Open Access
{"created":"2022-01-31T15:14:39.152938+00:00","id":"lit21786","links":{},"metadata":{"contributors":[{"name":"Lehmann, Alfred","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Leipzig: Reisland","fulltext":[{"file":"a0001.txt","language":"de","ocr_de":"Die Hauptgesetze\ndes\nmenschlichen Gef\u00fchlslebens.\nEine experimentelle und analytische Untersuchung \u00fcber die Natur und das Auftreten der Gef\u00fchlszust\u00e4nde nebst einem\nBeitrage zu deren Systematik\nvon\nAlfr. Lehmann,\nDr. phil., Dozent der experimentellen Psychologie an der Universit\u00e4t Kopenhagen.\nMit einem Farbendruck und f\u00fcnf photolithographierten Tafeln.\nVon der kgl. d\u00e4nischen Akademie der Wissenschaften mit der goldenen\nMedaille preisgekr\u00f6ntes Werk.\nUnter Mitwirkung des Verfassers \u00fcbersetzt\nvon\nF. Bendixen.\nLeipzig,\nO. R. R e i s 1 a n d. 1892.","page":0},{"file":"a0002introduction.txt","language":"de","ocr_de":"Vorrede.\nEs waren urspr\u00fcnglich \u00e4sthetische Interessen, die mich bewogen, im Fr\u00fchjahr 1885 eine eingehende Untersuchung der Gesetze anzufangen, die das menschliche Gef\u00fchlsleben beherrschen. Diese Untersuchungen, die jetzt \u2014 wenngleich in v\u00f6llig ver\u00e4nderter Gestalt \u2014 den wesentlichen Inhalt des zweiten Hauptabschnittes dieses Buches: \u201eDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle\u201c, bilden, waren fast abgeschlossen, als im Februar 1887 von der K\u00f6niglich d\u00e4nischen Gesellschaft der Wissenschaften eine Preisaufgabe folgenden Inhalts ausgesetzt wurde :\n\u201eW\u00e4hrend es der Psychologie der j\u00fcngeren Zeit nach und nach gelungen ist, die Untersuchungen \u00fcber das menschliche Vorstellungsleben zu einem relativen Abschl\u00fcsse zu bringen, so dafs sich sagen l\u00e4fst, hier sei eine, wenngleich abstrakte Grundlage gewonnen, um die sich alle vereinen k\u00f6nnen, um weiter zu bauen, gilt \u00c4hnliches nicht mit Bezug auf das Gef\u00fchlsleben. Hier herrscht noch Uneinigkeit sogar \u00fcber die fundamentalsten Fragen, und nur ausnahmsweise hat dann und wann ein Forscher den Versuch gemacht, eine durchgef\u00fchrte systematische Darstellung von s\u00e4mtlichen menschlichen Gef\u00fchlen oder auch nur von deren weniger zusammengesetzten Formen zu geben. Nachdem die Untersuchungen der neueren Zeit gr\u00f6fsere Klarheit auf die enge Beziehung geworfen haben, in welcher das Gef\u00fchl stets zur Vorstellungsth\u00e4tigkeit steht, scheinen indes g\u00fcnstigere Bedingungen f\u00fcr eine Analyse auf dem erw\u00e4hnten Gebiete erzielt zu sein, und die Akademie stellt deshalb folgende Aufgabe:\nGew\u00fcnscht wird eine kritische Untersuchung der Natur und des Auftretens der Gef\u00fchle und ein auf die gewonnenen Ergebnisse begr\u00fcndeter Beitrag zu einer Systematik der Gef\u00fchle.\u201c","page":0},{"file":"a0003.txt","language":"de","ocr_de":"IV\nVorrede.\nDa eine L\u00f6sung dieser Aufgabe auf nat\u00fcrliche Weise auch die Untersuchungen umfassen mufste, mit denen ich mich l\u00e4ngere Zeit hindurch besch\u00e4ftigt hatte, beschlofs ich, meine Arbeit dergestalt zu erweitern, dafs dieselbe als eine Beantwortung der gestellten Aufgabe auftreten k\u00f6nnte. Es zeigte sich jedoch bald, dafs die von der Aufgabe verlangten Untersuchungen \u00fcber die Natur der Gef\u00fchle zu Resultaten f\u00fchrten, die eine vollst\u00e4ndige Umarbeitung des bereits Vorliegenden erheischten, und da dieser Umstand nicht von Anfang an in Anschlag gebracht war, erwies es sich, dafs das Werk als Totalit\u00e4t allzu grofs angelegt war, um binnen der zur Ausf\u00fchrung gestatteten Zeitfrist abgeschlossen werden zu k\u00f6nnen. Die Gestalt, in welcher dasselbe im Oktober 1888 an die Akademie eingesandt wurde, war deshalb in mehreren Beziehungen mangelhaft. Trotz der verschiedenen, im Berichte des erw\u00e4hlten Richterausschusses scharf hervorgehobenen M\u00e4ngel wurde das Werk jedoch f\u00fcr des ausgesetzten Preises, der goldenen Medaille der Akademie, w\u00fcrdig erkl\u00e4rt, und ich betrachtete dies als eine Aufmunterung, auf der eingeschlagenen Bahn fortzuschreiten und meine Untersuchungen m\u00f6glichst zu vervollst\u00e4ndigen. Hierbei waren vorz\u00fcglich drei Punkte zu beachten.\nErstens hatte ich durchaus nicht den interessanten Beitrag ber\u00fccksichtigen k\u00f6nnen, den die neueren Untersuchungen \u00fcber die Hypnose zum Verst\u00e4ndnisse unseres Gef\u00fchlslebens geliefert haben, da die Zeit gar zu karg bemessen war, um in die schon damals umfangsreiche hypnotische Litteratur gr\u00fcndlich einzudringen. Meine sp\u00e4teren Studien auf diesem Gebiete brachten mich indes bald zur Erkenntnis, dafs die f\u00fcr das Gef\u00fchlsleben wichtigen Punkte sich nicht isoliert behandeln liefsen, und ich zog es deshalb vor, in einem selbst\u00e4ndigen Werke (Die Hypnose und die damit verwandten normalen Zust\u00e4nde, Leipzig 1890) eine kurzgefafste Darstellung der wichtigsten hierhergeh\u00f6renden Probleme zu geben. In vorliegender Schrift konnte ich mich deshalb darauf beschr\u00e4nken, an dem f\u00fcr die Gef\u00fchlslehre bedeutungsvollen Punkte auf \u201eDie Hypnose\u201c zu verweisen.\nFerner hatte ich bei der Behandlung der k\u00f6rperlichen \u00c4ufserungen der Affekte den Plan zu einer experimentellen Untersuchung dieser Erscheinungen entworfen, es gebrach mir damals aber sowohl an Zeit als an Mitteln zu dessen Durchf\u00fchrung. In der an die Akademie eingelieferten Arbeit hatte ich mich deswegen mit einer historisch - kritischen Behandlung","page":0},{"file":"a0004.txt","language":"de","ocr_de":"\nVorrede.\ty\ndes in der Litteratur \u00fcber die Sache Vorliegenden begn\u00fcgen m\u00fcssen. Durch wohlwollende Unterst\u00fctzung von seiten des \u201eCarlsberger Fonds\u201c, f\u00fcr welche ich dessen Direktion hiermit meinen ergebensten Dank abstatte, wurde es mir indes im Herbste 1890 erm\u00f6glicht, meinen urspr\u00fcnglichen Plan durchzuf\u00fchren. Die ziemlich bedeutungslosen kritischen Betrachtungen\nhaben darauf dem gr\u00f6fseren Abschnitte: \u201eExperimentelle Unter-\n\u2022 \u2022\nsuchung \u00fcber die k\u00f6rperlichen Aufserungen der Affekte\u201c den Platz weichen m\u00fcssen, wodurch das Buch zweifelsohne an Wert gewonnen hat, sollte sich auch einiges der aus den Versuchsergebnissen abgeleiteten Folgerungen als unhaltbar erweisen.\nEndlich hatte der von der Akademie erw\u00e4hlte Richter-ausschufs, namentlich die Herren Professoren Hoff ding und K r o m a n, mich an verschiedenen Punkten auf Fehler und M\u00e4ngel in der Darstellung der Probleme aufmerksam gemacht. Diese Bemerkungen \u2014 f\u00fcr die ich den beiden genannten Herren hiermit meinen Dank ablege \u2014 habe ich nat\u00fcrlich in m\u00f6glichst weitem Umfange ber\u00fccksichtigt, indem ich meine Ansicht teils ver\u00e4ndert, teils n\u00e4her begr\u00fcndet habe. Aufserdem habe ich, soweit m\u00f6glich, die \u00fcbrigens nur wenigen, in den letzten Jahren erschienenen Schriften ber\u00fccksichtigt; diese haben mich jedoch nur zu kleinen Hinzuf\u00fcgungen dann und wann bewogen1). Aufser der oben erw\u00e4hnten Hinzuf\u00fcgung des Abschnittes von den experimentellen Untersuchungen habe ich \u00fcberhaupt nur eine einzige eingreifende Ab\u00e4nderung unternommen. Die der Akademie zugestellte Schrift wurde mit einer weitl\u00e4ufigen methodologischen Untersuchung eingeleitet, deren gr\u00f6fster Teil f\u00fcr den\n1) Leider ist die h\u00f6chst interessante lind eingehende Arbeit Des soirs: \u201eUber den Hautsinn\u201c, mir erst in die H\u00e4nde gekommen, nachdem der Druck meines Buches beinahe beendigt war, so dafs ich dieselbe nicht habe ber\u00fccksichtigen k\u00f6nnen. So viel ich bis jetzt gesehen habe, stimmen die Resultate Dessoirs in allem Wesentlichen mit den meinigen \u00fcberein. Eine Hauptdifferenz findet sich nur in betreff der Bl ix sehen Sinnespunkte, deren Existenz durch meine Versuche durchg\u00e4ngig best\u00e4tigt worden ist, w\u00e4hrend D essoir sie Kunstprodukte nennt und somit ihre Bedeutung in Abrede stellt. Wie es sich eigentlich hiermit verh\u00e4lt, wage ich nicht zu entscheiden; Thatsache bleibt es jedenfalls \u2014 und das scheint auch Dessoir nicht zu bestreiten \u2014, dafs durch punktuelle Reizung mittels Druck, W\u00e4rme oder K\u00e4lte von hinl\u00e4nglicher Intensit\u00e4t Schmerzen verschiedener Qualit\u00e4t entstehen, und dies mufs wohl als Hauptergebnis meiner den Hautsinn betreffenden Versuche bezeichnet werden.","page":0},{"file":"a0005.txt","language":"de","ocr_de":"VI\nVorrede.\nHauptstoff ohne Belang war. Auf ein Viertel ihres urspr\u00fcnglichen Umfanges reduziert, bildet dieselbe jetzt die Einleitung vorliegenden Werkes.\nEs ist nat\u00fcrlich, dafs ein Werk, das auf diese Weise zu sehr verschiedenen Zeiten unter fortw\u00e4hrend fortgesetzten Studien entsteht, Spuren dieser Entstehungsweise tragen mufs. Dies w\u00e4re zwar durch eine neue Umarbeitung des ganzen Buches zu vermeiden gewesen, die zun\u00e4chst formellen Verschiedenheiten der einzelnen Abschnitte schienen mir jedoch nicht grofs genug, um ein so radikales Verfahren zu rechtfertigen, das meine Zeit noch auf lange Dauer vollst\u00e4ndig beansprucht haben w\u00fcrde. Ich habe es deshalb vorgezogen, durch diese Aufschl\u00fcsse die formellen M\u00e4ngel zu erkl\u00e4ren und den Leser wegen derselben um Nachsicht zu bitten.","page":0},{"file":"a0006.txt","language":"de","ocr_de":"Inhalt.\nDie im Inhaltsverzeichnisse und im Texte in [ ] angegebenen Zahlen\nverweisen auf die Marginalzahlen.\nSeite\nEinleitung..................................................... 1\u201411\nZiel und Wege der Untersuchung [1\u20148]. Die historische Entwickelung der Lehre von den Gef\u00fchlen [9\u201418].\n* \u2022\nI. Uber die Natur der Gef\u00fchle.\nA.\tDas Verhalten des Gef\u00fchls zu Empfindung und Vor-\nstellung ................................................\n1.\tBestimmung des Verh\u00e4ltnisses durch Selbstbeobachtung .\t.\t.\nDefinition des Gef\u00fchls [14]. Bestimmung des Verh\u00e4ltnisses, Kants Theorie [15\u201421]. Konsequenzen der Kantisclien Theorie [22]. Beweise f\u00fcr die Richtigkeit der Theorie [28\u201426].\n2.\tDie Herbartianische Auffassung des Verh\u00e4ltnisses.........\nDie Herbartianische Auffassung [27\u201428]. Kritik [29\u201485].\n3.\tPsychophysiologische Untersuchungen \u00fcber das Verh\u00e4ltnis . .\nDer Kantisclien Theorie anscheinend widerstreitende Thatsachen [86\u201488]. Psychophysische Verh\u00e4ltnisse der Hautsinne [39\u201445]. Verschiedene Arten des Schmerzes [46_49]. Psychometrische Verh\u00e4ltnisse der Hautsinne [50\u201451]. Kein Intervall zwischen Empfindung und Gef\u00fchlston [52\u201457]. Keine isolierten Gef\u00fchlst\u00f6ne [58]. An\u00e4sthesie und Analgesie [59\u201460]. Suggerierte Analgesie [61\u201463]. Betonung der Organempfindungen [64\u201467]. Res\u00fcmee [68\u201471].\nB.\tDas Verh\u00e4ltnis der Gef\u00fchle zu den k\u00f6rperlichen Zu-\nst\u00e4nden .................................................\n1.\tBestimmung des Verh\u00e4ltnisses zwischen Gef\u00fchl, Affekt und\nStimmung...............................................\nVorl\u00e4ufige Definition des Affekts [72\u201474]. Affekt und Stimmung [75\u201480].\n2.\tDie historische Entwickelung der Untersuchungen \u00fcber die k\u00f6rper-\n\u2022 \u2022\nliehen Aufserungen der Affekte.........................\nDie fr\u00fchere Auffassung [81]. Moderne Ansichten [82]. Langes Untersuchungen [83\u201490]. M\u00f6glichkeit experimenteller Untersuchungen [91\u201494].\n12-56\n12\n31\n56-133\n56\n63","page":0},{"file":"a0007.txt","language":"de","ocr_de":"VIII\nInhalt.\nSeite\n75\n114\n\u2022 \u2022\n3.\tExperimentelle Untersuchungen \u00fcber die k\u00f6rperlichen Aufserungen\nder Affekte.............................................\nVersuchsanordnung und Apparate [95\u201498]. Einfache Lustzust\u00e4nde [99\u2014104]. Einfache Unlustzust\u00e4nde [105\u2014108]. Die physiologische Deutung des Beobachteten [109\u2014119]. W\u00e4rme und K\u00e4lte [120\u2014121]. Tabakrauchen, Reizwirkung und Vergiftungswirkung [122\u2014123]. \u00c4sthetische und intellektuelle Lust [124\u2014125]. Erschrecken, Schreck,\nFurcht [126\u2014131]. Kummer, deprimierte Stimmung [132\u2014133]. Zorn [134\u2014139]. Ergebnisse der Versuche [140\u2014146].\n4.\tDas Kausalverh\u00e4ltnis zwischen dem Gef\u00fchlszustand und den\nphysiologischen Erscheinungen der Affekte...............\nOrgangef\u00fchle als wesentliche Glieder der Affekte [147\u2014149]. Motivierte und unmotivierte Affekte [150\u2014154]. Bedeutung des prim\u00e4ren Gef\u00fchls [155\u2014\n156]. Verh\u00e4ltnis der Gef\u00fchlsbetonung zu den Organempfindungen [157\u2014164].\n5.\tSt\u00f6rungen des Vorstellungslaufes w\u00e4hrend der Affekte ....\nSt\u00f6rungen bei den normalen Affekten [165\u2014169]. St\u00f6rungen bei den unmotivierten Affekten [170 \u2014 172].\nResultat [173\u2014175].\nC.\tDas Verh\u00e4ltnis des Gef\u00fchls zu den Willens\u00e4ufserungen . 133\u2014143\nAffekt\u00e4ufserungen und Willens\u00e4uferungen [176\u2014 l-.j]. Affekt, Trieb, Instinkt [186 \u2014 191]. Ursprung der Willens\u00e4ufserungen aus den Affekt\u00e4ufserungen [192].\nD.\tHypothese von der Natur des Gef\u00fchls..........................143\u2014161\n1.\tDie Bedeutung der Gef\u00fchlst\u00f6ne............................. US\nVerh\u00e4ltnis der Gef\u00fchlst\u00f6ne zum Vorstellungsprozesse [193\u2014197]. Verh\u00e4ltnis der Gef\u00fchlst\u00f6ne zum Wohl und Wehe des Organismus [198\u2014203].\n2.\tDie physiologischen Bedingungen f\u00fcr das Entstehen der Gef\u00fchlst\u00f6ne\nVerschiedene Ansichten [204\u2014206]. Abh\u00e4ngigkeit der Gef\u00fchlst\u00f6ne von der Ern\u00e4hrungsth\u00e4tigkeit [207\u2014\n208]. Einwirkung des Energieumsatzes auf das Bewusstsein [209\u2014212]. Erweiterung der Hypothese 213\u2014215].\n126\n152\nII. Die speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nA. Einleitung..................................................162\u2014172\nVer\u00e4nderungen des Gef\u00fchlslebens w\u00e4hrend Erkrankungen [216\u2014217]. Ver\u00e4nderungen des Gef\u00fchlslebens im Laufe der Zeit [218\u2014219]. Fr\u00fchere Bestimmungen der Gef\u00fchlsgesetze [220\u2014223]. Plan der folgenden Untersuchungen [224\u2014226].","page":0},{"file":"a0008.txt","language":"de","ocr_de":"Inhalt.\nIX\nB. Die Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchls von der St\u00e4rke der betonten Vorstellung..................................................\nDie intensive Schwelle [227\u2014233]. Wachsen des Gef\u00fchls [234\u2014236]. \u00dcbergang aus Lust in Unlust [237 - 239]. Resultat [240\u2014241].\n(h Die Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchls von der Zeitdauer der betonten Vorstellung.........................................\nKontinuierliche und intermittierende Vorstellungen [242]. Die extensive Schwelle [243\u2014244]. Ver\u00e4nde-r\u00fcngen der Lustgef\u00fchle [245\u2014248]. Ver\u00e4nderungen der Unlustgef\u00fchle [249J. Resultat [250\u2014251]. Abstumpfung durch Wiederholung [252\u2014253]. Unentbehrlichkeit des Angewohnten [254\u2014256].\nD* Die Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchls von fremden, von aufsen her gegebenen Vorstellungen......................................\n1.\tDie betonte und die modifizierenden Vorstellungen sind gleichartig\nund betreffen verschiedene Objekte...................\na.\tKontrast der Gef\u00fchle.\nBeispiele des Kontrastes [257\u2014259]. Bedingungen des Kontrastes [260\u2014265]. Kontrastst\u00f6rende Verh\u00e4ltnisse [266\u2014269]. Resultat [270\u2014271].\nb.\tFolges\u00e4tze des Kontrast- und des Zeitgesetzes.\nBedeutung der Folges\u00e4tze [272\u2014273]. Das Folgegesetz [274\u2014278]. Das Vers\u00f6hnungsgesetz [279\u2014283].\n2.\tDie betonte und die modifizierenden Vorstellungen sind ungleich-\nartig und betreffen verschiedene Objekte.............