (Element-)Atome bezeichnet.\nEs geh\u00f6rt zum Merkmal des metaphysischen Begriffes \u00fcberhaupt, dass er nur so lango etwas zu erkl\u00e4ren scheint, als man sich an die oberfl\u00e4chliche Allgemeinheit h\u00e4lt, dass er sich aber nirgends greifen l\u00e4sst, sowie man ihm n\u00e4her tritt und etwas Reales daraus gestalten oder begreifen will. So verh\u00e4lt es sich auch mit der philosophischen Atomistik, einer mehr als 2000 Jahre alten Lehre, die in der neueren Zeit wieder aufgenommen wurde. Sie hat von dem mystischen Dunkel, das sie von Natur umh\u00fcllt, auch in der den Anschauungen der fortgeschrittensten Naturwissenschaft entsprechenden Umbildung nichts verlieren k\u00f6nnen, da jenes Dunkel in der Nichtvorstellbarkeit des Begriffes besteht. Wir k\u00f6nnen uns weder etwas Untheilburos noch etwas Raumloses als wirkliches Ding denken.\nWenn die Materialisten des Alterthums ihren einfachen Atomen Ausdehnung gaben, so liegt darin eine logische Unm\u00f6glichkeit, weil der Begriff der Gr\u00f6sse ein relativer ist und weil etwas Ausgedehntes nicht untheilbar gedacht werden kann. Mit den neueren Materialisten die Atome als ausdehnungslose Krr.ftpunkto a-zunehmen, erscheint ebenso unm\u00f6glich, da wir nicht begreifen, wie ausdehnungslose Dinge sich zu etwas Ausgedehntem an einander legen k\u00f6nnen, denn dazu ist Anziehung erforderlich und zwei oder viele sich\nanziehende Punkte m\u00fcssten sich zu einem ausdehnungslosen Punkt vereinigen.","page":604},{"file":"p0605.txt","language":"de","ocr_de":"1. PhyH\u00ceHche und motaphyniwlio Atnmintik.\tGOf)\nVon dem philosophischen Atom zur realen Welt g\u00e4hnt eine Kluft, deren Uelierschreitung um so mehr als eine Unm\u00f6glichkeit eingesehen wird, je sch\u00e4rfer wir einerseits das Atom zu fassen suchen und je tiefer wir andrerseits in die Erkenntniss der realen Welt eindringen. Es n\u00fctzt der philosophischen Atomistik auch nichts, wenn man sie mit dem Gesetz von der Erhaltung der Kruft in Beziehung bringt; denn dieses Gesetz muss f\u00fcr jede andere Anschauung elienfalls als Bedingung vorausgesetzt werden.\nW\u00e4re das einfache und untheilbarc Atom etwas Wirkliches und Denkbares, so w\u00fcrde der Traum der Naturphilosophen, die Natur philosophisch zu construirez in Erf\u00fcllung gehen k\u00f6nnen. Man h\u00e4tte ja das einheitliche Element, aus dem die Dinge mit ihren Eigenschaften eben so exact sich aufbauen liessen, als irgend eine mathematische Operation vollzogen wird. Der Umstand, dass der Naturphilosophie auch nicht die ersten Schritte gelungen sind, r\u00fchrt nicht etwa daher, weil die Aufgabe f\u00fcr jetzt noch zu schwer w\u00e4re und erst in der Zukunft ihre L\u00f6sung erhoffen d\u00fcrfte, sondern daher, weil sie \u00fcberhaupt nicht zu l\u00f6sen ist. Der Beweis daf\u00fcr f\u00e4llt nicht sehr schwer.\nDie Uratome als Kraftpunkte m\u00fcssen eine absolut einfache Wirkung aus\u00fcben. K\u00e4men ihnen verschiedene Eigenschaften und mehrfache Wirkung zu, so m\u00fcssten sie innerlich zusammengesetzt sein. Sie k\u00f6nnen also bloss entweder anziehen oder abstossen, wie schon Demokrit angenommen. Wenn wir uns nun die Aufgabe stellen, die einfachen Atome als brauchbare Bausteine zurecht zu legen, so erinnern wir uns zun\u00e4chst eines Versuches der neuem Physik. Die-sell>e hat wohl, um \u00fcberhaupt eine \\ oretellung zu gewinnen, die Annahme gemacht, dass es zweierlei kleinste Theilchen gebe, solche, die die w\u00e4gbaren Stoffe, und solche, die den Licht- und W\u00e4rme\u00e4ther zusammensetzen. Die ersten sollten sich gegenseitig anziehen, die zweiten sich gegenseitig abstossen, zwischen den ersten und zweiten aber sollte Anziehung bestehen. Mit dieser Annahme liess sich die Elasticit\u00e4t, die Gravitation der Massen und die Beschaffenheit des Welt\u00e4thers anschaulich machen, aber nur unter der unphysikalischen Voraussetzung, dass Anziehung und Abstossung bei wachsender Entfernung in ungleichem Grade abnehmen; ferner blieb auch die Elektricit\u00e4t unerkl\u00e4rt. Endlich war damit eine philosophische L\u00f6sung der Frage weder beabsichtigt noch erreichbar;","page":605},{"file":"p0606.txt","language":"de","ocr_de":"ZiihIUkp\nGOT,\nG\u00f6nn abgesehen davon, dass den w\u00e4gbaren Atomen der verschiedenen chemischen Elemente ungleiche Eigenschaften zugeschrioben werden m\u00fcssen, sind die Beziehungen zwischen den Theilchen nicht symmetrisch und daher unliefriedigend. Wenn a und a (die wttgharen Atome) sich anziehen, b und b (die Aethertheilchen) sich abstossen, so fragen wir uns, warum a und b sich gegenseitig anziehen und nicht ebenso gut sich abstossen.\nUnser Bed\u00fcrfnis nach einer vern\u00fcnftigen Weltordnung verlangt entweder Identit\u00e4t aller Uratomo oder eine Ungleichheit mit symmetrischer Vertheilung der Functionen. Identit\u00e4t w\u00e4re gogehen, wenn alle Atome mit gegenseitiger Attraction oder Repulsion liegabt w\u00e4ren ; im ersten Falle w\u2019\u00e4re die scheinbare Abstossung der K\u00f6rper ein Minus von Anziehung, im zweiten Falle die scheinbare Anziehung ein Minus von Abstossung. \u2014 Beide Annahmen sind unm\u00f6glich. Bei gegenseitiger Anziehung aller Kraftpunkto m\u00fcsste mit der St\u00f6rung der gleich massigen Vertheilung und mit dem Beginn der Bewegung eine successive Vereinigung der Kraftpunkte cintreten, bis zuletzt alle in einen einzigen Punkt zusammengeflossen w\u00e4ren. Bei gegenseitiger Abstossung k\u00f6nnte die anf\u00e4ngliche gleieh-m\u00e4ssige Vertheilung nicht gest\u00f6rt, und w\u00e4re sie einmal gest\u00f6rt, so m\u00fcsste sie nach und nach wieder hergestellt werden.\nWir werden daher, wenn \u00fclierhaupt ein. Versuch zu natur-philosophischer L\u00f6sung gemacht werden soll, sogleich mit Noth-wendigkeit auf die Forderung ungleicher Uratome gef\u00fchrt., zwischen denen theils Attraction, theils Repulsion wirksam ist. Dicsell* setzt zwar schon einen philosophisch schwerlich nachzuweisenden Dualismus voraus und ist jedenfalls nur zul\u00e4ssig, wenn die Atome jeder Gruppe unter sich identisch und wenn die Beziehungen der beiden Gruppen gleichm\u00e4ssig vertheilt sind. Diese Bedingungen sind denkbar auf drei verschiedene Arten zu erf\u00fcllen.\nI.\t\\ on \u00ablen lieiden Gruppen (\u00ab und b) stossen \u00ablie gleichnamigen Atome (\u00ab und a, ebenso b und h) sich ab, w\u00e4hrend die ungleichnamigen [n und h) sich anziehen (Fig. 26, I).\nII.\tVon den Atomen der lieiden Gruppen (a und \u00df) ziehen die gleichnamigen sich an (\u00ab und \u00ab, ebenso \u00df und /?), indess die ungleichnamigen (\u00ab und \u00df) sich gegenseitig abstossen (Fig. 26, II).\nIII.\tDie Atome der einen Gruppe (.A) ziehen sich an, die der andern (D) stossen sich ab, w\u00e4hrend die ungleichnamigen (A und 7\u00bb)","page":606},{"file":"p0607.txt","language":"de","ocr_de":"1. Physische nn\u00abl metaphysische Atomistik.\t007\nsich indifferent verhalten, also einander weder Anziehen noch ab-stossen (Fig. 25, III).\nr*K. *\u00df.\nIn den vorstehenden Figuren I, II, III sind die Anziehungen\nzwischen je zwei Uratomen \u00ablurch----, die Ahstossungen durch.....\nangegeben.\nJc\u00ablcs der drei symmetrischen Verh\u00e4ltnisse ist logisch unanfechtbar; und wenn es m\u00f6glich w\u00e4re, auf einer der drei Grundlagen etwas zu construiren und von den dynamisch einfachen Urat\u00ab\u00bbmen aus, nach k\u00fcrzerer oder l\u00e4ngerer Operation, zu den uns physisch Ixkannten kleinsten Thcilchcn, n\u00e4mlich den Aethertheihhcn und \u00ablen w\u00e4gbaren Atomen der chemischen Elementarstoffe mit ihren Eigenschaften zu gelangen, so m\u00fcsste \u00abli\u00abvsc Errungenschaft als \u00ab1er gr\u00f6sste Triumph des menschlichen Geistes gefeiert werden. Allein \u00ablie Construction ist unm\u00f6glich ; sie kann nicht \u00fcber den allerersten Schritt hinauskommen. Keines \u00ab1er drei symmetrischen Verh\u00e4ltnisse vermag uns den Schl\u00fcssel zu den wirklichen Dingen zu gel>en.\nWas \u00abbis erste derselben l>etrifft, so k\u00e4me cs uns um so annehmbarer vor, als wir es schon in der Elektricit\u00e4t verwirklicht fimlen. Aber wenn \u00ablie metaphysischen oder Uratome, welche aus-dehnungslose Eunkte sein m\u00fcssten, seinem Schema folgten, s\u00ab> w\u00fcrde zun\u00e4chst immer ein \u00ab- und ein ft-Eunkt sich zu einein neutralen 1'unkt vereinigen, und es ergnlx' sich, bei gb'icber Anzahl von \u00ab- M\u00bbd h-Eunktcn, als erstes und letztes Eroduct der Ver\u00e4nderung eine elienso grosse Zahl von neutralen afc-Eunkten, die sich we\u00ablcr Anziehen noch abstossen, also nicht mehr auf einander einwirken w\u00fcrden.\nWollte man aller die Uratome als ausgedehnte kleine Massen mit \u00ab\u2018infachen (anziehenden un\u00abl abstossenden) Centralkr\u00e4ften aufhissen, so w\u00fcrd\u00abm sich dieselben zun\u00e4chst ebenfalls zu Emiren und weiterhin zu Ketten mit nlternirenden n- mul M Miedern vereinigen,","page":607},{"file":"p0608.txt","language":"de","ocr_de":"008\n2iiflfttxo.\n- diese Ketten w\u00fcrden, je nach der gegenseitigen Lage ihrer Glieder, das Bestreben haben, sich bis zur Ber\u00fchrung zu n\u00e4hern oder immer weiter von einander zu entfernen, und da mit der Bewegung selbst die gegenseitige Lage wechselte, so k\u00f6nnte dieses Spiel des 8ich-suchens und Fliehens nie zur Ruhe kommen. Aber eine weitere Organisation und Differenzirung der Materie w\u00e4re auch in diesem Falle nicht m\u00f6glich.\nUeberhaupt l\u00e4sst sich, selbst wenn man von den angef\u00fchrten principiellen Folgerungen absehen wollte, gar keine Anordnung der nach dem ersten Schema wirkenden a- und 6-Atome denken, woraus die meisten allgemeinen physikalischen Thatsachen, wie namentlich die Gravitationsanziehung, die Elasticit\u00e4t, die W\u00e4rme, die verschieb denen Aggregatzust\u00e4nde, erkl\u00e4rt weiden k\u00f6nnten.\nWas das zweite der drei symmetrischen Verh\u00e4ltnisse betrifft, so m\u00fcssten, wenn die ganze materielle Welt aus a- und /\u00cf-Uratomen zusammengesetzt w\u00e4re, nach und nach einerseits Gruppen von a-Atomen, andrerseits solche von ^-Atomen zu Sammelpunkten, oder bei Annahme von ausgedehnten Atomen zu Massen sich vereinigen. Diese Massen k\u00f6nnten Weltensysteme bilden, welche durch Bewegung, durch Anziehung und Abstossung im Gleichgewichte erhalten w\u00fcrden.\nAber abgesehen hievon besteht keine M\u00f6glichkeit, die nach dem zweiten Schema wirkenden er- und 0-Atome so anzuordnen dass dadurch die Elektricit\u00e4t, das Verhalten des Licht- und W\u00e4rrae-\n\u00e4thers, die Elasticit\u00e4t, die fl\u00fcssigen und gasf\u00f6rmigen Aggregatzust\u00e4nde erkl\u00e4rt w\u00fcrden.\nWurde endlich die Welt nach dem dritten der symmetrischen Verh\u00e4ltnisse gebaut sein und aus Uratomen, die wie A und B sich verhalten, bestehen, so ist einleuchtend, dass ganze Gruppen von A-Atomen (wie es mit den er- und ^-Atomen des zweiten Schemas der Fall war) sich zu Sammelpunkten oder, wenn den Atomen Ausdehnung gegeben wird, zu Massen zusammenballen m\u00fcssten, w\u00e4hrend die sich abstossenden B-Atome in dem \u00fcbrigen Raum gleichm\u00e4ssig verbreitet w\u00e4ren.\nMan erhielt\u00ab somit gravi tirende WeltkOrper in einem \u00e4ther-erf\u00fcllten Raum, wie sie wirklich bestehen. Aber es mangelten der Materie nicht nur die Elektricit\u00e4t, sondern auch, da \u00bbwischen A-\nund B-Atomen keine Beziehung besteht, die Elasticit\u00e4t und die nicht starren Aggregatzust\u00e4nde.","page":608},{"file":"p0609.txt","language":"de","ocr_de":"1. Physische und metaphysische Atomistik.\n609\nSomit l\u00e4sst sich aus den einfachen metaphysischen Atomen, man mag sich die Sache zurecht legen, wie man will, nichts der Wirklichkeit Entsprechendes construiren; und wenn man sie ohne weitere Ueberlegung und ohne Bezugnahme auf die reale Welt hypothetisch als die letzten Elemente gelten l\u00e4sst, so stellt man einen unbrauchbaren und werthlosen Begriff auf.\nVerlassen wir die luftigen Regionen der metaphysischen Atome und begeben wir uns auf den Boden der wirklichen Welt. In der-sell>en kennen wir bloss Materie, die mit verschiedenen Kr\u00e4ften begabt ist, und dar\u00fcber kommen wir weder mit unserer Theorie noch mit unserer Erfahrung hinaus. Man mag die Bausteine der Materie so klein annehmen als man will, so d\u00fcrfen sie, wenn man etwas in der Natur Vorhandenes damit herstellen will, nie einfach, sondern immer nur schon zusammengesetzt und mit verschiedenen Kr\u00e4ften ausgestattet sein. Diese Einsicht wird uns sowohl durch die Deduction aus den Principien als durch die Induction au3 den Thatsachen aufgen\u00f6thigt.\nIn ersterer Beziehung m\u00fcssen wir jede Deduction dem Wertlie nach einer unbestreitbaren TI 1 at sache gleich achten, wenn sie aus einem vern\u00fcnftigen Axiom1) in logisch richtiger Weise die Folgerungen entwickelt. Ein gl\u00e4nzendes Beispiel liegt uns in der Mathematik und Mechanik vor. Aus den drei Ausdehnungen des Raumes ist die ganze Geometrie abgeleitet. Wird in vollkommen strenger Weise verfahren, so muss alles, was als vern\u00fcnftig, und dessen Gegentheil als unvern\u00fcnftig dargethan werden kann, sammt den Folgerungen daraus auch wirklich sein.\nWenden wir nun die Deduction auf die in der Natur waltenden elementaren Kr\u00e4fte an. Das Axiom, von dem dieselbe ausgehen muss, sagt uns, dass die Kr\u00e4fte zwischen zwei materiellen Theilchen nur als Anziehung oder Abstossung wirken k\u00f6nnen, und dass die beiden zusammengeh\u00f6rigen und sich widersprechenden d. h. einander aufhebenden Kr\u00e4fte ein symmetrisches Verh\u00e4ltniss darstellen\nl) Ich gebrauche diesen allgemein verst\u00e4ndlichen Ausdruck und Itexiehe mich auf den Zusatz f>. A Priorit\u00e4t, wo ich zu zeigen suche, dass die Axiome nichts anderes sind, als ganz allgemeine und unltestreithare Krfahrungxthatsachen.\nv. N\u00e4gel i, Alix\u00fcimmungitk-htv.\t39","page":609},{"file":"p0610.txt","language":"de","ocr_de":"r,10\nZiiHttt rei.\nm\u00fcssen, wie wir dies z. B. in der Elektricit\u00e4t finden. Wir erhalten auf diesem Wege drei Paare von Elementarkr\u00e4ften; es sind die n\u00e4mlichen drei symmetrischen Verh\u00e4ltnisse, die ich olxm schon in hypothetischer Weise f\u00fcr die Uratome unterschieden hal>e. Ich wiederhole sie hier, indem ich ausdr\u00fccklich l)emerke, dass jetzt nicht mehr von Atomen, sondern von wirklichen Kr\u00e4ften, die in der Natur \u00fcberall vorhanden sein m\u00fcssen, die Rede ist. Die Buchstaben a und b, a und \u00df, A und B, welche oben Uratome bezeich-neten, bedeuten jetzt Kr\u00e4fte und zwar je die entsprechenden und in symmetrischem Verh\u00e4ltniss zu einander stehenden. W\u00e4hrend oben die zwei Uratomarten des einen oder andern Verh\u00e4ltnisses (a und b oder a und (t oder A und B) f\u00fcr sich die materielle Welt aufbauen sollten, wirken hier die G Elementarkr\u00e4fte (a, b, a, /*, A, B) zusammen, um die dynamischen Erscheinungen im Weltall zu begr\u00fcnden.\nI.\tDie gleichnamigen Kr\u00e4fte stossen sich ab, die ungleichnamigen ziehen sich an. (Fig. 26, I.)\nII.\tDie gleichnamigen Kr\u00e4fte ziehen sich an, die ungleichnamigen stossen sich ab. (Fig. 26, II.)\nIII.\tDie einen gleichnamigen Kr\u00e4fte {A und A) ziehen sich an, die andern gleichnamigen (B und B) stossen sich ab; die ungleichnamigen [A und B) verhalten sich indifferent, indem sie sich weder anziehen, noch abstossen. (Fig. 26, III.)\nMg. 86.\nEin viertes symmetrisches Verh\u00e4ltniss von Kr\u00e4ften ist \u00fcl\u00bber-haupt undenkbar; es gibt nur diese drei. Die Deduction verlangt also, \u00ablass in der Natur diese drei Kategorien oder Paare von Elementarkr\u00e4ften und \u00fcl>erdem keine anderen wirksam seien.\nDie Deduction verlangt ferner, dass in je\u00ablem materiellen Theil-chen Kr\u00e4fte der drei Kategorien vereinigt Vorkommen. Eine Trennung derselben auf verschiedene Thoilchen l\u00e4sst sich nicht annehmen,","page":610},{"file":"p0611.txt","language":"de","ocr_de":"1. Pliysiwli\u00ab* nml inctapliysiHrhc Atomistik.\non\nweil sonst die dynamischen Beziehungen zwischen diesen mangeln w\u00fcrden. W\u00e4re in dem einen materiellen Theilchen \u00ab oder h, in einem zweiten a oder ft und in einem dritten A oder li allein vorhanden, so k\u00f6nnten die drei Theilchen gar nicht auf einander einwirken, und aus solchem Material k\u00f6nnte auch nichts construit werden. Wir m\u00fcssen also schon a priori annehmen, dass in einer Masse von beliebiger Gr\u00f6sse a und fc, \u00ab und ft, A und li vereinigt seien, und dass, wenn wir dieselbe auch in noch so kleine Splitter theilen, in jedem derselben alle Kr\u00e4fte als der Substanz inh\u00e4rente Eigenschaften sich vorfinden.\nIch will die Deduction hier nicht weiter fortzuf\u00fchren suchen. Vergleichen wir mit den el)en dargelegten Ergebnissen der.sel lien die auf inductivem Wege gewonnenen wissenschaftlichen That Sachen und Gesetze, so sehen wir alsbald ein, dass die Physik von den drei Kategorien von Elementarkr\u00e4ften bis jetzt nur zwei keimt, n\u00e4mlich die erste als Elektricit\u00e4t (mit Magnetismus) und die dritte als Gravitationsanziehung der w\u00e4gbaren Stoffe und als Abstossung des Aethers. Die zweite Kategorie von Kr\u00e4ften, die sich dadurch auszeichnet, dass die gleichnamigen sich anziehen, die ungleichnamigen sich abstossen, und die ich deshalb Isagit\u00e4t') nennen will, ist als solche durch directe Beobachtung noch nicht erkannt. Die Ursache dieses Mangels besteht darin, dass die isagische Anziehung und Abstossung sich nirgends in der Natur zu merkbaren Gr\u00f6ssen summiren. Dass dieselben aber vorhanden sein m\u00fcssen, ergibt sich aus dem Umstande, weil ohne sie die molecularen Erscheinungen nicht erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnten.\nDie Wissenschaft kennt n\u00e4mlich Eigenschaften der kleinsten Theilchen, die Elasticit\u00e4t und die chemische Affinit\u00e4t, welche nicht aus den bisherigen Elementarkr\u00e4ften zu begreifen sind. Beide, l>e-sonders aber die chemische Verwandtschaft, sind Anziehungen, die sich weder auf die Gravitation und Elektricit\u00e4t allein zur\u00fcckf\u00fchren, noch als besondere einfache Elementarkr\u00e4fte definiren lassen. Vielmehr m\u00fcssen wir sie als zusammengesetzte Erscheinungen lietrachten, die aus dem Zusammenwirken aller Elementurkr\u00e4fte hervorgehen, was auch keinen Anstand findet, sobald noch die bis jetzt unliekannte Kategorie von Elementarkr\u00e4ften, die Isagit\u00e4t, zu H\u00fclfe genommen\n') Von \u00efoo\u00ef, gleich nn\u00bbl nynr, nnziplicn.","page":611},{"file":"p0612.txt","language":"de","ocr_de":"Gl 2\nZus\u00e4tze*.\nwird. Ich verweise hier\u00fcber auf die am Schl\u00fcsse folgende Abhandlung: Kr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\n2. Unendliche Abstufung in der Zusammensetzung und Organisation des\nStoffes (S. 572).\nW\u00e4hrend es mit R\u00fccksicht auf Raum und Zeit verh\u00e4ltniss-m\u00e4ssig leicht ist, sich der Endlichkeit im Gegensatz zur Ewigkeit bewusst zu werden, scheint es dagegen nicht leicht, dar\u00fcber volle Klarheit zu erlangen, dass die uns bekannte Welt auch r\u00fccksichtlich der Zusammensetzung oder der Organisation des Stoffes sich in einer gleichen Endlichkeit befindet. Denn w\u00e4hrend man von unendlicher Theilbarkeit spricht, spricht man oft gleichzeitig von untheilbaren Atomen; das Eine schliesst aber das Andere selbstverst\u00e4ndlich aus. Soga- die Annahme von ausdehnungslosen Kraftpunkten (vgl. Zusatz 1) setzt einen Anfang in der Zusammensetzung, somit ein Ende in der Theilbarkeit voraus. Die unendliche Theilbarkeit besteht ja darin, dass man mit dem Theilen nicht fertig wird und somit niemals bei dem absolut Einfachen anlangt.\nMit der nicht endenden Theilbarkeit ist auch eine unendliche Abstufung in der Zusammensetzung und Organisation verbunden. Die unaufh\u00f6rliche Theilbarkeit hat nur dann wirkliche Bedeutung, wenn die Theile fr\u00fcher oder sp\u00e4ter dem Ganzen ungleich werden.\u2019\nEin Liter Wasser kann zwar lange getheilt werden und man hat immer wieder Wasser. W\u00fcrde dies ohne Ende so fortgehen, so w\u00e4re das Wasser ein homogener, den Raum continuirlich erf\u00fcllender K\u00f6rper. Ist man aber etwa beim 25-quadrillionsten Theil des Liters angekommen, so kann derselbe nicht mehr in Wassertheilchen zerlegt werden. Man hat jetzt das Wassermolek\u00fcl vor sich, welches in 1 Sauerstoff- und 2 Wasserstoffatome zerf\u00e4llt.\nIn welcher Art die Atome der chemischen Grundstoffe zusammengesetzt seien, ob sie nach Analogie der chemischen Molek\u00fcle aus einer beschr\u00e4nkten Zahl von Theilen, die dem Ganzen un\u00e4hnlich sind, oder nach Analogie des Wassertropfens, des Krystalls, des Weltk\u00f6rpers zun\u00e4chst aus zahlreichen, dem Ganzen \u00e4hnlichen! Theilen bestehen, bleibt vor der Hand ein R\u00e4thsel. Bei der durchaus relativen Bedeutung aller Gr\u00f6ssenverh\u00e4ltnisse ist es immerhin","page":612},{"file":"p0613.txt","language":"de","ocr_de":"2. Unumlliche Alwtufung in il. Zusammensetzung u. Organisation <lcs Stoffes. (j|;j\nnicht unm\u00f6glich und sogar nicht unwahrscheinlich, duss man l*<i der wiederholten Theilung der chemischen Atome fr\u00fcher oder sp\u00e4ter J l)ei individuellen K\u00f6rperchen anlangte, welche einen den Weltk\u00f6rpern \u00c4hnlichen Bau besitzen, an ihrer Oberfl\u00e4che mit kleinen Wesen l>evdlkert sind und in ihrer Vereinigung den gestirnten Himmel nachahmen.\nWie die endlose Theilbarkeit des Raumes auf stets neue und kloinere individuelle Theile f\u00fchrt, so ist mit der endlosen Ausdehnung des Raumes auch eine nicht endende Zusammensetzung zu immer gr\u00f6sseren Ganzen mit individueller Besonderheit, also eine nicht endende Organisation gegeben. Die Gesammtheit des gestirnten Himmels, die aus immer gr\u00f6sseren Systemen sich aufbaut, kann ein solches individuelles Ganzes sein, welches als Theil eines gr\u00f6sseren Ganzen sich entweder wie ein Atom in einer chemischen Verbindung oder wie ein Molek\u00fcl in einem Krystall oder wie ein Molek\u00fcl in einer Gasmasse oder wie ein Weltk\u00f6rper selbst oder in irgend einer andern Weise verh\u00e4lt. M\u00f6glich, dass die Weltensysteme zu kunstvollen Organismen zusammengef\u00fcgt sind, die unseren eigenen Organismus an Intelligenz weit \u00fcbertreffen.\nMan m\u00f6chte vielleicht die Vorstellung von einer endlosen Zusammensetzung und Organisation sowohl nach dem Kleinen als nach dem Grossen hin f\u00fcr die Ausgeburt einer ungez\u00fcgelten Phantasie halten. Gleichwohl ist sie nichts anderes als die von der n\u00fcchternsten Ueberlegung gewonnene Consequenz, deren man sich vorz\u00fcglich deswegen nicht so leicht bewusst wird, weil die nat\u00fcrliche Neigung besteht, sich auf die unseren Sinnen und unserem Erken ntnissverm\u00f6gen erfahrungsgem\u00e4ss zug\u00e4ngliche Welt zu beschr\u00e4nken. Dadurch wird man zu dem falschen Schluss verleitet, das Kleinste, von dem man durch Wahrnehmung und Ueberlegung Kunde erlangt, als einfaches und untheilbares Element\u2014 und andrerseits den gestirnten Himmel, so wie wir ihn kennen, wenn auch in noch viel gr\u00f6sserer Ausdehnung, als das Universum zu betrachten. Und dieser doppelte falsche Schluss liegt um so n\u00e4her, als die neuen Krafteombinationen und Bewegungsformen, welche ohne Zweifel sowohl im Kleinsten als im Gr\u00f6ssten wirksam sind und die neuen Organisationsformen erkl\u00e4ren helfen, uns verl>orgon bleiben.\nDaf\u00fcr, dass wirklich eine endlose Zusammensetzung mit entsprechender ( )rganisation anzunehmen ist, spricht einmal die Analogie.","page":613},{"file":"p0614.txt","language":"de","ocr_de":"(514\n\nWir sind, jo allgemeinerer Natur ein Gesetz ist, um so mehr zu der Annahme gezwungen, dass es auch in den uns noch unbekannten Gebieten G\u00fcltigkeit habe. So l)estoht f\u00fcr uns die Nothwendigkeit, dass jenseits des durch sinnliche Wahrnehmung bekannten Raumes wieder Raum, dass vor und nach der bekannten Zeit wieder Zeit zu sotzen ist, und es wird uns die Endlosigkeit von Raum und Zeit zum Axiom.\nBez\u00fcglich der Organisation wissen wir, dass alles, was uns hinreichend bekannt ist, einerseits aus Theilcn zusammengesetzt (organisirt), andrerseits Theil einer gr\u00f6sseren Organisation ist. Wir k\u00f6nnen diese Zusammensetzung durch eine grosse Zahl von Stufen verfolgen und wir m\u00fcssen logischer Weise annehmen, dass diese Stufenreihe sich nach unten und nach oben endlos fortsetze. Das Aufh\u00f6ren nach der einen oder anderen Seite w\u00e4re etwas Neues, f\u00fcr das wir keine Analogie haben, sowenig als f\u00fcr das Aufh\u00f6ren von Raum und Zeit.\nF\u00fcr die Annahme einer endlosen Zusammensetzung und Organisation spricht ferner der Umstand, dass uns das Aufh\u00f6ren dersell>en als Unm\u00f6glichkeit erscheint. Alles Endliche und Reale lniwegt und ver\u00e4ndert sich. Nehmen wir einem Ding f\u00fcr immer Bewegung und \\er\u00fcnderung, so befindet es sich in absoluter Ruhe; es h\u00f6rt auf, wirklich zu sein und f\u00fcr unser Begriffsverm\u00f6gen zu existiren. Diese absolute Ruhe m\u00fcsste aber da beginnen, wo die Organisation zu Ende ginge. W\u00fcrde beispielsweise das Aethertheilchen oder das chemische Atom oder ein Theilungsst\u00fcck dieser kleinsten K\u00f6rperchen l>ei der Theilung endlos in gleiche St\u00fccke zerfallen, so w\u00e4re es in seinem Innern homogen, ohne Bewegung und ohne Ver\u00e4nderung. Es w\u00e4re in todter Ruhe und wir w\u00fcrden nicht liegreifen, dass es sich in lebendiger Wechselbeziehung zu andern K\u00f6rpern befindet. Jedenfalls k\u00f6nnte es nach aussen nur eine einfache Wirkung aus-\u00fclien, also bloss anziehen oder abstossen, und mit so einfach gedachten Elementen l\u00e4sst sich nichts Reales construiren (vgl. Zusatz 1).\nBez\u00fcglich der endlosen Zusammensetzung im Grossen besteht eine umgekehrte Schlussfolgerung. W\u00fcrden sich die Weltk\u00f6rpersysteme bloss jedes f\u00fcr sich in seinem Innern ver\u00e4ndern und im Uebrigen in endloser Folge sich gleichartig an einander reihen, so w\u00e4re dies allerdings wieder die todte Ruhe. Aber dies ist unm\u00f6glich, weil die einzelnen Weltk\u00f6rjar und daher auch die ganzen","page":614},{"file":"p0615.txt","language":"de","ocr_de":"8. NutiirjthiloHojiliiBche Weltanschauungen.\nSysteme auf einander einwirken und somit eine gegenseitige Ver\u00e4nderung bedingen. Mit einer unendlichen Zahl von Weltk\u00f6rpern, die durch den endlosen Kaum vertheilt sind, muss es sich \u00e4hnlich ' orbalten wie mit der urspr\u00fcnglichen Gasmasse, mit der unser Sonnensystem begonnen hat. Wie die letztere durch die in ihr wirksamen Kr\u00e4fte noth wendig sich verdichtete und organisirte, so m\u00fcssen auch die Weltk\u00f6rper sich zu niederen und h\u00f6heren Gruppen vereinigen; es muss, wenn auch einmal kaum eine Andeutung einer Gruppirung Instand, dieselbe immer deutlicher hervortreten und zu einer immer mehr ausgesprochenen Organisation f\u00fchren.\nKs versteht sich, dass mit der Abstufung in der Zusammensetzung und Organisation auch eine Abstufung in der Zeitdauer parallel geht, und dass unser Zeitmaass in dem unendlich Kleinen, sowie in dem unendlich Grossen nicht mehr anwendbar ist. F\u00fcr die Ver\u00e4nderungen in dem organisirten Aethertheilchen oder chemischen Atom mag eine Secunde fast eine Ewigkeit, f\u00fcr die Ver\u00e4nderungen in dem Organismus dagegen, in welchem der gestirnte Himmel einen Theil ausmacht, mag eine Million von Jahren gleich einem Augenblicke sein. Zeit- und Kaumgr\u00f6ssen sind ja nur relative Hegriffe. Die Gr\u00f6sse eines Raumabschnittes wird nach der Menge von Dingen, die Gr\u00f6sse eines Zeitabschnittes nach der Menge von Ereignissen, die wir darin unterscheiden, beurtheilt und nach den gegebenen Wahrnehmungen das Maass von Raum und Zeit bestimmt.\n3. Naturphilosophische Weltanschauungen. Entropie. (S. 577).\nUnter den Weltanschauungen hat iur uns die physicalische einen besondern Werth, weil sie die Consequenz exueter Forschung ist. Aus dem allgemeinen Princip, dass W\u00e4rme nicht von selbst d. h. nicht ohne Compensation aus einem k\u00e4lteren in einen w\u00e4rmeren K\u00f6rper \u00fcbergehen kann, und dem andern allgemeinen Princip, dass hei den unaufh\u00f6rlich in der Natur stattfindenden Verwandlungen die in W\u00e4rme verwandelte mechanische Energie nie vollst\u00e4ndig wieder in diese \u00fcberzugehen vermag, wird geschlossen, dass alle in der Natur vorkommenden Ver\u00e4nderungen in einer gewissen (\u00bbpositivem) Richtung von selbst (ohne Compensation) eintreten k\u00f6nnen, und dass sie in der entgegengesetzten (\u00bbnegativem) Richtung nur","page":615},{"file":"p0616.txt","language":"de","ocr_de":"616\nZus\u00e4tze.\ndann m\u00f6glich sind, wenn sie durch gleichzeitige positive Ver\u00e4nderungen compensirt werden. Die Gr\u00f6sse dieser Neigung, welche die Natur hat, einen Process in einer gewissen (jjositiven) Richtung auszuf\u00fchren und einen K\u00f6rper in einem gewissen (positiven) Sinne umzubilden, wurde von Clausius \u00bbEntropie\u00ab genannt.\nDiese Schlussfolgerung ist auf das Universum angewendet und l>ehauptet worden (zuerst von W. Thomson), dass die Verwandlungen in positivem Sinne immer die negativen an Gr\u00f6sse \u00fcl>er-treffen, und dass das Weltall sich stetig einem Grenzzustande n\u00e4here, in welchem alle Energie die Form von W\u00e4rme angenommen und alle Temperaturdifferenzen sich ausgeglichen h\u00e4tten.\nDiese Behauptung w\u00e4re richtig, wenn das Gesetz der Entropie ganz allgemein d. h. f\u00fcr alle Kr\u00e4fte und Bewegungen in allen m\u00f6glichen Zust\u00e4nden als g\u00fcltig nachgewiesen w\u00e4re. Hiezu muss bemerkt werden, dass das Gesetz physikalischer Natur ist, dass es allein durch die Erfahrung gewonnen wurde und dass es nur irrt\u00fcmlich etwa als mathematisch bewiesen aufgefasst 'wird, woran die Urheber wohl kaum gedacht haben. Ein Princip d. h. eine allgemeine Thatsache von wirklicher, nicht bloss formaler Bedeutung kann in Differentialgleichungen nie seine Begr\u00fcndung, sondern nur seinen genauen Ausdruck finden. Die mathematische Behandlung dient immer bloss dazu, f\u00fcr bestimmte Voraussetzungen die Folgerungen in quantitativ normirten Verh\u00e4ltnissen darzulegen, und wenn es wohl den Anschein gewinnt, als ob die Thatsache selbst dadurch bewiesen werde, so geschieht es nur deshalb, weil diesellie schon in die ersten Ans\u00e4tze hineingelegt wurde.\nUm das Gesetz der Entropie in ganz allgemeiner und absoluter G\u00fcltigkeit physicalisch zu begr\u00fcnden, reichen unsere Kenntnisse sicherlich nicht aus. Selbst Elektricit\u00e4t und Magnetismus bleiben vorerst ausgeschlossen, so lange die entsprechenden molecularen Kr\u00e4fte und Bewegungen durch Erfahrung so wenig l>ekannt sind, als es gegenw\u00e4rtig der Fall ist. Viel mehr aller gilt dies von den unzweifelhaft vorhandenen, aber noch ganz unl>ekannten Kraftcom-binationen und Bewegungsformen, welche die Verschiedenheit der chemischen Elementarstoffe mit R\u00fccksicht auf ihre Affinit\u00e4t, Wertigkeit und die \u00fcbrigen physicalischen Eigenschaften, und welche ferner das Verh\u00e4ltniss zwischen den w\u00e4gbaren (chemischen) und unw\u00e4gbaren (Aether ) Theilchen bedingen. So lange diese L\u00fccke","page":616},{"file":"p0617.txt","language":"de","ocr_de":"8. Xaturphiloeojihischc Weltanschauungen\t617\nin unserer Erkenntnis besteht, kann auch kein allgemeines Gesetz f\u00fcr den Verwandlungsinhalt des Universums uufgestellt werden.\nDass aber dem Gesetz der Entropie eine absolute G\u00fcltigkeit in der That nicht zukommen kann, geht aus den Consequenzen desselben hervor. Wenn das Universum sich in einer bestimmten Richtung verwandelt, wenn seine Entropie einem Maximum zustrebt und somit von einem Minimum ausgegangen ist, so haben wir einen endlichen Process vor uns mit einem Anfang und einem Ende. Das Ende ist der allgemeine Tod ; was kommt nachher? Was ist ferner der Anfang und was ist demsell>en vorausgegangen? Offenbar k\u00f6nnten vir zu dem Anfang nur durch die Hypothese gelungen, dass in einem bis dahin unver\u00e4nderlichen und ebenfalls todten Zustande Bewegung begonnen habe, also nur durch die Annahme eines Wunders und Preisgebung des Causalgesetzes. Dies l>eweist uns, dass die (positive) Entropie keine ganz allgemeine Erscheinung sein kann und dass sie ihre Compensation in uns noch unbekannten Gebieten finden muss.\nEs w\u00e4re m\u00f6glich, dass, sobald dereinst die in der uns umgebenden Natur jetzt th\u00e4tige entropischc Umwandlung eine gewisse H\u00f6he erreicht hat, Kr\u00e4fte, die uns wegen ihrer gegenw\u00e4rtig geringen Wirkung verborgen bleiben, intensiver wirken und eine neue Zerstreuung des Stoffes verursachen werden, wobei W\u00e4rme wieder in mechanische Energie \u00fct>ergeht. Es w\u00e4re m\u00f6glich, dass diese letztere Umwandlung einst dadurch l>ef\u00f6rdert wird, dass unser Sonnensystem mit der Zeit in Regionen des Universums gelangt, in denen andere 1 ntensit\u00e4ten jener noch unbekannten Kr\u00e4fte und Bewegungen herrschen; dass also, mit andern Worten, aut die Periode der |>ositivcn Entropie eine wahrscheinlich rascher verlaufende Periode negativer Entropie folgen wird, und dass dann andere Intelligenzen jener k\u00fcnftigen Periode die negative Entropie als ein der Erfahrung entsprechendes allgemeines Gesetz des Universums aufstellen werden.\nUm diese M\u00f6glichkeit anschaulich zu machen, muss ich noch etwas n\u00e4her auf die molecularen Verh\u00e4ltnisse eintreten. Die Atome der chemischen Verbindungen sind nothwendig als sehr zusammengesetzte K\u00f6rper zu betrachten ; daf\u00fcr sprechen ihre verschiedenen Eigenschaften (ungleiches Gewicht, ungleiche chemische Affinit\u00e4t, ungleiche Wcrthigkeit, ungleiche Aggregat zustande, ungleiches Jjei-tungsverm\u00f6gen f\u00fcr Licht, W\u00e4rme, Elektricit\u00e4t und noch manche","page":617},{"file":"p0618.txt","language":"de","ocr_de":"618\nZus\u00e4tze.\nandere Verh\u00e4ltnisse), ferner auch der Umstand, dass sie die Aether-theilchen an Gr\u00f6sse und Masse fast unendlich \u00fcbertreffen. Wir k\u00f6nnen uns die innere Beschaffenheit dor Atome nur so denken, wie wir alle zusammengesetzten K\u00f6rper kennen, n\u00e4mlich als begabt mit einer gewissen Beweglichkeit der Theilchen und sohin mit einer gewissen Ver\u00e4nderlichkeit.\nAlles in der endlichen Welt ist ver\u00e4nderlich und wenn auch die Sonne und die Planeten seit Jahrtausenden gleiche Gestalt und gleiches Gewicht l>esitzen und noch viele Jahrtausende besitzen werden, so hindert das die Physik nicht, anzunehmen, dass dieselben in der Urzeit eine ganz andere, und zwar gasf\u00f6rmige, Beschaffenheit batten und dass zu jener Zeit auch die astronomische Weltordnung eine ganz andere war; \u2014 und die Physik beweist ferner, dass auch in ferner Zukunft wichtige Ver\u00e4nderungen eintreten m\u00fcssen und dass die Weltordnung abermals eine andere sein wird. Die Welt im Grossen ist also in einer Umwandlung liegriffen, die aber so langsam vor sich geht, dass wir einen station\u00e4ren und unver\u00e4nderlichen Zustand vor uns zu haben glauben.\nDa alle Systeme von materiellen Theilen, die wir hinreichend kennen, vom gr\u00f6ssten bis zum kleinsten, sich ver\u00e4ndern, so sind wir gen\u00f6thigt, dies auch von den chemischen Atomen anzunehmen. Ihre Ver\u00e4nderungen k\u00f6nnen in verschiedener Weise erfolgen, verschiedene ihrer Eigenschaften betreffon und somit auch eino verschiedene Bedeutung haben. F\u00fcr die vorliegende Frage ist das Verhalten in einer Beziehung, n\u00e4mlich r\u00fccksichtlich des Verm\u00f6gens W\u00e4rme zu binden, wichtig. Vergleichen wir z. B. Kohlenstoff und Wasserstoff; ersterer beh\u00e4lt bei den h\u00f6chsten Temperaturgraden, letzterer bei den niedrigsten seinen Aggregatzustand; ersterer ist ein permanent fester, letzterer ein permanent gasf\u00f6rmiger K\u00f6rper. Unter den chemischen Elementen besitzen die Kohlenstoffatome die geringste, die Wasserstoffatome die gr\u00f6sste Menge von gebundener W\u00e4rme, und dies in Folge ihrer ungleichen Beschaffenheit. Wenn der Kohlenstoff seine Natur in dieser Beziehung \u00e4nderte und diejenige des Wasserstoffes ann\u00e4hme, so w\u00fcrde er eine entsprechende Menge freier W\u00e4rme binden, d. h. in Bewegung verwandeln, und er w\u00e4re bei gew\u00f6hnlicher Temperatur gasf\u00f6rmig.\nBestehen die chemischen Atome aus zahlreichen Theilchen, denen \\ erscliiedene anziehende und abstossende Elementarkr\u00e4fte eigen-","page":618},{"file":"p0619.txt","language":"de","ocr_de":"3. Naturphilonophischc Weltanschauungen\t(}|\u00abj\nth\u00fcinlich sind, was als die einzig m\u00f6gliche, naturgesetzliehe An-nahmo erscheint1), so h\u00e4ngt es von der Anordnung dieser kraft-l>egabten Theilehen ab, oh die Atomoberflftche eine gr\u00f6ssere oder geringere Zahl von andern, l>eweglicheren Theilehen, eine Aether-h\u00fclle von gr\u00f6sserer oder geringerer M\u00e4chtigkeit anzuziehen und lestzuhalten vermag. Hiedurch aber wird der festere oder lockerere Zusammenhang mit den andern Atomen und die F\u00e4higkeit, mehr oder weniger W\u00e4rme aufzunehmen, somit auch der Umstand bedingt, ob die Substanz bei gew\u00f6hnlicher Temjteratur im gasf\u00f6rmigen, fl\u00fcssigen (xler festen Zustande auftritt. Und wenn die Anordnung der Theilehen, wozu die M\u00f6glichkeit durch ihre Beweglichkeit und Verschiebbarkeit gegeben ist, in einem Atom sich ver\u00e4ndert, so wird auch die M\u00e4chtigkeit der Aetherh\u00fclle sammt der Adh\u00e4sion an andere Atome und damit die Schmelz- und Verdampfungstemperatur und schliesslich der Aggregatzustand bei gew\u00f6hnlicher Temperatur ein anderer.\nDiese Umlagerung der Theilehen in den Atomen erfolgt m\u00f6glicher Weise ohne \u00e4ussere Einwirkung, sodass bei der Configurations-\u00fcnderung die Gesammtenergie sich weder vermehrt noch vermindert; sie !>ef\u00fchigt al>er das Atom, \u00e4ussere Arbeit in positivem oder negativem Sinne zu leisten, d. h. mehr oder weniger Anziehung auf andere Atome auszu\u00fcben. M\u00f6glicher Weise wird jene Umlagerung durch Einwirkung von aussen angeregt, indem das Atom Substanz aufnimmt oder abgibt. Dadurch wird nat\u00fcrlich die Anziehung auf andere Atome viel sicherer und energischer ge\u00e4ndert als im ersten Falle. Geht die Ver\u00e4nderung in allen oder in den meisten chemischen Elementen im gleichen Sinne vor sich, n\u00e4mlich so, dass die Aetherh\u00fcllen der Atome m\u00e4chtiger und der Zusammenhang unter den Atomen geringer wird, so kann ein Zustand herbeigef\u00fchrt werden, welcher im Grossen und Ganzen eine Umwandlung von W\u00e4rme in mechanische Energie, somit die negative Entropie bedingt*).\nDie Contigurations\u00e4nderung in den Atomen und damit die Ver\u00e4nderung ihrer physicalischen Natur ist nicht bloss aus allgemeinen Analogiegr\u00fcnden m\u00f6glich und wahrscheinlich ; sie wird auch durch\n') Vgl. dir folgende Abhandlung: Kritfte und Gestaltungen im moloeularen < iehiet.\n*) Vgl. Kritfte und Gestaltungen im moloeularen (iehiet. 9. Entstehung, Beschaffenheit und Ver\u00e4nderung der Atome.","page":619},{"file":"p0620.txt","language":"de","ocr_de":"620\nZuaftt re.\nbestimmte Erw\u00e4gungen geradezu gefordert. Wenn die Mater\u00ab der K\u00f6rper unsere Sonnensystems in der Urzeit sich in einem gasf\u00f6rmigen Zustande befunden hat, so fragen wir uns, wodurch dies m\u00f6glich war. Die Hauptmasse dieser Materie ist ja bei gew\u00f6hnlicher Temjie-ratur fest und geht erat bei den h\u00f6chsten uns bekannten Hitzegraden (Gl\u00fchhitze) in den fl\u00fcssigen Zustand \u00fcber. Es ist ganz undenkljar, dass jemals eine Temperatur geherrscht habe, welche das Gestein zu Gas verfl\u00fcchtigte. Wo w\u00e4re diese W\u00e4rme hingekommen, wrenn der ganze Himmelsraum damit erf\u00fcllt war? Und wie h\u00e4tte sic sich zusammenh\u00e4ufen k\u00f6nnen, wenn es nur eine locale, den Raum unsere Sonnensystems erf\u00fcllende Hitze war. Ueberdem hat ja die W\u00e4rmo-bildung, die uns bekannt ist, erst mit der Zusammenballung der urspr\u00fcnglich gas\u00e4hnlich zoretreuten Materie begonnen.\nDie Annahme eines urspr\u00fcnglichen gasf\u00f6rmigen Zustandes verlangt, wenn wir nicht viel weiter gehende und k\u00fchnere Hypothesen aufstellen wollen, nothwendig die weitere Annahme, dass die chemischen Elemente der die Sonne und die Planeten zusammensetzenden Materie damals eine andere Beschaffenheit hatten und in Folge derselben bei einer Temperatur des Himmelsraumes, die wreit unter der jetzigen stand, in luftf\u00f6rmiger Zerstreuung auftraten. Indem diese Natur sich \u00e4nderte, ballten sich die Gase zusammen zu fl\u00fcssigen und festen K\u00f6rpern und gaben ihre gebundene W\u00e4rme als freie W\u00e4rme ab. Dieser Process dauert noch immer fort und wird so lange dauern, bis \u00fclxjrall gleichm\u00e4ssige Temperatur herrscht und die Erstarrung der Welt eingetreten ist, oder bis durch neue Aenderung der Natur der chemischen Stoffe in entgegengesetztem Sinne wieder freie W\u00e4rme gebunden wird und unser Planetensystem durch die r\u00fcckl\u00e4ufige negative Entropie zum gasf\u00f6rmigen Zustande zur\u00fcckkehrt.\nEs w\u00e4re denkbar, dass die Umlagerong der Theilclicn in den Atomen ein langsam vor sich gehender, wesentlich durch innere Entwicklung geregelter und von \u00e4usseren Umst\u00e4nden wenig abh\u00e4ngiger Process ist. Dann w\u00fcrde sie in den verschiedenen chemischen Elementen zu ungleicher Zeit beginnen und somit zu der n\u00e4mlichen Zeit in ungleichem Sinne verlaufen, z. B. im Kohlenstoff in positiver, im Wasserstoff in negativer Richtung. Es ist al>er auch dcnkl)ar, dass eine neue Umlagerung erst beginnt, wenn die \u00e4usseren Umst\u00e4nde in gewissom Sinne andere geworden sind; \u2014","page":620},{"file":"p0621.txt","language":"de","ocr_de":"3. NatiirphiloeophiRche Weltanschauungen.\nG21\nwenn z. B. durcli die fortschreitende Abk\u00fchlung die Ann\u00e4herung der Molek\u00fcle und Atome und die Verlangsamung der molecularen Bewegungen einen bestimmten Grad erreicht haben und damit gewisse Kr\u00e4fte, die bis jetzt weniger wirksam waren, eine entscheidende Bedeutung gewinnen ; \u2014 oder wenn unser Sonnensystem mit der Zeit in andere Regionen des Universums gelangt, in denen der Aether eine etwas andere Beschaffenheit besitzt, welche die Umstimmung in den Atomen anregt.\nClausius hat sich ein grosses Verdienst erworben durch die Begr\u00fcndung, die mathematische Formulirung und die Anwendung des Gesetzes der Entropie. Aber es darf nicht vergessen werden, dass seine G\u00fcltigkeit im Sinne des Autors nur f\u00fcr die uns bekannten Verh\u00e4ltnisse nachgewiesen ist und daher wegen der L\u00fcckenhaftigkeit unserer Kenntnisse auch nicht einmal f\u00fcr die Endlichkeit als allgemein betrachtet werden darf.\nIm entschiedenen Irrthum al>er befinden sich diejenigen, welche die Entropie f\u00fcr die Ewigkeit in Anspruch nehmen. W\u00fcrde sie sellwt alle Naturprocesse in unserer Zeit und in unserem Raum beherrschen, so d\u00fcrfte sie \u00abloch nicht als Grundlage einer absoluten oder philosophischen Weltanschauung l>enutzt werden. Diese liesse sich, wie ich bereits angedeutet hal>e, noch anschaulicher in ihrer Absurdit\u00e4t nach weisem als die \u00fcbrigen naturphilosophischen Weltanschauungen. Der Grund dieses Vorzuges ist einleuchtend. Da aus \u00ablein Endlichen nicht auf das Ewige geschlossen wrerden kann, so l\u00e4sst sich der Trugschluss um so leichter als solcher durchschauen, je klarer und exacter \u00ablas Endliche gedacht wird.\nWir k\u00f6nnen, um uns die philosophischen Weltanschauungen vorstellbarer zu machen, \u00abliesell>cn als Curven verzeichnen. F\u00fcr die physicalisch-phihisophische, welche die Welt aus einer urspr\u00fcnglichen Gasmasse sich verdichten un\u00abl zuletzt erstarren l\u00e4sst, geben die Ordinaten \u00ablen Gnul der Verdichtung an, w\u00e4hrend die Zeiten auf \u00ab1er Alwcisscnaxe aufgetragen werden (Fig. 27). Die Curve n\u00e4hert sich von \u00ablern Nullpunkt der Gegenwart aus r\u00fcckw\u00e4rts nach der unendlichen Vergangenheit immer mehr \u00ab1er Abscissenaxe, vorw\u00e4rts nach \u00ab1er unendlichen Zukunft immer mehr einer Abscisse, deren Ordinaten \u00ablern gr\u00f6ssten Grad der Verdichtung entsprechen. \u2014 Die idealistisch-philosophische Weltanschauung gibt uns die gleiche","page":621},{"file":"p0622.txt","language":"de","ocr_de":"<122\nZuRfttze\nCurve, wenn wir den zu jeder Zeit erreichten Grad der Vervollkommnung als Ordinate auftragen.\nWir k\u00f6nnen aber auch die Gr\u00f6sse (Intensit\u00e4t) der Ver\u00e4nderung w\u00e4hrend der Zeiteinheit als Maass f\u00fcr die Ordinaten l>enutzen, indess die Zeiten wieder als negative oder positive Entfernungen auf der Abscissenaxe erscheinen (Fig. 28). Die Curve der beiden vorgenannten Weltanschauungen n\u00e4hert sich dann sowohl in der unendlichen Vergangenheit als in der unendlichen Zukunft immer mehr der Al\u00abcissenaxe, w\u00e4hrend ihr H\u00f6hepunkt in einer endlichen Entfernung vor oder nach dem zeitlichen Nullpunkt der Gegenwart sich befindet; die aufsteigende und \u00ablie absteigende H\u00e4lfte der Curve k\u00f6nnen einander mehr oder weniger ungleich sein.\nF\u00fcr die materialistisch-philosophische Weltanschauung wird die Curve, wir m\u00f6gen die Vollkommenheit oder einen anderen Zustand der Welt oder die Intensit\u00e4t der Ver\u00e4nderung w\u00e4hrend der Zeiteinheit durch die L\u00e4nge der Ordinaten ausdr\u00fccken, eine mit der Abscissenaxe im allgemeinen parallel laufende Linie, \u00ablie je na\u00ab b der Vorstellung gerade oder wellenf\u00f6rmig sein kann, aber sich der Abs\u00ab\u00e4ssenaxe auf die Dauer weder n\u00e4hert, noch sich von <lersell>en entfernt.\n4. Bedingungen f\u00fcr empirisches Wissen und Erkennen. Morphologische\nWissenschaften (S. 580).\nEs herrschen bez\u00fcglich des Wissens und Erkennens innerhalb \u00ables Gebietes \u00ab1er Erfahrung verseilie<lene Ansichten, die denn auch","page":622},{"file":"p0623.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022\t4. Bedingungen f\u00fcr empirische\u00ab Witwen und Erkennen.\nf\u00fcr die Feststellung der Schranken maassgebend sind. Ich hin von folgenden Gesichtspunkten ausgegangen, wot\u00bbei ich alle Vorstellungen als urspr\u00fcnglich aus der Erfahrung herstammend betrachtete ; ich verweise hier\u00fcber auf den folgenden Zusatz: \u00bbUeber die Apriorit\u00e4t der Erkenntnisse\u00ab.\nDem Erkennen muss das Wissen vorausgehen, dem Wissen die Wahrnehmung. Das Nervensystem empf\u00e4ngt sinnliche Eindr\u00fccke und macht Wahrnehmungen, indem es durch \u00ablie Schwingungen \u00ables Aethers und der Luftmolek\u00fcle, durch Ber\u00fchrung von gasf\u00f6rmigen, fl\u00fcssigen uml festen K\u00f6rpern eigenartig afticirt wird. In Folge einer langen Erfahrung und einer langen Arbeit von geistiger Vermittlung gelangt \u00ablas Kiml zu der Vorstellung \u00e4usserer Gegenst\u00e4nde von verschriener Gestalt, verschriener Beschaffenheit und verschiedener r\u00e4umlicher l^age. Damit sind die ersten Beohachtungsthatsachen gewonnen, welche in der Folge mannigfaltiger, complicirter und genauer werden.\nDie Be\u00ab)hachtungsthatsachen o\u00abler Thatsachen schlechthin, wie sie h\u00e4ufig genannt werden, sind durchaus eoncreter Natur. Sie sind al>er nicht unmittelbar gegeben und nicht als solche auch unbedingt richtig ; vielmehr wenlen sie erst durch die allerdings unl>ewusst erfolgenden Schl\u00fcsse eines geschulten Verstandes erlangt. Ein Blindgeborener, \u00ab1er pl\u00f6tzlich die Sehkraft gewinnt, muss, obgleich er bereits eine Menge richtiger Vorstellungen \u00fcl>cr die Aussen weit besitzt, doch ziemlich lange Erfahrungen erwerben, bis er richtig sieht. \u2014 Auch der Ge\u00fcbte macht unrichtige Beobachtungen, wenn Sinnesst\u00f6rungen vork\u00ab)mmen oder wenn sein Verstand unrichtig urtheilt. Eine Beobachtung kann aber dann als ganz sicher und als Thatsache gelten, wenn der Beobachter bei normaler Beschaffenheit seiner sinnlichen uml geistigen Anlagen sie immer wieder in der gleichen Weise macht, und wenn auch Andere dasselbe Resultat erhalten.\nAus den concreten oder Beohachtungsthatsachen werden durch weitere Schlussfolgerungen allgemeine (abgeleitete) Thatsachen, gew\u00f6hnlich Gesetze oder Regeln, auch Principien genannt, gewonnen. Sie sind gewiss, wenn die zu Grunde gelegten Beohachtungsthatsachen gewiss, und wenn \u00ablas logische Verfahren richtig ist. Letzteres kann imluetiv sein, indem aus einer Vielheit von Einzelf\u00e4llen, o\u00abler de-diK'tiv, indem aus einem durch Erfahrung gewonnenen Princip ein Gesetz abgeleitet wird. Die Mathematik hat bloss ihre allerersten","page":623},{"file":"p0624.txt","language":"de","ocr_de":"G24\nZus\u00e4tze.\n\nS\u00e4tze inductiv erlangt; von da aus verf\u00e4hrt sie rein deductiv. Die Physik bedient sich abwechselnd der Induction und der Deduction. Die beschreibenden Naturwissenschaften kennen nur das inductive Verfahren, sie verm\u00f6gen wegen der Complicirtheit der Erscheinungen die Ableitung aus allgemeinen Principien noch nicht anzuwenden.\nUnsere Vorstellungen \u00fcl>er allgemeine (abgeleitete) Thatsachen sind um so sicherer, je mehr sie auf Deduction fussen, weil wir den deductiven Schluss als einen Vorgang, der unserem Verst\u00e4nde allein angeh\u00f6rt, vollst\u00e4ndiger \u00fcberwachen k\u00f6nnen. Dabei wird nat\u00fcrlich vorausgesetzt, dass die Pnncipien, aus denen geschlossen wird, richtig seien. Daher ist die Mathematik die festbegr\u00fcndetste Wissenschaft. Ihr folgt im Range die Physik, deren Inhalt eben dadurch einen so hohen Grad der Gewissheit erlangt, weil sie zugleich auf induc-tivem und deductivem Wege zu ihren Resultaten gelangt (experimentelle und mathematische Physik). Die Naturphilosophie hat das deductive Verfahren, statt wie die Physik auf einzelne Naturproeesse, auf die Totalit\u00e4t der Natur anwenden wollen und ist mit allen ihren Versuchen gescheitert, weil sie nicht von sicheren Principien auszugehen vermochte. So musste sie denn auch, um die Theorie einiger-maassen mit der Wirklichkeit in Uehereinstimmung zu bringen, die willk\u00fcrlich gesetzten Principien durch willk\u00fcrliche und unlogische Deduetionen corrigiren.\nDie Deduction gibt nur auf dem formalen (mathematischen) Gebiet und auf den einfachsten realen Gebieten, die Induction \u00fclierhaupt nur in wenigen F\u00e4llen vollkommene Gewissheit. Die nicht vollkommene Gewissheit wird als Wahrscheinlichkeit liezcichnet. Wo auch Wahrscheinlichkeit nicht gewonnen werden kann, l\u00e4sst sich meistens ermitteln, ob eine bestimmte Vorstellung m\u00f6glich oder unm\u00f6glich ist, Man kann die Vorstellungen von den nat\u00fcrlichen Dingen somit in drei Gruppen bringen, in gewisse, wahrscheinliche und m\u00f6gliche.\nIn manchen Beziehungen ist es von Nutzen, die Vorstellungen in zwei Kategorien zu scheiden. Dann sind die einen die Thatsachen, die andem die Meinungssachen. Wir betrachten die ersteren als sicher, weil sie direct bewiesen sind oder weil das Gegen-theil als unm\u00f6glich erscheint. Zu ihnen geh\u00f6ren im strengen Sinne nur die concreten oder Beobachtungsthatsachen und die allgemeinen oder abgeleiteten Thatsachen (Gesetze). Gew\u00f6hnlich rechnen wir","page":624},{"file":"p0625.txt","language":"de","ocr_de":"4. Bedingungen f\u00fcr empirisches Witwen und Erkennen.\t(J2&\naber zu den Thatsachen auch diejenigen Vorstellungen, f\u00fcr welche bloss eine sehr grosse Wahrscheinlichkeit l>esteht. \u2014 Jeder menschliche K\u00f6rper besitzt, soweit wir dar\u00fcber Erfahrung haben, Herz, Lunge, Magen. Es muss im strengeren Sinne als Thatsache angesehen werden, dass auch alle anderen Menschen, von denen wir aus directer Erfahrung nichts wissen, mit diesen Organen begabt sind, weil sie ohne dieselben nicht leben k\u00f6nnten. Alle menschlichen K\u00f6rper, welche zergliedert wurden, enthielten auch eine Milz, und die Anatomen betrachten es ebenfalls als gewiss, dass es keinen milzlosen Menschen gelw, obgleich in dieser Beziehung zur Zeit nur eine sehr grosse Wahrscheinlichkeit besteht, da man nicht weiss, wozu die Milz dient, daher die Nothwendigkeit ihres Daseins nicht darthun und ihren Mangel nicht als unm\u00f6glich erweisen kann.\nDiejenigen Vorstellungen, denen nur ein geringerer oder gr\u00f6sserer (alter nicht \u00fclierw\u00e4ltigender) Grad von Wahrscheinlichkeit zukommt, oder die bloss als m\u00f6glich erscheinen, werden als Meinungssachen Itezeichnet. Sie schlossen das Gegentheil nicht aus, und es sind daher \u00fcber das n\u00e4mliche Ding verschiedene Meinungen gestattet, indem weder die eine noch die andere einen logischen Fehler Itegeht. So ist es l>ei spiels weise m\u00f6glich, dass die Planeten bewohnt sind, und wahrscheinlich, dass Thiere und Pflanzen von den n\u00e4mlichen oder wenigstens einander sehr \u00e4hnlichen Urwesen abstammen.\nDie Thatsachen und die Meinungssachen umfassen zusammen das Gebiet des Wissens, d. h. alles dessen, was als dem Wissen nicht unzug\u00e4nglich erachtet werden muss. Dan eiten gibt es ein ganzes Gebiet von Vorstellungen, die entweder als mit den Natur- und Denkgesetzen unvertr\u00e4glich, demnach als physisch unm\u00f6glich erscheinen, oder die nach den Natur- und Denkgesetzen gar nicht beurtheilt werden k\u00f6nnen, somit ausser \u00abnier \u00fcber densellten stehen. Alle diese \\ orstellungen werden als Glaubenssachen bezeichnet und stellen in ihrer Gesammtheit das Gebiet des Glaultens, im Gegens\u00e4tze zu dem des Wissens dar.\nOffenl\u00bbar sind die in dem Glnultensgebiete vereinigten Vorstellungen ganz ungleicher Art und scheiden sich in zwei scharf geschiedene Gebiete. Das eine umfasst alle Vorstellungen von den \u00fclternat\u00fcrlichen Dingen und ist transcend enter Glaube. Das andere enth\u00e4lt \u00ablie unnat\u00fcrlichen und widernat\u00fcrlichen Vorstellungen von den wirklichen endlichen Dingen und ist Aberglaube.\nv N\u00e4gel i, AbsUmmuiig\u00fclelire.\tin","page":625},{"file":"p0626.txt","language":"de","ocr_de":"626\nZas&t te\nRichtiger als die Dreitheilung in Thatsachen, Meinungssachen und Glaubenssachen w\u00e4re daher die Unterscheidung der Gesammtheit unserer Vorstellungen in solche \u00fcber die Dinge der endlichen physischen Welt und solche \u00fcber die ewige metaphysische Welt. Die ersteren geh\u00f6ren dem Gebiete des Wissens an, wenn sie Vernunft- und naturgem\u00e4ss sind (Thatsachen und Meinungssachen) oder dem Gebiete des Aberglaubens, wenn sie Vernunft- und naturwidrig sind. Die letzteren sind transcendenter Glaube, wenn sie das Ewige und G\u00f6ttliche anerkennen, und Unglaube, wenn sie es leugnen.\nNicht Alles, was wir wissen, ist auch Erkenntniss. Gerade die concreten oder Beobachtungsthatsaehen, die der objective Naturforscher oft als das Sicherste oder selbst als das einzig Sichere in unserem Wissen betrachtet, sind am weitesten davon entfernt, erkannt zu sein. Um von dem blossen Wissen zum Erkennen fortzuschreilen, muss eine Vorstellung mit anderem Wissen zusammengehalten werden und eine Reihe von Denkprocessen durchlaufen. Sehr h\u00e4ufig kn\u00fcpft man an die Erkenntniss eines Dinges die Bedingung, dass seine Nothwendigkeit begriffen, dass also dargethan werde, wie es die logische Folge von etwas Anderem sei. Dies ist das l>egreifende oder urs\u00e4chliche Erkennen. Diesem Erkenntnissgebiete geh\u00f6rt der Inhalt der Mathematik vollst\u00e4ndig an und aus den realen Wissenschaften alle Gesetze, insofern die Thatsachen, aus denen sie als nothwendig gefolgert werden, Gewissheit oder wenigstens eine der Gewissheit nahe kommende Wahrscheinlichkeit gew\u00e4hren. Die Astronomie und die \u00fcbrigen Theile der Physik bieten uns viele Beispiele des urs\u00e4chlichen Erkennens dar.\nDie urs\u00e4chliche Erkenntniss ist mehr oder weniger vollst\u00e4ndig bez\u00fcglich aller der Momente, die bei complicirten Erscheinungen in Betracht kommen, und mehr oder weniger vollkommen bez\u00fcglich der einzelnen \\ orstellungen, aus denen sie sich zusammensetzt. Daher ist Umfang und Grenze des Erkenntnissgebietes verschieden je nach den mehr oder weniger strengen Anforderungen, die man stellt. Es lassen sich selbst diese Anforderungen so hooh schrauben, dass das Erkennen zur Unm\u00f6glichkeit wird. Dies ist dann der Fall, wenn mar. verlangt, dass die Ursachen einer Erscheinung nicht nur als gewiss nachgewiesen, sondern auch selber urs\u00e4chlich erkannt seien. \u2014 Die astronomische Erkenntniss beruht auf der Combination der Kr\u00e4fte,","page":626},{"file":"p0627.txt","language":"de","ocr_de":"4. Bedingungen f\u00fcr empirisches Wissen und Erkennen.\n027\nmit (lenen sich die Weltk\u00f6rper nach Masse und Entfernung anziehen, und derjenigen Kr\u00e4fte, die aus Masse und Bewegung sich ergelxm. Hieraus l\u00e4sst sich, was am Himmel vorgeht, begreifen und auch Voraussagen, was m der Folge dort geschehen wird. Die Astronomie w\u00e4re aber nicht mehr Erkenntniss, sondern bloss Wissen und Kunst, wenn zur Erkenntniss auch das Begreifen der Gravitation und der Bewegung gefordert w\u00fcrde.\nDie Berechtigung so weit gehender Forderungen kann an und f\u00fcr sich nicht bestritten werden, wohl aber die Berechtigung, sie als die Bedingung der Erkenntniss zu erkl\u00e4ren. Denn unter Erkenntniss versteht der Sprachgebrauch etwas anderes, n\u00e4mlich menschliches und nicht unm\u00f6gliches Begreifen. Das m\u00f6gliche urs\u00e4chliche Erkennen l>egn\u00fcgt sich damit, je auf die n\u00e4chsten Ursachen zur\u00fcckzugehen. Das g\u00f6ttliche oder transcendente Erkennen, welches bis auf die erste Ursache sich versteigen will, geh\u00f6rt nicht mehr der menschlichen Erkenntnissieh re an.\nNur wenige Gesetze der Physik gew\u00e4hren eine so vollkommene urs\u00e4chliche Erkenntniss wie die astronomischen. Von manchem der physicalischen Gesetze wird f\u00fcr unsere Einsicht nicht viel mehr geleistet, als dass die Erfahrungstatsachen einen mathematischen Ausdruck erhalten, welcher es m\u00f6glich macht, das Resultat eines nat\u00fcrlichen Vorganges im Voraus arithmetisch genau festzustellen. Man kann aber auch im letztem Falle mit einem gewissen Recht von Erkenntniss sprechen, weil das Erfassen eines Dinges nach seinen genauen Maassen \u00fcber das gew\u00f6hnliche Wissen hinausgeht.\nSo verh\u00e4lt es sich auch, wenn zwei verschiedene Dinge nach einem bestimmten Maass verglichen und ihre Verschiedenheit, somit der relative Werth jedes einzelnen, in exacter Weise ausgedr\u00fcckt werden k\u00f6nnen, mag nun das Maass in der L\u00e4ngen- und Gewichtseinheit oder in der Zahl und Anordnung gleichartiger Theile oder in irgend etwas Anderem bestehen. Desswegen habe ich von messendem Erkennen gesprochen und dasselbe als eine dem Wissen nach (mit R\u00fccksicht auf Gewissheit) gleichwerthige, aber f\u00fcr die Bed\u00fcrfnisse des Verstandes tiefere Stufe dem begreifenden oder causalen Erkennen vorausgehen lassen.\nIch glaube damit um so eher das Richtige getroffen zu haben, als wir sonst den morphologischen Wissenschaften, trotz ihrer hohen Ausbildung, den Erkenntnissgehalt ganz absprechen m\u00fcssten. An-\n40*","page":627},{"file":"p0628.txt","language":"de","ocr_de":"C28\nZus\u00e4tze.\nerkiinntermuassen ist ein blosses Aggregat von Thatsachen, also von Gewusstem, noch keine Wissenschaft; wenigstens m\u00fcssen die Thatsachen verglichen und geordnet werden, damit man von wissenschaftlicher Behandlung sprechen darf. Stellt man nun an diese Behandlung die strengen Forderungen der exaclen Methode und gesteht man dann derselben die Berechtigung des (messenden) Er-kennens zu, so k\u00f6nnen wir den eigentlich wissenschaftlichen Gehalt einer Disciplin ihrem Erkenntnissgehalte gleichsetzen.\nUnter den morphologischen Wissenschaften nimmt die Chemie den ersten Rang ein. Von ihr sagt Du Bois Reymond, dass sie in unserer Zeit von dem Ziele, eine Wissenschaft in seinem Sinne zu werden, scheinbar weiter entfernt sei als zu Kants Zeiten. Die Chemie hat sich seit 30 und mehr Jahren fast ausschliesslich mit der Constitution der Verbindungen besch\u00e4ftigt. Sie ist nicht, wie man fr\u00fcher wohl erwarten mochte, zun\u00e4chst eine physicalische (vorzugsweise thermische und elektrische), sondern eine beschreil>ende oder lasser morphologische Wissenschaft geworden. Den Namen einer Wissenschaft al)er verdient sie gewiss in hervorragender Weise, wenn wir unter wissenschaftlicher Methode das Verbinden von sicheren Beobaohtungsthatsachen durch logisch richtige Schl\u00fcsse und das nach Maass und Zahl exacte Erkennen verstehen. Dies m\u00fcsste selbst als unanfechtlmr gelten, wenn die chemischen Molek\u00fcle und Atome eine II} pothese w\u00e4ren, wof\u00fcr sie noch von manchen, l>esonders von 1 ^schreibenden Naturkundigen gehalten werden. Da dieselben aber nicht mehr zu den Meinung*.suchen, sondern zu den wirklichen Thatsachen geh\u00f6ren '), so hat die Chemie eine h\u00f6here Stufe wissen-\n') Ich will nicht die verschiedenen Gr\u00fcnde wiederholen, die uns r.u der Annahme n\u00f6thigen, \u00ablass die Materie nicht homogen ist, sondern aus discreten Theilchen Itesteht. Dagegen weise ich darauf hin, \u00ablass die neuere mathematische Physik von diesen Theilchen, sofeme sie gasf\u00f6rmig sind, \u00ablie in einem gegebenen Usiume enthaltene Anzahl, das Gewicht je\u00ables einzelnen und \u00ablie mittlere Ge-s\u00ab hwimligkeit seiner fortschreitenden B\u00abwegung ermittelt hat, \u00ablass aus dem Ge wi\u00ab ht \u00ab1er Theilchen unmittelbar auch \u00ablas Volumen, weicht\u00ab ein je\u00ables im fl\u00fcssigen un\u00abl festen Zustande einnimmt, hervorgeht, \u00ablass \u00ablieses Volumen mit \u00ablern nach anderer Methode f\u00fcr den fl\u00fcssigen und festen Zustand Iterechneten Volumen der kleinsten Theilchen \u00fcltereinstimmt, - \u00ablass fem.-rPhysik und Chemie \u00ablie kleinsten Th\u00ab ilch. n der gasf\u00f6rmigen Elemente o\u00abler \u00ablie Molek\u00fcle als aus zwei gleichen H\u00e4lften (Atomen) Irestehend nachgewiesen halten, \u00ablass also \u00ablie kleinsten Theilchen \u00ab1er chemischen Elemente im fl\u00fcssigen und festen Zustande die gleiche Beschaffen -h\u00ab\u2018it l***itzo\", un\u00ab! \u00ablass von di\u00ab*ser Grundlage aus \u00ab1er morphologische Aufbau \u00ab1er","page":628},{"file":"p0629.txt","language":"de","ocr_de":"4. Bedingungen f\u00fcr empirische\u00ab Wissen und Erkennen.\n\u00ab211\nschaftlieher Ausbildung erlangt als irgend eine andere morphologische Disciplin, und zwar deswegen, weil ihr morphologischer Inhalt dureb ein viel gr\u00f6sseres Maass eausalistiselien (physiealisehen)Gelialtes gest\u00fctzt wird.\nAls Wissenschaft erweist sich die Chemie namentlich auch durch den Umstand, dass sie verm\u00f6ge ihrer Einsicht in das Wesen der Verbindungen den sicheren Weg, auf dem noch unliekannte und bisher nicht existirende Verbindungen dargestellt werden, sowie deren Eigenschaften nebst der genauen Zusammensetzung zum Voraus angeben kann.\nDie Chemie haut ihre Verbindungen (Molek\u00fcle) aus den Elementatomen auf. Dass diese Atome r\u00fccksichtlich ihrer Eigenschaften noch wesentlich unliekannte K\u00f6rperchen sind, thut der messenden Erkenntnis der chemischen Verbindungen keinen Eintrag. Es gen\u00fcgt, dass die Existenz der Elementatomc gewiss ist, dass ihr relatives Gewicht genau und ihre gegenseitige Verwandtschaft gen\u00fcgend bekannt sind. Dadurch werden diesellxm bef\u00e4higt, als exactes Maass zu dienen, so gut als Meter, Gramm, Secundo vollkommene Maasse sind, ohne dass wir weiter etwas von ihrem Wesen wissen.\nEiner hohen morphologischen Ausbildung ist auch die Botanik f\u00e4hig. Ihre Bausteine, n\u00e4mlich die Zellen, sind zwar sehr complicirte und in Folge dessen auch in ihrem urs\u00e4chlichen Wosen ganz un-liekanntc K\u00f6rper. F\u00fcr die messende Erkenntniss der pflanzlichen Bildungen, besonders auf den einfacheren Stufen des Reiches, eignen sie sich al>er in vorz\u00fcglicher Weise. Da hier die ganze Pflanze und meistens auch ihre einzelnen Organe mit einer einzigen Zolle lieginnen und durch Zelltheilung (Scheidcwandbildung in den Zellen), die in ganz liestimmten und eonstanten Richtungen erfolgt, wachsen, so l\u00e4sst sich der morphologische Aufbau wenigstens auf die allern\u00e4chste l rsache zur\u00fcckf\u00fchren und daher die Bedeutung der verschiedenen oft sehr complicirten Bildungen aus der Entwicklungsgeschichte erkennen. Dal>ei bleibt die urspr\u00fcngliche Regelm\u00e4ssigkeit in der Anordnung der Zellen oft zeitlebens erhalten und weist deutlich auf eine regelm\u00e4ssige Entwicklung hin. Oft al\u00bber wird die urspr\u00fcngliche\nchemischen Verbindungen, nicht blown \u00ab1er einfachen, sondern seil \u00bbst ziemlich 7.u-sammengesetKter, ausgef\u00fchrt wird, was in vielen F\u00fcllen mit vollkommener <ie wisslieit geschehen kann, weil die Mr\u00bbglichkeit einer anderen Annahme ausgeschlossen ist.","page":629},{"file":"p0630.txt","language":"de","ocr_de":"630\nZus\u00e4tze.\nregelm\u00fcssige Anordnung sp\u00e4terhin gest\u00f6rt, und man kann in der scheinbar chaotischen Zusummenlagerung der Zellen bloss mit Hilfe des erkannten gesetzm\u00e4ssigen Wachsthums sich zurechtfinden. \u2014 Auf den h\u00f6heren Stufen des Pflanzenreiches, wo der innere Bau wegen der grossen Complicirtheit scheinbar ganz unregelm\u00e4ssig geworden ist, l\u00e4sst sich auf seine Gesetzm\u00e4ssigkeit aus der vollkommen regelm\u00e4ssigen Anordnung der seitlichen Organe schliessen.\nNoch deutlicher tritt uns das gesetzm\u00e4ssige Werden entgegen, wenn wir die morphologischen Erscheinungen in der Pflanzenwelt nicht bloss nach ihrer ontogenetischen, sondern auch nach ihrer phylogenetischen Entwicklungsgeschichte betrachten. Ich habe in der Abhandlung: Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre (VII. Phylogenetische Entwicklungsgeschichte des Pflanzenreiches und IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften) die Entwicklungsgesetze und ihre Anwendung darzulegen versucht. Obgleich diese Wissenschaft noch im ersten Kindheitsstadium und wegen Mangels an hinreichendem brauchbaren Beobachtungsmaterial noch sehr unvollkommen ist, so l\u00e4sst sich doch jetzt schon von vielen Pflanzenformen mit Sicherheit angeben, wie die Formen, aus denen sie phylogenetisch hervorgegangen sind, gebaut waren, und wie die Formen, in welche sie sich phylogenetisch umwandeln werden, beschaffen sein m\u00fcssen.\nSchon die Einsicht in bestimmte ontogenetische und phylogenetische Gesetze ist ein Beweis von Wissen und Erkennen; als ein noch besseres Zeugniss davon muss es angesehen werden, wenn wir die phylogenetische Entwicklungsbahn eines Organismus \u2014 analog wie die Bahn eines Kometen \u2014 sei es auch vorerst nur auf eme kurze Strecke zu bestimmen und in der k\u00fcnftigen Gestaltung eines Organismus ein kommendes Ereigniss \u2014 analog wie eine Sonnenfinstemiss \u2014 vorauszusagen verm\u00f6gen.\n5. Apriorit\u00e4t.\na) Des Gravitationsgesetzes (S. 581).\nMan hat das Gravitationsgesetz als unabh\u00e4ngig von unserer Erfahrung und schon in unserer Vernunft liegr\u00fcndet darstellen wollen. Allein es ist klar, dass die Anziehung im Verh\u00e4ltniss des umgekehrten","page":630},{"file":"p0631.txt","language":"de","ocr_de":"5. Apriorit\u00e4t.\n631\nQuadrats dor Entfernung nichts anders ist als das Gesotz der Erhaltung der Kraft mit Beziehung auf den Kaum1). Wie die Summe der lol>endigen und Spannkr\u00e4fte in einem bestimmten System durch allo /eiten die n\u00e4mliche bleibt und sich somit als unabh\u00e4ngig von der /eit darstellt, so sagt uns das Gravitationsgesotz bloss, dass die Gesammtanziehung, die von einer I>e8timmten Masse ausge\u00fcbt wird, auf jede Entfernung die n\u00e4mliche bleibt, also unabh\u00e4ngig vom Raume ist.\nVon den Versuchen, das Gravitationsgesetz a priori zu erkl\u00e4ren, f\u00fchre ich den von Kant an. Derselbe sagt: dieses Gesetz scheine als nothwendig in der Natur der Dinge selbst zu liegen und pflege daher auch als a priori erkennbar vorgetragen zu werden, und f\u00e4hrt fort: \u00bbSo einfach nun auch die Quellen dieses Gesetzes sind, indem sie bloss auf Verh\u00e4ltnisse der Kugelfl\u00e4che von verschiedenen Halbmessern beruhen, so ist doch die Folge davon so vortrefflich in Ansehung der Mannigfaltigkeit ihrer Zusammenstimmung, dass kein anderes Gesetz der Attraction, als das des umgekehrten Quadrut-verh\u00e4ltnisses der Entfernungen zu einem Weltsystem als schicklich erdacht werden kann. Hier ist also Natur, die auf Gesetzen beruht, welche der Verstand a priori erkennt, und zwar vornehmlich aus allgemeinen Principien der Bestimmung des Raumes. \u2014 So ist der Verstand der Ursprung der allgemeinen Ordnung der Natur, indem er alle Erscheinungen unter seine eigenen Gesetze fasst.