\nGleichzeitig gegebene Vorstellungen ; Gef\u00fchlsmischungen [284\u2014289]. Wechsel der Gef\u00fchle [290\u2014 291]. Successive gegebene Vorstellungen [292\u2014296].\n3.\tDie betonte und die modifizierenden Vorstellungen betreffen\ndasselbe Objekt . ...................................\na.\tDurch die Beziehung zusammenwirkender Vor-\nstellungen erzeugte Gef\u00fchlst\u00f6ne.\nGef\u00fchlst\u00f6ne bei Identit\u00e4t oder Kontradiktion der Gedanken [297\u2014298]. Gef\u00fchl der Leichtigkeit und der Klarheit [299]. Das objektive Wahrheitsgef\u00fchl [300\u2014302]. Das subjektive Wahrheitsgef\u00fchl [303]. Verh\u00e4ltnis komplexer Vorstellungen zu Gedanken [304\u2014305]. \u00c4sthetische Beziehungsgef\u00fchle bei Malerei [306\u2014310]. ^ei Skulptur [311]. Bei Erzeugnissen der technischen K\u00fcnste [312\u2014313]. Resultat [314].\nb.\tVerschmelzung gleichzeitiger Gef\u00fchls t\u00f6ne.\nVerbindungen niedrigsten Grades [315\u2014317]. Innigere Verschmelzung [318\u2014320]. Ann\u00e4herung an gemischte Gef\u00fchle [321\u2014322]. Gemischte Gef\u00fchle [323\u2014326]. Resultat [327].\nSeite\n172\u2014181\n182\u2014196\n196-260\n196\n213\n220","page":0},{"file":"a0009.txt","language":"de","ocr_de":"X\nInhalt.\nSeite\nc. Die St\u00e4rke des zusammengesetzten G-ef\u00fchls.\nSummation der Gef\u00fchlst\u00f6ne [328\u2014331]. Intensit\u00e4t zusammengesetzter Gef\u00fchle [332\u2014334]. Verh\u00e4ltnisse beim Zusammenwirken der Lust und der Unlust [335-336].\nE. Die Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchls yon fremden, reproduzierten\nVorstellungen............................................ 261\u2014321\n1.\tDie Reproduktion der Gef\u00fchle im allgemeinen............... 261\nReproduktion der Gef\u00fchlst\u00f6ne durch Vorstellungen [337\u2014338]. Bedeutung reproduzierter Gef\u00fchle [339\u2014\n342]. Verh\u00e4ltnis zAvischen reproduzierten und direkt gegebenen Gef\u00fchlen [343\u2014344].\n2.\tDie Expansion und die Verschiebung der Gef\u00fchle.............. 266\nExpansion der Gef\u00fchle [345\u2014349]. Scheinbare Verschiebung der Gef\u00fchle [350\u2014354]. Wirkliche Verschiebung von Gef\u00fchlen [355\u2014357].\n\u2022 \u2022\n3.\tDer Ursprung der k\u00f6rperlichen Aufserungen der Affekte . . .\t275\nN\u00e4here Formulierung des Problems [358\u2014360]. Ansichten Darwins [361\u2014362]. Kritik der Darwinschen Ansichten [363 - 364]. Zweifache Erkl\u00e4rung m\u00f6glich [365\u2014366]. Die Associationstheorie [367\u2014370].\n4.\tDie Entwickelung der Affekte im Lehenslaufe des Individuums .\t291\nEntwickelung des Schrecks [371\u2014373]. Entwickelung der Freude [374\u2014383]. Entwickelung des Kummers [384\u2014391]. Erwartung, Hoffnung, Furcht [392\u2014396]. Entwickelung des Zorns [397\u2014399]. Res\u00fcmee [400\u2014\n403].\nIII. Beitrag zur Svstematik der Gef\u00fchle.\nO\te,\nA. Die systematische Ordnung der Gef\u00fchle....................... 322\u2014339\n1.\tPrinzipien der Systematik................................ 322\nUnabh\u00e4ngig variable Gr\u00f6fsen [404\u2014406]. Systematisierung der psychischen oder der physischen Zust\u00e4nde [407\u2014409].\n2.\tEntwickelung eines rationellen Systems................... 329\nBestimmung der unabh\u00e4ngig Variablen [410\u2014415]. Graphische Darstellung des Systems [416\u2014418]. Sim-plifikation des Systems [419\u2014420].\nB. Anordnung der einzelnen Gef\u00fchle im Systeme................ 339\u2014356\nEinteilung der Beziehungsgef\u00fchle [421]. Die Beziehungsgef\u00fchle [422\u2014424]. Einteilung der Inhaltsgef\u00fchle [425 \u2014 426]. Die Th\u00e4tigkeitsgef\u00fchle [427]. Die Selbstgef\u00fchle [428]. Die autopathischen Gef\u00fchle [429\u2014430]. Die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle [431\u20144321. Die sympathischen Gef\u00fchle [433\u2014436]. Die religi\u00f6sen Gef\u00fchle [437\u2014439]. Die Gef\u00fchlsmassen [440].","page":0},{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung.\nL Eine der Hauptaufgaben, die sich bei einer vollst\u00e4ndigen Untersuchung unsers Gef\u00fchlslebens zur L\u00f6sung einstellen, ist diese: eine systematische Ordnung s\u00e4mtlicher menschlichen Gef\u00fchle zu beschaffen. Besonderes Interesse hat diese Aufgabe deswegen, weil nur selten versucht worden ist, dieselbe zu l\u00f6sen. Die meisten Psychologen sind um die Sache herumgegangen, und was die psychologische Litteratur an Versuchen in dieser Richtung bisher aufzuweisen hat, deutet zun\u00e4chst darauf hin, dafs eine L\u00f6sung des Problems mit grofsen Schwierigkeiten verbunden sein wird. Sollte dasselbe aber auch sogar auf dem gegenw\u00e4rtigen Standpunkt der Wissenschaft unl\u00f6sbar sein, so ist es darum doch nicht ohne Bedeutung, zu sehen, wie weit man gelangen kann, und welche Hindernisse sich der vollst\u00e4ndigen Durchf\u00fchrung einer Systematik der Gef\u00fchle entgegenstellen. Hierdurch wird wenigstens ein Grund gelegt werden, auf welchen sich k\u00fcnftige Versuche mit gr\u00f6fserer Aussicht eines g\u00fcnstigen Erfolgs basieren lassen. Es soll daher der eigentliche Zweck vorliegender Untersuchung sein, wom\u00f6glich eine systematische Einteilung der menschlichen Gef\u00fchle zu erzielen. Und die erste Frage wird dann diese: auf welchem Wege ist dieser Zweck zu erreichen?\n2. Systematisieren heifst in nat\u00fcrliche Gruppen einteilen. Es ist daher eine notwendige Bedingung aller Systematik, dafs man die Natur, d. h. die wesentlichsten Eigent\u00fcmlichkeiten der betreffenden Objekte kennt. Alle diejenigen Wissenschaften, zu deren Aufgaben die Aufstellung einer systematischen Einteilung geh\u00f6rt, m\u00fcssen deshalb auch die Aufgabe haben, die fundamentalen Eigenschaften ihrer Objekte zu bestimmen, um mittels\nLehmann, Die Gef\u00fchle.\t1","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nEinleitung.\nAnwendung dieser Eigenschaften als Einteilungsgr\u00fcnde eine Einteilung in nat\u00fcrliche Gruppen zu erm\u00f6glichen. Die Bestimmung der fundamentalen Eigenschaften ist jedoch nicht \u00fcberall der Aufgabe der systematischen Wissenschaft als wesentliches Glied eingef\u00fcgt. Dies ist z. B. nicht der Fall mit der Zoologie, der Botanik und der Mineralogie, wohl dagegen mit der Chemie. Von der Zoologie und der Botanik als den eigentlich systematisierenden Wissenschaften hat man die Morphologie [Anatomie] und die Physiologie abgesondert, die den Bau der Objekte und die Funktionen dei einzelnen Organe untersuchen; auf den hierdurch erzielten Resultaten baut dann der Systematiker seine Einteilungen auf Ebenso verh\u00e4lt es sich in der Hauptsache auch mit dei Mineia-logie, die sich auf die Physik, die Chemie und die Krystallo-graphie st\u00fctzt. In der Chemie dagegen gehen die eikl\u00e4iende Th\u00e4tigkeit und die systematisierende Hand in Hand; allerdings wird aus praktischen Gr\u00fcnden h\u00e4ufig eine Grenze zwischen dei s theoretischen und der systematischen Chemie gezogen ; diese i Kluft ist jedoch nie bis zu einer Trennung in zwei W issenschaften j vertieft worden. Man k\u00f6nnte deshalb die erstgenannten drei Wissenschaften als die \u201eeigentlich systematischen\u201c bezeichnen, w\u00e4hrend die Chemie im Gegensatz hierzu \u201eerkl\u00e4iend und systematisch\u201c ist.\n3. Die Ursache dieser verschiedenen Verh\u00e4ltnisse der Wissenschaften ist in dem verschiedenen Charakter ihrer Objekte zu suchen. W\u00e4hrend Tiere, Pflanzen und Mineralien n\u00e4mlich in der Natur gegeben sind und in ihrem sichtbaren Bau so grofse Unterschiede darbieten, dafs sich eine bis zu einem gewissen Grade nat\u00fcrliche Einteilung hierauf bauen l\u00e4fst, ist dies dagegen mit den chemischen Verbindungen nicht der Fall. Die \u00e4ufserst grofse Anzahl von Verbindungen, welche der modernen Chemie zur Verf\u00fcgung stehen, sind gr\u00f6fstenteils erst aus Untersuchungen \u00fcber die Natur und die Konstitution der Stoffe hervorgegangen, und die Notwendigkeit einer Systematik entstand also erst w\u00e4hrend der Entwickelung der Wissenschaft. Die \u201eNaturgeschichte\u201c fing als systematische Wissenschaft an, sp\u00e4terhin, als n\u00e4here Kenntnis der Natur der Objekte ein f\u00fchlbares Bed\u00fcrfnis wurde, traten Morphologie und Physiologie als erkl\u00e4rende Wissenschaften hinzu; in der Chemie ist das Verh\u00e4ltnis umgekehrt. Unter allen Umst\u00e4nden, eine Wissenschaft m\u00f6ge ihre Einteilungsprinzipien anderswoher entlehnen oder diese selbst erzeugen, so viel leuchtet","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Ziel und Wege der Untersuchung.\n3\nein, dafs eine wissenschaftliche Systematik, eine Einteilung in nat\u00fcrliche Gruppen, erst dann erm\u00f6glicht wird, wenn die fundamentalen Eigent\u00fcmlichkeiten der Objekte der Einteilung zu Grunde gelegt werden.\n4. Betrachten wir nun die \u00e4lteren systematischen Wissenschaften, wie sie heutzutage vorliegen, so sehen wir, dafs dieselben wirklich zum Teil ihr Ziel erreicht, eine systematische Einteilung beschafft haben, hinsichtlich deren, wenigstens in den Hauptz\u00fcgen, v\u00f6llige Einigkeit herrscht. Hiermit soll nat\u00fcrlich nicht gesagt sein, alle diese Wissenschaften seien abgeschlossen. Neue Erfahrungen werden zu allen Zeiten unser Wissen bereichern, und das H\u00f6chste, was eine Wissenschaft in einem gegebenen Augenblick erreicht haben kann, ist daher nur der Besitz eines festen Rahmens, in welchem alle vorhandenen und sp\u00e4teren Erfahrungen ihren Platz finden k\u00f6nnen. Von den genannten Wissenschaften l\u00e4fst sich sagen, dafs sie einen solchen relativen Abschlufs erreicht haben. Alle neuen Entdeckungen passen in die einmal festgestellten Rahmen hinein und legen hierdurch best\u00e4ndig die Naturgem\u00e4fsheit und Berechtigung der Anordnung dar. Und auch wenn \u00fcber die Einordnung einer Erscheinung Streit entsteht, ist das System darum nicht gesprengt, denn da die Gruppierungen der Wissenschaft nichts anderes als der m\u00f6glichst genaue Ausdruck der beobachteten \u00c4hnlichkeiten und Verschiedenheiten sein k\u00f6nnen, sind F\u00e4lle individuellen Gutachtens und somit der Willk\u00fcr oft unvermeidlich. Eine neuentdeckte Art oder eine bisher unbekannte chemische Verbindung kann so grofse \u00dcbereinstimmung mit verschiedenen Gliedern der Systeme darbieten, dafs sie sich mit gleichem Recht an diesen verschiedenen Punkten anbringen l\u00e4fst; die schliefsliche Bestimmung ihres Platzes wird erst dann m\u00f6glich, wenn vermittelnde Glieder und Ubergangsformen in andere Arten oder Verbindungen nachgewiesen sind. Die Geschichte der Wissenschaft zeigt zahlreiche Beispiele davon, dafs \u2022* neue Ph\u00e4nomene bei ihrem Erscheinen grofse Uneinigkeit erregen und die Forscher in Parteien spalten konnten, deren jede ihren besonderen entgegengesetzten Standpunkt verteidigte; nach Verlauf k\u00fcrzerer oder l\u00e4ngerer Zeit wird indes Einigkeit erreicht. Der erhobene Streit bewirkt neue Nachforschungen und Untersuchungen, und das hierdurch gewonnene Erfahrungsmaterial entscheidet zuletzt die streitige\n1 *","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\tEinleitung.\nFrage. Viele der gr\u00f6fsten Fortschritte der Wissenschaft sind die Frucht solcher K\u00e4mpfe.\n5.\tDas Ziel, das wir uns hier setzen wollen, ist: der Lehre von den Gef\u00fchlen, soweit m\u00f6glich, einen Charakter zu geben, wie denjenigen, welchen die \u00e4lteren systematischen Wissenschaften bereits besitzen. Nat\u00fcrlich ist dieses Ziel nur ein Ideal. Denn die \u00e4lteren Wissenschaften haben ihre feste Stellung und ihren relativen Abschlufs ja nur durch eine lange dauernde Entwickelung erreicht, w\u00e4hrend welcher alle Ideen, die keine Lebenskraft hatten, zu Grunde gingen. Alle M\u00f6glichkeiten wurden untersucht, und nur diejenigen, welche die Kritik der Jahrhunderte ertragen konnten, sind stehen geblieben. Es ist deshalb gewifs als unm\u00f6glich zu betrachten, eine Wissenschaft, die kaum erst existiert, durch eine einzelne Untersuchung zu einem relativen Abschlufs zu f\u00fchren. Wir setzen uns aber dieses Ziel, weil es doch einst erreicht werden soll, und man also je eher je lieber das Arbeiten in der rechten Richtung beginnen mufs. Hierzu kommt dann noch ein Umstand, der die Sache nicht gar so hoffnungslos macht, wie sie beim ersten Anblick erscheinen m\u00f6chte. Denn wir haben einen bedeutenden Vorteil vor den \u00e2lter\u00ebn Wissenschaften voraus: wir k\u00f6nnen deren Geschichte zum Aufbau benutzen. Wir stehen nicht auf kahlem Boden, sondern wir k\u00f6nnen durch eine methodologische Untersuchung der Entwickelungsgeschichte der \u00e4lteren systematischen Wissenschaften die Hauptstrafse nachweisen, die trotz aller Kr\u00fcmmungen und zuf\u00e4lligen Abwege haupts\u00e4chlich betreten wurde und endlich ans Ziel f\u00fchrte. Die Bedeutung dieses Umstandes kann gewifs nicht zu hoch angeschlagen werden, denn durch eine solche Untersuchung k\u00f6nnen wir diejenigen Probleme bestimmen, denen die Aufmerksamkeit vorz\u00fcglich zugekehrt sein mufs, sowie auch diejenigen Abwege, vor welchen man sich zu h\u00fcten hat; auf diese Weise k\u00f6nnen wir, durch die Erfahrungen der Vergangenheit belehrt, verh\u00e4ltnism\u00e4fsig schnell und sicher vorw\u00e4rtsschreiten.\n6.\tUnsere erste Aufgabe wird daher die: zu untersuchen, wie die systematischen Wissenschaften ihre jetzige feste Form und relative Abgeschlossenheit erreicht haben. Zur Beantwortung dieser Frage wird eine Betrachtung s\u00e4mtlicher systematischen Wissenschaften indes nicht notwendig sein, weil diese, wie oben [2] bemerkt, alle die n\u00e4mliche Aufgabe haben, die wesentlichsten","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"Ziel und Wege der Untersuchung.\n5\nEigenschaften ihrer Objekte zu bestimmen und auf diese eine Einteilung in nat\u00fcrliche Gruppen zu gr\u00fcnden. Auch aus rein praktischen R\u00fccksichten, um von unserem eigentlichen Stoff nicht zu weit abgef\u00fchrt zu werden, m\u00fcssen wir uns auf die Behandlung einer einzelnen derselben beschr\u00e4nken, und es er\u00fcbrigt also nur, eine angemessene Wahl zu treffen. Es liegt in der Natur der Sache selbst, dafs eine Wissenschaft zu w\u00e4hlen ist, welche\ndie m\u00f6glichst grofse Analogie mit der Lehre von den Gef\u00fchlen\n\u2022 # \u00bb\naufzeigt, denn je gr\u00f6fser die \u00dcbereinstimmung ist, um so leichter k\u00f6nnen wir die Ergebnisse der methodologischen Studien bei unserer eigentlichen Untersuchung anwenden. In dieser Beziehung scheint die organische Chemie die gr\u00f6fsten Vorteile darzubieten. Dieselbe ist eine der j\u00fcngsten Wissenschaften, indem man im Anf\u00e4nge dieses Jahrhunderts nur die Zusammen-\n\u2022 \u2022\nSetzung von drei organischen Verbindungen: Alkohol, Ol und Wachs kannte, und diese Bestimmungen Lavoisiers waren \u00fcberdies nicht eben genau. W\u00e4hrend des erstaunlich kurzen Zeitraums von 90 Jahren hat die Wissenschaft nun durch eine besonders lehrreiche Entwickelung ihren jetzigen hohen Standpunkt erreicht. Ein solches Ergebnis kann offenbar nur durch rationelles und energisches Arbeiten errungen sein, und wir d\u00fcrfen daher erwarten, in der Entwickelungsgeschichte der organischen Chemie alle Bedingungen des Entstehens und Wachs-tums einer systematischen Wissenschaft kr\u00e4ftiger und bestimmter als in den meisten anderen F\u00e4llen entfaltet zu erblicken.\n7. Hierzu kommt noch der Umstand, dafs eine streng wissenschaftliche Lehre von den Gef\u00fchlen ebenso wie die organische Chemie erkl\u00e4rend und systematisch zugleich sein mufs.\n\u2022 \u2022\nDenn allerdings bietet die Psychologie insofern gr\u00f6fsere \u00dcbereinstimmung mit der \u201eNaturgeschichte\u201c dar, als sie mit nat\u00fcrlich gegebenen und nicht mit gr\u00f6fstenteils k\u00fcnstlich erzeugten Objekten zu schaffen hat; es fehlt jedoch diesen Objekten, streng genommen, an allen \u00e4ufseren Anhaltspunkten, auf welche sich eine Einteilung in nat\u00fcrliche Gruppen gr\u00fcnden liefse. Betrachtet man z. B. Bains rein empirische Behandlung der Gef\u00fchle, so springt es in die Augen, wie schwer, um nicht zu sagen unm\u00f6glich, es ist, Einteilungsgr\u00fcnde zu finden, wenn man sich an das nur Beobachtete halten will, ohne Untersuchungen \u00fcber die Natur der Gef\u00fchle als Grundlage einer nat\u00fcrlichen Einteilung anzuwenden. Im Vergleich mit Nahlowskys systematischen","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nEinleitung.\nVersuchen, die auf eine psychologische Hypothese basiert sind, erscheint Bains Einteilung wie Balken auf einem Zimmerhof neben einem architektonischen Werke. Es scheint also keinem Zweifel unterworfen zu sein, dafs die Lehre von den Gef\u00fchlen ebenso wie alle anderen Wissenschaften erst dann einen streng wissenschaftlichen Charakter erhalten kann, wenn man bis auf die fundamentalen Eigenschaften der Objekte zur\u00fcckgeht. Und da die Psychologie als Ganzheit selbst eine Grundwissenschaft ist, indem sie unter den Geisteswissenschaften ganz dieselbe Stellung einnimmt wie die Physik und die Chemie unter den Naturwissenschaften, so kann sie die Kenntnis ihrer Objekte nicht anderswoher entnehmen und sich nicht auf die blofs systematische Darstellung beschr\u00e4nken. Wir m\u00fcssen daher den gleichzeitig erkl\u00e4renden und systematischen Charakter der Psychologie festhalten und w\u00e4hlen deswegen die Entwickelungsgeschichte der organischen Chemie zur Grundlage einiger methodologischen Betrachtungen.\n8. Geht man eine ziemlich eingehende Darstellung der Geschichte der organischen Chemie durch, so wird man finden, dafs namentlich zwei Richtungen w\u00e4hrend der Entwickelung der Wissenschaft vorherrschend sind. Einerseits macht sich das stetige Streben geltend, die Konstitution der Verbindungen, d. h. deren Bestandteile und die Funktion, welche die einzelnen Bestandteile in der Verbindung erf\u00fcllen, auf experimentalem Wege zu bestimmen. Jede einzelne Spezialarbeit erh\u00e4lt ihre Bedeutung eben durch den Beitrag, den sie zur Kenntnis der Natur der Stoffe gibt. Und bei dem allm\u00e4hlichen Fortschreiten dieser Kenntnis wird gleichzeitig ein best\u00e4ndiges Modifizieren oder sch\u00e4rferes Definieren der zur Bezeichnung der erworbenen Einsicht benutzten Begriffe unternommen. Anderseits finden sich von Zeit zu Zeit Versuche, die errungenen Resultate zu einer systematischen Einteilung der Objekte zu verwerten, je nach Eintritt einer neuen bedeutenden Phase in der Entwickelung. Dies ist indes nur ein untergeordnetes, darum aber nicht minder wichtiges Moment. Der Hauptpunkt ist stets die Bestimmung der fundamentalen Eigenschaften der Stoffe; auf dieses Ziel sind alle Bestrebungen gerichtet, und das Ergebnis, die sichere und schnelle Entwickelung der Wissenschaft, bew\u00e4hrt die Richtigkeit der Methode.","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"Historische Entwickelung der Gef\u00fchlslehre.\n7\n9. Betrachten wir nun die historische Entwickelung der Lehre von den Gef\u00fchlen, um zu untersuchen, ob das Verfahren, das in der organischen Chemie so reiche Fr\u00fcchte getragen hat, auch hier zur Verwendung gekommen ist, so finden wir beim ersten Anblick keine Spur einer solchen Methode. Allerdings haben fast alle Forscher, die sich mit Untersuchungen \u00fcber die Gef\u00fchle besch\u00e4ftigten \u2014 und deren Anzahl ist keine geringe \u2014 ihre Begebungen vorz\u00fcglich auf eine Bestimmung der Natur der Gef\u00fchle gerichtet, indem nur selten und eigentlich erst in der neueren Zeit systematische Darstellungen Vorkommen ; eine Kontinuit\u00e4t der Entwickelung l\u00e4fst sich jedoch nicht sp\u00fcren. Gleichzeitige Forscher huldigen gew\u00f6hnlich sehr verschiedenen Auffassungen von der Natur der Gef\u00fchle, und ihre Anschauungen stehen selten in einem direkten Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltnis zu denjenigen ihrer n\u00e4chsten Vorg\u00e4nger. Das eigent\u00fcmlich springende und diskontinuierliche Aussehen, welches die Entwickelung der Lehre von den Gef\u00fchlen also darbietet, l\u00f6st sieh bei n\u00e4herer Betrachtung in zwei gleichzeitige, kontinuierliche Entwickelungsreihen auf. Bei der grofsen Mehrzahl der Forscher findet man n\u00e4mlich, dafs die psychologischen Untersuchungen gar keine selbst\u00e4ndige Bedeutung haben; diese werden nur als Glieder einer metaphysischen Deduktion mitgenommen. Aus irgend einer Hypothese von der Beziehung zwischen Seele und K\u00f6rper wird die Natur der einzelnen psychischen Erscheinungen hergeleitet, und die gegebenen Fakta werden dann den vorausgefafsten Anschauungen angepafst, so gut es sich thun l\u00e4fst; w\u00e4re dies nicht thunlich, so st\u00fcnde es, wie Hegel sagte, nur um so schlimmer um die Thatsachen. Es liegt in der Natur der Sache selbst, dafs von einer selbst\u00e4ndigen, kontinuierlichen Entwickelung der Psychologie unter solchen Umst\u00e4nden keine Bede sein kann; der innere Zusammenhang zwischen den Anschauungen der verschiedenen Forscher l\u00e4fst sich nur dann nach weisen, wenn man bis auf die metaphysischen Hypothesen zur\u00fcckgeht, von welchen die psychologischen Betrachtungen abh\u00e4ngig sind. Zugleich bringt dieses best\u00e4ndige Unterordnen der Psychologie unter die Metaphysik nat\u00fcrlich mit sich, dafs das positive Ergebnis, was die Psychologie betrifft, nur ein sehr geringes ward, und eine Darstellung dieses Teiles der Geschichte der Psychologie wird uns deshalb von keinem wesentlichen Gewinn sein. Wenn wir also der Kontinuit\u00e4t wegen versuchen wollen, bei fr\u00fcheren","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nEinleitung.\nForschern Ankn\u00fcpfungspunkte einer weiteren Entwickelung zu linden, so sind solche jedenfalls nicht bei den spekulativen Psychologen zu suchen, deren ganze Verfahrungsweise in dieser Sache der wissenschaftlichen Methode, die in anderen Wissenschaften ans Ziel f\u00fchrte, v\u00f6llig widerstreitet.\n10. Gleichzeitig mit den vorherrschenden spekulativ-psychologischen Untersuchungen lassen sich, als eine stetige, wenngleich h\u00e4ufig sehr schwache Unterstr\u00f6mung, Bestrebungen nachweisen, die Psychologie als Totalit\u00e4t und somit nat\u00fcrlich auch die Gef\u00fchle empirisch zu behandeln. Diese Bewegung wird von Sulz er eingeleitet, freilich nur auf einem einzelnen Gebiet, indem er bei der Untersuchung der psychologischen Grundlage seines Spezialfaches, der \u00c4sthetik, recht empirisch verf\u00e4hrt, \u00fcbrigens durchaus auf dem Standpunkt der W\u00f6lfischen Philosophie steht. In einem kleineren Werke: \u201eAnmerkungen \u00fcber den verschiedenen Zustand, worin sich die Seele bei Aus\u00fcbung ihrer Hauptverm\u00f6gen, n\u00e4mlich des Verm\u00f6gens, sich etwas vorzustellen, und des Verm\u00f6gens, zu empfinden, befindet,\u201c stellt er das Verm\u00f6gen, zu empfinden, d. h. auf angenehme oder unangenehme Weise erregt zu werden, als dem Vorstellungsverm\u00f6gen nebengeordnet auf1). Weit bewufster treten die Bestrebungen, der Psychologie eine empirische Grundlage zu verleihen, bei T e t e n s auf. In seinem Hauptwerk2) hebt er ausdr\u00fccklich hervor, dafs er sich ausschliefslich der von den Naturforschern und von Locke gebrauchten beobachtenden Methode bedienen will, und bei der Analyse der psychischen Zust\u00e4nde verf\u00e4hrt er wirklich auch mit solcher Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit, dafs sein Werk bleibenden Wert haben wird. Auf Sulz er s Auffassung sich st\u00fctzend, behauptet er das Verm\u00f6gen der Seele, modifiziert zu werden und diese Ver\u00e4nderungen zu f\u00fchlen, und stellt somit das Gef\u00fchl als ein dem Erkennen und dem Wollen nebengeordnetes Seelenverm\u00f6gen auf. Hiermit war die Grundlage der sp\u00e4ter allgemein angenommenen Auffassung des Gef\u00fchls gegeben, es dauerte indes einige Zeit, bis diese allgemeine Anerkennung fand. So steht Kant in der \u201eKritik der praktischen Vernunft\u201c 1788 noch auf dem Standpunkt der W\u00f6lfischen Psychologie; zwei Jahre sp\u00e4ter schliefst er sich aber in seiner interessanten\n1)\tVermischte philosophische Schriften, 1773.\n2)\tPhilos. Versuche \u00fcber die menschliche Natur. 2 Bde. 1777.","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"Historische Entwickelung der Gef\u00fchlslehre.\t9\nUntersuchung der \u00e4sthetischen Gef\u00fchle*) entschieden an T e t e n s an. Auch in der \u201eAnthropologie\u201c 1798 wird die Dreiteilung: Erkenntnis, Gef\u00fchl und Wille, durchgef\u00fchrt.\n11. W\u00e4hrend des folgenden Zeitraumes f\u00fchrt die empirische Psychologie ein verk\u00fcmmertes Dasein. Wir treffen hier nur zwei bedeutende Forscher, Fries und Beneke, an, welche einsehen und entschieden behaupten, die Psychologie sei auf Grundlage der Erfahrung zu behandeln, um wieder selbst der Metaphysik, insofern diese \u00fcberhaupt m\u00f6glich sei, als Grundlage zu dienen. Besonders interessant ist Beneke wegen seines Versuchs, diejenigen psychologischen Grundgesetze zu bestimmen, mittels deren er alle zusammengesetzten psychischen Th\u00e4tigkeiten zu erkl\u00e4ren sucht. Auf Basis analytischer Untersuchungen der verschiedenen Bewufstseinszust\u00e4nde gelangt er zu den vier folgenden Grundvorg\u00e4ngen : 1) Von der menschlichen Seele werden, infolge \u00e4ufserer Eindr\u00fccke, sinnliche Empfindungen oder Wahrnehmungen gebildet. 2) Alles, was in der menschlichen Seele mit einiger Vollkommenheit gebildet worden ist, erh\u00e4lt sich, auch nachdem es aus dem Bewufstsein entschwunden ist, im unbewufsten oder inneren Seelensein, aus welchem es dann sp\u00e4ter wieder in die bewufste Seelen entwickelung eingehen oder reproduziert werden kann. 3) Gleiche Th\u00e4tigkeiten und \u00e4hnliche nach Mafsgabe ihrer Gleichheit streben mehr oder weniger, sich mit einander zu vereinigen. 4) Alle psychischen Gebilde sind in jedem Augenblicke unseres Lebens bestrebt, die in ihnen beweglich gegebenen Elemente gegen einander auszugleichen, bis zu v\u00f6lliger Gleichgestimmtheit (Beispiel : die erhebende Th\u00e4tigkeit der Freude, die niederdr\u00fcckende der Trauer)* 2). Nach Beneke entstehen nun die Gef\u00fchle, wenn einer dieser vier Grundvorg\u00e4nge, einerlei welcher, in Th\u00e4tigkeit tritt, und speziell entsteht ein Lustgef\u00fchl, wenn der die Th\u00e4tigkeit erregende Reiz in \u201eausgezeichneter F\u00fclle oder \u00fcberfliefsend\u201c vorhanden ist, ohne jedoch zu stark zu sein. Ist der Reiz zu schwach, so entsteht Unlust ; Schmerz dagegen, wenn der Reiz zu stark ist. Haben diese Resultate auch keinen grofsen Einflufs auf die Entwickelung der Wissenschaft ge\u00fcbt, so sind Benekes Untersuchungen nichtsdestoweniger interessant als erster Schritt auf dem V ege\n1)\tKritik der Urteilskraft. 1790 I. T.\n2)\tLehrbuch der Psychologie. Berlin 1833. S. 30\u201437.","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"] 0\tEinleitung.\nzum Auffinden derjenigen Vorg\u00e4nge, welche dem Gef\u00fchle zu Grunde liegen.\n12.\tHerbart, Benekes Zeitgenosse, legte zwar ebenfalls der Psychologie selbst\u00e4ndige Bedeutung bei, indes spielt bei ihm die metaphysische Bestimmung der Natur der Seele eine so grofse Rolle, dafs die rein psychologischen Untersuchungen zun\u00e4chst als Beweis und St\u00fctze der metaphysischen Deduktionen Bedeutung erhalten. Herb arts grofser Einflufs auf die j\u00fcngere deutsche Philosophie hat aber doch viel dazu beigetragen, das Studium der psychischen Erscheinungen zu f\u00f6rdern, und da aufserdem viele seiner metaphysischen Betrachtungen schon fr\u00fch von seinen eine mehr empirische Richtung einschlagenden Nachfolgern Waitz, Volkmann und Nahlowsky aufgegeben wurden, hat diese Herb art sehe Schule nicht wenig zur Erzeugung des Erfahrungsmaterials beigetragen, auf welchem die Psychologie jetzt auf baut. Einzelne Theorieen spekulativen Ursprungs, wie namentlich die Lehre von der Natur der Gef\u00fchle, sind indes noch nicht von den Herbartschen Psychologen verlassen, und wir werden uns daher sp\u00e4ter [27\u201435] n\u00e4her mit denselben besch\u00e4ftigen m\u00fcssen.\n13.\tMit Herbarts Nachfolgern sind wir bis zur neueren Zeit gelangt, in welcher die aus den Reihen der Naturforscher hervorgegangenen Psychologen, unter denen besonders Lotze, F e c h n e r und Wundt namhaft sind, darauf hingearbeitet haben, innerhalb des Gebietes der Psychologie die exakt wissenschaftlichen Prinzipien durchzuf\u00fchren, die in der Naturwissenschaft so fruchtbringend gewesen sind. In diesen Bestrebungen tretfen sie mit den englischen Psychologen zusammen, und die Psychologie scheint somit in ein Geleise geraten zu sein, das eine ruhige und methodische Entwickelung ihrer einzelnen Zweige erm\u00f6glichen wird. Indes ist das Studium der Gef\u00fchle l\u00e4ngere Zeit hindurch vernachl\u00e4ssigt worden, da die energische und rastlose Arbeit haupts\u00e4chlich auf die Untersuchung der Erkenntnis und der Willens\u00e4ufserungen gerichtet wurde, auf diejenigen Punkte also, an welchen das Experiment, die gewaltige Waffe der Naturwissenschaft, am leichtesten zur Wirkung gelangen konnte. Es liegt jedoch auch mit Bezug auf das Gef\u00fchl ein reiches Erfahrungsmaterial vor, aus der j\u00fcngsten Zeit besonders eine gr\u00f6fsere Anzahl\n\u2666\nSpezialarbeiten, in welchen einzelne Gef\u00fchle oder emotionelle Erscheinungen zum Gegenstand eingehender Untersuchungen","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"Historische Entwickelung der Gef\u00fchlslehre.\n11\ngemacht werden; eine gesammelte Bearbeitung dieses ganzen Materials unter besonderer R\u00fccksichtnahme auf eine Bestimmung der wesentlichsten, fundamentalen Eigenschaften der Gef\u00fchle ist indes noch nicht erschienen. Es mufs deshalb unsere Aufgabe werden, eine solche Bearbeitung hier zu unternehmen, um hierdurch den Grund zu legen, auf welchem sich die Systematik der Gef\u00fchle aufbauen l\u00e4fst. Zu diesem Zweck wollen wir das bereits vorliegende Erfahrungsmaterial sammeln, und insofern dieses nicht gen\u00fcgen sollte, fernere Thatsachen herbeizuschaffen suchen, um hieraus diejenigen Eigent\u00fcmlichkeiten der Gef\u00fchle abzuleiten, welche annehmbar allen emotionellen Erscheinungen zu Grunde liegen. Und vorl\u00e4ufig untersuchen wir das Verh\u00e4ltnis des Gef\u00fchls teils zu den \u00fcbrigen psychischen Zust\u00e4nden, teils zu den k\u00f6rperlichen.\n","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nDas Verhalten des Gef\u00fchls zu Empfindung und\nVorstellung.\nBestimmung des Verh\u00e4ltnisses durch Selbstbeobachtung.\n14. Unter \u201eGef\u00fchl\u201c verstehen wir vorl\u00e4ufig Zust\u00e4nde der Lust oder der Unlust im Gegensatz zu Empfindungen und Vorstellungen als den gleichg\u00fcltigen Wahrnehmungen eines gegebenen Inhalts. Anders als durch dieses gegens\u00e4tzliche Verh\u00e4ltnis l\u00e4lst sich das Gef\u00fchl schwer definieren; jeder Versuch einer n\u00e4heren Beschreibung wird nur zu vagen und unklaren Umschreibungen des n\u00e4mlichen Satzes f\u00fchren. Schon diese Thatsache zeigt, dafs die psychischen Zust\u00e4nde Lust und Unlust unserem Bewufstsein als primitive Erscheinungen dastehen, die sich nicht in minder zusammengesetzte Elemente aufl\u00f6sen lassen. Denn k\u00f6nnten Lust und Unlust bei sch\u00e4rferer Beobachtung in mehr elementare Zust\u00e4nde aufgel\u00f6st werden, so m\u00fcfste sich durch Nachweis der Elemente, aus welchen sie zusammengesetzt w\u00e4ren, eine ersch\u00f6pfendere Definition geben lassen. Die Verh\u00e4ltnisse sind hier denjenigen ganz analog, welche uns aus den einfachen Empfindungen bekannt sind. Jeder normale Mensch weifs, was es sagen will, eine Empfindung des Rot zu haben; diesen Zustand n\u00e4her zu beschreiben, ist indes unm\u00f6glich, weil derselbe sich nicht in mehr elementare aufl\u00f6sen l\u00e4fst. Wenn daher die Psychologen die Empfindungen als primitive psychische Zust\u00e4nde betrachten, deren Aufl\u00f6sung in weniger zusammengesetzte nur rein hypothetisch denkbar sei, so mufs man mit logischer Notwendigkeit das n\u00e4mliche von den Zust\u00e4nden Lust","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Verh\u00e4ltnis zwischen Gef\u00fchl und Empfindung.