\u00ab\nMan vermisst in diesem Beweise, da er etwas Unm\u00f6gliches leisten soll, die gewohnte Klarheit und Sch\u00e4rfe des Philosophen. W \u00bbs sagt uns das Gravitationsgesetz ? Dass die Anziehung zwischen einem Cravitationscei trum und verschiedenen Kugelschaleu von gleicher Dicke und Dichtigkeit aber ungleichen Radien gleich gross ist, und dass somit die Anziehung zur Masseneinheit in den verschiedenen K'igelschalen sich umgekehrt wie das Quadrat der Radien verh\u00e4lt. Die Gravitation wirkt nach allen Richtungen und die Summe aller Anziehungen, die ein Gravitationscentrum auszu\u00fcben vermag, ist auf alle Entfernungen dieselbe. Eben so verh\u00e4lt es sich mit allen andern Kr\u00e4ften. Bei allen bew\u00e4hrt sich der Satz der Identit\u00e4t. G\u00e4be\n*) lletier die Apriorit\u00e4t der Mathematik s. den \u00abweiten, Hi>er die Apriorit\u00e4t de\u00ab Causalgesetzes (und des Gesetzes der Erhultuug der Kraft) \u00bb. den dritten Theil dieses Zusatzes.","page":631},{"file":"p0632.txt","language":"de","ocr_de":"632\nZUB\u00dctZC.\nOS eine Knift, <lic nur nach Einer (linearen) Richtung wirkte, so w\u00e4re die Anziehung oder Ahstossung auf die Masseneinheit unzweifelhaft in allen Entfernungen die gleiche.\nDas Gravitationsgesetz ist ein Erfahrungssatz. Um seine Apri-orit\u00fct nachzuweisen, uni es unmittelbar uus jnsercr Vernunft nb-zuleiten, m\u00fcsste gezeigt werden, dass in den Begriff der Anziehung auch schon die tosendere Art ihrer Wirkung eingeschlossen und d\u00abiss oine andere Art unlogisch und unm\u00f6glich sei. Nun w\u00e4re es aW nichts Absurdes f\u00fcr unsem Verstand, wenn die Gesammt-anziehung mit der Entfernung zu oder abnehmen, wenn also die Anziehung zur Masseneinheit sich in gr\u00f6sserem oder geringerem Verhftltniss als nach dem umgekehrten Quadrat der Entfernung verhalten w\u00fcrde. Dies m\u00f6chte wohl el>en so \u00bbschicklich\u00ab f\u00fcr die Erhaltung des Gleichgewichtes im Weltensystem sein ; nur w\u00fcrde das Gleichgewicht eine etwas andere Gestalt annehmen.\nIm Gegensatz zu der eben besprochenen Annahme, wonach das Gravitationsgesetz nicht bloss durch die Erfahrung, sondern auch durch die Logik bewiesen w\u00e4re, steht die Behauptung Anderer, dass dieses Gesetz eine untere Grenze wirklich liesitze und m\u00f6glicher Weise auch eine oliere Grenze haben k\u00f6nne, d. h. dass es f\u00fcr un-messbar kleine Entfernungen nicht mehr gelte und vielleicht auch nicht f\u00fcr die allergr\u00f6ssten Entfernungen. Diese Behauptung ist rationell unwahrscheinlich und wird auch durch die Erfahrung nicht wahrscheinlich gemacht. Allerdings wird die Anziehung in unmess-bar kleinen Abst\u00e4nden anders, al*er nicht weil das Gravitations-\ngesetz sich \u00e4ndert, sondern weil jetzt Mierdem Molecularkr\u00e4fte wirksam werden.\nDass aber Molecularkr\u00e4fte in geringster Entfernung gegen\u00fcber der Gravitation eine gesteigerte Wirksamkeit erlangen, r\u00fchrt nicht etwa davon her, dass dicsellien tKl\u00fcglich des Raumes ein anderes \\ erhalten zeigen, und dass sie, wie man etwa sich ausdr\u00fcckte, im umgekehrten Verh\u00e4ltnis einer h\u00f6heren Potenz der Entfernung wirken. Die moleculare Anziehung und Ahstossung hat gleichfalls den Coefti-\ncieiiten wenn d den Abstand zweier Kraftccntren liedeutet. Da\nal>er die verschiedenen molceularen Kraftcentren sehr nahe bei-sarnmen liegen, so \u00e4ndert sich ihr Effect auf einen fernen K\u00f6rper sobald dieser sich so sehr n\u00e4hert, dass d .1er gleichen Gr\u00f6ssenordnung","page":632},{"file":"p0633.txt","language":"de","ocr_de":"f\u00bb. Apriorit\u00e4t.\nG33\nangeh\u00f6rt wie die luolecularen Entfernungen. Die Diffcrenz zwischen Anziehung und Abstossung, welche 2 moleculurc Kraftcentren auf\neinen andern K\u00f6rj\u00bber aus\u00fcben, sei Jf \u2014 (tT~c)\u201d wor*n c 8er*,,g(J\nGr\u00f6sse ausdr\u00fcckt, um welche das eine von dem Itetrcffcnden K\u00f6rj>er weiter ahsteht. Solange nun e im Verh\u00e4ltnis zu d verschwindend klein ist, wird dieGesammtwirkung hloss durch d beeinflusst. Erreicht al>er in Folge der Ann\u00e4herung e gegen\u00fctar von d einen bemerk-Imren Werth, so \u00fcht es auch auf die Gesummtwirkung einen entscheidenden Einfluss aus und kann diesell>e selbst bis zum entgegengesetzten Vorzeichen ver\u00e4ndern').\nEs liegt also in dem scheinbar abweichenden Verhalten der Molecularkr\u00e4fte kein Grund vor zu der Behauptung, dass die Wirkung dor Kr\u00e4fte zu sehr kleinen Entfernungen eine andere Beziehung zeige als zu gr\u00f6sseren.\nb) Apriorit\u00e4t der Mathematik (S. 5*2).\nDie Philosophen streiten sich \u00fcber die Apriorit\u00e4t der Mathematik. Die Naturforscher werden wohl unl>edingt die Neigung haben, die mathematischen Vorstellungen in gleicher Wreise zustande kommen zu hissen, wie alle \u00fcbrigen. Ein Mensch, der ohne Sinnesorgane aufw\u00fcchse und keine Eindr\u00fccke von aussen empfinge, also auch nichts von seinem k\u00f6rperlichen Ich erf\u00fchre, w\u00e4re wie eine Pflanze beschaffen; er h\u00e4tte auch keine Vorstellung von Zahl und Gr\u00f6sse. Er k\u00f6nnte weder die Zahl 5 seiner Finger, noch ein Dreieck und einen Kreis construire]!. Solche Vorstellungen erlangt er bloss durch die sinnliche Wahrnehmung. Ohne letztere w\u00fcsste er nicht, dass es Dinge ausser ihm gibt; ohne sie w\u00fcsste er nicht einmal von seiner eigenen Existenz, denn dieses Bewusstsein entspringt aus dem Gegens\u00e4tze \u00ables Ich mit \u00ab1er Aussenwelt.\nDie Mathematik wie alles andere Wissen kann also nur aus \u00ab1er Erfahrung hervorgehen ; ihre Grundlagen sind die allgemeinsten Begriffe derselben, und in dieser weitest gehenden Verallgemeinerung beruht ein wesentliches Moment ihrer St\u00e4rke. Die allgemeinste\n') l\u00ab,t> verweiw\u00bb (dirigea* auf \u00ablie folgende AMiandlung: Kr\u00e4fte und Gestaltungen im moleeiilaren Gebiet.","page":633},{"file":"p0634.txt","language":"de","ocr_de":"G34\nZiiH\u00fctze.\nAbstraction der sinnlichen Wahrnehmung ist die, dass es \u00fcberhaupt Dinge gibt und dass dieselben mehr oder weniger verschieden von einander sein k\u00f6nnen.\nEin anderes Moment der St\u00e4ike der Mathematik beruht darin, dass sie innerhalb der eben anger\u00fchrten Abstraction die einfache Identit\u00e4t zur Basis ihrer Operationen macht und daraus ihre S\u00e4tze logisch ableitet. In der That kann nichts Unzweifelhafteres vorausgesetzt werden, als dass etwas sich selbst (oder einem Andern, das es selbst ist) gleich soi, a = \u00ab.\nEine solche Identit\u00e4t gilt auch f\u00fcr den Satz, mit dem die Mathematik des Raumes beginnt, dass zwei parallele Linien sich nicht schneiden und keinen Raum einschliessen. Es ist zwar die Behauptung aufgestellt worden, dass in diesem Satze ein unbewiesenes, von unserem Verst\u00e4nde hineingelegtes Axiom enthalten sei und dass aus dem Parallelismus das Sichnichtschneiden noch nicht uothwendig folge. Das Irrth\u00fcmliche einer solchen Behauptung r\u00fchrt augenscheinlich daher, dass der Begriff der Linie in doppelter Weise gefasst werden kann, und dass beim Ueberspringen von dem einen auf den andern leicht der Eindruck einer L\u00fccke erhalten wird.\nDie Linie ist einmal die Begrenzung einer Fl\u00e4che ; ferner ist sie die Bewegung eines Punktes (z. B. des Schwerpunktes eines K\u00f6rpers). Halten wir uns ausschliesslich an den einen oder au den andern dieser beiden Begriffe, so tritt die Identit\u00e4t als einzige Voraussetzung in dem Satze des Parallelismus klar zu Tage. Sind die zwei parallelen Linien die Seiten eines Rechteckes, wodurch ja eben der \u00dcberall gleiche Abstand postuiirt ist, so bleiben sie parallel, behalten den gleichen Abstand, schneiden sich nicht, wenn wir uns das Rechteck l\u00e4nger und l\u00e4nger, zuletzt unendlich lang denken. Sind die zwei parallelen Linien dagegen zwei sich bewegende Punkte, was nichts anderes heisst, als dass die Bewegungen eine Strecke weit den gleichen Abstand einhalten, so m\u00fcssen sie parallel bleiben, auch wenn die Bewegung ins Unendliche sich fortsetzt; denn mit dor Abweichung vom Parallelismus w\u00fcrden sie den vorausgesetzten Charakter verlieren.\nDer Parallelismus und das Nichtschneiden sind also identische Begriffe, was nur dann nicht sofort ersichtlich wird, wenn man die linienf\u00f6rmige Begrenzung in die linienf\u00f6rmige Bewegung (die beiden einzigen Begriffe, unter denen uns die Linie anschaulich ist) \u00fcbergehen hisst. Zeichnen wir zwei parallele Striche auf das Papier, so","page":634},{"file":"p0635.txt","language":"de","ocr_de":"ft. Apriorit\u00e4t\n635\nd\u00fcrfen wir uns nicht einfach die Frage vorlegen, wie sich dieselben verhalten werden, wenn wir sie ins Unendliche verl\u00e4ngern ; sondern wir m\u00fcssen uns zuerst dar\u00fcber klar sein, wie sie zu Stande gekommen sind und was sie bedeuten, und ferner m\u00fcssen wir uns ebenfalls klar machen, was ihre Verl\u00e4ngerung bedeuten soll.\nAuf den Einwurf, dass die Identit\u00e4t selber ein aprioristisches, vor aller Erfahrung unserem Verst\u00e4nde angeh\u00f6riges Gesetz sei, w\u00e4re zu erwidern, dass der Vorstellung von der Gleichheit zweier Dinge doch unbedingt diejenige von dem Dasein von Dingen vorausgehen muss. Nun erfahren wir erst durch die sinnliche Wahrnehmung, dass es \u00fcberhaupt Dinge gibt, und gleichzeitig erfahren, wir durch die n\u00e4mliche sinnliche Wahrnehmung, dass diese Dinge einander sehr un\u00e4hnlich, al)er auch wieder so \u00e4hnlich sein k\u00f6nnen, dass wir sie nicht von einander zu unterscheiden verm\u00f6gen. Es ist somit der Grundsatz aller mathematischen Betrachtung auf empirischem Wege gewonnen worden.\ne) Apriorit\u00e4t als allg emeines Princip.\nDie allgemeine philosophische Streitfrage, ob alles Wissen durch \\ emiittlung sinnlicher Wahrnehmung gewonnen werde, oder ob es auch Erkenntnisse a priori gebe, w\u00fcrde hier keine Erw\u00e4hnung finden, da sie durch die Beschr\u00e4nkung des Wissens auf das Endliche und durch die fernere Erw\u00e4gung, dass das Endliche nur monistisch aufgefasst werden kann, erledigt scheint, \u2014 wenn nicht neuere deutsche Physiologen sich f\u00fcr die Apriorit\u00e4t und somit indirect, vielleicht ohne volles Bewusstsein, in dualistischem Sinne ausgesprochen h\u00e4tten.\nDie Frage ist also, ob es Denkgesetze gebe, die aller Erfahrung vorausgehen, ob unserem Verst\u00e4nde Ideen angeboren seien, ob das Gesetz der Causalit\u00e4t schon urspr\u00fcnglich in uns liege, ob das Gesetz von der Erhaltung der Kraft uns von der Natur geschenkt und nicht durch die m\u00fchsame Arbeit von Jahrtausenden errungen worden sei, ob die Idee des Raumes und der Zeit unserem Verst\u00e4nde von der Natur vorgeschrieben und nicht erst aus der Natur gesch\u00f6pft wurden.\nEs ist zweckm\u00e4ssig, sich vollst\u00e4ndig der Folgen bewusst zu werden, zu denen diese Annahmen nothwendig f\u00fchren. Wenn unser \\ erstand von sich aus den Begriff des Allgemeinen hat, so m\u00fcssen","page":635},{"file":"p0636.txt","language":"de","ocr_de":"G30>\nZUHlttXi*\ni\u00ef.m auch schon die Theil\u00bb>egriffe eigen sein, die dem Allgemeinen untergeordnet sind, oder er muss sie wenigstens ohne \u00e4ussere Hilfe entwickeln k\u00f6nnen. Wenn die Idoe dos Raumes schon urspr\u00fcnglich in ihm ist, so besitzt er auch die Vorstellung der 3 r\u00e4umlichen Dimensionen und die Vorstellung ihrer partiellen und g\u00e4nzlichen Negation, also den Begriff dos K\u00f6rpers, der Fl\u00e4che, der Linie, des Punktes, und elienso die Vorstellung der durch diese Begriffe lie-\nstimmten besonderen Raumgr\u00f6ssen, der verschiedenen Linien, Fl\u00e4chen und K\u00f6rper.\nMit der Vorstellung bestimmter Raumgr\u00f6ssen ist zugleich die Idee der Vielheit und Einheit, der Verschiedenheit und Gleichheit gegelien. \u2014 Aus dem allgemeinen Begriffe des Raumos und der Zeit entspringt ferner nothwendig der Begriff der Bewegung und zwar nicht bloss der Bewegung im Allgemeinen, sondern abermals die Begriffe aller besonderen, von Raumgr\u00f6ssen m\u00f6glicher Weise auszuf\u00fchrenden Bewegungen. \u2014 Nach dem Gesetz der Causalit\u00e4t, \u00ablas schon urspr\u00fcnglich in unserem Verst\u00e4nde wach werden soll, hat jede Ursache eine ihr entsprechende Wirkung und jede Wirkung setzt eine entsprechende Ursache voraus. Also muss auch die Bewegung im allgemeinen durch eine Ursache, die man hier Kraft nennt, und jede liesondere Bewegung durch eine Kraft von l>estiminter Gr\u00f6sse und\nRichtung bewirkt werden \u2014 und unser Verstand vermag dies alles aus sich, ohne Zuthun von aussen, zu construiren.\nSomit muss, wenn es angeborene Ideen gibt, der menschliche Geist die gesammten mathematischen und mechanischen Wissenschaften ohne vorausgehende sinnliche Anschauung entwickeln k\u00f6nnen, und soweit m\u00f6chte wohl Mancher beistimmen, indem er die Apriorit\u00e4tderErkenntniss auf die formalen Wissenschaften lieschr\u00e4nken\nzu k\u00f6nnen meint.\nIndessen sind hiemit dieConsequenzen in der That nicht vollendet; sie umfassen vielmehr auch das Gebiet der realen Wissenschaften! Wenn das Causalgesetz oder dus Gesetz von der Erhaltung der Kraft Kr\u00e4fte voraussetzt, die eine Wirkung aus\u00fcben und Bewegungen veranlassen , so m\u00fcssen diese Kr\u00e4fte auch mit den liesonderen Raum-und Zeitbegriffen in Beziehung gesetzt werden ; sie m\u00fcssen irgendwo und irgendwann wirksam werden; sie m\u00fcssen von liestimmten Raumelementen (Punkten, Linien, Fl\u00e4chen, K\u00f6rpern) ausgehen und andere Raumelemente in Bcwogung setzen.","page":636},{"file":"p0637.txt","language":"de","ocr_de":"5. A Priorit\u00e4t.\n637\nNun ist die Physik immer mehr zu der Gewissheit gelangt, dass alle Erscheinungen, wenn sie hinreichend analysirt und erkannt werden, nur aus wirksamen (positiven oder negativen) Zugkr\u00e4ften und aus Bewegungen 1 \u00bbesteilen. Der Unterschied zwischen den formalen und den realen Wissenschaften besteht eigentlich nur darin, dass die ersteren einzelne Begriffe (Zahl, Gestalt, Kraft, Bewegung) von den wirklichen Dingen abl\u00f6sen und f\u00fcr sich betrachten, w\u00e4hrend die letzteren die Vereinigungen der einzelnen Begriffe, wie sie uns als nat\u00fcrliche Dinge entgegentreten, zum Object haben. Die formalen Wissenschaften verhalten sich daher zu den realen Wissenschaften wie das Abstracte zum Concreten, wie das Allgemeine zum Besonderen, und wie das Einfache zum Zusammengesetzten. Wenn der menschliche Geist die ersteren aus sich entwickeln kann, so muss er aus den aprioristisch gegebenen Ideen auch die letzteren sammt ihrem Inhalte darstellen k\u00f6nnen, denn in der Nutur ist nichts Denkbares vorhanden, welches nicht formell aus den ihm eigent\u00fcmlichen Begriffen construirbar w\u00e4re.\nMit dieser unabweisbaren Consequenz ist die Naturwissenschaft theoretisch auf den Kopf gestellt und gewissermaassen in die Naturphilosophie zur\u00fcckgeworfen, welche in aprioristischer Uebcrhebung vermeinte, die Natur in Gedanken erschaffen zu k\u00f6nnen, und der Erfahrung keine andere Aufgabe \u00fcberliess als diejenige, f\u00fcr ihre I hantasiegebilde die entsprechenden Realit\u00e4ten aufzusuchen.\nDie Wissenschaft von den realen und endlichen Dingen vertr\u00e4gt, einmal keine dualistische Auffassung. Alles steht in so notwendigem und innigem Zusammenhang, dass, wenn ein einziger Begriff oder ein einziges Gesetz ohne Erfahrung gewonnen wird, auch alle andern derselben nicht bed\u00fcrfen.\nDie Frage, ob es angel\u00bborene Ideen gebe, ist ferner im Lichte der Entwicklungsphysiologie zu l\u00bbetrachten. Dieselben m\u00fcssten irgendwie an der Substanz des Organismus haften ; sie m\u00fcssten als Kr\u00e4fte oder Bewegungen materieller Theilchen, resp. als Combinationen von solchen vorhanden sein. Sie m\u00fcssten entweder seit aller Zeit in der organisirten Substanz enthalten sein, oder sie m\u00fcssten in jedem Individuum neu entstehen, und in diesem Falle, nach dem durch sie scltat gegel>enen (Kausalgesetz, durch bestimmte Ursachen notwendig hervorgebracht werden. Weder das Eine noch das Andere","page":637},{"file":"p0638.txt","language":"de","ocr_de":"638\nZus\u00e4tze.\nscheint mir mit einer monistischen Auffassung der endlichen und messbaren Natur vertr\u00e4glich zu sein.\nEigentlich ist das Neuentstehen der angeborenen Ideen in jedem Individuum schon durch den auch im Namen ausgedr\u00fcckten Begriff ausgeschlossen. Doch will ich weniger Gewicht auf das Wort \u00bbangeboren\u00ab legen, als auf den Umstand, dass schon vom ersten Beginne des Individuums an die aus Eiweiss bestehenden Substanzen, die sp\u00e4terhin als die Tr\u00e4ger der Ideen angesehen werden m\u00fcssen, vorhanden sind, und dass in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Individuums sich kein so wichtiger Organisationsact vollzieht, mit dem das Auftreten einer absolut neuen, in der \u00fcbrigen Natur mangelnden Qualit\u00e4t vereinbar w\u00e4re. Die angeborenen Ideen m\u00fcssten also nicht nur dem F\u00f6tus, sondern auch dem unbefruchteten Keimbl\u00e4schen und den befruchtenden Samenk\u00f6rperchen zukommen. Sie m\u00fcssten ferner auch den dem Menschen vorausgehenden Thierklassen und ihren Entwicklungsstadien angeh\u00f6ren; und es w\u00e4re die Frage, ob man die Pflanzen, ob man \u00dcberhaupt ein Gebilde mit lel\u00bbendigen Eiweissmolek\u00fclen davon freisprechen k\u00f6nnte.\nDiese Consequenz l\u00e4sst sich nicht bestreiten; es w\u00fcrde als ein W under erscheinen, wenn an irgend einer Stelle einer continuirlichen phylogenetischen oder ontogenetischen Entwicklungsgeschichte etwas principiell Neues auftreten sollte, und mit diesem Wunder w\u00e4re das neuangeborene Causalprincip selbst im Widerspruch. K\u00e4men aber die aprioristischen Ideen jedem eiweisshaltigen Organismus zu, so w\u00fcrden sie sich selbst verneinen. Sie w\u00e4ren wohl aphoristisch, aber sicher nicht Ideen, wie man sie f\u00fcr das geistige Bewusstsein zu ly^d\u00fcrfen meint.\nWir k\u00f6nnten uns noch die Frage vorlegen, was wohl geschehen m\u00f6chte, wenn einem Menschen alle sinnlichen Eindr\u00fccke mangelten. Ein solcher Mensch m\u00fcsste blind und taub geboren, des Geschmackes, Geruchs und des Tastsinns beraubt, von Lust und Schmerz frei sein! Er w\u00fcrde vegetiren wie eine Pflanze. W\u00e4re aber sein Gehirn geh\u00f6rig ausgebildet, so m\u00fcsste er verm\u00f6ge der angeborenen Ideen nicht nur die formalen Wissenschaften, sondern auch die Begriffe der realen Wissenschaften construiren k\u00f6nnen und es w\u00fcrde ihm nur das Organ abgehen, f\u00fcr seine Begriffe die entsprechenden realen Dinge aufzusuchen. Er k\u00f6nnte aber ein vollkommener Mathematiker, theoretischer Mechaniker, mathematischer Physiker werden. Glaubt wohl Jemand an eine solche M\u00f6glichkeit?","page":638},{"file":"p0639.txt","language":"de","ocr_de":"5. A Priorit\u00e4t.\n639\nDie Begriffe, welche eine philosophische Anschauung als schon urspr\u00fcnglich in uns liegend voraussetzt, sind die allerallgemeinsten, die wir besitzen. Die entgegengesetzte Anschauung, die ich als die naturwissenschaftliche bezeichnen will, betrachtet sie als die letzten Producte einer langen geistigen Arbeit. Sie l\u00e4sst sie entstehen wie Alles, was in der Natur entsteht, durch allm\u00e4hliche Ver\u00e4nderung, durch stetige Entwicklung und Vervollkommnung.\nDie Idee des Raumes z. B. beginnt im Thier und Kinde mit sinnlichen Eindr\u00fccken, welche dadurch, dass sie sich wiederholen, ver\u00e4ndern und combiniren, allm\u00e4hlich zu bestimmteren Vorstellungen f\u00fchren. Das Tliier empf\u00e4ngt nach und nach eine Menge verschiedener sinnlicher Wahrnehmungen von einem Gegenstand. Es sieht ihn anders, wenn es sich ihm n\u00e4hert oder von ihm entfernt; es sieht ihn von verschiedenen Seiten und mit verschiedenen optischen Eindr\u00fccken combinirt. Es nimmt wechselnde Geruchsempfindungen von ihm auf. Derselbe hemmt, wenn es sich allzusehr n\u00e4hert, sein Fortschreiten ; er verursacht ihm Schmerz, wenn es mit einiger Geschwindigkeit anst\u00f6sst. Das Thier lernt allm\u00e4hlich den Gegenstand umgehen und den Anstoss vermeiden. Dient er ihm als Nahrung, so lernt es ihn aufsuchen und erfassen, indem die sich steigernden Gesichts-, Geruchs- und Geh\u00f6rsempfindungen ihm von der Ann\u00e4herung Kunde gel>en. Solche sich t\u00e4glich wiederholende Vorg\u00e4nge bewirken nach und nach selbst l>ei den niedersten Thieren einzelne, wenn auch noch so unklare r\u00e4umliche Vorstellungen. Diese Vorstellungen werden mit der h\u00f6heren Entwicklung des Thierreiches intensiver, deutlicher und mannigfaltiger, bis sie sich im Menschen und selbst schon in den h\u00f6chsten Thieren zum r\u00e4umlichen Bewusstsein steigern. Das Bewusstsein des Begriffes Raum als reiner Abstraction ist aber die letzte Stufe, die von der grossen Mehrzahl der Menschen gar nicht erreicht wird, und es scheint mir des Umgekehrte des wirklichen und naturgem\u00e4ssen Vorganges zu sein, wenn man diesen Begriff schon als vor aller Erfahrung vorhanden annimmt.\nWas man als Beweise f\u00fcr die Apriorit\u00e4t der Idee des Raumes ausgibt, sind doch eigentlich nichts als Behauptungen, die erst bewiesen werden m\u00fcssten, und die man jedenfalls mit el>enso viel Recht beanstanden kann. Es sind vorz\u00fcglich drei Beweisgr\u00fcnde, welche seit Kant von den Philosophen geltend gemacht werden.","page":639},{"file":"p0640.txt","language":"de","ocr_de":"040\nZus\u00e4tze.\nDer eine Beweisgrund beruft sich auf die Aprioritftt des Causal-gesetzes, in welchem schon die Idee des Raumes enthalten sei. Ich werde nachher auf die Urspr\u00fcnglichkeit dieses Gesetzes zur\u00fcck -kommen.\nDer andere Beweisgrund sagt, dass wir die Eigenschaften des Raumes erkennen, ohne dazu der Erfahrung zu l>ed\u00fcrfen, und dies w\u00e4re ja unm\u00f6glich, wenn der Raum ein Attribut der Dinge w\u00e4re und nicht bloss unserem Vorstellungsverm\u00f6gen angeh\u00f6rte. Man stellt, wie es bei den allgemeinsten Streitfragen nicht selten geschieht, um eine Behauptung glaubhaft zu machen, eine andere tautologische Behauptung auf. Denn den Begriff des Raumes erkennen und seine Eigenschaften erkennen ist doch das N\u00e4mliche, da der Begriff eben auf den Eigenschaften beruht. Man nimmt hiebei die Mathematik in Anspruch, wo r\u00e4umliche Begriffe a priori entwickelt werden sollen. Dass aber die Mathematik nichts Urspr\u00fcngliches voraussetzt, sondern mit den allerallgemeinsten Abstraetionen der Erfahrung beginnt, habe ich bereits in dem ersten Theil d\u2019^ses Zusatzes zu zeigen gesucht.\nEin dritter Beweisgrund soll endlich der sein, dass man alle Dinge wegdenken k\u00f6nne, nur nicht Raum und Zeit; also k\u00f6nnten diese Begriffe nicht dem Object, sondern nur dem denkenden Subject angeh\u00f6ren. Ich meine gerade, dass, wenn ich alle einzelnen Dinge der Welt wegdenke und mir vorstelle, dass nichts existire, dann auch Raum und Zeit abhanden gekommen sind. Mit diesen Begriffen verh\u00e4lt es sich ja wie mit jeder Attraction. Wir Indien das Verm\u00f6gen, einzelne Eigenschaften, die f\u00fcr sich keinen realen Bestand haben, von den Dingen in Gedanken zu trennen, ohne dass wohl jemand liehaupten m\u00f6chte, alle diese Abstraetionen liegen schon urspr\u00fcnglich und unabh\u00e4ngig von den Objecten in unserem Geiste. Wir denken alle einzelnen Farben, alle T\u00f6ne der Tonleiter hinweg und es bleiben uns doch die allgemeinen Begriffe der Farbe und des Tons; wir abstrahiren von allen besonderen Thier- und Pflanzenarten und halten bloss die allgemeinen Begriffe Thier, Pflanze, Organismus fest. Ganz das N\u00e4mliche findet statt, wenn wir die Begriffe Raum und Zeit gewinnen. Alle Abstraetionen geh\u00f6ren nicht den Dingen als solchen, aber auch nicht dem denkenden Subject an, sondern bestehen bloss als Beziehungen zwischen Object und Subject. Zeit und Raum unterscheiden sich nicht principiell, sondern nur gradweise von den \u00fcbrigen","page":640},{"file":"p0641.txt","language":"de","ocr_de":"it. A Priorit\u00e4t.\n041\nabstracto\u00bb Vorstellungen ; cs sind die allerallgeineinstcn Abstractionen lind daher l\u00e4sst inan sieb leichter \u00fcber ihre wahre Natur t\u00e4uschen, als cs bei den andern allgemeinen Begriffen m\u00f6glich w\u00e4re.\nWie mit der Urspr\u00fcnglichkeit des Raumbegriffes verh\u00e4lt es sich mit der Apriorit\u00e4t der \u00fcbrigen allgemeinsten Vorstellungen, namentlich auch mit derjenigen des Causalgesetzes, welche ich noch eingehender besprechen will. Auch hier ist es zweckm\u00e4ssig, zuerst einen entwicklungsgeschichtlichen Ueberblick zu gewinnen. Jedes Ding in der Natur, von den Aethertheilchen und den Atomen der w\u00e4gbaren Stoffe an, wird durch Ursachen, die ihm \u00e4usserlich sind, afficirt. Die I flanze wendet sich dem Richte zu und richtet sich in einer der Gravitation entgegengesetzten Richtung auf. Das Thier, von dem niedrigsten an, wird in seinen Handlungen durch \u00e4ussere Einwirkungen bestimmt; al>er das Gef\u00fchl des urs\u00e4chlichen Zusammenhanges ist im Thierreich noch sehr unbestimmt. Es steigert sich im Menschen und gelangt nach langer Erfahrung und Uebung allm\u00e4hlich zum Bewusstsein. Das volle und klare Bewusstsein des allgemeinen Cau-salit\u00e4tsgesetzes aber kommt nur in sehr wenigen Menschen zum Durchbruch, so dass selbst die Mehrzahl der Naturforscher es da oder dort verl\u00e4ugnen, und dass mehrere Physiker erst in neuerer Zeit es in der Form des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft entdeckt zu Indien glaulie\u00bb.\nDiese Thatsachen m\u00fcssten mehr als befremden, wenn die Idee des ( ausalit\u00fctsprineips angeboren w\u00e4re. Ebensowenig w\u00fcrden wir logreifen, warum gerade Ursache und Wirkung so h\u00e4ufig verwechselt werden, sodass mit Ausnahme derjenigen Gebiete, in denen man recht eigentlich eingeschult ist, es in allen \u00fcbrigen Gebieten f\u00fcr die Mehrzahl der Sterblichen geradezu als Lotterie bezeichnet werden muss, ob sie bei der Bezeichnung dessen, was Ursache und was Wirkung ist, das Rechte treffen oder nicht.\nMit R\u00fccksicht auf die entwicklungsgeschichtlichen Thatsachen sowohl der ganzen organischen Welt als des Individuums w\u00e4re es f\u00fcr die Kl\u00e4rung der Streitfrage ungemein f\u00f6rderlich, wenn die Verfechter der Apriorit\u00e4t angeben wollten, welchen Gesch\u00f6pfen der in-\nli\u00f6rrnO\u00ab-. C.....\u2014\t'","page":641},{"file":"p0642.txt","language":"de","ocr_de":"042\nZus\u00e4tze.\nsuchung m\u00fcsst\u00a9 ihnen selber die Uelwrzeugung aufdr\u00e4ngen, dass sein Auftreten auf keiner Stufe der Entwicklungsgeschichte m\u00f6glich ist, sondern dass er ganz allm\u00e4hlich mit den vollkommener werdenden Vorstellungen von den objectiven Dingen aus einem unbestimmten Gef\u00fchl zum klaren Begriff herausw\u00e4chst.\nBis die Anh\u00e4nger des angeborenen Causalprincips sich auf die naturwissenschaftliche Er\u00f6rterung einlassen, wo dasselbe im nat\u00fcrlichen Entwicklungsg\u00e4nge zuerst auftrete und woraus es werde, da\ndoch alles wirklich Bestehende seine nat\u00fcrliche Ursache haben muss,_\nbleiben wir auf die Versuche einer philosophischen Begr\u00fcndung angewiesen. Ich halte mich hiebei an die Ausf\u00fchrungen von Helmholtz, der wohl in der treffendsten und dem naturwissenschaftlichen Bewusstsein am meisten zusagenden Weise die Apriorit\u00e4t verfochten bat. Wenn derselbe sagt: \u00bbEs ist klar, dass wir aus der Welt unserer Empfindungen zu der Vorstellung von einer Aussen weit niemals kommen k\u00f6nnen, als durch einen Schluss von der wechselnden Empfindung auf \u00e4ussere Objecte als die Ursachen dieses Wechsels .... Demgem\u00e4ss m\u00fcssen wir das Gesetz der Causalit\u00e4t, verm\u00f6ge dessen wir von der Wirkung auf die Ursache schliessen, auch als ein aller Erfahrung vorausgehendes Gesetz unseres Denkens anerkennen\u00ab, \u2014 so ist der Nachsatz nicht eine nothwendige Consequenz des Vordersatzes, wohl aber eine durch denselben einger\u00e4umte M\u00f6glichkeit, eine erlaubte Hypothese. Er k\u00f6nnte ebenso gut lauten : Demgem\u00e4ss m\u00fcssen wir das Verm\u00f6gen, von der Wirkung auf die Ursache zu schliessen, durch Erfahrung erlangen k\u00f6nnen. Ob die eine oder die andere Hypothese in der Wirklichkeit begr\u00fcndet sei, ist durch anderweitige Betrachtungen zu entscheiden.\nEs springt in die Augen, dass in den beiden eben angef\u00fchrten m\u00f6glichen Schlusss\u00e4tzen dem Worte \u00bbErfahrung\u00ab eine ungleiche Bedeutung beigelegt wird. Wenn Helmholtz das Denkgesetz der Causalit\u00e4t vor alle Erfahrung setzt, versteht er unter Erfahrung eben die Vorstellung der \u00e4usseren Objecte oder den Schluss von der Empfindung auf das Ding, welches die Empfindung verursachte. Wenn ich dagegen das Denkgesetz aus der Erfahrung entstanden ansehe, so verstehe ich unter Erfahrung jede Empfindung, die eine Erinnerung zur\u00fcckl\u00e4sst und somit bei neuen Empfindungen und Willens\u00e4usserungcn, ebenso bei der erwachenden Verstandesth\u00e4tigkeit als Erfahrung benutzt werden kann.","page":642},{"file":"p0643.txt","language":"de","ocr_de":"r>. A Priorit\u00e4t.\n043\nKs w\u00fcrde sehr lehrreich sein, die beiden entgegengesetzten Schlussfolgerungen mit den geistigen Erscheinungen auf den verschiedenen Stufen des Thierreiches und in den verschiedenen Ent-wicklung8stadien des menschlichen Individuums zu vergleichen. Ich will dies nicht versuchen und bloss bez\u00fcglich meiner Ansicht Folgendes beif\u00fcgen. Schon das Infusorium macht Erfahrungen, indem die \u00e4usseren Einfl\u00fcsse, die auf dasselbe einwirken, mehr oder weniger bemerkbare Erinnerungsspuren hinterlassen. Insofern verh\u00e4lt es sich der Aussenwelt gegen\u00fcber etwas anders als die Pflanze, welche zwar elnmfalls durch jeden \u00e4usseren Anstoss einen f\u00fcr ihr ferneres Leben wirksamen Eindruck erh\u00e4lt; aber dieser Eindruck ist nicht mit Erinnerung verbunden und kann sich nicht zu geistigem Leben steigern. Das dunkle Gef\u00fchl einer Aussenwelt, das in dem Infusorium beginnt, wird bei den h\u00f6heren Thierklassen lebhafter, klarer, bewusster und gelangt beim Menschen zum vollen Bewusstsein. Indem niederen Thier steckt ein Minimum, gleichsam ein Differenzial von geistigem Leben, welches durch die Thierklassen hindurch bis zu den fortgeschrittensten Menschen zur klaren Verstandesth\u00e4tigkeit integrirt wird. Diese ist wie jede Qualit\u00e4t in der Natur nicht auf einmal gegeben, sondern durch quantitative Steigerung allm\u00e4hlich geworden; ich verweise hior\u00fclMjr auf den Zusatz 7 \u00fcW Qualit\u00e4t in der Natur.\nIch m\u00f6chte somit entgegen der Theorie, dass der Causalit\u00e4ts-l>egriff seihst schon in der menschlich organisirten Substanz enthalten sei, derselben nur die F\u00e4higkeit zugestehen, durch eine Reihe allm\u00e4hlicher Stufen von der ersten Empfindung an bis zu demselben zu gelangen, und diese F\u00e4higkeit naturgem\u00e4ss in dem Umstande l>egr\u00fcndet finden, \u00ablass wir selber ein St\u00fcck Natur sind, und dass die Eindr\u00fccke, die wir von aussen aufnehmen und verarmten, in unserem Nervensystem r\u00e4umlich, zeitlich und eausal-gesetzlich verlaufen, weshalb auch das Denken, wenn es richtig von statten geht, zu der Lrkenntniss von \u00ablern causalen Zusammenhang, sowie von Raum und Zeit f\u00fchren muss.\nDiese Erkenntniss ist nun, wie unbedingt zugestanden werden muss, nicht eine Frucht wissenschaftlicher inductiver Forschung, wie denn auch Helmholtz mit Recht l>etont, \u00bbdass cs mit dem empirischen Beweise des Gesetzes vom zureichenden Grunde \u00e4usserst misslich aussehe; denn die Zahl der F\u00e4lle, wo wir den causalen Zusammenhang von Natur]>rocessen vollst\u00e4ndig <rlaul>on nnrlnir\u00bb;\u00bb.\u00bb-","page":643},{"file":"p0644.txt","language":"de","ocr_de":"044\nZus\u00e4tze.\nzu k\u00f6nnen, sei verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig gering gegen die Zahl derjenigen, wo wir dazu durchaus noch nicht im Stande sind.\u00ab Daraus folgt aber keineswegs die Nothwendigkeit, einen inneren Ursprung des Gesetzes anzunehmen. Die Ueberzeugung von der Richtigkeit allgemeiner Wahrheiten kommt uns wohl nie durch strenge wissenschaftliche Induction, sondern durch die popul\u00e4re Erfahrung vou Jahrhunderten und Jahrtausenden. Je allgemeiner und einfacher die Wahrheit ist, um so weniger bedarf sie des exacten empirischen Beweises, um die Zustimmung Aller zu gewinnen. Die Annahme, \u00ablass jedes Ding in dem Zustande, in dem es sich befindet, beharre, wenn es nicht durch eine Ursache ver\u00e4ndert wird, nnd dass der Grad der Ver\u00e4nderung dem Maass der Ursache entspreche, wird als allgemein g\u00fcltiges Gesetz betrachtet, nicht weil dasselbe durch Versuche und Rechnung sich bew\u00e4hrt hat, sondern weil unsere ganze Erfahrung von jeher damit \u00fcbereinstimmte, \u2014 weil wir von jeher wissen, dass alles unver\u00e4ndert und unverr\u00fcckt auf seinem Platze bleibt, es werde denn durch eine bemerkbare Ursache innerlich oder \u00fcusserlich in Bewegung gesetzt, weil wir wissen, dass wir, um einen Gegenstand zu verschieben, um so mehr Kraft aufwenden m\u00fcssen, je gr\u00f6sser und schwerer er ist, dass seine Zertr\u00fcmmerung um so mehr Gewalt erfordert, je fester sein Zusammenhang.\nGerade deswegen, weil wir uns seit dem ersten Erwachen des Denkens in das urs\u00e4chliche Geschehen aller Dinge, die auf uns einwirken, eingelebt haben, beachten wir gar nicht, wie wir zu der Vorstellung vom Beharrungsverm\u00f6gen und vom zureichenden Grund \u00ab1er Ver\u00e4nderung gelangt sind, und wir werden leicht veranlasst, als ein in unserem Geiste liegendes Gesetz vorauszusetzen, was uns unbewusst von aussen aufgedr\u00e4ngt wurde.\nUebngens ist die Erkenntniss von dem urs\u00e4chlichen Geschehen zuerst nicht als solche, sondern gemeinsam mit der Erkenntniss der Analogie oder vielmehr nach derselben erlangt worden. Wir gew\u00f6hnten uns, ein Ereigniss mit um so gr\u00f6sserer Sicherheit wieder zu erwarten, je \u00f6fter es sich bereits wiederholt hatte, wie den Aufgang der Sonne, den Wechsel der Jahreszeiten, das Sprossen im Fr\u00fchjahr und das Welken im Herbst, das Reifen der Frucht aus \u00ab1er Bl\u00fcthe. Von einem Bestimmt werden unseres Verstandes durch \u00ablas angeborene Causalgesetz konnte in den meisten F\u00e4llen nicht <be Rede sein, da der urs\u00e4chliche Zusammenhang unbekannt und","page":644},{"file":"p0645.txt","language":"de","ocr_de":"\u00df. a priont\u00fct.\n645\nfraglich war. Ist doch die Analogie die maassgel)ende Grundlage der beschreibenden Naturwissenschaften geworden, indem man sich lediglich an die Erfahrung hielt und nach der urs\u00e4chlichen Begr\u00fcndung nicht einmal fragte. \u2014 Die Regelm\u00e4ssigkeit der Erfahrungen bewirkte also zun\u00e4chst nur eine Gew\u00f6hnung, und erst als es sich durch neue Erfahrungen ergab, dass diese Regelm\u00e4ssigkeit in manchen F\u00e4llen nur beim Zusammentreffen mit anderen Ereignissen sich bew\u00e4hrt, dass sie in anderen F\u00e4llen modificirt wird, und dass dal>ei die Gr\u00f6sse und Beschaffenheit der Ver\u00e4nderung von bestimmten Umst\u00e4nden bedingt wird, entwickelte sich aus der Erkenntnis\u00ab der Analogie diejenige der Causalit\u00e4t.\nDie Apriorit\u00e4t wird von Helmholtz noch durch folgenden bemerkenswerthen Ausspruch verfochten: \u00bbEndlich tr\u00e4gt das Causal-gesetz den Charakter eines rein logischen Gesetzes auch wesentlich darin an sich, dass die aus ihm gezogenen Folgerungen nicht die wirkliche Erfahrung betrefEen, sondern deren Verst\u00e4ndniss, und dass \u00bb\u201cS deshalb durch keine m\u00f6gliche Erfahrung je widerlegt werden kann. Denn wenn wir irgendwo in der Anwendung des Causalgesetzes scheitern, so schliessen wir daraus nicht, dass es falsch sei, sondern nur, dass wir den Complex der bei der betreffenden Erscheinung mitwirkenden Ursachen noch nicht vollst\u00e4ndig kennen.\u00ab\nEs ist klar, dass die gemachten Beobachtungen in unserem Geiste nur eine dem Verst\u00e4ndnisse entsprechende Gestalt annehmen. Deswegen kann die n\u00e4mliche Beobachtung bei verschiedenen Individuen und in verschiedenen Perioden sehr ungleiche Vorstellungen hervorbringen. Wenn al>er auch Alle \u00fclxjreinstimmen, so ist deswegen ein Widerspruch zwischen dem wirklichen Geschehen und unserer Deutung, also ein Irrthum, nicht ausgeschlossen. Es h\u00e4ngt nun alles davon ab, ob die Frage: Unter welchen Bedingungen muss die objective Wirklichkeit und die subjective Auffassung derselben sich decken? einer L\u00f6sung f\u00e4hig ist oder nicht. Die Wissenschaft nimmt im allgem\u00ebinen an, dass dies m\u00f6glich sei, und sie spricht von I hatsache und Naturgesetz, wo sie voraussetzt, dass unser Verst\u00e4ndniss der wirklichen Erfahrung entspreche, von Hypothoso, wo dies zweifelhaft ist.\nWir m\u00fcssen Identit\u00e4t zwischen der Wirklichkeit und 'unserer \\ orstellung immer dann in Anspruch nehmen, wenn \u00fcberhaupt nur eine einzige Verstellung m\u00f6glich ist, oder wenn alle anderen Vor-","page":645},{"file":"p0646.txt","language":"de","ocr_de":"646\nZus\u00e4tze.\nStellungen alb unm\u00f6glich dargethan werden. So ist lieispiels weise f\u00fcr dio Bewegungen der Himmelsk\u00f6rjier nur die Vorstellung m\u00f6glich, welche die Astronomie davon erlangt hat, und die Behauptung w\u00e4re ganz unm\u00f6glich, dass die Bewegungen gar nicht oder dass sie in anderer Weise vor sich gingen. Die Pr\u00fcfung, ob unser Verst\u00e4ndniss mit der wirklichen Erfahrung harmonire, gelingt um so sicherer, je allgemeiner und einfacher die Vorstellung ist, wie gerade diejenige \u00fcber den causalen Zusammenhang. Dass in der Natur Gesetzm\u00e4ssigkeit und nicht etwa das Gegentheil, Willk\u00fcr und Regellosigkeit, herrsche, dar\u00fcber kann doch wohl kaum ein Zweifel bestehen, und jedenfalls liesse es sich gegen\u00fcber einem Widerspruche in der strengsten Art beweisen. Der Ausdruck f\u00fcr diese Gesetzm\u00e4ssigkeit lautet in naturwissenschaftlicher Form, dass in einem System materieller Theilchen die Summe der Energien nicht beliebig wechselt. Es w\u00e4re nun noch m\u00f6glich, entweder, dass dieselbe gleich bleibt, was man als Causalgesetz bezeichnet, oder dass sie sich stetig, sei es in zunehmendem sei es in abnehmendem Sinne, \u00e4ndert. Die letztere Annahme k\u00f6nnte man um so eher als logisches Gesetz in Anspruch nehmen, da sie bestimmten philosophischen Theorien entgegenk\u00e4me. Sie ist aber gegen\u00fcber der Erfahrung nicht haltbar; es bleibt uns somit nur eine einzige Deutung, und wir d\u00fcrfen behaupten, dass bez\u00fcglich des Causalgesetzcs Verst\u00e4ndniss oder Vorstellung und wirkliches Geschehen identisch sind.\nIch habe in den bisherigen Auseinandersetzungen als selbstverst\u00e4ndlich angenommen, dass die \u00e4ussere Welt, die uns umgibt, wirklich besteht, dass wir selber ihr als Theile nach Raum und Zeit angeh\u00f6ren, dass wir von ihr durch unsere Sinne subjectiv modi-ficirte Eindr\u00fccke erhalten und mit der fortschreitenden Erkenntniss das Subjective an diesen Eindr\u00fccken immer mehr abzustreifen und das wahre Wesen der Dinge zu erfassen verm\u00f6gen. Es wird nun aber mit der Frage \u00fcber die Apriorit\u00e4t der Erkenntnisse wohl auch die Streitfrage \u00fcber die Wirklichkeit der objectiven Natur, wie sie unserer Vorstellung zug\u00e4nglich ist, verbunden und die eine als durch die andere bedingt dargestellt, wie dies gewissennaasseu schon in der zuletzt erw\u00e4hnten Aeusserung von Helmholtz der Fall war.","page":646},{"file":"p0647.txt","language":"de","ocr_de":"5. Apriorit\u00e4t.\n047\nDor Physiologe wird unbedingt zugeben, dass unsere sinnlichen Wahrnehmungen, Farben, T\u00f6ne, Geruchs-, Geschmacks- und Tastempfindungen ebensowohl dem Subject als dem Object angeh\u00f6ren, dass die Dinge an sich nicht warm und nicht kalt, nicht s\u00fcss oder sauer, nicht fest oder weich, nicht schwer oder leicht sind. Wenn aber Helmholtz sagt: \u00bbJede Wirkung h\u00e4ngt ihrer Natur nach ganz nothwendig ab sowohl von der Natur des Wirkenden als von der desjenigen, auf welches gewirkt wird. Eine Vorstellung verlangen, welche unver\u00e4ndert die Natur des Vorgestellten wiederg\u00e4be, also in absolutem Sinne wahr w\u00e4re, w\u00fcrde heissen eine Wirkung verlangen, welche vollkommen unabh\u00e4ngig w\u00e4re von der Natur desjenigen\u2019 Objects, auf welches eingewirkt wird, was ein handgreiflicher Widerspruch w\u00e4re\u00ab, \u2014 so ist dieser Schluss richtig f\u00fcr den Fall, dass dem Subject, welches die Wirkung empf\u00e4ngt, eine andere Natur zukommt als dem Object, von dem die Wirkung ausgeht. Er hat aber keine G\u00fcltigkeit, wenn beide die gleiche Natur besitzen, wenn das Subject ein Theil des Ganzen ist, das ihm als Object bloss scheinbar gegen\u00fcber steht. Der Schluss ist richtig f\u00fcr eine dualistische, nicht al>er f\u00fcr die monistische Naturbetrachtung, welche nach meiner Meinung im Gebiete des Endlichen allein logisch zul\u00e4ssig ist.\nWenn Helmholtz aus der eben erw\u00e4hnten Betrachtung weiter folgert, \u00bbdass es gar keinen m\u00f6glichen Sinn haben k\u00f6nne, von einer andern Wahrheit unserer Vorstellungen zu sprechen, als von einer praktischen; dass unsere Vorstellungen von den Dingen gar nichts anderes sein k\u00f6nnten als Symbole, welche wir zur Regelung unserer Bewegungen und Handlungen benutzen lernen\u00ab, \u2014 so scheint mir dies doch ein allzuhoher Grad von Skepsis, ich m\u00f6chte fast sagen von wissenschaftlichem Pessimismus. Urspr\u00fcnglich sind ja alle Vorstellungen symbolisch und sie k\u00f6nnen selbst in der weitest gehenden wissenschaftlichen Verarbeitung eine durchaus symbolische Form behalten, wie dies beispielsweise mit manchen Gebieten der mathematischen Physik (einige Partien der mechanischen W\u00e4rmelehre und der Optik, sowie die Astronomie machen eine vorthei 1-hafte Ausnahme) der Fall ist. Aber die wissenschaftliche Betrachtung einancipirt sich von der Symbolik und dringt von der subjectiven Annahme zur ohjectiven Gewissheit vor, wenn die letztere entweder direct bewiesen oder als die einzige M\u00f6glichkeit dargethan werden kann.","page":647},{"file":"p0648.txt","language":"de","ocr_de":"648\nZusatw?\nDie Chemie in Verbindung mit der mecbaniHchen W\u00e4rmetheorie beweist die objective Existenz von Molek\u00fclen .1er w\u00e4gbaren Substanzen, die aus Atomen der chemischen Elemente zusammengesetzt sind- In Verbindung damit beweisen die W\u00e4rmelehre und die Optik die objective Existenz der einer andern Gr\u00f6ssenordnung angeh\u00f6rendon Aethertheilchen, aus denen die den Weltenraum erf\u00fcllende und die w\u00e4gbaren K\u00f6rper durchdringende Substanz besteht. Wir befinden uns nun auf dem sicheren Wege zur objectiven Erkenntniss, wenn es gelingt, unsere anf\u00e4nglichen Symbole auf einfache Beziehungen der kleinsten Theilchen zur\u00fcckzuf\u00fchren, und wir m\u00fcssen sie als erreicht ansehen, wenn diese Beziehungen in die einzig m\u00f6gliche Form gebracht sind. Allerdings d\u00fcrfen diesen Betrachtungen nicht willk\u00fcrlich gedachte kleinste Theilchen oder Massendifferenziale zu Grunde gelegt werden, sondern nur die wirklich existirenden Theilchen, die chemischen Atome mit den ihnen zukommenden verschiedenen Eigenschaften und die Aethertheilchen. So wird die Wissenschaft dereinst als moleculare Physik des Organischen und Unorganischen zu objectiver Wahrheit werden.\nDie blaue F\u00e6be, mit der die Kornblume geschm\u00fcckt ist wird durch Schwingungen der Aethertheilchen hervorgebracht, welche sich in der Secunde <00 Billionen mal wiederholen, w\u00e4hrend das Roth des Ackermohns durch 500 Billionen Schwingungen zu Stande kommt. Sind die Aetherschwingungen langsamer, so bewirken sie das Gef\u00fchl von W\u00e4rme. Unser Ohr hat die Tonempfindung des eingestrichenen c, wenn die Molek\u00fcle der Luft 264 Schwingungen in der Secunde machen, w\u00e4hrend die anderthalbfache Schwingungszahl den harmonischen Ton der Quinte und die doppelte Schwingungszahl die Octave bewirkt. Die verschiedenen Zust\u00e4nde, in denen wir das Wasser kennen, als festes Eis, als Fl\u00fcssigkeit und als gasf\u00f6rmigen Wasserdampf, und die man fr\u00fcher als ebensoviele Elemente unterschied, sind nichts anderes als verschiedene Bewegungszust\u00e4nde der n\u00e4mlichen Wassermolek\u00fcle.\nSo gelingt es, die mannigfaltigen Symbole, als welche sich zun\u00e4chst die Dinge und ihre Eigenschaften uns darstellen, auf ein einheitliches Maass zur\u00fcckzuf\u00fchren; und die praktische oder subjective Wahrheit, die den anf\u00e4nglichen rohen Vorstellungen allein zukommt, muss um so mehr eine theoretische und objective werden, je mehr dieselben die scheinbaren Qualit\u00e4ten! der sinnlichen Wahr-","page":648},{"file":"p0649.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022r>. A Priorit\u00e4t.\n\u00ab411\nnehmung al,gesteift ,\u201e\u201e1 \u00ablic Form ,1er einfachsten quantitativen Unterschiede, die unm\u00f6glich eine weitere Zerlegung in Component\u2122 zulassen, angenommen halfen.\nWir k\u00f6nnen geradezu sagen, dass unsere Vorstellungen von den Ihngcn so lange syndwliseh hlcilieii, als sic F\u00fcr uns in der Form\n\"\u00aet0n,erscl,eine\", u,1<l '\u2018\u00bbSS \u00abe der Wirklichkeit entsprechen, sobald die Qualit\u00e4ten in Quantit\u00e4ten aufgel\u00f6st sind'). Alle endlichen Erscheinungen bestehen aus Bewegungen gr\u00f6sserer und kleinerer Massen ; jede Bewegung aber, - mag es die Drehung der Er,le um ihre Achse, oder die Bahn derselben um die Sonne und die Balm der Gasmolek\u00fcle, oder die Schwingung des Pendels, der Atome in den Molek\u00fclen und die Schwingung der Aethertheileben sein, \u2014\nbut fur uns nicht bloss praktische oder symbolische, sondern reale und objective Wahrheit.\nEs gibt, wie ich liereits angedeutet habe, ein Moment, welches der philosophischen Theorie, dass die allgemeinsten Vorstellungen und Gesetze schon urspr\u00fcnglich unserem Geiste angeh\u00f6ren, einiger-iim\u00fcssen entgegenkommt. Die Uebereinstimmung der sinnlichen Wahrnehmung und der inneren geistigen Vermittlung mit den bewirkenden Objecten beruht f\u00fcr den Monismus der endlichen Welt darin, dass m uns die n\u00e4mlichen Kr\u00e4fte th\u00e4tig sind und die n\u00e4mlichen Gesetze herrschen, wie in den Dingen ausser uns. Es kann daher das Bild das unsere Sinne uns gehen, dem Object nicht widersprechen, und die weiteren Umbildungen, die dasselbe beim Urtheilen erf\u00e4hrt, m\u00fcssen dem wahren Wesen des Objects immer n\u00e4her kommen.\u2019 Das ist die naturwissenschaftliche Erkl\u00e4rung des Factors, welcher nach Kant in aller Erkenntniss sich findet und welcher nicht von der \u00e4usseren Einwirkung, sondern von dem Subject abzuleiten sei, weswegen er als noth wendig und best\u00e4ndig erscheine. \u2014 Die Belegungen der materiellen Theilchen, wodurch unsere Vorstellungen und unsere Urtheile zu Stande kommen, verlaufen in Zeit und Raum und erfolgen nach mechanischen Gesetzen, also in streng causaler Weise. Die sinnlichen Wahrnehmungen, die wir von aussen aufnehmen und m uns verarmten, finden also einen ihrer Natur durchaus gleichartigen Boden, auf welchem die Vorstellungen ihrer wirklichen Eigenschaften, ihrer R\u00e4umlichkeit, Zeitlichkeit und Cau-salit\u00e4t mit Noth Wendigkeit sich ergeben.\n'* Vgl. Zusatz 7. (.Qualit\u00e4t in <h>r Natur.","page":649},{"file":"p0650.txt","language":"de","ocr_de":"r>50\nZunutze.\nDie scheinbare Apriorit\u00e4t allgemeiner Vorstellungen beruht also darauf, dass in dem Subject als Theil des Ganzen die n\u00e4mliche Gesetzm\u00e4ssigkeit, die n\u00e4mliche Logik gebietet wie in dem Universum. Aus dieser Uebereinstimmung folgt aber nicht, dass die Ideen angeboren sind, sondern nur, dass die geistige Th\u00e4tigkeit bloss zu ihnen und zu keinen anderen f\u00fchren kann; g\u00e4be es angeborene Ideen, so m\u00fcssten sie eben so wohl dem Stein und der Pflanze als dem Thier und dem Menschen zukommen.\nVorstehende Er\u00f6rterungen richten sich gegen diejenigen Verfechter der Apriorit\u00e4t, welche am wissenschaftlichsten und exactesten urtheilen. Es gibt indess viele Naturforscher, welche, nachdem sie zu einer consecjuenten Betrachtung der Natur zu gelangen suchten, sich als Anh\u00e4nger der aprioristisehen Erkenntnisse bekennen und sich dabei einer Schlussfolgerung bedienen, wie sie in der jetzigen Abstammungslehre \u00f6fter angewendet wird. Sie lautet ungef\u00e4hr folgendermaassen.\nErkenntniss sei das Bestimmtwerden durch \u00e4ussere Einwirkung. Dieselbe komme also auch dem Thier und der Pflanze, selbst dem Mineral und dem einzelnen Molek\u00fcl zu; denn das Eisentheilchen erkenne den Magnet, der sieb in seiner N\u00e4he befindet. Die Erkenntniss werde gef\u00f6rdert und complicirt durch das Ged\u00e4chtniss, sei aber durch dasselbe nicht nothwendig liedingt, wiewohl auch den Molek\u00fclgruppen von jeder Einwirkung eine gewisse Ver\u00e4nderung, die als Erinnerung in Anspruch zu nehmen sei, Zur\u00fcckbleiben m\u00fcsse. Auch das Bewusstsein sei nicht erforderlich f\u00fcr den Erkennt nissprocess; denn dasselbe ver-arbeite bloss die zur\u00fcckgebliebenen Erinnerungen.\nZum Zustandekommen einer Erkenntniss seien zwei Dinge erforderlich^ die Einwirkung des Objects auf die erkennende Substanz und die F\u00e4higkeit der letzteren, zu erkennen. Das Object bilde die materielle unver\u00e4nderliche Unterlage jeder Erkenntniss; die specitisch-individuelle Beschaffenheit des erkennenden Subjects sei das Ver\u00e4nderliche oder Formelle der Erkenntniss. So werde lieispielaweise Essigs\u00e4ure von Kali, von Lackmuspapier (welchem sie als rothe Substanz erscheint), von dem Geschmacks- und dem Geruchsorgan in ganz ungleicher Weise erkannt; die rothe Farbe werde von dem","page":650},{"file":"p0651.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022r*. Apriorit\u00e4t\n651\nnormalen Menschen als solche, von dem rothhlinden als gr\u00fcn und von dem Verst\u00e4nde als Aetherschwingungen erkannt. Die Form der Erken nt ni ss sei daher der erkennenden Substanz angeboren, sie sei a priori, vor aller Erfahrung vorhanden und erm\u00f6gliche erst die Erfahrung. Zu den angeborenen Erkenntnissen oder Ideen geh\u00f6ren also die F\u00e4higkeit der w\u00e4gbaren Substanzen, einander als schwer zu erkennen, \u2014 der elektrischen Substanz, eine andere Substanz als feiudlich oder freundlich zu erkennen, \u2014 des Lackmuspapiers, die Welt als blau oder rotli zu erkennen, \u2014 der Geschmackspapillen, die Speisen als s\u00fcss, sauer, bitter, fade zu erkennen, \u2014 der Tastw\u00e4rzchen, die Dinge als hart und weich, glatt und rauh, warm und kalt zu erkennen, \u2014 der sensiblen Nerven, Schmerz und Lust, der motorischen Nerven, die Willensregung der centralen Nervenorgane zu erkennen, endlich die F\u00e4higkeit der Gehirnzellen, welche den Denkprocess vollziehen, die Existenz der Dinge, ihre Zahl und Anordnung im Raume, ihre Folge in der Zeit, ihre Bewegungen und dynamischen Beziehungen, somit Raum, Zeit und urs\u00e4chlichen Zusammenhang zu erkennen.\nDiese Auseinandersetzung entbehrt augenscheinlich nicht einer gewissen \u00e4usseren Logik. Wir haben, seitdem durch die Abstammungslehre Darwin s die Einheit der Natur mehr zum allgemeinen Bewusstsein gelangt ist, von den Anh\u00e4ngern derselben, namentlich von Il\u00fcckel mehrfach verwandte Schlussfolgerungen geh\u00f6rt. Die ununterbrochene Reihe, in welche wir die nat\u00fcrlichen Dinge von dem Atom und Molek\u00fcl an bis zu den complicirtesten Organismen neben einander stellen k\u00f6nnen, ist sehr verf\u00fchrerisch, um die Eigenschaften der einen auf die andern zu \u00fclxirtragen, und da keine feste Grenze sichtbar ist, allen Dingen die gleichen Eigenschaften zuzu-schreil\u00e6n. Man muss sich daher wohl h\u00fcten, \u00fcber einer scheinbaren Identit\u00e4t nicht die nat\u00fcrlichen Verschiedenheiten zu \u00fcbersehen ; denn jene ununterbrochene Reihe wird f\u00fcr das Urtheil leicht zur schiefen Ebene, auf der es unaufhaltsam ins Bodenlose hinuntergleitet. Obgleich ich hievon schon in der \u00bbAbstammungslehre\u00ab gelegentlich gesprochen habe, und obgleich die wesentlichen Elemente, welche die el)en angef\u00fchrte Auseinandersetzung widerlegen, eigentlich schon in diesem Zusatz \u00fcl)er die aprioristische Erkenntniss enthalten sind, scheint es doch nothwendig, sie noch zu einer besonderen Beleuchtung zusammenzustcllen.","page":651},{"file":"p0652.txt","language":"de","ocr_de":"ZUHiltZf.\nf>\u00f42\nDas Fehlerhafte an der Auseinandersetzung besteht darin, dass I die Eigenschaft des Ganzen dem Theil, die Eigenschaft des Zusammen-j gesetzten dum Einfachen zugeschrieben wird. Nun f\u00e4llt es niemandem l e\u2018n> diesen Fehler in morphologischer Beziehung zu begehen ; niemand sagt, dass das Molek\u00fcl oder das Mineral gebaut sei, wie das Thier (\u25bader der Mensch, wie die Zelle, wie der Muskel oder Nerv, wie das Sinnesorgan, wie das Gehirn. Man darf aber eben so wenig sagen, dass das Molek\u00fcl oder Mineral die Functionen der Zelle, des Muskels, des Nerven, des Sinnesorgans und des Gehirns l>esitze, dass os wahrnehme, empfinde, h\u00f6re, sehe, denke, erkenne; \u2014 und wenn man einen dieser Ausdr\u00fccke gebraucht, so ist es nur in bildlicher Weise zul\u00e4ssig. Da die Beziehungen zwischen den Molek\u00fclen, so viel wir wissen, nur darin bestehen, dass sie sich anzichen und abstossen, so muss man, wenn diese Beziehungen Wahrnehmung oder Empfindung genannt werden, sich ihrer Verschiedenheit gegen\u00fcber der wirklichen Wahrnehmung und Empfindung, wie sie dem thierischen Organismus zukommt, bewusst bleiben.\nDas Zusammengesetzte oder das Ganze besteht nur in der Summe seiner Theile. Es ist dies eine Wahrheit, welche, soweit es sich um den morphologischen Aufbau handelt, als Trivialit\u00e4t bezeichnet werden kann, welche aber mit R\u00fccksicht auf die Function leicht \u00fcbersehen wird. Sie entzieht sich dem Blick, weil die Elemente der zusammengesetzten Function, die nichts anderes als die Kr\u00e4fte und Bewegungen der morphologischen Theile sind, uns nicht so deutlich in ihrer Sonderung entgegentreten, weil die Functionen der zusammengesetzten Dinge uns bez\u00fcglich ihres Zustandekommens nicht so l>e-kannt sind, und weil die Wissenschaft die Functionen noch nicht so systematisch gegliedert darzustellen vermag, wie den morphologischen Aufbau. Man darf also die Function des Ganzen eben so wenig auf die Theile \u00fcbertragen als seine Organisation. So wie man nicht sagt, dass das Eiweissmolek\u00fcl ein Gehirn sei, so wenig darf man ihm die Function des Gehirns, Denken und Erkennen, zusehreilnm.\n\\ ergleicht man Einfaches und Zusammengesetztes, so kommt dem Ganzen, weil der Theil in ihm enthalten ist, immer auch die Eigenschaft des Theils zu; al>er der Theil hat nie die Eigenschaft des Ganzen. Da die Functionen der Molek\u00fcle in Anziehungen, Abstossungen und Bewegungen bestehen, so k\u00f6nnen wir mit Sicher heit behaupten, dass die Functionen des Gehirns, somit das Er-","page":652},{"file":"p0653.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022r>. A Priorit\u00e4t.\nG53\nkennen, auf jenen Elementarfunctionen liegr\u00fcndet seien ; aller es mangelt uns jede Berechtigung f\u00fcr die Annahme, \u00ablass den Molek\u00fclen auch das Erkennen zukomme. Das Gemeinsame in den Functionen aller Dinge darf also nicht in dem Erkennen, sondern nur in dynamischen Beziehungen und Bewegungen gefunden werden. Man kann ja wohl, wenn man sich eines k\u00fchnen Bildes bedienen will, von dem Sauerstoffatom sagen, es erkenne das Wasserstoffatom, von dem Eisentheilchen, es erkenne den Magneten, von dem Ohr, es erkenne den ^stimmten Ton. Aber, wie ich Weits\nsagte, auf eine bildliche Sprache darf kein wissenschaftlicher Schluss errichtet werden.\nMan wird nun zwar einwenden, dass die Erkenntniss, die allen nat\u00fcrlichen Dingen zugesclirieben werde, nicht identisch sei, sondern nur etwas Gemeinsames habe; sie unterscheide sich n\u00e4mlich in der Porm, sei aber dem Inhalte oder dem Wesen nach dieselbe. Hierin hegt jedoch eine Verkennung der wirklichen Beziehungen. Das Wesen eines mateiiellen Systems besteht, sowohl r\u00fccksichtlich des Baues als der Function, in der Beschaffenheit, Zahl und Anordnung seiner Theile. \u2014 Schon die ungleiche Anordnung allein, W gleicher Zahl und Beschaffenheit der Theile, gen\u00fcgt in vielen F\u00e4llen, um eine wesentliche, nicht bloss formelle Verschiedenheit zu begr\u00fcnden. So sind ein Gemenge von Wasserstoff und Sauerstoff und eine entsprechende Portion Wasser oder Wasserdumpf, ebenso Zucker und Milchs\u00e4ure, endlich, um alles Uebrige zu \u00fcberspringen, der lebende Organismus und derselbe im todten Zustande gewiss wesentlich verschiedene Dinge. Um so gr\u00f6sser muss die Verschiedenheit werden, wenn, wie dies gew\u00f6hnlich der Fall ist, zu der ungleichen Anordnung auch ungleiche Zahl und Beschaffenheit der Theile sich gesellen.\nWir begehen daher einen Fehler, wenn wir allen nat\u00fcrlichen Dingen Erkenntniss zuschreiben und dieselbe bloss in formeller Beziehung als verschieden gelten lassen. Ein exactes Verfahren gesteht als das Gemeinsame in den Functionen der Dinge nur die dynamischen Beziehungen summt den daraus hervorgehenden Bewegungen zu, und wenn wir dies allgemein als \u00bbErkennen\u00ab bezeichnen wollten! so w\u00fcrden wir uns in Widerspruch mit dem Spruchgebrauche setzen,' und weiter nichts gewinnen, als dass f\u00fcr diejenige Function, die bisher Erkennen genannt wurde, eine neue Benennung gefunden werden musste. Denn die Verstandesoperation, welche das eigentliche Wesen","page":653},{"file":"p0654.txt","language":"de","ocr_de":"f>r>4\nZunutze.\nder Dinge ergr\u00fcndet, bedarf sicher gegen\u00fcber allen andern Functionen einer besonderen Bezeichnung. Unter diesen Umst\u00e4nden scheint es aller gerathener, den Begriffen, die man nicht \u00e4ndern kann, ihre altbew\u00e4hrte und allbekannte Firma zu lassen.\nDie Erkenntniss ist die Frucht des Denkens und das Denken setzt Erinnerung voraus; denn es besteht aus dem Zusammenwirken von geistigen Eindr\u00fccken, die zu verschiedenen Zeiten aufgenommen wurden. Das Erkennen mangelt also sicher allen denjenigen nat\u00fcrlichen Dingen, welche keine Erinnerungen haben. Nun nimmt zwar | Il\u00e4ekel an, dass auch das Molek\u00fcl Ged\u00e4chtniss besitze, und diese j Vorstellung liegt auch durchaus in dem Sinne der angef\u00fchrten Auseinandersetzung, welche allen Dingen Erkenntniss zuschreibt. Denn mit gleich berechtigter Folgerichtigkeit, wie die Reaction des Molek\u00fcls auf eine Ursache ein Erkennen dieser Ursache genannt wird, kann auch jede dauernde Ver\u00e4nderung, die einem Molek\u00fcl oder einer Molek\u00fclgruppe von einer Einwirkung zur\u00fcckbleibt, als eine Erinnerung an jenen Vorgang betrachtet werden. Nach dieser Auffassung w\u00e4ren alle Ver\u00e4nderungen an den Dingen Erinnerungen, und diese neue Definition w\u00fcrde uns nichts anderes eintragen, als dass wir, ebenfalls wie f\u00fcr das Erkennen, nunmehr f\u00fcr den unentbehrlichen Begriff, den man bis jetzt Erinnerung genannt hat, ein neues Wort erfinden m\u00fcssten.\nDass aber nicht jede Ver\u00e4nderung eine Erinnerung sein kann, wird uns l>esonders klar, wenn wir die f\u00fcr eine wirkliche Erinnerung noth wendige materielle Unterlage uns vergegenw\u00e4rtigen. Dieselbe muss jedenfalls in einer solchen materiellen Ver\u00e4nderung l\u00bbestehen, dass sie den geistigen Eindruck gelegentlich wieder auflel>en l\u00e4sst\u2019 ohne Mith\u00fclfe der urspr\u00fcnglichen Ursache, welche den ersten Eindruck und mit ihm jene materielle Ver\u00e4nderung hervorgerufen hat. Dies ^t nur denkbar, wenn die urspr\u00fcngliche Vorstellung in einer 1 ^stimmten Erregung (durch dynamische Einwirkung hervorgebrachten Bewegung) einer Partie von Theilchen besteht, verbunden mit einer bestimmten dauernden Orientirung derselben, welche es erm\u00f6glicht, dass die n\u00e4mliche Erregung durch irgend welche verwandte Ursachen\u2019 wieder zu Stande kommt1).\n') Ich verweise hier\u00fcber auf den 8. Zusatz: fhiuge auf stoffliche Bewegungen.\nZur\u00fcckf\u00fchrung geistiger Vor-","page":654},{"file":"p0655.txt","language":"de","ocr_de":"\u00df. A Priorit\u00e4t.\n66f>\nHieraus ergibt sich unwiderleglich, dass die Erinnerung nicht dem einzelnen Molek\u00fcl zukommt, und dass sich unter den zusammen-gesetzten materiellen Systemen nur solche dazu bef\u00e4higt erweisen welche eine hinreichend grosse Zahl verschiedenartiger Theilchen liesitzen, um materielle Erinneruugsspuren zu bilden, dass also beispielsweise die krystallinischen K\u00f6rper wegen ihrer regelm\u00e4ssigen und gleichartigen Structur jedenfalls ausgeschlossen sind. Wir sehen aber ferner em, dass, wenn auch in manchen unorganisirten K\u00f6rpern die erforderliche Anordnung verschiedenartiger Molek\u00fcle eine analoge Erscheinung gestatten sollte, was uns unbekannt ist, dieselbe jedenfalls von ganz anderer Beschaffenheit sein muss, als die Erinnerung, welche in den organisirten (micell\u00f6sen) K\u00f6rpern zu Stande kommt. Die Verschiedenheit zwischen den beiden Vorg\u00e4ngen muss eben so gross sein, als die Verschiedenheit zwischen unorganisirtem (nicht micell\u00f6sem) und organisirtem (micell\u00f6sem) Bau. Wir begreifen \u00fcbrigens leicht, dass bei dem letzteren die unendliche Mannigfaltigkeit in der chemischen Zusammensetzung und in der Gestalt der Micelle und die ungleiche Verwandtschaft der verschiedenen Micellseiten zu Wasser und zu Substanz wohl im Stande sind, Spuren von so leichter Beweglichkeit bei hinreichender Festigkeit und von so grosser Mannigfaltigkeit darzustellen, wie wir sie f\u00fcr die Erinnerungen voraussetzen m\u00fcssen.\nDurch die Ueberlegung, wie die Erinnerung zu Stande kommt, . wird sie auf die organisirten Wesen tieschr\u00e4nkt. Ob sie alier allen \\ Organismen und somit in ihren Uranf\u00e4ngen auch den Pflanzen ' zukomme, \u2014 ob sie bloss den aus Albuminaten und deren Abk\u00f6mmlingen l \u00abstellenden Theilen oder in einfacheren Modificationen auch anderen I heilen angeh\u00f6re, \u2014obnureine l>estimmte Organisation zur Erinnerung l>ef\u00e4hige, \u2014 wie sich die Erinnerung und die Gewohnheit zu einander verhalten, \u2014 sind weitere Fragen, in deren Er\u00f6rterung ich nicht ein-treten will.\nDie Ausdehnung der Erkenntniss und der Erinnerung auf alle K\u00f6rj\u00bber ist die Folge einer unrichtig angewendeten Analogie. Man meint, es k\u00f6nne in der Reihe der nat\u00fcrlichen Dinge, da ja alle aus derselben Substanz bestehen, nicht irgendwo etwas g\u00e4nzlich Neues auftreten, und es m\u00fcssen daher die Eigenschaften der zusammengesetzten K\u00f6rper auch schon den einfachen zukommen. Aber die Identit\u00e4t in allem Seienden beschr\u00e4nkt sich auf die e lern en-","page":655},{"file":"p0656.txt","language":"de","ocr_de":"Zus\u00e4tze.\nOf>fi\ntaren Kr\u00e4fte und Bewegungen. Von solchen kann allerdings in dem Zusammengesetzten nichts Neues beginnen. Das Neue liegt in der Zusammensetzung selbst. Auf jeder h\u00f6heren Stufe der Zusammensetzung sind die elementaren Kr\u00e4fte und Bewegungen auf eine vorher nicht da gewesene Art combinirt, und in dieser Combination ist das g\u00e4nzlich Neue in der Function mit logischer Notli-wendigkeit gegeben. Es ist eine unabweisliche Forderung, dass in dem Krystall andere Eigenschaften zu Stande kommen als in dem einzelnen Molek\u00fcl oder Pleon (Molek\u00fclgruppe), und dass in den micell\u00f6sen K\u00f6rpern der organisirten Welt neue, der unorganischen Natur vollst\u00e4ndig fremde Functionen (d. h. Combinations von elementaren Kr\u00e4ften und Bewegungen) auftreten. Zu diesep Functionen geh\u00f6ren das Wahrnehmen, Empfinden, Erinnern, Denken, Erkennen.\nDie Eingangs dieses letzten Abschnittes angef\u00fchrte Auseinandersetzung (S. <\u00bb5U) stellte das Erkennen als etwas Aphoristisches, den Dingen schon ihrer Natur nach Anhaftendes dar, weil es allen ohne Ausnahme zukomme und in den einfachsten K\u00f6rpern offenbar nicht durch Erfahrung gewonnen werde, sondern unmittelbar gegeben sei. Diese Schlussfolgerung hat nach dem Gesagten keine Berechtigung. ln dem Unorganischen sind nicht einmal die Anlagen, sondern bloss die Materialien enthalten, aus denen auf den h\u00f6heren Stufen die Anlagen f\u00fcr die Werkzeuge des Erkennens zusammengesetzt werden. Erst mit dem Auftreten des Organischen erscheinen diese Anlagen, welche anf\u00e4nglich bloss ein Minimum der einfachsten Functionen (der Wahrnehmung und Angew\u00f6hnung) vollbringen, aW die F\u00e4higkeit besitzen, immer weiter und zuletzt zu Organen\nsich auszubilden, in denen die M\u00f6glichkeit des Erkennens begr\u00fcndet ist.\nDer micell\u00f6se Bau der Organismen gestattet eine den unorganisirten K\u00f6rpern unbekannte Isolirung der auf eine \u00e4ussere Einwirkung erfolgenden inneren Bewegungen und dadurch eine vielfache Umsetzung derselben. Er gestattet ferner eine diesen Bewegungen entsprechende eigene Orientirung besonderer Reihen und Gruppen von Mieellen, welche bei wiederholter Erregung zu Gewohnheiten und Erinnerungen werden. Mit der bei den h\u00f6heren Organismen immer weiter gehenden Complication in der Configuration eines Systems werden auen \u00ablie besonderen Orientirungen in demselben mannig-","page":656},{"file":"p0657.txt","language":"de","ocr_de":"G Kraft. Stoff. Bewegung.\t657\nfaltiger, treten unter einander in zahlreichere Verbindungen und f\u00fchren zu Erfahrungen von steigender Sicherheit und Benutzbarkeit, aus denen als h\u00f6chstes Product die Erkenntnisse hervorgehen.\n6. Kraft Stoff. Bewegung. (S. 585.)\nNach einem von Aristoteles her sich datirenden Vorurtheil, uas aber sp\u00e4ter sich noch erheblich steigerte, betrachten Viele heute noch die Materie als eine tr\u00e4ge, todte, absolut passive Substanz, welche erst durch die Kraft zu Bewegung und Leben gelange. Diese dualistische Auffassung des Endlichen erhielt bei Nichtphysikem eine scheinbare Best\u00e4tigung durch das allzuw\u00f6rtlich verstandene physicalische Gesetz der Tr\u00e4gheit, welches richtiger als Beharrungsverm\u00f6gen bezeichnet wird und eigentlich nur sagt, dass eine bewegte Masse ohne fremde Kr\u00e4fte ebensowenig in Ruhe, als eine ruhende in Bewegung kommen kann, oder genauer ausgedr\u00fcckt, dass die Bewegung, in der ein K\u00f6rper sich befindet, in Richtung und Geschwindigkeit nur durch eine \u00e4ussere Kraft ge\u00e4ndert werden kann.\nIn dem endlosen Streit \u00fcber Kraft und Stoff hat man fast immer Physisches und Metaphysisches vennengt; und so lange die beiden Standpunkte nicht stveng geschieden werden, d\u00fcrfte auch der Streit nicht zu Ende kommen. Halten wir uns streng an die physische oder endliche Natur, so ist die Sache klar und anschaulich. Unter Kraft verstehen wir die Eigenschaft eines K\u00f6rpers, eine bestimmte Wirkung auf andere K\u00f6rper auszu\u00fcben. Materie oder Stoff dagegen ist uns die Substanz des K\u00f6rpers abgesehen von einer bestimmten Wirkung. Materie im naturwissenschaftlichen Sinne ist also nichts Einfaches, Unterschiedsloses, sondern immer etwas Zusammengesetztes, in welchem zahlreiche Kr\u00e4fte ihren Sitz haben, die wir aber vorl\u00e4ufig nicht ber\u00fccksichtigen. So unterscheiden wir am magnetischen Eisen die magnetische Kraft und das materielle Substrat derselben, das Eisen, in welchem zwar verschiedene Kr\u00e4fte die physicalischen und chemischen Eigenschaften bedingen, bei der vorgenommenen Abstraction aber nicht in Betracht kommen.\nWenn wir einen K\u00f6rper in seine Theile zerlegen, so wird entweder Kraft frei oder gebunden, so dass die Theile zusammen mehr\nv. N\u00e4gel 1, Abstammungslehre.","page":657},{"file":"p0658.txt","language":"de","ocr_de":"Gf>8\nZus\u00e4tze.\noder weniger Kraft enthalten als das Ganze. Dies wiederholt sich l>ei jeder Zerlegung bis zur Zerstreuung in die einzelnen Molek\u00fcle und chemischen Atome. Dabei wechselt der Stoff seine Eigenschaften je nach der Summe, der Beschaffenheit und Anordnung der in demselben befindlichen Kr\u00e4fte. Wir beobachten also an einem K\u00f6rper nichts anderes als seine Kr\u00e4fte. Nehmen wir in der Abstraction diejenigen weg, deren Wirkung wir erkennen, so bleibt uns als Rest die Materie, n\u00e4mlich eine Summe von gebundenen, sich das Gleichgewicht haltenden und nach aussen keine merkbare Wirkung aus\u00fcbenden Kr\u00e4ften.