\n13\nund Unlust zugeben. Diese Betrachtung st\u00fctzt sich, wie unten [157\u2014164] gezeigt werden wird, auf andere, f\u00fcr die ganze Frage entscheidende Umst\u00e4nde.\n15. Der Gegensatz zwischen Lust und Unlust einerseits und jedem beliebigen Vorstellungsinhalt anderseits l\u00e4fst sich n\u00e4her dadurch charakterisieren, dafs die Vorstellungen stets \u00fcber sich selbst hinaus auf eine von dem vorstellenden Subjekt verschiedene Aufsenwelt hindeuten, w\u00e4hrend das Gef\u00fchl der Lust und Unlust nur das Subjekt selbst betrifft. Jede Vorstellung ist stets eine Vorstellung von etwas Unbeteiligtem, von etwas, das aufserhalb des vorstellenden Ich f\u00e4llt} dies ist sogar ersichtlich, wenn wir uns eine Vorstellung von unserem eigenen Ich bilden. Denn allerdings sollte die Ich Vorstellung die Vorstellung von dem Ich selbst sein und also nicht \u00fcber dieses hinausweisen ; es m\u00f6chte indes wohl unm\u00f6glich sein, ohne eine eigent\u00fcmliche Verdoppelung des Ich, mittels deren ich, der ich die Vorstellung von mir selbst habe, ein andres Ich als Objekt, d. h. als etwas Unbeteiligtes betrachte, eine klare Ichvorstellung zu bilden. Es liegt in der Natur der Sache, dafs eine derartige Verdoppelung des Bewufstseins ein entwickeltes Abstraktionsverm\u00f6gen erfordert, und die Annahme ist deshalb gewifs nicht unberechtigt, dafs nur der Mensch auf der h\u00f6chsten Entwickelungsstufe f\u00e4hig ist, eine klare Ichvorstellung zu bilden. Diese Frage ist f\u00fcr uns jedoch von keinem Belang, und wir sehen deshalb im \u00fcbrigen von dieser speziellen und einzelnstehenden Erscheinung ab. Mit Bezug auf alle anderen Vorstellungen ist es aufser allen Zweifel gestellt, dafs dieselben, wenn auch nicht sogleich von der Geburt des Individuums an, so doch auf einer sehr fr\u00fchzeitigen Entwickelungsstufe \u00fcber das Ich hinausdeuten. So ist es eine wohlbekannte Sache, dafs das unkritische Bewufstsein die Vorstellungen schlechthin als Kopieen der Aufsenwelt betrachtet: der Vorstellung von einem Tisch mit gr\u00fcner Decke entspricht ganz genau ein hiermit kongruentes Ding aufserhalb des Ich. Gegen diese naive Auffassung mufs die Wissenschaft allerdings Protest erheben, aber auch sogar wenn man die h\u00f6chst unwahrscheinliche Annahme aufstellen wollte, es werde gelingen, wissenschaftlich darzuthun, dafs es \u00fcberhaupt nichts gebe, das eine Aufsenwelt aufserhalb des Subjektes genannt werden k\u00f6nnte, so w\u00fcrden wir \u2014 praktisch genommen \u2014 darum doch kaum auf h\u00f6ren, an eine solche zu glauben und unsere Vorstellungen","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nals Zeichen f\u00fcr etwas aufserhalb unseres Ich aufzufassen. Sogar der konsequenteste Subjektivist wird in dem Nu, da er mit der Stirn wider eine Wand rennt, zu dem Glauben an eine Aufsen-welt gezwungen, die ziemlich unsanften Eingriff in sein Dasein macht; ob er sich dann nachher die Auffassung einr\u00e4sonieren kann, er allein habe die Vorstellung von der Wand, die Empfindung des Stofses und den resultierenden Schmerz erzeugt, das bleibt eine Sache f\u00fcr sich. \u2014 W\u00e4hrend also die Vorstellung uns stets als Zeichen f\u00fcr etwas aufserhalb des Subjektes dasteht, betrifft das Gef\u00fchl nur das Subjekt. IJnsere einzelnen Sinneswahrnehmungen werden in die Aufsenwelt projiziert und als Eigenschaften in die Dinge hineingelegt ; so betrachten wir im t\u00e4glichen Leben die Dinge als farbig, hart oder weich, schallend, ausgedehnt u. s. w. Das Gef\u00fchl dagegen ist nur im Subjekte ; wir betrachten den Schmerz nicht als eine Eigenschaft des Feuers, des Messers u. dergl. Obgleich Vorstellung und Gef\u00fchl, wissenschaftlich besehen, alle beide rein subjektive Zust\u00e4nde sind, wird das Gef\u00fchl doch in gewissem Sinne in h\u00f6herer | Potenz subjektiv; dasselbe ist kein Zeichen f\u00fcr irgend etwas in den Dingen aufserhalb unseres Ich.\n16. Indem wir nun das Gef\u00fchl der Lust und Unlust als\nj\nGegensatz der Empfindung und Vorstellung aufstellen, soll hier- j mit nicht gesagt sein, dafs diese psychischen Zust\u00e4nde getrennt j vork\u00e4men; im Gegenteil ist es h\u00f6chst wahrscheinlich, dafs Lust j\ni\nund Unlust nur in Verbindung mit intellektuellen Zust\u00e4nden, j mit einfachen oder zusammengesetzten Erkenntniselementen entstehen k\u00f6nnen:, F\u00fcr die moderne psychologische Auffassung der | Gef\u00fchle ist diese Betrachtung fundamental. In der \u201eKritik der Urteilskraft\u201c, die, wie schon ber\u00fchrt [10], f\u00fcr die Psychologie j der Gef\u00fchle von epochemachender Bedeutung war, dr\u00fcckt Kant sich folgendermafsen \u00fcber die Sache aus : \u201eDasjenige Subjektive an einer Vorstellung, was gar kein Erkenntnisst\u00fcck werden kann, I ist die mit ihr verbundene Lust oder Unlust1).\u201c Wie man sieht, ist hier zugleich der Gegensatz und die enge Verbindung zwischen Gef\u00fchl und Vorstellung betont. Das Gef\u00fchl ist dasjenige Subjektive, das im Gegensatz zur Vorstellung nicht als Erkenntniselement aufgefafst werden kann; die beiden Glieder lassen sich jedoch nicht trennen. Da meines Wissens Kant der erste ist,\n1) Kritik der Urteilskraft. Kirchmanns Ausgabe. S. 28.","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"Bestimmung des Verh\u00e4ltnisses; Kants Theorie.\t15\nder die Verbindung und den Gegensatz der beiden Elemente\nentschieden hervorhob, wollen wir diese Theorie k\u00fcnftig die\n\u201eKantische\u201c nennen. Die n\u00e4mliche Betrachtung ist bei den\nmeisten sp\u00e4teren deutschen Psychologen wiederzufinden; um nur\nein Beispiel aus der j\u00fcngsten Zeit zu nehmen, f\u00fchren wir folgende \u2022 \u2022\nAufserung von Wundt an: \u201eIndem wir das sinnliche Gef\u00fchl als eine dritte Bestimmung der Empfindung betrachten, welche zur Qualit\u00e4t und Intensit\u00e4t in wechselndem Grade hinzutritt, liegt hierin von selbst ausgesprochen, dafs es einen Gef\u00fchlston ohne eine begleitende Empfindung in der Wirklichkeit ebenso wenig giebt, wie eine Empfindungsqualit\u00e4t ohne Intensit\u00e4t Vorkommen kann1).\u201c Freilich ist hier nur von einem speziellen Falle die Rede, von demjenigen n\u00e4mlich, in welchem Lust oder Unlust an einfache Sinnesempfindungen verkn\u00fcpft ist, aber eben deswegen hat das Cit\u00e2t ganz besonderes Interesse. Die enge Verbindung zwischen Erkenntnis- und Gef\u00fchlselementen wird n\u00e4mlich mit Bezug auf die Vorstellungen und die Vorstellungskomplexe gew\u00f6hnlich zugegeben, w\u00e4hrend eine gewisse Neigung vorherrscht, deren G\u00fcltigkeit in bestimmten F\u00e4llen mit Bezug auf die einfachen Empfindungen zu bestreiten. Da wir im Folgenden darzuthun suchen werden, dafs eine derartige Trennung unberechtigt ist, hat es also sein Interesse zu sehen, dafs unsere Auffassung in betreff des streitigen Punktes besonders pointiert ist. \u2014 \u00dcbrigens sind es nicht nur die von Kant ausgegangenen deutschen Psychologen, welche behaupten, dafs Vorstellung und Gef\u00fchl sich nicht trennen liefsen. Auch in der englischen empirischen Psychologie ist die n\u00e4mliche Betrachtung wiederzufinden. So sagt Bain: \u201eA vague excitement felt merely as such, and not connected at the moment with any accompaniments of the senses, any properly intellectual states, is wholly irrecoverable in idea. An emotion in such an extrem form of isolation does not exist; but there are all degrees of connection\nwith the revivable sensations2).\u201c Nach diesen verschiedenen \u2022 \u2022\nAufserungen zu urteilen, wird es wohl nicht unberechtigt sein, die Verbindung zwischen den Gef\u00fchlselementen und den intellektuellen Zust\u00e4nden als eine allgemein anerkannte Theorie zu betrachten, da indes besonders mit Bezug auf deren Konsequenzen\n*) Physiologische Psychologie, 2. Aufl. I. S. 466.\n2) The Emotions and the Will. 3th ed. pag. 16\u201417.","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nnoch einige Unsicherheit herrscht, wird es notwendig sein, uns\nn\u00e4her auf die Sache einzulassen.\n17.\tUnsere Auffassung des Verhaltens zwischen den emotionellen Zust\u00e4nden (Lust und Unlust) und den intellektuellen (Empfindung und Vorstellung) l\u00e4fst sich vorl\u00e4ufig in folgendem Satze feststellen:\n18.\tEin rein emotioneller Bewufstseinszustand kommt nicht vor; Lust und Unlust sind stets an intellektuelle Zust\u00e4nde gekn\u00fcpft.\n19.\tAlles, was im t\u00e4glichen Leben gew\u00f6hnlich Gef\u00fchle genannt wird, alle wirklich existierenden Gef\u00fchlszust\u00e4nde werden demnach also komplexe Erscheinungen, die sich mittels psychologischer Analyse in minder zusammengesetzte aufl\u00f6sen lassen. Oder mit andern Worten: es ist nur eine Abstraktion, wenn wir die rein emotionellen Zust\u00e4nde, das Gef\u00fchl der Lust oder Unlust, als Zust\u00e4nde besprechen, die sich von den intellektuellen Momenten trennen liefsen; in der Realit\u00e4t sind sie mit diesen unaufl\u00f6slich verbunden. \u2014 Indem wir nun aber alle wirklichen Gef\u00fchle als zusammengesetzte Zust\u00e4nde betrachten, geraten wir auf eigent\u00fcmliche Weise mit unserer eigenen Definition des Wortes Gef\u00fchl in Streit. Denn wenn man, wie wir dies vorl\u00e4ufig thaten, das Gef\u00fchl als ausschliefsliche Zust\u00e4nde der Lust und Unlust im Gegensatz zu Empfindung und Vorstellung definiert, so bezieht sich diese Definition offenbar nur auf die emotionellen Elemente und nicht auf die reellen Gef\u00fchle, die der Theorie zufolge aufser den emotionellen Elementen gerade Empfindungen und Vorstellungen enthalten sollten. Dieser Schwierigkeit durch eine \u00c4nderung der Definition auszuweichen, ist jetzt nicht thunlich, denn nur durch das Verh\u00e4ltnis des Gegensatzes zu den intellektuellen Zust\u00e4nden l\u00e4fst sich das Gef\u00fchl bestimmen. Der nat\u00fcrlichste Ausweg w\u00e4re daher wohl der, dafs wir einen gewissen Unterschied zwischen den Ausdr\u00fccken \u201eGef\u00fchl\u201c und \u201eGef\u00fchle\u201c festhielten. Unter dem unbestimmten Ausdruck \u201eGef\u00fchl\u201c verstehen wir dann die psychologische Abstraktion, Lust und Unlust, im Gegensatz zu Empfindung und Vorstellung; unter \u201eGef\u00fchlen\u201c die reellen psychischen Zust\u00e4nde, in welchen Lust und Unlust mit Erkenntniselementen verkn\u00fcpft sind. Es bedarf kaum n\u00e4heren Nachweises, dafs diese sonderbare Zweideutigkeit des Wortes Gef\u00fchl wirklich im gangbaren psychologischen Sprachgebrauch allgemein ist. Wenn man z. B. bei","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"Konsequenzen der Kantisehen Theorie.\n17\nHoff ding folgenden Satz findet: \u201eDie Verschiedenheiten der Gef\u00fchle mufs man durch die verschiedenen Erkenntniselemente, die mit denselben verbunden sein k\u00f6nnen, zu erkl\u00e4ren suchen1)\u201c, so hat der Begriff \u201eGef\u00fchl\u201c offenbar verschiedene Bedeutung an den beiden Orten, und zwar eben die Bedeutungen, die wir als Gegensatz zu einander aufstellten. Ein MifsVerst\u00e4ndnis kann wohl kaum hieraus entstehen, die konsequente Durchf\u00fchrung einer Sonderung zwischen \u201eGef\u00fchl\u201c und \u201eGef\u00fchlen\u201c ist indes nat\u00fcrlich nicht m\u00f6glich und insofern auch nicht angemessen, als ein und dasselbe Wort lieber nicht in zwei verschiedenen Bedeutungen zu gebrauchen w\u00e4re. Wir werden deswegen im Folgenden suchen, die Unsicherheit durch einen bestimmten Sprachgebrauch zu beseitigen :\n20.\tUnter emotionellen Elementen oder G ef\u00fchls*\n\u00bb\nt\u00f6nen verstehen wir die psychologischen Abstraktionen, Lust und Unlust, von den intellektuellen Zust\u00e4nden isoliert gedacht und durch ihren Gegensatz zu diesen charakterisiert.\n21.\tUnter Gef\u00fchlen verstehen ivir die reellen psychischen Zust\u00e4nde, ivelche sowohl intellektuelle als emotionelle Elemente enthalten.\nUnsere Aufgabe im Folgenden wird nun erst die sein, die Konsequenzen der aufgestellten Theorie nachzuweisen, darauf werden wir durch Anf\u00fchrung der f\u00fcr dieselbe sprechenden Erfahrungen ihre Berechtigung darzulegen suchen, und schliefslich werden wir die gegen diese Theorie erhobenen Einw\u00fcrfe kritisch durchgehen und zu widerlegen suchen.\n22.\tGeht man davon aus, dafs jedes Gef\u00fchl ein zusammengesetzter Zustand ist, der aus intellektuellen und emotionellen Elementen gebildet wird, so braucht man keine anderen Art' unterschiede der Gef\u00fchle als nur den zwischen Lust und Unlust\n, anzunehmen. Alle die mannigfaltigen Formen, welche unsere \u2022 Gef\u00fchle annehmen k\u00f6nnen, sind dann leicht erkl\u00e4rlich durch den } wechselnden Vorstellu\u00fcgsinhalt, an welchen die Gef\u00fchlst\u00f6ne gekn\u00fcpft sind. Von einer Reihe verschiedener Gef\u00fchle, wie ; z. B. k\u00f6rperliches Wohlbefinden, \u00e4sthetischer Genufs, Hoffnung, Freude, Liebe u. s. w., l\u00e4fst sich also sagen, dafs sie, weil sie s\u00e4mtlich Lustgef\u00fchle sind, nur dadurch von einander abweichen,\nI dafs der Gef\u00fchlston Lust an verschiedene Vorstellungen gebunden\nq Psychologie in Umrissen (Deutsche \u00dcbersetzung) 1887, S. 279.\nLehmann, Die Gef\u00fchle.\t2","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nist. Ebenso l\u00e4fst sich der Unterschied zwischen Unlustgef\u00fchlen wie' k\u00f6rperlicher Schmerz, Mifsfallen, Furcht, Kummer, Zorn, Hafs u. s. w. auffassen. Wird die Theorie konsequent behauptet, so m\u00fcssen in jedem Gef\u00fchl intellektuelle Elemente enthalten sein, die dem Gef\u00fchl sein spezielles Artkennzeichen verleihen, und ein rein emotioneller Zustand kann nicht Vorkommen. Nun hat man indes gemeint, in gewissen F\u00e4llen Gef\u00fchle beobachtet zu haben, denen das Erkenntniselement durchaus abginge. Diese F\u00e4lle sind jedoch, wie sp\u00e4ter [36 u. f.] gezeigt werden soll, ziemlich zweifelhaft, und es f\u00e4llt nicht schwer, im voraus anzugeben, wie solche scheinbaren Ausnahmen entstehen k\u00f6nnen. Wir wissen, dafs je mehr die Aufmerksamkeit auf ein einzelnes Glied eines gegebenen Bewufstseinszustandes konzentriert ist, um so mehr treten andere Glieder zur\u00fcck. Hieraus folgt geradezu, dafs das emotionelle Element eines Gef\u00fchls unter gewissen Umst\u00e4nden die Aufmerksamkeit dergestalt zu fesseln im st\u00e4nde sein mufs, dafs die Erkenntniselemente fast gar nicht zur Geltung kommen k\u00f6nnen. Die Annahme ist deshalb recht nat\u00fcrlich, dafs der Beobachter in den erw\u00e4hnten Ausnahmsf\u00e4llen das intellektuelle Element des Gef\u00fchls \u00fcbersehen hat, weil das emotionelle sich besonders zur Geltung brachte. Dies ist an und f\u00fcr sich nicht unwahrscheinlicher als der entgegengesetzte Fall, dafs es intellektuelle Zust\u00e4nde gibt, in welchen der Gef\u00fchlston fast v\u00f6llig aus dem Bewufstsein verdr\u00e4ngt ist. Und da es keinem Zweifel unterworfen ist, dafs es Augenblicke gibt, in welchen der Mensch fast ausschliefslich erkennend ist, indem die gesamte Aufmerksamkeit sich auf sinnliche Wahrnehmung konzentriert, so sind \u00e4hnliche dominierende \u2014 wenn auch nicht reine \u2014 Gef\u00fchlszust\u00e4nde ebenso wenig zu bestreiten.\n23. Ein exakter Beweis f\u00fcr die Richtigkeit dieser Kantischen Theorie von dem Verh\u00e4ltnis zwischen Vorstellung und Gef\u00fchl l\u00e4fst sich schwerlich f\u00fchren, da wir die Gef\u00fchlst\u00f6ne nicht dermafsen beherrschen, dafs wir es verm\u00f6chten, dieselben nach Gutd\u00fcnken zu variieren und auf diese Weise den Satz durch Experimente darzuthun. Anderseits stellt indes die Selbstbeobachtung ein \u00e4ufserst reiches Erfahrungsmaterial zu unserer Verf\u00fcgung, so dafs bis zu einem gewissen Punkte kein Zweifel an der Berechtigung der Theorie scheint stattfinden zu k\u00f6nnen. Mit Ausnahme der sogenannten \u201ek\u00f6rperlichen\u201c Gef\u00fchle, d. h. derjenigen Gef\u00fchle, welche an einfache Empfindungen gebunden sind, ist jedes Gef\u00fchl","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"Beweise f\u00fcr die Richtigkeit der Theorie.\t19\nein Gef\u00fchl an etwas oder \u00fcber etwas. Freude, Furcht, Hoffnung, Trauer, Mitleid, Zorn, Liebe, Wehmut u. s. w. setzen s\u00e4mtlich einen Vorstellungsinhalt voraus, etwas, wor\u00fcber wir uns freuen, trauern, z\u00fcrnen u. s. w. Der Inhalt kann sehr verschieden sein, bald dieses, bald jenes, das unser Gef\u00fchl erregt; hierauf kommt es vorl\u00e4ufig nicht an. Die Hauptsache ist, dafs sich, mit der genannten anscheinenden Ausnahme, stets gewisse Vorstellungen finden, auf welche das Gef\u00fchl sich bezieht. \u2014 Beim ersten Anblick m\u00f6chte es sonderbar erscheinen, dafs sehr verschiedene Vorstellungen wesentlich dasselbe Gef\u00fchl in uns erregen k\u00f6nnen, aber auch dies wird verst\u00e4ndlich, wenn man eine gr\u00f6fsere Anzahl Erfahrungen betrachtet. Um bei einem bestimmten Beispiel zu bleiben, wollen wir das Gef\u00fchl der Freude untersuchen. Es ist eine Thatsache, dafs dasselbe sich unter zahlreichen und sehr verschiedenen Verh\u00e4ltnissen \u00e4ufsert. N\u00e4here Beobachtung wird indes zeigen, teils dafs alle diese Verh\u00e4ltnisse ein wesentlich gleichartiges Gepr\u00e4ge tragen, und teils, dafs das Gef\u00fchl in jedem einzelnen Falle einen eigent\u00fcmlichen Charakter hat. Alles, was irgendwie Freude in uns erregen kann, hat das gemeinschaftliche Merkmal: dafs es uns selbst oder anderen in irgend einer Richtung frommt. Es k\u00f6nnen Konflikte entstehen; was dem andern frommt, kann uns selbst direkt schaden. Trauer und Freude werden dann mit einander ringen, und es wird von den Umst\u00e4nden abh\u00e4ngen, welches Gef\u00fchl die Oberhand gewinnt. Aber gerade in solchen F\u00e4llen scheint die Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchls vom Vorstellungsinhalt am deutlichsten hervorzutreten. Ist die Aufmerksamkeit ausschliefs-lich auf das das Individuum selbst Betreffende gerichtet, so wird die Trauer vorherrschend sein; sobald wir dagegen uns selbst vergessen k\u00f6nnen, wenn auch nur einen Augenblick, sind wir auch im st\u00e4nde, uns dar\u00fcber zu freuen, dafs es dem andern wohl geht. Das Gemeingepr\u00e4ge der Vorstellungen in allen Gef\u00fchlen der Freude ist also unzweifelhaft. Anderseits lehrt die Erfahrung uns ebenso sicher, dafs jede Freude je nach dem Vorstellungsinhalt ihren besonderen Charakter hat. Die Freude \u00fcber das Bevorstehende, die Freude der Erwartung ist anderen Gepr\u00e4ges als die Freude \u00fcber das bereits Eingetroffene; die sympathische Freude, d. h. die Freude \u00fcber das einen andern\nBetreffende, weicht bedeutend von der autopathischen ab u. s. w. \u2022 \u2022 \u2022 \u2022\n\u00dcberall finden wir wesentliche \u00c4hnlichkeiten und besondere\nEigent\u00fcmlichkeiten derjenigen Vorstellungsgruppen, welche zum\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nGef\u00fchl der Freude mitwirken, und somit ebenfalls Variationen des Gef\u00fchls selbst. Die nat\u00fcrliche Erkl\u00e4rung hiervon scheint mit der Annahme gegeben zu sein, dafs die Art des Gef\u00fchls durch die Vorstellungen bestimmt wird, an welche das Gef\u00fchl gekn\u00fcpft ist. Und was nun f\u00fcr den einzelnen hier betrachteten Fall gilt, l\u00e4fst sich auch als f\u00fcr alle anderen g\u00fcltig nachweisen.\n24.\tHiermit ist die Sache indes keineswegs abgethan, denn nicht nur k\u00f6nnen wir nachweisen, dafs gr\u00f6fsere oder geringere Variationen des Vorstellungsinhalts entsprechende \u00c4nderungen der Gef\u00fchle herbeif\u00fchren, sondern die Erfahrung scheint auch daf\u00fcr zu sprechen, dafs die gesamte Bedeutung eines Gef\u00fchls f\u00fcr das Seelenleben durch die dasselbe mitkonstituierenden Erkenntniselemente bestimmt wird. Vergleichen wir, um zwei Extreme zu nehmen, die erotische Liebe mit dem schwachen Lustgef\u00fchl, das normal an jede einzelne Farbe oder jeden einzelnen Ton verkn\u00fcpft ist, so tritt dieses Verh\u00e4ltnis deutlich hervor. So reich und mannigfaltig der Vorstellungsinhalt in ersterer ist, so tief ist das Gef\u00fchl, so gewaltig ist dessen Linflufs auf das Menschenleben} die Gef\u00fchlsbetonung der einfachen T\u00f6ne und Farben wird im Vergleich hiermit etwas ganz Untergeordnetes, von rein momentaner Bedeutung. Die Bedeutung der Gef\u00fchle scheint also wirklich von dem Reichtum und Umfang des Vorstellungsinhalts abh\u00e4ngig zu sein. Es w\u00e4re leicht, eine lange Reihe von Beispielen in derselben Richtung anzuf\u00fchren ^ die Thatsachen sind hier so beredt, dafs ein fernerer Beweis der Theorie \u00fcberfl\u00fcssig scheinen m\u00f6chte. Es findet sich indes noch ein Faktum, das n\u00e4her hervorgehoben zu werden verdient. .\n25.\tEs ist eine bekannte Sache, dafs man, um ein Gef\u00fchl wiederzuerzeugen, sich in der Erinnerung m\u00f6glichst lebhaft m diejenige Lage zur\u00fcckversetzen mufs, in welcher man dasselbe hatte. Je vollkommener dies gelingt, um so lebhafter wird auch das Gef\u00fchl zur Geltung kommen, und kann man umgekehrt aus irgend einem Grunde diejenigen Vorstellungen nicht wiedererzeugen, an welche der Gef\u00fchlston gekn\u00fcpft war, so wild auch das Reproduzieren des Gef\u00fchls nicht gelingen. Dann kann man sich allerdings wohl entsinnen, dafs man das Gef\u00fchl gehabt habe, man kann aber nicht \u201ein der Erinnerung f\u00fchlen\u201c. Dies ist 7eben mit solchen Gef\u00fchlen der Fall, deren Erkenntniselemente sehr einfach und nichtzusammengesetzt sind. So weifs man sehr wohl, dafs man z. B. im warmen Bade lebhaftes k\u00f6rperliches","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"Beweise f\u00fcr die Richtigkeit der Theorie.\n21\nWohlbehagen f\u00fchlen kann, da es aber ganz unm\u00f6glich sein m\u00f6chte, eine W\u00e4rmeempfindung zu reproduzieren, vermag man auch nicht die W\u00e4rme in der Erinnerung zu geniefsen. Dasselbe gilt von anderen einfachen Empfindungen. Es w\u00e4re \u00e4ufserst angenehm, an einem heifsen Sommertag die Empfindung in der Erinnerung hervorrufen zu k\u00f6nnen, die man hat, wenn ein k\u00fchler Trunk hinabgleitet. Man w\u00fcrde dann zweifelsohne im Moment den ganzen Genufs f\u00fchlen k\u00f6nnen, den das Stillen eines brennenden Durstes erzeugt, und obendrein h\u00e4tte man sowohl hygieinische als \u00f6konomische Vorteile. Dieser Genufs scheint dem Menschen nun aber ein f\u00fcr allemal entzogen zu sein, weil er sich einer so einfachen und so unbestimmt lokalisierten Empfindung nicht zu erinnern vermag. Sobald dagegen der Vorstellungsinhalt sich reproduzieren l\u00e4fst, tritt auch das Gef\u00fchl mehr oder weniger deutlich hervor, und je leichter die Reproduktion der Vorstellung stattfindet, um so leichter und vollst\u00e4ndiger l\u00e4fst sich in der Erinnerung geniefsen. Dies ist am besten auf dem \u00e4sthetischen Gebiete zu ersehen. Dafs Poesie und Skulptur sich weit besser als Malerei und Musik in der Erinnerung geniefsen lassen, ist nicht zu bezweifeln. Und die Ursache hiervon kann kaum eine andere sein als die, dafs wir S\u00e4tze und Raumbilder durchweg besser im Ged\u00e4chtnis behalten als Farben und T\u00f6ne. Hat man ein Gedicht auswendig gelernt, so sind alle \u00e4ufseren Sinnesreize so gut wie \u00fcberfl\u00fcssig*, der Genufs kann gleich grofs sein, ob man es leise f\u00fcr sich wiederholt oder es vorlesen h\u00f6rt, ja er kann im ersteren Falle sogar gr\u00f6fser als im letzteren sein, indem z. B. ein fader Vortrag die \u00e4sthetische Wirkung zu verderben vermag. In bestimmten S\u00e4tzen ausgedr\u00fcckten Gedanken zun\u00e4chst vermag unser Ged\u00e4chtnis wahrscheinlich Raumbilder am leichtesten genau aufzubewahren ; deshalb scheinen auch Skulptur und Zeichnungen in betreff der Leichtigkeit, womit sie sich in der Erinnerung geniefsen lassen, der Poesie am n\u00e4chsten zu stehen. Dies kann sich indes r\u00fccksichtlich der verschiedenen Individuen etwas verschieden stellen; unm\u00f6glich ist es jedenfalls nicht, dafs musikalische Menschen leichter T\u00f6ne im Ged\u00e4chtnis behalten. Im allgemeinen jedoch werden T\u00f6ne und Farben verh\u00e4ltnism\u00e4fsig schwer behalten, und Lotze hat zweifelsohne recht darin, dafs Musik und Malerei ohne irgend einen \u00e4ufseren Reiz sich nur unvollkommen geniefsen lassen*). Wir sehen also\nT) Geschichte der \u00c4sthetik. S. 45","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\n\u00fcberall, dafs die Beproduktion der Gef\u00fchle nur in demselben Grade m\u00f6glich ist, wie das Wiedererzeugen derjenigen Vorstellungen gelingt, mit welchen der Gef\u00fchlston normal verbunden ist, und wir haben hiermit also einen neuen Beweis f\u00fcr die \u00e4ufserst enge Beziehung zwischen den intellektuellen und den emotionellen Elementen.\n26. Weil wir es also nun als in allerh\u00f6chstem Grade wahrscheinlich betrachten d\u00fcrfen, dafs nie ein reiner Gef\u00fchls--zustand, ein Gef\u00fchlston ohne irgend ein Erkenntniselement vorkommt1), sind wir darum aber doch nicht zu der Annahme berechtigt, die Gef\u00fchlst\u00f6ne liefsen sich aus den intellektuellen Zust\u00e4nden ableiten. Dem scheinen verschiedene Thatsachen zu widerstreiten. So wurde schon oben [14] hervorgehoben, dafs eine n\u00e4here Beschreibung der Gef\u00fchlst\u00f6ne Lut und Unlust unm\u00f6glich sei, und dafs dieser Umstand uns lehre, eine Aufl\u00f6sung der genannten Zust\u00e4nde in weniger zusammengesetzte oder eine Ableitung aus anderen bekannten Zust\u00e4nden, den Vorstellungen z. B., lasse sich nicht auf Grundlage der Selbstbeobachtung durchf\u00fchren. Ebensowenig wie ein Blinder durch Beschreibung erfahren kann, wie die Farben aussehen, ebenso unm\u00f6glich wird es sein, einem Menschen, der niemals Lust f\u00fchlte, mitzuteilen, wie dieser Zustand ist. Und doch m\u00fcfste dies sich thun lassen, wenn die Gef\u00fchlst\u00f6ne durch eben die Vorstellungen, an welche sie im allgemeinen gebunden sind, gegeben w\u00e4ren. Dafs dies aber nicht der Fall ist, wird am deutlichsten daraus ersichtlich, dafs eine und dieselbe Vorstellung keineswegs stets mit demselben Gef\u00fchlston verbunden ist, weder bei verschiedenen Menschen, noch bei demselben Menschen zu verschiedenen Zeiten. Also ebensowenig wie man a priori sagen kann, eine \u00c4therschwingung mit der Wellenbreite 0,52 u m\u00fcsse die Empfindung des Gr\u00fcn hervorrufen, ebensowenig l\u00e4fst sich sagen, es liege in der Natur der einzelnen Vorstellungen, dieselben m\u00fcfsten notwendigerweise einen bestimmten Gef\u00fchlston erregen. Es ist stets nur die Erfahrung, die uns lehrt, eine gewisse Vorstellung habe unter gegebenen Verh\u00e4ltnissen ein gewisses Gef\u00fchl erzeugt; das emotionelle Element ist also etwas- Neues, das aus vorl\u00e4ufig uns unbekannten Ursachen zur Vorstellung hinzutritt. Nur so viel scheinen wir mit Sicherheit sagen zu k\u00f6nnen, dafs\n0 N\u00e4heres \u00fcber die hiergegen erhobenen Einw\u00fcrfe im Folgenden.","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"Die Herbartianische Auffassung.\n23\ndie Vorstellungen selbst, an welche sich die Gef\u00fchlst\u00f6ne kn\u00fcpfen, eine zwar notwendige, jedoch nicht hinl\u00e4ngliche Bedingung f\u00fcr deren Entstehen sind; hierzu ist aufser der die Vorstellungen im Subjekte erzeugenden Th\u00e4tigkeit wenigstens eine andere Th\u00e4tigkeit erforderlich.\nNachdem wir nun die Thatsachen hervorgezogen haben, die sich zur Verteidigung der Kan tischen Auffassung anf\u00fchren lassen, gehen wir jetzt zu einer kritischen Betrachtung der von verschiedenen Seiten gegen dieselbe erhobenen Einw\u00fcrfe \u00fcber.\nDie Herbartianische Auffassung des Verh\u00e4ltnisses.\n27. In erster Beihe unter den Widersachern der Theorie treffen wir H e r b a r t und seine Anh\u00e4nger an. Eie Herbartianer haben sich dermafsen an der engen Verbindung zwischen den intellektuellen und den emotionellen Elementen versehen, dafs sie den anscheinend primitiven, urspr\u00fcnglichen Charakter der letzteren v\u00f6llig aufser Acht lassen. Sie fassen alle eigentlichen Gef\u00fchle daher als ein Ergebnis der Wechselwirkung der Vorstellungen auf. Freilich sind es keine Thatsachen, was zur Behauptung dieser Anschauung gew\u00f6hnlich ins Treffen gef\u00fchrt wird; da die Herbartsche Schule indes noch sehr verbreitet ist und viele der bekanntesten Psychologen derselben angeh\u00f6ren, k\u00f6nnen wir ihre Angriffe nicht stillschweigend \u00fcbergehen. Hierzu kommt aufserdem, dafs sich in der Herbartschen Auffassung der Gef\u00fchle ein einzelnes Moment findet, welches von den Kritikern, wenn auch nicht \u00fcbergangen, so doch jedenfalls bisher ziemlich lose behandelt wurde. Aber gerade diese Seite der Sache scheint gr\u00f6fseres Interesse zu verdienen, indem die n\u00e4mliche Anschauung in der j\u00fcngsten Zeit bei den Psychophysikern auftauchte, bei denen sie einen nicht geringen Anschlufs zu linden scheint, so dafs eine eingehendere Behandlung hier am Platze sein m\u00f6chte. Da die Herbartsche Theorie im Laufe der Zeit indes etwas modifiziert worden ist, halte ich mich hier aus-schliefslich an die beiden j\u00fcngsten Arbeiten von dieser Seite, an Nahlowskys und Volkmanns Werke1). Diese beiden\n\u00ef) Nahlowsky: Das Gef\u00fchlsleben. Leipzig 1884. Volkmann: Lehrbuch der Psychologie vom Standpunkte des Realismus. 2 Bde. C\u00f6tlien 1884\u20141885.","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\nForscher scheinen sich an allen Punkten in v\u00f6lliger \u00dcbereinstimmung zu befinden, ausgenommen, was die Prinzipien der Einteilung der Gef\u00fchle betrifft, eine Frage, die um diesen Zeitpunkt f\u00fcr uns von gar keinem Belang ist. und wir k\u00f6nnen ihre Arbeiten daher zu gegenseitiger Erg\u00e4nzung benutzen. Wir gehen nun auf die Sache selbst los.\n28. Der Weg, auf welchem die Herbartianer zu ihrer\neigent\u00fcmlichen Auffassung gelangten, ist ihrer eigenen Aussage\n_ _ * \u00ab\nnach der der Spekulation. Unter der \u00dcberschrift: \u201eWesen\nund Ursprung des Gef\u00fchls im allgemeinen\u201c findet man bei\n\u2022 \u2022\nNahlowsky folgende Aufserung : \u201eBei der Erkl\u00e4rung der Gef\u00fchle gibt es zwei wesentliche Anhaltspunkte: die Grundlehren der spekulativen Psychologie und die Erfahrung1).\u201c Sieht man n\u00e4her nach, so zeigt es sich jedoch, dafs zwischen dem, was die Herbartianer Spekulation nennen, und vielem von dem, was auf einem weit sp\u00e4teren Stadium eine rein empirische Behandlung benannt wurde, kein \u00fcberm\u00e4fsig grofser Unterschied ist. Die Spekulation beginnt n\u00e4mlich mit der \u201eMetaphysischen Entwickelung des Begriffes der Seele\u201c. In einem gr\u00f6fseren Abschnitt mit dieser \u00dcberschrift findet sich bei Y olkmann folgendes: \u201eDie erste Stufe in der spekulativen Entwickelung des Seelenbegriffes bildet die Feststellung und Ausdeutung von drei Thatsachen, die wohl niemals ernstlich in Zweifel gezogen worden sind. Erstlich: gegeben ist uns eine Mehrheit von Vorstellungen. Zweitens: gegeben ist uns in jedem Momente der\nSelbstbeobachtung das Bewufstsein der Einheit dieses Momentes.\n\u2022 \u2022\nDrittens: gegeben ist uns bei dem \u00dcberblicke \u00fcber verschiedene Bewufstseinsmomente das Selbstbewufstsein als das einheitliche Bewufstsein dieser Momente2).\u201c Aus diesen Thatsachen wird nun die Seele abgeleitet \u201eals der einfache Tr\u00e4ger aller Vorstellungen , gedacht im Zusammen mit anderen einfachen Wesen\u201c3). Denn da die Vorstellungen uns als Zust\u00e4nde gegeben seien, setzten sie notwendigerweise einen Tr\u00e4ger dieser Zust\u00e4nde voraus, und das Selbstbewufstsein zeige uns, dafs es f\u00fcr alle Vorstellungen des Individuums nur einen einzigen Tr\u00e4ger, nicht aber eine Mehrheit von Tr\u00e4gern geben k\u00f6nne. Und dieser\n!) Das Gef\u00fchlsleben. 8. 41.\nPsychologie Bd. I. S. 59. 3) Ib. 8. 71.","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"I\nKritik der Herbartianisclien Auffassung.