\nWir k\u00f6nnen an einem Gegenstand jede einzelne Kraft in Gedanken isoliren, aber wir k\u00f6nnen nie etwas von demselben trennen, was wir als Stoff ohne Kraft bezeichnen d\u00fcrften. Der. Begriff der Kraft reicht aus, um einen Gegenstand zu begreifen. Deshalb konnten die mathematischen Physiker den Begriff des Stoffes an sich ganz aufgeben und von ausdehnungslosen Kraftpunkten ausgehen. Auf diesem Wege erhalten wir die Ausf\u00fcllung des Raumes durch anziehende und abstossende Punkte, wodurch die K\u00f6rper dargestellt und in allen ihren Eigenschaften erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnten, wenn wir uns nicht zugleich auf ein Gebiet begeben h\u00e4tten, wo alle Erkenntniss aufh\u00f6rt. Die letzte Consequenz der mathematischen Physik, welche auf die einfachen Elemente zur\u00fcckgehen will, ist nicht mehr eine physische, sondern eine metaphysische Theorie, wie jede andere Theorie von Kraft und Stoff, die nicht in der vorstellbaren Endlichkeit bleibt, metaphysischer Natur ist.\nIch habe Kraft im allgemeinen als dasjenige angenommen, was eine Wirkung auszu\u00fcben im Stande ist. Noch anschaulicher wird die Vorstellung von dem realen Stoff im Sinne des Naturforschers, wenn wir den allgemeinen Begriff der Kraft in seine besonderen\u2019 Begriffe zerlegen. Wir unterscheiden dann an einem K\u00f6rper die Bewegung des Ganzen, womit seine lebendige Energie (lebendige Kraft) gegeben ist, ferner die Bewegung der materiellen Theilchen, wodurch theilweise die potentiellen Energien (Spannkr\u00e4fte) hervorgebracht werden, und endlich die anziehenden und ab-stossenden Elementarkr\u00e4fte, die in den materiellen Theilchen ihren Sitz haben, unabh\u00e4ngig von der Bewegung derselben sind, und theils auf die materiellen Theilchen des K\u00f6rpers selbst, theils auf andere entfernt\u00ab! K\u00f6rper wirken, und welche einen anderen Theil","page":658},{"file":"p0659.txt","language":"de","ocr_de":"<>. Kraft. Stoff. Bowcgnnf\u00e7.\n659\nder potentiellen Energien darstellen. Die (lebendigen und potentiellen) Energien wechseln in ihrer Intensit\u00e4t mit der Bewegung ihrer Tr\u00e4ger und k\u00f6nnen auch Null werden, w\u00e4hrend Anziehung und Abstossung in den materiellen Theilchen unver\u00e4nderliche Gr\u00f6ssen sind. Stoff oder Materie ist also eine Summe von potentiellen Energien (Bewegungen der Theilchen samrnt den anziehenden und abstossenden Elementarkr\u00e4ften, insofern die bemerkbare Gesammt-wirkung auf die Substanz des Gegenstandes beschr\u00e4nkt bleibt).\nDie sinnliche Wahrnehmung zeigt uns unmittelbar nur die Existenz von K\u00f6rpern, die sich bewegen ; ihre Substanz nennen wir Stoff oder Materie. Die Bewegung f\u00fchrt uns auf das Vorhandensein von Bewegungsursachen oder Kr\u00e4ften. Jeder K\u00f6rper besteht also aus Stoff, er bewegt sich und steht durch Kr\u00e4fte mit anderen K\u00f6rpern in Wechselwirkung. Der Stoff des K\u00f6rpers selbst erscheint uns dabei als indifferente Masse ohne Kraft\u00e4usserung, oder wir betrachten ihn wenigstens als solche. Analysiren wir ihn aber, so besteht er aus Theilen, die ihre gegenseitige Lage ver\u00e4ndern, also Bewegung besitzen, und die durch Kr\u00e4fte auf einander einwirken. Den Stoff dieser Theile k\u00f6nnen wir oft wieder in der n\u00e4mlichen Weise in kleinere mit Bewegung und Kr\u00e4ften begabte Theile zerlegen, und die Zerlegung noch weiter fortsetzen.\nIn Wirklichkeit h\u00f6rt die Analyse bald auf, nicht deswegen, weil sie beim Einfachen, sondern weil sie bei Gr\u00f6ssen anlangt, welche f\u00fcr unsere Sinne und f\u00fcr unsere \u00fcbrigen Hilfsmittel nicht weiter zerlegbar sind. In der Vorstellung aber kann die Zerlegung fortgesetzt werden, ohne jedoch ein Ende zu erreichen. W\u00e4hrend wir daher auf den einzelnen Stufen der Analyse Bewegung und Kraft deutlich erkennen, ist uns der Stoff immer nur der nicht weiter zerlegte oder auch der f\u00fcr uns nicht weiter zerlegbare Rest, der aber immer wieder aus Bewegung, Kraft und Stoff zusammengesetzt ist.\nInnerhalb dieser Realit\u00e4t muss auch das Gesetz von der Erhaltung der Kraft bleiben. Dasselbe darf nicht an raumlose Kraftpunkte oder metaphysische Atome ankn\u00fcpfen; auch bedarf es dieser Voraussetzung keineswegs, wie man wohl irrth\u00fcmlich vermuthete. Jede gr\u00f6ssere oder kleinere Stoffeinheit, der Weltk\u00f6rper sowohl als des Molek\u00fcl, wirkt durch Kr\u00e4fte und Bewegungen auf andere Stoff-oinheiten, und jede Wirkung erfolgt so, als ob sie von einem Punkte ausginge, weil sie die lineare Componente aller wirksamen Theile ist.\n42*","page":659},{"file":"p0660.txt","language":"de","ocr_de":"Zaft\u00e4tze.\nDie Elemente, \u00fcber die unsere Analyse nicht hinauskommt und die auch zur Erkl\u00e4rung unserer Vorstellungen in jeder Beziehung vollauf gen\u00fcgen, sind also Stoff in irgendwelcher (fortschreitender, schwingender, drehender) Bewegung und an demselben haftende (positive und negative) Zugkr\u00e4fte, deren Differenz als Anziehung oder Abstossung zur Geltung kommt. Jede Stoffeinheit (sowohl die Sonne, als das Eisenatom und das Aether-theilchen) hat die F\u00e4higkeit, auf jede andere Stoffeinheit mit bestimmten Zugkr\u00e4ften einzuwirken. Diese anziehenden und abstossenden Elementarkr\u00e4fte sind unver\u00e4nderlich, solange nicht etwa die Stoffeinheit selber durch Hinzuf\u00fcgung oder Hinwegnahme anderer Stoffeinheiten zu- oder abnimmt, und sie sind unabh\u00e4ngig von dem Umstande, ob und in welcher Weise die F\u00e4higkeit, anzuziehen und abzustossen, durch die Anwesenheit anderer Stoffeinheiten sich verwirklichen kann oder nicht. Hierin beruht das Gesetz von der Erhaltung des Stoffes, das wir auch das Gesetz von der Erhaltung der Elementarkr\u00e4fte nennen k\u00f6nnten.\nEine Folge dieses Gesetzes ist das andere, das man gew\u00f6hnlich als das Gesetz von der Erhaltung der Kraft oder Energie bezeichnet, und welches darin besteht, dass die Summe der lebendigen und potentiellen Kr\u00e4fte in einem beliebigen, durch \u00e4ussere Kr\u00e4fte nicht heinflussten und keine \u00e4ussere Wirkung aus\u00fcbenden System die n\u00e4mliche bleibt. W\u00e4hrend die lebendige Kraft immer die durch ihre Geschwindigkeit wirkende Gesammtmasse eines K\u00f6rpers darstellt\nbesteht die potentielle Energie au*, drei verschiedenen\nFactoren: 1) der Wirkung, welche die Zugkr\u00e4fte eines K\u00f6rper mit Bezug au', alle fremden K\u00f6rper zu vollbringen verm\u00f6gen, und welche eine Function der Entfernung ist; 2) der Wirkung, welche die Zug-kr\u00e4f\u00bbe der Theilchen eines Systems auf einander aus\u00fcben, insofern sie sich nicht im Gleichgewichte befinden, oder insofern sie aus einem Gleichgewichtszust\u00e4nde in einen neuen Gleichgewichtszustand \u00fcbergehen k\u00f6nnen; 8) der Wirkung, welche die in Bewegung l\u00e4ndlichen fheilchen eines Systems als eben so viele lebendige Kr\u00e4fte\nEin K\u00f6rper, der um eine gewisse Strecke von der Erde entfernt wird, vermehrt seine potentielle Energio um einen dieser Wegl\u00e4nge entsprechenden Bet:ag. Indem er fallend den n\u00e4mlichen Weg zur\u00fcck-","page":660},{"file":"p0661.txt","language":"de","ocr_de":"6. Kraft. Stoff. Bewegung.\t(ifil\nlegt, erlangt er eine lebendige Kraft, die genau das Aequivalent jener |>otentiellen Energie ist.\nDie Gase \u00fcl\u00bben durch ihre sich bewegenden Molek\u00fcle, von denen jedes mit einer seinem Gewicht und seiner Geschwindigkeit entsprechenden lebendigen Kraft dahinfliegt, einen Druck auf die angrenzenden K\u00f6rper. Die Summe aller in der Zeiteinheit auf die Fl\u00e4cheneinheit treffenden St\u00fcsse stellt die Spannkraft des Gases dar. Wird das Ga* zusammengedr\u00fcckt, so werden die Molecularst\u00f6sse in entsprechendem Maasse zahlreicher und erh\u00f6hen die Spannkraft, welche gem\u00e4ss der Zunahme wieder \u00e4ussere Arbeit leisten kann. Die potentielle Energie besteht also in diesem Falle aus einer Summe von leliendigen Kr\u00e4ften, die in den verschiedensten Richtungen wirken. Sie darf nicht als lebendige Kraft des Gases bezeichnet werden; diese w\u00e4re nur dann gegeben, wenn die Gasmolek\u00fcle ausserdem noch in einer gemeinsamen Richtung sich bewegten und wenn somit die Gasmasse als Wind dahinf\u00fchre.\nIn einem geraden Stahlband herrscht Gleichgewicht zwischen den anziehenden und abstossenden Kr\u00e4ften seiner Molek\u00fcle. Kr\u00fcmmt man dasselbe, so werden die Theilchen auf der concaven Seite einander gen\u00e4hert, auf der convexen Seite von einander entfernt. Dort sind jetzt die abstossenden, hier die anziehenden Molecularkr\u00e4fte im Uebergewicht und stellen zusammen eine Summe von Spannkr\u00e4ften dar, welche durch die Verschiebung jedes Theilchens aus der Gleichgewichtslage genau bestimmt sind. Die Summe dieser Spannkr\u00e4fte ist gleich der lebendigen Kraft, welche zur Kr\u00fcmmung des Stahlbandes erforderlich war und welche dieses bei der R\u00fcckkehr in den ungespannten Zustand wieder zu leisten vermag.\nDie (gr\u00fcne) Pflanze venvandelt Kohlens\u00e4ure und Wasser, indem Licht und W\u00e4rme aufgewendet wird, in Holz (Cellulose) und in frei werdenden Sauerstoff. Beim Verbrennen des Holzes wird die gleiche Menge Sauerstoff aufgenommen; es wird wieder die n\u00e4mliche Menge von Kohlens\u00e4ure und Wasser gebildet und eine Summe von Licht und W \u00e4rme entbunden, welche der bei der Holzbildung verschwundenen Menge von Licht und W\u00e4rme \u00e4quivalent ist. Letzteres ist wenigstens nac . dern Gesetze von der Erhaltung der Kraft anzunehmen. Die \\ erbrennungsw\u00e4rme stellt eine Summe von frei werdender Energie dar; sie kann mechanische Arl>eit leisten. Holz und Sauerstoff enthalten eine gewisse Menge von potentieller Energie, welche beim","page":661},{"file":"p0662.txt","language":"de","ocr_de":"662\nZus\u00e4tze.\nUebergang in Kohlens\u00e4ure und Wasser frei wird, und welche aus einem Ueberscliuss von chemischer Anziehung und gebundener W\u00e4rme besteht. Wenn man aber gew\u00f6hnlich sagt, in dem Holze sei von der Pflanze Kraft aufgespeichert worden, so ist dies nur in fig\u00fcrlichem Sinne richtig ; denn die aufgespeicherte Spannkraft ist nicht in dem Holze, sondern in dem gasf\u00f6rmigen Sauerstoff enthalten.\n7. Qualit\u00e4t in der Natur (S. 586).\nDie Qualit\u00e4ten, wodurch die nat\u00fcrlichen Dinge sich von einander unterscheiden, sind nicht absolut, sondern nur relativ, da sie s\u00e4mmtlich aus quantitativen Verh\u00e4ltnissen hervorgegangen sind.\nDieser Satz ist so wichtig f\u00fcr die Naturbetrachtung, dass es w\u00fcnschbar erscheint, durch eine n\u00e4here Beleuchtung sich vollst\u00e4ndige Klarheit zu verschaffen. Betrachten wir zuerst die BegrifEe der Mathematik, da uns diese Wissenschaft bei aller Beurtheilung der nat\u00fcrlichen Dinge den Weg erhellen soll.\nDie Mathematik, die Wissenschaft von Zahl und Gr\u00f6sse, hat es vorzugsweise mit quantitativen Verh\u00e4ltnissen zu thun. Doch mangeln ihr die eigentlichen, absoluten Qualit\u00e4ten nicht. Diese k\u00f6nnen, soweit es sich um reelle (nicht imagin\u00e4re) Gr\u00f6ssen handelt, dadurch entstehen, dass ein Werth in einer Gleichung Null (nicht etwa bloss unendlich klein) wird. \u2014 Es seien a und b die Axen einer Ellipse. Setzen wir b \u2014 a \u2014 m und lassen wir m zu Null werden, also b = a \u2014 0 oder b = o, so verwandelt sich die Ellipse\nin einen Kreis. Ist dagegen m nicht 0, sondern \u2014, also b \u2014 a_______1-\noo\tX \u2019\nso haben wir eine kreis\u00e4hnliche Ellipse. Wird anderseits a auf Null reducirt, so geht die Ellipse in die gerade Linie b \u00fcber, und wenn b = 0, in die Linie a. Schwindet dagegen u oder b nicht zu 0,\nsondern zu \u2014 , so erhalten wir nicht gerade Linien, sondern unendlich schmale Ellipsen. Es macht also begrifflich einen Unterschied, ob ein Werth zu Nichts oder ob er nur unendlich klein wird.\nEin Viereck, dessen eine Seite sich auf - verk\u00fcrzt hat, ist dem Be-","page":662},{"file":"p0663.txt","language":"de","ocr_de":"7. Qualit\u00e4t in der Natur.\n663\ngriffe mich immer noch ein Viereck; zum wirklichen Dreieck wird es erst, wenn die Seite 0 und damit zur Spitze des Winkel\u00bb geworden ist. Ein K\u00f6rper, dessen eine Dimension unendlich klein ist, bleibt immer noch ein K\u00f6rper; er schl\u00e4gt erst in Fl\u00e4che um, wenn jene Dimension Null wird.\nAber diese begrifflichen oder absoluten Unterschiede hal)en keine reale Bedeutung ; sie sind f\u00fcr die Rechnung werthlos. Deswegen werden sie von der Mathematik nicht weiter beachtet, welche, obgleich rein formal, dennoch in hohem Grade praktisch verf\u00e4hrt. Sie fragt sich bloss, ob etwas f\u00fcr die weitere Rechnung vernachl\u00e4ssigt werden kann, und w\u00e4hrend sie zwischen unendlich Kleinem der ersten, zweiten, dritten Ordnung unterscheidet, macht sie keinen Unterschied zwischen unendlich Kleinem und Nichts. Das mathematische Verfahren kann also, indem es gleichsam transcendent wird, einen Begriff in einen absolut verschiedenen \u00fcberf\u00fchren, aber es vermeidet diese Consequenzen zu ziehen. \u2014 Uebrigens setzt das Nullwerden eines Werthes nicht immer das Entstehen einer neuen Qualit\u00e4t voraus; man bleibt innerhalb der quantitativen Verh\u00e4ltnisse, wenn man durch Addition oder Subtraction zur Null kommt. In der Zahlenreihe von \u2014 co bis -f <x hat die Null keine andere Bedeutung, als die einer jeden positiven oder negativen Zahl, und 0 ist von -f- 1 oder von \u2014 1 nicht anders verschieden, als 2 von 3 oder 3 von 2.\nGehen wir von den formalen zu den realen Dingen der Natur \u00fcber, so k\u00f6nnen die letzteren schon deswegen nur durch relative Qualit\u00e4ten sich von einander unterscheiden, weil sie durch Addition und Subtraction aus einander entstehen. Es sind die n\u00e4mlichen chemischen Elemente, welche in wechselnden Mengen zusammentreten, um aie nat\u00fcrlichen K\u00f6rper zu bilden, deren Bewegungen und Wirkungen dem entsprechend auch nur gradweise, nur durch ein Mehr oder Weniger von einander abweichen. Wenn uns gleichwohl Erscheinungen, die durch quantitative Ursachen bedingt werden, als verschiedene Qualit\u00e4ten entgegentreten, so hegt der Grund davon theils in der eigenth\u00fcmlichen Organisation unserer Sinnesorgane, theils in dem Umstande, dass die Objecte nicht immer allm\u00e4hlich, sondern mitunter sprungweise in einander \u00fcbergehen. Der sprungweise Wechsel aber r\u00fchrt entwreder davon her, dass die Uebergangs-","page":663},{"file":"p0664.txt","language":"de","ocr_de":"664\nZus\u00e4tze.\nglieder, weil die Combination nach Zahl und nicht nach Gr\u00f6sse erfolgt, unm\u00f6glich sind, oder davon, dass die m\u00f6glichen Uebergangs-glieder aus irgend einem Grunde mangeln.\nDie sch\u00f6nsten Beispiele, wie rein quantitative Verh\u00e4ltnisse unseren Sinnesorganen bald als Quantit\u00e4ten, bald als Qualit\u00e4ten erscheinen, geben uns die Farben und T\u00f6ne. Schwingungen von gleicher Dauer, aber mit ungleicher Schwingungsweite (also mit ungleicher Geschwindigkeit der schwingenden Theilchen), lassen uns den gleichen Ton oder die gleiche Farbe, nur schw\u00e4cher und st\u00e4rker, empfinden. Wir sind uns vollkommen bewusst, dass wir die gleiche Qualit\u00e4t in ungleicher Intensit\u00e4t wahmehmen. Dagegen fassen unsere Sinne die Schwingungen mit ungleicher Dauer als verschiedene T\u00f6ne und Farben auf. Obgleich durch allm\u00e4hliche Zunahme der in der Zeiteinheit erfolgenden Schwingungen der Ton c gleitend in den Ton g, die gelbe Farbe gleitend in die blaue \u00fcbergeht, so ist f\u00fcr unser Gef\u00fchl das y niemals ein bloss vermehrtes c. das Blau niemals ein bloss gesteigertes Gelb, sondern ein (qualitativ) anderer Ton und eine andere Farbe.\nDie verschiedenen Aggregatzust\u00e4nde der gleichen chemischen\nSubstanz erscheinen uns als qualitativ verschieden, so das Eis, _\ndas Wasser in zusammenh\u00e4ngender Masse oder in Nebelbl\u00e4schen vertheilt, \u2014 der unsichtbare gasf\u00f6rmige Wasserdampf. Diese ungleichen Eigenschaften werden bloss durch die ungleichen Mengen von gebundener W\u00e4rme bewirkt, welche die Bewegungszust\u00e4nde der Molek\u00fcle ver\u00e4ndern. 1 Kilogramm Eis (von 0\u00b0) -f 79 W\u00e4rmeeinheiten = Wasser. 1 Kilogramm Wasser (bei der Siedhitze) -f 536 W\u00e4rmeeinheiten = Wassergas.\nDie Eigenschaften der chemischen Elemente sind zwar nur dem Grade nach, aber doch sprungweise verschieden. Gold, Silber, Eisen, Quecksilber, Chlor, Sauerstoff, Kohlenstoff werden durch keine Zwischenglieder verbunden. Der Nachweis, dass sie nur quantitativen Ursachen ihr Dasein verdanken, l\u00e4sst sich nicht ausf\u00fchren, da die Elemente jetzt noch der Scheidekunst widerstehen. Aber nach den Thatsachen, welche uns die chemischen Verbindungen in so reicher Menge darbieten, ist es gar nicht unm\u00f6glich, dass die verschiedenen Elemente aus den n\u00e4mlichen Stofftheilchen mit ungleichen Mengen gebundener Kr\u00e4fte bestehen.","page":664},{"file":"p0665.txt","language":"de","ocr_de":"7. Qualit\u00e4t in der Natur.\n6r>r>\nAlle chemischen Verbindungen geben uns Beispiele daf\u00fcr, dass aus zwei oder mehreren chemischen Elementen unter Abgabe oder Aufnahme von W\u00e4rme K\u00f6rper entstehen, die unsere Sinne als neue Qualit\u00e4ten empfinden. Metallisches Eisen verbindet sich mit dem gasf\u00f6rmigen Sauerstoff der Luft unter Abgabe von W\u00e4rme zu Eisenrost. Kohle und Schwefel verbinden sich unter Aufnahme von W\u00e4rme zu Schwefelkohlenstoff. Besonders aber finden wir in der organischen Chemie eine Menge von F\u00e4llen, wo bestimmte Mengen verschiedener Elemente uns als etwas ganz anderes sich darstellen je nach der W\u00e4nnet\u00f6nung (nach der Menge von W\u00e4rme, die gebunden oder frei wird). So sind beispielsweise 12 At, Kohlenstoff -|- 24 At. Wasserstoff + 12 At. Sauerstoff = Kohle -f- Wasser = Traubenzucker \u2014 Essigs\u00e4ure \u2014 Milchs\u00e4ure = Rohrzucker + Wasser = St\u00e4rkemehl (Gummi, Cellulose) 4- Wasser = Glycerin -f Kohlenoxyd - \u00f6lbildendes Gas -|- Sauerstoff = Weingeist -f Kohlens\u00e4ure = Fett -f Wasser -f Sauerstoff, wenn jeweilen die bestimmte W\u00e4rmedifferenz beigef\u00fcgt wird. Dass dabei die r\u00e4umliche Anordnung der Elementatome jedesmal eine andere ist, erscheint als selbstverst\u00e4ndlich und \u00e4ndert an der bloss quantitativen \\ erschiedenheit der Ursachen nichts ; denn die verschiedenen Lagerungen sind, wie die Permutationen gegebener Gr\u00f6ssen jedenfalls nicht qualitativer Natur.\nDie Eigenschaften der chemischen Verbindungen wechseln, wie diejenigen der chemischen Elemente, sprungweise, da sie nach der Zahl der Atome (Aequivalente! erfolgen und somit sich numerisch abstufen. Kupfer und Sauei stoff gelxm zu 1 Cu und 1 0 verbunden das schwarze Kupferprotoxvci, zu 2 Cu und 1 0 verbunden das rothe Kupfersuboxyd (Rothkupfererz). Kohlenstoff, WasserstofE und Sauerstoff stellen in der Verbindung 1 C -f- 277 + 3 0 Kohlens\u00e4ure, in der Verbindung 1\t2 // \u2014f- 2 0 Ameisens\u00e4ure dar. Es ist begreiflich,\ndass die qualitativen Verschiedenheiten um so undeutlicher werden, jo h\u00f6her bei gleichen Differenzen und unter \u00fcbrigens gleichen Umst\u00e4nden die Zahl der Atome in den Verbindungen steigt. So weichen in den Reihen der Fette und Fetts\u00e4uren die niedern Glieder viel weiter von einander ab, obgleich der Unterschied zweier auf einander folgender Glieder der n\u00e4mliche ist (z. B. 1 C 277). Dieser Unterschied muss eben bei kleinen Zahlen (2 C 4 77) f\u00fchlbarer hervortreten als l>ei grossen (18 C 367/).\nSind die chemischen Verbindungen noch alle sprungweise ver-","page":665},{"file":"p0666.txt","language":"de","ocr_de":"ZuHtttze.\nf><>C>\nschieden, was in der Zusammensetzung und gew\u00f6hnlich auch in den physicalischen Eigenschaften leicht wahrnehmbar ist, so k\u00f6nnen dagegen \u00fcberall gleitende Ueberg\u00e4nge auftreten, wo die Stoffe (Elemente oder Verbindungen) nach wechselnden Gewichtsmengen sich vermischen, wie dies bei vielen Mineralien, besonders aber bei den Organismen der Pall ist. Bei den letzteren wird die ungeheuere Mannigfaltigkeit der Eigenschaften durch die quantitative Mischung der wenigen maassgebenden Eiweissverbindungen des Plasmas liedingt, wodurch uns die allm\u00e4hliche Ver\u00e4nderung der Organismen in einander begreiflich wird. Die bestehenden L\u00fccken in den organischen Reichen k\u00f6nnen einen dreif ichen Ursprung haben: 1. Sie sind durch Aussterben der Zwischenglieder entstanden, was der gew\u00f6hnlichste Fall ist, 2. die Zwischenglieder am ausgebildeten Organismus sind nicht m\u00f6glich, weil die Spr\u00fcnge durch die verschiedene Zahl der Organe oder Theile erfolgen (z. B. 4 und obl\u00e4ttrige Blumenkronen); 3. die Zwischenglieder am ausgebildeten Organismus erscheinen zwar nicht als unm\u00f6glich, aber sie sind nicht vorhanden, weil die (unmerklichen und gleitenden) Ver\u00e4nderungen im Plasma der Keime bei der Entwicklung des Individuums zu bemerkbaren Spr\u00fcngen au8wachsen.\n8. Zur\u00fcckf\u00fchrung geistiger Vorg\u00e4nge auf stoffliche Bewegungen (S. 591).\nBei der Behandlung des Problems betreffend die Zur\u00fcckf\u00fchrung des Geisteslebens auf das k\u00f6rperliche Leben m\u00fcssen wir zwei Fragen streng unterscheiden 1) ob das Zustandekommen geistiger Bewegungen aus stofflichen Bewegungen als Thatsache angenommen werden m\u00fcsse, 2) wie wir uns dasselbe vorzustellen haben. Die erste Frage ist ganz unabh\u00e4ngig von der zweiten ; sie kann l\u00e4ngst entschieden sein, ehe man \u00fcber die zweite eine nur einigermaassen annehmbare Hypothese aufzustellen vermag. Der Einwurf, das ist unm\u00f6glich, weil ich mir es nicht erkl\u00e4ren kann, hat gar keine Bedeutung, da wir ja gew\u00f6hnlich von dem Vorhandensein einer Erscheinung \u00fclierzeugt sind, ehe wir eine Vorstellung \u00fcber das Geschehen besitzen.\nBez\u00fcglich der ersten Frage wissen wir bestimmt, dass materielle Bewegungen durch Vermittelung der Sinnesorgane auf den Geist wirken und Bewegungen in demselben veranlassen, und dass diese","page":666},{"file":"p0667.txt","language":"de","ocr_de":"8. Zurttckf\u00fchruug geistiger Vorgiinge auf stoffliche Bewegungen. 0(>7\nletzteren hinwieder materielle Bewegungen in Nerven und Muskeln erzeugen. Der endliche Geist und die kraftbegabte Materie stehen also in Wechselwirkung mit einander, wie die Materie unter sich in Wechselwirkung steht. Wollten wir den Geist als etwas f\u00fcr sich bestehendes Immaterielles betrachten, so m\u00fcsste er als ausdehnungslose Kraftpunkte zwischen den Molek\u00fclen der Nervensubstanz vertheilt sein, und diese geistigen Kraftpunkte m\u00fcssten von den materiellen Theilchen durch Druck und Zug beeinflusst werden, und sie m\u00fcssten selber auf dieselben durch Druck und Zug einwirken. Die geistigen Elemente m\u00fcssten also gerade so sich verhalten, als oh es kraftbegabte Stofftheilchen w\u00e4ren. Da nun an den letzteren der Stoff uns eigentlich werthlos und ohne Bedeutung ist, da es nur auf die Kr\u00e4fte ankommt, welche darin ihren Sitz haben, so \u00e4ndern wir an der ganzen Causalreihe (von der Materie durch den Geist zur Materie) nichts, wenn wir auch den geistigen Kraftpunkten eine materielle Unterlage geben und wenn wir sie in die Molek\u00fcle der Nervensub-stanz selbst verlegen.\nDer Naturforscher wird die letztere Annahme vorziehen, da sie Uebereinstimmung in das ganze endliche Sein bringt. Wollte man aber sich das intellectuelle Opfer auflegen und mystische geistige Punkte zwischen die Stoffmolek\u00fcle einschieben, so w\u00fcrde dadurch an der materialistischen Auffassung der endlichen Welt nichts Wesentliches ge\u00e4ndert; denn diese besteht bloss in der strengen Durchf\u00fchrung des Causalgesetzes, nicht in irgend einer Theorie \u00fcber Kraft und Stoff. Die Mechanik der Gehirntheilchen zur Hervorbringung geistiger Processe bleibt mit oder ohne geistige Punkte dieselbe.\nDie andere Frage, in welcher Weise das Geistesleben aus den materiellen Bewegungen hervorgehe, geh\u00f6rt vorderhand noch dem Gebiet der Hypothesen an und kann wohl nur bez\u00fcglich der elementarsten Erscheinungen einigermaassen befriedigend gel\u00f6st werden. Das Gef\u00fchl (angenehme und unangenehme Empfindung) l\u00e4sst sich aus den Erregungen, welche die materiellen Theilchen bei ihrer Bewegung sp\u00fcren m\u00fcssen, ableiten, wie dies im Text (S. \u00d697) ausgef\u00fchrt wurde.\t----\nDie Empfindung, welche die Peripherie des Nervensystems durch einen Reiz erh\u00e4lt, pflanzt sich durch die Nerven str\u00e4nge auf das Centralorgan fort, durchsetzt dasselbe, und geht als motorischer Strom durch die Nerven wieder nach der Peripherie, wo derselbe bei hinreichender","page":667},{"file":"p0668.txt","language":"de","ocr_de":"6(>8\nZllHtlix\u00ab*.\nSt\u00e4rke als Bewegung sichtbar wird. Im Gehirn erscheint aber die Empfindung nicht unver\u00e4ndert als solche, sondern als deren Bild, als Vorstellung. Die meisten Vorstellungen bleiben scheinbar innerhalb des Gehirns; nur wenige, welche qualitativ und quantitativ\ndazu bef\u00e4higt sind, bringen l>emerkbare Muskelbewegungen hervor._\nDas n\u00e4chst H\u00f6here, das auf die blosse Empfindung und deren Vorstellung folgt, ist dann die Erinnerung, aus welcher unmittelbar das Bewusstsein hervorgeht ; denn dieses ist nichts anderes als das Zusammenwirken vieler Erinnerungen.\nDie Erinnerung kommt dadurch zu Stande, dass die fr\u00fchere \\ orstellung einer Empfindung sich wiederholt. Wir k\u00f6nnen uns diesen Vorgang etwa in folgender Weise denken. Die wirksame, die Empfindung wahrnehraende Nervensubstanz des Gehirns (Sensorium) besteht, wie alle organisirten Substanzen, aus Micellen (krystallinischen Molek\u00fclvereinigungen), die von Wasser umgeben sind. Die*Micelle k\u00f6nnen sich etwas verschieben und ziemlich nach allen Richtungen um ihren Mittelpunkt drehen, da sie nach allen Richtungen orientirt und durchaus ungeordnet sind. Eine Empfindung, die zum Sensorium geleitet wird, durchsetzt dieses auf irgend einem Weg, der durch eine oder eher dureh einige benachbarte Micellreihen gebildet wird. Dabei orientiren sich die Micelle dieser leitenden Reihen mit ihren Axen in bestimmter Weise zur Leitungsrichtung, indem sie kurze Zeit um ihre Gleichgewichtslage schwingen. Es bildet sich also eine Vorstellungsbahn, deren Micelle bestimmt geordnet sind und in Folge von Wasseraustritt, welcher mit der Orientirung verbunden ist, fester Zusammenh\u00e4ngen.\nDiese richtende und festigende Ver\u00e4nderung in der Stellung der Micelle kann alle m\u00f6glichen Abstufungen von einem kaum sichtbaren Anfang bis zur vollendeten Uebereinstimmung in der Richtung und zum festesten Zusammenhalt betragen. Ist der Eindruck, den die Empfindung gemacht hat, schwach, so erfolgt durch den schwachen Vorstellungsstrom nur eine sehr unvollst\u00e4ndige Orientirung, die bald wieder verloren geht. Ist der Eindruck st\u00e4rker, so wird die Orientirung der Micelle bestimmter und dauernder. Aeusserst lebhafte Vorstellungen k\u00f6nnen in dieser Weise eine Spur hinterlassen, die zeitlel>ens bleibt. Jede neue Empfindung macht sich im Sensorium eine neue Vorstellungsbahn; wiederholt sich al>er die ganz gleiche Empfindung, so schl\u00e4gt sie den Weg ihrer Vorg\u00e4ngerin ein und","page":668},{"file":"p0669.txt","language":"de","ocr_de":"8. Zur\u00fcckf\u00fchrung geistiger Vorg\u00e4nge auf stoffliche Bewegungen. OfiO\nmacht die Orientirung der Micelle bestimmter und haltbarer (Auswendiglernen).\nDie \\ oretellung selbst ist ein momentaner Nervenstrom, und l)esteht in bestimmten (schwingenden) Bewegungen der Micelle, ihrer Molek\u00fcle und Elementatome sammt den zugeh\u00f6rigen Aetnertheilchen. Die Erinnerung besteht darin, dass die Elemente einer Spur auf \u00e4ussere oder innere Veranlassung wieder erregt werden und zu schwingen beginnen, wodurch sich die fr\u00fchere Vorstellung erneuert.\nFinden zwei Vorstellungen (A und B) gleichzeitig statt, d. h. mit einem Zeitunterschied, der geringer ist als die Dauer ihrer Erregung, und sind sie lebhaft genug, so wirken die zwei schwingenden Spuren auf einander ein und werden auf dem k\u00fcrzesten Weg durch eine Querspur verbunden. Wiederholt sich sp\u00e4ter die Vorstellung A allein, so geschieht es leicht, dass vermittelst der Verbindungsspur auch die Spur von B in Schwingung versetzt und damit die Vorstellung B wieder lebendig wird.\nSchliesslich sind in dem Sensorium unz\u00e4hlige Vorstellungsspuren vorhanden, jede durch ungeordnete Substanz isolirt und somit im Stande allein schwingen zu k\u00f6nnen, aber auch jede durch eine Menge von \\ erbindungsspuren mit andern Vorstellungsspuren zusammenh\u00e4ngend und f\u00e4hig, dieselben zu beleben oder von denselben belebt zu werden. Es k\u00f6nnen daher bei jeder Vorstellung duirh directe Vermittelung viele andere und durch weitere Vermittelung nach und nach alle Vorstellungen, die im Sensorium als Spuren vorhanden sind, erwachen. Ich sehe beispielsweise ein Feuer, dadurch bekomme ich m\u00f6glicher Weise die Vorstellung von W\u00e4rme, von Thennometer-graden und W\u00e4rmeeinheiten; von K\u00e4lte und Einheizen; von Brennen, I4euersbrunst, L\u00f6schen und L\u00f6schanstalten; von Sieden, Braten und D\u00f6rren; von der rothen Farbe des Feuers und von andern Farben, von verschiedenen rothgef\u00e4rbten Gegenst\u00e4nden, von rother Republik und rothen Kardinalen ; von Rauch, von rauchgeschw\u00e4rzten Gegenst\u00e4nden und Personen ; ferner die Vorstellung des Wortes Feuer und seiner Buchstaben, der von Feuer abgeleiteten W\u00f6rter, der W\u00f6rter, die den gleichen Reim geben oder die gleiche Alliteration haben, der W\u00f6rter in anderen Sprachen, welche Feuer bedeuten, u. s. w.\nDie im Sensorium enthaltenen Vorstellungsspuren geben uns Aufschluss dar\u00fcber, ob eine Empfindung, die wir erhalten, neu ist oder ob wir sie schon empfunden haben, und zu welcher Zeit. Trifft","page":669},{"file":"p0670.txt","language":"de","ocr_de":"ZUHtttZC.\nG70\nuns eine Empfindung zum ersten Mal, so muss ihre Vorstellung sich eine liesondere Spur bahnen und damit ist f\u00fcr unser Bewusstsein ihre Neuheit gegeben. Sie erscheint uns auch neu, wenn sie zwar fr\u00fcher schon da war, wenn aber ihre Spur mit der Zeit g\u00e4nzlich verschwunden ist. Findet eine Empfindung eine ihr entsprechende Spur bereits vor, so wissen wir, dass wir die n\u00e4mliche Empfindung fr\u00fcher schon hatten, und je nachdem die Spur noch frisch ist oder mehr oder weniger gelitten hat, wissen wir auch, oh die Empfindung erst k\u00fcrzlich oder schon vor l\u00e4ngerer Zeit statt fand. Vorz\u00fcglich aber werden wir \u00fcber die Zeit dersellxm belehrt durch die mit ihrer Spur unmittelbar verbundenen Spuren, also durch die Vorstellungen, die wir gleichzeitig mit jener Empfindung hatten. Und den ganz genauen Zeitpunkt erfahren wir, wenn die Vorstellungsspur der Empfindung entweder selbst oder wenn eine mit ihr verbundene gleichzeitige Spur in Zusammenhang steht mit Zeitspureai d. h. mit solchen, welche uns das Jahr, den Monat, den Tag, die Stunde angeben. \u2014 Eine Empfindung kann sich mehrere Male wiederholen, und m\u00f6glicher Weise erinnern wir uns an jedes einzelne Mal. Dies ist dann der Fall, wenn ihre Spur sich jedesmal mit Zeitspuren oder \u00fcberhaupt mit andern Spuren, die \u00fcber die Zeit Auskunft geben, in Verbindung gesetzt hat.\nDie Vorstellungen h\u00e4ngen im Sensorium zuweilen in der Art zusammen, dass die eine unwillk\u00fchrlich die andere hervorruft. Dieser Vorgang stellt sich am reinsten dar, wenn ein Kind das Abc, oder die Zahlenreihe oder einen Spruch auswendig lernt, von dem es gar nichts versteht, der ihm also nichts anderes als eine Reihe von W\u00f6rtern ist. Jeder Laut macht sich beim Mcmoriren eine Spur und wird mit dem n\u00e4chstfolgenden oder mit den zwei und drei n\u00e4chstfolgenden, sofern ihre Vorstellungen zeitlich noch Zusammentreffen, durch Querspuren verbunden. Da die Laute nicht gleichzeitiggesprochen oder geh\u00f6rt werden, so wird immer die ausschwingende Spur mit einer solchen, die zu schwingen beginnt, verbunden. Die Verbindungen zwischen den Gliedern einer Reihe sind also nach vorn und nach hinten ungleichartig, Wenn nun ein Laut mitten aus der Reihe angegeben wird, so leitet seine Spur beim Ausschwingen naturgem\u00e4ss nach dem folgenden und nicht etwa nach dem vorhergehenden Glied der Reihe. Sind alle Verbindungen in Ordnung, so wird die Reihe ohne Fehler und ohne Unterbruch hergesagt.","page":670},{"file":"p0671.txt","language":"de","ocr_de":"K. Zurtckfahning l istiger Vorg\u00f6ngo nuf sU.ffliche Bewegungen. (J< |\nIch habe his jetzt nur von den Vorstellungen gesprochen, insofern dieselben durch \u00e4ussere Eindr\u00fccke veranlasst werden und Spuren im Sensorium zur\u00fccklassen, welche in Folge sp\u00e4terer Eindr\u00fccke wieder in Schwingung gerathen und Erinnerungen wach rulen. Es werden aber auch durch innere Anregung die vorhandenen Vorstellungsspuren in Bewegung gesetzt und neue Vorstellungen gebildet, die bei hinreichender Lebhaftigkeit ihre Spuren hinterlassen. Es w\u00e4re nun weiter zu untersuchen, wie es geschieht, dass man fast beliebige Spuren schwingen l\u00e4sst und Erinnerungen erweckt. \u2014 dass man von den zahlreichen, nach Association schwingenden Spuren die einen festh\u00e4lt, die andern unt>emerkt vor\u00fcbergehen l\u00e4sst, \u2014 dass man ohne \u00e4ussere Einwirkung die vorhandenen Vorstellungen zur Bildung neuer Vorstellungen benutzt, die demnach rein innerliche sind, da ihnen keine von aussen kommende Empfindung entspricht, \u2014 dass man also sinnlich gegebene Vorstellungen zu Abstractionen und Schl\u00fcssen benutzt, die eben so viele neue Spuren im Sensorium erzeugen k\u00f6nnen, \u2014 dass man von den Vorstellungen und Schlussfolgerungen zu Entschl\u00fcssen gelangt und dieselben durch den Willen zu 1 baten werden l\u00e4sst. Alles dies sind Aufgaben der physiologischen Psychologie, welche, wie ich glaube, auf dem angegebenen Weg (vermittelst der Vorstellungsspuren) gel\u00f6st werden k\u00f6nnen. Dabei ist f\u00fcr den Naturforscher selbstverst\u00e4ndlich, dass das Princip der Freiheit nicht als etwas dem Causalgesetz Widersprechendes und Tran seen-\u00ablentes eingreifen darf, sondern dass die Freiheit etwas Reales und \\ stellbares ist, in der Weise, dass immer materiell gegebene Dispositionen vorhanden sind und dass der Ueberlegung die Auswahl zwischen verschiedenen Entschl\u00fcssen offen steht. Die Ueberlegung ist aber nichts anderes als die gleichzeitige Th\u00e4tigkeit verschiedener Vorstellungsspuren, namentlich auch derjenigen, welche die voraussichtlichen Folgen und die Gr\u00fcnde f\u00fcr und gegen zum Bewusstsein bringen, und welche dann den Entschluss zur Ausf\u00fchrung gelangen lassen. \u2014 Der Versuch zur Beantwortung der genannten Probleme auf molecular-physiologischem Weg w\u00fcrde hier viel zu weit f\u00fchren. Dagegen will ich noch einige Einw\u00fcrfe beantworten, welche vielleicht gegen die Elemente der allgemeinen Theorie erhoben werden.\nMan wird vielleicht die Frage aufwerfen, wodurch sich denn \u00ablie unz\u00e4hligen Spuren im Sensorium materiell unterscheiden, da jede eine andere Vorstellung gibt, und man wird vielleicht die","page":671},{"file":"p0672.txt","language":"de","ocr_de":"672\nZunutze.\nM\u00f6glichkeit bestreiten, die Aufgabe durch Combinationen der mole-cularen Verh\u00e4ltnisse zu l\u00f6sen. Allerdings ist die Molecularphysiologie noch lange nicht im Stande, die erste Frage in irgend einer plausibeln Weise zu beantworten. Dagegen l\u00e4sst sich die M\u00f6glichkeit einer solchen L\u00f6sung unbestreitbar darthun, weil in den Nerven wirklich stattfindet, was f\u00fcr das Sensorium vorausgesetzt wird. Da die Nerven die verschiedensten Empfindungen leiten, so muss jede qualitativ und quantitativ verschiedene Empfindung in anderer Art geleitet werden. Bedenken wir, wie die von dem Gesichtsorgan aufgenommenen zahllosen Formen und die mannigfaltigsten Zeichnungen. Schattirungen und F\u00e4rbungen auf denselben durch den Sehnerven, wie voji dem Geh\u00f6rorgan die verschiedenen T\u00f6ne und Ger\u00e4usche und die Tausende von W\u00f6rtern durch den H\u00f6merven, wie ferner die Ger\u00fcche, die Geschmacksempfindungen und die Wahrnehmungen des Tastorganes von den andern Nerven zum Sensorium geleitet und demselben in unterscheidbarer Weise \u00fcbergeben werden, so m\u00fcssen wir auch dem Sensormm selbst die F\u00e4higkeit zugestehen, die Vorstellungen aller dieser Empfindungen in unterscheidbarer Weise zu reproduciren.\nEin anderes Bedenken k\u00f6nnte darin bestehen, ob das Sensorium wohl Raum f\u00fcr die Unzahl von r\u00e4umlich geschiedenen Vorstellungsbahnen besitze. Nehmen wir an, f\u00fcr jede Bahn summt der umgebenden passiven (ungeordneten) Substanz sei ein prismatischer oder cylindrischer Strang erforderlich, dessen Querschnitt 100 Micelle (Molek\u00fclgruppen) enth\u00e4lt (was wohl eher zu viel ist), nehmen wir ferner an, auf die Eiweissmicelle treffen durchschnittlich 360 Kohien-stoffatome (womit ihre Gr\u00f6sse bestimmt ist) und die Str\u00e4nge enthalten 78 bis 57 Procent Wasser, so liegen auf dem Raum von jedem Quadratmillimeter 78000 bis 121000 Millionen von Micellen neben einander, und es finden somit auf diesem Raum 780 bis 1210 Millionen von Vorstellungsbahnen Platz\u00bb). Bei gr\u00f6sserer Ausdehnung des Sensoriums w\u00e4chst diese Zahl zu einer so \u00fcberw\u00e4ltigenden Menge an, dass sie allen Anforderungen gen\u00fcgen muss.\nUeberdem ist zu bemerken, dass nicht jede einzelne, von den \u00fcbrigen etwas verschiedene, concrete Wahrnehmung auch ihre besondere Spur im Sensorium hervorbringen wird; daf\u00fcr w\u00e4re allerdings\n1 h i T-f \u00dcl>er die\"e Berechnung die Abhandlung \u00fcber die Abstammung*","page":672},{"file":"p0673.txt","language":"de","ocr_de":"H. Zur\u00fcckf\u00fchrung geiziger Vorg\u00e4nge auf stoffliche Bewegungen. 673\nkein Raum hinreichend gross. Sondern es muss jedenfalls angenommen werden, dass die sinnliche Gesammtwahrnehmung, die stets eine zusammengesetzte ist, sich in ihre Elemente zerlege. Dies ist schon behufs der Leitung zum Centralorgan erforderlich und hier bildet sich dann jedes Element seine eigene Vorstellungsbahn. Die zum Bewusstsein gelangende Gesammt-Vorstellung wird aus den gleichzeitig erregten Bahnen dieser Elemente zusammengesetzt. \u2014 In dieser Weise bedarf es allerdings f\u00fcr die Vorstellung der einzelnen con-creten Wahrnehmung einer Mehrzahl von Spuren im Sensorium; daf\u00fcr aber kann aus 50 Elementen eine Unzahl von verschiedenen concreten Wahrnehmungen und Vorstellungen durch ungleiche Combination zusammengesetzt werden*).\nDiese Theorie erkl\u00e4rt uns manche Erscheinungen im Geistesleben, die unserem Verst\u00e4ndniss sonst Schwierigkeiten bereiten w\u00fcrden. Ich erw\u00e4hne beispielsweise der mehr oder weniger unklaren Erinnerung. Dieselbe begreift sich leicht durch den Umstand, dass nur ein Theil der sie zusammensetzenden Elementarbahnen eiregt wird. Ist uns ein Name entfallen und wir erinnern uns nur, dass derselbe mit S anf\u00e4ngt oder dass in demselben ein U vorkommt, so r\u00fchrt dies daher, dass die andern, auf den Namen hinweisenden Vorstellungen im Augenblick bloss die Bahnen dieser zwei Buchstaben, die seiner Zeit unsere Aufmerksamkeit besonders erregt haben, in Schwingung zu setzen verm\u00f6gen. \u2014 Die Theorie, dass die Vorstellungen im Sensorium in ihre Elemente zerlegt sind, gew\u00e4hrt uns auch sofort eine Einsicht in das Zustandekommen der Abstractionen. Der allgemeine Begriff wird dann lebendig, wenn die ihm angeh\u00f6rigen speciollen Begriffe in gleichen^ Maasse zur Vorstellung gelangen. Wenn die Bahnen, welche die Vorstellungen der besonderen Zahlen darstellen, gleichzeitig und gleich stark erregt sind, so haben wir die Vorstellung der Abstraction Zahl, wenn die Bahnen der Farben gleich-massig erregt sind, die Abstraction Farbe.\n*) In analoger Weise muss die Theorie \u00fcber das Zustandekommen der Erblichkeit in der Abstammungslehre, mit der die Theorie (liier das Zustande kommen der Vorstellungen und Erinnerungen in allen Beziehungen grosse Analogie zeigt (mit der Ausnahme jedoch, dass jenes ein phylogenetischer, dieses ein mitogenetischer Vorgang ist), ebenfalls eine solche Zerlegung der Erscheinungen in ihre Elemente zur Erzeugung der idioplasmstischen Anlagen annehmen (8. 43\u201445).\nv. N\u00e4gelt, Abstammungslehre\n43","page":673},{"file":"p0674.txt","language":"de","ocr_de":"674\nZaa\u00e4tse.\nEndlich muss ich noch von einem Einwurf sprechen, der wirklich gemacht wurde und auf den ich schon Eingangs hingewiesen habe. Derselbe bestreitet die Berechtigung der materialistischen Betrachtung an und f\u00fcr sich, weil es undenkbar sei, dass sich dio Empfindungen getrennter kleinster Theilchen sur Einheit unserer Empfindung und unseres Bewusstseins summiren; weil also der atomistischen Theorie das Zusammenfassende mangle, welches aus der quantitativen Vielheit ein qualitatives Ganzes mache. K\u00f6nnen die Motive dieses Einwurfs nicht bestritten werden, so ist damit nur die Unzul\u00e4nglichkeit unseres Erkennens, nicht die Unm\u00f6glichkeit des Geschehens bewiesen. Es w\u00e4re sehr kurzsichtig zu sagen: Das begreife ich nicht, darum leugne ich seine Existenz. Wir begreifen weder die Gravitationsanziehung, noch die elektrische Anziehung und Abstossung, noch die chemische Verwandtschaft, und doch machen die zugeh\u00f6rigen Vorg\u00e4nge den Inhalt von wissenschaftlichen Disziplinen aus. Wir begreifen nicht, vie aus den Schwingungen der Licht\u00e4thertheilchen f\u00fcr unser Auge Farben, aus den Schwingungen der Luftmolek\u00fcle f\u00fcr unser Ohr T\u00f6ne entstehen, aber es f\u00e4llt niemanden ein, deshalb das Vorhandensein von Schwingungen zu bestreiten.\nGeradeso verh\u00e4lt es sich auch mit dem Zustandekommen der Qualit\u00e4t eines Ganzen aus den Eigenschaften seiner Theile. Wir verm\u00f6gen nicht einzusehen, wie aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff die S\u00e4ure des Essigs, die S\u00fcsse des Zuckers, das Aroma des Kamphers, das Belebende und Berauschende des Weingeistes zusammengesetzt wird, und doch wird niemand so unwissenschaftlich sein und deswegen die Zusammensetzung dieser Substanzen aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff bestreiten wollen. Gleichwohl sind diese Zusammensetzungen um nichts weniger unbegreiflich, als die Zusammensetzung unserer einheitlichen Empfindungen und Vorstellungen aus den Empfindungen zahlreicher Molek\u00fcle und die Zusammensetzung unseres einheitlichen Bewusstseins aus zahlreichen Vorstellungen.\nWas den Tr\u00e4ger und die Verbreitung des Geisteslebens in der Natur betrifft, so wissen wir, dass dasselbe an die Nervensubstanz gebunden ist. In den meisten Thieren ist diese Substanz in leitende Str\u00e4nge und in ein Centralorgan geschieden, in welchem sich die Vorstellungen bilden. Im Menschen hat sie ihre h\u00f6chste Differenzirung","page":674},{"file":"p0675.txt","language":"de","ocr_de":"8. Zur\u00fcckfOlinmg geistiger Vorg\u00e4nge auf stoffliche Bewegungen. 676\nerreicht, wiewohl wir nur die Functionen der Nervenstr\u00e4nge bestimmt kennen, welche die Leitung zum und vom Centralorgan \u00fcbernehmen, und wiewohl \u00fcber die Vertheilung der Functionen im Centralorgan nur wenig bekannt ist. \u2014 Eis versteht sich, dass jeder Theil des Nervensystems entsprechend seiner Verrichtung molecular organisirt ist. Die feinste Organisation verlangt das Sensorium. Besonders muss die Beweglichkeit der Micelle ein sehr bestimmtes Maass einhalten, damit in der ungeordneten Substanz die Vorstellungsbahnen entstehen, als Spuren dauernd werden, und auf Anst\u00f6sse wieder in Schwingung gerathen. Die Beweglichkeit darf weder zu gross sein, weil in einer allzu weichen Substanz die Orientirung der Micelle zwar leicht erfolgt, aber nicht haltbar ist und die Erinnerung verloren geht ; noch darf die Beweglichkeit zu gering sein, weil in einer allzufesten Substanz die Micelle nur schwer ihre Gleichgewichtslage verlassen, die Vorstellungen nur unvollkommen und die Erinnerung gar nicht zu Stande kommt.\nVom Menschen im Thierreiche abw\u00e4rts werden die Functionen des Geisteslebens einfacher und die Nervcnsubstanz in sich gleichartiger. Auf der niedrigsten Stufe muss auch die elementarste Dif-ferenzirung in leitende und vorstellungbildende Masse verschwinden; die n\u00e4mliche Substanz \u00fcbernimmt beide Verrichtungen, und die Vorstellungen, die bloss durch \u00e4ussere Reize veranlasst werden, sind von der allereinfachsten Art. Hier sind wir bei der Grenze angekommen, wo das eigentliche Geistesleben im engeren Sinne beginnt: Ein \u00e4usserer lebhafter Eindruck bleibt in der Substanz als Spur zur\u00fcck, und kann bei entsprechenden sp\u00e4teren Eindr\u00fccken als Erinnerungsvorstellung einer angenehmen oder unangenehmen Empfindung wach werden, so dass die erfolgende Bewegung nicht bloss durch den gegenw\u00e4rtigen \u00e4usseren Reiz, sondern auch durch Erinnerungsvorstellungen beeinflusst wird. Dies ist das geringste Maass von geistigem Leben, das wir von einem Thier verlangen m\u00fcssen Die Pflanze besitzt keine Erinnerungsvorstellungen ; ihre Bewegungen werden durch \u00e4ussere und innere Ursachen bestimmt, an denen aber die Vorstellung von einer fr\u00fcheren Erfahrung keinen Theil hat. Wir k\u00f6nnen der Pflanze die Eihpflndung nicht absprechen; aber wir d\u00fcrfen ihr keine Seele zuschreiben, insofern als Seele ohne Vorstellungen und Erinnerung nicht denkbar ist.\nVon den beiden Unterscheidungsmerkmalen Empfindung und\n48*","page":675},{"file":"p0676.txt","language":"de","ocr_de":"676\nZun\u00e4tie.\nf\nwillk\u00fcrliche Bewegung, durch welche man fr\u00fcher das Thier gegen\u00fcber der Pflanze charakterisirte, ist nur das letztere stichhaltig. Die Bewegung erscheint uns dann willk\u00fcrlich, wenn sie nicht durch die uns sichtbaren Ursachen allein erkl\u00e4rt werden kann, und dies ist beim Thier der Fall, wo nicht bloss die \u00e4usseren Eindr\u00fccke, sondern auch die inneren Vorstellungen dabei maassgebend mitwirken. Bei der Pflanze dagegen lassen sich die Reizbewegungen vollst\u00e4ndig auf den von aussen kommenden Reiz und auf die Organisationsverh\u00e4lt-nisse zur\u00fcckf\u00fchren. Die Schw\u00e4rmbewegungen der einzelligen Pflanzen und der einzelligen Thiere sind, so \u00e4hnlich sie bei oberfl\u00e4chlicher Betrachtung erscheinen, doch darin verschieden, dass die vegetabilischen Schw\u00e4rmzellen sich viel regelm\u00e4ssiger bewegen und dass die Abweichungen von der Regelm\u00e4ssigkeit sich aus dem ungleichen Bau und den ungleichen \u00e4usseren Widerst\u00e4nden erkl\u00e4ren lassen, w\u00e4hrend die viel gr\u00f6ssere Unregelm\u00e4ssigkeit der thierischen Schw\u00e4rm\u2019 zellen offenbar noch durch andere Ursachen bedingt wird. Im Thier tntt also eine neue allgemeine, dem Pflanzenreiche mangelnde Qualit\u00e4t auf, die aber, wie alle Qualit\u00e4ten in der Natur, aus quantitativen Verh\u00e4ltnissen entsteht und die auch keinen absoluten Unterschied begr\u00fcndet, da von dem mit einfachster Vorstellung begabten Thier zur vorsteUungsloeen Pflanze ein allm\u00e4hlicher Uebergang denkbar und auch wohl vorhanden ist.\nDagegen besteht zwischen Thier und Pflanze r\u00fccksichtlich der Empfindung nur ein Unterschied im Grade. Wir haben keinen Grund, den Bfampflanzen dieselbe abzusprechen, wenn wir sie manchem noch empfindungsloseren niederen Thier zuschreiben, welches in dieser Beziehung vom Menschen und den h\u00f6chsten Thieren so ungeheuer weit abeteht. \u2014 Ob zwischen der Empfindung der Thiere und Pflanzen und der Empfindung der Molek\u00fcle und Elementatome ebenfalls nur ein gradweiser Unterschied anzunehmen sei, oder ob die erstere eine neue Qualit\u00e4t darstelle, die aus der letzteren durch Zusammensetzung hervorgeht (wobei das Zusammengesetzte nicht als blosse Summirung erscheint, vgl. Zusatz 7 S. 662), l\u00e4sst sich wohl noch nicht \u00fcbersehen, doch ist das Vorhandensein eines qualitativen Unterschiedes wahrscheinlich.\t*\nWie die Empfindung in dem gesammten organischen Reich nur eine gradweise Abstufung zeigt und wie in den scheinbar ganz empfindungslosen Pflanzen schon die Anf\u00e4nge der Eigenschaft, die","page":676},{"file":"p0677.txt","language":"de","ocr_de":"9. Vergleichung d. thierischen Affecte m. analog, unorgan. Erscheinungen. 077\nuns im Menschen so sehr gesteigert nnd differenzirt entgegentritt, vorhanden sind, so verh\u00e4lt es sich mit dem Bewusstsein f\u00fcr das ganze Thierreich. Die Anf\u00e4nge desselben, welche durch die wenigen und einf\u00f6rmigen Erinnerungsvorstellungen der niedersten, uns ganz bewusstlos erscheinenden Thiere dargestellt werden, f\u00fchren durch eine continuirliche Reihe zu dem so hoch entwickelten Bewusstsein des Menschen.\n9. Vergleichung der thierischen Affecte mit entlegen unorganischen\nErscheinungen (S. 599).\nDie Vorstellung, wie das Geistes- und Gef\u00fchlsleben des Menschen mit analogen Affecten in der unorganischen Natur in Beziehung zu bringen sei, hat seit Empedocles keinen wesentlichen Fortschritt gemacht. Derselbe nahm zwei Grundkr\u00e4fte an, Liebe und Hass, von denen die eine Vereinigung und Aufbau, die andere Trennung und Zerst\u00f6rung bewirkt, denen also im allgemeinen die gleiche Aufgabe zukommt wie den zwei Kraftkategorien der jetzigen Physik, Anziehung und Abstossung. Wenn im Anschluss an den griechischen Philosophen von heutigen Naturpbilosophen Anziehung und Abstossung der kleinsten Theilchen geradezu als Liebe und Ha\u00ab\u00ab bezeichnet oder damit verglichen werden, so geschieht das wohl ohne n\u00e4here Ueberlegung. Eine solche Idee mag als poetisches Gleichniss mitgehen, aber wissenschaftliche Bedeutung kommt ihr nicht zu. Weder l\u00e4sst sie sich f\u00fcr die Molecularerscheinungen durchf\u00fchren, noch lassen sich Liebe und Hass als die zwei Grundkr\u00e4fte eines psychologischen Systems verwerthen.\nWenn Anziehung und Abstossung Liebe und Hass w\u00e4ren, so k\u00e4men diese Empfindungen den Elementatomen und Molek\u00fclen im n\u00e4mlichen Moment in gleicher St\u00e4rke zu; denn die Theilchen der festen K\u00f6rper werden ja durch das Gleichgewicht der anziehenden und abstossenden Kr\u00e4fte in ihrer Lage erhalten. Man sollte nun meinen, dass die Ann\u00e4herung der Molek\u00fcle ein Zeichen der Liebe sei ; dann w\u00e4re die Liebe bei gr\u00f6sster K\u00e4lte, bei welcher die Molek\u00fcle in den kleinsten Abst\u00e4nden-sich befinden, am w\u00e4rmsten und bei gr\u00f6sster Hitze, bei welcher diu Molek\u00fcle sich am weitesten von einander entiemen, am k\u00e4ltesten. Dasselbe w\u00fcrde aber auch f\u00fcr den","page":677},{"file":"p0678.txt","language":"de","ocr_de":"678\nZus\u00e4tze.\nHass gelten; er m\u00fcsste in gleichem Maasse wie die Liebe zu- und abnehmen, denn bei jeder Temperatur ist ja Anziehung und Ab-stossung einander wieder gleich. \u2014 Um diesen wenig plausiblen Consequenzen zu entgehen, h\u00e4tte man noch den Ausweg, Liebe und Hass als die quantitative Differenz von Anziehung und Abstossung, also nur dann als wirklich vorhanden anzunohmen, wenn die eine oder andere dieser Kr\u00e4fte \u00fcberwiegt. Dann w\u00fcrde in einem elastischen K\u00f6rper, den man zusammendr\u00fcckt, mit der Ann\u00e4herung der Molek\u00fcle ilir Hass e. ./achen, und l>eim Auseinanderziehon w\u00fcrde die Liebe der Molek\u00fcle im Verh\u00e4ltniss der Entfernung sich steigern, was gleich-frlls nicht als sehr nat\u00fcrlich erscheint.\nAnziehung und Abstossung sind Eigenschaften der Stofftheilchen, welche ihnen best\u00e4ndig und in unver\u00e4nderlicher St\u00e4rke zukommen, sie m\u00f6gen sich in Ruhe oder in Bewegung befinden. Liebe iind Hass aber sind offenbar nicht unver\u00e4nderliche und bleibende Eigenschaften des Stoffes, sondern nur mit besonderen Bewegungszust\u00e4nden derselben verbunden; diese Gef\u00fchle treten nur bei bestimmten Vorstellungen auf; sie mangeln im Schlafe oder wenn der Geist anderswie besch\u00e4ftigt ist. Liebe und Hass, sowie \u00fcberhaupt die Erscheinungen des Gef\u00fchlsund Geisteslebens k\u00f6nnen also nicht aus den Kr\u00e4ften (als con-stanten Eigenschaften) der materiellen Theilchen, sondern aus Regungen, welche den letzteren in der Bewegung zukommen, also aus vor\u00fcbergehenden und wechselnden Eigenschaften der Theilchen abgeleitet werden, \u2014 in analoger Weise, wie das materielle Leben des menschlichen K\u00f6rpers aus den Bewegungen der Molek\u00fcle und Elementatome hervorgeht.\nLiebe und Hass k\u00f6nnen nicht als die elementarsten und einfachsten, sie m\u00fcssen vielmehr schon als sehr zusammengesetzte und vielfach vermittelte Erscheinungen des Seelenlebens betrachtet werden. Mit vollem Recht l\u00e4sst Du Bois Reymond dasselbe mit dem Behagen beginnen. Wohlbehagen und Missbehagen, angenehme und unangenehme Empfindung sind die einfachsten psychischen Affecte, die wir uns zu denken verm\u00f6gen. Wir k\u00f6nnen daher auch den kleinsten Theilchen nichts anderes als Wohl- oder Missbehagen oder vielmehr Regungen zuschreiben, die das Behagen in seiner elementarsten Form darstellen; wir k\u00f6nnen es nur mit den molecul\u00e4ren Bewegungen auftreten lassen, und wir m\u00fcssen es selbstverst\u00e4ndlich, wie dies im Texte geschehen ist, dadurch bedingt sein lassen!","page":678},{"file":"p0679.txt","language":"de","ocr_de":"9. Vergleichung <1. thmrischen Affect\u00ab* in. analog, unorgan. Erscheinungen. (\\7(J\ndass den verschiedenen motorischen Trieben (Anziehung und Ab-stossung) durch die Bewegung in positivem oder negativem Sinne entsprochen wird.\nEin solches elementares Wohlbehagen wird also von zwei gleichnamig-elektrischen Theilchen empfunden, die ihrer Neigung folgend sich von einander entfernen, Missliehagen dagegen, wenn sie im Widerspruch mit ihrer Neigung einander gen\u00e4hert werden. Zwei ungleichnamig-elektrische Theilchen verhalten sich, wegen ihrer gegenseitigen Anziehung, umgekehrt; das N\u00e4herr\u00fccken l*efriedigt sie, das Auseinanderr\u00fccken aber, um wieder bildlich zu sprechen, verdriesst sie. Dies h\u00e4tte unbeschr\u00e4nkte Giltigkeit, wenn es schlechthin elektrische Theilchen g\u00e4be. Da jedoch die Elektricit\u00e4t nur mit andern Kr\u00e4ften zugleich an den Stofftheilehen haftet1), so kann man f\u00fcr den angegebenen Fall nicht einfach von Behagen, sondern bloss von elektrischem Wohl- und Missbehagen sprechen. Zwei Atome mit gleichnamiger Elektricit\u00e4t stossen sich in Folge der Elektricit\u00e4t ah, sie ziehen sich al>er verm\u00f6ge ihrer Gravitation an, und sie m\u00fcssen daher, so oft sie ein elektrisches Wohlbehagen empfinden, ein Gravitationsmissbehagen f\u00fchlen, und umgekehrt. Die Bewegung, welche zwei Atome einander n\u00e4her oder ferner r\u00fcckt, verursacht, wie viele anziehende und ahstossende Kr\u00e4fte in denselben ihren Sitz haben, eben so viele Arten des Behagens, welche als Theilempfindungen Zusammenwirken und deren Summirung die Gesammtempfindung darstellt.\nWenn meine Theorie richtig ist, so gibt es f\u00fcr unser Nervensystem weder eine reine Lust noch einen reinen Schmerz, sondern jede Empfindung ist aus angenehmen und unangenehmen Gef\u00fchlen gemischt, und zwar, wenn wir sie merklich sp\u00fcren, fast immer so, dass die einen oder andern, weil sie \u00fcberwiegen, allein vorhanden zu sein scheinen. \u2014 Ueber das Zustandekommen der Empfindungen in der Nervensuhstanz l\u00e4sst sich bloss sagen, dass die kleinsten Theilchen \u2022*\u2014 n\u00e4mlich die Eiweissmicelle, deren Bausteine die Eiweissmolek\u00fcle und die Theile der letzteren die Elementatome \u2014 als die Tr\u00e4ger der Empfindung angesehen werden m\u00fcssen ; aber wegen der unendlichen Complication der Erscheinungen ist nicht einmal die allgemeinste und oberfl\u00e4chlichste Analyse ausf\u00fchrbar. Schon die\n') Vgl. Zusatz i. Physische und metaphysische Atomistik S.","page":679},{"file":"p0680.txt","language":"de","ocr_de":"680\nZus\u00e4tze.\nEmpfindung eines einzelnen Eiweissmicells gegen\u00fcber einem andern Eiweissmicell gestaltet sich sehr verwickelt. Bezeichnen wir das Behagen, das ein Atom in Beziehung zu einem andern Atom empfindet, als Atomempfindung, und nehmen wir an, jedes Eiweissmicell enthalte 360 Kohlenstoffatome, somit im Ganzen ungef\u00e4hr 1125 Atome (Ct H, Nt S, 0): so hat jedes Atom des einen Micells mit R\u00fccksicht auf das ganze andere Micell 1125 Atomempfindungen, und die Gesammtempfindung des einen Eiweissmicells, das einem andern Eiweissmicell sich n\u00e4hert oder von demselben sich entfernt, besteht schon aus der Summe von mehr als einer Million Atomempfindungen. Die Zahl der Atomempfindungen, welche einem Eiweissmicell in einem Plasmatropfen oder einzelligen Organismus kleinster Gr\u00f6sse zukommen, erreicht eine nicht mehr zu \u00fcbersehende Gr\u00f6sse.\nDie Gesammtempfindung des einzelnen Micells ist quantitativ unendlich gering. Die Empfindung in einer einzelnen Zelle oder in einem Complex von Zellen kann dadurch zu merklicher Intensit\u00e4t anwachsen, dass zahlreiche Micelle zu Schaaren niederer und h\u00f6herer Ordnungen zusammentreten und eine \u00fcbereinstimmende Wirkung aus\u00fcben. Die mannigfaltige und feine Abstufung in den Empfindnngen aber r\u00fchrt von den unendlichen Modificitionen in der Zusammensetzung her, verbunden mit dem Umstande, dass jede Empfindung die Differenz von zwei (positiven und negativen) Summen zahlloser Theilaffecte ist.","page":680},{"file":"p0681.txt","language":"de","ocr_de":"Kr\u00e4fte ai Gestaltojp\nim\nmolecularen Gebiet.\nEin theoretischer Versuch.","page":681},{"file":"p0683.txt","language":"de","ocr_de":"In (lein 1. Zusatz zu der Abhandlung \u00bbDie Schranken der naturwissenschaftlichen hrkenntniss\u00ab, welcher die \u00bbPhysische und metaphysische Atoinistikc bespricht (8. G03), habe ich es versucht, den Grund f\u00fcr eine neue Theorie der Lehre von den Kr\u00e4ften und Gestaltungen im molecuiaren Gebiet zu legen. Da die Theorie dort nur in ganz allgemeinen Umrissen entworfen werden konnte, so scheint es mir zweckm\u00e4ssig, in einer weiteren Ausf\u00fchrung zu zeigen, dass sie einer Anwendung bis in alle Einzelheiten f\u00e4hig ist, und den Beweis zu unternehmen, dass die neue Anschauung einerseits in theoretischer Beziehung unserem naturwissenschaftlichen Bewusstsein vollkommen entspricht, was nach meiner Ansicht mit keiner der bisherigen atomistischcn Hypothesen der Fall ist, und dass sie andrerseits die erfahrungsm\u00e4ssige Wirklichkeit ausreichend zu erkl\u00e4ren vermag. Namentlich halte ich es f\u00fcr nothwendig darzuthun, dass die Annahme einer noch unbekannten Kategorie von Kr\u00e4ften, welche ich aus Vernunftgr\u00fcnden gefordert habe, eine L\u00fccke in unserem Wissen ausf\u00fcllt und dieses in den Stand setzt, die allgemeinsten physicalischen Thatsachen wie Elasticit\u00e4t und chemische Verwandtschaft zu begreifen. Selbstverst\u00e4ndlich soll an den empirisch gewonnenen Gesetzen und Thatsachen der Physik, Chemie und Physiologie nichts ge\u00e4ndert, sondern bloss der Versuch gemacht werden, dieselben auf ein einheitliches und rationelles Princip zur\u00fcckzuf\u00fchren ').\n*) Bei iler Abfassung dieser Abhandlung hatte ich, wie bei den beiden vorhergehenden ('Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre\u00ab und \u00bbDie Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss\u00ab), ein allgemein naturwissenschaftlich gebildetes Publikum iin Auge, das sich auch um die allgemeinsten Fragen, die als principielle oiler naturphilosophische su bezeichnen sind, interessirt. Es ist daher manches ausgcfUhrt und wiederholt worden, was gegen\u00fclter dem speciell physicalisch Gebildeten \u00fcberfl\u00fcssig und unstatthaft wttre.","page":683},{"file":"p0684.txt","language":"de","ocr_de":"684\tKr\u00e4fte und Gentaltungen im molecularen Gebiet.\nWenn man bis jetzt die Deduction auf die molecularen Verh\u00e4ltnisse anwenden wollte, so meinte man von absolut einfachen Individuen (Atomen) ausgehen zu m\u00fcssen und gerieth dabei immer auf unbegreifliche und f\u00fcr den Aufbau der concreten Dinge unbrauchbare metaphysische Existenzen, wie ich in dem genannten Zusatz nachgewiesen habe. Es l\u00e4sst sich weder aus Kraftpunkten noch aus kleinsten Massen mit Centralkr\u00e4ften, die beide als metaphysische oder Uratome zu bezeichnen w\u00e4ren, etwas Reales construiren.\nDas aus Kraft und Stoff bestehende Individuum kann auf jeder Stufe der Organisation und in jeder Gr\u00f6ssenordnung nur ein zusammengesetztes und ein in der Endlichkeit befangenes Ding sein ; es muss, man mag es sich noch so klein denken, immer theilbar bleiben, ferner muss auch das winzigste Theilchen alle in der Natur wirksamen Elementarkr\u00e4fte in sich vereinigen ; denn sonst g\u00e4be es Theilchen, die nicht auf einander wirken w\u00fcrden und, weil ohne dynamische Beziehung unter einander, nicht zu einem zusammengesetzten Ding zusammentreten k\u00f6nnten. Endlich k\u00f6nnen die Elementarkr\u00e4fte nicht gleichm\u00e4ssig durch die Materie verbreitet sein; denn sonst w\u00e4ren kugelige Theilchen derselben mit Centralkr\u00e4ften begabt, und Theilchen von nicht kugeliger Gestalt w\u00fcrden nach allen Richtungen und auf alle Entfernungen dynamisch so wirken, als ob sie nur eine einzige Kraft enthielten. Um etwas wirkliches zu construiren, muss man annehmen, dass in einer Masse von beliebiger Gr\u00f6sse die Elementarkr\u00e4fte ungleichm\u00e4ssig und unregelm\u00e4ssig verbreitet seien, so dass auch jedes Theilst\u00fcck ebenfalls eine ungleichm\u00e4ssige An-Ordnung derselben enthalte. Denn nur in dieser Weise wird es m\u00f6glich, dass, wie es in der That der Fall ist, die dynamische Wirkung auf gleiche Entfernung nach den verschiedenen Richtungen imgleich ausf\u00e4llt, und dass sie nach der n\u00e4mlichen Richtung auf ungleiche Entfernungen einen anderen Werth annimmt, als es das Verh\u00e4ltniss des umgekehrten Quadrats der Entfernung verlangen w\u00fcrde.\nAus diesen Gr\u00fcnden ist es unm\u00f6glich, dass eine deductive Theorie gleichartige individuelle Dinge als kleinste Theilchen oder Atome zur Grundlage ihrer Betrachtungen mache und daraus etwas ableite. Ich habe daher einen andern Weg versucht und die Deduction mit den abstracten Eigenschaften der Dinge, n\u00e4mlich mit den Kr\u00e4ften begonnen. Ich wiederhole kurz die Herleitung der elementaren","page":684},{"file":"p0685.txt","language":"de","ocr_de":"Kr\u00e4fte und Geittaltungen im molecularen Gebiet\nG85\nKr\u00e4fte. Dieselben k\u00f6nnen nur in gradliniger Richtung als Anziehung und Abstossung wirken, und ihre Wirkung muss entsprechend dem umgekehrten Quadrat der Entfernung abnehraen. Die beiden zusammengeh\u00f6rigen und sich widersprechenden (einander neutralisirenden) Kr\u00e4fte m\u00fcssen ferner ein symmetrisches Verh\u00e4ltnis darstellen, in analoger Weise, wie es mit den beiden elektrischen Kr\u00e4ften der Fall ist. Es muss endlich so viele Kategorien von Kr\u00e4ften geben, als symmetrische Verh\u00e4ltnisse zwischen zusammengeh\u00f6rigen Kraftpaaren denkbar sind. Es gibt nur drei solcher Verh\u00e4ltnisse.\n1.\tElektrische Anziehung und Abstossur ,\u00bbe gleichnamigen Kr\u00e4fte (a und a, ebenso b und 6) stossen sich ab, die ungleichnamigen (o und 6) ziehen sich an (Fig. 29,1).\n2.\tIsagische Anziehung und Abstossung. Die gleichnamigen Kr\u00e4fte (a und a, ebenso \u00df und \u00df) ziehen sich an, die ungleichnamigen (\u00ab und \u00df) stossen sich ab (Fig. 29, II).\n3.\tGravitationsanziehung und Aetherabstossung (Dominantenkr\u00e4fte). Die einen gleichnamigen Kr\u00e4fte (A und A) ziehen sich an, die andern gleichnamigen (B und B) stossen sich ab; die ungleichnamigen (A und B) verhalten sich indifferent, indem sie sich weder anziehen noch abstossen (Fig. 29, III). Ich habe, um eine Gleichf\u00f6rmigkeit in der Benennung zu erhalten, die beiden Kr\u00e4fte der dritten Kategorie Dominantenkr\u00e4fte genannt, weil sie ihrer Natur nach die Anziehung und Abstossung in der Natur beherrschen.\nFi*. \u00bb.\nIn den Figuren I, II und m sind die Anziehungen zwischen je zwei Kr\u00e4ften (d. h. die Anziehungen zwischen zwei beliebigen,\nmit den fraglichen Kr\u00e4ften begabten Massen durch_______________, die\nAbstossungen durch........angezcigt.\nEs gibt also theoretisch 3 Kategorien oder 3 Paare einfacher, gradlinig wirkender Naturkr\u00e4fte, die elektrischen, die isagischen","page":685},{"file":"p0686.txt","language":"de","ocr_de":"Kr\u00e4fte und Gestaltungen im moleculHren Gebiet\n68fi\nund die Dominanten-Kr\u00e4fte, wobei die Kr\u00e4fte eines Paares nicht auf die der andern Paare wirken. Diese 6 Elementarkr\u00e4fte sind die noth-wendigen und die einzigen Eigenschaften der Materie; kein materielles Theilchen, es mag noch so klein angenommen werden, l\u00e4sst sich ohno dieselben denken, und zwar m\u00fcssen in jedem alle (> Kr\u00e4fte, aber in ungleichen Mengen, vereinigt sein. Aus dieser Annahme sollen alle uns bekannten Erscheinungen ohne weitere Hypothesen sich ableiten lassen.\nUeber die quantitative Verkeilung der Kr\u00e4fte gibt uns die Erfahrung einigen Aufschluss. Sie zeigt, dass die beiden gegens\u00e4tzlichen Kr\u00e4fte eines Paares bald in ziemlich gleicher Menge in einem kleinsten Theilchen vereinigt sein k\u00f6nnen, wie dies h\u00e4ufig mit der Elektricit\u00e4t der Fall ist, bald fast vollst\u00e4ndig getrennt zu sein scheinen, wie dies an der Gravitationsanziehung und der Aetherabstossung beobachtet wird , von denen jene den w\u00e4gbaren Stoffen, diese dem Aether zukommt. Die Erfahrung zeigt uns ferner, dass das N\u00e4mliche auch bez\u00fcglich der Kr\u00e4fte verschiedener Paare gilt, indem dieselben in ungel\u00e4hr gleicher Menge vorhanden sein oder auch die einen mehr oder weniger vorherrschen k\u00f6nnen.\nDie kleinsten uns aas Erfahrung bekannten Theilchen der Materie sind die Aethortheilchen und die Atome der chemischen Elemente. Beide geh\u00f6ren zwei verschiedenen Gr\u00f6ssenordnungen an. Dieser Ausspruch wird durch folgende Betrachtung gerechtfertigt. Der Welt\u00e4ther verursacht keine l>emerkbare Verz\u00f6gerung in der Bewegung der Himmelsk\u00f6rper, er muss also eine \u00e4usserst d\u00fcnne Substanz sein. Er leitet aber mit der gr\u00f6ssten Regelm\u00e4ssigkeit Licht und W\u00e4rme, also m\u00fcssen seine Theilchen so dicht beisammen liegen, dass sie mit Leichtigkeit auf einander einwirken k\u00f6nnen. Beides zusammen ist nur durch die Annahme erreichbar, dass die Aether-theilchen \u00e4usserst klein seien. Damit steht in Verbindung, dass die Fortpflanzung von Bewegungen durch die Aethertheilchen (Licht, W\u00e4rme, Elektricit\u00e4t) ungef\u00e4hr eine Million mal schneller erfolgt als die Fortpflanzung von Bewegungen durch die w\u00e4gbaren Molek\u00fcle (Schall). Die Aethertheilchen werden also in entsprechendem Maasse kleiner sein als die Molek\u00fcle und Atome.\nE\u00ae pflanzen sich n\u00e4mlich die Schwingungen, welche den Schall erzeugen, in der Luft mit einer Geschwindigkeit von 332m in der Secunde fort, w\u00e4hrend die Luftmolek\u00fclo nach Clausius bei 0\u00b0 mit","page":686},{"file":"p0687.txt","language":"de","ocr_de":"Kr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\n687\neiner mittleren Geschwindigkeit von 485 m dahinfliegen. Die Schallgeschwindigkeit in Gasen botr\u00e4gt ungef\u00e4hr *U der fortschreitenden Moleculargeschwindigkeit, und die letztere ist von dem Gewichte der Gasmolek\u00fcle abh\u00e4ngig. Die Fortpflanzung des Lichtes hat eine Geschwindigkeit von 311 540000 m in der Secunde. Wenn auch das Verh\u00e4ltniss zwischen diesem Werthe, der mittleren fortschreitenden Bewegung der Aethertheilchen (diese fliegen ohne Zweifel in gleicher Weise wie die Gasmolek\u00fcle durcheinander) und der mittleren Gr\u00f6sse der Aethertheilchen unbekannt ist, so m\u00fcssen diese drei Werthe doch von einander abh\u00e4ngig sein, und es m\u00fcssen, wie die Geschwindigkeiten des Schalles und des Lichtes, auch die Gr\u00f6ssen ihrer Tr\u00e4ger, der Molek\u00fcle und der Aethertheilchen, verschiedenen Gr\u00f6ssenordnungen angeh\u00f6ren. Diese Schlussfolgerung wird noch dadurch unterst\u00fctzt, dass die Fortpflanzung des elektrischen Stromes fast die gleiche Geschwindigkeit hat wie das Licht, n\u00e4mlich 463000000m in einem Kupferdraht von l,5mm Dicke. Wenn der elektrische Strom, wie ich es sp\u00e4ter darzuthuu suchen werde, auf einer fortschreitenden Bewegung von Theilchen beruht, welche den Aethertheilchen an Gr\u00f6sse gleichkommen, so w\u00e4re eine directe Vergleichung ihrer Geschwindigkeit mit der Geschwindigkeit der Luftmolek\u00fcle m\u00f6glich.\nDa es f\u00fcr die fernem Auseinandersetzung vorteilhaft ist, f\u00fcr diese kleinste bekannte Gr\u00f6ssenordnung einen besonderen Namen zu haben, so will ich die individuellen oder unteilbaren Theilchen derselben Amere *) nennen, wobei es vorerst imentschieden bleibt, ob die Theilchen des W\u00e4rme- und Licht\u00e4thers einzelne Amere oder Gruppen von solchen seien. \u2014 Was die w\u00e4gbaren bekannten Stoff-theilchen oder die Atome der chemischen Elemente betrifft, so sind dieselben jedenfalls sehr zusammengesetzt, wie aus ihrer ungleichen Wertigkeit und namentlich aus der Abstufung ihrer chemischen Anziehung, ihres Gewichtes und aller \u00fcbrigen physischen Eigenschaften sich ergibt. Ueber die Art und Weise der Zusammensetzung wissen wir nichts. Um die Verteilung der Elementarkr\u00e4fte anschaulicher zu machen, nehme ich an, dass die Atome aus Theilchen von der Gr\u00f6ssenordnung der Aethertheilchen, also aus Ameren, zusammengesetzt seien.\nDiese Annahme pr\u00e4judicirt nichts; sie l\u00e4sst die reale Sachlage\n') Amer von n privativum und pi\u00e7os Theil.","page":687},{"file":"p0688.txt","language":"de","ocr_de":"688\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet\nunber\u00fchrt und bietet zun\u00e4chst bloss einen formalen Vortheil. H\u00e4tten die chemischen Atome irgend eine andere Zusammensetzung, so k\u00f6nnten wir gleichwohl in Gedanken ihre Substanz in Theilchen von der Gr\u00f6sse der Amere zerlegen und mit R\u00fccksicht hierauf die Ver-theilung der Elementarkr\u00e4fte vornehmen. \u2014 Es m\u00f6chte vielleicht Manchem voraussetzungsloser erscheinen, die Substanz in materielle Punkte von unbestimmter oder unendlicher Kleinheit zu zerlegen. Diese Operation bleibt immer noch Vorbehalten, sofern sie f\u00fcr irgend einen Zweck w\u00fcnschbar erscheint. Ehe sie aber in Anwendung kommen kann, m\u00fcssen vorerst die Eigenschaften der Theilchen, welche der kleinsten bekannten Gr\u00f6ssenordnung angeh\u00f6ren, also der Amere, bestimmt werden, und wenn dies geschieht, so scheint es nicht, dass irgend eine physicalische Frage eine weitere Zerlegung verlangen w\u00fcrde. \u2014 Uebrigens ist es aus Gr\u00fcnden der Analogie wahrscheinlich, dass die Atome der chemischen Elemente wirklich aus Theilchen von der Gr\u00f6ssenordnung der Amere zusammengesetzt seien, gerade so wie auf einer h\u00f6heren Stufe alle w\u00e4gbaren Stoffe aus Atomen und Molek\u00fclen, und auf einer noch h\u00f6heren Stufe alle crganisirten Substanzen aus Micellen zusammengesetzt sind.\nDie Aufgabe ist nun, aus den gegebenen Pr\u00e4missen ohne andere theoretische Voraussetzungen oder Hypothesen, als solche, die aus den durch die Erfahrung festgestellten Thatsachen nahe gelegt werden, die Folgerungen abzuleiten. Die Pr\u00e4missen sind aber keine anderen, als die, dass jedem Theilchen der kleinsten Gr\u00f6ssenordnung die 6 Elementarkr\u00e4fte anhaften.\nI. Vertheilung der Elementarkrftfte1) auf die Amere.\nUm diese Vertheilung vornehmen zu k\u00f6nnen, m\u00fcssen wir uns zun\u00e4chst eine Vorstellung bilden, wie sich die in der Natur vorhandenen Gesammtmengen der beiden Elementarkr\u00e4fte eines zusammengeh\u00f6renden Paares verhalten. \u2014 Es ist an und f\u00fcr sich wahrscheinlich,\n*> Ich werde die 6 Elemente***\u00bb fte der K\u00fcrze halber wie in dem fr\u00fcheren Schema (8. 685) h\u00e4ufig durch Buchetaben bezeichnen, und z^rar die positive und negative Elektricit\u00e4t durch a und 6, die positive und negative Isagit\u00e4t durch \u00ab und fl, und von den Dorainantenkr\u00e4ften die Gravitationaanziehung durch A, die Aetherabetoaeung durch B.","page":688},{"file":"p0689.txt","language":"de","ocr_de":"1. Verth eil u \u00bbg der Eleinentarkr\u00e4fte au\u00ab die Amere.\tggg\n(lass die positive H\u00e4lfte der negativen H\u00e4lfte quantitativ gleichkomme; . diese Annahme liegt eigentlich schon in dem Satze der Symmetrie. Auch die Erfahrung spricht entschieden daf\u00fcr. Die freien positiven und negativen Elektricit\u00e4ten machen nur einen sehr kleinen Theil der positiven und negativen Elektricit\u00e4tsmengen aus, die in den K\u00f6rpern sich das Gleichgewicht halten und zu neutraler Elektricit\u00e4t verbunden sind, und die durch Vertheilung frei zu werden verm\u00f6gen. K\u00f6nnte man die in einem bestimmten Moment freien Elektricit\u00e4ten Zusammenlegen, so w\u00fcrde man sicher um so eher auf Null kommen, je weitere Gebiete man umfasste. Wir m\u00fcssen also annehraen, dass die in der Welt vorhandene Summe der positiven Elektricit\u00e4t gleich sei der negativen, also Sa = Sbt \u2014 ferner, dass gleichfalls die Menge der positiven Isagit\u00e4t gleich sei der negativen, also Sa\u2014S\u00df, und endlich, dass die gesammten Gravitationskr\u00e4fte den gesammten Aetherabstossungskr\u00e4ften gleichkommen also SA = SBl).\nDie in der Welt vorhandene Menge einer jeden Elementarkraft ist auf alle Amere und zwar in verschiedenen Mengen vertheilt, so dass jedes Amer davon eine beliebige Quantit\u00e4t von einem Minimum bis zu einem Maximum enth\u00e4lt. In jedem einzelnen Amor sind also die Kr\u00e4fte \u00ab, b, a, \u00df, A, B vertreten, und da die Quantit\u00e4ten beliebig wechseln, so \u00fcberwiegt in einem Amer im allgemeinen stets die eine H\u00e4lfte eines Kr\u00e4ftepaars, n oder b, a oder \u00dft A oder B. Der Fall, dass n und 6, oder a und \u00df, oder A und B in einem Amer sich das Gleichgewicht halten, ist der Grenzfall einer\n) Wenn die wirksamen Kraftmengen einander gleich sind, so sind auch die Summen der dadurch l>ewirkten Anziehungen und Abetossungen einander um so eher gleich, je gr\u00f6sser die Zahl der wirksamen Theilkrftfte ist. Wirken n positive (a) und n negative (b) elektrische Elemente, jedes von gleichem Betrag, auf einander, so ist der Coefficient f\u00fcr die Summe der Anziehungen (ab) gleich \u00bb*, derjenige f\u00fcr die Summe der Abetossungen zwischen den elektrisch-positiven Elementen (n)\ntl\u00ae\u2014tl\t' *\ngleich \u2014(n\u00e4mlich die Anzahl der Combinationen ohne Wiederholungen f\u00fcr\n\u00abElemente und f\u00fcr die zweite Klasse), der Coefficient f\u00fcr die Summe der Ab-\nstossungen zwischen den elektrisch-negativen Elementen (b) ebenfalls\talso\ndie Gesammtsumme der elektrischen Abstossungen \u00ab\u2022\u2014w, welcher Ausdruck dem Ausdruck f\u00fcr die Anziehungen \u00ab* um so n\u00e4her kommt, je gr\u00f6sser \u00ab wird. Im Universum, wo \u00ab unendlich gross ist, verschwindet die Differenz zwischen den beiden Ausdr\u00fccken.\nV. NZgcll, AbaUmmangalehro.\n44","page":689},{"file":"p0690.txt","language":"de","ocr_de":"GOO\nKr\u00e4fte and Gestaltungen im molecnlaren Gebiet.\nunendlichen Menge von m\u00f6glichen F\u00e4llen und kann somit nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung vernachl\u00e4ssigt werden.\nJedes Amer erh\u00e4lt also seinen dynamischen Charakter durch die \u00fcberwiegende Menge der einen H\u00e4lfte eines jeden der drei Kr\u00e4ftepaare. Mit andern Worten, jedes Amer ist 1. elektrisch positiv (o) oder negativ (6), 2. mit \u00fcberwiegender a- oder /J-Isagit\u00e4t, 3. mit vorherrschender Gravitationsanziehung (A) oder Aetherabstossung (B) ausger\u00fcstet. Daraus folgt, dass es 8 verschiedene Arten von Ameren gibt; dieselben sind, wenn bloss die ausschlaggebende H\u00e4lfte eines jeden Kr\u00e4ftepaars notirt wird, folgende:\noaA, aaB, a\u00dfA, a\u00dfB, baA, baB, b\u00dfA, b\u00dfB.\nDer Ausdruck aaA heisst nichts anderes, als dass in dem betreffenden Amer mehr a als b, mehr o als \u00df und mehr A als B vorhanden sei, und so verh\u00e4lt es sich mit den \u00fcbrigen Ausdr\u00fccken.\nDa die Zahl aller Amere unendlich ist, so hat mit gr\u00f6sster Wahrscheinlichkeit ziemlich genau die eine H\u00e4lfte a, die andere 6 in ihrem Ausdruck. Ebenso lassen sich alle Amere in zwei (andere) H\u00e4lften zerlegen, von denen die eine mit a, die andere mit \u00df bezeichnet ist. Endlich besitzen von zwei (abermals anderen) H\u00e4lften die eine A, die andere B. \u2014 Ferner wird wegen der unendlichen Anzahl der Combinationen ziemlich genau die eine H\u00e4lfte aller a-Amere mit a, die andere mit \u00df behaftet sein, und desgleichen ziemlich genau die eine H\u00e4lfte aller aa-Amere mit A, die andere mit B. Das N\u00e4mliche gilt f\u00fcr die \u00fcbrigen Combinationen, so Ha*\u00ab also im allgemeinen gesagt werden kann, jeder der obigen 8 Ausdr\u00fccke umfasse den 8. Theil aller in der Welt vorhandenen Amere.\nDie Vertheilung der 6 Elementarkr\u00e4fte auf alle Amere kann, wie es eben geschehen ist, deswegen strenge nach den Principien der Wahrscheinlichkeitsrechnung vorgenommen werden, weil die drei Kr\u00e4ftepaare keine dynamischen Beziehungen zu einander haben und also kein mit ihrer Natur in Beziehung stehendes causales Ver-h\u00e4ltniss bei der Gruppirung wirksam sein konnte.\n2. Agglomeration und Dispersion der Amors.\nWir haben aus der Vertheilung der Elementarkr\u00e4fte 8 Gruppen von Ameren erhalten, jede mit einer anderen Combination von Kr\u00e4ften. Die Amere wirken auf einander durch Anziehung und","page":690},{"file":"p0691.txt","language":"de","ocr_de":"2. Agglomeration and Dispersion der Ainere.\n691\nAbstossung; sie machen gleichsam ihre Wahlverwandtschaften geltend. Um dieses Spiel von Kr\u00e4ften zu \u00dcberblicken, m\u00fcssen wir annehmen, dass die Amere irgend einmal getrennt von einander waren, gleichsam im gasf\u00f6rmigen Zustande sich befanden. Die Beschaffenheit der chemischen Atome spricht auch von Seite der Erfahrung aus entschieden f\u00fcr diese Annahme, wie ich sp\u00e4ter zeigen werde; \u2014 und die Kant-Laplace\u2019sche Theorie vop der Entstehung der Himmelsk\u00f6rper durch Verdichtung d\u00fcrfte auf keine andere Weise zu denken sein, als durch allm\u00e4hliche Zusammenballung von fr\u00fcher getrennten Ameren. Damit meine ich jedoch nicht etwa, dass das ganze unendliche Weltall einmal gleichzeitig in die Amere aufgel\u00f6st gewesen sei ; es ist im Gegentheil viel wahrscheinlicher, dass die Zerstreuung und der darauf folgende Verdichtungsprocess immer nur local, d. h. in R\u00e4umen, die zum mindesten ganzen Sonnensystemen entsprechen, stattgefunden haben.\nOb die Amere in der urspr\u00fcnglichen Zerstreuung bleiben, oder ob sie sich zusammenballen, h\u00e4ngt davon ab, ob die anziehenden oder abstossenden Kr\u00e4fte \u00fcberwiegen. Betrachten wir zuerst die Wirkungen der einzelnen Elementarkr\u00e4fte, wie sie sich geltend machen w\u00fcrden, wenn in jedem Amer nur eine der 6 Kr\u00e4fte enthalten w\u00e4re, und wie sie ann\u00e4hernd auch eintreten, wenn jedem Amer zwar alle 6 Kr\u00e4fte zukommen, aber eine davon die \u00fcbrigen an St\u00e4rke betr\u00e4chtlich \u00fcbertrifft. Die Amere sind in diesem Fall durch die vorherrschende Kraft charakterisirt und tragen die Signatur\na, b, a, \u00df, A, B.\nVon diesen 6 Kategorien wirken nur a und b, ferner a und \u00df auf einander ein; im \u00fcbrigen verhalten sie sich indifferent Was zuerst die elektrischen Kr\u00e4fte a und b betrifft, so bemerken wir sogleich, dass dieselben weder im Sinne der Zusammenballung, noch im Sinne der Zerstreuung th\u00e4tig sind. Zwei Amere a und b (von denen also das eine positiv, das andere negativ-elektrisch ist) ziehen sich zwar an und haften fest an einander. Aber, sofern a und b gleich stark sind, kann das Doppelamer ab kein anderes Amer fesseln, weil es dasselbe in gleichem Maasse anzieht und abst\u00f6sst. Nur wenn o oder 6 in dem gepaarten ab viel st\u00e4rker und somit die eine oder andere Elektricit\u00e4t im Uolterschuss vorhanden w\u00e4re, k\u00f6nnte ein drittes Amer hinzutreten. Es bilden sich also im allgemeinen\n44*","page":691},{"file":"p0692.txt","language":"de","ocr_de":"092\tKr\u00e4fte and Gestaltungen im molecularen Gebiet.\ndurch die elektrischen Kr\u00e4fte bloss neutrale Doppelamere, zwischen donen weder anziehende noch abstossende Beziehungen bestehen1).\nGanz anders verhalten sich die isagischen Kr\u00e4fte a und \u00df. Wenn zwei a sich mit einander vereinigt haben, so kann sich noch ein drittes, viertes und eine beliebige Menge von a-Ameren anlegen. Dasselbe ist andrerseits mit den /\u00ce-Ameren der Fall. Es haben also alle durch die Kraft a ausgezeichneten Amere die Neigung, sich in eine einzige Masse zu vereinigen, ebenso alle durch \u00df ausgezeichneten Amere, und die beid an o- und //-Massen entfernen sich von einander. \u2014 Von den Dominantenkr\u00e4ften gleicht A den beiden Isagi-tftten; alle Gravitations- oder A-Amere haben die Neigung, sich zu einer einzigen Masse an einander zu legen. Dagegen kommt den Aetherabstossungs- oder B-Ameren das Bestreben zu, sich von einander zu entfernen und somit m\u00f6glichst gleichm\u00e4ssig im Raume zu vertheilen.\nUnter den Elementarkr\u00e4ften ist die Gravitationsanziehung (A) die eigentliche Agglomerationskraft, die unter allen Umst\u00e4nden in dem gleichen Sinne wirkt. Die Aetherabstossung (if) ist die eigentliche Dispersionskraft, die ebenfalls ihren Charakter nie verleugnet. Dagegen haben die isagischen und die elektrischen Kr\u00e4fte einen doppelseitigen Charakter. Sind nur o- oder nur 6-Amcre irgendwo vorhanden, so wirken sie zerstreuend, w\u00e4hrend a und b einander an-ziehen. Sind nur o- oder nur //-Amere in einem Baum, so wirken sie zusammenballend, w\u00e4hrend o und \u00df sich von einander entfernen.\nNun trifft aber die gemachte Annahme, dass eine einzelne Elementarkraft in einem Amer so sehr \u00fcberwiege, dass die anderen neben ihr fast verschwinden, jedenfalls nur selten ein. In der Regel wird die combinirte Wirkung der drei vorherrschenden Kr\u00e4fte entscheiden. Es ist also die Frage, wie sich die Amere, die den\n) Wenn *wei K\u00f6rper, von denen der eine positive, der andere negative freie Elektricitftt enthalt, einander bis rar Ber\u00fchrung gen\u00e4hert werden, so findet Ans gleichung der Elektricit\u00e4ten statt and die beiden K\u00f6rper werden mehr oder weniger neutral. Dies ist selbstverst\u00e4ndlich bei der Vereinigung der Amere nicht der Fall, weii sonst die elektrische Kraft die Materie verlassen mflsste. Wenn bei gr\u00f6sseren K\u00f6rpern Elektricit\u00e4t aus- oder ein tritt, so ist es nicht die Kraft allein sondern die mit Kraft begabte Materie, welche diese Bewegung ausf\u00fchrt; es sind elektrische Amere, welche dem K\u00f6rper gegeben oder entzogen werden.","page":692},{"file":"p0693.txt","language":"de","ocr_de":"2. Agglomeration und Dispersion \u00ab1er A mere.\tG93\n8 Kr\u00e4ftecombinationen (8. 690) entsprechen, zu einander verhalten. Schreiben wir die 8 Ausdr\u00fccke folgendermaassen an\nAaa, Aab, A\u00dfa, A\u00dfb Baa, B\u00dfa, Bab, B\u00dfb,\nso ist sogleich ersichtlich, dass alle Amere, welche durch die beiden ersten Ausdr\u00fccke der obem Reihe bezeichnet werden, sich unbedingt vereinigen, aa sie die Attractionseleraente A und A, ferner a und o enthalten, w\u00e4hrend a und b sich einzeln zwar anziehen, in Mehrzahl aber neutral verhalten. Es w\u00e4re also begreiflich, wenn alle Aaa und Aab sich zu einer einzigen Masse zusammenballten. Das N\u00e4mliche gilt von den zwei letzten Ausdr\u00fccken der oberen Reihe. \u2014 Ferner m\u00fcssen alle Amere mit den beiden ersten Ausdr\u00fccken der unteren Reihe sich unbedingt zerstreuen, weil sie die Repulsionsolemente B und B, dann a und a f\u00fchren, w\u00e4hrend a und \u00df einzeln zwar sich abstossen, in Mehrzahl aber sich das Gleichgewicht halten. Ganz ebenso verhalten sich die zwei letzten Ausdr\u00fccke der unteren Reihe.\nF\u00fcr die Combinationen der verschiedenen Amere, wie ich sie eben vorgenommen habe, ist der Effect unzweifelhaft, und wir verm\u00f6gen jedenfalls zu erkennen, dass einerseits Agglomeration, wie wir sie in den w\u00e4gbaren Stoffen finden, andrerseits Zerstreuung, wie wir sie in dem den Weltenraum erf\u00fcllenden Aether kennen, stattfinden muss, und dass jene im allgemeinen auf den (A-haltigen) Ausdr\u00fccken der oberen Reihe, diese auf den (R-haltigen) Ausdr\u00fccken der unteren Reihe beruht. F\u00fcr alle anderen Combinationen ist der Erfolg zweifelhaft, weil es dabei auf die Gr\u00f6sse der einzelnen Kr\u00e4fte ankommt, die uns unbekannt ist. So ziehen sich z. B. der erste und dritte Ausdruck der oberen Reihe (Aaa und A\u00dfa) an, wenn die Anziehung AA gr\u00f6sser ist als die beiden Abstossungen a\u00df und aa, und im umgekehrten Falle findet Abstossung statt; ist eine Mehrzahl von so beschaffenen Ameren (Aaa und A\u00dfa) vorhanden, so kommen f\u00fcr die Gesammtheit die isagischen Kr\u00e4fte (a und \u00df) nicht mehr in Betracht, weil sie sich gegenseitig aufheben, und es tritt Agglomeration oder Dispersion ein, je nachdem die Anziehung zwischen den A-Kr\u00e4ften gr\u00f6sser oder kleiner ist als die Abstossung zwischen den a-Kr\u00e4ften. Es ist \u00fcberfl\u00fcssig, von andern Combinationen zu sprechen, da die Bedingungen des Erfolges leicht ersichtlich sind.","page":693},{"file":"p0694.txt","language":"de","ocr_de":"G94\nKr\u00e4fte and Oostaltangen im molecaUren Gebiet.\nWenn auch die Wirkung der meisten Combinationen, sei es, dass sie in Mehrzahl beisammen oder dass sie vereinzelt Vorkommen, wegen der ungleichen Gr\u00f6sse der den Ameren anhaftenden Elementarkr\u00e4fte zweifelhaft ist, so w\u00fcrden wir doch die Wirkung im Grossen nnd Ganzen einigermaassen beurtheilen k\u00f6nnen, wenn wir die Gesammt-menge jeder einzelnen in der Welt vorhandenen Kraft kennten. Ich habe bereits davon gesprochen, dass ohne Zweifel die beiden (positiven und negativen) Glieder einer Kategorie gleiche Summen geben, also Sa = Sb, Sa = S\u00df und SA = SB (S. G89). Dies sagt uns aber nur, dass gleich viel positive und negative Elektricitftt, ferner gleich Viel o- und /9-Isagit\u00e4t, endlich gleich viol Gravitationsanziehung und Aetherabstossung im Universum wirksam sei und sich das Gleichgewicht halte. Die Frage w\u00e4re aber nun, wie sich Sa, Sa und SA zu einander verhalten.\nMan wird wohl a priori zu der Annahme geneigt sein, dass das Gesetz der Symmetrie auch auf die verschiedenen Kategorien von Elementarkr\u00e4ften Anwendung finde, und dass gleiche Mengen von elektrischen, von isagischen und von Dominantenkr\u00e4ften existiren. Dann ist aber die Frage, wie die Symmetrie zu deuten sei, ob Gleichheit zwischen den wirksamen Kr\u00e4ftemengen oder Gleichheit zwischen den Mengen der hervorgebrachten Anziehungen und Ab-stossungen bestehen soll. Denn in dem vorliegenden Fall sind dies zwei verschiedene Begriffe, da die beiden Kr\u00e4fte des Dominanten-paares sich zu einander neutral verhalten, w\u00e4hrend die Kr\u00e4fte der \u00fcbrigen Paare auf einander wirken. Wir k\u00f6nnen uns dies, da das Zur\u00fcckgehen auf einfache Kraftpunkte auf das metaphysische Gebiet f\u00fchren w\u00fcrde, am besten deutlich machen, wenn wir die Amere der Betrachtung zu Grunde legen.\nUm diese Betrachtung m\u00f6glichst einfach und verst\u00e4ndlich zu gestalten, will ich als Beispiel eine Anzahl von Ameren voraussetzen, von denen jedes eine der 6 Elementarkr\u00e4fte in gleicher Menge als Ueberschuss enthalte. Es seien also n Amere mit a, eben so viele mit 6, und eben so viele mit a, mit \u00df, mit A und mit B im Ueberschuss ausger\u00fcstet; dann sind die Summen der wirksamen Kr\u00e4fte a, 6, a, \u00df, A und B gleich gross. Die Summen der An-Ziehungen und Abstossungen aber werden durch folgende Coeffici-enten ausgedr\u00fcckt: die Summe der elektrischen Anziehungen ab durch n\\ die Summe der elektrischen Abstossungen aa und bb durch","page":694},{"file":"p0695.txt","language":"de","ocr_de":"3. Agglomeration und Dispersion der Amere.\n605\nn2\u2014n >), die Summe der isagischen Anziehungen aa und \u00df\u00df durch \u00bb\u2019_n,\ndie Sunirno der isagischen Abetoesungen a\u00df durch n\\ die Summe der\nGravitationsanziehungen AA durch \u2014^\u2014 und die Summe der Aether-\nabstossungen BB durch \u2014^\u2014\u2022 Die Summen der Dominanten-\nAnziehungen und Abstossungen sind also nur halb so gross als die Summen der Anziehungen und Abstossungen jeder der \u00fcbrigen Kr\u00e4fte, wenn alle Kr\u00e4fte in gleicher Menge wirksam sind, und wir haben f\u00fcr das Universum\nSummen der wirksamen Kr\u00e4fte SA = Sa \u2014 Sa r= SB = S\u00df = Sb, Summen der Anziehungen und Abstossungen\nK4 4 _ S(qq -}- \u00df\u00df) _ Soft __ g\u00df\u00df __ Sa\u00df _ S(aa -f- bb)\nDieses Resultat, welches uns unerwartet und vielleicht unwahrscheinlich ist, r\u00fchrt daher, weil den Dominantenkr\u00e4ften A und B nur eine einfache Wirkung (auf sich selber), den \u00fcbrigen Kr\u00e4ften dagegen eine doppelte Wirkung (auf sich selber und auf die Schwesterkraft) zukommt. Es w\u00fcrde daher die Forderung der Gleichheit und Symmetrie ebeflsowohl befriedigen, wenn den mit einfacher Wirkung begabten Elementen A und B die doppelte Kraftmenge zuk\u00e4me. Sowie ein Element a die \u00fcbrigen o-Elemente abst\u00f6sst und zugleich die ^-Elemente anzieht, so w\u00fcrde dann ein Element A, welches bloss auf die A-, nicht auf die B-Elemente einwirkt, jene mit doppelter Kraft anziehon und B w\u00fcrde die ^-Elemente mit doppelter Kraft abstossen, so dass also jedes A- und R-Element gegen\u00fcber den Krafteinheiten die n\u00e4mliche Arbeit zu leisten verm\u00f6chte wie jedes der Elemente a, b, a und \u00df. Bei dieser Annahme w\u00e4chst die Summe der Gravitationsanziehungen f\u00fcr die vorhin vorausgesetzten n Amere auf 2(\u00abs\u2014m), und den gleichen Betrag hat auch die Summe der Aether-abstossungen, sodass also die Summen der Dominanten-Anziehungen und Abstossungen jetzt doppelt so gross sind als die Summen der Anziehungen und Abstossungen jeder der \u00fcbrigen Kr\u00e4fte. Wir haben daher f\u00fcr das Universum\n*) Vgl. die Anmerkung auf 8. 689.","page":695},{"file":"p0696.txt","language":"de","ocr_de":"Kr\u00e4fte and Gestaltungen auf molecularem Gebiet.\n696\nCi\tDM\nSummen der wirksamen Kr\u00e4fte = Sa = Sa = -a = S\u00df = Sb.\nSummen der Anziehungen und Abstossungen\nSAA a.\tSJBB\n~~2~ \u2014 S(aa -f \u00df\u00df) \u2014 Sab = \u2014^ = Sa\u00df = S(aa 4- 66).\nDie beiden soeben besprochenen Annahmen \u00fcber das quantitative Verh\u00e4ltniss der Summen der 6 Elementarkrftfte sind wohl die einzigen, die unsere theoretische Naturanschauung zu befriedigen verm\u00f6gen. Es ist nun leicht zu bestimmen, welches Resultat die eine und andere Annahme bez\u00fcglich der Vertheilung der Amere im grossen und ganzen gibt. Setzen wir wieder die 8 Kategorien der letzteren wie oben in zwei Reihen an\nActa, Aal, A\u00dfa, A\u00dfb Ban, B\u00dfa, Bah, B\u00dfb\nund halten wir uns zun\u00e4chst an die erste Annahme, n\u00e4mlich dass = Sa= Sa = SB = S\u00df = Sb. Dabei ist im Auge zu halten, dass, wie fr\u00fcher angegeben, die 3 in jedem Amer im Ueberschuss vorhandenen und demselben die Signatur gebenden Kr\u00e4fte jedes beliebige Verh\u00e4ltniss ihrer Gr\u00f6sse zu einander zeigen k\u00f6nnen, so dass also beispielsweise in Aaa jede Kraft bald gr\u00f6sser bald kleiner als die beiden andern ist. Denken wir uns, um einen leichteren Ueberblick zu gewinnen, es seien in einem Raum nur solche Amere, die zwei Ausdr\u00fccken der oberen Reihe entsprechen, befindlich, so m\u00fcssen, wie schon f\u00fcr den allgemeinsten Fall er\u00f6rtert wurde, ohne Ausnahme alle Amere sich vereinigen, wenn sie den zwei ersten Ausdr\u00fccken (Aaa und Aab) angeh\u00f6ren, \u2014 ebenso, wenn sie den zwei letzten Kategorien (A\u00dfa und A\u00dfb) angeh\u00f6ren, \u2014 ferner die grosse Mehrzahl der Amere, wenn sie der 1. und 4. Kategorie (Aaa und A\u00dfb) und desgleichen, wenn sie der 2. und 3. Kategorie (Aab und A\u00dfa) entsprechen. Sind Amere des 1. und 3. Ausdruckes (Aaa und A\u00dfa) beisammen, so h\u00e4ngt es von der Gr\u00f6sse der (anziehenden) A-Kr\u00e4fte und der Gr\u00f6sse der(abstossenden)a-Kr\u00e4fte ab, ob Zusammenballung oder Zerstreuung eintritt.\nSind aber sehr zahlreiche Amen aller Kategorien der obem Reihe in einem Raum beisammen, so gravitiren sie unbedingt alle gegen einander. Denn je gr\u00f6sser ihre Zahl ist, um so vollst\u00e4ndiger heben sich die anziehenden und abstossenden Kr\u00e4fte o und \u00df,","page":696},{"file":"p0697.txt","language":"de","ocr_de":"2. Agglomeration und Dinpereion der Amere.\t697\na und b auf, und kommen bloss dio anziehenden A-Kr\u00e4fte zur Geltung.\nAnalog wie die Amere der oberen Reihe bez\u00fcglich der Ann\u00e4herung an einander, verhalten sich diejenigen der unteren Reihe bez\u00fcglich des Auseinanderweichens. Wenn nur je zwei Kategorien in einem Raume vertreten sind, so zerstreuen sich die Amere der beiden ersten Ausdr\u00fccke (Baa und B\u00dfa) unbedingt, ebenso die der beiden letzten [Bob und B\u00dfb); \u2014 ferner die grosse Mehrzahl des 1. und 4. Ausdrucks (Baa und B\u00dfb) und des 2. und 3. (B\u00dfa und Bah). Sind Amere der 1. und 3. Kategorie (Baa und Bob) oder der 2. und 4. Kategone (B\u00dfa und B\u00dfb) in einem Raum vereinigt, so entfernen sich dieselben von einander oder n\u00e4hern sich einander, je nachdem die (absto68enden) -\u00d6-Kr\u00e4fte oder die (anziehenden) a-, resp. ^-Kr\u00e4fte\u00bb die Oberhand haben. Ist aber eine grosse Anzahl von Ameren der 4 Ausdr\u00fccke der unteren Reihe beisammen, so tritt im allgemeinen Zerstreuung ein, weil die a- und \u00df-, die a- und 6-Kr\u00e4fte sich gegenseitig neutralisiren.\nFolgen wir der anderen Annahme bez\u00fcglich der quantitativen Verh\u00e4ltnisse der 6 Elementarkraftsummen, wonach \u2014 SA = Sa = Sa =\n\u00a3\n80 ist der Erfolg bez\u00fcglich der Zusammenballung\nund Zerstreuung ein ganz \u00e4hnlicher, nur viel entschiedener, indem jetzt einerseits die Gravitationsanziehung, andrerseits die Aether-abstossung in vielen F\u00e4llen \u00fcberwiegend wird, in denen sie bei der ersten Annahme durch andere Kr\u00e4fte \u00fcberwunden wurde.\nEs f\u00fchren also beide Annahmen auf dem Wege der Deduction zu der Vertheilung der Substanz, die wir aus Erfahrung kennenv und die uns einerseits die zusammengeballten w\u00e4gbaren Stoffe, andrem seits den alles erf\u00fcllenden Welt\u00e4ther zeigt. Nach der letzten Annahme i\u00aet 68 nahezu die H\u00e4lfte der Amere, welche der Gravitation folgend, sich einander n\u00e4hert, w\u00e4hrend nahezu die andere H\u00e4lfte in Folge der Aetherabstossung sich zerstreut, und ein kleinerer Theil von weniger ausgesprochenem Charakter je nach Umst\u00e4nden an der Zusammenballung oder Zerstreuung Theil nimmt. Nach der ersten Annahme ist die Zahl der Amere von unentschiedenem Verhalten viel betr\u00e4chtlicher. Diese Resultate treten um so deutlicher hervor, je mehr","page":697},{"file":"p0698.txt","language":"de","ocr_de":"698\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\nAmere auf einander einwirken, indess bei einer geringeren Mengo derselben bestimmte Kategorien vorherrschen und den Erfolg modi-ficiren k\u00f6nnen.\nWir k\u00f6nnen uns ferner die Frage stellen, wie hoch verh\u00e4ltniss-mftssig die Summen der Gravitationskr\u00e4fte und der Aetherabstossungs-krilfte einerseits in den Agglomerationsmassen und andrerseits in dem Welt\u00e4ther sich belaufen m\u00f6gen. Die Pr\u00e4missen, welche uns die Amertheorie f\u00fcr einen solchen Schluss darbietet, sind folgende: Jedes der unendlich zahlreichen Amere enth\u00e4lt eine gewisse Menge von Gravitationsanziehung und von Aetherabstossung ; diese Mengen schwanken zwischen einem Maximum und einem Minimum sind in jedem Amer mit einander combinirt und in der Gesammtzahl aller Amere symmetrisch vertheilt; nahezu die eine H\u00e4lfte der Amere bildet, da in ihnen die Gravitation \u00fcberwiegt, die Agglomerations-massen, nahezu die andere H\u00e4lfte mit \u00fcberwiegender Aetherabstossung setzt den Welt\u00e4ther zusammen. W\u00e4re Maximum und Minimum bekannt, so Hesse sich das Verh\u00e4ltniss der beiden Kr\u00e4fte nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung ziemlich genau angeben. Da wir das Maximum und Minimum nicht kennen, so l\u00e4sst sich nur ein extremes Verh\u00e4ltniss feststellen, das jedenfalls nicht \u00dcberschritten sein kann.\nDieses extreme Verh\u00e4ltniss stellt sich am gr\u00f6ssten heraus, wenn wir die freilich als unm\u00f6glich erscheinende Annahme machen, cs enthalten alle Amere der w\u00e4gbaren Massen mehr als die halbe, durchschnittlich einem Amer zukommende Gravitationsanziehung und weniger als die halbe durchschnittliche Aetherabstossung, und wenn wir ferner, was nicht undenkbar ist, voraussetzen, dass das Minimum einer Elementarkraft in den Ameren sehr klein und das Maximum im Vergleich damit sehr gross, dass also in dem vorliegenden Fall die kleinste Aetherabstossung \u00e4ussorst gering und die gr\u00f6sste Gravitationsanziehung vielmal betr\u00e4chtlicher sei. In diesem Falle betr\u00fcge, wegen der unendlichen und ohne Zweifel gleiclim\u00e4ssig vertheilten Abstufung der Amerkr\u00e4fte, in den w\u00e4gbaren Massen die Summe der\nGravitationsanziehungen ~ aller Gravitationsanziehungen \u00fcberhaupt\nund die Summe der Aetherabstossungen -j- aller im Universum ent-\n*\nhaltenen Aetherabstossungen. Die Berechnung ist die n\u00e4mliche, wie","page":698},{"file":"p0699.txt","language":"de","ocr_de":"2. Agglomeration und Dispersion der Atnere.\t\u00dfQQ\nbeispielsweise die Summirung der Zahlenreihe 1 bis 60 die Zahl 1275 und diejenige der Zahlenreihe 51 bis 100 die Zahl 3775, also fast 3 mal so viel ergibt.\nIndessen ist die zu Grunde gelegte Voraussetzung, wie bereits gesagt, kaum denkbar. Wir m\u00fcssen vielmehr annehmen, dass die 0 Elementarkr\u00e4fte in der unendlichen Menge von Ameren nicht nur in ullen m\u00f6glichen Verh\u00e4ltnissen combinirt, sondern dass auch die einzelnen Verh\u00e4ltnisse in gleicher Zahl verwirklicht seien. Dann ergibt sich folgende Grundlage f\u00fcr die Berechnung. In der H\u00e4lfte aller Amere ist die Gravitationsanziehung (A) gr\u00f6sser als die Aether-ubstossung (2?); in der andern H\u00e4lfte verh\u00e4lt es sich umgekehrt. Die Amere der ersten H\u00e4lfte mit der Signatur A > B setzen die ponderabeln Massen zusammen; dio der zweiten H\u00e4lfte mit der Signatur A < B geh\u00f6ren dem Welt\u00e4ther an. \u2014 Ferner lassen sich alle Amere in 4 gleichgrosse Gruppen scheiden, je nachdem einerseits die Gravitationsanziehung und andrerseits die Aetherabstossung gr\u00f6sser oder kleiner ist als die einem Amer im Mittel zukommende Kraftmenge (\u00bb). Diese 4 Gruppen sind also\n1\tGr. A < m ; B < m.\n2\tGr. A < m ; B>m.\n3\tGr. A > m ; B <\n4\tGr. A > m ; B > m.\nIn den Ameren der 1. und 4. Gruppe \u00fcberwiegt bald die Gravitationsanziehung, bald die Aetherabstossung. Es lial>en daher alle Amere der 3. Gruppe und je die H\u00e4lfte der 1. und 4. Gruppe die Signatur A > B und bilden die Agglomerationsmassen, w\u00e4hrend der Welt\u00e4ther aus allen Ameren der 2. Gruppe sammt der H\u00e4lfto je der 1. und 4. Gruppe, welche alle die Signatur A < B haben, besteht.\nUnter der Voraussetzung, dass die in den Ameren vorkommenden Minima der beiden Dominantenkr\u00e4fte einander gleich seien, ebenso die Maxima, und dass das Minimum sehr klein und das Maximum vielmal gr\u00f6sser sei, ergibt die Summirung, dass von der Gesammt-ma8se der im Universum enthaltenen Gravitationsanziehungskr\u00e4fte 2 1\n-g- den ponderabeln Massen, dem Welt\u00e4ther, und von der Gesummt-\nmasse der Aetherabstossungskr\u00e4fte den ponderabeln Massen und 2\n-jj- dem Welt\u00e4ther zukommen.","page":699},{"file":"p0700.txt","language":"de","ocr_de":"700\nKrttfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\nUm das Resultat dem Verstftndniss n\u00e4her zu legen, f\u00fchre ich noch eine andere Art der Berechnung mit bestimmten numerischen Wertheil an. Die Kraftintensit\u00e4ten von A und von B variiren z. B. zwischen 1 und 20 und zwar in Abstufungen, die den ganzen Zahlen 1.... 20 entsprechen. In einer Anzahl von 400 Ameren k\u00f6nnen alle m\u00f6glichen Combinationen der A- und B-Kr\u00e4fte vertreten sein, indem immer je 20 Amere die Gravitationsanziehung in der Intensit\u00e4t 1, resp. 2----20 enthalten, und indem die 20 Amere jeder\ndieser Gruppen der Reihe nach die Aetherabstossung in der Intensit\u00e4t 1.... 20 besitzen. Die so beschaffenen 400 Amere geben uns ein Bild aller im Universum vorkommenden Amere und stellen einen Bruchtheil der letzteren dar. Die Summirung ihrer Kr\u00e4fte gibt daher ein Verh\u00e4ltni88, das auch dem Ganzen f\u00fcr die angenommenen numerischen Werthe entsprechen muss.\nDie weitere Rechnung ist einfach. Die 400 Amere enthalten eine Gesammtintensit\u00e4t der Gravitationskr\u00e4fte und der Aetherabstossungs-kr\u00e4fte von je 4200. Von den 400 Ameren haben 20 gleich intensive A- und B-Kr\u00e4fte (n\u00e4mlich 1 und 1, 2 und 2 etc.), sind also r\u00fccksichtlich der Dominantenkr\u00e4fte isodynamisch und indifferent; dieselben liesitzen eine Gesammtintensit\u00e4t der A- und B-Kr\u00e4fte von je 210. Die \u00fcbrigen 380 Amere sind heterociynamisch ; 190 Amere mit \u00fcberwiegender A-Kraft ballen sich zu ponderabeln Massen zusammen, 190 mit \u00fcberwiegender B-Kraft zerstreuen sich als Aether. Die Summirung ergibt f\u00fcr die 190 ponderabeln Amere eine Gesammtintensit\u00e4t der Gravitationskr\u00e4fte von 2660, der Aetherabstossungskrftfte von 1330, \u2014 f\u00fcr die 190 Aetheramere eine Gesammtintensit\u00e4t der Gravitationskr\u00e4fte von 1330 und der Ao'therabstossungskr\u00e4fte von\n2660: also die vorhin angegebenen Verh\u00e4ltnisse von ~ und\n3\t3\nDiese Verh\u00e4ltnisse werden durch die 20 isodynamischen Amere, die sich neutral verhalten, und je nach Umst\u00e4nden den ponderabeln Massen oder dem Welt\u00e4ther angeh\u00f6ren k\u00f6nnen, nicht ge\u00e4ndert.\nGeben wir aber die Bedingung preis, dass das Minimum der Amerkr\u00e4fte sehr klein und das Maximum vielmal gr\u00f6sser sei, so wird das Verh\u00e4ltniss zwischen den A- und B-Kr\u00e4ften in den ponderabeln und in den imponderabeln Massen kleiner als \u2014 : ^ , Es wechsle beispielsweise in den 400 Ameren die Intensit\u00e4t jeder","page":700},{"file":"p0701.txt","language":"de","ocr_de":"701\n2. Agglomeration und Dispersion der Amere.\nder beiden Dominantenkr\u00e4fte von 11 bis 30 (statt von 1 bis 20), so dass also jedes Amer 10 Einheiten von A- und B-Kr\u00e4ften mehr hat als in dem vorhin betrachteten Fall. Die Gesammtintensitftt der A- und J3-Kr\u00e4fte in den 400 Ameren betr\u00e4gt je 8200; die Go-sammtintensit\u00e4t in den 20 isodynamischen Ameren (Intensit\u00e4t in jedem Amer 11 + 11, 12+12 etc.) betr\u00e4gt 410. Die 190 heterodynamischen Amere, welche sich zu ponderabeln Massen vereinigen, enthalten eine Gesammtintensit\u00e4t der A-Kr\u00e4fte von 4560 und dor ^-Kr\u00e4fte von 3230, w\u00e4hrend in den 190 heterodynamischen Ameren, welche sich als Aether zerstreuen, eine Gesammtintensit\u00e4t der A-Kr\u00e4fte von 3230 und der B-Kr\u00e4fte von 4560 vorhanden ist. Das Verh\u00e4ltniss der Gesammtmengen der beiden Kr\u00e4fte in den ponderabeln, sowie\nin den imponderabeln Massen, das in dem 1. Beispiel 1: 2 war wird hier 1:1,41.\nDas Verh\u00e4ltniss 1: 2 stellt einen Grenzfall der denkbaren M\u00f6glichkeiten dar. Wenn wir uns daher auf die Deduction aus ver-nunftm\u00e4ssigen Principien verlassen d\u00fcrfen, so l\u00e4sst sich mit Gewissheit\nannehmen, dass von allen Gravitationskr\u00e4ften h\u00f6chstens ~ den w\u00e4g-baren Massen und mindestens i- dem Welt\u00e4ther, und von allen Aetherabstossungskr\u00e4ften mindestens \u2018 den w\u00e4gbaren Massen und\nh\u00f6chstens y dem Aether zukommen. In den ponderabeln Substanzen\nist also wenigstens halb so viel Aetherabstossung als Gravitationsanziehung enthalten; m\u00f6glicher Weise ist der quantitative Unterschied zwischen beiden sogar viel geringer. Diese grosse Menge von Aetherabstossungskr\u00e4ften innerhalb der Agglomerationsk\u00f6rper ist von grosser Bedeutung f\u00fcr die Theorie von dem Zustandekommen der\nElasticit\u00e4t (\u00a7 3) und f\u00fcr die Beurtheilung des Wesens der Schwerkraft (\u00a7 4).\nDie bisherige Betrachtung ergibt uns nur ganz im allgemeinen das Resultat bez\u00fcglich Zusammenballung und Zerstreuung der Amere. Um eine Vorstellung \u00fcber das Verhalten der Amere im besondern, namentlich \u00fcber ihre gr\u00f6ssere oder geringere Ann\u00e4herung, ihr Zusammentreten zu individuellen Gruppen und die Best\u00e4ndigkeit ihrer","page":701},{"file":"p0702.txt","language":"de","ocr_de":"702\nKr\u00e4fte and Gestaltungen Im molecnlaren Gebiet.\nAnordnung zu gewinnen, m\u00fcssen wir die maassgebenden Umst\u00fcnde, die dynamische Beschaffenheit der Amere und ihre Bewegungen etwas n\u00e4her ber\u00fccksichtigen.\nWas die dynamische Bechaffenheit betrifft, so ist zu beachten, dass ausser den die Signatur bestimmenden Kr\u00e4ften (8. 691), auch andere in geringerer Menge vorhanden sind, dass also in jedem mit A bezeichneten und den Gravitationsmassen angeh\u00f6renden Amer auch die Aetherabstossung B in geringerem Betrage enthalten ist, dass die Aetheramere auch etwas Gravitationsanziehung besitzen, dass mit positiver immer auch negative Elektricit\u00e4t und mit a-Isagit\u00e4t immer auch /Msagit\u00e4t combinirt ist. In einem Amer z. B., welchem der leichteren Uebersicht wegen die Bezeichnung A\u00dfa gegeben wurde, zeigen die Werthe A, \u00df und a nur die \u00fcberwiegenden Glieder in den drei Ki\u00e4ftepaaren an. Eigentlich lautet seine vollst\u00e4ndige Charakteristik AB a\u00df ab, wobei aber A > B, a < \u00df und a > b ist.\nDie vollst\u00e4ndige dynamische Wirkung zweier Amere auf einander, die mit ABct\u00dfab und mit AxB,al\u00dfla,b, bezeichnet sind, ergibt folgendes Resultat:\nAnziehungen AAx-\\- aa, -f \u00df\u00dfx + ab, + ba, Abetossungen BBx-\\- a\u00dfx -f \u00dfax -f aax -f bbx.\nDie Summe der Anziehungen weniger die Summe der Ab-stos8ungen ist\nAAX BBX\taax \u2014 a\u00dfx -\\-\u00df\u00dfx\u2014\u00dfax-\\-ab,\u2014 aa, -f-6a,\u2014 bb,\noder nach leicht zu \u00fcbersehender Umbildung\nAAx-BBx+(a-\u00df) (\u00ab,-/?,) + (\u00ab-&) (bx-aO.\nVon den beiden isagischen (a und \u00df) und den beiden elektrischen (a und b) Kr\u00e4ften kommen also, wie dies \u00fcbrigens selbstverst\u00e4ndlich ist, nur die betreffenden Uebersch\u00fcsse in einem Amer in Betracht. Jeder der beiden Ausdr\u00fccke (a\u2014\u00df) (a,\u2014\u00dfx) und (o\u2014b) {bx-at) kann ferner positiv oder negativ ausfallen und somit entweder die Gravitationsanziehung {AA,) oder die Aetherabstossung {BB,) verst\u00e4rken.\nAus diesem Umstande ergibt sich bez\u00fcglich der Ae the r-zerstreuung, dass dieselbe nicht bloss aus einzelnen Ameren, sondern auch aus 2- und mehrz\u00e4hligen Gruppen bestehen muss. An der Zerstreuung nehmen, wie wir bereits gesehen haben, im allgemeinen alle Amere Theil, in denen B gr\u00f6sser ist als A. Eis m\u00fcssen aber im Welt\u00e4ther stets zwei Amere sich mit einander vereinigen,","page":702},{"file":"p0703.txt","language":"de","ocr_de":"2- Agglomeration nnd Dispersion der A mere.\t70* J\nwenn dio Aetherahstossung BBt von der Summe der Anziehungen aller Kr\u00e4fte tibertroffen wird, wenn also zwar AAl < BBt aber AAt-f (a -/\u00cf)(a, \u2014\u00dfx) + (a\u2014b) (6, _a.) > BBlt\noder mit andern Worten, wenn die Gesammtwirkung zwischen 2 Aetherameren\nAA, BBtA-(a \u2014 /?)(a,\u2014\t\u2014 t)(J, \u2014 0j)\neinen positiven Worth darstellt. Dies ist dann leicht der Fall, wenn BBt nur wenig gr\u00f6sser als AAt ist, wenn ferner in den beiden Ameren die gleichnamigen Isagitftten (entweder \u00ab und a, oder \u00df und \u00dfx) und die ungleichnamigen Elektricit\u00e4ten (entweder a und b, oder h und a,) \u00fcberwiegen.\nWie zwei, k\u00f6nnen nat\u00fcrlich auch drei oder mehrere Aether-mnere eine zusammenh\u00e4ngende Gruppe bilden, wenn die Anziehung innerhalb derselben die Abstos3ung \u00fcberwiegt. Doch wird die Vereinigung um so schwieriger, je gr\u00f6sser die Zahl der Amere ist. Die ganze Gruppe aber, welche vorz\u00fcglich durch die isagischen und die elektrischen Kr\u00e4fte zusammengehalten wird, nimmt an der Aether-Zerstreuung gerade so Theil, wie ein einzelnes Aetheramer, weil gegen\u00fcber den Agglomerationsmassen die isagischen und die elektrischen Kr\u00e4fte sich ziemlich indifferent verhalten und daher nur der Uebcr-schuss der Aetherabstossung \u00fcber die Gravitationsanziehung den Ausschlag gibt.\nDie zusammengesetzten Aethertheilchen m\u00fcssen aber nicht noth-wendig bloss aus Aetherameren bestehen; es k\u00f6nnen auch einzelne ponderable Amere d. h. solche, in denen A> B ist, in die Gruppen eintreten und zwar um so eher, je mehr die Gravitationsanziehang quantitativ hinter der isagischen und elektrischen Anziehung zur\u00fcckbleibt.\nWenden wir uns zu den ponderabeln Massen, so reicht die Kenntniss der dynamischen Beziehungen der Amere, wie sie aus den Betr\u00e4gen aller ihrer Kr\u00e4fte berechnet wurden, zu einer genauen Vorstellung \u00fcber die Zusammenballung nicht aus. In dieser Beziehung ist die Entscheidung der Frage von gr\u00f6sster Wichtigkeit, ob die Amere sich bis zur Ber\u00fchrung n\u00e4hern oder ob gr\u00f6ssere und kleinero Zwischenr\u00e4ume zwischen ihnen bleiben. Dies h\u00e4ngt einmal von der Vertheilung der verschiedenen Elementarkr\u00e4fte in der Substanz der einzelnen Amere ab; die Vertheilung aber l\u00e4sst sich all-","page":703},{"file":"p0704.txt","language":"de","ocr_de":"704\tKr\u00e4fte und Oestaltungon Im molecularon Gebiet.\ngemein in doppelter Art denken. Entweder sind die verschiedenen anziehenden und abstossenden Kr\u00e4fte in dem Amor gleichartig oder aber ungleichartig angeordnet.\nDie gleichartige Anordnung der Kr\u00e4fte, \u2014 m\u00f6gen dieselben gleichm\u00e4sssig durch die Substanz des Amers vertheilt, m\u00f6gen sie in dessen Centrum vereinigt oder \u00fcber seine 01 >erfl\u00e4che ausgebreitet sein, hat zur Folge, dass die Differenz der anziehenden und abstossenden Kr\u00e4fte nach allen Seiten hin gleich wirkt, und dass die Anziehung oder Abstossung zweier bestimmter Amere lediglich eine Function der Entfernung ist. Denn wir m\u00fcssen jedenfalls annehmen, dass Attraction und Repulsion aller Elementarkr\u00e4fte sich in derselben Weise, n\u00e4mlich nach dem reciproken Verh\u00e4ltniss des Quadrats der Entfernung bemisst. Bei gleichartiger Anordnung wird die dynamische Beziehung zweier Amere, die sich in irgend einer Entfernung (d) von einander befinden, einfach durch den Ausdruck\n\\AA,\u2014+\t\u00df) (\u00ab,-/\u00bb,) + (o\u2014-L\ndargestellt (vgl. S. 703).\nDie ungleichartige Anordnung dagegen, bei welcher die Kr\u00e4fte eine verschiedene Stellung im Amer haben, die einen auf dieser, die andern auf jener Seite, die einen im Innern, die andern an der Oberfl\u00e4che vorherrschend sind, bedingt nothwendig eine wechselnde Gesammtwirkung nach verschiedenen Seiten und bei verschiedenen Entfernungen. Diese Gesammtwirkung wird um so ungleicher, je geringer die Entfernung zwischen den Ameren ist; erst bei einem Abstande, gegen welchen der Durchmesser des Amers verschwindet, wird die Gesammtwirkung constant. Bei ungleichartiger Anordnung der Kr\u00e4fte l\u00e4sst sich die dynamische Beziehung zweier Amere, die sich in einem bestimmten Abstande von einander befinden, nicht durch einen einfachen arithmetischen Ausdruck, wie dies bei der gleichartigen Anordnung der Fall ist, wiedergeben, da jedem einzelnen Kr\u00e4fteproduct wahrscheinlicher Weise ein anderer durch die Entfernung bedingter Coefficient zukommt: AAX i, BBX ~ ca, -L u. s. w.\n\u201c\t\u00bbu\nVon den beiden eben erw\u00e4hnten M\u00f6glichkeiten ist bloss die letztere annehmbar. Die ungleichartige Anordnung der Elementarkr\u00e4fte im Amer ist einerseits schon im Voraus theoretisch nothwendig, und andrerseits entspricht sie allein der Erfahrung. Was","page":704},{"file":"p0705.txt","language":"de","ocr_de":"2. Agglomeration und Digpeniion dor Amere.\t795\nzuerst die Theorie betrifft, so ist folgendes zu bemerken. Die Amere sind, wie alle endlichen Dinge, selbst wieder aus Partikeln zusammengesetzt, an denen die Kr\u00e4fte haften. Sind diese Partikeln beweglich so m\u00fcssen die einzelnen Kr\u00e4fte eine ihrer Wirksamkeit entsprechende J^ago annehmen, die Gravitationsanziehung muss vorzugsweise im Innern des Amers concentr\u00e9, die Aetherabstossung vorzugsweise in \u00ablen oberfl\u00e4chlichen Partien ausgebreitet, die a-Isagit\u00e4t mehr auf der einen, die /Msagitftt mehr auf der andern Seite des Amers angeh\u00e4uft und ausserdem m\u00fcssen diese Kr\u00e4fte nebst der Elektricit\u00e4t unregelm\u00e4ssig* vertheilt sein. Sind aber die Partikeln unbeweglich, so muss eine solche ungleiche Anordnung der Kr\u00e4fte zu Stande gekommen sein, als die Amere sich aus ihren Theilen aufbauten.\nWas dagegen die Erfahrung betrifft, so wissen wir, dass die ponderalieln Massen aus Atomen und Molek\u00fclen liestehen, die durch Zwischenr\u00e4ume getrennt und gegen einander beweglich sind. Ein solcher Zustand ist wohl nur erkl\u00e4rlich, wenn die Elementarkr\u00e4fte in den Ameren ungleichartig angeordnet sind. Denn bei gleichartiger Anordnung w\u00fcrden sie als Centralkr\u00e4ftc wirken und in diesem Falle k\u00f6nnte den ponderabeln K\u00f6rpern keine Elasticit\u00e4t zukommen. Die Anziehung ihrer Amere w\u00e4re unter allen Umst\u00e4nden bloss eine Function der Entfernung zwischen den dynamischen Mittelpunkten derselben, und die Ann\u00e4herung zweier Amere m\u00fcsste stets bis zur Ber\u00fchrung fortschreiten, wo die Anziehung dann ihr Maximum erreichte. Es m\u00fcssten aber nicht bloss je zwei, sondern \u00fcberhaupt alle Amere, in denen die anziehenden Kr\u00e4fte \u00fcberwiegen, das Bestreben besitzen, sich bis zur Ber\u00fchrung zusammenzuballen und agglomerirte Massen zu bilden, die continuirlich, ohne Zwischenr\u00e4ume, ohne Gliederung in Theile, absolut starr, ohne Dehnbarkeit und Elasticit\u00e4t, ohne die M\u00f6glichkeit, in einen fl\u00fcssigen und gasf\u00f6rmigen Zustand \u00fcberzugehen, w\u00e4ren.\nErfahrung und Theorie sprechen also \u00fcbereinstimmend gegen die Annahme einer gleichartigen Anordnung der Elementarkr\u00e4fte im Amer. Bei der ungleichartigen Anordnung, mit der auch ein unregelm\u00e4ssiger innerer Bau und eine unregelm\u00e4ssige \u00e4ussere Gestalt des Amers Hand in Hand gehen muss, ist besonders die \u00fcberwiegend oberfl\u00e4chliche Lage der Aetherabstossung wichtig in Verbindung mit dem Umstande, dass dieselbe entsprechend der unregelm\u00e4ssigen Form des Amers an einzelnen Seiten und Stellen in gr\u00f6sserer Menge\nT. Nftgeli, AbcUmmongaltbro.\t45","page":705},{"file":"p0706.txt","language":"de","ocr_de":"706\nKr\u00e4fte and Gestaltungen im molecalaren Gebiet.\nangeh\u00e4uft ist (\u00e4hnlich wie freie Elektricit\u00e4t an der Oberfl\u00e4che eines K\u00f6rpere). Es wird daher, auch wenn die Amere sich in Ruhe befinden sollten, immer einzelne Stellen geben, wo ihre vollst\u00e4ndige Ann\u00e4herung an einander unm\u00f6glich ist, und dies um so mehr, wenn zuf\u00e4llig die isagischen und vielleicht auch die elektrischen Kr\u00e4fte an den n\u00e4mlichen Stellen abstossend wirken.\nDie Summe der abetossenden Kr\u00e4fte innerhalb der Agglomerations k\u00f6rper, die ich oben im allgemeinen zu bestimmen gesucht habe (S. 698\u2014701), wird noch dadurch erh\u00f6ht, dass in \u00e4hnlicherWeise, wie ponderable Amere in die Amergruppen der Aetherzeretreuung aufgenommen werden, auch Aetheramere (d. h. solche, in denen die Aetherabstossung gr\u00f6sser ist als die Gravitationsanziehung) in die Agglomerationen eintreten m\u00fcssen; denn es wird dies nur davon abh\u00e4ngen, dass in einer bestimmten Gruppirung von ponderabeln Ameren durch die \u00fcberwiegende isagische und elektrische Anziehung die Einf\u00fcgung von Aetheratomen erm\u00f6glicht werde.\nDie Agglomerationsmassen k\u00f6nnten also schon dann, wenn ihre innere Beschaffenheit bloss von den daselbst befindlichen anziehenden und abstossenden Kr\u00e4ften abh\u00e4ngen w\u00fcrde, nicht durchaus solid sein; sondern sie m\u00fcssten zahlreiche L\u00fccken zwischen den Ameren enthalten und dadurch einige Dehnbarkeit und Elasticit\u00e4t besitzen. Dies ist aber um so mehr der Fall, als neben den wirksamen Elementarkr\u00e4ften noch ein anderer ebenso wichtiger Factor maassgebend ist, n\u00e4mlich die Bewegung. Die Amere sind an und f\u00fcr sich nicht in Ruhe, sondern in lebhaftester Bewegung (8. 687). Im Zustand der vollst\u00e4ndigen Zerstreuung besitzen sie fortschreitende und rotirende Bewegungen. Vereinigen sie sich aber in zusammenh\u00e4ngende Gruppen, so bleiben die fortschreitenden und rotirenden Bewegungen nur den Gruppen, gestalten sich aber f\u00fcr das einzelne Amer unter\ndem hemmenden Einfluss der benachbarten Amere zu schwingenden Bewegungen.\nDie Amere verhalten sich demnach bez\u00fcglich ihrer Bewegung gerade so wie die Atome und Molek\u00fcle, mit dem Unterschiede jedoch, dass ihre Geschwindigkeiten im allgemeinen die Moleculargeschwin-digkeiten in dem Maasse \u00fcbertreffen, als ihre Gr\u00f6sse hinter der Gr\u00f6sse der Atome und Molek\u00fcle zur\u00fcckssteht. Die Bewegung wird daher der Vereinigung der Amere in noch h\u00f6herem Grade entgegenwirken als es bei den unendlich viel gr\u00f6sseren Molek\u00fclen der Fall ist, und","page":706},{"file":"p0707.txt","language":"de","ocr_de":"2. Agglomeration and Dispersion der Amere.\t707\nauch iu den festesten Agglomerationen m\u00f6gen die durchschnittlichen Entfernungen der hin und her schwingenden Amere ziemlich betr\u00e4chtlich sein, und nirgends dauernde Ber\u00fchrungen bestehen.\nDie Vereinigungen der ponderabeln Amere m\u00fcssen \u00fcberhaupt einerseits von der Gr\u00f6sse der anziehenden und abstossenden Kr\u00e4fte und andrerseits von der Geschwindigkeit ihrer Bewegungen gerade so bestimmt werden, wie dies auf einer h\u00f6heren Stufe bei den Atomen und Molek\u00fclen der Fall ist. Die Agglomerationen der Amere m\u00fcssen, um die eben genannte Gr\u00f6ssenordnung zur Vergleichung zu w\u00e4hlen, von der H\u00e4rte des Diamants bis zur Fl\u00fcchtigkeit des Wasserstoffs sich abstufen, also Zust\u00e4nde darstellen, welche dem festen, fl\u00fcssigen und gasf\u00f6rmigen Aggregatzustande entsprechen. Wenn wir auch bloss scheinbar feste Agglomerationsk\u00f6rper, n\u00e4mlich die chemischen Atome kennen, so lassen sich doch die andern Zust\u00e4nde nicht von der Hand weisen, und was die fl\u00fcssigen Agglomerationen betrifft, so w\u00e4re es nicht unm\u00f6glich, dass dieselben sowohl im Innern als namentlich an der Oberfl\u00e4che der Atome vork\u00e4men.\nDer gasf\u00f6rmige Zustand der Ameragglomerationen ist zwar wesentlich verschieden von der Aetherzerstreuung, da in dem ersteren die Anziehung, in der letzteren die Abstossung zwischen den Ameren und Amergruppen \u00fcberwiegt, da somit der erstere sich wolkenartig zusammenballt oder Atmosph\u00e4ren um die festen Agglomerationen bildet, w\u00e4hrend die letztere stets soweit auseinander weicht als es der Raum gestattet.\nIm Uebrigen hat das ponderable Amergas, wenn dieser Ausdruck gestattet ist, die gr\u00f6sste Aehnlichkeit mit dem imponderabeln Welt\u00e4ther; es ist auch mit demselben an den Uebergangsstellen gemengt und l\u00e4sst sich meistens nicht scharf von demselben trennen. Ich werde es daher als ponderabeln Aether, oder, um einen bequemeren Ausdruck zu haben, als Schwer\u00e4ther (Baryaether) im Gegens\u00e4tze zum gew\u00f6hnlichen oder Leicht\u00e4ther (Welt\u00e4ther) bezeichnen. Beide bestehen aus freien Theilchen, welche ziemlich entfernt von einander sind und nach allen Richtungen durch einander fliegen, und welche theils einfache Amere theils Amergruppen sind. Von diesen haben weder die einen noch die anderen Best\u00e4ndigkeit, indem jedes einfache Amer die F\u00e4higkeit besitzt, sich unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden mit einem oder mit mehreren anderen Ameren zu vereinigen, und jede Gruppe dem Zerfall ausgesetzt ist, wenn sie\n45*","page":707},{"file":"p0708.txt","language":"de","ocr_de":"708\nKr\u00e4fte und Gestaltungen Im inolecularen Gebiet.\nin die N\u00e4he von Ameren mit hinreichend starker dynamischer Wirkung kommt, oder wenn sie einen hinreichend starken mechanischen Stoss erfahrt, oder wenn beide Ursachen Zusammentreffen.\nDie Agglomerationsk\u00f6rper orster Ordnung, die sich zun\u00e4chst aus den Ameren aufbauen, sind, so viel wir wissen, die Atome der chemischen Elemente. Dieselben verhalten sich zu den Ameren, ihrer Ausdehnung und ihrem Gewichte nach, wie eine endliche zu einer verschwindend kleinen Gr\u00f6sse; ein Atom besteht aus einer ungeheuren Zahl von Ameren, die sich wohl auf Billionen belaufen d\u00fcrfte. Ist dasselbe vereinzelt, wie im Quocksilberdampf l>ei gew\u00f6hnlicher und in anderen Gasen bei sehr hoher Temperatur, so muss es mit einer Atmosph\u00e4re von ponderabelm Aether umgeben sein. Denn es zieht selbstverst\u00e4ndlich von den fl\u00fcchtigen Ameren diejenigen am st\u00e4rksten an, bei denen die Gravitationsanziehung die Aether-abstossung am meisten \u00fcberwiegt.\nDiese Atmosph\u00e4re muss unmittelbar an der Oberfl\u00e4che des Atoms die gr\u00f6sste Dichtigkeit besitzen, und hier m\u00fcssen ihre Theilchen, indem sie von den anziehenden Kr\u00e4ften des Atomk\u00f6rpers fester gehalten werden, auch die geringste Beweglichkeit zeigen. Es ist selbst nicht unm\u00f6glich, dass der Atomk\u00f6rper allm\u00e4hlich in den Schwer\u00e4ther \u00fcbergehe, und dass der Uebergang durch die fl\u00fcssige Beschaffenheit seiner oberfl\u00e4chlichen Schicht vermittelt werde. Wahrscheinlich verhalten sich die verschiedenen chemischen Elemente r\u00fccksichtlich der mehr oder minder scharfen Sonderung dieser Partien ungleich. F\u00fcr alle chemischen Elemente aber muss die Regel gelten, dass die Dichtigkeit des Schwer\u00e4thers mit der Entfernung von der Oberfl\u00e4che des Atomk\u00f6rpers stetig abnimmt, und dass in der n\u00e4mlichen Richtung die Beweglichkeit und Fl\u00fcchtigkeit seiner Theilchen zunimmt. Die innere dichtere und weniger bewegliche Schale dieser nach aussen allm\u00e4hlich in den Leicht\u00e4ther sich verlierenden Atmosph\u00e4re will ich als die eigentliche Schwer\u00e4therh\u00fclle bezeichnen1).\nVereinigen sich die Atome zu Molek\u00fclen und die Molek\u00fclo zu festen und fl\u00fcssigen Massen, so sind alle Zwischenr\u00e4ume zwischen\n') Die Atmosph\u00e4re und die H\u00fclle von 8chwor\u00e4ther, von der ich hier spreche, d\u00fcrfen nicht mit der jctxt h\u00e4ufig angenommenen Aethcrsph\u00e4re der Atome und Molek\u00fcle verwechselt werden. Die letztere werde ich in \u00ablern folgenden Abschnitt besprochen.","page":708},{"file":"p0709.txt","language":"de","ocr_de":"3. Elastic! tttt.\n700\nilon Atomen und zwischen den Molek\u00fclen mit ihren Schwcr\u00e4ther-atmosphftren erf\u00fcllt. Zun\u00e4chst ist jedes Atom mit seiner Schwer\u00e4therh\u00fclle umgeben; und was noch an Raum zwischen diesen H\u00fcllen \u00fcbrig bleibt, wird von der verd\u00fcnnteren und beweglicheren \u00e4usseren Partie der Atmosph\u00e4ren eingenommen. Diese Partie zwischen den Schwer\u00e4therh\u00fcllen will ich den Zwischenh\u00fcll\u00e4ther nennen. \u2014 Die St\u00e4rke der beiden Partien des ponderabeln Aethers in den feston und fl\u00fcssigen K\u00f6rpern, n\u00e4mlich der Schwer\u00e4therh\u00fcllen und des Zwischenh\u00fcll\u00e4thers, wird je nach der Beschaffenheit und Anordnung der in den Atomk\u00f6rpern befindlichen Kr\u00e4fte, also nach der Natur der chemischen Elemente und Verbindungen, sehr ungleich sein und manchmal in einem gewissen Gegensatz zu einander stehen, sodass bei betr\u00e4chtlicher M\u00e4chtigkeit der H\u00fcllen wenig Raum f\u00fcr den Zwischenh\u00fcll\u00e4ther bleibt und umgekehrt. Das Gr\u00f6ssenverli\u00e4ltniss beider ist namentlich f\u00fcr die Fortpflanzung des Lichtes und der W\u00e4rme (\u00a7 5), sowie der Elektricit\u00e4t (\u00a7 G) von Wichtigkeit.\n3. Elasticity.\nDie Elasticit\u00e4t besteht darin, dass die kleinsten Theilchen eines K\u00f6rpers, wenn sie eino Dislocation durch Druck oder Zug erfahren hal>en, nach dem Aufh\u00f6ren des Druckes oder Zuges wieder in ihre fr\u00fchere Gleichgewichtslage zur\u00fcckkehren. Worin besteht die Ursache dieser Erscheinung? Man hat sie in der Aethersph\u00e4re finden wollen, welche jedes w\u00e4gbare Theilchen umgel>e, durch Abstossung die vollst\u00e4ndige Ann\u00e4herung der w\u00e4gbaren Theilchen verhindere und in Verbindung mit den anziehenden Kr\u00e4ften derselben einen Gleichgewichtszustand bei einer bestimmten Entfernung bedinge, in der Ai t, dass bei geringerem Abstand die Repulsion, bei gr\u00f6sserem Abstand dagegen die Anziehung gr\u00f6sser werde.\nDiese Theorie ist hervorgegangen aus der Annahme einfacher und starrer, mit Centralkr\u00e4ften ausger\u00fcsteter kleinster Theilchen, und sie war f\u00fcr diese Annahme der einzig m\u00f6gliche Ausweg. Sie theilt das Schicksal aller metaphysischen Vorstellungen \u00fcber die kleinsten Theilchen, dass sie n\u00e4mlich nur durch unnat\u00fcrliche Vorstellungen haltbar wird. Ich war selber fr\u00fclier ein Anh\u00e4nger dieser Theorie, und ich habe auch, nachdem ich mir schon die Amertheorie angeeignet","page":709},{"file":"p0710.txt","language":"de","ocr_de":"710\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\nhutte, mir noch alle M\u00fche gegeben, einen Weg zu finden, wie die Elusticit\u00e4t auf das Vorhandensein einer H\u00fclle von Aotheruniorcn um die Atome zur\u00fcckgeftihrt werden k\u00f6nnte. Allein es hat sich dies als ganz unm\u00f6glich erwiesen.\nBez\u00fcglich der gew\u00f6hnlichen Aethersph\u00e4renthcorie ist Folgendes zu bemerken. Nimmt man die ponderabeln Theilchen als kugelig und ihre Aethersph\u00e4ren als Kugelschalen an, und l\u00e4sst man somit Anziehung und Abstossung vom Centrum aus wirken, so kann der Gleichgewichtszustand zweier Theilchen nicht anders als, wie dies auch versucht wurde, durch die Gleichung\nA K\tn \u2022 A R\nTP = d\u2019V' o*1\u201c \u00bbllgomoin jr =\nausgedr\u00fcckt werden, wenn A die Anziehung der l>eiden w\u00e4gbaren Tlieilchen, Ii die Abstossung ihrer Aethersph\u00e4ren und d den Al>stand ihrer Mittelpunkte bezeichnet. Es ist einleuchtend, dass, wenn niun, vom Gleichgewichte ausgehend, d wachsen l\u00e4sst, der erste Ausdruck oder die Anziehungsgr\u00f6sse, wenn man dagegen d kleiner werden l\u00e4sst, der zweite Ausdruck oder die Abstossungsgr\u00f6sse das Uebcr-gcwicht erlangt.\nMan kann dieser L\u00f6sung das Pr\u00e4dicat der einfachen Eleganz gewiss nicht versagen. Allein man muss dabei die unphysikalische Vorstellung in den Kauf nehmen, dass moleeulare Anziehungen und Abstossungen oder wenigstens die letzteren nicht nach dem umgekehrten Verh\u00e4ltniss des Quadrats der Entfernung, sondern nach dem einer h\u00f6hern Potenz wirksam seien. Dieser Umstand allein zeigt uns, dass der Gleichung nur eine empirische und bildliche, keine rationelle Bedeutung zukommt, und dass die Vorstellung, die sich in ihr ausspricht, eine real unm\u00f6gliche ist.\nEin anderer bedenklicher Umstand besteht darin, dass f\u00fcr die Constituirung einer solchen Aethersph\u00e4re die Annahme einer neuen Kraft nothwendig wird, welche theoretisch sich nicht rechtfertigen l\u00e4sst. Die ponderalxdn Atome m\u00fcssten n\u00e4mlich die Aethertheilchen anziehou. Da zu einer solchen Anziehung die entsprechende Abstossung mangelt, so w\u00e4re dies ein Verstoss gegen das Gesetz der Symmetrie der Kr\u00e4fte, welches doch als eine vernunftgem\u00e4sse Forderung so lange festgehalten werden muss, als es zur Erkl\u00e4rung des Bestehenden ausreicht. Wir d\u00fcrften daher zu dieser Vorstellung einer","page":710},{"file":"p0711.txt","language":"de","ocr_de":"3. Ela\u00abticit\u00e2t.\n711\nAothersph\u00e4re erst dann Zuflucht nehmen, wenn keine andere Vorstellung m\u00f6glich w\u00e4re. \u2014 Ich will nur noch beil\u00e4ufig bemorken, dues die fragliche Anziehung zwischen pondembeln. .und Aetlier-******* ^sser sein m\u00fcsste als die andern bekannten Kr\u00e4fte, da sie die Attraction, die zwischen den ponderabeln Theilchen besteht, \u00fcberwinden und die Aethertheilchen trotz ihrer gegenseitigen Repulsion zusammenh\u00e4ufen w\u00fcrde.\nVerl\u00e4sst man den metaphysischen Boden von kleinsten, durch Centralkr\u00e4fte wirksamen Theilchen und brachtet man die chemischen Atome oder die kleinsten uns bekannten K\u00f6rperchen der w\u00e4gbaren Materie als vielfach zusammengesetzt, so kann man zwar auch auf nat\u00fcrlichem Wege unter der Voraussetzung, dass kein pon-derabler Aether vorhanden sei, eine H\u00fclle von Ameren des eigentlichen oder Leicht\u00e4thers um dieselben construire^ allein diese H\u00fcllo vermag in keiner Weise das zu leisten, was zur Erkl\u00e4rung der Elasticit\u00e4t als Gleichgewichtszustand zwischen Anziehung und Ab-stossung nothwendig w\u00e4re. \u2014 Sind die Amere mit den 6 Elementarkr\u00e4ften ausgestattet, wie ich es angenommen habe, so werden sich Amere dos Leicht\u00e4thers an die Oberfl\u00e4che von Agglomerationsk\u00f6rpern aulegen, wenn der Ueberschuss der Aetherabstossung \u00fcber die Gravitationsanziehung durch die Attraction der elektrischen und isagischen Kr\u00e4fte mehr als aufgewogen wird. Es werden also solche Aether, amere an der 01*>rfl\u00e4che eines Atoms festhaften, welche im Vergleich mit diesem die ungleichnamige Elektricit\u00e4t und die gleichnamige Isagit\u00e4t im Ueberschuss enthalten. Ist beispielsweise das Atom positiv elektrisch und vorwiegend o-isagiscli, so legen sich Aether-amere an dasselbe an, die negativ elektrisch und ebenfalls vorwiegend \u00ab-isagisch sind. Aber in allen F\u00e4llen k\u00f6nnen diese Aetheramerc nur eine sehr sp\u00e4rliche und wirkungslose H\u00fclle bilden, da ihre nat\u00fcrliche gegenseitige Aetherabstossung, die hier noch durch ihre gleichnamigen Elektricitflten verst\u00e4rkt wird, eine gr\u00f6ssere Anh\u00e4ufung verhindert.\tr\nW\u00fcrde aber auch, im Widerspruch mit den gegebenen Verh\u00e4ltnissen, eine beliebige Zahl von Leicht\u00e4therameren jedes Atom zu umh\u00fcllen verm\u00f6gen, so w\u00e4re damit f\u00fcr die Elasticit\u00e4t nichts gewonnen, wenn man nicht wieder die Abstossung nach einer h\u00f6hern Potenz der Entfernung wirken lassen wollte als die Anziehung. Bloss wenn bei unregelm\u00e4ssiger Gestalt der Atome die Aetliersph\u00e4re an","page":711},{"file":"p0712.txt","language":"de","ocr_de":"712\nKrttfte und Gentaltungen im molecolaren Gebiet.\nbesonderen Stellen eine gr\u00f6ssere M\u00e4chtigkeit besflsse, so k\u00f6nnte an diesen Seiten ein Gleichgewichtszustand f\u00fcr einen bestimmten Abstand\n(d) \u00abintreten, nach def Gleichung ^ indem hierin mit der\nZunahme von d die Anziehung, mit der Abnahme von d die Ab-stossung gr\u00f6sser wird. An den \u00fcbrigen Seiten dagegen, wo die Aethersph\u00e4re weniger m\u00e4chtig w\u00e4re, w\u00fcrden sich die Atome bis zur Ber\u00fchrung n\u00e4hern; denn, wollte man die Aetheramere auf allen Seiten in hinreichender Menge anli\u00e4ufen, so m\u00fcsste die Gesammt-abstossung je zweier Atome gr\u00f6sser werden als ihre Gesammtanziehung und damit w\u00e4re ein Gleichgewichtszustand wieder unm\u00f6glich gemacht.\nEs ist nach dem Gesagten sicher, dass die Elasticit\u00e4t der w\u00e4g-aien K\u00f6rper sich nicht durch die Leicht\u00e4thersph\u00e4ren ihrer Atome und Molek\u00fcle erkl\u00e4ren lassen. Wir m\u00fcssen jedenfalls das Geheimniss der Elasticit\u00e4t viel weiter r\u00fcckw\u00e4rts verlegen. Wir m\u00fcssen nicht nur den Atomen und Molek\u00fclen, sondern auch den Ameren eine a ui iche Elasticit\u00e4t, wie wir sie an zusammengesetzten K\u00f6rpern kennen, zuschreiben, und die Ursachen davon in inneren, mit dem zusammengesetzten Bau gegebenen Kr\u00e4ften suchen. Zwei Elfenbein-kugeln stossen sich beim Zusammenprall ab, ohne dass besondere epulsionskr\u00e4fte an ihrer Oberfl\u00e4che wirksam w\u00e4ren. Es ist kein Grund vorhanden, warum die Molek\u00fcle und Atome der Gase, der ussigkeiten und festen K\u00f6rper nicht ebenso sich verhalten sollten.\nWenn man eine Gasmasse zusammendr\u00fcckt, so vermehrt sich ihre Spannung, sie \u00fcbt ihrerseits einen entsprechend gr\u00f6sseren Druck aus, weil ihre Molek\u00fcle um so h\u00e4ufiger an einander und an die Wandungen anstossen, und sie nimmt nach dem Aufh\u00f6ren des Dmckes wieder ihr fr\u00fcheres Volumen ein. Dr\u00fcckt man einen festen oder fl\u00fcssigen K\u00f6rper zusammen, so tritt die n\u00e4mliche Erscheinung ein weil die kleinsten Theilchen mit ihren schwingenden, zuinTheil auch fortschreitenden Bewegungen h\u00e4ufiger an einander und an den K\u00f6rper, der den Druck aus\u00fcbt, anstossen. Wird der K\u00f6rper, mag er gasf\u00f6rmig fl\u00fcssig oder fest sein, auseinander gezogen, so findet das Gegonthe.1 statt, indem sich die Spannung vermindert und der\nK\u00f6rper kehrt beim Aufh\u00f6ren des Zuges ebenfalls in seine fr\u00fcheren Dimensionen zur\u00fcck.\nDie Elasticit\u00e4t gestaltet sich aber f\u00fcr die verschiedenen Aggregat, zustande etwas ungleich nach den besonderen Molecularbewegungen,","page":712},{"file":"p0713.txt","language":"de","ocr_de":"3. Klawticitiit.\n713\ndtircli welche dieselben Ixxlingt weiden. Einmal sind die Gase, entsprechend ihren ungleich gr\u00f6sseren durchschnittlichen Molecular-abst\u00e4nden, viel dehnbarer, \u00e4ndern somit bei Druck oder Zug ihre Dimensionen in viel st\u00e4rkerem Grude als die fl\u00fcssigen und festen K\u00f6rper. In den Gasen und Fl\u00fcssigkeiten ist ferner die Aenderung in der Spannung und damit die Ausdehnung oder Zusammenziehung m allen Richtungen gleich gross, weil ihre Theilchen nach allen Richtungen verschiebbar sind. In den festen K\u00f6rpern, deren Theilchen bloss um eine Gleichgewichtslage schwingen und nicht verschiebbar sind, \u00e4ndern sich die Spannungen und die Dimensionen m verschiedenen Richtungen in ungleichem Maasse.\nDer kleinste zusammengesetzte feste K\u00f6rper, den wir aus Erfahrung sicher kennen, ist das Molek\u00fcl einfacher Gase, bestehend aus zwei Atomen. Diese Atome schwingen gegen einander in gleicher Weise, wie eine vollkommen elastische Kugel, die man auf einen vollkommen elastischen Boden fallen liesse, immer wieder auf die gleiche H\u00f6he springen w\u00fcrde, wenn die Luft keinen Reibungswiderstand darb\u00f6te. Die beiden Atome, welche gegen einander prallen, werden durch ihre Elasticit\u00e4t zur\u00fcck und durch die gegenseitige Anziehung wieder gegen einander geworfen.\nWie die Atome verhalten sich die Amcre. Dass der Welt\u00e4ther elastisch ist, steht schon lange fest. Doch liesse sich die Elasticit\u00e4t semer Theilchen auch bloss aus der Abstossung derselben erkl\u00e4ren. Sind sie aber selber elastisch und fliegen sie wie die Molek\u00fcle eines Gases durcheinander, so verleiht ihnen die \u00fcberwiegende Abstossung keine neue und besondere Eigenschaft ; sie verhindert bloss bei hinreichender St\u00e4rke ihre Ann\u00e4herung bis zur vollst\u00e4ndigen Ber\u00fchrung. Die mit geringerer Repulsionskraft begabten Aethertheilclien aber und alle ponderabeln Arnere k\u00f6nnen bloss durch ihren zusammengesetzten Bau elastisch sein.\nWenn die Arnere selber elastisch sind, so erkl\u00e4rt sich die Elasticitilt der Atome in gleicher Weise wie die Elasticit\u00e4t einer Llfenbeinkugel. Die Arnere, die ein Atom zusanimensetzen, sind fortw\u00e4hrend in schwingender, vielleicht theilweise auch in fortschreitender Bewegung begriffen, und der Effect eines Stosses auf em Atom ist kein anderer als der, dass seine Arnere h\u00e4ufiger gegen einander und gegen den anstossenden K\u00f6rper anprallen. \u2014 Mit R\u00fccksicht auf andere Erscheinungen ist es wahrscheinlich, dass","page":713},{"file":"p0714.txt","language":"de","ocr_de":"714\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\nhierbei nicht die Atomk\u00f6rper unmittelbar und allein wirksam sind. Vielmehr sind es ihre ponderabeln Aotherh\u00fcUen, welche den Stoss zun\u00e4chst empfangen, durch denselben am st\u00e4rksten zusammengedr\u00fcckt werden, somit aucli den meisten Widerstand leisten und erst mittelbar den elastischen Atomk\u00f6rper in Mitleidenschaft versetzen.\nWorauf die Elasticit\u00e4t der A mere beruhe, l\u00e4sst sich nicht weiter verfolgen. Wir d\u00fcrfen aber die sichere Ueberzeugung hegen, dass die Amere nichts starres und einfaches sein k\u00f6nnen und dass sie selber wieder aus Theilchen zusammengesetzt sein m\u00fcssen. Aber da die Analyse des kraftbegabten Stoffes endlos ist und nicht bis zu den metaphysischen Einheiten vorzudringen vermag, so langt sie fr\u00fcher oder sp\u00e4ter bei der Grenze an, jenseits welcher das Unbekannte beginnt. Hinter dieser Grenze liegt in dem vorhegenden Fall die Elasticit\u00e4t der Amere.