\t25\neinzige Tr\u00e4ger m\u00fcsse schliefslicli ein nichtzusammengesetzter sein, denn andernfalls h\u00e4tten wir mehrere Tr\u00e4ger und nicht einen einzigen allein. Da nun der Tr\u00e4ger der Vorstellungen dieselben nicht von selbst, ohne Ursache erzeugen k\u00f6nne, so m\u00fcsse es also ebenfalls andere einheitliche Wesen geben, die durch Einwirkung auf den Tr\u00e4ger die Bildung der Vorstellungen zu verursachen verm\u00f6chten. Somit sei also die Richtigkeit des angef\u00fchrten metaphysischen Seelenbegriffs dargelegt. Gibt man nun dessen Richtigkeit zu, so sind hiermit die \u00fcbrigen psychologischen Lehren der Herbartianer angenommen, da diese nur einfache Konsequenzen des spekulativen Ausgangspunktes sind. Speziell mit Bezug auf die Gef\u00fchle folgt hieraus: \u201eErstens, dafs nur die Empfindungen allein primitive Seelenzust\u00e4nde sind, alle anderen (mithin auch die Gef\u00fchle) dagegen abgeleitete. Zweitens: dafs es f\u00fcr die Psychologie nur zwei Erkl\u00e4rungsprinzipien gibt : die Wechselwirkung zwischen Seele und Leib (beziehentlich zwischen Seele und Cerebralsystem) f\u00fcr die primitiven, die Wechselwirkung zwischen den bereits vorhandenen Vorstellungen f\u00fcr die abgeleiteten Seelenzust\u00e4nde1).\u201c Bevor wir nun die Deduktionen der Herbartianer weiter verfolgen, wollen wir einen Augenblick innehalten, um zu sehen, inwiefern der eigentliche Ausgangspunkt richtig ist.\n29. Die genannten Thatsachen, auf welche der Herbartsche Seelenbegriff aufgebaut ist, sind aufser allen Zweifel gestellt. Dieselben sind die fundamentalen Beobachtungen der Psychologie, und mit ihnen mufs deshalb jede Psychologie beginnen, sie m\u00f6ge sich spekulativ oder empirisch nennen. Die Herbartianer machen sich aber gewifs eines grofsen Fehlers schuldig, indem sie \u00fcbersehen, dafs wir in unserem Bewufstsein ebensowohl Gef\u00fchle als Vorstellungen finden, und dem unmittelbaren Selbst-bewufstsein stellen die Gef\u00fchle der Lust und Unlust sich als primitive, nichtzusammengesetzte Zust\u00e4nde dar. Inwiefern sie wirklich nichtzusammengesetzt sind, kann Zweifel unterworfen sein ; es gibt vielleicht vieles, was der Auffassung der Herbartianer das Wort redet, auf Selbstbeobachtung l\u00e4fst sich dieselbe jedoch nicht st\u00fctzen. Wie bereits gesagt: dem unbefangenen Beobachter stehen ein Lustgef\u00fchl und eine Rotempfindung als gleich primitive Zust\u00e4nde da, und deshalb wird es zweifelsohne am richtigsten\n1) Das Gef\u00fchlsleben. S. 41\u201442.","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\nsein \u2022\u2014 so wie ich es that \u2014 davon auszugehen, dafs man mit zwei wesentlich verschiedenen psychischen Erscheinungen zu thun hat. Zeigt es sich dann im Laufe der Untersuchungen, dafs wichtige Gruppen von Thatsachen unter der Voraussetzung besser verst\u00e4ndlich werden, dafs die Gef\u00fchlst\u00f6ne zusammengesetzte Zust\u00e4nde seien, so wird es hierdurch ja berechtigt, dieses hypothetisch anzunehmen. Wenn man, wie die Herbartianer, damit beginnt, festzustellen, nur die Vorstellungen seien primitive psychische Zust\u00e4nde, so wird der Satz, die Gef\u00fchle seien abgeleitete Zust\u00e4nde, nur eine einfache Umschreibung des Ausgangspunktes ; es fehlt dann aber an jeder Spur eines Beweises f\u00fcr die Richtigkeit des Satzes. Es mufs daher auf eine n\u00e4here Untersuchung ankommen, ob derselbe sich behaupten l\u00e4fst oder nicht.\n30. Aus den oben citierten S\u00e4tzen Nahlowskys: 1) nur die Empfindungen allein seien primitive Seelenzust\u00e4nde, alle anderen (mithin auch die Gef\u00fchle) dagegen abgeleitete; 2) es gebe nur zwei Erkl\u00e4rungsprinzipien f\u00fcr die Psychologie: die Wechselwirkung zwischen Seele und Leib f\u00fcr die primitiven, die Wechselwirkung zwischen den bereits vorhandenen Vorstellungen f\u00fcr die abgeleiteten Seelenzust\u00e4nde \u2014 folgt geradezu, dafs die Gef\u00fchle in der Wechselwirkung zwischen den Vorstellungen begr\u00fcndet sein m\u00fcfsten. Nun wissen wir indes erfahrungsm\u00e4fsig, dafs emotionelle Elemente, Lust und Unlust, an ganz isolierte Empfindungen gebunden sein k\u00f6nnen, an Farben, T\u00f6ne, Geschmacks-, Geruchs-, W\u00e4rme- und K\u00e4lteempfindungen u. s. w., wo alle Wechselwirkung zwischen mehreren intellektuellen Elementen so gut wie ausgeschlossen ist. Dergleichen Zust\u00e4nde k\u00f6nnen vom Herbartschen Standpunkt aus nicht Gef\u00fchle genannt werden ; sie werden deshalb betonte Empfindungen benannt, und zwischen diesen und den eigentlichen Gef\u00fchlen wird scharf gesondert. Diese Sonderung finden die Herbartianer nun ferner durch die Verh\u00e4ltnisse begr\u00fcndet, unter welchen die beiden Gruppen von Erscheinungen entstehen. Die \u201ebetonten\u201c Empfindungen entst\u00fcnden n\u00e4mlich, wenn ein \u00e4ufserer Reiz ein Sinnesorgan treffe und physiologische \u00c4nderungen des Nervensystems verursache; ihre \u201eT\u00f6ne\u201c be-zeichneten daher eine Hemmung oder Unterst\u00fctzung der organischen Lebensth\u00e4tigkeit1). Die Gef\u00fchle dagegen seien von aller\n0 Uas Gef\u00fchlsleben. S. 12.","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"Kritik der Herbartianisehen Auffassung.\t27\n\u00e4ufseren Reizung der Sinnesorgane unabh\u00e4ngig, dieselben entst\u00fcnden nur durch Wechselwirkung zwischen den Vorstellungen und bezeichneten auf diese Weise eine Hemmung oder Unterst\u00fctzung der psychischen Lebensth\u00e4tigkeitenx).\n3L Die mit notwendiger Konsequenz aus der Herbartschen spekulativen Psychologie hervorgehende Sonderung zwischen betonten Empfindungen und eigentlichen Gef\u00fchlen l\u00e4fst sich'jedoch, wie wir jetzt sehen werden, nicht wohl mit der Erfahrung in \u00dcbereinstimmung bringen. Erstens widerstreitet dieselbe den\u00ab Ergebnissen der Selbstbeobachtung. Das an die einfachen Sinnesempfindungen gebundene Moment der Lust und Unlust unterscheidet sich in keiner inneren Beziehung von demjenigen, welches in den \u201eeigentlichen\u201c oder \u201eh\u00f6heren\u201c Gef\u00fchlen vorhanden ist. Das Gef\u00fchl kann in dem einen Falle st\u00e4rker und tiefer, in dem andern schw\u00e4cher und fl\u00fcchtiger sein, aber teils sind dies nur Gradunterschiede, teils Unterschiede, die durch die Vorstellungen begr\u00fcndet sind, an welche das emotionelle Element gebunden ist [24]. Lust und Unlust machen sich unter allen Umst\u00e4nden auf dieselbe Weise geltend, welche Gef\u00fchle uns auch beseelen m\u00f6chten, und kein Mensch kann bei innerer Beobachtung einen Wesensunterschied zwischen den verschiedenen Zust\u00e4nden der Lust und Unlust finden, es sei denn, dafs er mit ganz bestimmten, vorausgefafsten Anschauungen ans Werk ginge. Der wesentliche Unterschied, den die Herbartsche Psychologie zwischen dem Gef\u00fchlstone der Empfindungen und den eigentlichen Gef\u00fchlen postuliert, findet also keine St\u00fctze an der Selbstbeobachtung ; im Gegenteil scheint alle Lust und Unlust der n\u00e4mlichen Art zu sein, und es wird daher eine sehr mifsliche Sache, jeder f\u00fcr sich eine besondere Entstehungsweise beizulegen. \u2014 Gehen wir hierauf zu einer Betrachtung der physiologischen Verh\u00e4ltnisse \u00fcber, so ermangelt die Sonderung, streng genommen, auch jeder St\u00fctze an diesen. Der Herbartschen Theorie zufolge sollen die betonten Empfindungen sich dadurch von den \u201eGef\u00fchlen\u201c unterscheiden, dafs das Entstehen der ersteren haupts\u00e4chlich auf physiologische Vorg\u00e4nge basiert sei, w\u00e4hrend\ndies in betreff der letzteren nicht der Fall w\u00e4re; die \u201eGef\u00fchle\u201c\n>\nwerden als ein Ausschlag rein psychischer Th\u00e4tigkeit aufgefafst. Sind wir nun zwar nicht im st\u00e4nde, zu beweisen, dafs diese\nDas Gef\u00fchlsleben. S. 44.","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\nAuffassung unrichtig ist, so hat sie doch in hohem Mafse die Wahrscheinlichkeit wider sich. Es wird n\u00e4mlich in einem folgenden Abschnitte nachgewiesen werden, dafs jedes \u201eeigentliche\u201c Gef\u00fchl (in Herbartianischem Sinne) dergestalt mit organischen Vorg\u00e4ngen verwoben und durch dieselben bestimmt ist, dafs es v\u00f6llig unm\u00f6glich wird, dasselbe als Ausschlag einer ausschliefslich psychischen Th\u00e4tigkeit zu betrachten. Es resultiert also, dafs sowohl die innere Beobachtung als die physiologischen That-sachen zun\u00e4chst der Herbartschen Sonderung zwischen Gef\u00fchlen und betonten Empfindungen widersprechen.\n32.\tAn diesem Punkte scheint die Kritik der Herbartschen Gef\u00fchlslehre gew\u00f6hnlich Halt gemacht zu haben; dies ist aber meines Erachtens etwas zu fr\u00fch. Wird die Richtigkeit der oben gegen die Herbartianer erhobenen Einw\u00fcrfe zugegeben, so ist hiermit n\u00e4mlich erst bewiesen: 1) dafs die Sonderung zwischen Gef\u00fchlen und T\u00f6nen der Empfindungen unnat\u00fcrlich, der Erfahrung widerstreitend ist, denn diese zeigt, dafs die beiden genannten Gruppen von Erscheinungen in allem Wesentlichen so gleichartig sind, dafs sie denselben Ursprung haben m\u00fcssen; 2) dafs infolgedessen die Gef\u00fchle nicht aus einer Wechselwirkung zwischen den Vorstellungen herr\u00fchren k\u00f6nnen. Bei den T\u00f6nen der primitiven Empfindungen ist eben der Natur der Sache zufolge ein solcher Ursprung ausgeschlossen, und mithin mufs diese Ausdeutung auch mit Bezug auf die Gef\u00fchle verlassen werden, wenn Gef\u00fchle und T\u00f6ne der Empfindungen den n\u00e4mlichen Ursprung haben sollen. Hiermit ist jedoch der Hauptpunkt der Herbartschen Theorie : die Gef\u00fchle seien abgeleitete, zusammengesetzte Zust\u00e4nde, noch nicht widerlegt. Denn ist es gleich unm\u00f6glich, dafs die Gef\u00fchlst\u00f6ne der Empfindungen auf die Weise entstehen k\u00f6nnen, wie die Herbartianer sich das Entstehen der eigentlichen Gef\u00fchle denken, n\u00e4mlich durch eine Wechselwirkung zwischen Vorstellungen, so k\u00f6nnte ja das Umgekehrte der Fall sein, dafs die eigentlichen Gef\u00fchle auf dieselbe Weise wie die T\u00f6ne der Empfindungen entst\u00fcnden. Diese M\u00f6glichkeit ist meines Wissens in den bislang vorliegenden Kritiken der Herbartschen Auffassung nicht sonderlich ber\u00fccksichtigt worden, und wir m\u00fcssen uns daher hier ein wenig n\u00e4her\nauf dieselbe einlassen.\n\u2022 \u2022\n33.\tUber die T\u00f6ne der Empfindungen sagt Nahlowky: \u201eDen St\u00f6rungswert, d. h. das Wie seines (des Reizes) Eingriffes,","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"Kritik der Herbartianischen Auffassung.\n29\noder mit anderen Worten jenes Verh\u00e4ltnis, in welches sich der betreffende Reiz teils zu der in demselben Moment vorhandenen tempor\u00e4ren Verfassung und Stimmung des affizierten Nerven, teils weiter zu den Prozessen des vegetativen Lebens setzt, bezeichnen wir als den Ton der Empfindung1).\u201c Mit anderen Worten: der Ton der Empfindung ist das psychische Ergebnis\naller der auf Anlafs eines \u00e4ufseren Reizes im Organismus hervor-*\t\u2022 \u2022\n. gerufenen \u00c4nderungen. Dafs solche \u00c4nderungen wirklich stattfinden, darf als durchaus unzweifelhaft betrachtet werden. Wir werden in einem folgenden Abschnitte sehen, dafs jede Reizung des Organismus aufser der Ausl\u00f6sung einer Bewegung des besonders angegriffenen Sinnesnerven unter anderem mehr oder minder bedeutende \u00c4nderungen des Blutzuflusses nach den verschiedenen Teilen des K\u00f6rpers erzeugt, sowie auch fast stets i die Atembewegung und der Herzschlag dadurch ver\u00e4ndert werden. Sind diese organischen \u00c4nderungen hinl\u00e4nglich ausgepr\u00e4gt, so gelangen sie als Organempfindungen, \u00c4nderungen des Lebensgef\u00fchls zum Bewufstsein, und es liegt daher innerhalb der Grenze der M\u00f6glichkeiten, dafs die an eine primitive Sinnesempfindung gebundene Lust oder Unlust in der That ein zusammengesetzter Zustand, n\u00e4mlich eine Summe von Organempfindungen w\u00e4re. Eine ganz analoge Betrachtung l\u00e4fst sich nat\u00fcrlich mit Bezug auf die h\u00f6heren Gef\u00fchle durchf\u00fchren. Wir werden sp\u00e4ter sehen, dafs \u00fcberall da, wo sich mit einer Vorstellung oder einer Vorstellungsreihe ein merkbares Element der Lust und Unlust verkn\u00fcpft, man auch eine gleichzeitige Reihe organischer \u00c4nderungen nachweisen kann, so dafs es also auch hinsichtlich dieser Gef\u00fchlszust\u00e4nde denkbar w\u00e4re, die Lust und Unlust sei kein neues psychisches Element, sondern nur eine Summe von Organempfindungen. Hier steht den Herbartianern also noch ein Ausweg offen: wenn sie mit derjenigen Gruppe von Psychophysikern, die in der j\u00fcngsten Zeit eben die hier dargestellte Auffassung der Natur des Gef\u00fchls behauptet haben, gemeinschaftliche Sache machten, w\u00fcrden sie noch verteidigen k\u00f6nnen, was wohl als der Hauptpunkt der Herbartschen Theorie aufzufassen ist, n\u00e4mlich: die Gef\u00fchle enthielten kein neues, von den Vorstellungen verschiedenes Element, und seien mithin abgeleitete Zust\u00e4nde.\n*) Das Gef\u00fchlsleben. S. 9.","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022 \u2022\n30\tUber die Natur der Gef\u00fchle.\n34. Eine grofse Frage bleibt es indes, ob diese Auffassung der Gef\u00fchlst\u00f6ne Lust und Unlust als einer Summe von Organempfindungen wirklich haltbar ist. Dieselbe a priori als unrichtig abweisen kann man sicherlich nicht. Der Umstand, dafs Lust und Unlust sich der Selbstbeobachtung als primitive Zust\u00e4nde darstellen, beweist offenbar durchaus nichts. Mit gleich grofsem Recht w\u00fcrde man alsdann behaupten k\u00f6nnen, die Vorstellung der r\u00e4umlichen Entfernung sei ein neues, nichtzusammengesetztes psychisches Element, denn so scheint es der Selbstbeobachtung und doch bezweifelt heutzutage wohl kaum irgend ein Psycholog, dafs die Vorstellung der r\u00e4umlichen Entfernung das Produkt einer Reihe von Muskelempfind\u00fcngen ist, die das kleine Kind m\u00f6glicherweise jede f\u00fcr sich aufgefafst und um das Auge lokalisiert hat, die im Laufe der Zeit indes so h\u00e4ufig als Mafs-stab f\u00fcr die Entfernung des betrachteten Gegenstandes benutzt worden sind, dafs der Erwachsene zuletzt die Entfernung unmittelbar sinnlich wahrzunehmen glaubt. Ebenso k\u00f6nnte es sich ja mit dem Gef\u00fchl der Lust und Unlust verhalten. Dem entwickelten Individuum stehen diese als primitive Zust\u00e4nde da, darum k\u00f6nnten sie jedoch sehr wohl auf einer Verschmelzung von Organempfindungen beruhen. Indes l\u00e4fst sich vieles hiergegen sagen. Schon der Umstand, dafs die Organempfindungen selbst ausgepr\u00e4gt gef\u00fchlsbetont sein k\u00f6nnen . und dies sogar gew\u00f6hnlich sind, macht es in hohem Grade unwahrscheinlich, dafs die Gef\u00fchlst\u00f6ne nur eine Summe von Organempfindungen sein sollten. Denn wodurch unterschiede sich dann in einem gegebenen Moment die einzelne Organempfindung von der grofsen Masse, deren Summe die begleitende Lust oder Unlust ausmachte ? Es mufs gewifs zugegeben werden, dafs hier ein dunkler Punkt entsteht, \u00fcber welchen man schwerlich anders hinwegkommt, als gerade wenn man Lust und Unlust als primitive psychische Elemente auffafst. Eine endliche Beantwortung der vorliegenden Frage l\u00e4fst sich auf dem jetzigen Stadium unserer Untersuchungen jedoch kaum geben. Erst wenn wir die verschiedenen\n\u2022 \u2022\norganischen \u00c4nderungen, welche die verschiedenen Gef\u00fchlszust\u00e4nde begleiten, untersucht und die allgemeinen Bedingungen f\u00fcr das Entstehen der Lust und Unlust gefunden haben, werden die notwendigen Voraussetzungen erworben sein, um eine L\u00f6sung zu versuchen. Vorl\u00e4ufig m\u00fcssen wir, daher die Frage offen stehen lassen. [Vgl. 157\u2014164.]","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"Der Theorie anscheinend widerstreitende Thatsaehen.