\nIn allen Gebieten der Zusammensetzung kann die Elasticit\u00e4t eines K\u00f6rpers nur durch Anziehung und Abstossung in Verbindung mit Bewegung seiner Theilchen zu Stande kommen, und zwar muss es als um so g\u00fcnstiger erachtet werden, je mehr die abstossendon Kr\u00e4fte quantitativ den anziehenden Kr\u00e4ften sieh n\u00e4hern. Nun enthalten die w\u00e4gbaren K\u00f6rper, wie aus der rein theoretischen Erw\u00e4gung hervorgeht, von den beiden Elementarkr\u00e4ften, auf die es hier vorzugsweise ankommt, wenigstens halb so viel Aetherabstossung als Gravitationsanziehung (S. 698\u2014701), und wie aus anderen Betrachtungen, die der Theorie durch Erfahrangsthatsachen zu H\u00fclfe kommen, sich ergibt, kann in den genannten K\u00f6rpern die Gesammtmenge der Aetheralistossungs-kr\u00e4fte nur sehr wenig hinter der Gesammtmenge der Gravitationskr\u00e4fte Zur\u00fcckbleiben (vgl. \u00a7 4 Schwerkraft).\nDie anziehenden und die abstossenden Kr\u00e4fte sind ungleich durch die Materie vertheill; die abstossenden Kr\u00e4fte haben, soweit sie beweglich, die Neigung, sich an der Oberfl\u00e4che der Stofftheilchen imd, da diese eine unregelm\u00e4ssige Gestalt liesitzen, an den vorspringenden Ecken derselben, in gleicher Weise wie die freie Elektricit\u00e4t in einem K\u00f6rper, anzuh\u00e4ufen. An solchen Stellen m\u00fcssen, auch wenn die Theilchen in Ruhe gedacht werden, L\u00fccken zwischen ihnen bestehen, und diese m\u00fcssen um so gr\u00f6sser und um so h\u00e4ufiger vorhanden sein, je betr\u00e4chtlicher die Summe der abstossenden Kr\u00e4fte im Ver-h\u00e4ltniss zu den anziehenden ausf\u00e4llt. Auch die elektrischen und isagischen Kr\u00e4fte m\u00fcssen wegen ihrer ungleichen Verkeilung, wenn","page":714},{"file":"p0715.txt","language":"de","ocr_de":"3. Elasticity.\n715\nmiel, in geringeren, Maas\u2122, Veranlassung su solchen L\u00fccken gelam\nU,c Substanz h\u201c\u2018 *>\u00bb\u2022\u00ab von Nulur eine mehr oder weniger aus-gesprochene, schwammige Beschaffenheit und ein grosseres oder geringeres Mmes von Dehnbarkeit, in Folge dessen auch eine mehr - oder weniger betr\u00e4chtliche Elasticit\u00e4t.\nDies muss f\u00fcr alle Stufen der Zusammensetzung gelten und somit den K\u00f6rpern h\u00f6herer und niederer Gr\u00f6ssenordnungen Elasticitiit zukommen, so auch den chemischen Atomen wegen der l\u00fcckenhaften Zusammenordnung ihror Amere und den Ameren sellier wogen \u00e4hnlicher Zusammenordnung ihrer Theilchen.\nDenken wir uns nun vorerst die Theilchen eines festen K\u00f6riiers, lie.spielsweise die chemischen Atome, in Ruhe. Ihre Zusammenordnung muss den vorhin er\u00f6rterten Charakter zeigen. Die beweglichen Kr\u00e4fte, von denen in dem vereinzelten Atom die anziehenden sich im Innern, die abstossenden in den oberfl\u00e4chlichen Partien an-h\u00e4ufen w\u00fcrden, ordnen sich unter dem Einfluss der beweglichen Kr\u00e4fte in den benachbarten Atomen dergestalt an, dass der gr\u00f6ssten Anziehung eine Gen\u00fcge geleistet und der festeste Zusammenhang hervorgebracht wird. Es ber\u00fchren sich die Atome an einzelnen Stellen, w\u00e4hrend sich an anderen Stellen L\u00fccken zwischen 3, 4 und mehr Atomen befinden, die mit Zwischenh\u00fcll\u00e4ther (S. 708) erf\u00fcllt sind. An den letzteren Stellen sind die beweglichen Repulsionskr\u00e4fte angesammelt. An den Ber\u00fchrungsstellen liegen die Schwer\u00e4therh\u00fcllen\n(8. 709) dicht aneinander, sind auch nach Umst\u00e4nden theilweise verdr\u00e4ngt.\nDurch mechanische Angriffe von aussen, welche das bestehende Gleichgewicht der Kr\u00e4fte zu \u00fcberwinden verm\u00f6gen, n\u00e4mlich durch Druck oder Zug, wird die Anordnung der Atome etwas verschoben. Lurch Druck werden die hohlen R\u00e4ume, und damit die Dimension des ganzen K\u00f6rpers in der Druckrichtung verkleinert, dagegen in den zur Druckrichtung rechtwinkligen Ebenen, weil die beweglichen Abstossungskr\u00e4fte an der Oberfl\u00e4che der Hohlr\u00e4ume seitlich aus-weichen, vergr\u00f6ssert. Zug bewirkt die entgegengesetzte Ver\u00e4nderung: Ve'gr\u00f6sserung der Hohlr\u00e4ume und der Dimension des K\u00f6rpers in der Richtung des Zuges und, weil in Folge dessen die beweglichen Repulsionskr\u00e4fte nach den beiden Seiten der verl\u00e4ngerten Hohlr\u00e4ume hinstr\u00f6men, Verkleinerung der letzteren und mit ihnen der K\u00f6rperdimensionen in den zum Zug senkrechten Ebenen. Nach dem","page":715},{"file":"p0716.txt","language":"de","ocr_de":"716\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\nAufh\u00f6ren des Druckes oder Zuges kehren die Atome in die fr\u00fchere Gleichgewichtslage zur\u00fcck. Der K\u00f6rper ist, wiewohl seine Tkeilchen sich in Ruhe befinden, elastisch.\nNun sind aber die Theile der K\u00f6rper h\u00f6herer und niederer Gr\u00f6ssenordnungen nicht in Ruhe; die chemischen Atome befinden sich stets in lebhafter und die Amere in noch viel lebhafterer Bewegung. Dadurch wird die Elasticitftt der K\u00f6rper gesteigert und in bestimmter Weise geregelt. In Folge der Bewegung sind die Atome nirgends in dauernder, sondern nur periodisch in momentaner Ber\u00fchrung, so oft sie gegen einander prallen, um durch ihre Elasticit\u00e4t wieder zur\u00fcckgeworfen zu werden; sie schweben isolirt ira Raume, wenn auch bestimmte Stellen stets nur durch sehr kleine Zwischenr\u00e4ume getrennt sind, und die Zahl der St\u00f6sse, die sie auf einander aus\u00fcben, l)edingt das Maass der Expansion. Wird das Gleichgewicht, das zwischen den Wirkungen der Atomst\u00f6sse, den abstossenden und anziehenden Kr\u00e4ften besteht, durch \u00e4usseren Eingriff (Stoss oder ^uf>) gest\u00f6rt, so tritt die Elasticit\u00e4t des K\u00f6rpers in Wirksamkeit, indem dieselbe seine fr\u00fcheren Dimensionen und damit das Gleichgewicht herzustellen sucht. \u2014 So beruht also die Elasticit\u00e4t eines K\u00f6rpers von fester oder fl\u00fcssiger Beschaffenheit auf der ungleichen Vertlieilung der in seinem Innern befindlichen, anziehenden und abstossenden Kr\u00e4fte, sowie weiterhin auf der Bewegung und Elasticit\u00e4t seiner Theilchen.\n4. Schwerkraft\nDas Gesetz der Schwere oder das Gravitationsgesetz wird so ausgedr\u00fcckt, dass ein jeder K\u00f6rper auf einen andern K\u00f6rper nach dem Verh\u00e4ltniss seiner Masse einwirke, und dass die Anziehung zwischen zwei K\u00f6rpern gleich sei dem Product aus den beiden\nMassen, getheilt durch das Quadrat der Entfernung, also \u2014-*\u2022\nMasse aber wird als Quantit\u00e4t von Stoff oder Materie erkl\u00e4rt und die Gleichheit zweier Massen an die Bedingung gekn\u00fcpft, dass sie durch die n\u00e4mliche Kraft in der Zeiteinheit gleiche Beschleunigung erfahren. Diese Begriffe wurden durch Pendelversuche und durch die Bewegungen der Himmelsk\u00f6rper festgestellt.","page":716},{"file":"p0717.txt","language":"de","ocr_de":"4 Schwerkraft.\n717\nNach der in den beiden ersten Abschnitten dieser Abhandlung entwickelten dynamischen Amertheorie ist die Anziehung zweier ponderabeln K\u00f6rper gleich der Summe der Anziehungen zwischen a len Ameren des einen und allen Ameren des andern K\u00f6rpers weniger der Summe aller Abstossungen zwischen den Ameren der beiden K\u00f6rper. Nehmen wir die Bezeichnungen, die fr\u00fcher f\u00fcr die Kr\u00e4fte des einzelnen Amers gebraucht wurden, jetzt f\u00fcr die in einem K\u00f6rper vorhandenen Summen dieser Kr\u00e4fte, bezeichnen wir also die Summe der Gravitationskr\u00e4fte in dem einen K\u00f6rper mit A, in dem andern mit A\u201e die Summen der Aetherabstossungskr\u00e4fte mit B und B\" ferner die Mengen der positiven Isagit\u00e4t mit a und a,, die der negativen mit \u00df und \u00df\u201e endlich die Mengen der positiven Elektricit\u00e4t mit o und a\u201e die der negativen mit b und b\u201e so sind in dem einen K\u00f6rper die Kr\u00e4ftesummen A, B, \u00ab, \u00df, a und 6, in dem andern die r\u00e4ftesummen A\u201e B\u201e a\u201e \u00dfu o, und b, wirksam und die gesammten dynamischen Einwirkungen der beiden K\u00f6rper auf einander bestehen in den zwei Summen (wie S. 702)\nGesammtanziehung AA, -f aa, -f- \u00df\u00df, -j_ ab, -f- 6a,\tI\nGesammtabstossung BB, -f a\u00df, + \u00dfa, + aa, + bb,\tII\nund die Gesammtanziehung weniger die Gesammtabstossung ist\nAA, BB, -|- (a\u2014\u00df)(a,\u2014\u00df,) -f- (0 \u2014 b)(b, \u2014 a,)\tIII\nDiese Formel enth\u00e4lt also den wirksamen Ueberschuss der Anziehung zwischen den beiden K\u00f6rpern, welcher, wenn dieselben frei beweglich sind, ihre bestimmte Beschleunigung gegen einander bedingt. Wenn es sich um gr\u00f6ssere K\u00f6rper handelt, die aus verschiedenen chemischen Verbindungen bestehen, so k\u00f6nnen die zwei letzten Ausdr\u00fccke in der Formel III vernachl\u00e4ssigt werden, weil dann die beiden Isagit\u00e4ten und ebenso die beiden Elektricu\u00e4ten\nnahezu in gleichen Mengen vorhanden sind. Die Ausdr\u00fccke (a__\u00df)\n(\u00ab.\u2014/?,) und (a b) (b,\u2014a,) m\u00fcssen n\u00e4mlich jeder f\u00fcr sich um so eher Null werden, je umfangreicher die K\u00f6rper und je zahlreicher ihre chemischen Elemente sind. Dies wird vor allem eintreffen bei der Einwirkung der Himmelsk\u00f6rper auf einander. W\u00e4re es nicht der Fall, h\u00e4tten z. B. die Planeten und die Sonne bedeutende Mengen freier Elektricit\u00e4t und w\u00e4re die Elektricit\u00e4t bei den einen positiv, bei den anderen negativ, so w\u00fcrde die Massenanziehung in den einen ( ombinationen durch die elektrische Anziehung vermehrt, in den anderen durch die elektrische Abstossung vermindert, und es m\u00fcssten","page":717},{"file":"p0718.txt","language":"de","ocr_de":"Kr\u00e4fte and Oestaltungon Ina molecularen Gebiet.\nSt\u00f6rungen in dom Gravitationsgesetz, welches nur die Massen ber\u00fccksichtigt, bemerkbar werden.\nDie von der Isagit\u00e4t und Elektricit\u00e4t bedingten dynamischen Einwirkungen d\u00fcrfen aber, auch wenn gr\u00f6ssere K\u00f6rper (d. h. solche von nicht molecularer Kleinheit) in Frage kommen, nicht mehr vernachl\u00e4ssigt werden, wenn dieselben aus einem einzigen chemischen Element bestehen, weil dann sehr wahrscheinlich die eine der beiden Isagit\u00e4ten und ebenso die eine der beiden Elektricit\u00e4ten im Uelier-schuss vorhanden ist. So verhalten sich beispielsweise U Schwefel, 1* Blei und 1\u00ab Magnesium gegen\u00fcber der elektrisch und isagiscli neutralen Erde vollkommen gleich und sie w\u00fcrden, als Pendel benutzt, die n\u00e4mliche Schwingungsdauer ergeben. W\u00e4ren aber die Untersuchungsmethoden von hinreichender Genauigkeit, so w\u00fcrde sich ohne Zweifel nachweisen lassen, dass, wie es die Amertheoric verlangt, gleiche Gewichte der genannten Stoffe nicht die gleiche dynamische Bedeutung besitzen, dass 1\u00ab Schwefel auf 1\u00ab Schwefel,\nauf le Blei und auf 1\u00bb Magnesium eine ungleiche Einwirkung aus\u00fcbt.\nBei der Anziehung grosser, aus vielen Elementen bestehender K\u00f6rper, namentlich der Himmelsk\u00f6rper, kommen also bloss die Gravitationskr\u00e4fte und die Aetlierabstossungskr\u00e4fte in Betracht und es reducirt sich die gegenseitige dynamische Einwirkung zweier K\u00f6rper auf die Formel\nAAt\u2014BBt\tjy\nD\u00fcrfte hierin der die Aetherabstossung enthaltende Ausdruck BB\" wie es mit den Ausdr\u00fccken der Isagit\u00e4t und der Elektricit\u00e4t der Fall ist, ebenfalls als sehr klein vernachl\u00e4ssigt werden und w\u00e4re somit di6 bemerkbare dynamische Einwirkung bloss AAl, so h\u00e4tte man unmittelbar das, was das Gravitationsgesetz verlangt, indem dann A und At die Massen der beiden K\u00f6rper ausdr\u00fcckten. Die Vernachl\u00e4ssigung von BBt ist aber nicht statthaft; die Aetherabstossung innerhalb der ponderabeln K\u00f6rper muss einen im Ver-hftltniss zur Gravitationsanziehung nicht unbetr\u00e4chtlichen Betrag ausmachen, wie uns die Elasticit\u00e4tserscheinungen zeigen, welche ohne sehr betr\u00e4chtliche Repulsionskr\u00e4fte im Innern der Atome und ihrer Bausteine der Amere gar nicht denkbar w\u00e4ren. Sind die Gravitations- und die Aethembstossungskr\u00e4fte nach der Amertheorie","page":718},{"file":"p0719.txt","language":"de","ocr_de":"4. Schwerkraft.\n719\nin abgostuften Mengen und nach allen m\u00f6glichen Verh\u00e4ltnissen auf die unendliche Menge der Amere vortheilt, so kann schon aus rein theoretischen Gr\u00fcnden die gesammte Aetherabstossung in den pon-\nderabetn K\u00f6rpern nicht weniger als I der gesammten Gravitations-anziehung ausmachen (S. 698\u2014701).\nDem Gravitationsgesetz w\u00e4re auch in unmittelbarer Weise Gen\u00fcge geleistet, wenn man annehmen d\u00fcrfte, dass in einem K\u00f6rper nur die Differenz der anziehenden und abstossenden Kr\u00e4fte th\u00e4tig sei. Diese Differenzen, in dem vorliegenden Fall A\u2014B und A,\u2014w\u00fcrden dann die Massen der K\u00f6rper m und m, angeben und die Anziehung der beiden K\u00f6iper w\u00e4re (A B) (A,\u2014!?,) = mm,. Ein solches Verfahren, das f\u00fcr die beiden Elektricit\u00e4ten sowie f\u00fcr die beiden Isagit\u00e4ten angewendet werden k\u00f6nnte, ist f\u00fcr die Gravitation und die Aetherabstossung nicht gestattet, da diese Kr\u00e4fte nicht auf einander wirken. Wir k\u00f6nnen uns also der Folgerung nicht entziehen, dass das Product der beiden Massen mm,, wie es die Mechanik annimmt, eigentlich dio Differenz zweier Product\u00ab ist, n\u00e4mlich\nmm, = AAl\u2014BBl\nSomit ist die Masse, wie sie in Gewichtseinheiten ausgedr\u00fcckt wird, nicht unmittelbar gegeben, sondern eine Gr\u00f6sse, die sich durch Rechnung bestimmen l\u00e4sst; sie ist kein realer, sondern ein symbolischer, f\u00fcr die Rechnung der Mechanik brauchbarer Werth. Nun sind aber wenigstens f\u00fcr die Himmelsk\u00f6rper unseres Sonnensystems die Massen constante Gr\u00f6ssen. Die Erde beispielsweise tritt der Sonne, dem Mond und den Planeten stets mit der gleichen Masse entgegen! so dass die Gravitationswirkungen zwischen 4 K\u00f6rpern, denen die Massen m, m\u201e m, und m3 zukommen, gleich sind den Producten wm', ww;> mms, m,m,, m,m,, w,m,. Ber\u00fccksichtigen wir die gesammten anziehenden und die abstossenden Kr\u00e4fte, so erhalten wir f\u00fcr die dynamischen Beziehungen zwischen den 4 K\u00f6rpern folgende 0 Gleichungen\nI. mm, = A Ai \u2014 B2?, und H. mm,=r AAt \u2014 BBt \u201e TH. m m, = A Aa \u2014 B B% ,,\nIV.\tm.m,^ A,A,\u2014 BtBt \u201e\nV.\tm, m,= A, A,\u2014B,B3 \u201e VI. m,m,= A,At -BtBa \u201e\nhieraus mm, = AA, (1 \u2014n\u00bb,) \u00bb mm*=r A A, (1 \u2014 nn,) ,, m m, \u2014 A A, (1\u2014 #iws)\n>i\tmlWj = ^,4, (1\u2014 ti,M])\n\u201e m,ms = AiAs (1\u2014n,\u00bb*j)\n,,\t= AjAs (1\u2014W,Wj)","page":719},{"file":"p0720.txt","language":"de","ocr_de":"720\nKrttfte und Gestaltungen im molocularen Gebiet.\nIn diesen Gleichungen ist mit A, A,t At, Aa die Summe der Gravitationskr\u00e4fte in jedem der 4 K\u00f6rper, mit B, B\u201e Bt, Bt die Summe der Aetherabstossungskr\u00e4fte bezeichnet. Die Ausdr\u00fccke der letzten Verticalcolumne wurden dadurch erhalten, dass B = nA, Bi = ntAlt Bt = tiiA, und Bs = \u00bb,A, gesetzt wurden.\n. wichtigste Frage ist nun, wie sich die Summen der Attractions-kr\u00e4fte und ebenso diejenigen der Repulsionskr\u00e4fte, im Vergleiche mit den berechneten Massen, zu einander verhalten, welches Verh\u00e4ltniss in dem vorliegenden Fall zwischen A, A\u201e A% und Aif ebenso zwischen B, Blt Bt und B, im Vergleich mit w, mIf m, und tna bestehe. Schon der blosse Anblick der 6 Gleichungen gibt die Ueberzeugung, dass in den eben genannten drei Reihen von Ausdr\u00fccken die n\u00e4mliche geometrische Proportionalit\u00e4t herrschen m\u00fcsse. Es l\u00e4sst sich dies \u00fcbrigens leicht durch Bestimmung der Werthe von \u00bb, \u00bb\u201e \u00bb, und \u00bb, beweisen. Ich will die Rechnung nicht ausf\u00fchrlich darlegen, sondern bloss andeuten, dass, wenn man die Gleichung II (S. 719), n\u00e4mlich mm, = ii,(l \u2014 \u00bb\u00bb,), durch die Gleichung IV, n\u00e4mlich m^tn^AiAt (1 \u2014\u00bb,\u00bb,), ferner die GleichungIII durch die Gleichung V dividirt, die zwei Gleichungen erhalten werden\n\u2014I =\t\u201d\u25a0 und mA; = 2^nn>\ntniA 1\u2014\u00bb,\u00bb, m XA 1\u2014\u00bb,\u00bb,\u2019\ni\ti\t1 \u2014 \u00bb \u00bb,\t1 \u2014 n \u00bb,\nnass also A\t^\u2014-, woraus durch Umformung die Gleichung\n\u00bb \u2014 \u00bb, sich ergibt.\nEbenso l\u00e4sst sich mit Hilfe der Gleichungen I und IV, III und VI zeigen, dass \u00bb = \u00bb,, ferner mit Hilfe der Gleichungen I, V, II, VI, dass n = \u00bb, u. s. w. Es ist also\n\u00bb \u2014- \u00bb, = \u00bb, = \u00bbj.\nDadurch erhalten die obigen 6 Gleichungen folgende Form\nI. mmi = A Ai (1\u2014 \u00bb*) n. mm, = A At (1\u2014 \u00bb2)\nIH. mm, \u2014 AA, (1\u2014\u00bb\u2019)\nIV.\tmlmJ=A,At (1\u2014\u00bb\u2019)\nV.\ttn,mJ = AlAll (1 \u2014 \u00bb*)\nVI. fnitni = AtA3 (!\u2014\u00bb*)","page":720},{"file":"p0721.txt","language":"de","ocr_de":"4. Schwerkraft.\t<7 21\nHieraus ergibt sich sofort m\t\u00c4 \u2014 B\nw' A, B,\u2019 m, At Bt\u2019\n^ = 4 = 4;\t\u00dc! = ^! = Bl-\tm.B,\n\u00bb\u00bb3 A, ^3\tm, A, 2f, \u2019 m,\tAs\tBx\t\u2019\t*n, \u2014 X, \u201c \u00a3/\nMit Worten: Die\tvon der Mechanik des\tHimmels\tin\tRechnung gebrachten Massen\t(m und m.) zweier beliebiger\tK\u00f6rper\tverhalten sich\nzu einander wie die Summen ihrer Gravitationsanziehung (A und A.) und ebenso wie die Summen ihrer Aetherabstossung (B und Bt).\nFerner berechnet sich aus obigen Gleichungen, dass\nm~ A V\\ ns ; ml = AlV\u00fc^'; m, = A% Vl^W' etc.\nMit Worten: die Masse, welche die Mechanik in Rechnung bringt, ist ein constanter Bruchtheil der Gesammtsumme der in einem K\u00f6rper befindlichen Gravitationsanziehung.\nDas Gravitationsgesetz beweist uns also die wichtige Thatsache, dass in den einzelnen Himmelsk\u00f6rpern unseres Sonnensystems die Mengen der Gravitationskr\u00e4fte und der Aetherabstossungskr\u00e4fte in dem gleichen Verh\u00e4ltnis enthalten sind. Dies konnte allerdings von vornherein f\u00fcr wahrscheinlich gelten, da die Himmelsk\u00f6rper, die zusammen in dem n\u00e4mlichen Weltenraum entstanden und aus einer Menge von verschiedenen chemischen Elementen zusammengesetzt sind, im grossen und ganzen den n\u00e4mlichen dynamischen Charakter besitzen m\u00fcssen. Dagegen ist es durchaus unwahrscheinlich, dass auch in den einzelnen chemischen Elementen die Dominantenkr\u00e4fte das gleiche Verh\u00e4ltniss zeigen. Es wird sich damit wohl verhalten wie mit den Elektricit\u00e4ten und Isagit\u00e4ten, so dass jedem besonderen Element ein eigent\u00fcmliches Verh\u00e4ltniss zwischen den Gravitationskr\u00e4ften und den Aetherabstossungskr\u00e4ften zukommt. Daf\u00fcr sprechen auch die so sehr ungleichen Atomgewichte bei nicht sehr ungleicher Gr\u00f6sse der Atome1).\nIch habe die Vermutung ausgesprochen, dass gleiche Gewichte der verschiedenen chemischen Elemente auf gr\u00f6ssere d. h. nicht mole-culare Entfernungen sich ungleich stark anziehen, weil die isagischen und elektrischen Kr\u00e4fte in ungleichen Mengen in ihnen enthalten sind (S. 718). Das verschiedene Verh\u00e4ltniss der Dominanten kr\u00e4fte ergibt eine neue Ursache daf\u00fcr, dass gleiche Gewichte der Elemente ungleich\n*) Ich verweise auf den Abschnitt 8 \u00bbGr\u00f6sse, Gestalt und Zusamrner.setsung der Atome\u00ab.\nt. Nag eli, Abstammungslehre.\n46","page":721},{"file":"p0722.txt","language":"de","ocr_de":"722\nKl\u00fcfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\nauf einander einwirken ; diese Ursache kann in dem n\u00e4mlichen oder in entgegengesetztem Sinne wirken wie jede der beiden ersteren.\nEs seien A, A, und At die Summen der Gravitationskr\u00e4fte der Erde und zweier Atome verschiedener Elemente, ferner B, B, und Bt die Aetherabstossungskr\u00e4fte der n\u00e4mlichen drei K\u00f6rper, endlich , und g, die Atomgewichte der beiden fraglichen Elemente, so bestehen die beiden Gleichungen\njfi \u2014 A At\u2014BBi 9* = A A%\u2014B Bt\nW\u00e4ren die beiden Dominantenkr\u00e4fte in den verschiedenen Elementen im gleichen Verh\u00e4ltniss vorhanden, so w\u00fcrden sie in den Gewichtseinheiten der letzteren auch in gleicher Menge enthalten sein. Es w\u00e4re somit\nA,___At Bx\n9i ~ 9* \u2019 9i\nund ebenso \u2014\u2014\u2014 = \u2014\u2014 9*\t9i\t9*\nDies ist nun aber nicht der Fall, und deswegen muss auch die von den Dominantenkr\u00e4ften ausge\u00fcbte Anziehung zwischen den Gewichtseinheiten verschiedener Elemente ungleich ausfallen. Im vorliegenden Fall betr\u00e4gt die Gesammtanziehung\nzwischen den Gewichtseinheiten des\tersten Elements \u2014\u2014 -\tBtBt\n\t94*\t94*\n\u201d\t>\u00bb\tn\t>,\tzweiten\t,,\tA2At\tBtBt\n\t94*\t9*9*\n\u201d >\u00bb \u00bb \u201e\tersten u. zweiten El.\tBxBt\n\t94*\t94*\nDiese 3 Gesammtanziehungen, beispielsweise die Anziehungen zwischen 1\u00bb Eisen und 1* Eisen, zwischen 1* Schwefel und 1* Schwefel und zwischen 1\u00ab Eisen und 1* Schwefel, stellen drei verschiedene Werthe dar, wenn bloss ihre Dominantenkr\u00e4fte in Anschlag kommen, und Elektricit\u00e4t sammt Isagit\u00e4t unber\u00fccksichtigt bleiben.","page":722},{"file":"p0723.txt","language":"de","ocr_de":"4. Schwerkraft.\n723\nGew\u00f6hnlich werden der Gravitation die \u00bbMolecularkr\u00e4fte\u00ab entgegengesetzt und den letzteren eine unvergleichlich gr\u00f6ssere St\u00e4rke zugeschrieben. Dies trifft zu f\u00fcr den Fall, dass man, wie es in der Mechanik \u00fcblich ist, die Gravitationskraft als identisch mit der Schwere betrachtet. Nimmt man aber die .Schwere, wie ich es als Consequenz der dynamischen Amertheorie versucht habe, bloss als einen Bruchtheil der wirklichen Gravitationsanziehung, so erlangt diese ganz die gleiche Bedeutung wie die \u00fcbrigen elementaren Molecular-kr\u00e4fte. Wenn man irgendwo genau das Verh\u00e4ltniss zwischen einer dieser Kr\u00e4fte und der Schwere f\u00fcr die Masseneinheit feststellen k\u00f6nnte, so erg\u00e4be sich daraus, immer unter den Voraussetzungen der symmetrischen Kraftvertheilung, welchen Bruchtheil der gesammten Gravitationsanz\u2019ehung die Anziehung durch die Schwere ausmacht. Man kann jedenfalls schon aus einer allgemeinen und oberfl\u00e4chlichen Vergleichung der Wirkungen der Schwerk:*aft mit den Wirkungen der Molecularkr\u00e4fte schlossen, dass jener Bruchtheil fast verschwindend klein ist. In wenigen F\u00e4llen l\u00e4sst sich derselbe entfernter-maassen in Ziffern angeben, so beim Zusammenhalt der Schwere mit der Elektricit\u00e4t, was um so \u00fcberzeugender ist, als die letztere ebenfalls auf gr\u00f6ssere (nicht moleculare) Entfernungen wirkt. Aus dem Verh\u00e4ltniss der Schwere zur Gravitationsanziehung kann dann auch das Verh\u00e4ltniss der letzteren zu der zugleich mit ihr in den K\u00f6rpern enthaltenen Aetherabstossung berechnet werden.\nReibt man ein kleines St\u00fcck Harz (Siegellack), so wird dasselbe elektrisch und zieht kleine Papierst\u00fcckchen an, indem es dieselben in die H\u00f6he hebt. Die Elektricit\u00e4t \u00fcberwindet also die Anziehung, welche die Erde auf das n\u00e4mliche Object aus\u00fcbt. F\u00fcr die Rechnung will ich die Wirkung der Elektricit\u00e4t auf ein Minimum herabsetzen, welches von der Wirklichkeit bei weitem \u00fcbertroffen wird.\nEin rundliches, 4 * schweres St\u00fcck Siegellack, das auf einem gl\u00e4sernen Halter sich befindet, zieht, nachdem es an einem wollenen Lappen schwach gerieben wurde, Papierst\u00fcckchen von 0,3mm Durchmesser, welche auf einer trockenen Glasplatte liegen, auf eine Entfernung von 3m\"> in die H\u00f6he. Die Erde, deren Gewicht zu b Quadrillionen Kilogramm und deren Halbmesser zu G Millionen Meter angenommen werde, \u00fcbt auf ein solches St\u00fcckchen Papier, dessen Gewicht in Kilogrammen ich durch P ausdr\u00fccken will, eine\n46*","page":723},{"file":"p0724.txt","language":"de","ocr_de":"724\nr\nKr\u00e4fte und Gestaltungen \u00bbm molecularen Gebiet.\n.\t. ,\t5 Quadrill V* P\nAnziehung aus, die 3\u00df m]i\u00a3 oder 140000000000 P betr\u00e4gt.\nDie Anziehung, welche das St\u00fcck Siegellack auf das n\u00e4mliche Object\nverm\u00f6ge der Schwere aus\u00fcbt, betr\u00e4gt\t= 33 P, da das\nGewicht des Siegellacks 0,004k und der Abstand der beiden Centren 0,011\u201c ausmacht.\nDie Anziehung, die zwischen der Erde und dem Papierst\u00fcckchen\nbesteht, ist also -----\u2014------- oder 4000000000mal gr\u00f6sser als\ndie Anziehung, welche verm\u00f6ge der n\u00e4mlichen Schwere zwischen dem St\u00fcck Siegellack und dem Papierst\u00fcckchen herrscht. Da die erstere von der infolge des Reibens wirksam werdenden Elektricit\u00e4t \u00fcberwunden wird, so ist die Macht der im Siegellack und im Papierst\u00fcckchen frei gewordenen Elektricit\u00e4ten auch mehr wie 4000000000 mal gr\u00f6sser als die Macht der Schwere in den beiden K\u00f6rpern.\nVorausgesetzt nun, dass das Verh\u00e4ltniss zwischen der Elektricit\u00e4ts-menge und dem Gewicht, im Siegellack und im Papier, das n\u00e4mliche ist, so kann doch die eben berechnete Proportion von 1:4000000000 nur f\u00fcr die resultirenden Gesammtwirkungen, nicht f\u00fcr die einfachen Anziehungen der zwei Kr\u00e4fte, der Schwere und der Elektricit\u00e4t, gelten. Denn die Wirkung der Schwere ist ein einfaches Product, die Wirkung der elektrischen Anziehung dagegen die Differenz von zwei Producten. Die am Harz erregte negative Elektricit\u00e4t (\u2014K) zieht von den beiden im Papier durch Vertheilung frei gewordenen Elektricit\u00e4ten die an der zugekehrten Seite befindliche positive (+e) an und st\u00f6sst die an der abgekehrten Seite befindliche negative (\u2014e)\nab. Die Wirkung der Elektricit\u00e4t ist also f\u00fcr den vorliegenden Fall Ee\tEe\tj\t,\t\u00e2 f\n(0,003)'\t(0,0033)'\t\u2019 \u201ca\t\u201cer\tAbstand vom Siegellack zum Papier\n0,0031,1 und der Durchmesser des Papierst\u00fcckchens\t0,0003\u201c betr\u00e4gt\nEe\tEc\t\u201e\t________ _\n(0,003)*\t(\u00d6,\u00d6\u00d633)*\t=\tEe \u2014 90000 Ee oder\t20000 Ee; mit\nWorten : die beobachtete Wirkung der am Siegellack frei gewordenen Elektricit\u00e4t ist 5 mal kleiner als die einfache Wirkung derselben auf eine der zwei am Papier frei gewordenen Elektricit\u00e4ten. \u2014 Ferner ist zu ber\u00fccksichtigen, dass die mit einander verglichenen Wirkungen der Schwere und der Elektricit\u00e4t f\u00fcr ungleiche Ent-","page":724},{"file":"p0725.txt","language":"de","ocr_de":"4. Schwerkraft.\n72ft\nfemungen, die der ersteren f\u00fcr einen Abstand von 0,01 lm und die der letzteren f\u00fcr einen Abstand von 0,003\u201c berechnet wurden. Zur richtigen Vergleichung muss eine Reduction auf gleiche Entfernung vorgenommen werden; dadurch erf\u00e4hrt die Wirkung der Schwere\neine Steigerung um\td. h um i3>4mal\nDie Anziehung zwischen der frei gewordenen Elektricit\u00e4t des Siegellacks und der ungleichnamigen des Papiers ist also in Wirklichkeit nicht um 4000 Millionen, sondern in Folge der beiden\nCorrecturen um mal diesen Werth, also um 1500 Millionen mal\ngr\u00f6sser als die Wirkung der Schwere. Ich habe aber in allen Beziehungen die ung\u00fcnstigsten Ans\u00e4tze f\u00fcr die Elektricit\u00e4t gemacht, namentlich auch darin, dass die gesammte freie Elektricit\u00e4t des Harzes an das dem Papier zugekehrte Ende, somit in die geringste Entfernung verlegt wurde. In der That ist die frei gewordene Elektricit\u00e4tsmenge im Siegellack und im Papier weit betr\u00e4chtlicher, als es f\u00fcr die berechnete Wirkung erforderlich erscheint. Gleichwohl macht dieselbe sicher nur einen kleinen Bruchtheil der in den beiden K\u00f6rpern enthaltenen neutralen Elektricit\u00e4tsmengen aus.\nAus dem Verh\u00e4ltniss der Elektricit\u00e4tsmenge zum Gewicht l\u00e4sst sich ein Schluss auf das Verh\u00e4ltniss der beiden Dominantenkr\u00e4fte A und B zu einander machen, unter der oben (S. 694\u2014696) als wahrscheinlich erkl\u00e4rten Voraussetzung, dass die Summe jeder der beiden Elektricit\u00e4ten so gross oder halb so gross ist als die Summe jeder der beiden Dominantenkr\u00e4fte. Nehmen wir die gewonnene Proportion 1: 1500000000 einstweilen als das Verh\u00e4ltniss der Anziehung zweier K\u00f6rper durch die Schwere zur elektrischen Anziehung\nan, so erhalten wir die Gleichung mm, =\twenn m und m,\ndie Massen im Sinne der Mechanik als Gewicht ausgedr\u00fcckt, a und b die ungleichnamigen Elektricit\u00e4ten des einen und andern K\u00f6rpers bedeuten. Ferner haben wir die fr\u00fcher (S. 720) abgeleitete Gleichung\n= AA' 0\tAl80 i8t l\u00f6OOOOO\u00d6OO = A\u00c4~ t1\u20140\nwenn, gem\u00e4ss der vorhin erw\u00e4hnten Voraussetzung, A \u2014 a und At \u2014 b\ngesetzt wird, so ergibt sich die Gleichung j6\u00d6\u00d6<SX)\u00d6\u00d6\u00d6 = 1 ~","page":725},{"file":"p0726.txt","language":"de","ocr_de":"726\nKrftfte and Gestaltungen im molecularen Gebiet.\nDaraus folgt \u201d = ]/1 \u2014 Y^^qqq. somit n = Kl \u20140,0000000007\noder n = KO,999 9999993. Da n = so ist in dem vorliegenden\nFall A weniger als um den tausendmillionsten Theil gr\u00f6sser als B, und der Unterschied zwischen der Gravitationsanziehung (A) und der Aetherabstossung (B) w&re noch viel geringer, wenn die Wirkung der ganzen gleichnamigen Elektricit\u00e4t (d. h. der frei gewordenen und der in der neutralen Elektricit\u00e4t gebundenen) der Rechnung h\u00e4tte zu Grunde gelegt werden k\u00f6nnen.\nEin anderes Beispiel, in welchem wir die Wirkungen der Schwerkraft mit den Wirkungen der \u00bbMolecularkr\u00e4fte\u00ab entfemtermaassen in Ziffern vergleichen k\u00f6nnen, bietet uns die Cohaesion. Ein Eisendraht von l,mm Querschnitt wird durch ein Gewicht von 64 k zerrissen. Die Kraft, mit der seine Theilchen Zusammenh\u00e4ngen, ist also der Kraft gleich zu setzen, mit der 64k von der Erde angezogen werden. Durch Rechnung l\u00e4sst sich zeigen, wie viel mal gr\u00f6sser diese Cohaesion im Eisen ist, als sie es w\u00e4re, wenn sie bloss durch die Schwerkraft zu Stande k\u00e4me.\nDie Anziehung zwischen der Erde (Gewicht 5 Quadrillionen Kilo, Halbmesser 6 Millionen Meter) und einem Gewicht von 64k\nbetr\u00e4gt\n64 X 5 Quadrill.\noder 9 Billionen Einheiten. Berechnet\n(6 M\u00fcl.)*\ndie Summe der Anziehungen, welche alle Eisenatome der abgerissenen Drahth\u00e4lfte auf alle Atome der andern Drahth\u00e4lfte verm\u00f6ge ihres Gewichtes aust ben, so erreicht dieselbe nicht einmal den hundert-tausendbillionsten The\u00fc jenes Betrages. Im Eisen ist also die Cohaesion durch die \u00bbMolecularkr\u00e4fte\u00ab 100000 Billionen mal gr\u00f6sser als der Zusammenhang, welcher durch die Schwerkraft allein verursacht w\u00fcrde.\nDieses Ergebniss gew\u00e4hrt uns aber bloss im allgemeinen eine Vorstellung, wie sehr die Schwerkraft an Wirksamkeit den \u00bbMolecular-kr\u00e4ften\u00ab nachsteht. Um etwas Bestimmteres dar\u00fcber zu erfahren, m\u00fcssten wir wissen, wie die Cohaesion zu Stande kommt. Wenn die dynamische Amertheorie richtig ist, so folgt aus derselben, dass die Cohaesion fast ausschliesslich durch die unmittelbar neben einander liegenden Atome bewirkt wird, und dass die Anziehung","page":726},{"file":"p0727.txt","language":"de","ocr_de":"4. (Schwerkraft.\n727\nauf weiter entfernte Atome vorzugsweise nur als Wirkung der Schwerkraft in Betracht kommt1). Beim Zerreissen eines Drahts wird somit lediglich die Adh\u00e4sion der an den beiden Bruchfl\u00e4chen befindlichen Atome \u00fcberwunden, und es l\u00e4sst sich berechnen, wie gross die An-Ziehung je zweier einander gegen\u00fcber liegender, beim Zerreissen von einander getrennter Atome ist.\nDa aus der mechanischen Gastheorie die absoluten Gewichte der verschiedenen Gasmolek\u00fcle bekannt sind, so kennt man auch die absoluten Gewichte der Atome aller \u00fcbrigen Elemente. Das Eisenatom wiegt 130 Quadrillion tel *. Aus dem Atomgewicht und dem specifisehen Gewicht berechnet sich das Volumen des Eisenatoms im Draht zu 17 Quadrilliontelccm und der mittlere Querschnitt des Atomvolumens zu 650 Trilliontel \u00ab\u2022\u00ab\u201c. Es befinden sich demnach auf der Fl\u00e4che von H\u00ab\u201c 1500 Billionen Atome und auf dem Querschnitt des fraglichen Eisendrahts 15 Billionen, welche unmittelbar vor dem Zerreissen durch ihre Adh\u00e4sion an die angrenzenden 15 Billionen Atome dem vorhin berechneten Zug von 9 Billionen Einheiten das Gleichgewicht halten. Die Adh\u00e4sionsanziehung, welche das einzelne Atom auf das ihm gegen\u00fcberstehende\naus\u00fcbt, betr\u00e4gt\toder 0,6 Einheiten.\nDer mittlere Abstand zwischen den Centren zweier benachbarter Atome im Eisendraht ist 0,000000026cm oder 260 Billiontel m, und da das Gewicht eines Eisenatoms 0,13 Quadrilliontelk betr\u00e4gt\u2019, so ist die Gewichtsanziehung zweier benachbarter Atome im Eisendraht\n(0,000000\nIXIIIXI\n000000\n\n(0,00000000026)*\n013)*\noder 0,25 Quintillionstel einer\nEinheit. Dieselbe verh\u00e4lt sich zu der Adh\u00e4sionsanziehung wie 0,25 Quintillionstel : 0,6 oder rund wie 1:2 Quintillionen.\nIch habe angenommen, dass die Coh\u00e4sion der Substanz bloss durch die Anziehung der unmittelbar neben einander liegenden Atome hervorgebracht werde. Jedenfalls ist die letztere in ganz vorherrschendem Maasse dabei betheiligt, und wenn auch entferntere Atome\n') Ich verweise auf die Abschnitte : 8. Gr\u00f6sse, Gestalt und Zusammensetzung der Atome; 9. Entstehung und Beschaffenheit der Atome; 10. Chemische Beschaffenheit.","page":727},{"file":"p0728.txt","language":"de","ocr_de":"728\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecular*n Gebiet.\nbei der Wirkung nicht ganz ausgeschlossen sind, so bleibt es doch unbestreitbar, dass zwei Eisenatome in der Lage, wie sie im Draht sich nebeneinander befinden, sich um das Quintillionfache st\u00e4rker an-ziehen, als es der Fall w\u00e4re, wenn sie sich wie die Himmelsk\u00f6rper bloss verm\u00f6ge ihrer Schwere anziehen w\u00fcrden. Dieses Verh\u00e4ltniss gilt aber nur f\u00fcr die Gesammtwirkung der Molecularkr\u00e4fte gegen\u00fcber der Wirkung der Schwerkraft, nicht aber f\u00fcr die einzelnen Kr\u00e4fte selbst. Denn die Gesammtwirkung, die uns in dem vorliegenden Fall als Coh\u00e4sion bemerkbar wird, ist nur der Ueberschuss der verschiedenen Anziehungen \u00dctier die verschiedenen Abstossungen, welche zwei benachbarte Atome auf einander aus\u00fcben. K\u00f6nnten wir die Attraction zwischen zwei Atomen ohne die zwischen ihnen bestehende Repulsion berechnen, so w\u00fcrde sie gegen\u00fcber der Attraction durch die Schwerkraft noch ungleich viel gr\u00f6sser ausfallen. \u2014 Was die beiden Dominantenkr\u00e4fte betrifft, so l\u00e4sst sich ihr gegenseitiges quantitatives Verh\u00e4ltniss in gleicher Weise berechnen, wie es bereits f\u00fcr einen andern Fall geschehen ist (S. 725). Wenn die Gravitationsanziehung, ebenso die Aetherabstossung im Universum eine eben so grosse Kraftsumme darstellt wie die positive oder negative Elek-tricit\u00e4t, wie die positive oder negative Isagit\u00e4t, so ergibt sich aus dem Verh\u00e4ltniss zwischen der Coh\u00e4sionsanziehung und der Schwereanziehung, dass die Summe der Gravitationsanziehungskr\u00e4fte im Eisen bloss um ein Quintillionstel gr\u00f6sser sein kann, als die Summe der Aetherabstossungskr\u00e4fte, wobei immer noch nicht ber\u00fccksichtigt ist, dass die Coh\u00e4sion nur im Ueberschuss der Anziehung \u00fcber die Al> stos8ung besteht.\nAus den vorstehenden Betrachtungen geht eine allgemeine Schlussfolgerung hervor, die \u00fcbrigens auch von vornherein als ziemlich sicher h\u00e4tte angenommen werden k\u00f6nnen. In der Natur sind die 6 Elementarkr\u00e4fte in unendlich grosser Menge an den Stoff gebunden, wiewohl sie unserer Wahrnehmung nur in verschwindend geringer Menge bemerkbar werden. Jeder gr\u00f6ssere oder kleinere K\u00f6rper bis herab auf die chemischen Atome und Aethertheilchen, diese mit inbegriffen , ist ein System von kraftbegabten Theilen, in welchen die verschiedenen Attractions- und Repulsionskr\u00e4fte sich das Gleichgewicht halten, in der Art, dass stetsfort oder bei St\u00f6rung des Gleichgewichts bloss ein winzig kleiner, nach aussen wirksamer Ueberschuss sich ergibt. Die Schwerkraft, die am allgemeinsten und am wuch-","page":728},{"file":"p0729.txt","language":"de","ocr_de":"5. W\u00e4rme.\n729\ntigsten sich kundgibt, entspricht kaum dem quintillionsten Theil aller in den w\u00e4gbaren Massen befindlichen Gravitationskr\u00e4fte, der von der Aetherahstossung nicht comjiensirt und somit f\u00fcr \u00e4ussere Action disponibel ist.\n5. W\u00e4rme.\nEs gilt als ein allgemein angenommener und unbestreitbarer Satz der neueren Physik, dass die W\u00e4rme nichts anderes als eine Bewegung der kleinsten Theilchen ist. Jede Bewegung kann in W\u00e4rme verwandelt und durch W\u00e4rme gemessen werden, und im gasf\u00f6rmigen Zustande nimmt die lebendige Kraft der Molecular-bewegung oder das Quadrat der molecularen Geschwindigkeit proportional der Temperatur zu. Indem man aber W\u00e4rme als Bewegung der kleinsten Theilchen bezeichnet, versteht man darunter doch zweierlei wesentlich verschiedene Dinge.\nEinmal ist W\u00e4rme Bewegung des Aethers, sowohl das Welt-athers als auch des leichter bewegliehen Schwer\u00e4thers, wie er in den K\u00f6rpern als Zwischenh\u00fcll\u00e4ther vorhanden ist: so die W\u00e4rme, die der Erde von der Sonne mitgetheilt wird, und ebenso die strahlende W\u00e4rme, die durch gasf\u00f6rmige, fl\u00fcssige und feste K\u00f6rper sich ausbreitet. Wenn man von Brechung, Interferenz und Beugung der W\u00e4rmestrahlen, von Polarisation und Doppelbrechung der W\u00e4rme, von W\u00e4rmespectmm spricht, so ist immer Bewegung der Aether-theilchen gemeint, \u2014 Ferner ist W\u00e4rme aber auch Bewegung der Molek\u00fcle und Atome, und zwar dies immer, wenn es sich um die W\u00f6rme oder Temperatur der Gase, der Fl\u00fcssigkeiten und der festen K\u00f6rper handelt.\nEs k\u00f6nnen allerdings in vielen F\u00e4llen die beiden W\u00e4rmen einander gleich gesetzt werden, wenn n\u00e4mlich die Bewegungen des Aethers und der w\u00e4gbaren Theilchen sich ausgeglichen haben und sich somit im Gleichgewichte befinden. Dies ist aber nicht immer der Fall ; in einem durchstrahlten K\u00f6rper kann die W\u00e4rmebewegung der w\u00e4gbaren Theilchen (der Luft, des Glases etc.) weit hinter der W\u00e4rmebewegung des Aethers Zur\u00fcckbleiben. Wird in diesem Falle die freie W\u00e4rme durch das Thermometer gemessen, so zeigt dieses vorzugsweise den Bewegungszustand der Atome und Molek\u00fcle des","page":729},{"file":"p0730.txt","language":"de","ocr_de":"730\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\ndurchstrahlten K\u00f6rpers an. Uebrigens werden nicht alle, sondern nur bestimmte Bewegungen der w\u00e4gbaren Theilchen als freie W\u00e4rme bezeichnet, wie dies deutlich aus dem Umstande sich ergibt, dass Eis und Wasser von 0\u00b0, obgleich in ungleicher Molecularbewegung befindlich, doch die gleiche Temperatur besitzen, ebenso Wasser und Wasserdampf von 100\u00b0.\nIch werde im folgenden unter W\u00e4rme nur Bewegung der (eigentlichen und der ponderabeln) Aethortheilchen, also Aetherw\u00e4rmc verstehen, welche, indem sie den Atomen und Molek\u00fclen der w\u00e4gbaren Stoffe schwingende, drehende und fortschreitende Geschwindigkeit ertheilt, in eine andere Form der Bewegung \u00dcbergeht. Damit soll nicht gesagt werden, dass alle Bewegung des Aethers als W\u00e4rme zu betrachten sei; vielmehr scheint diese Function nur einer bestimmten Bewegung zuzukommen. Um dies deutlich zu machen, muss ich auf die Beschaffenheit des Aethers, wie sie die Amertheorie voraussetzen muss, etwas n\u00e4her eingehen.\nNach Allem, was wir von dem eigentlichen Aether als Raum erf\u00fcllende, die Bewegungen der Gasmolek\u00fcle wie der Weltk\u00f6rper nicht hemmende, W\u00e4rme und Licht in die gr\u00f6ssten Entfernungen tragende Substanz wissen, muss derselbe vollkommen elastisch, vollkommen beweglich und ohne eine Spur von Coh\u00e4sion sein. Er muss die fl\u00fcchtigen Eigenschaften eines Gases, nur in ungleich h\u00f6herem Maasse, besitzen ; den gr\u00f6sseren Grad der Fl\u00fcchtigkeit verdankt er der gr\u00f6sseren Kleinheit seiner Theilchen und dem Umstande, dass er von abstossenden Kr\u00e4ften beherrscht wird, w\u00e4hrend in den Gasen die Schwere eine wichtige Rolle spielt. Ganz gleich wie der eigentliche Aether verh\u00e4lt sich die beweglichere H\u00e4lfte des ponderabeln Aethers r\u00fccksichtlich ihrer Bewegungen, da diese durch die n\u00e4mliche Kleinheit und vollkommene Elasticit\u00e4t der Theilchen bestimmt werden. \u2014 Die \u00fcbereinstimmenden wie die abweichenden Eigenschaften, welche uns die Vergleichung des Aethers und der Gase aufweist, sprechen also daf\u00fcr, dass den Aethertheilchen die\ngleichen Bewegungen wie den Gasmolek\u00fclen, aber in erh\u00f6htem Maasse, zukommen.\nIn den luftf\u00f6rmigen K\u00f6rpern k\u00f6nnen wir 3 wesentlich verschiedene Belegungen unterscheiden, 1. die selbst\u00e4ndigen Molccularbewegungen oder Einzelbewegungen, 2. die schwingenden Massenbewegungen und 3. die fortschreitenden Massenbewegungen. Was","page":730},{"file":"p0731.txt","language":"de","ocr_de":"5 W\u00e4rme.\n731\ndie erste ren betrifft, so ist bekanntlich in neuerer Zeit von Kr\u00f6nig und namentlich von Clausius dargethan worden, dass eine Gasmasse aus einer Anzahl vereinzelter Molek\u00fcle besteht, welche nach allen Richtungen durcheinander fliegen und von denen jedes seine gradlinige Bahn verfolgt, bis es an ein anderes Gasmolek\u00fcl oder an einen festen K\u00f6rper anst\u00f6sst und verm\u00f6ge seiner Elasticitftt abgelenkt oder zur\u00fcckgeworfen wird. Ausserdem drehen sich die Molek\u00fcle um ihre Axe, und die sie zusammensetzenden Atome schwingen hin und her, drehen sich wohl auch unter Umst\u00e4nden (intramoleculare Bewegungen). - Die Massenschwingungen der Luft sind uns durch die Fortpflanzung des Schalles, die fortschreitenden Massenbewegungen als Gasstr\u00f6mung, Wirbelstr\u00f6me und Winde bekannt.\nDie Aethertheilchen m\u00fcssen die n\u00e4mlichen Erscheinungen zeigen. Sie f\u00fchren einmal Einzelbewegungen aus, indem jedes nach einer andern Richtung dahin f\u00e4hrt, dabei sich um seine Achse dreht und, insofern es aus mehreren Ameren zusammengesetzt ist, auch innere Bewegungen, bestehend in Schwingungen und Drehungen seiner A mere, besitzt. Dass uns von diesen Einzelbewegungen aus Erfahrung noch nichts bekannt ist, begreift sich leicht aus dem Umstande, dass selbst die Einzelbewegungen der einer h\u00f6heren Gr\u00f6ssenordnung angeh\u00f6renden Gasmolek\u00fcle erst seit kurzer Zeit als Ursache der Expansivkraft der Gase erkannt sind. \u2014 Die Massen Schwingungen und die fortschreitenden Massenbewegungen, welche, gleichwie in den Gasen, unabh\u00e4ngig von den Einzelbewegungen sind, bedingen abwechselnde und r\u00e4umlich verschiedene Verdichtungen und Verd\u00fcnnungen des Aethers.\nVon diesen verschiedenen Bewegungen der (eigentlichen sowie der ponderabeln) Aethertheilchen sind es die Massenschwingungen, welche die Erscheinungen der W\u00e4rme (und des Lichtes) hervorbringen. Sie ertheilen den Atomen und Molek\u00fclen die verschiedenen Bewegungen, die wir an ihnen kennen. Dabei geht die kinetische Energie der Aether-wellen auf die w\u00e4gbaren Theilchen \u00fcber, und es verschwindet so viel W\u00e4rme als das Quadrat der molecularen und atomalen Geschwindigkeit der letzteren zunimmt. Umgekehrt theilen die ponderabeln Partikeln, wenn der umgebende Aether W\u00e4rme verloren hat, demselben von ihrer Bewegung mit und stellen das gest\u00f6rte Gleichgewicht wieder her. Wenn daher die schwingende Bewegung des Aethers als fr*'\u2019\"","page":731},{"file":"p0732.txt","language":"de","ocr_de":"732\nKrftfte and Gestaltungen Im molecnlaren Gebiet.\nW\u00e4rme betrachtet wird, so k\u00f6nnen wir die Bewegungen der Molek\u00fcle und Atome als gebundene Aetherw\u00e4rme bezeichnen.\nDagegen verm\u00f6gen die Ein zel be wegungen der Aethertheilchen nicht die Atome und Molek\u00fcle, die ja einer anderen Gr\u00f6ssenordnung angeh\u00f6ren, in Bewegung zu setzen. Ihre St\u00f6sse sind gegen\u00fcber dem Koloss eines w\u00e4gbaren Theilchens von verschwindend geringer Wirksamkeit, und \u00fcberdem kommen sie von allen Seiten in so grosser Menge, dass sie sich gegenseitig aufheben \u00bb). Ganz anders wirken die Massenschwingungen, da bei ihnen eine sehr grosse Menge von Aethertheilchen, unbeschadet ihrer individuellen Bewegungen, in jedem Zeitmoment nach der gleichen Seite hin dr\u00fcckt.\nDie Schwingungen des Aethers sind ungleich nach ihrer Dauer und nach ihrer Intensit\u00e4t. Ihr Effect wird bedingt durch die Summe der lebendigen Kr\u00e4fte, mit denen sie auf ein w\u00e4gbares Theilchen treffen. Von dieser Summe h\u00e4ngt die Bewegung der Molek\u00fcle und Atome, und wenn eine Ausgleichung eingetreten ist, auch die H\u00f6he der Temperatur ab; denn die kinetische Energie der Aetherschwing-ungen verursacht in der Thermometerfl\u00fcssigkeit die ihnen entsprechenden Bewegungen der Molek\u00fcle und Atome und damit eine bestimmte Raumerf\u00fcllung durch jene Fl\u00fcssigkeit.\nEs ist leicht, sich von den verschiedenen Erscheinungen, welche die W\u00e4rme verursacht, Rechenschaft zu geben, wenn wir im Auge behalten, dass die Schwingungen des Aethers einen ihnen entsprechenden Bewegungszustand der Molek\u00fcle und Atome bewirken, \u2014 dass umgekehrt die Molek\u00fcle und Atome, wenn dieselben sich schneller bewegen als es dem Bewegungszustand des umgebenden Aethers entspricht, von ihrer lebendigen Kraft an den letzteren abgeben und in freie W\u00e4rme umwandeln, \u2014 endlich, dass der zwischen den Molek\u00fclen und Atomen befindliche Zwischenh\u00fcll\u00e4ther durch den \u00e4ussem Aether, mit dem er in Verbindung steht, in analoge Schwingungen versetzt wird, und dass er, wenn er in Folge irgend einer Ursache sich in lebhafteren Schwingungszust\u00e4nden befindet, den Ueberschuss seiner Bewegungsintensit\u00e4t dem \u00e4usseren et 1er mittheilt, dass also der intermoleculare und interatomale\nj , ^erh.4lt fich damit wie mit \u00ablen Strtssen der Gaamolek\u00fcle auf die in H w 7 \u00ee8chwf!\u201cden Sonnenst\u00e4ubchen, vgl. Sitsungsberichte der kgl. b. Akad. d. W. 7. Juni 1879 oder Untersuch, \u00fcber niedere Pilse 8. 78.","page":732},{"file":"p0733.txt","language":"de","ocr_de":"5. Wftrme.\n733\nSchwer\u00c4ther theilweise das verbindende Mittelglied bildet zwischen den Atomen und den \u00e4usseren Aetherschwingungen.\nIn einer Gasmasse befindet sich der W\u00e4rme\u00e4ther in einem \u00e4hnlichen Zustande wie der Licht\u00e4ther bei diffusem Tageslicht Es gehen die W\u00e4rmestrahlen nach allen Richtungen durcheinander. Licht und W\u00e4rme werden von dem n\u00e4mlichen Aether getragen indem sich ihre Wellen wie die Wellen auf einer Wasseroberfl\u00e4che durchkreuzen. Mit den Aetherschwingungen befinden sich die fortschreitenden und drehenden Bewegungen der Gasmolek\u00fcle und die schwingenden Bewegungen ihrer Atome im Gleichgewicht. Dieser Zustand bleibt constant, bis sich die umgebende Temperatur \u00e4ndert Steigt dieselbe, so wird eine gewisse Menge der Energie der Aetherschwingungen zur Beschleunigung der Molecularbewegungen verwendet (specifische W\u00e4rme), und zwar bei Gasen von einfacherer Zusammensetzung etwa 63 % f\u00fcr die fortschreitenden Bewegungen der Molek\u00fcle und 37% f\u00fcr die intramolecularen Bewegungen Sinkt die Temperatur, so findet die umgekehrte Umwandlung statt.\nNimmt die Energie der Aetherschwingungen so sehr ab, dass sie den Molek\u00fclen nicht mehr die Bewegungen des Gaszustandes zu ertheilen verm\u00f6gen, so verdichtet sich das Gas zur Fl\u00fcssigkeit, indem der Ueberscliuss der fortschreitenden, drehenden und intramolekularen Bewegungen in Aetherschwingungen \u00fcbergeht, welche sich in den allgemeinen Aether verlieren. Beim Verdampfen setzt sich die n\u00e4mliche Menge von Aetherbewegung wieder in moleculare Bewegung um. \u2014 Werden die Aetherschwingungen so schwach, dass sie nicht im Stande sind den Zusammenhang der Molek\u00fcle zu \u00fcberwinden, so tritt der feste Aggregatzustand ein, wobei die Gesammt-menge der fortschreitenden und drehenden und ein grosser Theil der schwingenden Molecularbewegungen, die dem fl\u00fcssigen Zustande eigenth\u00fcmlich sind, zur Vermehrung der \u00e4usseren Aetherbewegung verwendet werden; beim Schmelzen wandelt sich diese Menge von A etherw\u00e4rme wieder in Molecularbewegung um.\nW\u00fcrde die Temperatur so sehr sinken, dass die Aetherschwingungen ganz aufh\u00f6rten, so w\u00e4re der absolute Nullpunkt erreicht. Bei demselben k\u00e4men die Bewegungen der Molek\u00fcle und der Atome zur Ruhe; es w\u00e4re aber nicht alle Bewegung erloschen. Die Einzel-l>ewegungen der Aethertheilchen w\u00fcrden fortdauern und ebenso die Bewegungen der Amere, aus denen die Atome bestehen.","page":733},{"file":"p0734.txt","language":"de","ocr_de":"734\nKr&fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet\nDie Bedingungen f\u00fcr die drei Aggregatzust\u00e4nde sind, sofern es sich um das n\u00e4mliche chemische Individuum handelt, bloss von der Energie der \u00e4usseni Aetherschwingungen abh\u00e4ngig, indem diese Energie bis zu einem bestimmten Grad den festen, von da bis zu einem bestimmten h\u00f6heren Grad den fl\u00fcssigen und \u00fcber einen bestimmten dritten Grad den gasf\u00f6rmigen Zustand bedingt. Bei verschiedenen chemischen Stoffen ist aber der Widerstand, den die w\u00e4gbaren Theilchen den bewegenden Kr\u00e4ften entgegensetzen, sehr ungleich. Dieser Widerstand beruht in der Adh\u00e4sion, welche durch die Gr\u00f6sse und Verkeilung der anziehenden und abstossenden Mole-cularkr\u00e4fte, durch die Gestalt und Zusammenordnung der Atome und Molek\u00fcle und das Verhalten des zwischen ihnen befindlichen Schwer\u00e4thers bestimmt wird. So ist beispielsweise beim Wasserstoff, Sauerstoff und 8tickstoff die gegenseitige Adh\u00e4sion der Molek\u00fcle so gering, dass schon die schw\u00e4chste uns bekannte Energie der Aetherschwingungen hinreicht, um dieselben in der Bewegung des Gaszustandes zu erhalten. Beim Kohlenstoff dagegen erlangt die Adh\u00e4sion der Molek\u00fcle eine so betr\u00e4chtliche H\u00f6he, dass auch die gr\u00f6sste bis jetzt erreichbare Energie der Aetherschwingungen nicht im Stande ist, dieselben zu trennen und ihnen die Bewegungen des fl\u00fcssigen oder gar des gasf\u00f6rmigen Zustandes zu ertheilen.\nAus der Anordnung und der Adh\u00e4sion der Molek\u00fcle in Verbindung mit der Beschaffenheit des zwischen ihnen befindlichen Aethers erkl\u00e4rt sich die verschiedene Ausbreitung der W\u00e4rme durch Strahlung und Leitung. Die Licht- und W\u00e4rmestrahlen, die von der Sonne kommen, gehen durch den mit Aether gef\u00fcllten Weltenraum; sie werden in der Atmosph\u00e4re durch den Aether zwischen den Gasmolek\u00fclen ungehindert weiter gef\u00fchrt, und ebenso durch den Zwischenh\u00fcll\u00e4ther vieler fl\u00fcssiger und fester K\u00f6rper, die man deswegen als durchsichtige und als diathermane bezeichnet.\nDie Beschaffenheit des Aethers zwischen den Atomen und Molek\u00fclen ist aber in den verschiedenen festen und fl\u00fcssigen K\u00f6rpern, wie ich dies schon fr\u00fcher angedeutet habe, sehr ungleich, sowohl bez\u00fcglich der Lagerung der Theilchen als bez\u00fcglich ihrer Bewe gungen, weil beides von der Natur und Stellung der Atome und der St\u00e4rke und Verkeilung der Atomkr\u00e4fte abh\u00e4ngt. Im allgemeinen stellt der zwischen den Aetherh\u00fcllen der Atome befindliche und beweglichere Zwischenh\u00fcll\u00e4ther durch den ganzen fl\u00fcssigen","page":734},{"file":"p0735.txt","language":"de","ocr_de":"5. W\u00e4rme.\n735\noder festen K\u00f6rper ein ununterbrochenes Netz dar. Dieses Netz hat nun eine sehr mannigfaltige Gestalt und sein Schwer\u00e4ther steht mit den Atomen durch die Aetherh\u00fcllen in sehr ungleichen dynamischen Beziehungen; daher r\u00fchrt das verschiedene Verhalten der K\u00f6rper gegen\u00fcber den Licht- und W\u00e4rmestrahlen.\nDer zwischen den Aetherh\u00fcllen befindliche Schwer\u00e4ther ist, wie schon gesagt, mit dem \u00e4usseren Aether in unmittelbarer Verbindung und befindet sich, wenn ein Bebarrungszustand eingetreten, in gleichen SchwingungszustAnden mit demselben. Findet nun in dem \u00e4usseren Aether eine besondere Erregung statt, kommen Licht und W\u00e4rmestrahlen heran, so gehen ihre Schwingungen, wenn die Anordnung und die Beschaffenheit des genannten Aethers g\u00fcnstig ist, fast ungeschw\u00e4cht durch die K\u00f6rper hindurch, d. h. ohne etwas Nennens-werthe8 von ihrer Energie abzugeben ; die vollkommene Durchsichtigkeit und Diathermanit\u00e4t, wie sie den meisten Gasen und manchen festen und fl\u00fcssigen K\u00f6rpern zukommt, verhindert bei der Durchstrahlung eine bemerkenswerthe Erh\u00f6hung ihrer Temperatur. In den undurchsichtigen und adiathermanen K\u00f6rpern dagegen k\u00f6nnen sich die Schwingungen der Licht- und W\u00e4rmestrahlen wegen der Sp\u00e4rlichkeit, der mangelhaften Continuit\u00e4t und \u00fcberhaupt wegen des ung\u00fcnstigen Verhaltens des Zwischenh\u00fcll\u00e4thers nicht ungehindert lortpflanzen ; ihre Energie geht auf die Molek\u00fcle und Atome \u00fcber und dient dazu, die Temperatur des K\u00f6rpers zu erh\u00f6hen. G\u00fcnstig f\u00fcr die Durchstrahlung ist es, wenn hinreichend breite und zusammenh\u00e4ngende Bahnen eines sehr beweglichen Zwischenh\u00fcll\u00e4thers vorhanden sind; ung\u00fcnstig, wenn wegen der Stellung der Atome, wegen ihrer grossen Ann\u00e4herung oder wegen der betr\u00e4chtlichen M\u00e4chtigkeit ihrer Aetherh\u00fcllen nur enge und unvollst\u00e4ndig zusammenh\u00e4ngende Bahnen f\u00fcr den Zwischenh\u00fcll\u00e4ther frei bleiben und wenn dieser eine geringere Beweglichkeit besitzt.\nW\u00e4hrend die strahlende W\u00e4rme ihre Schwingungen durch den Zwischenh\u00fcll\u00e4ther ausbreitet, werden bei der Leitungsw\u00e4rme die der W\u00e4rmequelle zun\u00e4chst liegenden Atome in einen der einwirkenden Temperatur entsprechenden Bewegungszustand versetzt, welcher sich dann von Atom zu Atom weiter fortpflanzt. Von der Anordnung, dem Zusammenhang und der Bewegung der Atome h\u00e4ngt es ab, ob die Fortpflanzung rascher oder langsamer erfolge, ob der K\u00f6rper ein guter oder ein schlechter W\u00e4rmeleiter sei.","page":735},{"file":"p0736.txt","language":"de","ocr_de":"736\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet\nIn der vorstehenden Auseinandersetzung handelte es sich vorz\u00fcglich um die Uebertragung von Energie zwischen den Aethertheilchen und den Molek\u00fclen (Atomen) und zwischen den letzteren unter sich. Es ist also von Wichtigkeit, eine richtige Vorstellung \u00fcber die Bedingungen der Energie bei diesen Theilchen zu haben. Wenn wir sagen, die Summe der lebendigen Aetherschwingungskr\u00e4fte in der Raumeinheit, gegeben durch die Zahl und Beschaffenheit der schwingenden Theilchen, durch die Zahl der Schwingungen jedes einzelnen in der Zeiteinheit und durch die Schwingungsintensit\u00e4t bedinge die H\u00f6he der Temperatur und verursache in den w\u00e4gbaren K\u00f6rpern die ihnen entsprechenden Bewegungen der Molek\u00fcle und Atome, so m\u00fcssen wir uns dar\u00fcber klar sein, wodurch die kinetische Energie eines Aethertheilchens und diejenige eines Molek\u00fcls (Atoms) in den verschiedenen Aggregatzust\u00e4nden bestimmt werde. Denn es ist einleuchtend, dass bei den hier in Frage kommenden Umsetzungen der lebendigen Kraft nicht die Begriffe der gew\u00f6hnlichen Mechanik G\u00fcltigkeit haben. Namentlich l\u00e4sst uns der Begriff der Masse, wie er allgemein angewendet wird, g\u00e4nzlich im Stich.\nDie Definition der Masse, dass zwei K\u00f6rper gleiche Massen besitzen, wenn ihnen durch die n\u00e4mliche Kraft in der Zeiteinheit gleiche Beschleunigungen ertheilt werden, ist zwar umfassend genug, um f\u00fcr alle F\u00e4lle auszureichen. Allein in der gew\u00f6hnlichen Mechanik hat man damit nur einen Fall im Auge; hier ist f\u00fcr den Betrag\nder lebendigen Kraft j\u00ab\u00ab\u2019 stets die Schwere d. h. der Ueberschuss\nder Gravitationsanziehung \u00fcber die Aetherabstossung massgebend (S. 718); dieser Ueberschuss wird als Masse (m) bezeichnet. Eine solche Behandlung ist f\u00fcr alle Erscheinungen gestattet, wo die Schwere durch die \u00fcbrigen Kr\u00e4fte keine bemerkbare Aenderung erleidet. Sie hat also in den Gebieten der kleinsten Theilchen bloss noch f\u00fcr die fortschreitenden Bewegungen der Gasmolek\u00fcle G\u00fcltigkeit, weil diese Molek\u00fcle nur unter dem Einfluss der Erdanziehung stehen, gegen\u00fcber welcher die \u00fcbrigen Kr\u00e4fte verschwinden. In der Bestimmung ihrer\nkinetischen Energie, i\u00bb\u00ae1, wird daher m durch das Molecular-gewicht bemessen.\nDiese Bestimmung der Masse ist aber nicht mehr entscheidend f\u00fcr alle \u00fcbrigen Bewegungen der Molek\u00fcle und Atome, weil bei","page":736},{"file":"p0737.txt","language":"de","ocr_de":"6. W\u00e4rme.\n737\nihne\u00bb neben der Schwere auch andere Kr\u00e4fte ma\u00dfgebend werden und zwar oft in dem Grade, dass gegen\u00fcber den anderen Kr\u00e4ften die Schwere \u201eeibet unmerkbar wird. So tritt das Waeeerstoffatom bei vielen Vorg\u00e4ngen mit viel gr\u00f6sserer Wucht in die Bewegung ein als das Quecksilberatom, welches in gew\u00f6hnlichem Sinne 200 mal mehr Masse enth\u00e4lt \u25a0). Die gew\u00f6hnliche Bestimmung der Masse ist ferner ganz ohne Bedeutung f\u00fcr die Mechanik des eigentlichen Aethers, weil hier in \u00fcberwiegendem Maasse abstossende Kr\u00e4fte zur Wirksamkeit gelangen.\nF\u00fcr die meisten Molecularbewegungen und f\u00fcr die Aether-bewegungen muss statt der Masse im gew\u00f6hnlichen Sinne die Potenz in Anschlag kommen, welche \u00fcberhaupt in den nach Ort und Zeit wirksamen Kr\u00e4ften besteht und welche wegen der Klein-heit der sieh ver\u00e4ndernden Abst\u00e4ndo nach Ort und Zeit stets in bemerkbarer Weise wechselt. Die Masse der gew\u00f6hnlichen Mechanik ist ein besonderer Fall der Potenz, welcher den Vorzug grosser Einfachheit besitzt, weil wegen der grossen Entfernungen die Schwere\ndie Alleinherrschaft beh\u00e4lt und daher die Masse als unver\u00e4nderlich betrachtet werden kann.\nUnter Masse versteht man h\u00e4ufig nicht bloss die dynamische Wirkung eines K\u00f6rpers, sondern gewissermaassen auch seinen materiellen Inhalt. Doch liegt es auf der Hand, dass, wenn das Gold in der Volumeneinheit 21 mal mehr Masse enth\u00e4lt als das Eis, es deswegen nicht nothwendig reicher an Stoff sein muss. Wir haben also neben Potenz und Masse, welche durch die Wirkungsf\u00e4higkeiten bestimmt werden, noch den Gehalt zu unterscheiden, welcher ein Product von Zahl und Gr\u00f6sse der in der Volumeneinheit befindlichen Amere ist. M\u00f6glicherweise hat das Wasserstoffatom einen gleichen \u201eGehalt\u201c wie das Jodatom, welches ihm an Masse um das 127fache \u00fcberlegen ist; und m\u00f6glicherweise steht selbst das zusammengesetzte Theilchen des Welt\u00e4thers an \u201eGehalt\u201c einem gleichgrossen Volumen des massigsten K\u00f6rpers nahe, obgleich jenem nicht nur kein positiver, sondern sogar ein negativer Besitz an \u201eMasse\u201c zukommt.\n*) Vgl. bez\u00fcglich der Atomgewichte Abschnitt 7 : Grosse und Zusammensetzung der Atome.\n\u25bc. N&geli, Abstammungslehre.\ti7","page":737},{"file":"p0738.txt","language":"de","ocr_de":"Kr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\n6. Elektricit\u00e4t.\nDieser schwierigste Theil der Molecularphysik wird durch den Umstand, dass unter Elektricit\u00e4t zweierlei verstanden wird, verwickelter als die Lehre von der W\u00e4rme, vom Licht, von der Gravitation. Sie ist einmal elementare Kraft, wie die Gravitationsanziehung und die Aetherabstossung, und ferner ist sie Bewegung, wie die W\u00e4rme, das Licht, der Schall, und soll selbst nach Maassgal* dor Bewegung die Intensit\u00e4t ihrer elementaren Kraft ver\u00e4ndern.\nWas die Elektricit\u00e4t als Attractions- und Repulsionskraft betrifft, so hat sie ihren Sitz in den Ameren, von denen jedes die beiden Elektricit\u00e4ten, im Allgemeinen aber die eine im Ueberschuss enth\u00e4lt. Die elektrischen Kr\u00e4fte sind mit den Ameren untrennbar verbunden ; sie k\u00f6nnen denselben nicht entzogen und nicht mitgetlieilt werden. Jedes Amer ist daher, je nachdem die eine oder andere Elektricit\u00e4t \u00fcberwiegt, vorherrschend positiv oder negativ elektrisch, und in gleicher Weise hat jede Vereinigung von Ameren, je nach dem Resultat der Summirung, positiven oder negativen Charakter.\nDie Elektricit\u00e4t hat, wie ich fr\u00fcher anf\u00fchrte, keinen bemerkbaren Einfluss auf die Zusammenballung der w\u00e4gbaren Massen und auf die Zerstreuung des Aethers. Denn es besitzen je zwei oder mehrere Amere mit vorherrschend positiver und negativer Elektricit\u00e4t das Bestreben sich zu vereinigen und somit elektrisch-neutrale Gruppen zu bilden, in welchen die Eleetricit\u00e4t sich gegen\u00fclier dem Agglomerations- und Dispersionsprocess indifferent verh\u00e4lt. Solche neutrale Gruppen m\u00fcssen besonders im Aether, auch in dem ponderabeln Aether, der zwischen den Molek\u00fclen und Atomen sich befindet, Vorkommen, weil seine Theilchcn beweglich sind und sich somit stets entsprechend ihren Anziehungen und Abstossungen zusammen-gruppiren k\u00f6nnen.\nEs bilden sich aber auch Vereinigungen mit ausgesprochener positiver oiler negativer Elektricit\u00e4t; dieselben treten vorzugsweise in den w\u00e4gbaren Massen auf. weil hier die Abstossung der gleichnamigen Elektricit\u00e4ten leicht durch dieAnziehungderGravitations- und der isagischon Kr\u00e4fte \u00fcbertroffen wird. Dem entsprechend \u00fcborwiegt auch m den Atomen der verschiedenen Elemente die eine oder andere Elektricit\u00e4t mehr \u00ab1er weniger, aber \u00fcnmer nur in einem zur Go-sununtmengo vorhiUtnissm\u00e4ssig solir goringen Betrage. Jo nach dein","page":738},{"file":"p0739.txt","language":"de","ocr_de":"<\u00bb. Elektricit\u00e4t.\n7fl9\ngr\u00f6sseren oder kleineren Betrage nimmt das Element seine Stellung in der elektrochemischen Spannungsreihe ein. Diese \u00fcbersch\u00fcssige Positive oder negative Electricit\u00e4t in den Atomen ist nicht frei, da sie die Atome nicht verlassen kann, wor\u00fcber ich auf die sp\u00e4teren Abschnitte (9. Entstehung und Beschaffenheit der Atome und 10. Chemische Verwandtschaft) verweise. Sie ist aber auch nicht gebunden im gew\u00f6hnlichen Sinne, da \u201egebundene Elektricit\u00e4t\u201c die von der ungleichnamigen festgehaltene Elektricit\u00e4t bedeutet.\nDa die Amere mit positiver und negativer Elektricit\u00e4t in der Regel zu mehr oder weniger neutralen Gruppen vereinigt sind, so muss die elektrische Erregung darauf beruhen, dass diese neutralen Gruppen gespalten werden und dass ihre Componenten einerseits zu positiven, andrerseits zu negativen elektrischen Massen sich ansammeln. Der einfachste Fall der elektrischen Erregung ist derjenige durch Influenz, wobei durch die Fernwirkung eines elektrischen K\u00f6rpers die neutrale Elektricit\u00e4t eines andern (influirton) K\u00f6rpers in positive und negative zerlegt, und die ungleichnamige an der dem influirenden K\u00f6rper zugekehrten, die gleichnamige an der al>-kehrten Seite angeh\u00e4uft wird.\nAn der eben genannten elektrischen Vertheilung k\u00f6nnen nur Amere theilnehmen, die nicht unl\u00f6sbar mit den Atomen verbunden sind, n\u00e4mlich die Amere des zwischen den Atomen und Molek\u00fclen befindlichen Schwer\u00e4thers, w\u00e4hrend diejenigen der Atomk\u00f6rper ausgeschlossen sind. Eine elektrisch-neutrale Amergruppe dieses Aethers wird nun zerlegt, wenn die Anziehung, welche die positiven und negativen Amere dieser Gruppe auf einander aus\u00fcben, kleiner ist als die Anziehung einer in der N\u00e4he befindlichen elektrischen Masse auf die ungleichnamig elektrischen Amere jener Gruppe sammt ihrer Abstossung auf die gleichnamig elektrischen Amere dersell\u00bben. Indem diese gleichnamigen elektrischen Amere infolge der Abstossung durch den influirenden K\u00f6rper nach der von demselben abgewendeten Seite des influirten K\u00f6rpers sich entfernen, konunen von da neue elektrisch neutrale Amergruppen herbei und werden gleichfalls durch den influirenden K\u00f6rper zerlegt. Dieser Process duuert so lange, bis allseitiges Gleichgewicht eingetreten ist. Wird der influirende K\u00f6rper entfernt, so str\u00f6men die getrennten Massen j>ositiver und negativer Amere gegen einander und vereinigen sich wieder zu neutralen Gruppen.","page":739},{"file":"p0740.txt","language":"de","ocr_de":"740\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularcn Gebiet.\nWie ein elektrischer K\u00f6rper im Grossen, so kann auch jedes Atom im Kleinen vertheilend wirken. Da dasselbe die eine oder andere Elektricitftt im Ueberschuss enth\u00e4lt, so muss es einen Theil der zun\u00e4chst liegenden elektrisch neutralen Amergruppen seiner Aether-h\u00fclle zerlegen, sofern es die zusammenhaltenden Kr\u00e4fte (elektrische, isagische und Gravitationsanziehung) zu \u00fcberwinden vermag. Liegt das Atom frei, so befindet sich von den durch Zerlegung frei gewordenen Elektricit\u00e4ten die ungleichnamige unmittelbar am Atomk\u00f6rper, die gleichnamige an der Aussenseite der Aetheratmosph\u00e4re. Sind viele Atome von gleicher elektrischer Beschaffenheit zu einem K\u00f6rper vereinigt , so befindet sich die in den Aetherh\u00fcUen freigewordene ungleichnamige Elektricit\u00e4t im Innern des K\u00f6rpers (zwischen den Atomen), die gleichnamige an der Oberfl\u00e4che desselben, so weit sie nicht etwa den K\u00f6rper ganz verl\u00e4sst. Dass eine solche Vertheilung wirklich erfolge, wird nicht nur durch die gegebenen Bedingungen angezeigt, sondern auch durch einen andern, ganz allgemein vorkommenden Fall elektrischer Erregung best\u00e4tigt.\nDieser andere Fall der elektrischen Erregung ist dann gegeben, wenn zwei elektrisch neutrale K\u00f6rper von verschiedener Beschaffenheit m Ber\u00fchrung mit einander kommen. Bekanntlich wirkt jede Ber\u00fchrung mehr oder weniger elektromotorisch, indem sich die positive Elektricit\u00e4t \u00fcber den einen, die negative \u00fcber den andern K\u00f6rper ausbreitet. Nach der Amertheorie erkl\u00e4rt sich diese Erscheinung folgendermaassen. Die Atomk\u00f6rper der chemischen Elemente haben, wie schon gesagt, einen bestimmten elektrischen Charakter, den sie nicht verlieren k\u00f6nnen, und nehmen daher einen bestimmten Platz in der elektrischen Spannungsreihe ein. Ich will nun zuerst annehmen, der eine der beiden sich ber\u00fchrenden K\u00f6rper besitze positive, der andere negative elektrische Atomk\u00f6rper. Die Theilchen des zwischen den Atomen befindlichen Schwer\u00e4thers haben in jedem der beiden K\u00f6rper bereits eine durch die Elektricit\u00e4t der Atomk\u00f6rper bewirkte theilweise Zerlegung erfahren, so dass elektrisches Gleichgewicht besteht, und die \u00fcbrigen Aethertheilchen unzerlegt bleiben. Sowie nun aber Ber\u00fchrung der beiden K\u00f6rper eintritt, so ist das Gleichgewicht an der Ber\u00fchrungsstelle gest\u00f6rt. Auf die elektrisch neutralen Amergruppen der beiderseitigen Grenzschichten wirken jetzt nicht mehr bloss je die Elektricit\u00e4t des eigenen K\u00f6rpers, sondern zugleich die entgegengesetzten Elektricit\u00e4ten der beiden K\u00f6rper","page":740},{"file":"p0741.txt","language":"de","ocr_de":"6. Elektrizit\u00e4t.\n741\ncm, indem der K\u00f6rper mit positivom Charakter \u00ab1er Atomo die negativen, derjenige mit negativom Charakter die positiven Amere anzieht und die gleichnamig elektrischen Amere abst\u00f6sst. So wird durch die vereinte Action eine gewisse Menge neutraler Elektricit\u00e4t zerlegt. Es versteht sich, dass sich um so mehr freie Elektricit\u00e4t bildet, je ausgesprochener der positive und negative Charakter der beiden K\u00f6rper ist, und dass, indem sich die beiden Elektricit\u00e4ten \u00fcber die K\u00f6rper ausbreiten, der elektromotorische Process so lange fortgeht, bis all-soitiges Gleichgewicht besteht.\nIn dem eben angef\u00fchrten Beispiel waren die Atome des einen K\u00f6rpers positiv, die des anderen negativ elektrisch. Haben beide K\u00f6rper den gleichen (positiven oder negativen) Charakter, nur in ungleichem Grade, so erfolgt mit der Ber\u00fchrung ebenfalls St\u00f6rung (les elektrischen Gleichgewichts. Die an der Ber\u00fchrungsstelle befindlichen neutralen Amergruppen des Schwer\u00e4thers erfahren von beiden Seiten her ungleiche Einwirkung ; die gleichnamig elektrischen Amere werden von der einen Seite her st\u00e4rker abgestossen, die ungleichnamigen st\u00e4rker angezogen als von der andern, und so findet der n\u00e4mliche Zerlegungsprocess statt, wie wenn die beiden K\u00f6rper ungleichnamige wirksame Elektricit\u00e4ten besitzen. Die Menge der zerlegten neutralen Elektricit\u00e4t h\u00e4ngt bloss von der Differenz der wirksamen Elektricit\u00e4ten ab. Es habe in einem neutralen Amer-paar der Ber\u00fchrungsstelle das eine Amer 0,1 positive, das andere 0,1 negative e) aktrische Einheiten, und es wirken auf gleiche Entfernung von der einen Seite 2000, von der andern 1000 positive elektrische Einheiten ein, so ist die elektromotorisch wirkende Differenz der beiden Anziehungen 100 (n\u00e4mlich 0,1 X 2000 \u2014 0,1 X 1000), die elektromotorische Differenz der beiden Abstossungen gleichfalls 100, ganz ebenso wie wenn auf der einen Seite 500 positive, auf der andern Seite 500 negative elektrische Einheiten wirksam w\u00e4ren (n\u00e4mlich 0,1 X 500 -f- 0,1 X 500).\nNachdem ich einige F\u00e4lle der elektrischen Erregung n\u00e4her er\u00f6rtert habe, ist es \u00fcberfl\u00fcssig, auf die \u00fcbrigen einzutreten, bei welchen durch Reibung, mechanische Trennung, Druck und Zug, Erw\u00e4rmung und Abk\u00fchlung, Capillarit\u00e4t u. s. w. die Elektricit\u00e4ten frei werden und sich auf zwei K\u00f6rper oder auf entgegengesetzte Seiten des n\u00e4mlichen K\u00f6rpers vertheilen. Jede \u00e4ussere Einwirkung st\u00f6rt das bisherige Gleichgewicht der Molecularkr\u00e4fte und damit","page":741},{"file":"p0742.txt","language":"de","ocr_de":"742\nKr\u00e4fto un\u00abl (?<\u2018Mtaltungt\u2018n im mnlcmlaren Gebiet.\nauch dasjenige der Elektricitttten, dabei werden tlieiln elektrische Amere der Aetherh\u00fcllen, die von den Atomk\u00f6rjicrn festgehulten wurden, disponibel, tlieils elektrisch neutrale Amcrgruppen zerlegt.\nWenn in einem K\u00f6rper freio bewegliche Elektrieitiit nuftritt, so hul>en die Amere, an welche sie gebunden ist, infolge der gegenseitigen elektrischen Abstossung das Bestreben sich von einander zu entfernen. Sie breiten sich deshalb erfahrungsgemilss \u00fcl\u00bber die Oberfl\u00e4che aus und h\u00e4ufen sich an den vorragenden Stellen der-sell>en um so mehr an, je kleiner der Kr\u00fcmmungshalbmesser ist. Bei \u00fcberm\u00e4ssiger Anh\u00e4ufung kann die Spannung sich so sehr steigern, dass ein Thoil der elektrischen Amere fortgeschleudort wird. Im allgemeinen verlassen al>er dieselben einen K\u00f6rjier nur dann, \"0,m ibm ein leitender K\u00f6rper in Ber\u00fchrung gebracht wird.\nDie Vorstellung, wie die Verbreitung der Elektricit\u00e4t in einem K\u00f6rper und insonderheit die Leitung derselben erfolgt, boruht nach der Amertheorie auf der richtigen W\u00fcrdigung des Gleichgewichts, in dem sich die Theilchen des interatomalen ponderabcln Aethers befinden. Dasselbe besteht in Verbindung mit den allseitigen dynamischen Beziehungen, gleichwie in einer eingeschlossenen Gasmasse, durch die St\u00f6sse, mit denen die Theilchen auf einander treffen. Es sind somit die R\u00e4ume zwischen den Atomk\u00f6rpern vollst\u00e4ndig mit bewegten Aethertheilchen erf\u00fcllt; es kann kein Theilchen ein treten, ohne die Spannung zu vermehren, keines hinausgehen, ohne dieselbe^ zu vermindern, und eine Dislocation im Innern findet im allgemeinen nur statt, insofern als ein Theilchen an die Stelle des andern tritt. Bewegen sich in einem elektrisch neutralen K\u00f6rper elektrische Aethertheilchen in einer bestimmten Richtung, so muss .in entgegengesetzter Richtung eine Str\u00f6mung von neutralen Theilchen eintreten. Die Leitung der Elektricit\u00e4t von einem Herde aus, wo dieselbe durch Ver theilung entsteht, ist also ein Platzwechsel von Aethertheilchen, die wie eine Kette durch den ganzen K\u00f6rper verl\u00e4uft.\nAm anschaulichsten tritt uns das Wesen der elektrischen Leitung in der Th atsache entgegen, dass aus einem elektrischen K\u00f6rper keine Elektricit\u00e4t an den leeren Raum abgegeben wird, dass dieser ein \u00bbNicht, leiter\u00ab ist. Man m\u00f6chte erwarten, dass das bloss mit Aether erf\u00fcllte","page":742},{"file":"p0743.txt","language":"de","ocr_de":"fi. Elektricit\u00e4t.\n743\nVacuum einer in Spannung befindlichen M\u00fcsse von elektrischen Theil-chon den geringsten Widerstand darb\u00f6te. Nun dr\u00fcckt al>er der \u00c4ussere Aether mit der n\u00e4mlichen Kraft auf den vvischen den Atomen und Molek\u00fclen l\u00e4ndlichen Aether wie dieser nach aussen. Es k\u00f6nnen also Theilchen von dem letzteren nur dann austreten, wenn daf\u00fcr Aothertheilchen von aussen eintreten. Der Umstand, dass das Gleichgewicht zwischen dom inneren und dem \u00e4usseren Aether sich auch auf die Elektricit\u00e4t erstreckt und dass diese nicht einen K\u00f6rper verlassen und in den \u00e4ussern Aether entweichen kann, beweist uns die Richtigkeit der theoretischen Annahme, dass die Elektricit\u00e4t an K\u00f6rporchen von der Gr\u00f6ssenordnuug der Aothertheilchen, also an A mere gebunden sein muss.\nW\u00e4re aller der interatomalo Aether und der Aether des Vacuums von gleicher Beschaffenheit und somit die elektrische Spannung allein maassgebend, so m\u00fcssten die elektrischen Theilchen des ersteren infolge ihrer gegenseitigen Abstossung den K\u00f6rper verlassen und es w\u00fcrden an ihre Stelle neutrale Theilchen des \u00e4usseren Aethers eintreten. Allein die Theilchen des interatomalen Aethers sind ponderaliel, und werden also durch Gravitationsanziehung und wohl auch durch die Isagit\u00e4t mit einer gewissen Kraft festgehalten. Nur durch die Annahme, dass diese anziehenden Kr\u00e4fte m\u00e4chtiger sind als die elektrische Abstossung sammt der Aetherabstossung, wird die Thatsache erkl\u00e4rlich, dass der leere Raum ein Nichtleiter f\u00fcr die Elektricit\u00e4t ist. Die Theorie von dem ponderabeln Aether, der die Atome umgibt, hat damit eine Bekr\u00e4ftigung in der Erfah-rung gewonnen.\nWenn die elektrischen Theilchen des ponderabeln Aethers in einem neutralen K\u00f6rper ihren Platz verlassen, so m\u00fcssen andere ebenfalls ponderable aber neutrale Aothertheilchen an ihre Stelle treten. Der Austausch findet stets zwischen den zun\u00e4chst liegenden rheilchcn statt; die dynamische Ursache desselben besteht darin, dass die aus einem bestimmten Raum austretenden elektrischen Theilchen abgestossen werden, w\u00e4hrend die eintretenden neutralen Theilchen eine Abstossung nicht erfahren. Diese dynamische Wirkung muss um so energischer stattfinden, je geringer die Entfernung zwischen den platzwechselnden Theilchen ist. -- Nur wenig anders gestaltet sich die Leitung, wenn die Elektricit\u00e4t nicht in dem neutralen K\u00f6rper selbst durch Vertheilung frei gemacht, sondern dem-","page":743},{"file":"p0744.txt","language":"de","ocr_de":"744\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\nselben von aussen zugef\u00fchrt wird. In diosem Falle breitet sie sich m\u00f6glicherweise in dem K\u00f6rper aus, ohne dass neutrale Aether-theilchen sich in entgegengesetzter Richtung bewegen.\nIn beiden F\u00e4llen hat die gr\u00f6ssere oder geringere Entfernung der Aethertheilchen noch eine andere Bedeutung als die vorhin angegebene. Je n\u00e4her ein neutrales, aus zwei (oder auch mehreren) Ameren zusammengesetztes Theilchen sich bei einem oder mehreren elektrischen Theilchen befindet, um so eher wird es in der Weise orientirt, dass sein ungleichnamig elektrisches Amer diesen zugekehrt, das gleichnamige aber abgekehrt ist. Damit wird das neutrale Theilchen von den elektrischen Theilchen angezogen, weil die Attraction der letzteren zu dem n\u00e4her liegenden ungleichnamigen Amer selbstverst\u00e4ndlich gr\u00f6sser ist als die Repulsion auf das entferntere gleichnamige. Die Differenz dieser Attraction und Repulsion f\u00e4llt aber um so betr\u00e4chtlicher aus, je kleiner der Abstand ist. Bei wachsendem Abstand zwischen den elektrischen und neutralen Theilchen wird der Ueberschuss der Anziehung bald unmerklich gering.\nDie Wanderung eines elektrischen Amers bei gedr\u00e4ngter Stellung der neutralen Theilchen l\u00e4sst sich nun am nat\u00fcrlichsten so denken, dass dasselbe sich an das zugekehrte ungleichnamige Amer des n\u00e4chsten (neutralen) Paars anlegt, wodurch das abgekehrte gleichnamige Amer dieses Paars frei wird und seinerseits in derselben Weise zu dem n\u00e4chsten Paar, dasselbe zerlegend, \u00dcbertritt. So findet eine Wanderung durch eine ganze Reihe von neutralen Paaren oder Gruppen statt, und am Ende derselben tritt aus dem letzten Paar ein freies elektrisches Amer aus. Im Moment der Zerlegung und Wiedergestaltung haben die neutralen Gruppen die umgekehrte\nOrientirung, nehmen aber durch Drehung sofort wieder die fr\u00fchere Lage an.\nDie Leitung der Elektricit\u00e4t muss also um so leichter erfolgen, je n\u00e4her die Theilchen des ponderabeln Aethers beisammen liegen. Wir d\u00fcrfen wohl mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass in den K\u00f6rpern die Leitung durch die (dichteren) Aetherh\u00fcllen der Atome viel leichter als durch die zwischen denselben befindliche (lockere) Mittelsubstanz des Schwer\u00e4thers erfolge. Wahrscheinlich hat die letztere gar keinen Theil daran. Am g\u00fcnstigsten w\u00e4re es aber f\u00fcr die elektrische Leitung, wenn die Aetherh\u00fcllen ganz oder doch in","page":744},{"file":"p0745.txt","language":"de","ocr_de":"H. Elektricit\u00e4t.\n745\nihrer inneren Partie aus fl\u00fcssigem (nicht aus gasf\u00f6rmigem) Schwer ftther best\u00e4nden, weil in diesem Zustande die Aothertheilchen die gr\u00f6sste gegenseitige Ann\u00e4herung mit vollkommener Beweglichkeit verbinden. Dagegen ist eine Leitung der Elektricit\u00e4t durch die Atomk\u00f6rper hindurch \u00fcberall nicht denkbar, soweit die Amere fest mit einander verbunden sind, weil diesellien weder durch Drehung\nsich in der erforderlichen Weise orientiren, noch ihren Platz wechseln k\u00f6nnen.\nWenn dies richtig ist, so l\u00e4sst sich die Verschiedenheit der molecularen Beschaffenheit zwischen guten und schlechten Leitern leicht denken. Ein K\u00f6rper leitet um so besser, in je unmittelbarer Verbindung sich die Aetherh\u00fcllen seiner Atome befinden, um so schlechter, je zahlreicher und gr\u00f6sser die L\u00fccken zwischen diesen H\u00fcllen sind. In Nichtleitern mangelt die unmittelbare Verbindung zwischen den Aetherh\u00fcllen g\u00e4nzlich. Dies h\u00e4ngt theils von der Anordnung der Atome, vorz\u00fcglich aber von der sehr ungleichen St\u00e4rke ihrer Schwer\u00e4therh\u00fcllen ab (vgl. S. 734).\nDie Bedingungen f\u00fcr die Leitung der Elektricit\u00e4t sind demnach ganz anderer Art als diejenigen f\u00fcr die Leitung des Lichtes und der W\u00e4rme, da die Schwingungen der letzteren vorz\u00fcglich durch die zwischen den Aetherh\u00fcllen befindliche Mittelsubstanz sich fortpflanzen. Die ununterbrochene Verbindung der H\u00fcllen und diejenige der Mittelsubstanz befinden sich in einem gewissen Gegensatz zu einander, indem im allgemeinen die eine um so vollkommener vorhanden ist, je mehr die andere mangelt. Daraus erkl\u00e4rt sich der Umstand, dass durchsichtige und diathermane K\u00f6rper (wie beispielsweise das Glas) gew\u00f6hnlich die Elektricit\u00e4t nicht oder schlecht leiten, und dass die guten elektrischen Leiter (wie die Metalle) undurchsichtig und adiatherman sind. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass Elektricit\u00e4t, Licht und W\u00e4rme von manchen K\u00f6rpern gleich gut geleitet werden.\nIch habe bis jetzt den Fall betrachtet, in welchem freie Elektricit\u00e4t durch einen neutralen K\u00f6rper fortgeleitet wird. Werden zwei K\u00f6rper mit entgegengesetzter Elektricit\u00e4t in Ber\u00fchrung gebracht, so entsteht ein doppelter Strom, indem positive Elektricit\u00e4t nach der einen, negative nach der andern Richtung durch die leitende Substanz hindurchgeht, wobei die Intensit\u00e4t jedes der beiden Str\u00f6me von der Dichtigkeit der betreffenden Elektricit\u00e4t abh\u00e4ngt. Ein dauernder","page":745},{"file":"p0746.txt","language":"de","ocr_de":"Kr\u00e4fte* nn\u00abl fie\u00bbtaltnnp\u2018n im molocnlaron Gebiet\n740\ngegenseitiger Strom, bei welchem gleiche Mengon positiver und negativer Electrieit\u00e4t in entgegengesetzter Riclitung sich bewegen, bildet sich dann, wenn die durch Verkeilung entstehenden Elektri-citttten in leitender Verbindung sich befinden, wie dies beim galvanischen Strom der Fall ist.\nNach der Amertheorie k\u00f6nnen wir uns von der galvanischen Leitung eine \u00c4hnliche Vorstellung machen, wie sie f\u00fcr Wanderung der Ionen bei der Elektrolyse besteht, und wie ich sie schon f\u00fcr die einseitige elektrische Leitung in Anspruch genommen habe. Die neutralen Amergruppen, die in dem Leiter ununterbrochene Reihen bilden und die wir uns der Einfachheit halber als Doppelamere vorstellen k\u00f6nnen, richten sich so, dass das positive Amer der negativen, das negative der positiven Elektricit\u00e4tsquelle zugekehrt ist. Am einen Ende einer Reihe wird das der negativen Elektricit\u00e4tsquelle zugekehrte positive Amer angezogen und weggerissen ; infolge dessen r\u00fccken alle positiven Amere der Reihe um einen Schritt in gleicher Richtung vorw\u00e4rts. Ebenso tritt am andern Ende der Reihe das letzte negative Amer zu der positiven Elektricit\u00e4tsquelle \u00fcber, und es folgen ihm alle negativen Amere der Reihe um einen Schritt nach. Die Amerpaare der Reihe sind im ersten Moment verkehrt gerichtet; sie gelangen sofort durch Drehung wieder in die richtige Onentirung. Durch den eben geschilderten Vorgang hat sich die Zahl der Glieder in der Reihe um eines vermindert; die L\u00fccke muss durch ein neues neutrales Doppelamer ausgef\u00fcllt werden, was auf zweierlei Art geschehen kann. Entweder wandert aus dem nicht-gereihten intermolecularen Schwer\u00e4ther eine Amergruppe ein, oder es treten aus den beiden Elektricit\u00e4tsquellen je ein positives und ein negatives Amer in die Enden der Reihe \u00fcber und veranlassen in derselben eine Wanderung der ungleichnamigen Amere in entgegengesetzter Richtung, bis dieselben zusammentreffend sich zu einem Doppelamer vereinigen.\nDie eben entwickelte Hypothese macht die Voraussetzung, dass die beiden Elektricit\u00e4ten durch die n\u00e4mlichen Reihen von neutralen Amergruppen in entgegengesetzter Richtung wandern. Es ist aber el>en so gut m\u00f6glich und vielleicht noch wahrscheinlicher, dass von jeder Reihe nur eine Elektricit\u00e4t geleitet wird, dass also in gewissen Reihen neutraler Aethertheilchen die positive Elektricit\u00e4t in der einen Richtung, in andern Reihen dagegen die negative Elektricit\u00e4t","page":746},{"file":"p0747.txt","language":"de","ocr_de":"6. Elcktrieitttt.\n747\nin entgegengesetzter Richtung str\u00f6mt. In diesem Fall gestaltet sich die I^itung genau so, wie es bereits f\u00fcr die einseitige Str\u00f6mung angedeutet wurde (S. 744).\nDie Erregung der Elektricit\u00e4t, die Verbreitung und Leitung derselben bietet, wie sich aus den vorstehenden Betrachtungen ergibt, f\u00fcr dio Amcrtheorie keinerlei Schwierigkeiten dar. Dagegen vermag sie einige Iwsondere Erscheinungen der Elektrodynamik, n\u00e4mlich die Wirkung zweier elektrischer Str\u00f6me auf einander und die (Inductions-) Wirkung eines Stromes, dessen Moment sich ver\u00e4ndert, auf einen geschlossenen ruhenden Leiter noch nicht zu erkl\u00e4ren.\nEs ist nun bekanntlich W. Weber gelungen, ein f\u00fcr alle elektrischen Erscheinungen g\u00fcltiges Grundgesetz anfzustellen, unter der Annahme, dass die Wirkung nicht bloss von der Intensit\u00e4t, Entfernung und Richtung, sondern auch von der Geschwindigkeit und Beschleunigung der bewegten elektrischen Massen gegen einander abh\u00e4nge. Das elektrostatische Grundgesetz, nach welchem die Wirkung (Anziehung oder Abstossung) zweier elektrischer Massen (e und e,) gleich dom Product derselben, getheilt durch das Quadrat der Entfernung (r), also gleich\tist, erh\u00e4lt daher von W. Weber den\nCo\u00ebfficienten 1 \u2014 a v1 b - y, in welchem das zweite Glied die Wirkung der relativen Geschwindigkeit (c) der beiden Elektrieit\u00e4ten und das dritte Glied die Wirkung ihrer relativen Beschleunigung (g) angibt, w\u2019\u00e4hrend \u00ab und b Constanten sind.\nGegen das Weber\u2019sche Gesetz ist namentlich von Helmholtz Einspruch erhoben worden, welcher zeigte, dass es zu Consequenzen f\u00fchrt, die dem Gesetz von der Erhaltung der Kraft widersprechen. In der Erwiderung legt W. Weber namentlich auch darauf Gewicht, dass von Molecularbewegungen, die sich in unendlich kleinen Entfernungen vollziehen, kein Schluss auf Bewegungen in endlichen Abst\u00e4nden gemacht w\u2019erden d\u00fcrfe.\nVon Seite der Amertheorie ist zun\u00e4chst gegen die letztere Aufstellung einzuwenden, dass es gerade als die Aufgabe einer rationellen Naturwissenschaft erscheint, f\u00fcr die Molecularphvsik die n\u00e4mlichen Gesetze zu begr\u00fcnden wie f\u00fcr die Makrophysik, indem f\u00fcr die kleinsten","page":747},{"file":"p0748.txt","language":"de","ocr_de":"748\nKr\u00e4fte und (lestaltungen im molecularen Gel>iet.\nin die Action tretenden Thoilchen die ihnen zukominendo endliche Gr\u00f6sse in Anspruch genommen wird. Der Raum, den das kleinste chemische Atom nebst seiner Wirkungssph\u00e4re einnimmt, hat, wie sich aus der mechanischen Gastheorie und aus andern Bestimmungen ergibt, etwa einen Durchmesser von 1 Zehnmilliontel Millimeter, und das Amer nebst seiner Wirkungssph\u00e4re ist in linearer Ausdehnung vielleicht 10000 oder lOOOOOmal kleiner. Die molecularen Dimensionen, an welche die Theorie ankn\u00fcpfen muss, haben also eine angebbare Gr\u00f6sse und d\u00fcrfen nicht in unendlich kleine Werthe verfl\u00fcchtigt werden.\nWas ferner das Weber\u2019sehe Gesetz als solches betrifft, so spricht es, wenn es mehr als eine empirische Formel sein soll, einen Grundsatz aus, der nicht nur \u00fcber die bisherigen Grunds\u00e4tze der Mechanik hinausgeht, sondern \u00fcberhaupt au\u00e7h schwer mit unseren vernunftgem\u00e4ssen Forderungen in Einklang zu bringen ist. Die elementaren Kr\u00e4fte der Anziehung und Abstossung bewirken, was von Niemandem bestritten werden kann, Bewegung der mit diesen Kr\u00e4ften begabten K\u00f6rper. Nach dem Weber\u2019sehen Gesetz soll aber auch das Umgekehrte stattfinden und Anziehung oder Abstossung durch Bewegung hervorgebracht werden, denn dies ist der eigentliche Sinn der durch Bewegung verminderten Anziehung oder Abstossung. Die Bewegung soll, wenn sie eine Folge der Anziehung ist, Abstossung, und wenn sie eine Folge der Abstossung ist, Anziehung bewirken. U\u00e4sst man in der Formel, welche die Wirkung zweier elektrischer Massen in Bewegung darstellt,\n^i(l -\u00ab\u2022\u00ab\u2019 + &.*)\ndie Geschwindigkeit wachsen, so wird bei einer bestimmten Gr\u00f6sse derselben der ganze Ausdruck Null, sodass weder Anziehung noch Abstossung besteht, und bei noch gr\u00f6sserer Geschwindigkeit wird or negativ, sodass die zwei Elektricit\u00e4tsmassen, wenn sie in Ruhe sich anzogen, jetzt Abstossung, und wrenn sie in Ruhe sich abstiessen, jetzt Anziehung auf einander aus\u00fcben. Schon diese allgemeine Vorstellung \u00fcber die Wirkung der Bewegung schliesst eigentlich eine Negation des Principe von der Erhaltung der Kraft in sich.\nSollten demnach, wof\u00fcr eine hohe Wahrscheinlichkeit spricht, die bis jetzt g\u00fcltigen Principien der Mechanik auch f\u00fcr die Elektricit\u00e4t","page":748},{"file":"p0749.txt","language":"de","ocr_de":"6. Elektricit\u00e4t.\n749\nG\u00fcltigkeit haben, und die Wirksamkeit der letzteren bloss auf den Lagerungsverh\u00e4ltnissen der positiven und negativen Amere in jedem Zeitmoment abh\u00f6ngen, somit von ihrer Bewegung unabh\u00e4ngig sein, so w\u00e4re es die Aufgabe der Amertheorie, die Configurationen des Elektricit\u00e4ts\u00e4thers, welche die verschiedenen Wirkungen bedingen, festzustellen, \u2014 eine Aufgabe, die zwar nicht als absolut unm\u00f6glich, aber zur Zeit wenigstens noch als unausf\u00fchrbar erscheint. Es m\u00fcsste ferner gezeigt werden, wie die Verschiedenheiten dieser Configurationen Functionen der Bewegung und Beschleunigung sind, und wie somit auf nat\u00fcrlichem Wege Wirkungen erreicht werden, welche mit den in der Weber sehen Formel ausgedr\u00fcckten Wirkungen identisch sind.\nHierzu ist einmal zu bemerken, dass nach der Amertheorie die elektrischen Theilchen Amere und als solche nichts einfaches und best\u00e4ndiges, sondern zusammengesetzte und bis auf einen gewissen Grad unbest\u00e4ndige K\u00f6rper sind, die alle 6 Elementarkr\u00e4fte (w,! tation, Aetherabstossung, positive und negative Isagit\u00e4t, positive und negative Elektricit\u00e4t) enthalten, und in welchen ohne Zweifel ein Theil der Kr\u00e4fte fortschrittsbeweglich ist und seine Stellung im Amer in mannigfaltiger Weise ver\u00e4ndern kann. Deshalb muss angenommen werden, dass die elektrische Wirkung, die ein elektrisches Amer nach einer bestimmten Seite hin aus\u00fcbt, je nach seiner Orientirung und je nach Beeinflussung seiner fortschrittsbeweglichen Kr\u00e4fte durch die Umgebung, sehr ungleich ausfalle; dasselbe gilt auch f\u00fcr die elektrisch neutralen Paare oder Gruppen von Ameren. Ferner ist zu ber\u00fccksichtigen, dass die beiden gegenl\u00e4ufigen elektrischen Str\u00f6me je nach Umst\u00e4nden entweder gemeinschaftlich durch die gleichen, oder getrennt durch ungleiche Reihen des ponderabeln Aethers verlaufen k\u00f6nnen und dass die str\u00f6mende Efektricit\u00e4t im allgemeinen nur einen kleinen Theil der in der Strombahn befindlichen neutralen Elektricit\u00e4t ausmacht. Diese beiden Umst\u00e4nde gestatten sehr ungleiche Wirkungen zweier elektrischer Elementar-str\u00f6mehen und wohl auch zweier Str\u00f6me auf einander, von denen aber namentlich die letztere sich noch nicht \u00fcbersehen und beur-theilen l\u00e4sst.","page":749},{"file":"p0750.txt","language":"de","ocr_de":"750\nKr\u00e4fte nmd Gestaltungen im molecularen Gebiet.\n7. Magnetitmus.\nNach dem Vorg\u00e4nge Amp\u00e8re\u2019s nimmt die Physik an, dass die \u00bbMolek\u00fcle\u00ab eines Magneten widerstandslos und daher endlos von elektrischen Molecularstr\u00f6men umkreist werden, deren Ebenen zu der Magnetachse rechtwinklig stehen, sodass der Magnet eigentlich nichts anders ist als ein System von gleichgerichteten Molecular-soleno\u00efden. In dem unmagnetischen Eisen sowie in den \u00fcbrigen magnet isirbaren Substanzen sind die Molecularsolenoide nach verschiedenen Seiten gekehrt und geben daher keine Gesaramtwirkung. Die Magnetisirung besteht darin, dass eine gr\u00f6ssere oder geringere Zahl derselben gerichtet wird; ein elektrischer Strom, der eine Stahlnadel umkreist, orientirt, entsprechend der Wirkung, welche Str\u00f6me aufeinander aus\u00fcben, die magnetischen Molek\u00fcle (Molecularsolenoide) in der Weise, dass ihre Molecularetr\u00f6me ihm gleichlaufend werden.\nIn den des Diamagnetismus f\u00e4higen Substanzen ist nach der durch W. Weber herrschend gewordenen Annahme die neutrale Elektricit\u00e4t um die Molek\u00fcle in Ruhe; sie kann aber durch indu-cirende Ursachen in Rotation versetzt werden. Da jedoch die Bahnen dieser Str\u00f6me nicht drehbar sind, so bleibt ihre Richtung dem inducirenden Strom entgegengesetzt. Die diamagnetischen Mqlc-cularstr\u00f6me verlaufen ebenfalls widerstandslos und dauern daher so lange, bis sie durch eine entgegengesetzt inducirende Bewegung, wohin die Entfernung der inducirenden Ursache geh\u00f6rt, wiederaufgehoben werden.\nNachdem ich die Theorie des Magnetismus und Diamagnetismus kurz formulirt habe, will ich nun versuchen, dieselbe mit den im Vorstehenden entwickelten Vorstellungen in Verbindung zu bringen. Wenn man bis jetzt von \u00bbmagnetischen Molek\u00fclen\u00ab und von dieselben umkreisenden Molecularstr\u00f6men gesprochen hat, so hatte man nicht gerade die aus Atomen zusammengesetzten Molek\u00fcle der Chemie, sondern \u00fcberhaupt kleinste, weiter nicht bestimmte Theilchen im Auge. Die Amertheorie zwingt uns zu bestimmten Annahmen, und sie vermag auch die Erscheinungen in gen\u00fcgender Weise zu erkl\u00e4ren, wenn wir als die \u00bbmagnetischen Molek\u00fcle\u00ab die Atomk\u00f6rper in Anspruch nehmen.\nDie Atomk\u00f6rper sind, wie ich fr\u00fcher zeigte, von einer H\u00fclle von ponderabelm Aether umgeben, deren Dichtigkeit von innen nach aussen abnimmt, w\u00e4hrend die Beweglichkeit ihrer Theilchen in","page":750},{"file":"p0751.txt","language":"de","ocr_de":"7. Magnetismus.\n751\ngleicher Richtung zunimmt. Die Aethertheilchen der H\u00fclle liegen also in concentrischen Schichten und haben in jeder Schicht unter sich gleiohe Abst\u00e4nde und gleiche Bewegungszust\u00e4nde. Ihre Bewegungen werden durch die St\u00f6sse der umgebenden Aethertheilchen und durch die wirksamen Anziehungs- und Abstossungskr\u00e4fte geregelt, und sind theils schwingende theils fortschreitende Bewegungen. Unter den letztem muss es sowohl solche geben, bei denen die Theil-chen gr\u00f6ssere Strecken durchlaufen, als solche, bei denen ein Theilchen an das n\u00e4chstliegende anst\u00f6sst und dasselbe aus seiner Stellung verdr\u00e4ngt, worauf dieses das folgende verdr\u00e4ngt u. s. w. Findet die fortschreitende Bewegung der einen oder andern Art in einer zur 01)crfl\u00e4che des Atomk\u00f6rpers tangentialen Richtung statt, so l\u00e4sst sich leicht denken, dass sie unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden in der n\u00e4mlichen concentrischen Schicht von Aethertheilchen rings um das Atom sich i'ortsetze.\nSolche g\u00fcnstige Umst\u00e4nde sind nun allerdings vorhanden. Wie ich schon fr\u00fcher angedeutet habe (S. 740), m\u00fcssen die Atomk\u00f6rper \u00ab1er verschiedenen chemischen Elemente, da dieselben einen bestimmten elektrischen Charakter besitzen, einigermaassen vertheilend auf die neutralen Amergruppen ihrer Actherh\u00fcllen einwirken. Von den aus der Zerlegung hervorgehonden Ameren werden die mit dem Atomk\u00f6rper ungleichnamigen festgehalten, die gleichnamigen entfernt. Es befinden sich also namentlich in den innern Schichten der Aetherh\u00fclle neben den neutralen Amergruppen auch elektrische Amere. Die fortschreitende Bewegung der Aethertheilchen muss hier leicht den Charakter von elektrischen Str\u00f6mchen annehmen, indem die (unter sich gleichnamigen) elektrischen Amere, wegen der gegenseitigen Abstossung, sich in der gleichen Richtung bewegen; und diese Str\u00f6mchen behalten, da die elektrischen Amere von dem Atomk\u00f6rper angezogen werden, ihre tangentiale Richtung und kehren kreisf\u00f6rmig in sich zur\u00fcck. Ein elektrisches Amer bewegt sich demnach in analoger Weise um den Atomk\u00f6rper wie ein Planet um die Sonne. Kreisen mehrere oder viele solcher Elementarstr\u00f6mchen m der n\u00e4mlichen Richtung um einen Atomk\u00f6rper, so bilden sie zusammen einen von der physikalischen Theorie vorausgesetzten \"Molecularstrom* oder richtiger einen Atomalstrom.\nTn dem magnetisch werdenden Eisen richten sich die \u00bbMolecular-magnete\u00ab in \u00fcbereinstimmender Weiso. Dies kann entweder dadurch","page":751},{"file":"p0752.txt","language":"de","ocr_de":"752\nKr\u00e4fte und Gestaltungen Im molecularen Gebiet.\nFif. 30.\ngeschehen, dass die \u00bbMolek\u00fcle\u00ab sammt den sie umkreisenden Str\u00f6men ihre Richtung ver\u00e4ndern, oder dadurch, dass bei gleichbleibender Stellung der \u00bbMolek\u00fcle\u00ab die Str\u00f6me allein anders orientirt werden. Wenn nach der entwickelten Ansicht die chemischen Atome selber die dem Magnetismus zu Grunde liegenden magnetischen \u00bbMolek\u00fcle\u00ab darstellen, so kann man nicht wohl annehmen, dass dieselben in einem festen K\u00f6rper, wie es das Eisen ist, ihre Richtungen soweit ver\u00e4ndern, als es beim Magnetisch werden geschehen m\u00fcsste. Man\nwird eher geneigt sein zu vermuthen, dass die Stromebene allein sich drehe. Dies k\u00f6nnte einmal in der Weise erfolgen, dass die ganze Schale, die aus den in Str\u00f6mung begriffenen concentrischen Schichten der H\u00fclle besteht, eine Drehung ausf\u00fchrt. Wahrscheinlicher aber geschieht es so, dass die einzelnen Aethertheilchen ihre Bewegungsrichtung \u00e4ndern und dass somit die Elementar-str\u00f6mchen nachher durch andere Reihen von Theilchen verlaufen als vorher, wie in Fig. 30, wo eine Anordnung von Aethertheilchen dargestellt und die Str\u00f6mungsrichtung 0 U iu diejenige h \u2014 h \u00fcbergegangen ist.\nIm gew\u00f6hnlichen Zustande kreisen vielleicht keine eigentlichen \u00bb Molecularstr\u00f6me \u00ab um die Atome, sondern nur Elementarstr\u00f6mchen in geringerer oder gr\u00f6sserer Zahl je nach der chemischen und physikalischen Beschaffenheit der Substanz. Und diese Elementarstr\u00f6mchen haben dann einen sehr ungleichen Charakter, ungleiche Geschwindigkeit, ungleiche Richtung und ungleiche Dauer. Gleichgerichtete Elementarstr\u00f6mchen in gr\u00f6sserer Zahl, sodass sie zusammen einen eigentlichen \u00bbMolecularstrom\u00ab bilden, entstehen in diesem Fall erst unter dem Einfluss einer maguetisirenden Ursache durch Induction. Dieselben haben im Moment ihres Entstehens eine dem inducirenden Strom entgegengesetzte Richtung, werden aber, insofern sie beweglich sind, durch denselben alsbald homodrom gerichtet.\nDie Wirkung, die eine magnetisirende Ursache auszu\u00fcben vermag, h\u00e4ngt ab von der F\u00e4higkeit der Aetherh\u00fcllen, \u00bbMolecularstr\u00f6me* entstehen, und von der F\u00e4higkeit, dieselben orientiren zu lassen. Beide F\u00e4higkeiten sind sehr ungleich je nach den verschiedenen Atomen und je nach den verschiedenen Regionen in","page":752},{"file":"p0753.txt","language":"de","ocr_de":"?. Magnetismus.\n753\nder Aetherh\u00fclle des n\u00e4mlichen Atoms. Eine st\u00e4rkere Ursache vermag \u00bbMolecularstr\u00f6me\u00ab zu induciren oder solche durch Drehung zu orientiren, wo die schw\u00e4chere Ursache noch nichts ausrichtet. F\u00fcr jedes Atom gibt es eine bestimmte Stellung zu dem Inductions-str\u00f6m, in welcher am leichtesten sich ein \u00bbMolecularstrom\u00ab bildet, und bestimmte Zonen, innerhalb welcher am leichtesten eine Verschiebung der Stromebene erfolgt. Es wird daher wegen der verschiedenartigen Orientirung der Atome eines K\u00f6rpers h\u00e4ufig Vorkommen, dass die einen \u00bbMolecularstr\u00f6me\u00ab ihre urspr\u00fcngliche, dem inducirenden Strom antidrome Richtung behalten, andere sich ihm vollst\u00e4ndig homodrom stellen, und noch andere in mittleren Stellungen verharren.\nDer magnetische oder diamagnetdsche Charakter einer Substanz h\u00e4ngt ab von der Differenz zwischen der Zahl und der St\u00e4rke der homodromen und antidromen \u00bbMolecularstr\u00f6me\u00ab und von der Resul-tirenden, die sich aus allen andern \u00bbMolecularstr\u00f6men\u00ab ergibt. Das Eisen zeichnet sich dadurch aus, dass sich in demselben eine grosse Zahl von \u00bbMolecularstr\u00f6men\u00ab bildet, und dass dieselben leicht gerichtet werden. Im Wismuth entstehen weniger \u00bbMolecularstr\u00f6me\u00ab, und unter ihnen behaupten diejenigen, die ihre antidrome Richtung behalten, ein gr\u00f6sseres Uebergewicht als in irgend einer andern Substanz. \u2014 Es gibt gewisse K\u00f6rper, die bei schwacher Induction magnetisch, bei st\u00e4rkerer aber diamagnetisch sind; so stellt sich ein schwach eisenhaltiges Kohlenst\u00e4bchen zwischen schwachen Magnetpolen axial, zwischen starken dagegen \u00e4quatorial. Bei schw\u00e4cherer Einwirkung entscheiden diejenigen Partien der Aetherh\u00fcllen, welche von den Atomkr\u00e4ften weniger festgehalten werden und somit sich leichter induciren und orientiren lassen; bei starker Einwirkung erlangen die festeren Partien des Aethers das Uebergewicht, in denen unter den obwaltenden Umst\u00e4nden wohl noch \u00bbMolecularstr\u00f6me\u00ab erzeugt, aber nicht gerichtet werden k\u00f6nnen. Aus dem gleichen Grunde nehmen K\u00f6rper in derjenigen Richtung, in der sie zusammengepresst werden, in der sie somit dichter sind und wenigen bewegliche Aetherh\u00fcllen haben, st\u00e4rkere diamagnetische Eigenschaften an. \u2014 Dass an den Aetherh\u00fcllen der Atome bestimmte Zonen bevorzugt sind und sich anders verhalten als die \u00fcbrigen, zeigt sich deutlich aus dem Verhalten der Krystalle, indem in einachsigen Krystallen die Magnetkrystallachse mit der krystallographischer\nT. Nagell, AboUmmungitlehre.\t40","page":753},{"file":"p0754.txt","language":"de","ocr_de":"764\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecuiaren Gebiet.\nHauptachse zusammenf\u00e4llt und sich zwischen den Magnetpolen entweder axial oder \u00c4quatorial stellt, und indem ferner in Krystallen mit zwei optischen Achsen auch zwei feststehende magnetische Achsen vorhanden sind, die eine bestimmte Lage zu den ersteren haben.\nDie Molek\u00fcle der Fl\u00fcssigkeiten und Gase sind drehbar; man k\u00f6nnte daher erwarten, dass sie, wenn auch ihre Molecularstr\u00f6me nicht drehbar sind, doch durch das Bestreben der letzteren, sich mit dem inducirenden Strome homodrom zu stellen, gedreht w\u00fcrden und sich demnach s\u00e4mmtlich als magnetisch erweisen sollten. Was die Gase betrifft, so tritt fast constant das Gegentheil ein, indem sich alle mit Ausnahme des Sauerstoffs, in der Luft diamagnetisch verhalten. Der Diamagnetismus erkl\u00e4rt sich wohl daraus, dass die Gase w\u00e4hrend der Beobachtung in doppelter Bewegung begriffen sind. Einmal str\u00f6mt die Gasmasse zwischen den Magnetpolen durch, und ferner hat jedes Gasmolek\u00fcl die ihm bei der bestimmten Temperatur zukommende fortschreitende und drehende Bewegung. Die Orientirung de\u00ab einzelnen Gasmolektils zu den Magnetpolen \u00e4ndert sich daher fortw\u00e4hrend. Die kurze Zeit, w\u00e4hrend der diese Pole auf eine bestimmte Orientirung einwirken, reicht wohl aus, um einen Molecular-strom1) zu induciren, welcher sofort abstossend und diamagnetisch wirkt. Aber ehe dieser Molecularstrom homodrom gerichtet werden kann, ist das Molek\u00fcl durch seine drehende Bewegung in eine andere Orientirung gegen\u00fcber den Magnetpolen gekommen und es erfolgt eine neue Induction und damit wieder Abstossung. Dies gilt f\u00fcr den Fall, dass die Molecularstr\u00f6me in den Aetherh\u00fcllen verschiebbar sind. Sind sie nicht selber drehbar, so w\u00fcrden sie wohl das Molek\u00fcl in die homodrome (magnetische) Stellung bringen, wenn dessen eigenes Drehungsmoment Null w\u00e4re und wenn sie lange genug ein-wirken k\u00f6nnten. Aber ihre Kraft ist viel zu gering, um w\u00e4hrend\nder kurzen Zeit etwas gegen die vorhandene Drehung des Molek\u00fcls ausrichten zu k\u00f6nnen.\nDie Molek\u00fcle der Fl\u00fcssigkeiten besitzen ebenfalls fortschreitende und drehende Bewegungen. Da aber diese Bewegungen viel langsamer sind als bei den Gasen, so wird auch ihr Einfluss auf das\nl) Unter Molecularstrom des Molek\u00fcls ist hier die Summe der Str\u00f6me seiner Atome xu verstehen.","page":754},{"file":"p0755.txt","language":"de","ocr_de":"8. Gr\u00f6sse, Gestalt and Zusammensetzung der Atome.\t755\nmagnetische Verhalten der Substanzen ein weniger entscheidendes sein. Das Wasser und viele andere Fl\u00fcssigkeiten sind diamagnetisch, ein Beweis, dass ihre Molek\u00fcle nicht lange genug in de*- n\u00e4mlichen Orientirung verharren, um zu gestatten, dass die durch Induction hervorgebrachten antidromen (diamagnetischen) Molecularstr\u00f6me auch noch in die homodrome (magnetische) Lage gedreht werden, oder dass sie eine solche Drehung des ganzen Molek\u00fcls verursachen k\u00f6nnen. Dagegen zeigen sich die L\u00f6sungen von Substanzen, die des Magnetismus f\u00e4hig sind, namentlich von Eisensalzen, magnetisch, wenn sie eine bestimmte Concentration \u00fcberschritten haben. B* z\u00fcglich dieser l\u00f6slichen Substanzen ist anzunehmen, dass in kurzer Zeit Molecularstr\u00f6me inducirt und orientirt werden, wozu besonders die Eisenatome geeignet sind.\nIn den eben gemachten Er\u00f6rterungen bin ich der Annahme gefolgt, dass im gew\u00f6hnlichen Zustande keine eigentlichen \u00bbMolecularstr\u00f6me\u00ab um die Atome kreisen, sondern dass dieselben erst dann in einem K\u00f6rper entstehen, wenn str\u00f6mende Elektricit\u00e4t, die sich in der N\u00e4he befindet, auf ihn einwirkt. Indessen ist es ebensowohl m\u00f6glich, dass die genannten Atomalstr\u00f6me in allen K\u00f6rpern vorhanden, aber im gew\u00f6hnlichen Zustande nach verschiedenen Richtungen orientirt sind, so dass sie keine gemeinsame Wirkung ergeben. In diesem Falle hat die \u00e4ussere Ursache bloss die Atomalstr\u00f6me zu richten, und da die Richtungsf\u00e4higkeit in sehr ungleichem Maasse bei den verschiedenen Atomeu vorhanden ist, so tritt bald nur die erste Wirkung ein, indem sie in die dem inducirenden Strom gegenl\u00e4ufige Richtung gedreht werden (Diamagnetismus), bald auch noch die zweite Wirkung, indem sie nachtr\u00e4glich sich \u00fcmkehren und jenem Strom gleichl\u00e4ufig werden (Magnetismus).\n8. Gr\u00f6sse, Gestatt und Zusammensetzung der Atome.\nDa die chemischen Atome keine ausdehnungslosen Kraftpunkte sondern vielfach zusammengesetzte K\u00f6rperchen sind, so ergibt sich die Frage, welche Vorstellung wir uns bez\u00fcglich ihrer Gr\u00f6sse und Zusammensetzung zu machen haben. Die Gr\u00f6sse kann in zweifacher Hinsicht Gegenstand der Untersuchung sein ; es fragt sich n\u00e4mlich, welches Verh\u00e4ltniss zwischen dem Volumen des Atomk\u00f6rpers und\n48*","page":755},{"file":"p0756.txt","language":"de","ocr_de":"756\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet\ndem mit Aether gef\u00fcllten Raum, der einem Atom in den feston K\u00f6rpern zukommt, und ferner, welches Gr\u00f6ssenverh\u00e4ltniss zwischen den Atomk\u00f6rpem der verschiedenen chemischen Elemente bestehe.\nIch will zuerst auf die letztere Frage eintreten. Man wird von vornherein geneigt sein, den Atomen der verschiedenen Elemente, da sie die kleinsten empirisch untheilharen und mit einander sich verbindenden Theilchen des ponderabeln Stoffes sind, da sie uns somit\nals Dinge von gleicher Bedeutung entgegentreten, auch eine ungef\u00e4hr gleiche Gr\u00f6sse zuzuschreiben. Dem scheint zwar ihr ungleiches Gewicht entgegenzustehen, welches bis auf den 210 fachen Betrag des Gewichtes vom Wasserstoff sich abetuft und wohl als eine ihrer auffallendsten Eigent\u00fcmlichkeiten bezeichnet werden kann. Dieses ungleiche Atomgewicht veranlasste auch die Vermutung, dass der Wasserstoff das Urelement und dass die \u00fcbrigen Elemente aus demselben zusammengesetzt seien. W\u00e4re dies richtig und w\u00fcrde \u00fcberhaupt das Volumen der Atomk\u00f6rper vom Gewichte abh\u00e4ngen, so m\u00fcsste freilich ihre Gr\u00f6sse sehr verschieden sein. Wir d\u00fcrfen aber das Atomgewicht, wenn es sich um moleculare Dinge handelt, in keiner Weise als maassgebend betrachten ; dasselbe geht mit keiner phy8icalischen oder chemischen Eigenschaft parallel und Vann auch f\u00fcr die Vorstellung von der Gr\u00f6sse der Atome von keiner oder nur von ganz untergeordneter Bedeutung sein.\nIm Sinne der gew\u00f6hnlichen Mechanik, welche die Masse nach dem Gewicht bestimmt, hat allerdings das Quecksilberatom 200 mal mehr Masse als das Wasserstoffatom. Ich habe aber bereits darauf hingewiesen, dass in den molecularen Gebieten es nicht auf diese Masse, sondern auf die Zahl und Gr\u00f6sse der Amere ankommt, was ich zum Unterschied von der gew\u00f6hnlichen Masse als Gehalt be-zeichnete (8. 737). Es w\u00e4re leicht m\u00f6glich, dass das Wasserstoffatom aus einer gr\u00f6ssem Zahl von Ameren zusammengesetzt w\u00e4re als das Quecksilberatom, wenn gleiche Gr\u00f6sse der Amere vorausgesetzt wird, und dass es demnach ein gr\u00f6sseres Volumen bes\u00e4sse als letzteres.\nDas Atomgewicht gibt uns nur Auskunft \u00fcber die Differenz der Anziehung und Abstossung, welche zwischen der Erde und den Atomen der chemischen Elemente wirksam sind. Das Quecksilberatom wird von der Erde mit 200 mal so grosser Kraft angezogen als das Wasserstoffatom. Hiebei kommt die in beiden Atomen ent-","page":756},{"file":"p0757.txt","language":"de","ocr_de":"8. Grttme, Gestalt and Zusammensetzung der Atome.\t757\nhaltene Elektricit\u00e4t gar nicht in Betracht, da die Erde elektrisch neutral ist. Ebenso hat der Ueberschuss der einen Isagitftt \u00fcber die andere, wie er in den Atomen des einen und andern Elements vorhanden ist, keine Bedeutung, da die Erde beide Isagitftten in ziemlich gleicher Menge enthalten muss. Als wirksam bleiben somit nur die Gravitationsanziehung und die Aetherabstossung \u00fcbrig, von denen sowohl jedes der beiden Atome als die Erde bestimmte Mengen enth\u00e4lt, wie ich dies in dem Abschnitt \u00fcber Agglomeration und Dispersion auseinandergesetzt habe.\nEs darf aber nicht ausser Acht gelassen werden, dass die Schwere uns stets bloss die Differenz zwischen Anziehung und Abstossung anzeigt und gar keinen Aufschluss \u00dcber die Mengen der einzelnen Kr\u00e4fte gibt (S. 717 ff.). Das Quecksilberatom enth\u00e4lt nicht etwa 200mal mehr Gravitationsanziehungseinheiten als das Wasserstoffatom. In dem letzteren k\u00f6nnen verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig mehr oder weniger davon vorhanden sein. Wenn A die Summe aller Gravitationskr\u00e4fte der Erde, B die Summe ihrer Aetherabstossungskr\u00e4fte, A, die Summe der Gravitationskr\u00e4fte eines bestimmten chemischen Atoms und B, die Summe seiner Aetherabstossungskr\u00e4fte, m die Masse oder das Gewicht der Erde, m, die Masse oder das Gewicht eines Atoms bedeutet, so haben wir die Gleichungen: .\nAAt \u2014 BB, = mm,,\nund wenn wir B = nA und B, = \u00bb,A, setzen,\n^\t\u2014 wB,) == mm, oder AA, (1 \u2014 nn,) = mm,.\nDiese Gleichungen zeigen uns, wie das verschiedene Atomgewicht zu Stande kommt. A, B und n sind f\u00fcr alle Elemente constante Gr\u00f6ssen, dagegen wechseln, wie man nach den fr\u00fcher angegebenen Gr\u00fcnden annehmen muss, At und B, oder, was dasselbe ist, At und \u00bb,. Ist n, (das Verh\u00e4ltnis zwischen A, und B,) constant, so steigt das Atomgewicht mit der Zunahme von A,. Ist Ax constant, so steigt das Atomgewicht mit der Abnahme von n\u201e d. h. mit der Abnahme von B,.\nDas gr\u00f6ssere Atomgewicht zeigt also nicht nothwendig einen gr\u00f6sseren Betrag der Gravitationskr\u00e4fte an; es kann eben so gut die Folge einer kleineren Summe von Aetherabstossungskr\u00e4ften sein. Man kann sich dies leicht durch Beispiele klar machen. Drei","page":757},{"file":"p0758.txt","language":"de","ocr_de":"758\nKr\u00e4fte und Gestaltungen iin molecular en Gebiet.\nverschiedene Atome I, II, III haben die Kraftsummen A, und B,, At und Bit A% und B, und die Atomgewichte m\u201e \u00ab, und m,. Es sei nun f\u00fcr die Erde A = 1000000000001 Q, B = 1000000000000 Q, ferner :\nI.\tA{\t\u2014 1,001 \u00c7,\tBx\t\u2014 1,000g,\tso\tist\tmm, =\t1000000001 Qq\nII.\tA,\t= 0,1001 q,\tBt\t= 0,1000q,\tmm,=\t1000000001\u00c7 g\nIII.\tAi\t= 1,001 g,\tB,\t= 0,991 q,\tmm, =\t10000000001 Qq\nEs\tist also das\tAtomgewicht von\tII\t10 mal kleiner als dasjenige\nvon I, weil Ax bei gleichem Verh\u00e4ltnis von ~ und ~ 10 mal\nBi\ngr\u00f6sser ist als At, und das Atomgewicht von A, ist 10 mal gr\u00f6sser\nals dasjenige von A, wen bei gleichem Betrag von At und A\u201e\nBj kleiner ist als Bli).\n\u2022 \u00bb\nWenn man auch die Meinung hegen sollte, dass eine gr\u00f6ssere Kraftsumme auf ein gr\u00f6sseres Volumen des Atoms hinweise, so kann jedenfalls das Atomgewicht keinen Aufschluss dar\u00fcber geben. Denn die Schwerkraft, welche das Atomgewicht bedingt, ist ja gegen\u00fcber den Elementarkr\u00e4ften, die an dem Atom haften, winzig kl\u00ab\u00bbn, wie uns die Elasticit\u00e4t, die chemische Anziehung und alle molecularen Erscheinungen beweisen, und wie ich dies in dem Abschnitt \u00fcber die Schwerkraft f\u00fcr die elektrische Anziehung (\u00a3 723) und f\u00fcr die Coh\u00e4sion (8. 728) zifferm\u00e4ssig darzuthun suchte. Das Wasserstoffatom \u00fcbt demnach auch bei manchen Vorg\u00e4ngen eine viel gr\u00f6ssere vV irkung aus als das 200 mal schwerere Quecksilberatom.\nSollte eine Beziehung zwischen der Intensit\u00e4t der wirksamen Kr\u00e4fte und der Atomgr\u00f6sse bestehen, so m\u00fcsste vic eher aus der Adh\u00e4sion und der chemischen Anziehung etwas zu folgern sein, als aus der Schwere. Aller die Wirkung sagt \u00fcberhaupt nichts bestimmtes aus \u00fcber die Menge der Amere in den Atomen und somit \u00fcber das Volumen der letzteren, da ja in einer kleineren Zahl von Ameren eben so grosse Ueliersch\u00fcsse der drei Kraftpaare enthalten sein k\u00f6nnen als in einer viel betr\u00e4chtlicheren Zahl und da die Kraftwirkung nicht bloss von diesen Uebersch\u00fcssen, sondern\n) Diese Beispiele sollen bloss in rechnerischer Bestellung seigen, wie sich die Dominantenkrftfte und die Atomgewichte su einander verhalten k\u00f6nnen. Der Einfachheit wegen wurden nicht die Verh\u00e4ltnisse, wie sie in Wirklichkeit be stehen mttss. n, sondern willk\u00fcrliche und unnat\u00fcrliche Verh\u00e4ltnisse gew\u00fchlt.","page":758},{"file":"p0759.txt","language":"de","ocr_de":"8. Gr\u00f6sse, Gestalt und Zusammensetsung der Atome.\t759\nso weit es sich um kleinste Entfernungen handelt, eben so sehr von der Verkeilung der Elementarkr\u00e4fte im Atom abh\u00e4ngt. \u2014 F\u00fcr die Beurtheilung der Gr\u00f6sse der Atome bei den verschiedenen chemischen Elementen m\u00fcssen also andere Gesichtspunkte massgebend sein und zwar kommt es dabei, wie ich in der Folge zeigen werde, vorzugsweise auf die Vorstellung an, welche wir \u00fcber Gestalt und Zusammensetzung der Atome gewinnen.\nWas ferner die Frage betrifft, wie sich das Volumen des Atomk\u00f6rpers zu dem Raum verhalte, den ein Atom mit dem zugeh\u00f6rigen Aether in einem festen oder fl\u00fcssigen K\u00f6rper einnimmt, so ist wohl schon die Meinung ausgesprochen worden, dass die Atome winzig klein seien und sich in einem K\u00f6rper gleichsam wie die Himmelsk\u00f6rper im Weltenraum bef\u00e4nden. Es gibt verschiedene Gr\u00fcnde, welche uns die Unhaltbarkeit einer solchen Annahme darthun, und uns zeigen, dass die Atomk\u00f6rper einen ganz betr\u00e4chtlichen Theil des Raumes einnehmen. Ehe ich auf diese Gr\u00fcnde eintrete, ist es zweckm\u00e4ssig, zuerst das Gr\u00f6ssenverh\u00e4ltniss zwischen Atom und Molek\u00fcl festzustellen.\nMan k\u00f6nnte, da das Molek\u00fcl in den fl\u00fcssigen, besonders aber in den gasf\u00f6rmigen Substanzen so deutlich in seiner Einheit hervortritt, vielleicht sich vorzustellen geneigt sein, dass die Atome in seiner Mitte zusammengedr\u00e4ngt seien, sodass in festen K\u00f6rpern die Zwischenr\u00e4ume zwischen den Atomen eines Molek\u00fcls viel kleiner w\u00e4ren, als der Abstand zwischen den einander zugekehrten Atomen zweier benachbarter Molek\u00fcle. Dass aber diese beiden Abst\u00e4nde nicht sehr ungleich sein k\u00f6nnen, geht mit vollkommener Sicherheit aus den Thatsachen hervor, dass die Molek\u00fcle vieler chemischer Substanzen sich schwerer trennen lassen als die Atome anderer Molek\u00fcle, und dass selbst in dem n\u00e4mlichen chemischen Element die Trennung der Molek\u00fcle zuweilen eine fast eben so grosse Kraft erfordert als die Trennung der Atome. Diese Thatsachen sind entscheidend , weil ih dem Zustande der Vereinigung Gleichgewicht zwischen den anziehenden und den durch Elasticit\u00e4t abstossenden Kr\u00e4ften besteht und es daher zur St\u00f6rung des Gleichgewichtes einer um so gr\u00f6sseren Kraft bedarf, je kleiner der Abstand ist und weil","page":759},{"file":"p0760.txt","language":"de","ocr_de":"760\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im mo'.ecularen Gebiet.\noffenbar die Kr\u00e4fte, welche die Atome eines chemischen Elementes zu Molek\u00fclen verbinden, analoger Natur sind, wie diejenigen, welche diese Molek\u00fcle gegenseitig Zusammenhalten. In manchen festen K\u00f6rpern sind die Molek\u00fcle selbst so wenig hervortretende Gruppen, dass deren Existenz durch keine Erscheinung sich kund gibt, sondern bloss aus der Analogie vermuthet und nach verschiedenen Voraussetzungen auch verschieden angenommen wird. Man kann daher ohne merklichen Fehler in der vorliegenden Frage die festen K\u00f6rper als unmittelbar aus den Atomen zusammengesetzt ansehen.\nNach Feststellung dieses Umstandes will ich als ersten Grund f\u00fcr die relativ betr\u00e4chtliche Gr\u00f6sse der Atomk\u00f6rper die Festigkeit anf\u00fchren. In den festen K\u00f6rpern sind die Atome nicht gegen einander verschiebbar, weil sie an bestimmten Stellen durch st\u00e4rkere Attraction verbunden sind. Wir m\u00fcssen uns in dieser Beziehung das Atom als dynamisch-eckig vorstellen, wenn es auch seinen Dimensionen nach kugelig sein sollte, denn jene st\u00e4rkeren Attractions-stellen w\u00fcrden gleichsam dynamische Vorspr\u00fcnge bilden. Es ist aber kein Grund vorhanden, warum wir die Gestalt nicht, den wirksamen Kr\u00e4ften entsprechend, wirklich als polyedrisch und eckig betrachten sollten; dadurch werden die Erscheinungen, welche uns die Festigkeit darbietet, viel verst\u00e4ndlicher. \u2014 Nun wird notwendig die Festigkeit um so geringer, je gr\u00f6sser die Abst\u00e4nde der Atome sind, da die Anziehung im umgekehrten Verh\u00e4ltnis des Quadrats der Entfernung wirkt. W\u00e4re der Abstand der Atome sehr betr\u00e4chtlich, so m\u00fcssten die festen K\u00f6rper sich wie Gase oder Fl\u00fcssigkeiten verhalten; denn die Ungleichheit der Anziehung ihrer verschiedenen Seiten und Ecken w\u00fcrde selbst bei g\u00fcnstigster Gestalt verschwinden. Im Stickstoffgas ist nach der mechanischen Gastheorie der durchschnittliche Abstand der Molek\u00fcle nur etwas mehr wie 14 mal so gross als der Molek\u00fcldurchmesser und nur etwas mehr wie 7 mal so gross als der Durchmesser der Clausius\u2019schen Wirkungssph\u00e4re, welche als eine H\u00fclle betrachtet wird, in welche ein anderes Molek\u00fcl nicht einzudringen vermag. Ferner wird eine Gasmasse, die sich unter dem Druck einer Atmosph\u00e4re befindet, durch den Druck einer zweiten Atmosph\u00e4re auf die H\u00e4lfte des Volumens zusammengepresst, w\u00e4hrend eine Wassermasse durch den n\u00e4mlichen Druck ihr Volumen bloss um 48 Millionstel vermindert, und feste K\u00f6rper im allgemeinen noch weniger zusammendr\u00fcckbar sind. Daraus ergibt sich un-","page":760},{"file":"p0761.txt","language":"de","ocr_de":"8. Gr\u00f6sse, Gestalt and Zusammensetzung der Atome.\nzweifelhaft, dass in festen und fl\u00fcssigen Substanzen der Durchmesser der Atomk\u00f6rper jedenfalls einen sehr betr\u00e4chtlichen Theil des Durchmessers der Atomvolumen ausmacht.\nEin zweiter Grund f\u00fcr die Annahme einer relativ betruchtlichen Gr\u00f6sse der Atomk\u00f6rper in feston und fl\u00fcssigen Substanzen ergibt sich aus der Fortpflanzung der W\u00e4rme und des Lichtes. W\u00e4ren die Atome weit von einander entfernt, so m\u00fcssten alle Substanzen diatherman und durchsichtig sein, weil sie dann die Aetherwellen ungehindert durchgehen liessen. Das Vorhandensein von dunkeln und adiathermanen Substanzen beweist uns, dass die Atomk\u00f6rper mit ihren Aetherh\u00fcllen einen sehr grossen Theil des Raumes erf\u00fcllen und somit den Licht- und W\u00e4rmestrahlen leicht den Weg versperren.\nEiner, dritten Grund Anden wir in der Leitung der Elektricit\u00e4t. Wenn die Theorie, die ich in dieser Beziehung ausgesprochen habe, richtig ist, so m\u00fcssen in den guten Leitern die Aetherh\u00fcllen der Atome in unmittelbarer Verbindung sein, also sich stellenweise ber\u00fchren. Dies ist nur bei einer relativ betr\u00e4chtlichen Gr\u00f6sse der Atomk\u00f6rper m\u00f6glich.\nDer vierte und nicht geringste Grund besteht endlich in den besonderen Erscheinungen der chemischen Anziehung, wor\u00fcber ich auf den folgenden Abschnitt verweise.\nWenn wir pile Umst\u00e4nde ber\u00fccksichtigen, so d\u00fcrfte f\u00fcr den Standpunkt der Amertheorie folgen, dass die Atomk\u00f6rper in festen\nund fl\u00fcssigen Substanzen bei der Mehrzahl der Elemente \u2014 bis \u2014\n8 16\ndes Raumes einnehmen und dass ihre Durchmesser sich zum Abstande ihrer Mittelpunkte im Mittel wie 1 : 2 bis 1: 2,5 verhalten, dass also die durchschnittlichen Entfernungen der Oberfl\u00e4chen der Atomk\u00f6rper (oder die Zwischenr\u00e4ume zwischen denselben) eben so gross bis 1V* mal so gross sind als ihre Durchmesser. Bei einzelnen Elementen bleibt die Gr\u00f6sse des Atomk\u00f6rpers offenbar hinter diesen Verh\u00e4ltnissen zur\u00fcck, so bei Kalium und Rubidium, oder geht \u00fcber dieselben hinaus, so besonders bei Kohlenstoff, Bor, Aluminium.\nBez\u00fcglich der Zusammensetzung der Atome geht die Amertheorie von der Annahme aus, dass die Atomk\u00f6rper aus einer","page":761},{"file":"p0762.txt","language":"de","ocr_de":"762\nKr\u00e4fte nnd Gestaltungen im molecularen Gebiet.\nungeheuren Anzahl, vielleicht aus Billionen von Ameren bestehen. Ueber die Art und Weise des Aufbaues aus diesen Bausteinen gibt uns weder Theorie noch Erfahrung Aufschluss. Bloss bez\u00fcglich der n\u00e4chsten Bestandteile, also bez\u00fcglich des allerletzten Zusammensetzungsactes finden wir in der verschiedenen Wertigkeit der Elemente einigen Anhalt. Wir k\u00f6nnen mit Gewissheit annehmen, Jje chemischen Kr\u00e4fte, durch die sich die Affinit\u00e4ten oder Verwandtschaftseinheiten \u00e4ussem, an bestimmte gesonderte Partien der Atomsubstanz gebunden sind; und da ein mehrwertiges Atom oft vollkommen die Bedeutung von mehreren einwertigen Atomen hat, so ist es im h\u00f6chsten Grade wahrscheinlich, dass die mehrwertigen Atome zun\u00e4chst aus eben so viel Theilen bestehen, als sie Affinit\u00e4ten besitzen, und dass sie gleichsam Verwachsungen von einwertigen Atomen sind.\nDiese Annahme wird von der Wirkungsweise der mehrwertigen Atome mit gebieterischer Notwendigkeit gefordert. Denn andern Falles m\u00fcsste jedes mehrwertige Atom auch als einwertiges auf-treten k\u00f6nnen und als solches eine um so gr\u00f6ssere chemische Verwandtschaft besitzen. W\u00fcrde beispielsweise das 5 wertige Stickstoff-atom nicht aus 5 Partien, jede mit der Kraft eines einwertigen Atoms, bestehen, w\u00e4re es ein ungegliedertes Ganzes mit einer bestimmten Menge chemischer Kraft, so m\u00fcsste dasselbe, wie es 5 fremde Verwandtschaftseinheiten aber jede nur schwach anzieht, ein einwertiges Atom mit der 5 fachen Kraft festhalten. Dies ergibt sich aus dem S\u00e4ttigungsverm\u00f6gen der chemischen Affinit\u00e4ten, dessen Erkl\u00e4rung ich im n\u00e4chsten Abschnitt versuchen werde.\nNun wird zwar behauptet, dass es sich beispielsweise mit einem 4werthigen Atom verhalten k\u00f6nnte wie mit einem Magneten, der 4 Pfund zu tragen vermag, und dem wir ebenfalls nicht 4 Einzelkr\u00e4fte zuschreiben d\u00fcrfen. Doch ist dieser Vergleich nicht zutreffend. Wenn man einen solchen Magneten mit dem Gewicht von 1 Pfund belastet, so h\u00e4lt er es mit 4 mal so grosser Kraft fest als ein Magnet, der nur 1 Pfund zu tragen vermag. Dies l\u00e4sst sich f\u00fcr das mehr-werthige Atom entschieden nicht behaupten, wie alle chemischen Erscheinungen und auch die Bildungsw\u00e4rmen zeigen. Das 4werthige Kohlenstoffs torn zieht das Sauerstoffatom im Kohlenoxyd nicht mit der n\u00e4mlichen Kraft, sondern nur mit etwas mehr als der H\u00e4lfte der Kraft an, mit welcher es die zwei Sauerstoffatome in der Kohlen-","page":762},{"file":"p0763.txt","language":"de","ocr_de":"8. Grosse, Gestalt und Zusammensetiung der Atome.\t73g\ns\u00e4ure anzieht. F\u00fcr ein 4 werthiges Atom trifft somit nur der andere ergleich zu, dass es sich n\u00e4mlich wie eine Combination von zwei gekreuzten Magneten verhalte, deren 4 Pole je 1 Pfund und nicht mehr tragen. Die Affinit\u00e4ten wirken nicht summirt als Einheit, sondern bloss in ihrer Getrenntheit, und deswegen m\u00fcssen auch ihre Kr\u00e4fte r\u00e4umlich geschieden, also auf besondere Partien des Atoms vertheilt sein. Wir k\u00f6nnen uns daher die Frage stellen welche Lagerung diese Theile, die ich, um eine Bezeichnung zu haben, Particelle nennen will, zeigen, ein Umstand, der in engster Beziehung zur Gestalt der Atomk\u00f6rper steht.\nHalten wir uns zun\u00e4chst an die geometrischen M\u00f6glichkeiten, so gibt es f\u00fcr die mehrwerthigen Atome drei Arten, wie die Particelle angeordnet sein k\u00f6nnen. Die letzteren liegen n\u00e4mlich entweder in emer Lime hinter einander, oder in einer Ebene neben einander, oder k\u00f6rperlich neben und hinter einander. Im ersten Fall sind die mehrwerthigen Atome gegliederte St\u00e4bchen, jedes Glied einer Affinit\u00e4t entsprechend. Im zweiten Fall sind sie T\u00e4felchen, an denen die Ecken die Affinit\u00e4ten darstellen. Im dritten Fall sind die Atome polyedrisch und den Affinit\u00e4ten entsprechen ebenfalls die Ecken der Polyeder.\nUeber die Lagerungsverh\u00e4ltnisse der Particelle verm\u00f6gen uns einige Erw\u00e4gungen, die sich an die Constitution der Verbindungen kn\u00fcpfen, Fingerzeige zu geben. Die Particelle der Atome, als Tr\u00e4ger der chemischen Anziehung, wirken im umgekehrten Verh\u00e4ltnis des Quadrats der Entfernung auf einander. Um sich mit einander zu verbinden und sich vollkommen zu s\u00e4ttigen, m\u00fcssen sie sich ungehindert n\u00e4hern k\u00f6nnen. Ist die ausreichende Ann\u00e4herung in Folge der besonderen Anordnung der Particelle nicht ausf\u00fchrbar, so mangelt auch die M\u00f6glichkeit der S\u00e4ttigung. Dieser Umstand macht sich um so f\u00fchlbarer, da die Affinit\u00e4ten nicht etwa als Centralkr\u00e4fte der Particelle wirken, sondern vielmehr in der N\u00e4he der Oberfl\u00e4che ihren Sitz haben1).\nDenken wir uns beispielsweise, dass an einem 4 werthigen Atom 3 Particelle der ausgesprochenen Forderung gen\u00fcgen und dass sie von den Particellen derjenigen Atome, mit denen sie sich verbinden, um den Abstand d getrennt seien, dass aber das 4. Particell, in Folge des suppomrten Baues des Atoms, sich seinem Gegen\u00fcbei in dem\n) den folgenden Abschnitt Ober die chemische Verwandtschaft.","page":763},{"file":"p0764.txt","language":"de","ocr_de":"764\nKr\u00e4fte and Gestaltungen im molecularen Gebiet.\nMolek\u00fcl bloss bis auf den Abstand 2 d n\u00e4hern k\u00f6nnte, so w\u00e4re der Coefficient f\u00fcr die Anziehung der drei ersten Fariiceiie f\u00fcr das\nV*er*6 4\u00abP ' W\u00e4hrend also jene ihre volle chemische Verwandtschaft\ngeltend machen k\u00f6nnten, so verm\u00f6chte dieses nur den 4. Theil der vollen Verwandtschaft zu erf\u00fcllen. Geht nun aus den verschiedenen Erscheinungen, aus der Festigkeit der Verbindungen und aus den Bildungsw\u00e4rmen hervor, dass an dem genannten Atom alle 4 Werthig-keiten gleich ges\u00e4ttigt sind, so ist dies ein Beweis, dass der supponirte Bau desselben unm\u00f6glich der richtige sein kann, und dass ein solcher aufgesucht werden mu \u00bb, der die Ann\u00e4herung aller Particelle gestattet.\nDie Anwendung dieser Regel setzt eine genaue Kenntniss von der Constitution der chemischen Verbindungen, d. h. des Baues der Molek\u00fcle, und von den Kr\u00e4ften, welche je zwei Particelle mit einander verbinden, voraus. Schreiben wir den Atomen eine st\u00e4bchenf\u00f6rmige Gestalt mit linearer Anordnung der Particelle zu, so lassen sich aus denselben leicht die Molek\u00fcle aller Verbindungen herstellen. Dies ist auch noch m\u00f6glich, wenn die Particelle in einer Ebene liegen und tafelf\u00f6rmige Atome bilden. Dagegen bietet eine poly-edrische Gestalt der Atome mit k\u00f6rperlicher Anordnung der Particelle bez\u00fcglich der Constitution der Molek\u00fcle manche Schwierigkeiten dar. W\u00e4re beispielsweise ein 4werthiges Metallatom (if) tetraedrisch gebaut, so w\u00fcrden die Sauerstoffverbindungen M%0\u201e M,Ot, MtO, zwar Molek\u00fcle von nicht unm\u00f6glicher, aber doch von wenig nat\u00fcrlicher Construction geben. \u2014 Um mich aber nur an das Einfachste, an die Molek\u00fcle der chemischen Elemente im gasf\u00f6rmigen Zustand zu halten, so bestehen dieselben mit wenigen Ausnahmen aus je 2 Atomen. Sind ihre Werthigkeiten ges\u00e4ttigt, so k\u00f6nnen ihre Atome nur st\u00e4bchenf\u00f6rmig oder tafelf\u00f6rmig gebaut sein. H\u00e4tte beispielsweise ein 4werthiges Atom eine tetraedrische Gestalt, so m\u00fcsste bei der Vereinigung von 2 Atomen zu einem Molek\u00fcl an jedem Atom wenigstens eine Werthigkeit frei bleiben. Betrachtet man aber solche Molek\u00fcle als unges\u00e4ttigte Verbindungen oder z\u00e4hlt man sie zu den Beispielen der wechselnden Valenz, so geh\u00f6ren sie zu den Kategorien, die ich sofort besprechen will.\nEine zweite Erw\u00e4gung betrifft die unges\u00e4ttigten Verbindungen, bez\u00fcglich derer man annimmt , dass ein Theil der Werthigkeiten","page":764},{"file":"p0765.txt","language":"de","ocr_de":"8. Grosse, (restait and Zusammensetzung der Atome.\n766\nunter gewissen Umst\u00e4nden frei bleibe, indess dieselben unter andern Bedingungen sich s\u00e4ttigen. Diese Annahme, wenn sie buchst\u00e4blich genommen wird, ist aber in vielen F\u00e4llen nicht statthaft, da kein Grund das Freibleiben erkl\u00e4ren k\u00f6nnte. Viel wahrscheinlicher ist es mir, dass in den nicht ges\u00e4ttigten Verbindungen stets alle Particelle in Anspruch genommen sind, dass aber 2 oder mehrere gemeinschaftlich die Bindung einer gegen\u00fcberstehenden Valenz \u00fcbernehmen. Dies entspricht auch den Forderungen der Mechanik, nach welchen die Kr\u00e4fte eines Particells in ihrer Wirkung sich nicht auf ein einziges ihnen opponirtes Particell beschr\u00e4nken k\u00f6nnen, sondern auch auf die benachbarten Particelle nach Maassgabe der Entfernung sich erstrecken m\u00fcssen.\nEs gibt unter den Metalloiden und Metallen manche 4 werthige Elemente, welche durch ein Atom Sauerstoff halb und durch 2 Atome ganz ges\u00e4ttigt werden. W\u00e4ren diese Elemente, wie auch wohl angenommen wurde, tetraedrisch gebaut, so m\u00fcssten bei der Verbindung mit einem einzigen 2werthigen Atom zwei oder wenigstens eine Werthigkeit in Wirklichkeit frei bleiben, und es w\u00e4re nicht einzusehen, warum diese freien Particelle sich nicht ebenfalls verbinden sollten. Sind aber die 4 Particelle der 4 werthigen Elemente wie die Ecken eines Quadrats zusammengeordnet (Fig 31 b), so k\u00f6nnen alle vier sich mit einem aus zwei Particellen bestehenden Atom verbinden (Fig. 31 c, d). Die Verbindung MO ist aber eine unvollst\u00e4ndige, d. h. mit unvollkommen ges\u00e4ttigten Werthigkeiten und sie wird unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden durch die vollkommen ges\u00e4ttigte MOt verdr\u00e4ngt. Es sind daher die \u00bbfreien Werthigkeiten\u00ab nicht im wirklichen, sondern nur in bildlichem Sinne zu verstehen.\nEine dritte Erw\u00e4gung betrifft die wechselnden Valenzen. Es kommt n\u00e4mlich, wie bekannt, sehr h\u00e4ufig vor, dass das Atom eines chemischen Elements in verschiedenen Verbindungen eine ungleiche Zahl von Werthigkeiten anderer Atome s\u00e4ttigt. Ich erinnere nur daran, dass Chlor, Brom und Jod in den meisten Verbindungen 1 werthig, mit Sauerstoff aber 3, 5 und 7 werthig sind, dass Schwefel meist 2 werthig, gegen\u00fcber Sauerstoff 6 werthig, dass Stickstoff gegen Wasserstoff 3- und gegen Sauerstoff 5 werthig ist. Man kann in diesen F\u00e4llen nicht von unges\u00e4ttigten Verbindungen und freien Werthigkeiten sprechen, weil Chlor niemals mehr als 1 (einwerthiges)","page":765},{"file":"p0766.txt","language":"de","ocr_de":"766\nKrftfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\nAtom Kalium, Schwefel nicht mehr als 2 und Stickstoff nicht mehr als 3 (einwerthige) Wasseretoffatome zu binden verm\u00f6gen.\nTrotz dieser Verschiedenheit zwischen dem Begriff der wechselnden Valenz und dem der unges\u00e4ttigten Verbindung ist die erstere doch in gleicherweise zu erkl\u00e4ren wie die letztere, n\u00e4mlich dadurch, dass 2 oder mehrere Wertigkeiten eines Atoms sich mit 1 Wertigkeit eines andern Atoms verbinden, und dadurch unf\u00e4hig werden, andere Wertigkeiten anzuziehen. W\u00e4ren die mehreren Wertigkeiten nicht in solcher Weise in Anspruch genommen, w\u00e4ren sie wirklich frei, so bliebe es ja ganz unbegreiflich, warum sie nicht anderweitige Verbindungen eingehen k\u00f6nnten. Dieser Gesichtspunkt muss, wie ich es schon bez\u00fcglich der unges\u00e4ttigten Verbindungen angedeutet habe, ai*f die Vorstellung von der Lagerung der Particelle einen entscheidenden Einfluss aus\u00fcben.\nWir d\u00fcrfen beispielsweise dem Chlor-, Brom- und Jodatom weder eine linienf\u00f6rmige noch eine k\u00f6rperliche Zusammenordnung der Particelle zuschreiben. W\u00e4re das Chloratom st\u00e4bchenf\u00f6rmig mit 7 m einer geraden Reih\u00ab liegenden Particellen, so k\u00f6nnte ein Wasserstoffatom, das sich mit dem mittelsten Particell verb\u00e4nde, unm\u00f6glich die an den Enden des St\u00e4bchens befindlichen Particelle auch nur eimgermaassen s\u00e4ttigen, und man w\u00fcrde nicht einsehen, warum nicht auch Wasserstoffatome sich wenigstens mit diesen Endparticellen verbinden k\u00f6nnten, so dass sich statt des Molek\u00fcls C1H, ein Molek\u00fcl C1H, bildete. L\u00e4gen aber die 7 Particelle k\u00f6rperlich beisammen, so dass sie etwa die Stellung von 7 einigermaassen gleichm\u00e4ssig \u00fcber dm Oberfl\u00e4che einer Kugel vertheilten Punkten h\u00e4tten, so k\u00f6nnte ein Wasserstoffatom bloss die auf der einen Seite des polyedrischen Chloratoms liegenden Particelle bis auf einen gewissen Punkt s\u00e4ttigen, und es m\u00fcsste wenigstens noch ein zweites Wasserstoffatom auf der entgegengesetzten Seite des Polyeders eine Verbindung eingehen k\u00f6nnen, so dass das Molek\u00fcl C1H, entst\u00e4nde. Sind dagegen die 7 Particelle in einen einfachen Kreis um den Mittelpunkt des tafel-f\u00f6rmigen Atome gelagert (Fig. 31p). so kann ein \u00bbtretend\u00ab Wasser-Stoffatom sich allen gleichmassig ann\u00e4hern und sich mit allen verbinden (Fig. 31 g), so dass das Chloratom keinem zweiten Wasserstoff atom zug\u00e4nglich ist.\nF\u00fcr den 2- und 6werthigen Schwefel gilt eine ganz 'analoge Schlussfolgerung. Die 6 Particelle k\u00f6nnen weder linienf\u00f6rmig zu","page":766},{"file":"p0767.txt","language":"de","ocr_de":"767\n8. Grosse, Gestalt and Zusammensetzung der Atome.\neinem St\u00e4bchen, noch k\u00f6rperlich zu einem Octa\u00f6der zusammengestellt sein; in dem einen und andern Falle Hessen sie sich nicht durch ein 2werthiges Atom (wie z. \u00df. im Baryumsulfid) s\u00e4ttigen. Die Wahrscheinlichkeit spricht auch hier daf\u00fcr, dass die 6 ParticelIe in einer Ebene und zwar in 2 Gruppen von je 3 einander gegen\u00fcber Hegen (Fig. 31 e). Jede dieser Gruppen kann durch ein lwerthiges Atom (Fig. 31 h) und beide zusammen durch die 2 Particelle eines 2werthigen Atoms (Fig. 31 ft g) so weit ges\u00e4ttigt werden, um eir.e weitere Verbindung unm\u00f6gHch zu machen.\nIst nun, wie ich gezeigt habe, die fl\u00e4chenf\u00f6rmige Anordnung der Particelle in manchen F\u00e4llen eine noth wendige Hypothese, so d\u00fcrfte sie wohl f\u00fcr alle mehrwerthigen Atome anzunehmen sein, da wahrscheinHcherweise die chemischen Elemente alle nach dev gleichen Regel gebildet sind. Dann ordnen sich die mehrwerthigen Atome bez\u00fcglich ihres Baues in zwei Reihen, von denen die eine eine gerade Zahl von Particellen und einen Wechsel zwischen geraden Valenzen, die andere eine ungerade Zahl von Particellen und vorzugsweise einen Wechsel zwischen ungeraden Valenzen auf weist. Die Particelle eines Atoms sind \u00fcbrigens sehr h\u00e4ufig ungleich ausgebildet (wenn die \u00e4ussere Form den wirksamen Kr\u00e4ften entsprechend angenommen wird). Dadurch erkl\u00e4rt sich, dass das n\u00e4mliche Atom 3-, 5- und 7 werthig aultritt und dass die Werthigkeiten, auch wenn sie sich alle verbinden, eine ungleiche Bedeutung haben, indem beispielsweise die Schwefels\u00e4ure 2 basisch, die Salpeters\u00e4ure 1 basisch, die Phosphors\u00e4ure 3 basisch ist.\nIn Fig. 31 sind die wichtigsten Beispiele f\u00fcr den Bau der Atome, wie er nach der entwickelten Hypothese wahrscheinlich ist, dargestellt. a ein 2werthiges (aus 2 Particellen bestehendes) Atom, beispielsweise ein Sauerstoffatom ; die Werthigkeiten sind mit 0,0 bezeichnet, und diese Bezeichnung tragen auch die Sauerstoffatome in allen \u00fcbrigen Figuren, welche Sauerstoffverbindungen darstellen, b ein 4werthiges Atom, c ein Molek\u00fcl von der Zusammensetzung MO, wenn M 4 werthig ist, von vom gesehen (das Sauerstoffatom ist dem Beobachter zugekehrt), d das n\u00e4mHche Molek\u00fcl, von der Seite gesehen; die punktfrten Linien zeigen hier, wie in allen folgenden Figuren, die Bindungen an. e ein 6 werthiges Atom (z. B. ein Schwefelatom) mit 2 ausgezeichneten ParticeUen, welche durch -f- 4- bezeichnet sind, f ein Molek\u00fcl Baryumsulfid (BaS), von vom gesehen (das","page":767},{"file":"p0768.txt","language":"de","ocr_de":"768\nKrilfte und Oestaltungen Im molecularen Gebiet.\nBaiyumatom, mit A A bezeichnet, ist dem Beobachter zugekehrt). g das n\u00e4mliche Molek\u00fcl, von der Seite gesehen, h ein Molek\u00fcl Schwefelwasserstoff (H,S). \u00bb ein Molek\u00fcl Schwefels\u00e4ure (SO.H,), die Hydroxyl-tragenden Particelle sind mit ++ bezeichnet. Jfc ein\nFl* Sl.