\n31\n35. Das Ergebnis unserer vorhergehenden Untersuchungen wird also in K\u00fcrze dies, dafs die Herbartsche Gef\u00fchlstheorie, so wie sie bisher entwickelt wurde, v sich nicht behaupten zu lassen scheint.. In ihrer allgemeinen Form fordert sie eine Sonderung der Gef\u00fchle in zwei Gruppen, die sich erfahrungs-gem\u00e4fs in keinem wesentlichen Punkte von einander unterscheiden, und f\u00fcr deren jede eine besondere Entstehungsweise erheischt werden mufs. W\u00e4re eine derartige Sonderung wirklich eine unvermeidliche Folge der Theorie, so m\u00fcfste diese verworfen werden. So stellt sich die Sache indes nicht. Der Hauptpunkt der Herbartschen Theorie, n\u00e4mlich dafs nur die Vorstellungen primitive Seelenzust\u00e4nde seien, l\u00e4fst sich behaupten, wenn alles Gef\u00fchl der Lust und Unlust als eine Verschmelzung von Organempfindungen aufgefafst wird. In dieser Gestalt wird die Herbartsche Theorie aber kein Gegensatz, sondern nur eine weitere Entwickelung der Kantischen sein, welche Lust und Unlust blofs als gegebene Gr\u00f6fsen betrachtet, nach deren Ursprung nicht gefragt wird. Die Einw\u00fcrfe der Herbartianer haben auf diese Weise keinen wesentlichen Einflufs auf Kants Gef\u00fchlstheorie, die wir deswegen auch ferner festhalten k\u00f6nnen; nur wird im Folgenden n\u00e4her zu untersuchen sein, ob der primitive, nichtzusammengesetzte Charakter, mit welchem die Gef\u00fchlst\u00f6ne Lust und Unlust der Selbstbeobachtung erscheinen, urspr\u00fcnglich ist, weil die Gef\u00fchlst\u00f6ne selbst psychische Elemente sind, oder ob derselbe sich im Laufe der Zeit entwickelt hat, indem die Gef\u00fchlst\u00f6ne durch eine Verschmelzung von Organempfindungen entstanden.\n9\nPsychophysiologische Untersuchungen \u00fcber das Verh\u00e4ltnis.\n36. Wir kommen nun zu Einw\u00fcrfen, die wider die Annahme erhoben wurden, die Gef\u00fchlst\u00f6ne seien mit Erkenntniselementen unaufl\u00f6slich verbunden. Bei Untersuchungen \u00fcber die sogenannten \u201ek\u00f6rperlichen\u201c Gef\u00fchle, d. h. die an Haut- und Organempfindungen gebundenen Gef\u00fchle, haben mehrere Forscher eine Reihe von Beobachtungen gemacht, von denen man, wenn sie nicht richtig gedeutet werden, sagen mufs, dafs sie dem genannten Gliede der Kantischen Theorie entschieden widerstreiten. Die Beobachtungen gehen n\u00e4mlich darauf aus: 1) dafs aller Schmerz derselben Art ist; 2) dafs h\u00e4ufig, namentlich bei den","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nSchmerzgef\u00fchlen, zwischen cler Empfindung und dem un diese gebundenen Gef\u00fchlston ein mefsbarer Zeitraum verstreicht; 3) dafs in gewissen F\u00e4llen, besonders pathologischen, Gef\u00fchlst\u00f6ne ohne irgend eine Empfindung entstehen k\u00f6nnen. Diese Fakta iverden gew\u00f6hnlich als Beweise f\u00fcr die Kantische Theorie wider die Herbartianer \u2014 aufgefafst, weil sie zu zeigen scheinen, dafs das Gef\u00fchlselement etwas von der Empfindung Verschiedenes ist, da es mitunter durch einen bis ein paar Sekunden dauernden Zeitraum von der Empfindung getrennt sein oder sogar v\u00f6llig isoliert bestehen kann. Es leuchtet indes ein, dafs mit derjenigen Formulierung, welche wir der Theorie gaben, sich eine reelle Scheidung der Empfindungs- und Gef\u00fchlselemente nicht in \u00dcbereinstimmung bringen l\u00e4fst. Uns auf Erfahrungen st\u00fctzend, die wir aus den mehr zusammengesetzten (den sogenannten h\u00f6heren\u201c) Gef\u00fchlen herholten, kamen wir zu dem Resultat, dafs jedes wirklich existierende Gef\u00fchl sowohl intellektuelle als emotionelle Elemente enth\u00e4lt, und dafs es reine Abstraktion ist, von emotionellen Elementen als etwas selbst\u00e4ndig Existierendem zu reden. Lassen sich deshalb wirklich F\u00e4lle nachweisen, in welchen Lust und Unlust von allen intellektuellen Elementen isoliert bestehen, so ist \u00fcber die Kantische Theorie in ihrer konsequenten Form der Stab gebrochen, und somit ist gegeben, dafs die meisten modernen Forscher in ihrer Behandlung der Gef\u00fchlslehre von einer falschen Voraussetzung ausgingen. Die Konsequenz hiervon w\u00fcrde weit bedeutungsvoller werden, als es beim ersten Anblick scheinen m\u00f6chte. Denn wenn jedes Gef\u00fchl, Avie jetzt gew\u00f6hnlich angenommen wird, aus Erkenntnis- und Gef\u00fchlselementen in unaufl\u00f6slicher Verbindung zusammengesetzt ist, so braucht man, wie oben [22] dargelegt, keine anderen Artunterschiede zwischen den Gef\u00fchlen als nur Lust und Unlust anzunehmen ; die verschiedenen Gef\u00fchle erhalten alsdann ihr eigent\u00fcmliches Gepr\u00e4ge durch die verschiedenen intellektuellen Elemente, die eine Verbindung mit Lust und Unlust schliefsen. K\u00f6nnen dagegen Lust und Unlust als selbst\u00e4ndige Seelenzust\u00e4nde bestehen, so dafs ihre Verbindung mit den intellektuellen Elementen mehr lose und zuf\u00e4llig ist/ so sehe ich nicht anders, als dafs man eine ganz unbestimmbare Anzahl qualitativ verschiedener Gef\u00fchlszust\u00e4nde annehmen mufs, von denen wir obendrein durchaus nicht angeben k\u00f6nnen, worin ihre Verschiedenheit eigentlich besteht. Wollen wir uns also nicht in","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"Psychophysische Verh\u00e4ltnisse der Hautsinne.\n33\nein solches Chaos hinaustreiben lassen, zu dessen Ordnung uns jeglicher leitende Faden abgeht, so m\u00fcssen wir annehmen, dafs die postulierte Sonderung zwischen den Empfindungs- und den Gef\u00fchlselementen in Wirklichkeit auf einem Mifsverst\u00e4ndnis beruht, und wir wollen im Folgenden zu beweisen suchen:\n87. dafs ein Gef\u00fchlston, dieser sei nun iMst oder Unlust, nie von einer wenn noch so schwachen Empfindung isoliert vorkommt, und dafs man in allen solchen F\u00e4llen, wo man eine Sonderung beobachtet zu haben meint, das Empfindungselement nur \u00fcbersehen hat,\n38.\tDa es vorz\u00fcglich die Hautempfindungen, die Druck-und Temperaturempfindungen sind, bei denen man eine Sonderung zwischen der Empfindung und dem Schmerzgef\u00fchl beobachtet zu haben glaubt, halten wir uns vorl\u00e4ufig an diese. Gelingt es uns, unsere Thesis mit Bezug auf diese zu beweisen, so wird eine Erweiterung ihrer G\u00fcltigkeit auch auf die Organempfindungen keine Schwierigkeit darbieten. Indem wir nun zu einer kritischen Betrachtung der Beobachtungen \u00fcbergehen, auf welche die Sonderung gest\u00fctzt wurde, beginnen wir mit der Behauptung: aller Schmerz ist der n\u00e4mlichen Art, und leiten wir unsere Kritik mit einer Untersuchung dessen ein, was die Physiologie und die Psychophysik uns \u00fcber unsere Druck- und Temperaturempfindungen zu lehren verm\u00f6gen. Wir enthalten uns hierbei aller Hypothesen und st\u00fctzen uns nur teils auf allgemein festgestellte Thatsachen, teils auf die Ergebnisse eigener Versuche.\n39.\tUnsere Haut ist nicht an allen Punkten f\u00fcr jede Art Heizung empf\u00e4nglich. B1 ixx) und Goldscheider* 2) haben auf experimentalem Wege dargelegt, dafs sich \u00fcber den ganzen K\u00f6rper wahrscheinlich drei durch gr\u00f6fsere oder kleinere Zwischenr\u00e4ume getrennte Gattungen von Punkten finden, die je ihre eigent\u00fcmliche Empfindung, n\u00e4mlich Druck-, W\u00e4rme- und K\u00e4lteempfindung geben. Diese Punkte sind als spezifische Sinnesorgane zu betrachten, was daraus hervorgeht, dafs jeder beliebige Heiz, der einen derselben affiziert, nur eine bestimmte Art der Empfindung gibt. Ebenso wie das Auge nur Gesichtsempfindungen gibt, es m\u00f6ge durch \u00c4therwellen, mechanische\n9 Upsala l\u00e4karef\u00f6renings f\u00f6rhandlingar. Bd. XVIII, 2, 7, 8.\n2) Du Bois - Reymond : Archiv f. Anat. u. Physiol. 1885. Supplbd. S. 1 u. f.\nr>\nLehmann, Die Gef\u00fchle.\to","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nSt\u00f6fse oder elektrische Str\u00f6me gereizt werden, ebenso geben die K\u00e4ltepunkte der Haut nur K\u00e4lteempfindungen, das Irritament sei nun ein mechanischer oder elektrischer Stofs, eine Erw\u00e4rmung oder eine Abk\u00fchlung. Und ebenso verh\u00e4lt es sich mit den andern Sinnespunkten. Da gegen die Gemeing\u00fcltigkeit dieser Resultate indes von verschiedenen Seiten Einw\u00fcrfe1) erhoben sind, habe ich, um nicht auf unsicherem Boden zu bauen, nebst vier in der Auffassung subjektiver Zust\u00e4nde wohlge\u00fcbten Mitarbeitern im hiesigen psychophysischen Laboratorium eine umfassende Reihe von Versuchen angestellt. Das Ergebnis dieser Versuche war in K\u00fcrze folgendes:\n40.\tNach kurzer \u00dcbung im Auffassen der punktuellen Erregungen kann man bei ad\u00e4quater Reizung eine grofse Anzahl Druck- und Temperaturpunkte leicht und sicher bestimmen. Hierbei ist nur zu bemerken, dafs nicht alle Punkte derselben Gattung gleich erregbar sind. Bestimmt man z. B. die Reizschwelle eines einzelnen Druckpunktes, so wird man bei dieser Gr\u00f6fse des Druckes allerdings manche Druckpunkte finden k\u00f6nnen ; ziemlich viele andere, weniger erregbare, werden sich jedoch der Aufmerksamkeit entziehen. Das n\u00e4mliche gilt ebenfalls von den W\u00e4rme- und den K\u00e4ltepunkten. Die niedrigste Temperatur, die an einem einzelnen Punkte sich noch als, W\u00e4rme scheint auffassen zu lassen, ist 40\u00b0 \u2014 42\u00b0 C.; es sind aber nur sehr wenige besonders intensive Punkte, die sich mittels dieser Temperatur finden lassen ; will man sicher sein, dafs alle Punkte mitgenommen werden, mufs der W\u00e4rmegrad zwischen 50\u00b0 und 60\u00b0 C. liegen (Optimum 57\u00b0 C.). Die K\u00e4ltepunkte scheinen hinsichtlich der Erregbarkeit verh\u00e4ltnism\u00e4fsig gleichartiger zu sein; bei einer Lufttemperatur von 20\u00b0 C. lassen die meisten sich durch Reize von 13\u00b0 C. auffinden; die Arbeit wird indes bedeutend erleichtert, wenn man st\u00e4rkere Abk\u00fchlung benutzt. Hat man auf diese Weise eine Reihe verschiedener Punkte gefunden und gekennzeichnet, so ist es leicht nachzuweisen, dafs :\n41.\tDrukempfindungen entstehen an den Druckpunkten durch elektrische Reizung. Am besten zu verwenden sind Induktionsstr\u00f6me solcher St\u00e4rke, dafs eben noch Funken zwischen der Hand und der Elektrode hin\u00fcberschlagen k\u00f6nnen, ohne dafs\n1) Congr\u00e8s internat, p\u00e9riod. des sciences m\u00e9dicales. Copenhague 1884. Section de Physiologie, pag. 100.","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"Psychophysische Verh\u00e4ltnisse der Hautsinne.\t35\nvollst\u00e4ndige Ber\u00fchrung derselben stattfindet. Von Temperaturreizen l\u00e4fst sich nicht mit Sicherheit entscheiden, ob sie Druckempfindungen erregen k\u00f6nnen oder nicht, da der Heiz, um hinl\u00e4nglich scharf lokalisiert zu sein, durch Ber\u00fchrung eines festen K\u00f6rpers erzeugt werden mufs, weshalb also jedenfalls eine von der Temperatur unabh\u00e4ngige Druckempfindung entsteht. Ein Versuch, W\u00e4rmestrahlen mittels eines Brennglases anzusammeln, mufste aufgegeben werden, da es uns nicht gelang, eine intensive W\u00e4rmequelle von so kleinen Dimensionen herzustellen, dafs das Linsenbild punktuell werden konnte.\n42.\tK\u00e4lteempfindungen entstehen an den K\u00e4ltepunkten sowohl durch mechanischen und elektrischen Stofs, als durch W\u00e4rmereize. Die mechanischen St\u00f6fse m\u00fcssen sich ziemlich \u00fcber die Heizschwelle der Druckempfindungen erheben. Induktionsstr\u00f6me von derselben St\u00e4rke wie diejenigen, welche noch eben Druckempfindungen erregen, arbeiten am besten ; werden sie bedeutend st\u00e4rker, so ist die Wirkung nicht hinl\u00e4nglich lokalisiert und werden die K\u00e4lteempfindungen durch die gleichzeitig ausgel\u00f6sten Druckempfindungen maskiert. W\u00e4rmereize bis + 60\u00b0 C. k\u00f6nnen K\u00e4lteempfindungen ausl\u00f6sen.\n43.\tW\u00e4rmeempfindungen werden an den W\u00e4rmepunkten ausgel\u00f6st, sowohl durch mechanische als durch elektrische St\u00f6fse, beide m\u00fcssen indes verh\u00e4ltnism\u00e4fsig st\u00e4rker als die die K\u00e4lteempfindungen hervorrufenden sein. Durch Abk\u00fchlung W\u00e4rmeempfindungen zu erregen ist mir jedoch nicht gelungen, aus welcher Ursache ist mir nicht v\u00f6llig klar. M\u00f6glicherweise ist dies dadurch zu erkl\u00e4ren, dafs die W\u00e4rmepunkte im ganzen durchweg eine h\u00f6here Heizschwelle besitzen als die anderen Sinnespunkte, weshalb eine starke Abk\u00fchlung erforderlich w\u00e4re, um W\u00e4rmeempfindungen zu erregen; starke Abk\u00fchlungen (ich habe die ganze Skala von -j- 13\u00b0 bis \u2014 70\u00b0 versucht) schw\u00e4chen aber bekanntlich das Leitungsverm\u00f6gen des Nerven. Es ist deswegen nicht undenkbar, dafs gerade die Abk\u00fchlung, welche die Empfindung ausl\u00f6sen sollte, die Fortpflanzung der Bewegung ins Gehirn unm\u00f6glich machte.\n44.\tAuch aufserhalb der Sinnespunkte k\u00f6nnen die verschiedenen Irritamente, mechanischer und elektrischer Stofs, W\u00e4rme und K\u00e4lte Empfindungen erregen, wenn sie eine etwas gr\u00f6fsere St\u00e4rke als die zur Wirkung an den Sinnespunkten\ngen\u00fcgende besitzen. Man kann dies (mit Goldscheider)\n8*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\ndurch die Annahme einer vierten Gattung von Nervenfasern, die sich \u00fcberall in der Haut ausbreiteten, erkl\u00e4ren; eine solche Annahme ist indes ganz \u00fcberfl\u00fcssig. Da die verschiedenen Reizungen sich ja durch die Haut hindurch fortpflanzen k\u00f6nnen, mufs notwendigerweise irgend eine Empfindung entstehen, sobald ein Reiz von hinl\u00e4nglicher St\u00e4rke aufserhalb eines Sinnespunktes die Haut selbst trifft.\n45. Aus diesen Thatsachen, die von f\u00fcnf verchiedenen Beobachtern im hiesigen Laboratorium durchaus \u00fcbereinstimmend gefunden wurden, darf man sicher den Schlufs ziehen, dafs das sogenannte Hautgef\u00fchl drei verschiedene Sinnesmodalit\u00e4ten : Druck-, W\u00e4rme- und K\u00e4lteempfindungen umfafst. Gibt es aber drei verschiedene Arten der Empfindungen, so mufs es wahrscheinlich auch drei verschiedene Arten der Schmerzgef\u00fchle geben, indem das emotionelle Element der Unlust, je nachdem es an die Empfindungen Druck, W\u00e4rme oder K\u00e4lte gebunden ist, ein eigent\u00fcmliches Gepr\u00e4ge erhalten kann. Und dafs gerade dies der Fall ist, hat sich erwiesen. Bei ad\u00e4quater Reizung \u2014 und von der Benutzung einer anderen kann nicht wohl die Rede seinr wenn der Reiz bis zum Entstehen eines Schmerzes getrieben werden soll, da die Wirkung sich sonst nicht innerhalb des einzelnen Punktes begrenzen l\u00e4fst \u2014 kann zwischen drei Arten von Schmerz deutlich unterschieden werden. An den Druckpunkten wird bei gen\u00fcgendem Druck oder Stofs, der die Haut jedoch nicht durchbohrt, ein stechender Schmerz gef\u00fchlt; an den W\u00e4rmepunkten tritt das Unlustgef\u00fchl bei ungef\u00e4hr 62\u00b0 C. ein und hat, solange das Sinnesorgan nicht destruiert wird \u2014 was bei ungef\u00e4hr 100\u00b0 C. geschieht \u2014 einen sehr ausgepr\u00e4gten brennenden oder sengenden Charakter. An den K\u00e4ltepunkten ist der Schmerz sehr schwer zu beobachten. Noch bei \u2014 40\u00b0 C. gibt es nur eine bestimmte K\u00e4lteempfindung ohne Spur von Unlust; zwischen \u201445\u00b0 und \u2014 70\u00b0, bei welchen Temperaturen das Sinnesorgan noch nicht dermafsen destruiert wird, dafs es sp\u00e4ter nicht auf schw\u00e4chere Reize reagiert, entsteht dagegen ganz langsam ein schwacher Schmerz, ungef\u00e4hr als w\u00fcrde man mit einer feinen Pinzette unter der Haut gekniffen. Unter\n\u2014 70\u00b0, dem niedrigsten W\u00e4rmegrad, der mittels starrer Kohlen-\n\u2022 \u2022\ns\u00e4ure und \u00c4thers zu erzeugen ist, hatte ich keine Gelegenheit, die Verh\u00e4ltnisse zu untersuchen. \u2014 Hat man sich einmal mit dem eigent\u00fcmlichen Charakter der verschiedenen Schmerzgef\u00fchle","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"Verschiedene Arten des Schmerzes.\n37\nvertraut gemacht, so ist deren Wiedererkennen leicht. Bezeichnet man einige Sinnespunkte der Haut und schliefst man die Augen, w\u00e4hrend ein anderer verschiedene Punkte durch ad\u00e4quate Reize angemessener St\u00e4rke abwechselnd affiziert, so wird der Fall fast niemals eintreten, dafs man nicht anzugeben verm\u00f6chte, ob der Schmerz durch Druck, W\u00e4rme oder K\u00e4lte verursacht wird.