\n5 werthiges Atom mit einer ausgezeichneten Werthigkeit (-f), beispielsweise ein Stickstoffatom. I ein 5 werthiges Atom mit 3 ausgezeichneten Werthigkeiten (+ -f- -f), beispielsweise ein Phosphoratom, m ein Molek\u00fcl Ammoniak (NHS). \u00bb ein Molek\u00fcl Salpeters\u00e4ure ; dasHydroxyl-tragende Particell ist mit + bezeichnet, o ein Molek\u00fcl Phosphor-sfture, + -f + die Hydroxyl-tragenden Particelle, p ein 7 werthiges","page":768},{"file":"p0769.txt","language":"de","ocr_de":"769\n8. Gr\u00f6sse, Gestalt und Zusammensetzung der Atome.\nAtom mit ziemlich gleichen Particellen, welches meistens als ein-werthig functionirt, beispielsweise ein Chloratom, q ein Molek\u00fcl Chlorkalium (ClK)j das Kaliumatom ist dem Beobachter zugekehrt, r ein 7 werthiges Atom mit einer ausgezeichneten Werthigkeit (+); es ist dies eine andere Vorstellung, die man sich von dem Chloratom machen kann, und wobei sich das Kaliumatom in gleicher Weise auf die 7 Particelle legen w\u00fcrde wie in q. s ein 7 werthiges Atom mit 3 ausgezeichneten Wertigkeiten (+ + -f). t ein Molek\u00fcl Chlors\u00e4ure , wenn das Chloratom nach dem Typus r gebaut ist ; -f- das Hydroxyl-tragende Particell. \u2014 Zu diesen bildlichen Darstellungen ist zu bemerken, dass sie, schematisch gehalten, nur den Bau des Atoms und die Verbindungen zwischen den Wertigkeiten andeuten, aber weder \u00fcber die relativen Entfernungen der Atome noch \u00fcber die relative Lage derselben Aufschluss geben sollen.\nDie vorstehenden Ausf\u00fchrungen werden gen\u00fcgen, um deutlich zu machen, wie ich mir den Bau der Atome denke, und zugleich den Beweis liefern, dass dieser Bau den Anforderungen der Constitutionschemie vollkommen entspricht. Sie waren aber nothwendig, um f\u00fcr die Hypothese der chemischen Wirkung, wie sie sich nach der Amertheorie gestaltet, eine feste Unterlage zu gewinnen.\nDie gewonnenen Vorstellungen \u00fcber Bau und Gestalt der Atomk\u00f6rper geben mir Veranlassung, auf die Frage zur\u00fcckzukommen, wie sich die Gr\u00f6sse derselben bei verschiedenen Elementen zu einander verhalte. Man kennt zwar das Atomvolumen der meisten Elemente, d. h. den Raum, welchen der Atomk\u00f6rper sammt dem umgebenden ponderabeln Aether in festen und fl\u00fcssigen K\u00f6rpern einnimmt. Aus diesem Atomvolumen l\u00e4sst sich aber kein sicherer Schluss auf den Atomk\u00f6rper machen. Dasselbe ist die Summe aus den Volumen des Atomk\u00f6rpers, der Aetherh\u00fclle und des zugeh\u00f6rigen Zwischenraums zwischen den H\u00fcllen. Die Aetherh\u00fcllen haben nun bei den verschiedenen Elementen eine ungleiche M\u00e4chtigkeit, da dieselbe von der Natur und Vertbeilung der anziehenden und ab-stos8enden Kr\u00e4fte im Atomk\u00f6rper abh\u00e4ngt. Die Gr\u00f6sse des Zwischenraumes zwischen den Aetherh\u00fcllen aber wird mitbedingt durch die Schwingungsweite der Atomk\u00f6rj>er und letztere bei gleicher Beschaffenheit des \u00e4usseren Aethers durch die Kraftbegabung der Atomk\u00f6rper.\nv. N.igeli, Abstammungslehre.","page":769},{"file":"p0770.txt","language":"de","ocr_de":"770\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molekularen Gebiet.\nWenn daher, um extreme Beispiele anzuf\u00fchren, Kalium ein A torn volumen von 45,5 und Rubidium von 66,3 haben, dagegen Kohlenstoff (im Diamant) ein solches von 3,4, Aluminium von 5, Nickel von 6,6, so darf man deswegen noch nicht folgern, dass die Atomk\u00f6rper der beiden ersteren Elemente diejenigen der drei letzteren merklich an Gr\u00f6sse \u00fcbertreffen. Dagegen wird die M\u00e4chtigkeit der Aetherh\u00fcllen und die Schwingungsweite bei den ersteren viel betr\u00e4chtlicher sein als bei den letzteren.\nBez\u00fcglich der Vorstellungen \u00fcber die Gr\u00f6sse der Atomk\u00f6rper bei den verschiedenen chemischen Elementen m\u00fcssen wir, da uns andere entscheidende Gr\u00fcnde im Stiche lassen, jedenfalls ein Hauptgewicht auf Bau und Gestalt in Vergleichung mit der Wirkungsweise legen. Die Gr\u00f6sse ist so zu bemessen, dass sie die hinreichende Ann\u00e4herung der sich verbindenden Particelle gestattet, besonders dann, wenn sich sehr feste Verbindungen bilden. Man h\u00e4tte die Ver-muthung hegen k\u00f6nnen, dass die Particelle mehrwerthiger Atome, da dieselben im Grunde verwachsene einwerthige Atome darstellen, als die richtigen chemischen Einheiten auch von gleicher Gr\u00f6sse seien. Allein dem widersprechen die wechselnde Valenz und die chemische S\u00e4ttigung mehrerer Particelle durch ein einziges. Wir kommen vielmehr unter Ber\u00fccksichtigung aller Umst\u00e4nde zu der Ueberzeugung, dass die Gr\u00f6sse der Atomk\u00f6rper bei den verschiedenen chemischen Elementen einen mittleren Werth einhalten muss zwischen der Gleichheit der Atome und der Gleichheit der Particelle, dass also ein lwerthiger Atomk\u00f6rper gr\u00f6sser ist als das Particell eines mehrwerthigen, und dass im allgemeinen der Atomk\u00f6rper mit der Zunahme der Particellzahl an Gr\u00f6sse zunimmt. Doch muss letztere Regel jedenfalls Ausnahmen zulassen. Es ist also ein 2 werthiger Atomk\u00f6rper gr\u00f6sser als ein 1 werthiger, dagegen kleiner als zwei lwerthige zusammen. Aber ein 7 werthiger Atomk\u00f6rper, welcher auch 1-, 3- und 5 werthig functdonirt, d\u00fcrfte nur wenig gr\u00f6sser sein als ein 4werthiger, der stets seine vier Werthigkeiten geltend macht.\nMit R\u00fccksicht auf die Zusammensetzung der mehrwerthigen Atome dr\u00e4ngt sich noch die Frage auf, in welcher Art die Particelle mit einander Zusammenh\u00e4ngen, ob sie durch Zwischenr\u00e4ume getrennt, ob und in welchem Grade sie gegen einander beweglich seien. Hier\u00fcber gibt uns die specifische W\u00e4rme einigen Aufschluss.","page":770},{"file":"p0771.txt","language":"de","ocr_de":"9. Entstehung, Beschaffenheit und Ver\u00e4nderung der Atome. 77J\nBekanntlich verbraucht ein Atom der verschiedenen chemischen Elemente, wenn die Temperatur um einen Grad steigt, eine gleiche W\u00e4rmemenge, welche sich in Bewegung umsetzt. In den Molek\u00fclen ferner wird ein um so gr\u00f6sserer Theil der Molecularw\u00e4rme f\u00fcr innere Arbeit (Disgregation) verwendet, je gr\u00f6sser die Zahl ihrer Atome ist. W\u00e4re nun die Vereinigung der Particelle zu mehrwerthigen Atomen \u00e4hnlicher Art, wie die Vereinigung der Atome zu Molek\u00fclen, so m\u00fcsste die Atom w\u00e4rme um so gr\u00f6sser sein, aus je mehr Particellen ein Atom besteht. Da dies nicht der Fall ist, so folgt unzweifelhaft, dass die W\u00e4rme keinen Einfluss auf die gegenseitige Lage der I articelle aus\u00fcbt und dass auch ein mehrwerthiges Atom nicht durch irgend welche Temperatur zersetzt werden k\u00f6nnte.\nEs folgt daraus aber nicht, dass die Particelle eines Atoms sich unmittelbar ber\u00fchren, noch auch, dass die kleineren Theile eines Atoms der Bewegung ermangeln. Es ist aus verschiedenen Gr\u00fcnden wahrscheinlich und wird namentlich auch durch die Theorie der chen i-schen Verwandtschaft gefordert, dass die Amere und Amergruppen, aus denen die Atome zusammengesetzt sind, sich bewegen Ihre Bewegungen m\u00fcssen schwingende, drehende und fortschreitende sein ; ein Theil der Amere und Amergruppen wird also innerhalb des Atomk\u00f6rpers wandern und seinen Platz wechseln k\u00f6nnen. Aber diese Bewegungen werden nicht durch die W\u00e4rmeschwingungen des Aethers, welche nur auf den ganzen Atomk\u00f6rper wirken, beeinflusst, sind also auch durch die W\u00e4rme weder nachweisbar noch messbar. Dagegen werden dieselben durch die Einzelst\u00f6sse der Aethertheilchen (S. 731) erregt, indem die lebendigen Kr\u00e4fte der Amere und Amergruppen ausserhalb und im Innern eines Atoms sich gegenseitig auf einander \u00fcbertragen und sich stetsfort ins Gleichgewicht setzen. Gr\u00f6sser als im Atomk\u00f6rper ist die Beweglichkeit der Theilchen in der Aetherh\u00fclle. Was die Verbind :ng der Particelle betrifft, so ist es mir wahrscheinlich, dass ein Zwischenraum zwischen denselben vorhanden und dass dieser Zwischenraum mit ponderabelm Aether von der gleichen Beschaffenheit wie im innersten Theil der Aetherh\u00fclle erf\u00fcllt sei.\n9. Entstehung, Beschaffenheit und Ver\u00e4nderung der Atome.\nWenn wir uns eine Vorstellung \u00fcber die Entstehung der chemischen Atome bilden wollen, so mangeln uns daf\u00fcr die wich-\n49*","page":771},{"file":"p0772.txt","language":"de","ocr_de":"772\tKitfte und Oestaltangen im molecaUren Gebiet.\ntigsten Anhaltspunkte, n\u00e4mlich einerseits eine Einsicht in die bei der Agglomeration der Amere wirkenden Ursachen, und andrerseits eine genauere Kenntniss des Productee. Bez\u00fcglich des letzteren Punktes wissen wir, abgesehen von der Tinen miiM^^otning aus Parti-cellen, nicht, ob die Substanz der Atome homogen oder ob sie in irgend einer bestimmten Weise gegliedert ist, in der Art, dass die Amen\u00bb erst zu kleineren Systemen zusammentraten, aus deren Vereinigung dann das Particell sich aufbaute. Es lassen sich daher von Seite der Amertheorie nur, soweit die Erfahrung gen\u00fcgende Andeutungen gibt, einigermaassen sichere Hypothesen anfrtcllcn.\nWie ich fr\u00fcher ausgef\u00fchrt habe, ballen sich die ponderabeln Amere in Folge der Anziehung, die sie in der urspr\u00fcnglichen Zerstreuung auf einander aus\u00fcben, zusammen. Wegen der Elasticity, die wir ihnen zuschreiben m\u00fcssen, legen sie sich dabei nicht unmittelbar an einander an; sondern f\u00fchren innerhalb der Systeme, zu denen sie zusammentreten, theils schwingende und drehende, theils kreisende und \u00fcberhaupt fortschrittliche Bewegungen aus. Je gr\u00f6sser eine Gruppe wird, um so langsamer muas Sure Gesammt-bewegung sein. Die lebendigen Kr\u00e4fte, welche die einzelnen Amere in der Zerstreuung besessen, sind zum kleinem Theil in die lebendige Kraft der ganzen Gruppe, zum grossem Theil in die lebendigen Kr\u00e4fte der internen Bewegungen \u00fcbeigegangen. Das Wachsthum der Gruppen geschieht ohne Zweifel sowohl dadurch, dass sie sich mit einander vereinigen, als dadurch, dass einzelne Amere in dieselben eintreten.\nSoweit entspricht die Entstehungsgeschichte der Atome den mechanischen Folgerungen aus den von der /mertheorie gegebenen Pr\u00e4missen. F\u00fcr alle ferneren und ins Einzelne gehenden Vorstellungen besteht nur gr\u00f6ssere oder geringere Wahrscheinlichkeit, die sich vorz\u00fcglich aus den Erfahrungsthatsachen ergibt Sowie die Amergruppen anwachsen und sich langsamer bewegen, wird sich um dieselben nach und nach die ponderable Aetherh\u00fclle anlegen, deren Amere mit schw\u00e4cheren Attractionskr\u00e4ften begabt und daher beweglicher sind als die Amere der Gruppen selber. Bei der Verschmelzung von Amergruppen wird diese beginnende Aetherh\u00fclle wieder verdr\u00e4ngt. Hat sie aber um die grossen und langsam sich bewegenden Gruppen eine gewisse M\u00e4chtigkeit erlangt, so gestattet sie wohl noch die feste Vereinigung derselben, ohne aber selber","page":772},{"file":"p0773.txt","language":"de","ocr_de":"9. Entstehung, Beschaffenheit and Ver\u00e4nderung der Atome. 773\ngaiu verdr\u00e4ngt zu werden. Solche Gmppen stellen nun die Particelle eines Atoms dar. Ist die Aetherh\u00fclle noch m\u00e4chtiger geworden, so hat die Gruppe die Eigenschaft des Atoms erlangt; sie kann nicht mehr mit andern Gruppen feet verwachsen, sondern nur noch lockere und l\u00f6sbare Vereinigungen mit andern Atomen bilden, wie wir sie als Molek\u00fcle kennen.\nE\u00ae i8t fast unzweifelhaft, dass die Atome der verschiedenen chemischen Elemente nicht gleichzeitig und auch nicht an dem n\u00e4mlichen Ort entstanden sind, und dass sie ihre ungleichen Rjgwnsp.haffon der nach Zeit und Ort ungleichen Beschaffenheit der anf\u00e4ngliche gasartig zerstreuten Substanz verdanken. Diese Beschaffenheit h\u00e4ngt aber von den Mengenverh\u00e4ltnissen der dynamisch imgWhfn Amere ab. Vielleicht l\u00e4sst sich nun annehmen, dass je ein bestimmtes Volumen von dem atombildenden Himmelsraum, dessen Gr\u00f6sse von der Bewegung und der Anziehung der Amere bestimmt wurde, das Material f\u00fcr ein Atom lieferte und dass dadurch die in jeder Beziehung gleiche Beschaffenheit und Gr\u00f6sse der Atome eines Elementes sich erkl\u00e4rt\nDie chemischen Elemente sind familienweise n\u00e4her mit \u00abineA^ verwandt, wobei sich gewisse abgestufte Eigenschaften in den verschiedenen Familien wiederholen, was zur Aufstellung des periodischen Systems Veranlassung gegeben bat Diejenige der wechselnden Eigenschaften, die am meisten hervortritt, ist das Atomgewicht. Ich erinnere an die Elemente folgender f\u00fcnf Familien mit den beigesetzten Atomgewichten.\n\tI\t\t]\tn\t\tm\t\nCaesium .\t\t188\tBaryum\t\t187\tWismuth . .\t. . 210\nRubidium .\t\t86,4\tStrontium\t\t87,5\tAntimon . .\t. . 122\nKalium. .\t\t89,1\tCalcium\t\t40\tArsen . . .\t. .\t75\nNatrium\t\t28\tMagnesium\t\t24\tPhosphor . .\t. . 81\nLithium\t\t7\tBeryllium .\t\t14\tStickstoff . .\t. . 14\n\t\tIV\t\t\t\\\tr\t\n\tTeUnr\t\u2022 \u2022\t. . 129\tJod .\t\t. . 127\t\n\tSelen\t\t. .\t79,6\tBrom\t, ,\t. . 80\t\n\tSchwefel .\t\t. . 82\tChlor\t\t. .\t86,5\t\n\tSauerstoff\t\t... 16\tFluor\t\t. .\t19\t\nZur Erkl\u00e4rung des wechselnden Atomgewichts in jeder Familie m\u00f6chte jph es f\u00fcr sehr wahrscheinlich halten, dass die einer Familie angeh\u00f6renden Ellemente sich in dem n\u00e4mlichen Himmelaranm, aber","page":773},{"file":"p0774.txt","language":"de","ocr_de":"774\nKrifte and Gestaltungen im moleoolnren Gebiet.\nnach einander in verschiedenen Zeitperioden gebildet haben. Und zwar sind nach meiner Ansicht je die Elemente mit dem h\u00f6heren Atomgewicht zuerst entstanden, weil die Amere mit gr\u00f6sserer Gravitationsanziehung immer das lebhafteste Bestreben zur Vereinigung besitzen. Der betreffende Himmelsraum wurde nach und nach \u00c4rmer an Ameren mit stark \u00fcberwiegender Gravitation und zuletzt war nur noch Material f\u00fcr leichte Atome vorhanden. In den f\u00fcnf aufgef\u00fchrten Familien ist stete das oberste Element das zuerst gebildete, das unterste das letzte. Ihre \u00fcbereinstimmenden Eigenschaften verdanken die Glieder einer Familie dem Umstande, dass sie unter den n\u00e4mlichen Verh\u00e4ltnissen, d. h. nach einander in dem n\u00e4mlichen Himmelsraum, entstanden sind.\nDie Elemente der aufgef\u00fchrten Familien zeigen die bemerkens-werthe Erscheinung, dass das Atomgewicht der fr\u00fcher gebildeten ungef\u00e4hr ein Vielfaches des Atomgewichtes der sp\u00e4tem darstellt. Doch l\u00e4sst sich das Verh\u00e4ltnis keineswegs als ein bestimmtes mathematisches ansehen und auch nicht durch eine Formel aus-dr\u00fccken. Die rasche Abnahme des Atomgewichtes deutet m\u00f6glicherweise darauf hin, dass ausser der angegebenen Ursache noch eine andere mitgewirkt hat, dass n\u00e4mlich je die fr\u00fcheren Glieder einer Familie nicht bloss Amere mit gr\u00f6sserer Gewichtsanziehung enthalten, sondern dass auch eine gr\u00f6ssere Zahl von Kernen sich zur Anlage eines Particells oder eines lwerthigen Atoms vereinigt haben. Damit w\u00fcrde dann in begreiflichem Zusammenh\u00e4nge stehen, dass in der n\u00e4mlichen Familie die Elemente mit gr\u00f6sserem Atomgewicht auch einen etwas gr\u00f6sseren Atomk\u00f6rper besitzen, was in der That der Fall zu sein scheint.\nEs trifft meistens zu, dass innerhalb derselben Familie der Raum, der in dem festen Aggregatzustande auf ein Atom sammt dem zugeh\u00f6rigen Schwer\u00e4ther sich berechnet und den man als Atomvolumen bezeichnet, mit dem abnehmenden Atomgewicht kleiner wird. Dies ist zwar noch kein sicherer Beweis, dass auch die Atomk\u00f6rper der verschiedenen Elemente ein solches Verhalten zeigen. Denn das Atomvolumen bei einer bestimmten Temperatur h\u00e4ngt nicht bloss von dem Volumen der Atomk\u00f6rper, sondern ebenso sehr von der Dicke der Aetherh\u00fclle und von der Gr\u00f6sse der Anziehung zwischen den Atomen ab. Zu dem uns bekannten Resultat der Raumerf\u00fcllung wirken also drei bez\u00fcglich ihrer Gr\u00f6sse unbekannte Factoren zusammen.","page":774},{"file":"p0775.txt","language":"de","ocr_de":"9. Entstehung, Beschaffenheit und Ver\u00e4nderung der Atome. 775\nAuf die letzteren beiden Factoren, Aetherh\u00fclle und Anziehung, l\u00e4sst sich aus einer anderen Erscheinung theilweise ein Schluss ziehen. Der Zusammenhang zwischen den Molek\u00fclen ist, gleiche Temperatur vorausgesetzt, um so fester, je gr\u00f6sser die Anziehung zwischen denselben und je d\u00fcnner die Aetherh\u00fclle, welche ihre Ann\u00e4herung verhindert, lieber die Festigkeit des Zusammenhanges, somit \u00fcber die gemeinsame Wirkung der Anziehung und der Aetherh\u00fclle, gehen uns die Temperaturen des Schmelz- und Siedepunktes Aufschluss. Meistens zeigt sich nun bei den Gliedern einer Familie, dass mit dem Sinken der Atomgewichte auch die Festigkeit des Zusammenhanges zwischen den Molek\u00fclen sich stetig ver\u00e4ndert, aber bei den einen Familien wird die Festigkeit gr\u00f6sser, bei den anderen kleiner. Als Beispiel f\u00fchre ich vier Elemente einer der vorhin aufgez\u00e4hlten Familien an:\nRubidium Kalium . Natrium . Lithium .\nAtomgewicht\tAtomvolumen\tAtomdurchmemer\tSchmelzpunkt\n86,4\t66,3\t3,8\t38*\n39,1\t46,6\t3,6\t68\n23\t23,7\t2,9\t95\n7\t11,7\t2,3\t180\nDiese Familie zeichnet sich aus durch eine ungew\u00f6hnlich starke Abnahme der Atomvolumen, wie sie in gleicher Weise sonst nur bei den vier Elementen einer anderen Familie (Strontium, Calcium, Magnesium und Beryllium) auftritt. Ich habe in der dritten Verttad-columne unter dem Namen \u00bb Atomdurchmesser \u20ac den mittleren Durchmesser des Atomvolumens beigef\u00fcgt. Man k\u00f6nnte aus der grossen Verschiedenheit der Atomvolumen Zweifel sch\u00f6pfen, wie es m\u00f6glich sei, dass so ungleich grosse Atome in ihren Verbindungen sich gleich verhalten. Die Vergleichung der mittleren Atomdurchmesser zeigt, dass die maassgebenden linearen Dimensionen durchaus nicht so sehr abweichen. In dem vorliegenden Falle sind aber jedenfalls die Durchmesser der Atomk\u00f6rper noch weniger verschieden als die Durchmesser der Atomvolumen. Es l\u00e4sst sich n\u00e4mlich aus der niedrigeren Schmelztemperatur der Elemente mit gr\u00f6sserem Atomgewicht und Atomvolumen mit Wahrscheinlichkeit auf eine gr\u00f6ssere M\u00e4chtigkeit der Aetherh\u00fclle und des Zwischenh\u00fcll\u00e4thers schliessen, wodurch die Durchmesser der Atomk\u00f6rper verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig kleiner werden, als man es nach den angeschriebenen \u00bbAtomdurchmessern\u00ab erwarten k\u00f6nnte.","page":775},{"file":"p0776.txt","language":"de","ocr_de":"776\nKrftfte and Gestaltungen im moleeularen Gebiet\nNun gibt es aber auch Familien, in denen das Gegentheil auftritt, indem mit der Abnahme der Atomgewichte und der ohne Zweifel parallel gehenden Abnahme der Atomvolumen auch der Zusammenhang der Molek\u00fcle geringer wird, so dass die Molek\u00fcle des leichtesten Elements die gr\u00f6sste Beweglichkeit besitzen. Dies zeigt sich bei der Vergleichung des (gasf\u00f6rmigen) Sauerstoffs mit Schwefel und Selen, des (gasf\u00f6rmigen) Stickstoffs mit Phosphor und Arsen, des Chlors mit Brom und Jod. Hier haben mit grosser Wahrscheinlichkeit die leichteren Elemente eine gr\u00f6ssere M\u00e4chtigkeit der Aetherh\u00fcllen und des Zwischenh\u00fcll\u00e4thers als die schwereren und es kommen ihnen daher kleinere Atomk\u00f6rper zu, als es nach dem Atomvolumen scheinen m\u00f6chte.\nEs ist \u00fcbrigens nicht ausser Acht zu lassen, dass das Gesagte nur von dem Zusammenhang der Molek\u00fcle und somit von der M\u00e4chtigkeit der Aetherh\u00fcllen und des Zwischenh\u00fcll\u00e4thers zwischen den Molek\u00fclen, und nicht zwischen den beiden Atomen des n\u00e4mlichen Molek\u00fcls, gilt Die Festigkeit, mit der die Atome zum Molek\u00fcl vereinigt sind, l\u00e4sst sich meistens nicht bestimmen, und daher bleiben wir auch \u00fcber die M\u00e4chtigkeit des ponderabeln Aethers auf dieser Seite des Atoms und \u00fcber die Folgerung, die sich daraus ftir die Gr\u00f6sse der Atomk\u00f6rper ergibt, im Unklaren. Gleichwohl ist es, wenn alle Umst\u00e4nde in Erw\u00e4gung gezogen werden, sehr wahrscheinlich, dass bei gleicher Construction der Atome, wie wir sie bei den verwandten Elementen derselben Familie voraussetzen k\u00f6nnen, dem gr\u00f6sseren Atomgewicht auch eine etwas betr\u00e4chtlichere Gr\u00f6sse des Atomk\u00f6rpers entspricht, und dass daher eine Verschmelzung\nvon Agglomerationskemen bei der Entstehung derselben wohl anzunehmen ist\nIch habe die Theorie aufgestellt, dass die chemischen Elemente, die ihrer Verwandtschaft nach zu derselben Familie geh\u00f6ren, in dem n\u00e4mlichen Himmelsraum und in der n\u00e4mlichen Weltperiode und zwar zuerst diejenigen mit gr\u00f6sserem, nachher diejenigen mit kleinerem Atomgewicht entstanden sind. Es ist mir wahrscheinlich, dass eine \u00e4hnliche Regel auch f\u00fcr die Elemente der verschiedenen Familien gilt, und dass im allgemeinen bei dem Agglomerations-process zuerst die schwereren und nachher die leichteren Elemente sich gebildet haben. Daher w\u00e4re die Familie, zu welcher Platin, Iridium, Osmium geh\u00f6ren, als eine der \u00e4ltesten, der Wasserstoff","page":776},{"file":"p0777.txt","language":"de","ocr_de":"9. Entstehung, Beschaffenheit und Ver\u00e4nderung der Atome. 777\ndagegen, den man fr\u00fcher als das Urelement in Anspruch zu nehmen geneigt war, als das j\u00fcngste aller Elemente zu betrachten. Derselbe bildete sich erst, als der Himmelsraum an Ameren mit wirksamer Gravitationsanziehung nahezu ersch\u00f6pft war.\nGem\u00e4ss ihrer Entstehungsweise sind die Atomk\u00f6rper aus Ameren und Amergruppen zusammengesetzt, welche, wie schon gesagt, sich nicht ruhend gegen einander verhalten, sondern in allen m\u00f6glichen Bewegungen begriffen sind, da die lebendige Kraft, welche die Amere in dem urspr\u00fcnglichen Zustande der Zerstreuung besessen, sp\u00e4ter vollst\u00e4ndig als lebendige Kraft im Innern der Agglomerationsmassen sich wiederfindet. Von der urspr\u00fcnglichen Gesch windigkeit der Amere ist dem Atom als Ganzem nichts \u00fcbrig geblieben; dasselbe geh\u00f6rt einer andern Gr\u00f6ssenordnung an und wird bloss durch die Massenschwingungen des Ae4\u2019 ts in Bewegung gesetzt. Die Beweglichkeit der Theilchen im Atomk\u00f6rper steht nicht im Widerspruch mit der Erfahrung der Physik und Chemie, welche uns die Atome und ihre Particelle in ihren wesentlichen Eigenschaften als constant zeigt. Denn einem System aus beweglichen oder bewegten Theilchen kann jede beliebige Festigkeit und Dauerhaftigkeit zukommen. Die Beweglichkeit der Theilchen wird \u00fcbrigens nicht bloss von der Theorie, sondern auch von der Erfahrung gefordert. Die Eigenschaften der Atome sind n\u00e4mlich nur innerhalb gewisser Grenzen best\u00e4ndig, und ihre Ver\u00e4nderlichkeit innerhalb dieser Grenzen l\u00e4sst sich, wie ich in dem folgenden Abschnitt \u00fcber die chemische Verwandtschaft zeigen werde, nur aus der Beweglichkeit der Theilchen innerhalb der Atomk\u00f6rper erkl\u00e4ren.\nAus dem Grade der Best\u00e4ndigkeit und Unbest\u00e4ndigkeit der Eigenschaften, namentlich der gleichen und ungleichen dynamischen Wirkungen, welche die verschiedenen Seiten eines Atoms, wie sich aus dem Studium der chemischen Verbindungen ergibt, beth\u00e4tigen k\u00f6nnen, l\u00e4sst sich folgende Beschaffenheit des Atomk\u00f6rpers folgern. Derselbe ist im allgemeinen ein festes und unver\u00e4nderliches System, indem ein grosser Theil seiner Amere und Amergruppen zwar nicht unbeweglich mit einander verbunden sind, aber doch, ohne ihren Platz zu verlassen, schwingende, wohl auch kreisende Bewegungen ausf\u00fchren. Ein anderer Theil der Amere und Amergruppen ist","page":777},{"file":"p0778.txt","language":"de","ocr_de":"778\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\nfortschrittsbeweglich, indem dieselben durch den Atomk\u00f6rper wandern k\u00f6nnen, in der Art, dass sie ihre Stellungen mit einander vertauschen. Bei einer solchen Beschaffenheit erscheint es als unvermeidlich, dass die fl\u00fcchtigsten Theilchen auch den Atomk\u00f6rper verlassen k\u00f6nnen, wobei sie von anderen Theilchen, die von aussen ein treten, nach Bed\u00fcrfniss ersetzt werden. Die Wanderung der Amere im Atomk\u00f6rper hat zur Folge, dass die Anziehungen und Abstossungen, welche derselbe auf die Umgebung aus\u00fcbt, innerhalb gewisser Grenzen wechseln, sei es dass sie an der ganzen Oberfl\u00e4che, sei es dass sie an bestimmten Seiten gr\u00f6sser oder kleiner werden. Denn die dynamische Einwirkung berechnet sich f\u00fcr jedes einzelne Amer nach der Entfernung, und kann daher nur f\u00fcr gr\u00f6ssere Abst\u00e4nde ohne merklichen Fehler als Wirkung von Centralkr\u00e4ften des Atoms betrachtet werden.\nDie ponderable Aetherh\u00fclle, welche den Atomk\u00f6rper umgibt, wird von der Anziehung des letzteren festgehalten. Da die Anziehung auf verschiedenen Seiten ungleich ist, so muss auch die M\u00e4chtigkeit der Aetherh\u00fclle verschieden sein, und da jene mit der ' Zeit wechselt, so muss auch diese im ganzen oder an einzelnen Stellen zu oder abnehmen. Obwohl die Aetherh\u00fclle als Ganzes durch den Atomk\u00f6rper festgehalten wird, sind doch ihre Theilchen, wenn sie auch namentlich in den innersten Schichten oft nur schwingende Bewegungen ausf\u00fchren, doch vollkommen fortschrittebeweglich, indem sie gegenseitig den Platz wechseln, und ferner besonders aus den \u00e4ussersten Schichten die H\u00fclle verlassen1 und durch andere Theilchen ersetzt werdet \u2014 Da die Aetherh\u00fcllen mit einer betr\u00e4chtlichen Kraft an die Atomk\u00f6rper gebunden sind, so verhindern sie die vollst\u00e4ndige Ann\u00e4herung dieser letzteren an einander; sie werden aber bei den Schwingungen der Atome abgeplattet und in geringem Grade zusammengedr\u00fcckt.\nDer Raum, in welchem die Bewegungen der Atomk\u00f6rper und ihrer Aetherh\u00fcllen stattfinden, ist mit dem ponderabeln Zwischenh\u00fcll\u00e4ther ausgef\u00fcllt. Derselbe wird in den festen K\u00f6rpern von den schwingenden Atomen, in den Fl\u00fcssigkeiten von den schwingenden Atomen und den fortschreitenden Molek\u00fclen hin und her geschoben, indem seine Theilchen wegen der vollkommenen Elasticit\u00e4t und grossen Beweglichkeit nur einen sehr geringen Widerstand zu leisten verm\u00f6gen.","page":778},{"file":"p0779.txt","language":"de","ocr_de":"y. Entstehung, Beschaffenheit und Ver\u00e4nderung der Atome. 779\nDie Atome sind, soweit unsere Erfahrung reicht, r\u00fccksichtlich ihrer allgemeinen Eigenschaften constant. Da sie dieselben aber, ebenfalls erfahrungsgem\u00e4ss, durch Umlagerung ihrer Theilchen innerhalb bestimmter Grenzen ver\u00e4ndern, so w\u00e4re es nicht unm\u00f6glich, dass sie infolge der Wanderung ihrer Theilchen zwar langsam und unmerklich, aber doch dauernd sich umwandelten. Dies ist namentlich auch deshalb leicht denkbar, da der Atomk\u00f6rper gegen aussen nicht vollkommen abgeschlossen ist. Wenn Theilchen aus-treten und andere eintreten, so l\u00e4sst sich denken, dass die aus-tretenden durch solche von anderer Beschaffenheit ersetzt werden, und dass die Folge eines solchen lang andauernden Austausches die bleibende Umstimmung des Atomk\u00f6rpers ist. Eine solche Umstimmung d\u00fcrfte zuerst durch ihre Wirkung auf die Aetherh\u00fclle bemerkbar werden, indem diese ihre M\u00e4chtigkeit und ihre Eigenschaften ver\u00e4ndert. Von der Beschaffenheit der Aetherh\u00fclle wird wesentlich die Festigkeit des Zusammenhanges, also Aggregatzustand, Schmelz- und Siedepunkt bedingt. Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass die chemischen Elemente nicht mit der Zeit eine langsame Erh\u00f6hung oder Erniedrigung ihrer Schmelz- und Siedetemperaturen erfahren. \u2014 Es k\u00f6nnen aber infolge des Stoffwechsels mit der Zeit noch bedeutendere Umbildungen in den Atomk\u00f6rpem erfolgen, so dass die chemischen Elemente wesentlich andere Eigenschaften annehmen. Jedenfalls d\u00fcrfen wir den Atomen keine absolute Best\u00e4ndigkeit zuschreiben; dieselben m\u00fcssen, wie alle Individuen der endlichen Welt, der Ver\u00e4nderung unterworfen Und in ihrer Individualit\u00e4t dem Unterg\u00e4nge geweiht sein.\nDiese Frage hat eine grosse naturphilosophische Bedeutung1). Wenn die Atome in ihren Eigenschaften constant w\u00e4ren, so ginge die Welt ihrem entropischen Ende entgegen. Sind sie aber ver\u00e4nderlich, so tritt fr\u00fcher oder sp\u00e4ter in der jetzt herrschenden entropischen Weltentwicklung ein Umschwung ein, und es folgt auf die positive eine negative Entropie. \u2014 Die Ver\u00e4nderung der Atome kann auf zweierlei Art herbeigef\u00fchrt werden. Die eine M\u00f6glichkeit besteht darin, dass der Atomk\u00f6rper unter den jetzt bestehenden Verh\u00e4ltnissen infolge der Configurationsumwandlungen,\n*) Ich verweise auf den 3. Zusatz zu der Abhandlung \u00bbDie Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis\u00ab\u00ab 8. 615.","page":779},{"file":"p0780.txt","language":"de","ocr_de":"780\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecalaren Gebiet.\ndie er mit H\u00fclfe der \u00e4usseren Einwirkungen durchmacht, mit Noth-wendigkeit su einer dauernden Umbildung gef\u00fchrt wird. In diesem Falle geht die Ver\u00e4nderung \u00e4usseret langsam und in verschiedenen chemischen Elementen in ungleichem Sinne vor sich.\nDie andere M\u00f6glichkeit dagegen ist die, dass die gegenw\u00e4rtige Beschaffenheit der Atome einen station\u00e4ren Gleichgewichtssustand zwischen der Substanz derselben und dem Welt\u00e4ther, in dem unser Sonnensystem sich befindet, darstellt, und dass dieselbe daher nur eine Ver\u00e4nderung erfahren kann, wenn der Welt\u00e4ther eine andere Natur annimmt. Nun hat aber der Aether in der unendlichen Welt gewiss nicht \u00fcberall die n\u00e4mliche Znw\u00bbinnnfnwiBAtmng ( nicht genau die n\u00e4mlichen Gesammtmengen der sechs Elementarkr\u00e4fte und nicht das n\u00e4mliche Verh\u00e4ltniss dieser Kr\u00e4fte in den Aethertheilchen. Ferner i\u00aet der Welt\u00e4ther als Gesammtmasse gewiss nicht in Ruhe; es finden Massenstr\u00f6mungen statt, oder, was den n\u00e4mlichen Effect gew\u00e4hrt, unser Sonnensystem kommt in fremde Welt- und Aetherr\u00e4ume. Ein etwas anders constituirter Aether, der vielleicht auch mit einer etwas andern Geschwindigkeit der Einzelbewegungen begabt ist, \u00fcbt ncth-wendig auch eine etwas ver\u00e4nderte Einwirkung auf die Atome aus. Es treten dauernd in den Schwer\u00e4ther und von diesem in die Atomk\u00f6rper andersartige Theilchen ein als diejenigen sind, welche von ihnen ersetzt werden. Atomk\u00f6rper und Aetherh\u00fclle ver\u00e4ndern sich, und wenn diese Ver\u00e4nderungen in dem Sinne erfolgen, die Aetherh\u00fcUen m\u00e4chtiger, somit der Zusammenhang zwischen den Atomen lockerer wird, so werden die festen K\u00f6rper zuerst fl\u00fcssig und nachher gasf\u00f6rmig. Die Weltk\u00f6rper unsere Sonnensystems k\u00f6nnen auf diesem Wege aus der Zusammenballung in einen Zustand der Zerstreuung zur\u00fcckkehren, in welchem wenigstens die Molek\u00fcle oder selbst die Atome vollst\u00e4ndig von einander getrennt sind.\nEs ist noch ein Umstand zu ber\u00fccksichtigen, welcher gegen die Unver\u00e4nderlichkeit der Atome spricht. Die sie zusammensetzenden Amere m\u00fcssen n\u00e4mlich ebenso wohl Umbildungen erleiden, wie die individuellen Gebilde aller h\u00f6heren Ordnungen. Durch diese Umbildung der Amere erlangen die Atome selbstverst\u00e4ndlich mit der Zeit andere Eigenschaften und es kann dadurch selbst ihre Existenz in Frage gestellt werden, indem die Atome in die Particelle, diese in kleinere St\u00fccke zerfallen und zuletzt in die Amere sich verfl\u00fcchtigen.","page":780},{"file":"p0781.txt","language":"de","ocr_de":"9. Entstehung, Beschaffenheit und Ver\u00e4nderung der Atome. 781\nB Das Verhalten der W\u00e4rme bei den geschilderten Vorg\u00e4ngen ist leicht zu \u00fcbersehen. Beginnen wir, um ein vollst\u00e4ndiges Bild zu haben, mit der urspr\u00fcnglichen Zerstreuung, in welcher alle Materie in die Amere aufgel\u00f6st war. Die Amere f\u00fchrten ihre Einzelbewegungen mit der vollen Energie aus, wie sie jetzt den Aetherameren zukommen. Aber Massenschwingungen, welche W\u00e4rme und Licht danrtellten, gab es noch nicht, soweit dieselben nicht aus anderen Himmelsr\u00e4umen, die in einem anderen Zustande der Entwicklung sich befanden, anlangten. Abgesehen von dieser importirten W\u00e4rme war also der betreffende, noch in der Amerzeretreuung befindliche Himmelsraum w\u00e4rme- und lichtlos und zeigte die absolute Nulltemperatur.\nSowie sich nun infolge der eintretenden Agglomeration Atome bildeten und sich zun\u00e4chst zu Molek\u00fclen, dann zu gr\u00f6sseren Gruppen vereinigten, entstanden durch das Zusammenstossen der Agglomerationsk\u00f6rper, zun\u00e4chst der Atome und durch die heftigen Schwingungen derselben, die dem Zusammenstoss folgten, nothwendig Schwingungen des Aethers, in gleicher Weise wie jeder Zeit bei der Vereinigung von Atomen, z. B. bei der Bildung von Wassergas aus Wasserstoff und Sauerstoff, W\u00e4rme oder Licht und W\u00e4rme erzeugt werden. Mit der zunehmenden Agglomeration ging immer wieder mechanische Bewegung in W\u00e4rme \u00fcber, welche zun\u00e4chst die Temperatur der Agglomerationsmassen erh\u00f6hte, nachher allm\u00e4hlich an den Himmelsraum abgegeben wurde.\nWir befinden uns in dieser Periode; die dunkeln Himmelsk\u00f6rper werden durch W\u00e4rmeverlust sehr langsam k\u00e4lter, indess auf die grossen leuchtenden Sonnen infolge der st\u00e4rkeren Anziehung immer noch so betr\u00e4chtliche Massen von kleineren im Weltenraum herumfliegenden Massen (Sternschnuppen) st\u00fcrzen, dass dieselben ungeachtet des ungeheuren W\u00e4rmeverlustes ihre Gl\u00fchhitze bewahren. Indessen auch diese Periode wird ihr Ende erreichen. Die Sonnen werden erl\u00f6schen und nur zeitweilig wieder aufleuchten, wenn gr\u00f6ssere dunkle Weltk\u00f6rper sich mit ihnen vereinigen. Nach der letzten Vereinigung der Weltk\u00f6rper und nach dem Erl\u00f6schen und Erkalten der letzten Sonne wird das Endstadium der jetzigen entropischen Weltentwicklung eingetreten sein, in welchem die Agglomerationsmasse und der Aether des Weltraumes die n\u00e4mliche Temperatur besitzen.\nDauert die entropische Entwicklung so lange, bis sie zu dem eben genannten station\u00e4ren Zustand gelangt ist, so hat scheinbar","page":781},{"file":"p0782.txt","language":"de","ocr_de":"782\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecolaren Gebiet.\ndie Ver\u00e4nderung in der Welt aufgeh\u00f6rt. Ee ist aber nur eine scheinbare Stagnation; der Aether bleibt in Bewegung und durch die Einzelbewegungen der Aethertheilchen wird ein Stoffwechsel in den Atomen unterhalten, der fr\u00fcher oder sp\u00e4ter dahin f\u00fchrt, dass die Aetherh\u00fcllen der Atome m\u00e4chtiger und die Anziehungen zwischen den Atomen schw\u00e4cher werden. Hat diese Ver\u00e4nderung eine gewisse H\u00f6he erreicht, sind die Atome der festen K\u00f6rper in die Verfassung gelangt, in der sich jetzt das Quecksilber, und sp\u00e4ter in diejenige, in der sich jetzt Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff befinden, so wird ihr lockerer Zusammenhang durch die Aether-schwingungen \u00fcberwunden. Es verwandelt sich Aetherw\u00e4rme in Atombewegung. Dadurch wird die ponderable Masse unter die Temperatur des Weltenraumes abgek\u00fchlt; es findet nun eine R\u00fcckstr\u00f6mung von W\u00e4rme aus diesem nach jener statt, die so lange andauert, bis die Materie fl\u00fcssig und gasf\u00f6rmig geworden ist.\nDie Entropie der Welt hat in dieser Entwicklungsperiode ihren Charakter ge\u00e4ndert. Es geht dann bei all den zahlreichen Umwandlungen von W\u00e4rme in Atombewegung und von dieser in jene immer eine gewisse Menge W\u00e4rme verloren, weil die mechanische Energie nicht mehr vollst\u00e4ndig sich in W\u00e4rme umsetzen kann; dies aus dem einfachen Grund, weil die Agglomerationsmassen eine niedrigere Temperatur besitzen als der umgebende Weltenraum und daher stets W\u00e4rme aufnehmen. In unserer Zeit findet das Umgekehrte statt; die W\u00e4rme kann nicht mehr vollst\u00e4ndig zu mechanischer Energie werden, weil immer ein Theil derselben an den k\u00e4lteren Weltenraum abgegeben wird.\nDie Entropie der Welt, welche durch das Verhalten der W\u00e4rme bestimmt wird, ist keine Erscheinung von absoluter Allgemeinheit, weil die W\u00e4rme nicht als Maass f\u00fcr alle Energien gelten kann. Durch W\u00e4rme lassen sich die Energien der Einzelbewegungen der Amere nicht ausdr\u00fccken. Die Entropie der Welt, wie sie formulirt worden ist, ber\u00fccksichtigt bloss die mechanischen Bewegungen der als unver\u00e4nderlich vorausgesetzten Atome und dieW\u00e4rmeschwingungen des Aethers ; es ist also nur eine partielle Entropie und sagt uns nichts \u00fcber den Verwandlungsinhalt des Ganzen, zu welchem auch die Einzelbewegungen der Amere im Welt\u00e4ther, im ponderabeln Aether und in den Atomk\u00f6rpem geh\u00f6ren.","page":782},{"file":"p0783.txt","language":"de","ocr_de":"10. Chemische Verwandtschaft. Adh\u00e4sion.\t733\nIch suchte zu zeigen, wie auf nat\u00fcrlichem Wege die festen und fl\u00fcssigen Massen wieder in die Zerstreuung der Oase zur\u00fcckkehren k\u00f6nnen. Damit ist indessen nur ein Theil des gesammten Agglo-merationsprocesses zur\u00fcckverwandelt. Die Umkehr wurde nur so weit verfolgt, als daf\u00fcr Anhaltspunkte in der Amertheorie gegeben sind. Mit ihrer H\u00fclfe k\u00f6nnen wir uns recht gut vorstellen, dass die ponderabeln Massen wieder in die einzelnen Atome aufgel\u00f6st werden. Die Zerstreuung der Atome aber in die einzelnen Amere, die sehr wahrscheinlich ebenfalls eintritt, l\u00e4sst sich nur denken, wenn wir die Grundlage der Amertheorie selber einer A* ,0 unterwerfen und wenn wir infolge derselben zu der Annahme gelangen, dass auch die Amere sich ver\u00e4ndern. Es ist nun gewiss unstatthaft, die Amere als ewige und absolut, unver\u00e4nderliche Einheiten zu betrachten. Dieselben m\u00fcssen, wie alle endlichen Dinge, sich umwandeln, und wenn mit der Umwandlung ihre dynamischen Eigenschaften andere werden, so kann auch eine Trennung derselben, also ein Zerfallen der Atome in die einzelnen Amere und eine R\u00fcckkehr in denjenigen Zustand der Zerstreuung, von dem die Betrachtung \u00fcber die Zusammenballung in dieser Abhandlung ausgegangen ist, die Folge sein. Aber die Ver\u00e4nderung der Amere sowie die Ursachen derselben lassen sich jedenfalls stur Zeit noch nicht zum Vorwurf einer Hypothese machen.\n10. Chemische Verwandtschaft Adh\u00e4sion.\nZu den schwierigsten Aufgaben der Molecularphysik geh\u00f6rt eine naturgesetzliche Erkl\u00e4rung der chemischen Anziehung. Dieselbe muss drei Bedingungen gen\u00fcgen, welche anscheinend unter einander im Widerspruch sind:\n1.\tJe 2 Atome, resp. Particelle zweier Atome, sie m\u00f6gen verschiedenen chemischen Elementen oder auch dem n\u00e4mlichen Element angeh\u00f6ren, ziehen sich an und verbinden sich mit einander.\n2.\tMit der erfolgten Verbindung ist die chemische Anziehung ersch\u00f6pft (ges\u00e4ttigt), so dass die verbundenen Atome oder Particelle sich gleichzeitig nicht mit anderen Atomen oder Particellen verbinden k\u00f6nnen.\n3.\tIn demselben mehrwerthigen Atom treten die Particelle bald selbst\u00e4ndig auf, indem jedes einzelne eine Verbindung eingeht und","page":783},{"file":"p0784.txt","language":"de","ocr_de":"784\tKrtfte and Gestaltungen im motoculuen Gebiet.\nges\u00e4ttigt wird, bald unselbst\u00e4ndig, indem mehrere zusammen mit einem J werthigen Atom oder mit einem Particell sich verbinden und dadurch unflLhig zu gleichzeitigen andern Verbindungen werden.\nEs d\u00fcrfte unm\u00f6glich sein, diese Bedingungen ohne Hilfe der Amertheorie zu erf\u00fcllen, wie eine Besprechung der bisherigen Versuche zeigen wird. Dieselben st\u00fctzen sich, wenn \u00fcberhaupt eine Erkl\u00e4rung angestrebt wurde, auf die Elektricit\u00e4t. Dass bei der chemischen Anziehung die elektrischen. Kr\u00e4fte eine wichtige Rolle spielen, ist namentlich mit*R\u00fccksicht auf die elektrolytischen Erscheinungen schon lange erkannt worden. Die Wirksamkeit der Elektricit\u00e4t l\u00e4sst sich auf zweierlei Weise denken: Entweder sind die chemischen Elemente an und f\u00fcr sich in verschiedenem Grade elektrisch und behalten constant diese Elektricit\u00e4t; oder ihre Elektricit\u00e4ten werden erst bei der Ann\u00e4herung frei und verlieren sich nach der Trennung wieder. Weder die eine noch die andere dieser Annahmen vermag uns eine Erkl\u00e4rung der chemischen Erscheinungen zu geben.\nWas die erste Annahme betrifft, so l\u00e4sst sie sich auf eine that-s\u00e4chliche Grundlage zur\u00fcckf\u00fchren, insofern man die elektrische Spannungsreihe der Elemente als den Ausdruck f\u00fcr die Abstufung ihrer inh\u00e4renten wirksamen Elektricit\u00e4t ansieht. Aber aus dieser Elektricit\u00e4t allein lassen sich nicht alle chemischen Anziehungen ableiten. Dem widerstrebt entschieden die zweite der obigen drei Bedingungen. Wenn die chemischen Elemente infolge ihrer abge-stuften Elektricit\u00e4tsmengen eine gr\u00f6ssere oder geringere Verwandt schaft zu einander bes\u00e4ssen, so verm\u00f6chten die Atome des n\u00e4mlichen Elements sich nicht mit einander zu verbinden, und dadurch w\u00fcrde die in Wirklichkeit vorhandene Constitution der Elementmolek\u00fcle, welche im allgemeinen aus je 2 Atomen zusammengesetzt sind, zur Unm\u00f6glichkeit. Die Atome eines Elements m\u00fcssten im Gegentheil, da sie die gleiche Elektricit\u00e4t besitzen, einander abstossen. Die Ab-stossung m\u00fcsste bei den an den beiden Enden der Spannungsreihe stehenden Elementen besonders auffallend sein, weil dieselben gr\u00f6ssere Mengen p\u00f6eitiver oder negativer Elektricit\u00e4t enthalten, so z. B. beim Sauerstoff. Aber im Widerspruche mit dieser Folgerung haften die beiden Atome eines Sauerstoffmolek\u00fcls so fest an einander, dass sie selbst noch bei hohen Temperaturgraden vereinigt bleiben. Die erste der beiden elektrochemischen Annahmen erweist sich also als unzureichend.","page":784},{"file":"p0785.txt","language":"de","ocr_de":"10. Chemische Verwandtschaft. Adh\u00e4sion.\n786\nNach der zweiten Annahme enthalten die Atome neutrale Elek-tricit\u00e4t, welche bei der Ann\u00e4herung eines zweiten gleichen oder ungleichen Atoms zerlegt wird. Dies ist die Theorie von Berzelius und von Fechner. Infolge der Trennung der neutralen Elektricitftt vereinigen sich die frei werdenden, positiven und negativen Elektri-citftten des einen und andern Atoms zum Theil mit einander, wahrend der Rest getrennt in den beiden Atomen verharrt, so dass dieselben mit entgegengesetzter Elektridt\u00e4t geladen sind und sich dauernd anziehen. Diese Annahme, welche sich auf die Erscheinungen der Elektricit\u00c4tserregung durch Ber\u00fchrung berufen kann, findet ihre that-s\u00e4cbliehe Grundlage ebenfalls in der Spannungsreihe der Elemente, l\u00e4sst aber die letztere in anderer Weise zu Stande kommen als die erste Annahme.\nF\u00fcr die Erkl\u00e4rung der chemischen Thatsachen erweist sich die zweite elektrochemische Theorie ebenso unzureichend. Ware sie richtig, so m\u00fcssten zwei Elemente sich um so starker anziehen, je weiter sie in der Spannungsreihe von einander abstehen, weil diesem Abstand das elektromotorische Moment proportional ware. Am geringsten ware die Anziehung zwischen den Atomen des n\u00e4mlichen Elements. Nun gibt es aber vielleicht keine einzige chemische Verbindung, welche nicht, mit bestimmten anderen Verbindungen verglichen, als Ausnahme von der ausgesprochenen Regel angef\u00fchrt werden k\u00fcnnte. Was die Verwandtschaft zwischen den Atomen des gleichen Elements betrifft, so gibt es unter den bekannten Fallen bloss drei (Quecksilber, Cadmium und Zink), wo dieselbe so gering ist, dass die Atome bei der Verdampfung nicht zu Molek\u00fclen verbunden bleiben, wahrend die Molek\u00fcle anderer Gase weit \u00fcber ihrer Verdampfungstemperatur der Dissociation widerstehen. Am auffallendsten tritt diese grosse Anziehung zwischen den n\u00e4mlichen Atomen bei den permanenten Gasen hervor, die eine sehr niedrige Verdampfungsteraperatur besitzen und daher eine grosse Menge latenter Warme in sich aufgenommen haben, welche den Zusammenhang der Molek\u00fcle zu lockern bestrebt ist Unter den genannten Gasen zeigt der Stickstoff eine gr\u00f6ssere Verwandtschaft zu sich selbst, als zu den meisten anderen Elementen.\nEinen noch st\u00e4rkeren Einwand gegen die elektrochemische Theorie von Berzelius und Fechner geben uns die unges\u00e4ttigten Verbindungen und die wechselnde Valenz. Wenn die Atome durch\nT. Nice 11, Abatunmangalehre\t50 '","page":785},{"file":"p0786.txt","language":"de","ocr_de":"786\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molectilaren Gebiet\nVertheilung elektrisch w\u00fcrden, wenn somit die Elektricit\u00e4t das Atom verlassen and in das Atom eintreten k\u00f6nnte, so m\u00fcsste dieselbe auch von einem Particell des mehrwerthigen Atoms auf die andern Particelle \u00fcbergehen und sich \u00fcber das ganze Atom verbreiten k\u00f6nnen. Dadurch w\u00fcrde das Particell die relative Selbst\u00e4ndigkeit verlieren, welche ihm doch als Tr\u00e4ger einer Werthigkeit zugestanden werden muss. Wenn beispielsweise ein Sauerstoffatom sich mit einem Kohlenstoffatom zu Kohlenoxyd verbindet, so f\u00e4nde zwischen den beiden Atomen diejenige elektrische Erregung statt, welche \u00fcberhaupt bei der Ber\u00fchrung von Kohlenstoff und Sauerstoff m\u00f6glich ist. Ein zweites Sauerstoffatom, welches herank\u00e4me, um mit dem Kohlenoxyd Kohlens\u00e4ure zu bilden, w\u00fcrde mit seiner neutralen Elektricit\u00e4t entweder keine abermalige elektrische Vertheilung bewirken k\u00f6nnen, oder, wenn es m\u00f6glich w\u00e4re, so m\u00fcsste ein drittes Atom von Sauerstoff das N\u00e4mliche zu Stande bringen und sich mit dem Kohlenstoffatom verbinden. Wie w\u00e4re es ferner, wenn die Elektricit\u00e4tserregung in der angegebenen Weise \u00fcber die Verbindung entscheiden w\u00fcrde, bei wechselnder Valenz denkbar, dass z. B. das Chloratom von Wasserstoff oder Kalium, gegen welche Elemente es stark elektromotorisch ist, nur ein einziges Atom anzieht, w\u00e4hrend es von Sauerstoff, gegen welchen es schwach elektromotorisch ist, 4 Atome oder vielmehr 7 Particelle zu fesseln vermag. Die gleiche Erw\u00e4gung gilt auch f\u00fcr Schwefel, Selen, Stickstoff, Brom, Jod bez\u00fcglich ihrer Verbindungen mit Sauerstoff und mit den Alkalien.\nWenn die gemachten Ausstellungen darthun, dass die elektrochemischen Theorien nicht die Eingangs aufgef\u00fchrten drei Bedingungen zu erf\u00fcllen und alle Erscheinungen, welche die Atomverkettung darbietet, zu erkl\u00e4ren verm\u00f6gen, so soll damit nicht etwa ausgesprochen werden, dass die Elektricit\u00e4t bei der chemischen Anziehung nicht eine grosse Bedeutung habe und in manchen F\u00e4llen selbst die Hauptrolle \u00fcbernehme. Aber neben ihr m\u00fcssen auch die anderen, in den Atomen befindlichen Kr\u00e4fte, namentlich die Isagit\u00e4t, ber\u00fccksichtigt werden. Ferner muss die von der Amertheorie geforderte Annahme in vollem Maasse verwerthet werden, die Annahme, dass die Theil-chen des Atomk\u00f6rpers theilweise wandern, ohne denselben zu verlassen , dass also die dynamischen Mittelpunkte dor verschiedenen","page":786},{"file":"p0787.txt","language":"de","ocr_de":"10. Chemisch\u00ab Verwandtschaft Adh\u00e4sion.\n787\nElementarkr\u00e4fte ihren Platz wechseln, ohne dass der Atomk\u00f6rper einen Verlust oder einen Zuwachs an Kraft erf\u00e4hrt, und jedes einzelne Particell sich hierin dem Atomk\u00f6rper gleich verh\u00e4lt. Die Wertigkeiten sind also constante Systeme von Kr\u00e4ften, deren innere Configuration sich ver\u00e4ndert. Von den Ameren, welche die Pr\u00e4ger dieser Kr\u00e4fte sind, vereinigt zwar jedes alle Kr\u00e4fte in sich, aber in ungleichem Maasse, und deswegen verschiebt sich f\u00fcr jede Kraft mit der Wanderung der Amere auch der Punkt, in welchem man sie sich bez\u00fcglich ihrer Wirkung nach aussen vereinigt denken kann, oder der dynamische Mittelpunkt.\nDer Einfachheit wegen will ich als Beispiel zwei lwerthige Atome betrachten, welche Zusammenkommen und auf einander einwirken, wobei ich aber im voraus bemerke, dass Alles, was sich hier ergibt, auch f\u00fcr die einzelnen Particelle der mehrwerthigen Atome G\u00fcltigkeit hat. Die Kr\u00e4fte jedes Atoms befinden sich vor der Ann\u00e4herung unter sich im Gleichgewicht. Infolge der gegenseitigen dynamischen Einwirkung, welche bei der Ann\u00e4herung eintritt, wird dieses Gleichgewicht gest\u00f6rt; die gegenseitigen Anziehungen und Abstossungen bewirken eine Ortsver\u00e4nderung der fortschrittsbeweglichen Theilchen und eine Orientirung der drehungsbeweglichen zusammengesetzten Theilchen (Amergruppen). Da die Kr\u00e4fte der drei Paare (der dominanten, isagischen und elektrischen Kr\u00e4fte) nur auf sich selber wirken, so sind sie getrennt zu betrachten.\nIch beginne mit den Dominantenkr\u00e4ften, deren Verhalten am einfachsten ist und daher am klarsten vorliegt. Die Gravitationsanziehung muss von der Entstehung der Atome her ihrer Natur nach in \u00fcberwiegendem Maasse im Innern, die Aetherabstossung vorzugsweise unter der Oberfl\u00e4che sich befinden. N\u00e4hern sich zwei Atome einander, so m\u00fcssen diejenigen ihrer beweglichen Theilchen, welche mehr Gravitation als Aetherabstossung enthalten, nach den einander zugekehrten Seiten, die beweglichen Theilchen dagegen, in denen mehr Aetherabstossung als Gravitation vorhanden ist, nach den abgekehrten Seiten der Atomk\u00f6rper fortr\u00fccken. Die dynamischen Centren der beiden Kr\u00e4fte verschieben sich also in entgegengesetzter Richtung, und wenn sie urspr\u00fcnglich central waren, so zeigen sie\n50*\nKi#. at.","page":787},{"file":"p0788.txt","language":"de","ocr_de":"788\nKr\u00e4fte and Gestaltungen im molecularen Gebiet\njetet die Stellungen, die in Fig. 32 angegeben sind, wo A und Al die Centren der Gravitation, B und Bl diejenigen der Aetherabstossung bedeuten.\nDie Isagit&ten haben sich bei der Bildung der Atome infolge der Ansehung gleichnamiger und der Abstossung ungleichnamiger Kr\u00e4fte, soweit es m\u00f6glich war, auf zwei H\u00e4lften des Atomk\u00f6rpers vertheilt, so dass in dem vereinzelten Atom die eine H\u00e4lfte den grossem Theil der gesammten o-Isagit\u00e4t, die andere H\u00e4lfte den gr\u00f6esern Theil der gesammten /9-Isagit\u00e4t besitzt, und dass somit f\u00fcr den Fall, in welchem beide Isagit\u00e4ten in gleicher Menge vorhanden sind, ihre beiden Mittelpunkte sich wie die Brennpunkte eines Ellipsoids gelagert zeigen. N\u00e4hern sich zwei Atome einander, so haben sie das Bestreben, sich dergestalt zu orientiren, dass die dynamischen Centren der beiden Isagit\u00e4ten einander opponirt sind, und ausserdem wandern die fortschrittsbeweglichen vorzugsweise isagischen Theilchen, soweit es m\u00f6glich ist, gegen die zugekehrten Seiten hin, so dass die zwei verbundenen Atome die in Fig. 33 I dar-geste\u00fcte Lagerung der isagischen Mittelpunkte o, a\\ \u00df, \u00dfl aufweisen. Ist eine solche Orientirung aus anderweitigen Ursachen unm\u00f6glich, oder ist die eine der beiden Isagit\u00e4ten und zwar dieselbe in jedem Atom in betr\u00e4chtlich gr\u00f6sserer Menge vorhanden als die andere, so werden die Atome nach der Ann\u00e4herung auch das in Fig. 6 U dargestellte Bild zeigen.\nDie beiden Figuren 33 I und H geben uns die Vorstellung von zwei besondem und extremen F\u00e4llen. Um das Gesetz kurz aus. zusprechen, so werden die beiden Atome sich stets so zu orientiren, und ihre fortschrittsbeweglichen Theilchen werden stets so zu wandern suchen, dass die Summe der isagischen Anziehungen den gr\u00f6ssten\nFtf. SS.\nUeberschuss \u00fcber die isagischen Abstoesungen ergibt. Die Summe der isagischen Anziehungen ist a \u2022 \u00ab\u2018 + \u00df. /?'; die Summe der isagischen Abstoesungen ist \u00ab. \u00df + a. \u00df' + o1. \u00df + o'. /?, wobei die Wirkungen","page":788},{"file":"p0789.txt","language":"de","ocr_de":"10 Chemische Verwandtschaft Adha\u00ab\u2122.\tjgg\naUer Kr\u00e4fte nach dem reciproken Verh\u00e4ltnis des Quadrats der Ent-\nfernung und als Componenten zu berechnen sind, die in einer mit\nder Verbindungslinie der beiden Atommittelpunkte parallelen Richtung wirken.\t\u00ae\nWas endlich das dritte Kr\u00e4ftepaar betrifft, so enth\u00e4lt jeder Atomk\u00f6rper eine gr\u00f6ssere Menge neutraler Elektricit\u00e4t und eine geringe, bei den verschiedenen chemischen Elementen wechselnde Menge positiver oder negativer Elektricit\u00e4t, welche den elektrischen Charakter der Elemente bestimmt, aber, da sie die Atome nicht verlassen kann, durch das Elektroskop nicht angezeigt wird. Die neutrale Elektricit\u00e4t besteht aus den sich compensirenden Mengen positiver und negativer Elektricit\u00e4t; sie ist vorzugsweise in der Gestalt von Amergruppen vorhanden, welche aus Ameren mit \u00fcberwiegender entgegengesetzter Elektricit\u00e4t zusammengesetzt sind. Die freie Elektricit\u00e4t ist der Oberfl\u00e4che gen\u00e4hert. Haben die zwei sich ann\u00e4hernden Atome ungleichnamige Elektricit\u00e4t, so bewegt sich dieselbe nach den zugekehrten, haben sie gleichnamige, so bewegt sie sich nach den abgekehrten Seiten hin. Ausserdem wird, weil durch die verschiedenen dynamischen Einwirkungen der Atome auf einander und durch die erfolgenden Wanderungen der Theilchen das fr\u00fchere elektrische Gleichgewicht gest\u00f6rt wurde, eine gr\u00f6ssere oder geringere Menge von neutraler Elektricit\u00e4t zerlegt, und die frei werdenden Elektrici-t\u00e4ten nebst der bereits vorhandenen freien Elektricit\u00e4t haben das Bestreben, soweit es die Beweglichkeit der Amere erlaubt, sich in der Weise in jedem der beiden Atome zu vertheilen, dass der Ueber-schuss der Anziehung \u00fcber die Abstossung den gr\u00f6ssten Betrag erreicht. Zugleich suchen die elektrisch neutralen Gruppen, welche nicht zerlegt werden, durch Drehung sich so zu orientiren, wie es der Vertheilung der freien Elektricit\u00e4ten entspricht. Die dynamischen\nMittelpunkte, die als der Ausdruck der gesammten anziehenden und abetossenden elektrischen Kr\u00e4fte gelten k\u00f6nnen (a, 6, a\\ 6\u2018), weiden","page":789},{"file":"p0790.txt","language":"de","ocr_de":"700\nKr\u00e4fte und Gestaltungen !m mnlecularen Gebiet.\nbei den verschiedenen Combinationen der chemischen Elemente sehr verschiedene Stellungen zu einander einnehmen, welche zwischen den in den Figuren 34 I und II angezeigten extremen Stellungen sich bewegen m\u00fcssen.\nEs werden also bei der Ann\u00e4herung zweier Atome die fortschrittsleweglichen Theilchen in Bewegung gesetzt, so dass die einen sich n\u00e4hern, die andern sich entfernen. Dabei treten sicher einzelne der beweglichsten Theilchen, sei es infolge der Anziehung oder der Ab-stossung, aus dem Atomk\u00f6rper heraus und werden durch andere eintretende ersetzt. Die grosse Mehrzahl der fortschrittsbeweglichen Amere wird aber durch die Einwirkung der \u00fcbrigen Kr\u00e4fte im Atomk\u00f6rper festgehalten und gewinnt hier die f\u00fcr die dynamischen Beziehungen g\u00fcnstigste Verthei lung.\nDie chemische Anziehung zweier Atome besteht nun in der Summe der Anziehungen aller Elementarkr\u00e4fte abz\u00fcglich der Summe aller Abstossungen. Sie ist eine Function der Zahl der Attractions-und Repulsionseinheiten in jedem Atom und der Entfernungen, auf welche diese Krafteinheiten nach erfolgter Ann\u00e4herung wirksam sind. Dabei ist zu ber\u00fccksichtigen, dass die einzelne Kraft nicht genau diejenige Stellung der Theilchen zu Stande gebracht hat, welche sie, wenn allein vorhanden, nach der gepflogenen Er\u00f6rterung verursachen w\u00fcrde, sondern dass je die st\u00e4rkere Kraft die schw\u00e4chere verdr\u00e4ngte und dass sich ein Gleichgewicht zwischen allen Kr\u00e4ften herstellte, welches die gr\u00f6sstm\u00f6gliche attractive Gesammtwirkung ergibt.\nBei dieser Gesammtwirkung sind die Elektricit\u00e4t und die Isagit\u00e4t maa8sgebend, aber bei verschiedenen Verbindungen in sehr ungleichem \\ erh\u00e4ltniss, indem bald die eine, bald die andere das entscheidende Moment bildet. Im allgemeinen k\u00f6nnen wir wohl sagen, dass bei der Verbindung von Elementen, welche in der elektrischen Spannungsreihe weit von einander entfernt sind, die Elektricit\u00e4t den Ausschlag gibt, bei nahe stehenden Elementen dagegen die Isagit\u00e4t. Am sichersten l\u00e4sst sich wohl das Verh\u00e4ltniss der beiden Kr\u00e4fte bei der Molek\u00fclbildung aus den Atomen des n\u00e4mlichen Elements be-urtheilen. Da die sich verbindenden Atome in diesem Falle den gleichen elektrischen Charakter haben, so Kann, besonders wenn ihnen schon von Natur eine gr\u00f6ssere Menge freier Elektricit\u00e4t zukommt, wie beispielsweise beim Sauerstoff, keine bedeutende elek-","page":790},{"file":"p0791.txt","language":"de","ocr_de":"10. Chemische Verwandtschaft. AdhiUiou.\n791\ntrisclie Anziehung zu Stande kommen. Da die Atome aber auch den gleichen isagischen Charakter, also die gleiche Isagit\u00e4t im Ueber-schuss besitzen, so muss bei der Ann\u00e4herung eine betr\u00e4chtliche isagische Anziehung sich ergeben. Ebenso d\u00fcrfte die grosse chemische^Verwandtschaft zwischen Sauerstoff und Schwefel, welche Elemente in der elektrischen Spannungsreihe Nachbarn sind, vorzugsweise auf der Wirkung der Isagit\u00e4t beruhen.\nWenn dagegen entschieden elektropositive und entschieden elektro-negative chemische Elemente sich mit einander verbinden, so muss die elektrische Anziehung in der Regel sehr bedeutend ausfallen, w\u00e4hrend die isagische Wirkung unbekannt ist und bald einen gr\u00f6sseren,' bald einen geringeren Betrag erlangen mag. Die Verbindung von Sauerstoff oder Schwefel mit Wasserstoff und mit den Alkalien l\u00e4sst sich jedenfalls zur Gen\u00fcge durch die Elektricit\u00e4t erkl\u00e4ren. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Verwandtschaft des Schwefels zu den Alkalien einerseits, zu dem Sauerstoff anderseits auf ungleichen Ursachen beruht, dass die erstere eine vorzugsweise elektrische, die letztere eine vorzugsweise isagische ist.\nDa von den Dominantenkr\u00e4ften die Gravitationsanziehung in den chemischen Elementen immer gr\u00f6sser ist als die Aetherabstossung, so m\u00f6chte man vielleicht erwarten, dass die erstere auch bei jeder chemischen Verbindung irgend eine Rolle spielen, und dass bei Elementen mit hohem Atomgewicht diese Rolle nicht unbedeutend ausfallen werde. Vergleichen wir Sauerstoff (Atomgewicht 1) und Quecksilber (Atomgewicht 200) mit einander, so betr\u00e4gt die ver-h\u00e4ltnissm\u00e4ssige Anziehung durch die Schwere auf gr\u00f6ssere (nicht moleculare) Entfernungen zwischen zwei Wasserstoffatomen 1 (n\u00e4mlich 11), zwischen zwei Quecksilberatomen dagegen 40000 (n\u00e4mlich 200 \u2022 20< >). Nun ist aber diese Anziehung bloss ein winziger Theil \u00ab1er ganzen Gravitationsanziehung, welche zwischen zwei beliebigen Atomen (I und II) durch die Formel ausgedr\u00fcckt wird\nm,m2 = A,At \u2014 B{B,,\nwenn m, und m, die Masse oder das Gewicht, A, und A, die Summe der Gravitationskr\u00e4fte, B{ und B, die Summe der Aetherabstossungs-kr\u00e4fte von I und II bezeichnen (S. 719, 757).\nF\u00fcr die Gewichtsanziehungen zwischen zwei Wasserstoffatomen (H) und zwischen zwei QuecksiU>eratomen (Hy) gelten die Gleichungen","page":791},{"file":"p0792.txt","language":"de","ocr_de":"7! *2\tKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\nH H =.-= A\\ \u2014 B\\ oder 1 g\u2019 ^ AJ \u2014^Bl Hg- Hg \u2014 A] \u2014 B\\ oder 40000g\u2019 = A\\ \u2014 Bl, wenn H \u2014 \\q und Hg = 200g gesetzt wird.\nF\u00fcr die Beurtheilung aller dieser Gleichungen sind die zwei sowohl von der ganzen Theorie als von der Erfahrung geforderten Annahmen von Wichtigkeit, 1. dass die Verh\u00e4ltnisse der Gravitationskr\u00e4fte zu den Aetherabstossungskr\u00e4ften bei den verschiedenen chemischen Elementen, also\t~ u. s. w. im allgemeinen ungleiche\nWerthe darstellen, 2. dass die Summen der Gravitationskr\u00e4fte in den Atomen der verschiedenen chemischen Elemente in einem andern Verh\u00e4ltniss zu einander stehen als die Atomgewichte. Aus den letzteren l\u00e4sst sich somit kein Schluss auf eine bestimmte Intensit\u00e4t der Gravitationskr\u00e4fte und der Aetherabstossungskr\u00e4fte ziehen. Es w\u00e4re selbst m\u00f6glich, dass das Wasserstoffatom eine ebenso grosse oder selbst eine gr\u00f6ssere Summe von Gravitationskr\u00e4ften enthielte als das Quecksilberatom, wenn die Summe der Aetherabstossungskr\u00e4fte in entsprechendem Maasse erh\u00f6ht w\u00e4re. Ich habe schon oben (S. 758) gezeigt, worauf die verschiedenen Atomgewichte beruhen. Wegen der grossen Bedeutung, die man oft den Atomgewichten in chemischer Hinsicht beizulegen geneigt ist, will ich noch an zwei Beispielen zeigen, wie die ungleichen Gewichte dos Wasserstoffs und des Quecksilbers zu Stande kommen k\u00f6nnen.\nIn der Gleichung AA, \u2014 BB, = mm, bedeute A die Summe der Gravitationskr\u00e4fte der Erde, B die Summe ihrer Aetherabstossungskr\u00e4fte und m ihre Masse oder ihr Gewicht, A,, Bx und m, die entsprechenden Gr\u00f6ssen eines Wasserstoffatomes. Die Gleichung AA,\u2014 BB, = mm,, sowie die Zeichen A\u201e B, und m, gelten f\u00fcr ein\nQuecksilberatom. Wenn A \u2014 1OOOOUOOOOOOI Q,B\u2014 10000000000000 ferner\t*\n1\tJ\tAx ~\t1,00001g,\tB,\t=\t1,00g, so folgt mm,\t=\t10000001 Qq\nI\tA, =\t1,002g,\tB,\t=\t1,00g,\t\u00bb\tmm,\t=\t2000000001 Qq\n2\tI\tA, =\t0,013g,\tB,\t=\t0,01299g,\t\u00bb\tmm,\t=\t10000000013^\nI\tA, =\t0,012 g,\tBt\t\u2014\t0,0100g,\t\u00bb\tmm,\t=\t2000000000012\u00c7g\nIn beiden Beispielen besteht das gleiche Verh\u00e4ltniss zwischen dem Atomgewicht des Wasserstoffes und demjenigen des Queck-","page":792},{"file":"p0793.txt","language":"de","ocr_de":"10. Chemische Verwandtschaft. Adh\u00e4sion.\t793\n8ilb\u00abrs, n\u00e4mlich 1: 200. In dem ersten Beispiel aber ist A, gr\u00f6sser als At, in dem zweiten dagegen ist A7 kleiner als A,, also die Summe\nder Gravitationskr\u00e4fte im Quecksilberatom kleiner als im Wasserstoff -atom *).\nDas Atomgewicht kann aber um so weniger Anspruch auf Ber\u00fccksichtigung bei der Beurtheilung chemischer Vorg\u00e4nge erheben, als die Gewichtsanziehung ebenso wie gegen\u00fcber der Wirkung der Dominantenkr\u00e4fte, so auch gegen\u00fcber den elektrischen und isagi-schen Anziehungen und Abstossungen h\u00f6chst unbedeutend ist, und weil es bei der im Verh\u00e4ltnis zur Schwerkraft ungeheuren Menge der Gravitations- und Aetherabstossungskr\u00e4fte viel mehr als auf die genaue Quantit\u00e4t derselben, darauf ankommt, welche Bruchtheile der einen und andern im Atom beweglich sind und die f\u00fcv die Anziehung g\u00fcnstigste Lage anzunehmen verm\u00f6gen. \u2014 Man kann sich daher nicht im geringsten verwundern, dass die Quecksilberatome mit dem hohen Atomgewicht 200 und der gegenseitigen Schwereanziehung von 40000 bei der Verdampfungstemperatur nicht zu Molek\u00fclen sich zu verbinden verm\u00f6gen, w\u00e4hrend die Wasserstoffatome mit dem Atomgewicht 1 und der gegenseitigen Gewichtsanziehung von 1 noch sehr hoch \u00fcber der (unbekannt tiefen) Verdampfungstemperatur zu Molek\u00fclen verbunden bleiben, und das Kohlenstoffatom mit dem Atomgewicht 12 und der gegenseitigen Gewichtsanziehung von 144 bei keinem erreichbaren Temperaturgrad sich von den anderen Kohlenstoffatomen abl\u00f6st.\nDie am meisten charakteristische Erscheinung der chemischen Anziehung ist die mit dieser Anziehung erfolgende S\u00e4ttigung. Dieselbe zeigt sich am einfachsten bei dem einwerthigen Atom, welches, nachdem es eine Verbindung eingegangen hat, keine zweite ein-gehen kann, ohne die erste zu l\u00f6sen. Das Atom \u00fcbt also im S\u00e4ttigungszustande eine einseitige chemische Wirkung aus. Die freien Seiten, die ihm \u00fcbrig bleiben, k\u00f6nnen keine chemische An-\n*) Die namerischen Werthe f\u00fcr At, B,, At und Bt sind wie oben (8. 768) willk\u00fcrlich gew\u00e4hlt. In Wirklichkeit ist f\u00fcr ein gleiches Gewicht die Differenz zwischen den Gravitationskr\u00e4ften und den Aetherabstossungskr\u00e4ften im Wasserstoff kleiner, im Quecksilber gr\u00f6sser als in der Erde.","page":793},{"file":"p0794.txt","language":"de","ocr_de":"71)4\nKraft\u00ab und Gestaltungen im nioleeularen Gebiet.\nZiehung mehr zu Stande bringen. Daraus folgt, dass entweder Gestalt und Bau des Atoms in der Art unsymmetrisch sind, dass es an einer Seite eine eigenartige Wirksamkeit besitzt, \u2014 oder dass diese Einseitigkeit bei der Ann\u00e4herung zweier Atome gegen einander zu Stande kommt. Ich habe im Sinne der Amertheorie zu zeigen gesucht, dass das letztere jedenfalls eintreten muss, auch wenn das Atom im urspr\u00fcnglichen, d. h. im freien Zustande, in welchem keine anderen Atome dasselbe aus unmittelbarer N\u00e4he beeinflussen, auf allen Seiten gleich gebaut ist. Die auf diese Weise erlangte Einseitigkeit besteht darin, dass die Elementarkr\u00e4fte der sich verbindenden Atome in die f\u00fcr die Anziehung m\u00f6glichst g\u00fcnstige Lage, n\u00e4mlich die Attractionskr\u00e4fte in die m\u00f6glichst geringste, die Repulsionskr\u00e4fte in die m\u00f6glichst gr\u00f6sste Entfernung gebracht wurden. Zwei lwerthige Atome, die sich mit einander zu einem Molek\u00fcl verbunden haben, befinden sich daher gegen\u00fcber anderen Atomen in dynamisch ung\u00fcnstigerer Verfassung, indem sie auf dieselben eine geringere Anziehung aus\u00fchen als im freien Zustande. Deswegen k\u00f6nnen drei 1 werthige Atome sich nicht mit einandor verbinden ; ein aus drei Atomen Wasserstoff bestehendes Molek\u00fcl ist eine Unm\u00f6glichkeit. Kommt aber ein Atom mit betr\u00e4chtlich gr\u00f6sserer Verwandtschaft in unmittelbare N\u00e4he eines Molek\u00fcls und vermag dasselbe die Kr\u00e4fte in dem einen Atom dieses Molek\u00fcls anders zu orientiren, so l\u00f6st sich die bisherige Verbindung und es entsteht eine neue. So zersetzen Chloratorne die Wasserstoffmolek\u00fcle und bilden Salzs\u00e4uremolek\u00fcle.\nTreten mehrwerthige Atome in eine Verbindung ein, so finden zwar ganz analoge Erscheinungen statt, wie die eben geschilderten, aber doch mit besonderen Modificationen. Es verbindet sich zwar ebenfalls in der Regel ein Particell mit einem andern, wie es lwerthige Atome thun. Aber das Particell wirkt dynamisch nicht bloss auf das mit ihm verbundene, sondern \u00fcberdem auf alle Particelle des Molek\u00fcls ein. Die S\u00e4ttigung hat daher bei mehrwerthigen Atomen eine etwas andere Bedeutung als bei lwerthigen. Man darf nicht etwa annehmen, dass die chemischen Kr\u00e4fte eines Particells oder lwerthigen Atoms durch die Verbindung vernichtet oder dergestalt in Anspruch genommen w\u00e4ren, dass dieselben gleichzeitig keine andere Wirkung auszu\u00fcben verm\u00f6chten. Denn keine Kraft wird dadurch, dass sie ein Object ihrer Anziehung oder Abstossung","page":794},{"file":"p0795.txt","language":"de","ocr_de":"10. Cheiiii\u00fcdiu Verwandtschaft. Adh\u00e4sion.\n7'Jft\nfindet, f\u00fcr andere Objeete schw\u00e4cher. Sie wirkt immer und \u00fc)>erall bin im umgekehrten Verh\u00e4ltnis des Quadrats der Entfernung.\nUm das einfachste Beispiel zu w\u00e4hlen, so sind in einem Molek\u00fcl, das aus zwei 2worthigen Atomen l>esteht (Fig. H.*>), die vier folgenden dynamischen Beziehungen als Gesammtan-zielmng wirksam: df-\\ dy -f ef -f ey, und nicht etwa bloss die Anziehungen zwischen den opponirten Purticellen d/'-f ty. Ebenso haben bei der Ann\u00e4herung und Verbindung der leiden Atome nicht lediglich die einander opponirten Particelle, einerseits d und f, anderseits e und g, ihre fortschrittsbeweglichen Theilchen durch Einwirkung auf einander angeordnet, sondern jedes Particell hat die dynamische Einwirkung aller anderen erfahren und seine der Wanderung f\u00e4higen Kr\u00e4fte in der Weise angelagert, dass die gr\u00f6sstm\u00f6gliche Gesammt-anz\u2019ehung zwischen den beiden Atomen mit Gleichgewicht zwischen allen Theilen hergestellt wurde. Der dynamische Gesammtschwer-punkt in jedem Particell (z. B. d) liegt also etwas n\u00e4her der Grenze gegen das Schwesterparticell (e) als es der Fall w\u00e4re, wenn ersteres (d) ein lwerthiges Atom w\u00e4re und bloss einem anderen lwerthigen Atom (/\u2019) gegen\u00fcber st\u00e4nde.\nDer Beweis f\u00fcr die Annahme, dass ein Particell nicht bloss mit dem ihm opponirten, des von ihm > ges\u00e4ttigt* wird, sondern auch mit den benachbarten Particellen dynamisch verbanden ist, l\u00e4sst sich in F\u00e4llen der unvollst\u00e4ndigen S\u00e4ttigung thats\u00e4chlich erbringen. Bei unvollst\u00e4ndiger S\u00e4ttigung ergibt n\u00e4mlich die genannte Annahme eine andere Stellung der Atom<r und einen anderen Grad der Festigkeit, als man nach der gew\u00f6hnlichen Ausdrucksweise erwarten m\u00f6chte. Am einfachsten l\u00e4sst sich die Frage er\u00f6rtern f\u00fcr\nFig. Mi.\nFig.Sft.\nden Fall, dass ein lwerthiges Atom mit einem 2werthigen eine unges\u00e4ttigte Verbindung bildet. Wenn bloss Particell auf Particell","page":795},{"file":"p0796.txt","language":"de","ocr_de":"796\nKrftfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\nund Werthigkeit auf Werthigkeit wirken w\u00fcrde, so w\u00e4re die Stellung der Atome die in Fig. 36 I angegebene. Der naturgem\u00e4ssen Annahme entspricht aber allein Fig. 36 II, wo das lwerthige Atom von den beiden Particellen des 2werthigen angezogen wird und diejenige Lage annimmt , welche der gr\u00f6ssten Anziehung entspricht. Es ist klar, dass in dieser mittleren Stellung das lwerthige Atom durch die zwei Particelle fester gebunden wird als in der andern Stellung (Fig. 36 I), wo es nur die Einwirkung des einen Particells erf\u00e4hrt.\nBest\u00e4nden die dynamischen Beziehungen bloss zwischen den zwei einander gegen\u00fcber stehenden Wertigkeiten (Particellen oder lwerthigen Atomen), so w\u00e4re das lwerthige Atom in der unges\u00e4ttigten V erbindung (Fig. 36 I) genau mit der halb so grossen Kraft gebunden, als die beiden lwerthigen Atome zusammen in der ges\u00e4ttigten Verbindung (wie Fig. 36 III). Wirken dagegen alle Wertigkeiten dynamisch auf einander ein, wie es die punktirten Linien in den Figuren 36 II und HI andeuten, so ist die Bindung in dem unges\u00e4ttigten Molek\u00fcl (Fig. 36 11) mehr wie halb so stark als in dem ges\u00e4ttigten (Fig. 36 III). Ein bestimmtes Verh\u00e4ltniss zwischen der St\u00e4rke der beiden Bindungen l\u00e4sst sich aber nicht angeben, da dieselbe von der Menge und Kraftbegabung der fortschrittsbeweglichen Amere in den Atomen, sowie von der Gestalt und dem Bau der Atome bedingt wird. \u2014 Dass die in Wirk\u00fcchkeit vorhandene Festigkeit der Stellung in Fig. 36 II entspricht, wini durch die Bildungs-w\u00e4rnie der Verbindungen erwiesen. Dieselbe ist f\u00fcr\nQuecksilberchlor\u00fcr Hg CI 41275 cal.| Quecksilberchlorid Hg CL 63160 \u00bb (\nDifferenz 18115 cal.\nWenn also ein (in diesem Falle lwerthiges) Atom Chlor sich mit dem 2werthigen Atom Quecksilber verbindet, so werden 41275 W\u00e4rmeeinheiten frei. Tritt dann das zweite Atom Chlor in das Molek\u00fcl ein, so werden bloss noch 18115 W\u00e4rmeeinheiten frei. Das erste Atom Chlor war also in der unges\u00e4ttigten Verbindung mit\nungef\u00e4hr von der Kraft gebunden, welche die beiden Atome Chlor\nin der ges\u00e4ttigten Verbindung festh\u00e4lt. Die n\u00e4mliche Erscheinung zeigt sich bei der Brom- und Jod Verbindung. Die Bildungsw\u00e4rmen sind n\u00e4mlich f\u00fcr","page":796},{"file":"p0797.txt","language":"de","ocr_de":"to. C'hemiHdip Verwandtschaft. Adh\u00e4sion.\n797\nQuecksilberbrom\u00fcr Hg Br 34146 cal. Quecksilberbromid Hg Br. 50550 *\nDifferenz 16405 cal.\nQuecksilber]od\u00fcr HgJ 24 220 cal.),.\nQuecksilberjodid HgJ, 34810 \u00bb JI),fW 10090 cal'\nKin analoges Resultat wird sich stets ergeben, wenn eine unges\u00e4ttigte Verbindung in eine ges\u00e4ttigte \u00fcbergeht. Bei der Bildung von Kohlenoxyd und Kohlens\u00e4ure besteht wohl nur eine scheinbare Ausnahme. Wenn ein einziges 2werthiges Sauerstoffatom mit dem 4werthigen Kohlenstoffatom sich verbindet, so muss naturgem\u00e4ss jedes Particell des ersteren mit zweien des letzteren in dynamischer Beziehung sein und analog wie in Fig. 31 c und d (S. 768) eine mittlere Stellung zwischen denselben einnehmen. Tritt das zweite Atom Sauerstoff hinzu, so sind die vier Sauerstoffparticelle den vier Kohlenstoff particellen opponirt. Mit dieser naturgem\u00e4ssen Annahme sind die Bildungsw\u00e4rmen in scheinbarem Widerspruch.\nBei der Verbrennung von Kohlenstoff zu Kohlenoxyd (CO) werden auf 1 Molek\u00fcl CO 28*00 cal. frei. Verbrennt Kohlenoxyd zu Kohlens\u00e4ure (CO,), so werden 68200 cal. frei, und dem entsprechend ist die Verbrennungsw\u00e4rme von C zu CO, 97600 cal. Aus dem Umstande, dass die Bildungsw\u00e4rme von CO aus C und O mit 28800 cal. viel kleiner ist als die Bildungsw\u00e4rme von CO, aus CO und O mit 68 200 cal., darf man aber nicht schliessen, dass das erste Atom O von C mit geringerer Kraft festgehalten werde als das zweite, weil die Bildungsw\u00e4rmen in diesem Falle nicht direct vergleichbar sind. Wenn Kohle in Kohlenoxyd \u00fcbergeht, so muss das mit grosser Kraft festgehaltene Kohlenstoffatom weggerissen und frei gemacht werden; es muss n\u00e4miich die Kohle aus dem festen in den fl\u00fcssigen Zustand \u00fcbergehen, was durch W\u00e4rme allein erst bei einer noch nicht herstellbaren Temperatur geschieht, und sie muss \u00fcberdem im Kohlenoxyd gasf\u00f6rmig werden. F\u00fcr diese physikalischen Ver\u00e4nderungen wird eine unbekannte, aber jedenfalls sehr betr\u00e4chtliche W\u00e4rmemenge verbraucht, die zu der Bildungsw\u00e4rme des Kohlenoxyds hinzu zu addiren ist und diese letztere in ein ganz anderes Verh\u00e4ltniss zur Bildungsw\u00e4rme der Kohlens\u00e4ure bringen muss, als die angef\u00fchrten Zahlen besagen.","page":797},{"file":"p0798.txt","language":"de","ocr_de":"798\tKri'.fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\nBis jetzt habe ich von den dynamischen Beziehungen gesprochen, in denen innerhalb eines Molek\u00fcls die Atome zu den gegen\u00fcberstehenden Atomen sich befinden, und welche die eigentliche chemische Verwandtschaft bedingen. In allen Molek\u00fclen, die aus drei und mehr Atomen zusammengesetzt sind, m\u00fcssen solche Beziehungen auch zwischen den \u00fcbrigen Atomen bestehen. Ein Beispiel hief\u00fcr geben uns die zwei lwerthigen Atome in Fig. 36 III (S. 795), deren gegenseitige Bindung als collaterale l>ezeichnet werden kann. Denn auch in den collateralen Atomen eines Molek\u00fcls bedingen die Attractions- und Repulsionskr\u00e4fte noth-wendig eine mehr oder weniger betr\u00e4chtliche Wanderung der fortschrittsbeweglichen Amere und eine unter den \u00fcbrigen Umst\u00e4nden m\u00f6glichst grosse Anziehung. Im allgemeinen stehen diese collateralen Bindungen den opponirten an Festigkeit merklich nach; es ist aber kein Grund vorhanden, warum sie nicht in besonderen F\u00e4llen die letzteren selbst \u00fcbertreffen sollten.\nSind die Molek\u00fcle nicht vereinzelt, wie in den meisten Gasen, sondern an andere Molek\u00fcle angrenzend, so werden zwischen den Atomen des einen und denen des anliegenden Molek\u00fcls ebenfalls Atomkr\u00e4fte wirksam. Es findet ein analoger Vorgang statt, wie zwischen den collateralen Atomen des n\u00e4mlichen Molek\u00fcls, aber im allgemeinen mit noch geringerem Erfolg, da die Atome eines jeden Molek\u00fcls wegen der beim Verbindungsakt zu Stande gekommenen specifischen Anordnung ihrer Elementarkr\u00e4fte bereits die festeste Bindung gewonnen haben. Immerhin ist es nothwendig, dass die an einander stossenden Atome zweier Molek\u00fcle ihre fortschrittsbeweglichen und drehungsbeweglichen Theile und damit ihre Attractions- und Repulsionskr\u00e4fte so g\u00fcnstig f\u00fcr ihre gegenseitige Anziehung anordnen, als es die bereits vorhandenen allseitigen dynamischen Beziehungen gestatten.\nIch habe die Beziehungen der Atome (Particelle) eines Molek\u00fcls als oppomrte und collaterale unterschieden. Da diejenige Seite eines Atoms, welche sich am Molek\u00fcl aussen befindet, als R\u00fcckenseite bezeichnet werden kann, so lassen sich die Beziehungen der an einander stossenden Atome zweier Molek\u00fcle dorsale nennen. Das \\ erh\u00e4ltniss zwischen der opponirten Affinit\u00e4t (die collaterale ist zu wenig bekannt) und der dorsalen zeigt die allergr\u00f6ssten Versehieden-heiten. Im allgemeinen \u00fcberwiegt zwar die erstere bedeutend. \u00abW","page":798},{"file":"p0799.txt","language":"de","ocr_de":"10. Chemifwlie Vorwandtw liaft Adh\u00e4sion.\n799\n68 k\u00f6nnen beide auch nahezu gleich sein. Der letztere extreme Fall trifft, wenn wir bloss die Molek\u00fcle der chemischen Elemente ber\u00fccksichtigen, einerseits beim Quecksilber ein, wo beide Affinit\u00e4ten sehr schwach sind, und wo die Atome des Molek\u00fcls im gleichen Augenblick sich von einander trennen, in welchem die Molek\u00fcle sich abl\u00f6sen und gasf\u00f6rmig werden, \u2014 anderseits beim Kohlenstoff, wo beide Verwandtschaften so gross sind, dass sie bis jetzt durch W\u00e4rme allein nicht \u00fcberwunden werden konnten. Den anderen extremen Fall finden wir bei den permanenten Gasen, wo die oppo-nirte Verwandtschaft sehr gross, die dorsale \u00e4usserst gering ist, indem die Molek\u00fcle schon bei den allerniedrigsten Temperaturen getrennt, die Atome aber bei den h\u00f6chsten noch verbunden sind. Zwischen diesen beiden Extremen, \u2014 Quecksilber und Kohlenstoff einerseits, Wasserstoff, Stickstoff und Sauerstoff anderseits, \u2014 bewegen sich alle \u00fcbrigen Elemente.\nWenn die Atomkr\u00e4fte als Centralkr\u00e4fte wirksam w\u00e4ren, so w\u00fcrden die n\u00e4mlichen zwei Atome oder Atomparticelle auf gleiche Entfernung immer die gleiche Anziehung auf einander aus\u00fcben, was aller Erfahrung widerspricht. Sind aber, entsprechend der Amertheorie, die Theilclien in den Atomk\u00f6rpern bis zu einem gewissen Grad beweglich, so kann die Anziehung zwischen zwei Atomen alle m\u00f6glichen Abstufungen zeigen, je nachdem dieselben gleichzeitig von andern Atomen mehr oder weniger stark in Anspruch genommen und in ihren beweglichen Kr\u00e4ften orientirt sind. Nehmen wir als Beispiel das Wasserstoff- und Sauerstoffatom. Dieselben sind im gasf\u00f6rmigen Wassermolek\u00fcl am festesten verbunden, weil sie ihre Kr\u00e4fte bloss mit R\u00fccksicht auf einander, also auf die g\u00fcnstigste Art anordnen. Im Hydroxyl eines gasf\u00f6rmigen Molek\u00fcls ist die Verbindung schon etwas lockerer, weil auf beide Atome, besonders aber auf das betreffende Sauerstoffparticell noch andere Atomkr\u00e4fte, wenn auch nur in geringem Maasse einwirken. Noch geringere Verwandtschaft, und zwar in allen m\u00f6glichen Graden, haben ein Wasserstoflf-atom und ein Sauerstoffparticell zu einander, wenn sie im n\u00e4mlicheu Molek\u00fcl collateral sind, oder wenn sie verschiedenen Molek\u00fclen angeh\u00f6ren und in festen K\u00f6rpern unmittelbar neben einander zu liegen kommen, also in dorsaler Beziehung sich befinden.\nEbenso ist es einleuchtend, dass zwei Molek\u00fcle an ihren verschiedenen Seiten ungleiche Verwandtschaft zu einander t\u2019*'1 ~","page":799},{"file":"p0800.txt","language":"de","ocr_de":"800\nKrftfte un<l Gestaltungen im molecularen Gebiet.\nNehmen wir den einfachsten Fall, die gleichen zwei aus lwerthigen Atomen bestehenden Molek\u00fcle (z. B. Kaliumjodid KJ, insofern J wirklich einwerthig ist). Dieselben k\u00f6nnen in symmetrischer Weise auf 7 verschiedene Arten sich neben einander lagern, von denen jede eine andere Verwandtschaft bedingt. Bei starker zusammengesetzten Verbindungen steigt die Zahl der m\u00f6glichen Stellungs-combinationen in rasch zunehmender Progression. Legen sich die Molek\u00fcle aus einer L\u00f6sung an einander an, so k\u00f6nnen sie ihrer Neigung folgen und diejenigen Seiten einander zukehren, welche die gr\u00f6sste Anziehung ergeben. Auf diese Weise bilden sich abgeschlossene Gruppen (Pleone1), Molek\u00fclvereinigungen, die aus einer bestimmten, meist geringen Zahl von Molek\u00fclen bestehen und in verschiedener Beziehung sich wie ein einziges Molek\u00fcl verhalten. Aus 2 Molek\u00fclen bestehen die Pleone des Alauns. Eine besondere Gruppe bilden die Hydropleone, indem 1 oder 2 Molek\u00fcle einer Verbindung sich mit Wassermolek\u00fclen vereinigen, die als Pleon-wasser zu bezeichnen sind, da das eigentliche Hydratwasser einen integrirenden Bestandteil eines Molek\u00fcls bildet. Es k\u00f6nnen sich bis auf 10 Wassermolek\u00fcle mit 1 Salzmolek\u00fcl (Natriumsulfat) und bis auf 24 Wjwsermolek\u00fcle mit 2 Salzmolek\u00fclen (Kalium-Aluminium-Doppelsulfat) vereinigen.\nDie abgeschlossenen Vereinigungen der Pleone bestehen aus ungleichen Molek\u00fclen. Wenn gleiche Molek\u00fcle sich an einander ordnen, so k\u00f6nnen an die freien Seiten sich immer wieder neue Molek\u00fcle in der n\u00e4mlichen Weise anlegen. Es bildet sich eine un-geschlossene Vereinigung, die unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden unbegrenzt fortwachsen kann und die man als Krystall bezeichnet. Da die Pleone im allgemeinen, \u00e4hnlich wie die Molek\u00fcle, auf ihren verschiedenen Seiten ungleiche dynamische Beschaffenheit besitzen und ungleiche Verwandtschaft \u00e4ussem, so k\u00f6nnen sie ebenfalls sich in bestimmten Richtungen an einander lagern und Krystalie bilden.\nDie Anziehungen zwischen den Molek\u00fclen bedingen, sofern diese dem n\u00e4m.ichon K\u00f6rper angeh\u00f6ren, die Coh\u00e4sion und, sofern sie verschiedenen K\u00f6rpern angeh\u00f6ren, die Adh\u00e4sion. Unter den Adh\u00e4sions-","page":800},{"file":"p0801.txt","language":"de","ocr_de":"10. Chemische Verwandtschaft. Adh\u00e4sion.\n801\nerscheinungen ist die bemerkenswertheste die Benetzung fester und die Imbibition organisirter K\u00f6rper. Gewisse Substanzen haben grosse Fl\u00e4chenanziehung zu Wasser und benetzen sich an ihrer Oberfl\u00e4che. Sind sie por\u00f6s, so nehmen sie dasselbe in ihr Inneres auf. Die organisirten K\u00f6rper l)estehen aus Micellen, d. h. aus getrennten Theilchen mit krystallinischem Bau, die aus zahlreichen Molek\u00fclen zusammengesetzt und wie Krystalle entstanden sind, ohne die regelm\u00e4ssige Form der Krystalle zu besitzen. Die Imbibition ist nichts anderes als die Benetzung dieser Micelle, indem sich jedes mit einer Wasserh\u00fclle umgibt.\nDie Fl\u00e4chenanziehung vermag nur eine \u00e4usserst d\u00fcnne Wasserschicht festzuhalten. Deswegen kann der organisirte K\u00f6rper, wenn er ausgetrocknet war, nur eine bestimmte Menge Wasser aufnehmen und, indem seine Micelle infolge der Benetzung auseinander weichen, sein Volumen nur um einen bestimmten Betrag vergr\u00f6ssem. Werden mit Wasser durchdrungene St\u00e4rkek\u00f6rner gedr\u00fcckt, Membranen gezerrt oder Fasern gebogen, so erfahren ihre Micelle eine entsprechende Verschiebung, und die mit Wasser gef\u00fcllten Zwischenr\u00e4ume zwischen denselben werden theils gr\u00f6sser, theils kleiner, wie dies in den nicht-mieell\u00f6sen K\u00f6rpern mit den von ponderabelm Aether erf\u00fcllten Zwischenr\u00e4umen zwischen den Atomen der Fall ist. Bleibt die mechanische Einwirkung innerhalb gewisser Grenzen, so kehrt nach ihrem Aufh\u00f6ren der urspr\u00fcngliche Zustand in der \u00e4ussern Form und in der innem Configuration des organisirten K\u00f6rpers zur\u00fcck.\nAuch nichtmicell\u00f6se Substanzen (z. B. Glas) benetzen sich mit Wasser und in die capillaren R\u00e4ume eines Pulvers dringt das Wasser mit einer gewissen Kraft ein. W\u00e4ren die Theilchen des Pulvers so klein wie die Micelle, w\u00e4ren somit die trennenden Wasserh\u00fcllen derselben viel zahlreicher, so w\u00fcrde auch eine Volumenzunahme des sich imbibirenden Pulvers bemerkbar werden.\nDie Thatsache, dass zwischen die Micelle Wasser eindringt und sie auseinander treibt, beweist, dass die organische Substanz eine gr\u00f6ssere Anziehung auf Wasser aus\u00fcbt als auf die organische Substanz selber. Aber es dringt in einen micell\u00f6sen K\u00f6rper nur eine gewisse Menge Wasser ein; die Micelle werden durch dasselbe nur bis auf eine bestimmte Entfernung auseinander ger\u00fcckt. Es bedarf selbst, um sie weiter von einander zu entfernen, einer \u00e4usseren Kraft, wie pine \u00e4ussere Kraft, noth wendig ist. um sie mehr zu n\u00e4hern","page":801},{"file":"p0802.txt","language":"de","ocr_de":"802\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet\nbeweist, dass die Substanz des Micells bloss in n\u00e4chster N\u00e4he das Wasser st\u00e4rker anzieht als eine gleich grosse Menge Substanz, und dass \u00fcber eine bestimmte Entfernung hinaus, welche als Gleichgewichtslage zu bezeichnen ist, die dynamischen Beziehungen sich umkehren.\nWir k\u00f6nnen, wie ich es schon fr\u00fcher gethan habe *), dieses Verhalten in symbolischer Weise durch die Formel der Gleichgewichtslage ausdr\u00fccken, =^rq, wenn A die Anziehung zwischen zwei\nVolumeneinheiten der Substanz, B die Anziehung zwischen einer solchen Volumeneinheit Substanz und einer Volumeneinheit Wasser und d den Abstand der Mittelpunkte dieser Volumeneinheiten bezeichnet. Doch hat eine solche Aushilfsformel bloss eine vorl\u00e4ufige empirische Bedeutung, indem sie eine Umschreibung, nicht eine Erkl\u00e4rung der Erscheinung gibt. Wenn die theoretische Forderung der Physik erf\u00fcllt werden soll, dass jede Anziehung nur im umgekehrten Verh\u00e4ltniss des Quadrats der Entfernung wirken kann, so ist bloss Eine Annahme m\u00f6glich, n\u00e4mlich die, dass die oberfl\u00e4chliche Partie des Micells auf die angrenzende Wasserschicht eine gr\u00f6&sere Anziehung aus\u00fcbe als die innere Substanz des Micells auf das \u00fcbrige Wasser, und dass jene Anziehung gr\u00f6sser sei als die des ganzen Micells auf ein anderes Micell, wobei nat\u00fcrlich stets gleiche Volumina zu verstehen sind. Dadurch wird die vollst\u00e4ndige Ann\u00e4herung der Micelle bei Vorhandensein von Wasser verhindert. Es muss aller zugleich, sobald eine geringe Entfernung \u00fcberschritten ist, die Anziehung von Substanz zu Substanz gr\u00f6sser sein als die Anziehung von Substanz zu Wasser, sonst w\u00fcrden sich die Micelle unbegrenzt von einander entfernen und in Micellarl\u00f6sung \u00fcbergehen.\nJene einzig m\u00f6gliche Annahme wird durch die Einwirkung der Molek\u00fcle auf einander erf\u00fcllt, welche nach der Amertheorie stets vorhanden sein muss, und welche eine der gr\u00f6ssten gegenseitigen Anziehung entsprechende Anordnung der beweglichen Theilchen in den Atomk\u00f6rpern verursacht. Es wird also die dynamische Beschaffenheit der oberfl\u00e4chlichen Molek\u00fcle der Micelle einerseits und der angrenzenden Wassermolek\u00fcle andrerseits im Sinne einer gesteigerten Verwandtschaft ge\u00e4ndert. Dieser Vorgang ist selbst-","page":802},{"file":"p0803.txt","language":"de","ocr_de":"10. Chemische Verwandtschaft. Adh\u00e4sion.\n803\nverst\u00e4ndlich ein specifischer, indem das Wasser zu jeder anderen chemischen Verbindung einen anderen Grad der Verwandtschaft \u00e4ussert. Es gibt K\u00f6rper, welche sich gar nicht benetzen und somit eine sehr geringe Anziehung zu Wasser kundgeben; unter den organischen Verbindungen geh\u00f6ren dazu die sauerstoffarmen Verbindungen, Fette, Wachse, Stearoptene, Harze, Kautschuk.\nJe nach der St\u00e4rke der Einwirkung macht sich dieselbe auf eine geringere oder gr\u00f6ssere Entfernung geltend. Es ist denkbar, dass von den Micellen der einen Substanzen nur eine einzige Schicht von Wassermolek\u00fclen, von andern 2 und 3 Molek\u00fclschichten st\u00e4rker angezogen werden, so \u00ablass zwischen je zwei Micellen, mit Ausschluss \u00ab1er gr\u00f6sseren Interstitien an den Ecken, sich 2 bis 4 und 6 Schichten von Wassermolek\u00fclen befinden, und dies reicht zur Erkl\u00e4rung aller Erscheinungen der Imbibition vollst\u00e4ndig aus1 2).\nDie Wassermolek\u00fclschichten, welche in der angegebenen Weise von \u00ab1er Micelloberfl\u00e4che festgehalten werden, haben im Vergleich mit dem \u00fcbrigen Wasser ihre dynamische Beschaffenheit etwas ver\u00e4ndert. Diese Aendemng ist durch Wanderung von beweglichen Theilchen in ihren Atomen eingetreten, welcher eine analoge Dislocation in den Atomen der Micelloberfl\u00e4che entspricht. Daraus ergibt sich zugleich die Annahme, dass die betreffenden Wassermolek\u00fcle unbeweglicher werden, dass sie nicht mehr beliebig nach allen Richtungen sich \u00ablrehen und fortbewegen, sondern ihren Abstand und ihre Orientirung zur Micelloberfl\u00e4che bewahren, zu welcher sie sich entsprechend der st\u00e4rksten Verwandtschaft gerichtet haben, \u2014 eine Annahme, die \u00fcbrigens schon aus anderen Gr\u00fcnden noth-wendig war*).\nGleichgewicht zwischen zwei einzelnen Micellen, wenn sich dieselben allein im Wasser bef\u00e4nden, w\u00fcrde dann vorhanden sein, wenn sie so weit von einander entfernt w\u00e4ren, dass die gegenseitige Anziehung der beiden Micelle gleich k\u00e4me der Anziehung zwischen ihren oberfl\u00e4chlichen Molek\u00fclen und den die Micelle trennenden Schichten von Wassermolek\u00fclen sammt der Anziehung zwischen den ganzen Micellen und den durch sie verdr\u00e4ngten Wassermassen. Daraus ergeben sich die Bedingungen f\u00fcr das Gleichgewicht \u00ab1er\n1)\tTheorie der U\u00e4rung. Molek\u00fclvereinigungen S. 147 ff.\n2)\tEWndaMelbst S. 129 und 139.\n51*","page":803},{"file":"p0804.txt","language":"de","ocr_de":"804\nKrftfte und Gestaltungen im molerularen Gebiet.\nGesammtheit der Micelle in imbibirten organischen K\u00f6rpern. Der Abstand der Micelle h\u00e4ngt von der Massenanziehung zwischen denselben, von der Massenanziehung zwischen den Micellen und dem Wasser und von den Ber\u00fchrungs- oder Adh\u00e4sionskr\u00e4ften ab, welche zwischen der Oberfl\u00e4che der Micelle und den n\u00e4chsten Wassermolek\u00fclen r\u00e7jrksam werden. F\u00fcr gleiche chemische Beschaffenheit der Micellsubstanz und der Imbibitionsfl\u00fcssigkeit wird der Abstand mit dem Gr\u00f6sserwerden der Micelle kleiner, weil die Oberfl\u00e4chenkr\u00e4fte, mit welchen sie die w\u00e4ssrige Fl\u00fcssigkeit anziehen, nach der zweiten Potenz des Radius, die Anziehung zwischen den Micellk\u00f6rpern dagegen nach der dritten Potenz w\u00e4chst.\nDie Eigent\u00fcmlichkeiten der chemischen Anziehung und der Adh\u00e4sionsanziehung lassen sich nach der Amertheorie, wie es in dem Vorstehenden geschehen ist, durch Ortsver\u00e4nderung beweglicher Theilchen in den Atomen erkl\u00e4ren. Dass eine solche Ortsver\u00e4nderung wirklich stattfinde, daf\u00fcr bestehen zwei entscheidende Gr\u00fcnde, ein theoretischer und ein empirischer. Was die Theorie betrifft, so\u2019sind die Atome ihrer Entstehung gem\u00e4ss Systeme von elastischen, in Bewegung befindlichen Ameren. Die Bewegungen der Amere m\u00fcssen, je nach den dynamischen Beziehungen derselben, ungleicher Natur sein; ausser schwingenden muss es auch fortschreitende geben. Daraus folgt beim Eintritt einer \u00e4usseren dynamischen Einwirkung nothwendig eine Ortsver\u00e4nderung dieser fortschrittsbeweglichen Amere.\nWas die Erfahrung betrifft, so zeigen una alle chemischen und Adh\u00e4sionserscheinungen, dass die dynamischen Eigenschaften der Atome nicht constant sind, sondern unter verschiedenen Umst\u00e4nden eine bestimmte Ver\u00e4nderung erfahren, welche ohne eine Wanderung der kraftbegabten Theilchen unm\u00f6glich erschiene. W\u00e4ren die Eigenschaften der Atome best\u00e4ndig, so m\u00fcsste man erwarten, dass ein Molek\u00fcl die Summe aus den Eigenschaften seiner Atome darstellte, dass also auch die Sclimelz und Siedepunkte einer Verbindung,' welche von dem Grade der Adh\u00e4sion zwischen den Molek\u00fclen ab-h\u00e4ngen, gewissennaassen in der Mitte l\u00e4gen zwischen dem Schmelz-und Siedepunkte ihrer constituirenden Elemente. Diese Erwartung wird aber h\u00e4ufig get\u00e4uscht, indem die Verbindungen in der genannten Beziehung \u00fcber ihre Constituenten hinausgreifen.","page":804},{"file":"p0805.txt","language":"de","ocr_de":"10. Chemische Verwandtschaft. Adh\u00e4sion.\n805\nBetrachten wir beispielsweise das Wasser, das aus zwei permanenten Gasen entstanden ist. Die Sauerstoffmolek\u00fcle, aus 2 Atomen O bestehend, haben eine so geringe Verwandtschaft zu einander, dass sie bei den niedrigsten Temperaturen noch nicht zu einer Fl\u00fcssigkeit sich vereinigen, was wohl nur durch die Anwesenheit einer Aether-h\u00fclle von betr\u00e4chtlicher M\u00e4chtigkeit erkl\u00e4rt werden kann. Eben so verh\u00e4lt es sich mit den Wasserstoffmolek\u00fclen, welche aus 2 Atomen H zusammengesetzt sind. Wir w\u00fcrden es daher sehr nat\u00fcrlich finden, wenn die Wassermolek\u00fcle, H,0, ebenfalls ein permanentes Gas dar-stellten. Sie sind aber weit entfernt davon, die Eigenschaften ihrer constituirenden Elemente zu bewahren, da sie bei 100\" sich zum fl\u00fcssigen und bei 00 zum festen Zustand vereinigen. Die Sauerstoff-und Wasserstoff atome m\u00fcssen also bei der Wasserbildung andere Eigenschaften annehmen. Sowie sich dieselben einander n\u00e4hern, ordnen sich in landen die fortschrittsbeweglichen Kr\u00e4fte anders an; infolge dessen wird der ponderable Aether mit geringerer St\u00e4rke von den Atomk\u00f6rpern angezogen; die Aetherh\u00fclle verliert an M\u00e4chtigkeit und die Adh\u00e4sion zwischen den Molek\u00fclen nimmt zu.\nMan k\u00f6nnte vielleicht geneigt sein, die gr\u00f6ssere Adh\u00e4sion zwischen den Wassermolek\u00fclen dem Umstande zuzuschreiben, dass \u00ablie dorsale Anziehung zwischen einem Wasserstoff- und einem Sauerstoffatom gr\u00f6sser und im Wasser gerade eben so h\u00e4ufig vorhanden sei als die dorsale Anziehung zwischen zwei Wasserstoffatomen und \u00abliejenige zwischen zwei Sauerstoffatomen. In diesem Falle w\u00fcrde man \u00ablie dorsale Verwandtschaft an der Oberfl\u00e4che der Molek\u00fcle nach der opponirten Verwandtschaft innerhalb der Molek\u00fcle beurtheilen,\u2019 was nicht nur theoretisch unzul\u00e4ssig, sondern auch mit der Erfahrung im Widerspruche ist. Um nur von der letzteren zu sprechen, so m\u00fcsste, wenn \u00ab1er angef\u00fchrte Grundsatz richtig w\u00e4re, die Coh\u00e4sion einer Menge von Verbindungen gr\u00f6sser sein als die Coh\u00e4sion eines je\u00ablen ihrer Elemente, was nicht der Fall ist. Gerade das wechselnde Verh\u00e4ltniss zwischen den beiden Anziehungen (der opponirten und \u00ab1er dorsalen) l>eweist uns, dass beide unabh\u00e4ngig von einander und in jeder Vorbindung von der Anordnung der wanderungsf\u00e4higen Kr\u00e4fte bedingt sind.\nDas n\u00e4mliche Verhalten wie beim Wasser finden wir bei den Verbindungen zwischen Sauerstoff und Stickstoff, Wasserstoff und Stickstoff u. a. Auch in Bleiprotoxyd (1*0), welches bei 054\u00b0 schmilzt,","page":805},{"file":"p0806.txt","language":"de","ocr_de":"806\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\nist die Coh\u00e4sion gr\u00f6sser als im Sauerstoff und im Blei, von denen das letztere seinen Schmelzpunkt hei 334\u00b0 hat.\nViele bin\u00e4re Verbindungen halten sich r\u00fccksichtlieh der Adh\u00e4sion ihrer Molek\u00fcle zwischen den sie zusammensetzenden Elementen. Bemerkenswerth sind die Erscheinungen, welche Kohlens\u00e4ure und Kohlenoxyd zeigen. Die Kohlens\u00e4ure (Kohlendioxyd, CO,) hat ihren Schmelz- und Siedepunkt bei \u2014 78\u00bb; sie steht somit in Bezug auf die Adh\u00e4sionsanziehung ihrer Molek\u00fcle zwischen Kohlenstoff und Sauerstoff, wenn sie auch dem letzteren viel n\u00e4her kommt. Von dem Kohlenoxyd (CO) al>er sollte man erwarten, dass es zwischen Kohlens\u00e4ure und Kohlenstoff stehe, w\u00e4hrend es als permanentes Gas sich wie Sauerstoff verh\u00e4lt oder wenigstens eine Zwischenstellung zwischen Kohlens\u00e4ure und Sauerstoff einnimmt. Eine solche Erscheinung w\u00e4re einmal ganz unerkl\u00e4rlich, wenn im Kohlenoxyd das Sauerstoffatom wie in der Kohlens\u00e4ure mit zwei Particellen des Kohlenstoffatoms sich verbunden und die \u00fcbrigen zwei Werthigkeiten in Wirklichkeit frei gelassen h\u00e4tte; denn in diesem Falle w\u00fcrde das Kohlenoxydmolek\u00fcl gleichsam aus einem halben Molek\u00fcl Kohlens\u00e4ure und einem halben Kohlenstoffatom bestehen. Verbindet sich al>er jedes der zwei Particelle des Sauerstoffatoms mit zwei Particellen des Kohlenstoffatoms, wie ich es f\u00fcr mechanisch notl.wendig halte (S. 71)5), so ver\u00e4ndert sich das bisherige dynamische Gleichgewicht in allen Particellen des Kohlenstoffs und zwar in anderer Weise, als es bei der Verbindung von 4 Particellen Sauerstoff mit 4 Particellen Kohlenstoff zu Kohlens\u00e4ure geschieht, \u2014 und es l\u00e4sst sich recht wohl denken, dass infolge der im einen und andern Falle eintretenden Configurations\u00e4nderungen in den Atomk\u00f6rpem die Aetherh\u00fclle des Kohlenoxydmolek\u00fcls st\u00e4rker ausf\u00e4llt als diejenige des Kohlens\u00e4uremolek\u00fcls. \u2014 Analog wie Kohlenoxyd und Kohlens\u00e4ure verhalten sich Schwefligs\u00e4ureanhydrid und Schwefels\u00e4ureanhydrid.\nEine dritte Art des Verhaltens einer Verbindung im Vergleich mit den beiden Elementen, aus denen sie zusammengesetzt ist, zeigt uns der Schwefelkohlenstoff (CS,). Derselbe siedet bei 47* und hat somit eine geringere Coh\u00e4sion als seine Constituenten Kohlenstoff und Schwefel, von denen der letztere bei 320\u00b0 siedet.\nBemerkenswerth sind die isomeren Verbindungen, welche durchgehende eine ungleiche Adh\u00e4sionsanziehung zwischen den Molek\u00fclen besitzen. So siedet beispielsweise die Butters\u00e4ure (C.H.O*) bei 156\u00b0","page":806},{"file":"p0807.txt","language":"de","ocr_de":"11. Isagit\u00e4t.\n807\nund der Essigftther (ebenfalls C.H.CL) bei 74\". Die isomeren Ver-bindungen unterscheiden sich dadurch von einander, dass ihre Atome eine ungleiche Lagerung im Molek\u00fcl besitzen, wodurch nat\u00fcrlich ungleiche dynamische Beziehungen zwischen den Atomen, ungleiche Anordnung der Kr\u00e4fte in denselben und ungleiche mittlere M\u00e4chtigkeit der A etherh\u00fclle um das ganze Molek\u00fcl verursacht werden.\nII. Isagitftt.\nDie Annahme der Isagit\u00e4t ist eine Hypothese, ein Versuch, die unvollst\u00e4ndigen erfahrungsm\u00e4ssigen Vorstellungen \u00fcber die dynamische Beschaffenheit der Materie zu erg\u00e4nzen. Eine Hypothese ist um so gerechtfertigter, f\u00fcr je zahlreichere Erscheinungen sie die Einheit einer vern\u00fcnftigen Erkenntniss gew\u00e4hrt, und um so n\u00fctzlicher, je mehr sie geeignet ist, zur Auffindung neuer Thatsachen zu f\u00fchren. In beiden Beziehungen entspricht, wie ich glaube, die Annahme der Isagit\u00e4t in Verbindung mit der Amertheorie den Anforderungen an eine erlaubte Hypothese, da sie alle nat\u00fcrlichen Erscheinungen zu umfassen und ihnen einen naturgesetzlichen Ausdruck zu geben sucht, und da sie gewiss, wenn sie einmal Gegenstand physicalischer Experimente geworden ist, auch zu neuen Erkenntnissen f\u00fchren wird.\nAlle Naturwissenschaft muss gleichzeitig deductiv und inductiv sein. Eine Hypothese muss daher einerseits mit den Gesetzen der \\ ernunft und andrerseits mit den Erfahrungen der sinnlichen Wahrnehmung \u00fcbereinstimmen, wobei nicht \u00fcbersehen werden darf, dass die vernunftgem\u00e4sse Betrachtung doch eigentlich nichts anderes ist als eine solche, welche die allerallgemeinste Erfahrung und die daraus mit logischer Noth Wendigkeit sich ergebenden Normen zur Grundlage hat, Die vernunftgem\u00e4sse Deduction verlangt, dass die Elementar-krnfte gradlinig und nach dem umgekehrten Quadrat der Entfernung wirken, und dass bei der Construction derselben eine gewisse Regelm\u00e4ssigkeit und, da es sich um Anziehung und Abstossung handelt, eine gewisse Symmetrie beobachtet werde. Die letztere Bedingung ist erf\u00fcllt, wenn ausser den elektrischen und den Dominantenkr\u00e4ften noch die isagit\u00e4ten angenommen werden.","page":807},{"file":"p0808.txt","language":"de","ocr_de":"808\nKraft\u00ab* und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\nWas die Kritik betrifft, welche die Erfahrung an dieser Deduction aus\u00fcbt, so folgen bis jetzt bereits die Elektricit\u00e4ten und die Gravitationsanziehung den vernunftgem\u00e48sen Forderungen, indess f\u00fcr die noch unbekannten Beziehungen der Aetherabstossung, der chemischen, elastischen, Adh\u00e4sions- und Coh\u00e4sionskr\u00e4fte entweder bestimmte Annahmen mangeln, oder in Form von sogenannten empirischen Gesetzen in Ermanglung einer bessern Einsicht einstweilen geduldet werden. Dagegen befriedigt, wie ich glaube, die deductive Annahme einer neuen Kraft mit der Wirkungsweise der Isagit\u00e4t in Verbindung mit der Amertheorie alle Bed\u00fcrfnisse der Erfahrung und erkl\u00e4rt die nat\u00fcrlichen Erscheinungen in streng rationeller Weise, indem sie alle Kr\u00e4fte nicht anders als im umgekehrten Verh\u00e4ltniss des Quadrate der Entfernung wirken l\u00e4sst.\nDass eine besondere Elementarkraft mit den Eigenschaften der Isagit\u00e4t angenommen werden muss, ergibt sich ganz entschieden aus dem Umstande, dass ohne sie manche chemischen und Adh\u00e4sionsanziehungen, besonders diejenigen zwischen den Atomen und Molek\u00fclen des n\u00e4mlichen Elements, gar nicht erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnten. Die Elektricit\u00e4t allein w\u00fcrde in diesen F\u00e4llen nur eine sehr schwache Anziehung oder eher eine Abstossung ergeben, w\u00e4hrend die Atome des Sauerstoffs, Wasserstoffs, Kohlenstoffs, Schwefels und der meisten \u00fcbrigen Elemente doch so fest an einander haften. Es kommt zwar vor, dass zwei gleiche K\u00f6rper oder zwei H\u00e4lften des n\u00e4mlichen K\u00f6rpers durch Verkeilung ungleich elektrisch werden; aber die Ursache dieses Vorganges ist immer auf eine St\u00f6rung des Gleichgewichts durch ungleiche Erw\u00e4rmung oder ungleiche mechanische Action zur\u00fcckzuf\u00fchren. Dass zwei gleiche Atome, z. B. zwei Sauerstoffatome, die in geringen Abst\u00e4nden von einander schweben und gleiche Schwingungsbewegungen ausf\u00fchren, also in allen Beziehungen weh gleich verhalten, durch gegenseitige Einwirkung einen merklichen Theil ihrer neutralen Elektricit\u00e4t zerlegen und dadurch ungleich elektrisch werden sollten, ist wohl ganz undenkbar. Vielmehr f\u00fchrt die Thatsache, dass gleichartige Atome einander anziehen, direct zu der Schlussfolgerung, dass sich in ihnen Kr\u00e4fte befinden mit dem ent, gegengesetzten Charakter der Elektricit\u00e4t, so dass die gleichnamigen sich anziehen. Die chemischen und Adh\u00e4sionskr\u00e4fte sind offenbar nicht einfacher Natur, sondern durch das Zusammenwirken der verschiedenen Elementarkr\u00e4fte, namentlich der Elektricit\u00e4t und Isagit\u00e4t","page":808},{"file":"p0809.txt","language":"de","ocr_de":"11. Iugittt.\n809\nhervorgebracht, in der Weise, dass bald die eine bald die andere dieser beiden Kr\u00e4fte einen gr\u00f6ssem und selbst den ausschliesslichen Antheil am Effect hat.\nMan darf gegen die Isagit\u00e4t nicht den Einwurf erheben, dass, wenn sie vorhanden w\u00e4re, sie auch durch Erfahrung bekannt sein m\u00fcsste. Man kennt sie allerdings, aber nur im Verein mit anderen Elementarkrftften als Molecularkraft, und von den Moleeularkr\u00e4ften sagt man ja ohnehin, dass sie nur auf kleinste Entfernungen wirken und sich somit unserer directen Beobachtung entziehen. Dies darf nat\u00fcrlich nicht so verstanden werden, dass ihre Wirkung rascher, d. h. nach einer h\u00f6heren Potenz der Entfernung abnehme, als bei anderen Kr\u00e4ften, deren Wirkung auf messbare Entfernungen bemerkbar ist. Sondern es r\u00fchrt die scheinbare Ausnahme der Molecularkr\u00e4fte nur daher, weil immer benachbarte Kr\u00e4fte vorhanden sind, die in entgegengesetztem Sinne wirken, so dass nur in der n\u00e4chsten N\u00e4he die eine oder andere ein bemerkenswerthes Uebergewicht erlangt. Zwei Atome, deren fortschrittsbewegliche Attractionskr\u00e4fte an die zugekehrten Seiten gewandert sind, ziehen sich auf ganz geringe Entfernungen sehr stark an, w\u00e4hrend die Anziehung auf gr\u00f6ssere Entfernungen durch die Abstossung beinahe compensirt wird, und nur ein winziger Ueberschuss als Schwerkraft \u00fcbrig bleibt. Da nun die Isagit\u00e4t ihrer Natur nach bloss als Molecularanziehung wirkt, so ist es begreiflich, dass wir diese Kraft erfahrungsgem\u00e4ss nicht in ihrer speci-fischen Verschiedenheit von den anderen Elementarkr\u00e4ften erkennen.\nUngegr\u00fcndet w\u00e4re ebenfalls der Einwurf, dass die Isagit\u00e4t, wenn sie existirte, bei ihrer grossen Analogie mit der Elektricit\u00e4t in \u00e4hnlicher Weise wie diese zum Vorschein kommen sollte. Denn, wenn auch die Isagit\u00e4t und die Elektricit\u00e4t darin \u00fcbereinstimmen, dass tieide in positiver und negativer Modification auftreten, so werden sie doch durch die unterscheidenden Eigenschaften in ganz ungleichem Maasse bef\u00e4higt, sich bemerkbar zu machen. Die Elektricit\u00e4t ist hiezu von Natur sehr geeignet. Da die ungleichnamigen Elektrici-t\u00e4ten sich anziehen, so entstehen elektrisch neutrale Amergruppen, deren Lage im ponderabeln Aether bloss durch die andern Elementarkr\u00e4fte (Dominanten und Isagit\u00e4ten) bedingt wird. Werden diese Amergruppen durch \u00e4ussere Ursachen zerlegt, so \u00fcbt die frei werdende Elektricit\u00e4t eine Wirkung nach aussen aus, die fr\u00fcher nicht vorhanden war, und die Amere, an welche die freie Elektricit\u00e4t gebunden","page":809},{"file":"p0810.txt","language":"de","ocr_de":"810\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\nist, k\u00f6nnen wegen der Abstossung, die sie auf einander aus\u00fcben, durch den ponderabeln Aether weit fort wandern und auch an andern Orten eine Wirkung nach aussen vollbringen. Die beiden Isagit\u00e4ten dagegen bilden, da sie einander abstossen, keine neutralen Amer-gruppen; vielmehr treten sie \u00fcberall, wo sie vorhanden sind, mit den ihnen eigent\u00fcmlichen Anziehungen auf und sind durch die selben festgebunden. Es kann daher ein K\u00f6rper nicht in analoger Weise isagisch gemacht werden, wie man ihn elektrisch machen kann; es wird auch nicht leicht ein Mittel geben, wodurch einem K\u00f6rper in erheblichem Maasse Isagit\u00e4t zugef\u00fchrt oder entzogen werden kann. Die Ver\u00e4nderung des isagischen Charakters muss sich wohl auf die Regionen innerhalb der Atome und Molek\u00fcle beschr\u00e4nken, wo sie durch Wanderung der isagischen Amere verursacht wird.\nBei der Beurteilung der Frage, warum die Isagit\u00e4t als solche noch nicht durch Erfahrung bekannt ist, muss namentlich auch an die wichtige Thatsache, die ich festgestellt habe, erinnert werden, dass die Elementarkr\u00e4fte, deren Wirkung wir gewahr werden, nur einen fast verschwindend kleinen Theil derjenigen Kraftmengen ausmachen, welche in der Natur vorhanden sind und sich so das Gleichgewicht halten, als ob sie nicht da w\u00e4ren (S. 728). Wenn sogar die so auffallend hervortretende Schwerkraft bloss einen winzigen Bruchteil der Gravitationskr\u00e4fte ausmacht, so begreifen wir, dass die f\u00fcr die Wahrnehmung viel ung\u00fcnstiger angelegte Isagit\u00e4t unserer Be obaehtung entgeht.\nNachschrift. \u2014 Die vorstehende Abhandlung war geschrieben, als ich an sehr sensibeln niedern Pflanzen ein Gebiet von Erscheinungen kennen lernte, welches meiner Ansicht nach nur durch \u00ablie Annahme einer neuen Elementarkraft erkl\u00e4rt werden kann, und zwar einer Kraft, welche die der Isagit\u00e4t zugeschriebenen Eigenschaften besitzt. Die l>ez\u00fcglichen Thatsachen hoffe ich n\u00e4chstens in einer besonderen Schrift darzulegen.","page":810},{"file":"p0811.txt","language":"de","ocr_de":"12. Zusammenfassung.\n811\n12. Zusammenfassung der Lehre von den Kr\u00e4ften und Gestaltungen im moleoularen Gebiet nach der Amertheorie.\n1. Elementarkr\u00e4fte.\nVon Elementarkr\u00e4ften, welche in geradliniger Richtung als Anziehung oder Abstossung wirken, gibt es drei Paare:\ndie Elekiricit\u00e4ten, von denen die gleichnamigen sich ab-stossen, die ungleichnamigen sich anziehen;\ndie Isagit\u00e4ten, von denen die gleichnamigen sich anziehen, die ungleichnamigen sich abstossen ;\ndie Dominantenkr\u00e4fte, von denen die Gravitation auf sich selber anziehend und die A etherabstossu ng auf sich selber abstossend wirkt, w\u00e4hrend die erste und zweite sich indifferent zu einander verhalten.\nZwischen den Kr\u00e4ften der verschiedenen Paare finden keine dynamischen Beziehungen statt. Alle gegenseitigen Einwirkungen zweier Kr\u00e4fte sind gleich dem Product aus den beiden Kraftmengen, getheilt durch das Quadrat der Entfernung.\n2. Vertheilung der Elementarkr\u00e4fte auf die kleinsten\nTheilchen.\nDie sechs Elementarkr\u00e4fte (positive und negative Elektricit\u00e4t, positive und negative Isagit\u00e4t, Gravitation und Aetherabstossung) sind, als untrennbare Eigenschaften der Substanz, alle in jedem denkbaren kleinsten Theilchen vereint, al)er in jedem in ungleicher Menge enthalten, so dass jedes Theilchen einen anderen dynamischen Charakter besitzt. Da anzunehmen ist, dass die zwei Kr\u00e4fte eines Paares im Weltall in gleichen Mengen vorhanden sind, so ist, wenn die kleinsten Theilchen von gleicher Gr\u00f6sse gedacht werden, wegen ihrer unendlichen Menge eine H\u00e4lfte der Theilchen mit \u00fcberwiegender positiver Elektricit\u00e4t, die andere mit \u00fcberwiegender negativer Elektricit\u00e4t begabt, ferner eine H\u00e4lfte vorzugsweise positiv isagisch, die andere vorzugsweise negativ isagisch, endlich eine H\u00e4lfte mit mehr Gravitationsanziehung (ponderable Theilchen), die andere mit mehr Aetherabstossung ausger\u00fcstet (imponderable oder Aether-theilchen). Und wenn angenommen werden darf, dass alle sechs Elementarkr\u00e4fte gleiche Summen im Weltall bilden, so ist in jedem Sechstel aller Theilchen eine andere Kraft in absolut gr\u00f6sster Menge vorhanden.","page":811},{"file":"p0812.txt","language":"de","ocr_de":"812\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet\n3- Agglomeration und Dispersion durch die Elementar-\nkr\u00e4f te.\nDie kleinsten aus Erfahrung bekannten Theilchen sind die Aethertheilchen ; es ist anzunehmen, dass auch die w\u00e4gbaren Stoffe aus Theilchen von gleicher Gr\u00f6sse zusammengesetzt sind. Die Theilchen dieser kleinsten Gr\u00f6ssenordnung k\u00f6nnen als A mere bezeichnet werden. Die Amere waren anf\u00e4nglich vereinzelt, in gas-\u00e4hnlicher Zerstreuung, aus welcher sie sich theilweise durch die Anziehung der ungleichnamigen Elektricit\u00e4ten, der gleichnamigen Isagit\u00e4ten und der Gravitation zun\u00e4chst zu Gruppen vereinigten. Entscheidend f\u00fcr den Erfolg im grossen und ganzen war die Wirkung der Dominantenkr\u00e4fte, da diese nicht auf einander wirken; die Gravitationsanziehung ballte die eine H\u00e4lfte der Amere (die ponderabeln Amere) zu w\u00e4gbaren Stoffen zusammen, w\u00e4hrend die Aetherabstossung die andere H\u00e4lfte der Amere (die imponderabeln oder Aetheramere) in der urspr\u00fcnglichen Zerstreuung erhielt und den Welt\u00e4ther constituirte. Elektricit\u00e4t und lsagit\u00e4t, von denen jede zugleich Anziehung und Abstossung aus\u00fcbt, sind bei der Agglomeration und Dispersion der Materie nur in untergeordneter W eise betheiligt, insofern als sie das Bestreben haben, sowohl innerhalb der Agglomerations- als der Dispersionsmassen elektrisch ungleichnamige und isagisch gleichnamige Amere mit einander zu vereinigen.\n4. Elasticit\u00e4t und Bewegung der Amere. Welt\u00e4ther.\nMaassgebend f\u00fcr den Zustand der Agglomeration und der Dispersion ist die vollkommen elastische Beschaffenheit \u00ab1er Amere und ihre Bewegung. Was die Elasticit\u00e4t betrifft, so kann ihre Ursache, wie die Ursache der Elasticit\u00e4t der Atome, nur darauf beruhen, dass die Attractions- und Repulsionskr\u00e4fte in nahezu gleichen Mengen in jedem Amer vorhanden und durch sein Inneres vertheilt sind. Was die Bewegungen betrifft, so m\u00fcssen dieselben, in \u00e4hnlicher Weise wie diejenigen der Gasmolek\u00fcle, fortschreitende und drehende sein, und ihre Geschwindigkeit muss die Geschwindigkeit der Gasmolek\u00fcle in analogem Maasse \u00fcbertreffen, wie die auf Aether-schwingungen beruhende Fortpflanzung der Licht- und W\u00e4rmestrahlen und die Bewegung der Elektricit\u00e4t die Fortpflanzung des","page":812},{"file":"p0813.txt","language":"de","ocr_de":"12. ZuHainmenf&Hsung.\n813\nvon Schwingungen der Luft getragenen Schalles und die fliegenden Bewegungen der Gasmolek\u00fcle \u00fcbertreffen.\nDem entsprechend besteht der Welt\u00e4ther theils aus vereinzelten Ameren mit der urspr\u00fcnglichen fortschrittlichen Geschwindigkeit, theils aus kleinen Gruppen von solchen Ameren, welche durch die isagischen und elektrischen Kr\u00e4fte zusammengehalten werden und sich in schwingender Bewegung befinden. Die Amergruppen haben, da die urspr\u00fcngliche lebendige Kraft ihrer Amere zum Theil in interne Bewegung \u00fcbergegangen ist, eine entsprechend geringere Geschwindigkeit; sie werden leicht durch den Stoss zertr\u00fcmmert.\n5. Entstehung der Atome.\nBei der Agglomeration ballten sich die ponderabeln Amere je aus einem bestimmten Volumen der durch den Himmelsraum ausgebreiteten Substanz, dessen Gr\u00f6sse durch die Wirkung der Gravitationsanziehung und die Bewegung der Amere bestimmt war, zu einer Masse zusammen, die ein chemisches Atom darstellt. Bei diesem Vorgang vereinigten sich zuerst die Amere mit st\u00e4rkerer Anziehung zu kleineren und diese zu gr\u00f6sseren Gruppen, deren fortschreitende Bewegung mit zunehmender Gr\u00f6sse sich verminderte, und bildeten schliesslich den aus dichterer und weniger beweglicher Substanz bestehenden Atomk\u00f6rper. Um denselben legten sich dann die Amere mit schw\u00e4cherer Anziehung an und stellten eine Atmosph\u00e4re dar, die von innen nach aussen an Dichtigkeit ab- und an Beweglichkeit zunimmt. In einem bestimmten Weltenraum und in einer bestimmten Zeitperiode entstanden die Atome eines bestimmten chemischen Elements. Die verschiedenen Elemente bildeten sich unter verschiedenen Verh\u00e4ltnissen, die in verschiedenen Weltr\u00e4umen oder in verschiedenen Zeitperioden gegeben waren, \u2014 im allgemeinen zuerst diejenigen mit gr\u00f6sserem Atomgewicht aus den Ameren mit st\u00e4rkster Gravitationsanziehung, zuletzt wohl, als der Raum an ponderabeln Ameren schon fast ersch\u00f6pft war, das leichteste Element, der Wasserstoff.\n6. Atomk\u00f6rper, Aetherh\u00fclle und Zwischenh\u00fcll\u00e4ther.\nDer Atomk\u00f6rper besteht aus Ameren und Amergruppen, die sich in schwingenden, theilweise auch in fortschreitenden und drehenden Bewegungen befinden ; die Summe der lebendigen Kr\u00e4fte","page":813},{"file":"p0814.txt","language":"de","ocr_de":"814\nKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\ndieser Bewegungen ist gleich der Summe der lebendigen Kr\u00e4fte, welche die Amere im urspr\u00fcnglichen Zustande der Zerstreuung besessen. Die Amere des Atomk\u00f6rpers geh\u00f6ren im allgemeinen dauernd demselben an, und verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig nur wenige m\u00f6gen ihn jeweilen verlassen und durch andere von aussen eintretende ersetzt werden.\nDie Atmosph\u00e4re um den Atomk\u00f6rper besteht aus ponderabeln Ameren und Amergruppen, die zwar alle ihren Platz verlassen k\u00f6nnen, von denen aber die der innersten Schichten, durch st\u00e4rkere Anziehung gebunden, mehr schwingende Bewegungen ausf\u00fchren, w\u00e4hrend die der \u00e4usseren Schichten mehr und mehr bloss fortschreitende Bewegungen zeigen. Diese Atmosph\u00e4re hat grosse Aehn-lichkeit mit dem Aether, in den sie auch an der Oberfl\u00e4che allm\u00e4hlich \u00fcbergeht, und kann als ponderabler oder Schwer\u00e4ther von dem eigentlichen Leicht- oder Welt\u00e4ther unterschieden werden.\nWenn sich die Atome zu Molek\u00fclen und die Molek\u00fcle zu festen und fl\u00fcssigen Massen vereinigen, so wird ein Theil der Schwer\u00e4theratmosph\u00e4re zwischen denselben verdr\u00e4ngt. An dem interatomalen Aether dieser Massen lassen sich nun bestimmter zwei Partien unterscheiden. Diejenige, welche die Atomk\u00f6rper zun\u00e4chst umgibt und aus einer dichteren, weniger beweglichen Substanz besteht, kann als Aetherh\u00fclle, die \u00fcbrige weniger dichte, aber beweglichere Partie als Zwischenh\u00fcll\u00e4ther bezeichnet werden. Die Aetherh\u00fclle verhindert die vollst\u00e4ndige Ann\u00e4herung der Atomk\u00f6rper und nimmt an dem Zustandekommen der Elasticit\u00e4t Theil. Der Raum, in welchem die Atome mit ihren H\u00fcllen hin und her schwingen, im fl\u00fcssigen Zustande auch fortschreiten und sich drehen, ist mit Zwischenh\u00fcll\u00e4ther gef\u00fcllt\n7\u2018 Dynamische Einwirkungen der K\u00f6rper auf einander.\nSchwere.\nDa in jedem Amer alle sechs Elementarkr\u00e4fte enthalten sind, so besteht die Einwirkung zweier Amere auf einander in der Summe\naller Anziehungen weniger die Summe aller Abstossungen. Sie ist also gleich\nAAX \u2014 BB, + (\u00ab \u2014 \u00df) (er, \u2014 /?,) -f (a \u2014 6) (6, \u2014 a.)\nwenn A und A, die Gravitationsanziehung, B und B, die Aether-abstossung, a und a, die positive, \u00df und \u00dft die negative Isagit\u00e4t,","page":814},{"file":"p0815.txt","language":"de","ocr_de":"12. ZunarumenfaMung.\n815\na und \u00ab, die positive, b und 6, die negative Elektricit\u00e4t der beiden Amere bezeichnen. F\u00fcr die gegenseitige Einwirkung zweier K\u00f6rper, die sich in gr\u00f6sserer Entfernung von einander befinden, gilt obige Formel ebenfalls, wenn die Buchstaben die Summen der gleichnamigen Kr\u00e4fte in allen Ameren bedeuten, weil die Entfernung der beiden Mittelpunkte nun ohne merklichen Fehler f\u00fcr die genannten Summen in Rechnung gebracht werden kann. Bestehen die K\u00f6rper aus einer grossen Zahl von verschiedenen chemischen Elementen, so k\u00f6nnen die beiden aus den isagischen und elektrischen Kr\u00e4ften sich ergebenden Ausdr\u00fccke vernachl\u00e4ssigt werden, weil die positiven und negativen Glieder dieser Kr\u00e4fte in gleichen Mengen vorhanden sind. Die Wirkung zweier solcher K\u00f6rper wird also bloss durch die beiden Ausdr\u00fccke AA, \u2014 BBt bestimmt; diese Differenz stellt, wenn es sicfi um ponderable Massen handelt, die Schwereanziehung derselben dar. Das Gesetz der Schwere beweist, dass in den Himmelsk\u00f6rpern unseres Sonnensystems die Summen der Gravitationskr\u00e4fte und der Aetherabetossungskr\u00e4fte im gleichen Verh\u00e4ltniss zu einander stehen (A : B = At : B,). Die zwischen zwei K\u00f6rpern bestehende Anziehung durch die Schwerkraft ist nur ein winziger Theil der durch alle ihre Gravitationskr\u00e4fte bewirkten Anziehung, und die gesammte Aetherabstossung ist nur um einen unbedeutenden Bruch-theil kleiner als die gesammte Gravitationsanziehung. Nach dieser Auffassung erkl\u00e4rt sich der scheinbare Gegensatz zwischen der Schwerkraft und den Molecularkr\u00e4ften, indem jene aus der Differenz der letzteren zu Stande kommt.\n8. W\u00e4rme und Licht.\nDer Welt- oder Leicht\u00e4ther zeigt in analoger Weise wie die Luft, ausser den Einzelbewegungen der Aethertheilchen und den fortschreitenden Massenbewegungen, auch schwingende Massenbewegungen, bei denen eine grosse Menge von Theilchen sich gleichzeitig hin und her bewegt. Von den verschiedenen Aetherbewe-gungen sind es diese Massenschwingungen, welche das Licht und die Aetherw\u00e4rme darstellen. Als W\u00e4rme setzen sie sich mit den (schwingenden, fortschreitenden und drehenden) Bewegungen der Molek\u00fcle und Atome ins Gleichgewicht, indem sie je nach Umst\u00e4nden denselben eine Beschleunigung ertheilen oder durch dieselben eine Beschleunigung erfahren, wobei Aetherw\u00e4rme latent und","page":815},{"file":"p0816.txt","language":"de","ocr_de":"816\tKr\u00e4fte und Gestaltungen iin molecularen Gebiet.\nin Atombewegung \u00fcbergef\u00fchrt wird, und umgekehrt. \u2014 Von der ponderabeln Aetheratmosph\u00e4re, welche die Atomk\u00f6rper umgibt, wird der Zwischenh\u00fcll\u00e4ther infolge seiner gr\u00f6sseren Beweglichkeit durch die Schwingungen des LeichtAthers in analoge Massenschwingungen versetzt. Bildet der Zwischenh\u00fcll\u00e4ther breitere und zusammenh\u00e4ngende Bahnen zwischen den Molek\u00fclen, so findet die Durchstrahlung der Masse ohne merklichen Verlust der Aetherschwingungen stett und die K\u00f6rper sind vollkommen diatherman und durchsichtig. Sind aber die Bahnen des Zwischenh\u00fcll\u00e4thers infolge der Anordnung der Atome enge und unvollst\u00e4ndig - zusammenh\u00e4ngend, so setzen sich die Aetherschwingungen in Atombewegungen um und die K\u00f6rper sind mehr oder weniger adiatherman und undurchsichtig.\n9. Erregung und Verbreitung der Elektricit\u00e4t.\nJedes Amer ist, je nachdem die eine oder andere Elektricit\u00e4t \u00fcberwiegt, dauernd positiv oder negativ elektrisch, da die Elektricit\u00e4t eine Eigenschaft seiner Substanz ist und es daher nicht verlassen kann. Die positiven und negativen Amere sind im allgemeinen zu neutralen Gruppen vereinigt. Durch Zerlegung dieser Gruppen und Ansammlung der elektrisch gleichnamigen Amere wird freie Elektricit\u00e4t erzeugt. Dies erfolgt, wenn ein elektrischer K\u00f6rper sich einem neutralen K\u00f6rper n\u00e4hert, durch dynamische Elinwirkung, oder auch wenn durch irgend welche Eingriffe von aussen das bisher bestandene Gleichgewicht in einem neutralen K\u00f6rper gest\u00f6rt und dabei infolge anderweitiger Anziehungen und Abstossungen elektrisch neutrale Amergruppen gespalten werden.\nDie in den Atomk\u00f6rpern schon vorhandene oder durch eine \u00e4ussere Ursache frei werdende Elektricit\u00e4t beibt in denselben eingeschlossen, da die Amere im allgemeinen nicht heraus treten k\u00f6nnen. Dagegen sind die elektrischen Theilchen der Aetherh\u00fcllen und besonders des Zwischenhflll\u00e4thers fortschrittsbeweglich, und die freie Elektricit\u00e4t, die an den K\u00f6rpern zeitweise oder stellenweise\nwahrgenommen wird, stammt stets aus dem Schwer\u00e4ther derselben._\nDie Amere der freien Elektricit\u00e4t stossen sich gegenseitig ab und haben das Bestreben, sich von einander zu entfernen. Wenn sie dem Ijeicht\u00e4ther angeh\u00f6rten und somit auch noch die Aether-abstossung wirksam w\u00e4re, so m\u00fcssten sie stets die festen und fl\u00fcssigen K\u00f6rper verlassen. Da sie aber mit ausreichender Gravitations-","page":816},{"file":"p0817.txt","language":"de","ocr_de":"12. ZiiHainiiienfaftming.\nanziehung und namentlich mit isagischer Anziehung begabt sind, so werden sie von den K\u00f6rpern festgehalten, breiten sich aber wegen\nihrer gegenseitigen Abstossung in den oberfl\u00e4chlichsten Schichten derselben aus.\n10. Leitung der Elektricitftt.\nDa die Theilchen des Schwerftthers in den festen und fl\u00fcssigen K\u00f6rpern durch ihre gegenseitigen dynamischen Einwirkungen und Bewegungen einen bestimmten Spannungszustand darstellen, welcher der Spannung des \u00e4usseren Aethers das Gleichgewicht h\u00e4lt, so kann ohne Spannungs\u00e4nderung ein elektrisches Theilchen seinen Platz nur verlassen, wenn es an die Stelle eines andern Theilchens des Schwer\u00e4thers tritt und wenn ebenso seine Stelle von einem anderen Theilchen eingenommen wird. Die Wanderung der einander ab-stossenden elektrischen Amere, welche den geringsten Widerstand zu \u00fcberwinden hat, findet daher naturgem\u00e4ss so statt, dass elektrisch neutrale Theilchen (Amergruppen) oder, wie dies beim galvanischen Strom der Fall ist, Amere mit entgegengesetzter Elektricit\u00e4t sich in der umgekehrten Richtung bewegen. So kann der elektrische Strom durch einen K\u00f6rper oder eine beliebig lange Reihe von K\u00f6rj)ern gehen, wenn sich auf diesem Wege ununterbrochene Reihen von neutralen Amergruppen befinden, und es kann eine beliebig grosse Menge von Elektricit\u00e4t str\u00f6men, wenn der Weg in einen K\u00f6rper von hinreichend grosser Ausdehnung (z. B. in die Erde) endigt. Die Leitung geschieht um so leichter, je n\u00e4her die neutralen Amergruppen der Strombahn beisammen liegen, also je dichter der ponderable Aether ist. Sie ist unm\u00f6glich durch die Atomk\u00f6rner hindurch, weil diese den Ein- und Austritt von Ameren nur sp\u00e4rlich gestatten. Andrerseits wird sie von dem Zwischenh\u00fcll\u00e4ther nur sehr unvollkommen oder gar nicht ausgef\u00fchrt, weil dessen Theilchen zu weit von einander abstehen und wegen ihrer gr\u00f6sseren Beweglichkeit keine constanten Reihen bilden. Dagegen eignen sich die Aether-h\u00fcllen infolge ihrer gr\u00f6sseren Dichtigkeit und der geringeren Beweglichkeit ihrer Theilchen vorz\u00fcglich zur Leitung der Elektricit\u00e4t, und als die besten Leiter sind diejenigen festen K\u00f6rper zu betrachten, deren Aetherh\u00fcllen in ununterbrochener Verbindung unter einander stehen. Damit stimmt \u00fcberein, dass zwischen der Leitungsf\u00e4higkeit der Elektricit\u00e4t und andrerseits des Lichtes und der W\u00e4rme ein gewisser Gegensatz besteht.\t\u2022\t* * : .* \u2019*\n\u25bc. N Age 11, AbaUmimingclchre.\tr n","page":817},{"file":"p0818.txt","language":"de","ocr_de":"818\nKrttfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\n11. Magnetismus.\nIn den Atomk\u00f6rpern der chemischen Elemente ist die eine oder andere Elektricit\u00e4t in verschieden grossem Ueberschuss enthalten; derselbe bedingt die Stellung der Elemente in der elektrischen Spannungsreihe. Er wirkt auch in entsprechendem Maasse vertheilend auf die Aetherh\u00fclle, von welcher daher namentlich die innem (den Atomk\u00f6rper zun\u00e4chst umgebenden) Schichten neben den neutralen Amergruppen auch elektrische Amere enthalten, deren Elektricit\u00e4t mit der des Atomk\u00f6rpers ungleichnamig ist. Da die Theilchen der Aetherh\u00fclle zum Theil in fortschreitenden Bewegungen begriffen sind, so bilden sich, wegen der Anwesenheit der elektrischen Amere, leicht elektrische Str\u00f6mchen, welche, wegen der Anziehung dieser Amere durch den Atomk\u00f6rper, die Neigung haben, in tangentialer Richtung zu verlaufen und kreisf\u00f6rmig zu werden. Viele solcher gleichgerichteter kreisf\u00f6rmiger Elementarstr\u00f6mchen bilden zusammen den \u00bb Molecularstrom \u00ab, welcher das Atom zum \u00bbMolecularmagneten x macht.\nDie Molecularstr\u00f6me k\u00f6nnen schon von Natur vorhanden sein, wobei ihre Richtung von Atom zu Atom wechselt; dann werden sie durch einen benachbarten Strom inducirt d. h. ganz oder theilweise in die gegenl\u00e4ufige Richtung \u00fcbergef\u00fchrt. Beharren sie in dieser Richtung, so bedingen sie den Diamagnetismus der festen K\u00f6rper. Geht die Wirkung des indueirenden Stromes noch weiter, so dreht er d;e Molecularstr\u00f6me in die gleichl\u00e4ufige Richtung (Magnetismus). Sind dagegen die Molecularstr\u00f6me nicht schon urspr\u00fcnglich vorhanden, so werden sie durch den indueirenden Strom zuerst in gegenl\u00e4ufiger Richtung erzeugt (Diamagnetismus), und nachher in die gleichl\u00e4ufige Richtung umge\u00e4ndert (Magnetismus). Findet das eine oder andere statt, so erfahren stets nur die den Molecularstrom zusammensetzenden Elementarstr\u00f6mchen eine Richtungs\u00e4nderung, indess die Atomk\u00f6rper ihre Stellung unver\u00e4ndert behalten. \u2014 Bei den Gasen kommt es wegen der von Natur ihren Molek\u00fclen eigent\u00fcmlichen fortschreitenden und drehenden Bewegungen in der Regel bloss zur diamagnetischen Wirkung, w\u00e4hrend in den mit viel langsameren Molecularbewegungen ausgestatteten Fl\u00fcssigkeiten bald bloss di amagnetische, bald magnetische Molecularstr\u00f6me hervorgebracht werden.\t* \u2022","page":818},{"file":"p0819.txt","language":"de","ocr_de":"1-. Zusammenfassung.\n811)\n12. Gestalt, Gr\u00f6sse und Zusammensetzung der Atome.\nHier\u00fcber gibt das Atomgewicht keinen Aufschluss. Aus der vollkommenen und unvollkommenen S\u00e4ttigung, sowie aus der wechselnden Valenz, welche an mehrwertigen Atomen beobachtet wird, geht hervor, dass die Atome aus Particellen zusammengesetzt sind, von denen jedes einer Wertigkeit entspricht und die bis auf einen bestimmten Grad selbst\u00e4ndig sind. Da die Particelle eines Atoms so gelagert sein m\u00fcssen, dass sie in den bekannten chemischen Verbindungen sich den andern Atomen stets so sehr zu n\u00e4hern verm\u00f6gen, als es dem hier erlangten Grad der Anziehung entspricht, so ist mit grosser Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass sie in einer Ebene um einen Mittelpunkt liegen und somit tafelf\u00f6rmige mehrwertige Atome bilden. Aus der Festigkeit der K\u00f6rper, der Fortpflanzung von Licht und W\u00e4rme durch dieselben, der Leitung der Elektricit\u00e4t und aus der chemischen Anziehung ergibt sich, dass die Atomk\u00f6rper eine verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig betr\u00e4chtliche Gr\u00f6sse besitzen und dass ihr Durchmesser in festen K\u00f6rpern meistens fast die H\u00e4lfte des Abstandes der Mittelpunkte erreicht. Die Verh\u00e4ltnisse der chemischen Verbindungen machen es wahrscheinlich, dass ein einwerthiger Atomk\u00f6rper gr\u00f6sser ist als das Particell eines mehrwertigen, und dass im allgemeinen der mehrwertige Atomk\u00f6rper an Gr\u00f6sse den minderwertigen \u00fcbertrifft.\n13. Chemische Verwandtschaft. Adh\u00e4sion.\nDie chemische Anziehung zweier Atome besteht in der Summe aller Anziehungen weniger die Summe aller Absto\u00dfungen. Bei dieser Summenbildung sind die Dominantenkr\u00e4fte in geringem Maasse, die durch sie bestimmte Schwerkraft gar nicht betheiligt, w\u00e4hrend die Elektricit\u00e4t bei den Verbindungen zwischen Elementen, die in der elektrischen Spannungsreihe weiter von einander entfernt sind, und die Isagit\u00e4t bei den Verbindungeil der Atome des n\u00e4mlichen Elements die Hauptrolle spielen. Bei der Ann\u00e4herung zweier Atome bewirken ihre auf einander wirkenden Attractions- und Repulsionskr\u00e4fte eine Wanderung der fortschrittsbeweglichen Theilchen in diejenigen Stellungen, welche den gr\u00f6ssten Ueberschuss der gesammten Anziehungen \u00fcber die gesummten Abstossungen ergeben. Indem somit im allgemeinen die Amere mit der gr\u00f6ssten Anziehung sich an die zugekehrten Seiten, diejenigen mit der gr\u00f6ssten Abstossung an die abgekehrten Seiten","page":819},{"file":"p0820.txt","language":"de","ocr_de":"*20\tKr\u00e4fte und Gestaltungen im molecularen Gebiet.\nder Atomk\u00f6rper begeben, bildet sich eine ungleichseitige Anordnung der Kr\u00e4fte aus, worauf die chemische S\u00e4ttigung beruht, weil sie eine zweite analoge Verbindung nicht gestattet, so lange nicht die erste Verbindung gel\u00f6st ist und die Kr\u00e4fte sich neu orientiren k\u00f6nnen.\nWenn mehrwerthige Atome zu einem Molek\u00fcl zusammentreten, ist zwar die dynamische Einwirkung zwischen zwei einander gegen\u00fcberstehenden und sich \u00bb bindenden c Particellen am gr\u00f6ssten; aber dadurch wird ihre Einwirkung auf alle anderen Particelle nicht aufgehoben, sondern bloss nach dem Quadrat der Entfernung vermindert. Die Orientirung der Kr\u00e4fte in jedem Particell ist mit R\u00fccksicht auf alle im Molek\u00fcl wirksamen Kr\u00e4fte durchgef\u00fchrt und die Festigkeit eines Molek\u00fcls beruht auf der Summe der \u00fcbersch\u00fcssigen Anziehungen aller Particelle auf alle \u00fcbrigen Particelle. Bei unvollst\u00e4ndiger S\u00e4ttigung eines mehrwerthigen Atoms betheiligen sich alle Particelle an der Verbindung und nehmen, statt der oppo-mrten, diejenige Stallung zu den mit ihnen sich verbindenden Atomen an, welche zwar eine geringere Anziehung der einzelnen 1 articelle, aber die gr\u00f6sste Gesammtanziehung bedingt.\nBei der Ann\u00e4herung zweier Molek\u00fcle werden nicht einfach die Kr\u00e4fte, wie sie sich in jedem derselben zur chemischen Anziehung angeordnet haben, wirksam ; sondern es findet abermals eine Wanderung der fortschrittlichen Theilchen in den Atomen statt, um die mit der chemischen Anziehung innerhalb jedes Molek\u00fcls vertr\u00e4gliche m\u00f6glichst grosse Anziehung zwischen den beiden Molek\u00fclen herbeizuf\u00fchren. Diese Adh\u00e4sion der Molek\u00fcle an einander (= Coh\u00e4sion der Substanz) gestattet eine Abstufung von dem allerschw\u00e4chsten bis zu dem festesten, der chemischen Anziehung zwischen den Atomen gleichkommenden Zusammenhang. Die Anziehung zwischen verschiedenartigen Molek\u00fclen bewirkt oft bestimmte Molek\u00fclvereinigungen (Pleone), die Anziehung zwischen gleichartigen Molek\u00fclen oder Pleonen dagegen die Krystallisation. - Die Imbibition der or-gamsirten Substanzen beruht auf der Adh\u00e4sionsanziehung, welche die oberfl\u00e4chlichen Molek\u00fcle der organischen Micelle auf eine oder einige wenige angrenzende Schichten von Wassermolek\u00fclen aus\u00fcben, so dass die Anziehung der Micelloberfl\u00e4che zu Wasser gr\u00f6sser wird als die Anziehung der Micelle zu einander, w\u00e4hrend andrerseits die letztere gr\u00f6sser ist als die Anziehung der ganzen Micelle zu","page":820},{"file":"p0821.txt","language":"de","ocr_de":"12. ZuHatnmenfaKKung.\tgg j\nDie chemische Verwandtschaft und die Adh\u00e4sion (Coh\u00e4sion), welche die sogenannten Molecularkr\u00e4fte darstellen, kommen also dadurch zu Stande, dass die Amere, welche die Tr\u00e4ger der anziehenden (Gravitations-, elektrischen und isagischen) und der ab-stossenden (Aetherrepulsions-, elektrischen und isagischen) Kr\u00e4fte sind, zum Theil Ortsver\u00e4nderungen innerhalb der Atomk\u00f6ri,er ausf\u00fchren und bei der Ann\u00e4herung solche Stellungen annehmen, dass die Anziehungen zwischen den Atomen und Molek\u00fclen auf geringere Entfernungen wirken und daher einen gr\u00f6sseren Effect ergel>en, als die Abstossungen.\nDurch die theilweise Wanderung der kraftbegabten Amere erhalten die Atome eine innerhalb gewisser Grenzen schwankende Unbest\u00e4ndigkeit des dynaxiiischen Charakters, welche allein das verschiedenartige V erhalten des n\u00e4mlichen Atoms bez\u00fcglich seiner\nmannigfaltigen chemischen und Adh\u00e4sionsanziehungen zu erkl\u00e4ren vermag.\n14. Dauernde Ver\u00e4nderung der Atome. Positive und negative Entropie des Weltalls.\nDa die Atome ponderable Aethertheilchen aufnehmen und abgeben, ferner ihre Amere theilweise umlagern k\u00f6nnen, so sind sie nicht bloss einer vor\u00fcbergehenden, sondern einer dauernden und sich steigernden Ver\u00e4nderung ihrer morphologischen und dynamischen Beschaffenheit f\u00e4hig. Dieselbe wird aber, da Atom und Amer verschiedenen Gr\u00f6ssenordnungen angeh\u00f6ren, und da die ein- und austretenden Amere nur h\u00f6chst geringe Unterschiede zeigen k\u00f6nnen, \u00e4usserst langsam erfolgen und vielleicht erst dann eine bemerkbare Gr\u00f6sse annehmen, wenn allenfalls unser Sonnensystem in andere Weltr\u00e4ume mit etwas andersartigem Aether gelangt. Eine solche Umstimmung im Atomk\u00f6rper hat Einfluss auf die Beschaffenheit und M\u00e4chtigkeit der Aetherh\u00fclle, von welcher wesentlich die Aggregatzust\u00e4nde abh\u00e4ngen. So kann also nach langen Zeitr\u00e4umen ein permanentes Gas zum fl\u00fcssigen und festen K\u00f6rper und ein permanent fester K\u00f6rper zur Fl\u00fcssigkeit und zum Gas sich umbilden.\nDie Ver\u00e4nderung der Atome ist aber noch mehr gesichert, wenn wir die theoretisch nicht abzuweisende Annahme machen, dass auch die Amere selber, als endliche und zusammengesetzte Dinge, eine innere Ver\u00e4nderung erfahren. Ist letztere wirklich vorhanden, so","page":821},{"file":"p0822.txt","language":"de","ocr_de":"822\nKritfte und Gestaltungen im molekularen Gebiet.\nk\u00f6nnen die Atome nicht nur leicht in der angegebenen Weise sich umbilden, sondern sie werden unter Umst\u00e4nden eine weiter gehende Ver\u00e4nderung, einen Zerfall in die Particelle, in kleinere St\u00fccke und vielleicht seihst in die Amere erleiden, so dass die Materie ganz oder theilweise wieder in den urspr\u00fcnglichen Zustand der \u00e4ther-artigen Zerstreuung zur\u00fcckkehren w\u00fcrde.\nIn der urspr\u00fcnglichen Zerstreuung, die in dem bestimmten Weltraum einmal bestand, f\u00fchrten die Amere bei der Temperatur des absoluten Nullpunktes bloss Einzelbewegungen aus. Die Zusammenballung der Amere zu Atomen und die Vereinigung der Atome zu Molek\u00fclen, weiterhin zu fl\u00fcssigen und festen K\u00f6rpern hatten Massenschwingungen des Aethers und damit Licht und W\u00e4rme zur Folge. Urspr\u00fcnglich war die mechanische Energie bloss als Einzelbewegungen der Amere vorhanden. Ein Theil derselben blieb unver\u00e4ndert in den Aethertheilchen, ein anderer Theil ging in W\u00e4rme (mit Licht) und in die mechanische Energie der Agglomerationsk\u00f6rper \u00fcber. Die letztere verwandelte sich nach und nach immer mehr in Massenschwingungen des Aethers (in W\u00e4rme). Diese ganze Entuicklungsgeschichte stellt die Periode der positiven Entropie, in der wir uns befinden, dar.\nWenn die Atome und die Amere mit der Zeit ihre Beschaffenheit \u00e4ndern, wenn die festen Massen fl\u00fcssig, dann gasf\u00f6rmig werden und die Gase vielleicht schliesslich in die Amerzerstreuung zur\u00fcckkehren, so geht die Energie der W\u00e4rmeschwingungen in die Energie der sch^ ingenden, drehenden und fortschrittlichen Bewegungen der Molek\u00fcle, Atome, zuletzt der Amere \u00fcber. Dies ist die Periode der negativenEntropie, welche mit derjenigen der positiven Entropie abwechselt.","page":822}],"identifier":"lit19841","issued":"1884","language":"de","pages":"822","startpages":"822","title":"Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre","type":"Book"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:18:52.767169+00:00"}