\n46.\tDa diese Versuchsresultate den Angaben anderer Forscher auf bedenkliche Weise zu widerstreiten scheinen, wollen wir, bevor wir weiter gehen, die Ursache der Nicht\u00fcbereinstimmung nachzuweisen suchen. \u2014 Erstens weichen unsere Zahlen nicht wenig von denen ab, welche Weber seiner Zeit fand. So gibt Weber -f-52\u00b0 C. als die niedrigste, W\u00e4rmeschmerz erzeugende Temperatur an, und schon bei 0\u00b0 C. findet er einen allerdings nur \u201em\u00e4fsigen\u201c K\u00e4lteschmerz1). Die nicht unbedeutenden Differenzen zwischen Webers Angaben und den unsrigen lassen sich indes leicht durch das von ihm aufgestellte Gesetz erkl\u00e4ren : \u201eDer Schmerz entsteht um so leichter, je gr\u00f6fser die dem Reiz ausgesetzte Hautoberfl\u00e4che ist\u201c. Die hier angegebenen Weberschen Zahlen wurden durch Eintauchen des \u00e4ufsersten Fingergliedes in warmes oder kaltes Wasser gefunden; wird die ganze Hand eingetaucht, so entsteht der W\u00e4rmeschmerz schon bei +49\u00b0 C., der K\u00e4lteschmerz bei -j- 6\u00b0 C. Sonach ist es leicht ersichtlich, dafs unsere Versuche, bei welchen nur von rein punktueller Ber\u00fchrung die Rede war, f\u00fcr den W\u00e4rme- und K\u00e4lteschmerz beziehungsweise h\u00f6here und niedrigere Zahlen geben m\u00fcssen.\n47.\tFerner widerspricht unsere Beobachtung verschiedener Arten des Schmerzes der nicht ungew\u00f6hnlichen Behauptung : \u201ealler Schmerz ist gleicher Art.\u201c So finden wir, um nur ein einziges Beispiel zu nennen, folgenden Satz bei Wundt: \u201eDer Schmerz ist seiner Natur nach immer von gleicher Art; ein Stich, ein zermalmender Druck, heftige Hitze oder zerst\u00f6rende K\u00e4lte\nerzeugen Schmerz von derselben Beschaffenheit2).\u201c Auch diese\n_____ __ \u2022 \u2022\nDivergenz ist leicht erkl\u00e4rlich. Wundts Aufserungen betreffen augenscheinlich, wenngleich dies nicht ausdr\u00fccklich gesagt wird, nur Reizungen von so bedeutender St\u00e4rke und Ausdehnung, dafs ein Teil der Hautoberfl\u00e4che, mithin mehr oder weniger\nx) Tastsinn und Gemeingef\u00fchl in Wagners Handw\u00f6rterbuch der Physiologie. Bd. III, Abt. 2, S. 572-573.\n2) Vorlesungen \u00fcber Menschen- und Tierseele. 1863. Bd. 2, S. 9.","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\nSinnespunkte destruiert werden. Alsdann ist es ganz nat\u00fcrlich, dafs keine wesentliche Verchiedenheit des Schmerzes entsteht, auch wenn die Ursachen der Destruktion sehr verschieden sind. Unsere Versuche umfassen dagegen nur \u201ead\u00e4quate, punktuelle Reizungen von solcher St\u00e4rke, dafs Schmerz entsteht, ohne dafs das Sinnesorgan zerst\u00f6rt wird\u201c, und bei diesen mehr reinen Versuchen sind die verschiedenen Arten des Schmerzgef\u00fchls leichter zu beobachten. Aber auch wenn ein gr\u00f6fserer Teil der Hautoberil\u00e4che gereizt wird, scheinen die K\u00e4lte- und W\u00e4rmeschmerzen, wenn sie nur nicht zu stark sind, verschieden zu sein. Weber sagt n\u00e4mlich: \u201eIst derselbe (der Schmerz) nicht heftig, so empfindet man zugleich auch die W\u00e4rme oder K\u00e4lte, die ihn verursacht, und kann dann den durch W\u00e4rme entstehenden Schmerz von dem, welcher durch K\u00e4lte hervorgebracht wird, unterscheiden. Ist er aber heftig .... so ist es dieselbe\nEmpfindung, sie mag durch W\u00e4rme oder durch K\u00e4lte verursacht\n__ \u2022 \u2022\nwerden1).\u201c Diese Aufserung wird durch eine Beobachtung best\u00e4tigt, welche mehrere Chemiker, deren Aufmerksamkeit ich auf das Verh\u00e4ltnis hinlenkte, mir g\u00fctigst mitgeteilt haben.. \u201eBrennt\u201c man sich an starrer Kohlens\u00e4ure, ohne dafs die L\u00e4sion von gr\u00f6fserer Bedeutung wird, so f\u00fchlt man einen kneifenden, prickelnden Schmerz, der dem durch eine gew\u00f6hnliche Brandwunde erzeugten sengenden Schmerz durchaus nicht \u00e4hnlich ist.\n48. Wider diese in der That \u00fcbereinstimmenden Beobachtungen trat in j\u00fcngster Zeit Goldscheider mit der Behauptung auf, der Schmerz entstehe nur an den Druckpunkten und an den zwischen denselben liegenden Fl\u00e4chen, wo keine Sinnespunkte gefunden werden. An den W\u00e4rme- und K\u00e4ltepunkten dagegen sei kein Schmerz zu f\u00fchlen2). Diese eigent\u00fcmliche Auffassung findet indes ihre Erkl\u00e4rung in folgenden S\u00e4tzen: \u201eAn W\u00e4rmepunkten tritt nat\u00fcrlich nebenbei ein brennend heifses Gef\u00fchl ein, aber dieses ist eben nur eine hochgradige W\u00e4rmequalit\u00e4t, keine Schmerzqualit\u00e4t.\u201c Und sp\u00e4ter heifst es: \u201eWohl kann eine Temperaturempfindung Lust und Unlust erwecken, die W\u00e4rme kann behaglich und unbequem, die K\u00fchlung angenehm und unangenehm sein; es gibt K\u00f6rper-\n*) Tastsinn und Gemeingef\u00fchl. S. 569.\n2) Archiv f. Anatomie u. Physiologie. 1885. Supplbd. S. 18\u201419.","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"r\nVerschiedene Arten des Schmerzes.\t39\nstellen, wo eine nur m\u00e4fsige Erregung eines K\u00e4ltepunktes unbehaglich und die Applikation einer winzigen Metallfl\u00e4che h\u00f6chst unangenehm ist und Reflexbewegungen verursacht \u2014 aber dies ist kein Schmerz , ebensowenig wie ein \u00fcbler Geruch oder das Gef\u00fchl der Blendung Schmerz ist1).\u201c Wie man sieht, ist das Ganze nur ein Streit um Worte. Will man die Bedeutung des Wortes Schmerz so beschr\u00e4nken, dafs es nur die an Druck-und Organempfindungen gebundenen Unlustgef\u00fchle umfafst, so l\u00e4fst dies sich nat\u00fcrlich nicht verhindern * anderseits liegt aber kaum ein triftiger Grund f\u00fcr eine solche \u00dcbertretung des allgemeinen Sprachgebrauchs vor. Thatsache ist es doch \u2014 das gibt Goldscheider zu \u2014, dafs an Temperaturempfindungen Unlust gebunden sein kann, und diese Unlustgef\u00fchle heifsen im t\u00e4glichen Leben Schmerzen; h\u00e4lt man nun nur fest, dafs der Schmerz je nach den verschiedenen Empfindungen, an welche er gebunden war, verschiedenen Charakters sein kann, so scheint mir kein Grund vorhanden zu sein, das Wort Schmerz in diesem Sinne abzuschaffen. Wir bedienen uns desselben ja doch zugleich als Gemeinbezeichnung der mannigfaltigen, verschiedenartigen Unlustgef\u00fchle, die an die Empfindung krankhafter Zust\u00e4nde der inneren Organe gebunden sind; wir haben stechende, bohrende, brennende, schneidende, beifsende und nagende Schmerzen in allen Organen. Und da es nun kaum Zweifel unterworfen sein kann, dafs diese verschiedenen Artkennzeichen je ihre Ursache haben, so\twird\tes,\tstreng genommen,\tun-\nberechtigt, Unlust bei K\u00e4lte und,W\u00e4rme aus der Bezeichnung Schmerz auszuschliefsen, weil dieselbe einen vom Druckschmerz abweichenden Charakter hat und aus anderen Ursachen entsteht als dieser. Wir halten deshalb\thier\tdas Wort Schmerz\tin\nseinem gew\u00f6hnlichen Sinne als Gemeinbezeichnung aller an Ber\u00fchrungs- (Druck-, K\u00e4lte-, W\u00e4rme-) und Organempfindungen gebundenen Unlustgef\u00fchle fest. Als Ergebnis der ganzen Untersuchung ist jedoch zugleich bestimmt hervorzuheben:\n49. Das Schmerzgef\u00fchl\tkann\tvon\tverschiedener Art sein,\nindem es sein Sondergepr\u00e4ge\tdurch\tdie\tEmpfindung erh\u00e4lt,\tan\nwelche der Gef\u00fchlston gebunden ist\nHierdurch hat die Kantische Theorie augenscheinlich eine nicht unwesentliche St\u00fctze erworben, und wir gehen nun zum\nArchiv f. Anatomie u. Physiologie. 1885. Suppl bd. S. 19\u201420.","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\n\u00dcber die Natur der G-ef\u00fchle.\nn\u00e4chsten Punkt \u00fcber: zum Zeitraum zwischen der Empfindung und dem emotionellen Element.\n50. Um \u00fcber die Zeitverh\u00e4ltnisse bei unseren Ber\u00fchrungsempfindungen ins klare zu kommen, habe ich die einfache Reaktionszeit f\u00fcr Druck- und W\u00e4rmeempfindungen bei Reizung der einzelnen Sinnespunkte bestimmt. Diese mit grofsen Schwierigkeiten verbundenen Versuche anzustellen bot sich mir nur an zwei Individuen die Gelegenheit; die gefundenen Zahlen d\u00fcrften jedoch gen\u00fcgen, um das zu zeigen, worauf es hier ankommt. \u2014 Untenstehende Tabelle zerf\u00e4llt in zwei Hauptabteilungen, welche die Versuchsresultate f\u00fcr jeden der beiden Beobachter L. und G. angeben. Die Reaktionszeiten sind in Tausendstelsekunden angef\u00fchrt. Unter der \u00dcberschrift Mv. ist die Mittelzahl der Differenzen zwischen den einzelnen Versuchen und deren Mittelzahl angegeben. Die letzte Kolonne gibt die Anzahl einzelner Messungen, denen die Mittelzahl entnommen wurde.\nL.\t\t\t\tG.\t\t\t\n\tRz.\tMv.\tVa.\t\tRz.\tMv.\tVa.\n\t192\t25\t25\t\t182\t41\t25\nDruck\t\t\t\tDruck\t\t\t\n\t203\t28\t23\t\t167\t27\t25\n44\u00b0\t596\t55\t30\t42\u00b0\t952\t74\t30\n53\u00b0\t530\t40\t25\t\u201eT 52\u00b0\t822\t65\t20\nW arme\t\t\t\tW arme\t\t\t\n64\u00b0\t458\t57\t25\tOS o \u00a9\t628\t67\t25\nO O P-\t369\t39\t25\t\u00a9 o p-\t618\t74\t25\nDie verschiedenen Reaktionszeiten f\u00fcr Druck beziehen sich auf zwei Punkte von verschiedener Reizbarkeit bei jedem Beobachter; wie man sieht, findet zwischen diesen Zeiten kein wesentlicher Unterschied statt. Das gr\u00f6fste Interesse bietet die Reaktionszeit f\u00fcr W\u00e4rme dar. Alle angegebenen Messungen wurden an verschiedenen Tagen an einem einzigen sehr reizbaren Punkte ausgef\u00fchrt, wodurch also der ungleichen Reizbarkeit der verschiedenen Punkte entstammende Fehler ausgeschlossen sind. Wie man sieht, sinkt bei steigender W\u00e4rme die Reaktionszeit sehr stark, ist aber bei einer Temperatur, deren W\u00e4rme entschieden schmerzlich ist, noch bedeutend l\u00e4nger als die","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"Psychometrische Verh\u00e4ltnisse der Hautsinne.\t41\nReaktionszeit f\u00fcr Druck. Diese stimmt dagegen ganz gut mit den von Wundt gefundenen Zeiten f\u00fcr andere Empfindungen, n\u00e4mlich f\u00fcr: Schall . . . 167, Licht . . . 222, elektrische Reizung der Haut ... 201, mechanische Reizung der Haut . . . 213x). Alle diese Zeiten, meine Reaktionszeiten f\u00fcr Druck mitgerechnet, weichen nur wenig voneinander ab, und es ist daher ziemlich r\u00e4tselhaft, weswegen gerade bei den W\u00e4rmeempfindungen, die an dem einzelnen Sinnespunkt doch ebenso deutlich aufgefafst werden wie der Druck an einem Druckpunkt, so lange Zeit verstreicht. Die nat\u00fcrlichste Erkl\u00e4rung w\u00e4re wohl die, dafs die W\u00e4rme Zeit gebraucht, um sich durch die Haut bis ins Sinnesorgan fortzupflanzen. Bei allen anderen Arten der Reizung mufs eine solche Fortpflanzungszeit durchaus verschwindend sein, wogegen sich nicht annehmen l\u00e4fst, dafs die Leitung der W\u00e4rme durch die Haut momentan geschehe ; denn dafs dem nicht so ist, geht auch daraus hervor, dafs die Empfindung nicht sogleich, sondern, wie wir im Folgenden sehen werden, erst allm\u00e4hlich ihre volle St\u00e4rke erreicht. Die Richtigkeit dieser Annahme wird ferner dadurch best\u00e4tigt, dafs dieselbe zugleich zu erkl\u00e4ren vermag, weshalb die Reaktionszeit bei steigender W\u00e4rme so stark verk\u00fcrzt wird. Denn diejenige Steigerung der Temperatur, die im Sinnesorgane stattfinden mufs, damit \u00fcberhaupt eine Empfindung entstehen kann, wird um so schneller erreicht werden, je gr\u00f6fser die in jedem Moment an die Hautoberfl\u00e4che abgegebene W\u00e4rmemenge ist. Die abgegebene W\u00e4rmemenge w\u00e4chst aber, wie die Physik uns lehrt, mit dem Temperaturunterschied zwischen den beiden einander ber\u00fchrenden K\u00f6rpern, und folglich mufs die Reaktionszeit k\u00fcrzer werden, je w\u00e4rmer der die Haut reizende K\u00f6rper ist. \u00dcbrigens ist es wahrscheinlich, dafs auch andere Faktoren zum Hervorbringen dieses Resultats mitwirken, indem Wundt nachgewiesen hat, dafs die Reaktionszeit bei anwachsender St\u00e4rke des Reizes ebenfalls f\u00fcr andere Sinnesempfindungen abnimmt. Diese Verk\u00fcrzung der Zeit schreibt er wegen der verh\u00e4ltnism\u00e4fsig grofsen Geschwindigkeit des Nervenstromes haupts\u00e4chlich den zentralen Prozessen zu* 2). Man mufs also annehmen, dafs die Zeitdauer der letzteren bei anwachsender Reizst\u00e4rke auch in betreff der W\u00e4rmeempfindungen abnimmt;\n1)\tPhysiologische Psychologie. 2. Aufl. II. S. 225.\n2)\tAng. Werk. II. S. 224-225.","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\ndie Leitung der W\u00e4rme durch die Haut mufs aber doch gewifs den gr\u00f6fsten Teil der Zeit beanspruchen, da es sonst unverst\u00e4ndlich wird, weshalb die Reaktionszeit f\u00fcr W\u00e4rme durchweg so viel gr\u00f6fser ist als die \u00fcbrigen Reaktionszeiten. Wir k\u00f6nnen daher das Ergebnis dieser Betrachtungen in folgendem Satze kurz zusammenfassen:\n51.\tDie Reaktionszeit f\u00fcr Druck ist bei punktuellem Reize von derselben Dauer, ungef\u00e4hr 0,200 Sek., wie die Zeit f\u00fcr die anderen Empfindungen. Die Reaktionszeit f\u00fcr W\u00e4rme dagegen ist bis f\u00fcnf-?nal so grofs, c. 0,900 Sek., sinkt indes stark bei anwachsender Temperatur, was seinen Grund namentlich in der verh\u00e4ltnism\u00e4fsig langsamen Leitung der W\u00e4rme durch die Haut ins Sinnesorgan hat.\n52.\tWir besitzen nun die erforderliche Grundlage, um kritisch zu betrachten, wie es sich mit dem vermeintlichen Zwischenraum zwischen dem Empfindungs- und dem Gef\u00fchlselement verh\u00e4lt. Um dessen Existenz zu beweisen, hat man vorerst einige Beobachtungen aus dem t\u00e4glichen Leben angef\u00fchrt. Wird die Haut durch ein sehr scharfes oder spitzes Instrument besch\u00e4digt, soll man im Moment nur die Ber\u00fchrung f\u00fchlen k\u00f6nnen; erst sp\u00e4ter, wenigstens erst nach einigen Sekunden,, entsteht der Schmerz. Legt man die Hand an einen heifsen K\u00f6rper, z. B. einen warmen Ofen, wird die Ber\u00fchrung etwas fr\u00fcher bemerkt, als der Schmerz eintritt. Schrickt man bei einem pl\u00f6tzlichen, starken Schalle oder \u00e4hnlichem Sinneseindruck zusammen, so kommt der Schreck erst etwas nachdem der Schall geh\u00f6rt wurde. Hier mufs man noch Webers bekannte Beobachtung hinzuf\u00fcgen, dafs beim Eintauchen des Fingers in warmes Wasser ein nicht geringer Zeitraum verstreicht zwischen dem Augenblick, da die W\u00e4rme empfunden wird, und dem Augenblick, da die W\u00e4rme so stark geworden ist, dafs der Finger unwillk\u00fcrlich herausgezogen wird. Bei 70\u00b0 R. fand W eher diesen Zeitraum 1,5\u20142 Sek.; bei 44\u00b0 R. sogar 28 Sek.1). Alle diese Thatsachen lassen sich allerdings nicht bestreiten ; nur beweisen sie jedoch nicht, was man bisweilen in denselben erblicken wollte. Wenn man aus den angef\u00fchrten Fakta hat schliefsen wollen, das emotionelle Element Unlust k\u00f6nne eine mefsbare Zeit nach der Empfindung kommen, durch welche es\n*) Der Tastsinn und das Gemeingef\u00fchl, Wagners Handbuch. III. Bd. 2. Abt. S. 573.","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"Kein Intervall zwischen Empfindung und Gef\u00fchlston.\t48r\nerweckt wird, so beruht dies nur auf einer falschen Deutung der Erfahrungen. Wir wollen dies zeigen, indem wir jeden einzelnen der angef\u00fchrten F\u00e4lle f\u00fcr sich durchgehen ; sollten sich nun auch noch mehr Beispiele in der genannten Richtung finden lassen als diejenigen, welche durchzugehen wir hier die Gelegenheit hatten, so wird unsere Kritik doch sicherlich ge^ n\u00fcgen, um darzuthun, dafs alle dergleichen F\u00e4lle sich auf weit nat\u00fcrlichere Weise als durch die Annahme isolierter emotioneller Elemente deuten lassen. [Vgl. 243.]\n58. Sticht man sich so mit einer Nadel, dafs die Haut besch\u00e4digt wird, so entsteht einige Zeit darauf ein sengender Schmerz an der Stelle um den besch\u00e4digten Punkt. Dieser nachfolgende Schmerz hat aber, wie jeder, der den Versuch anstellen mag, sich leicht \u00fcberzeugen kann, nicht im geringsten mit der urspr\u00fcnglichen Druckempfindung zu thun. Man \u00fcbersieht hier zwei sehr wesentliche Momente. Erstens ist mit der urspr\u00fcnglichen Druckempfindung Schmerz verbunden. Der i Stich ist schmerzlich oder allenfalls unangenehm, wenn man zuf\u00e4lligerweise einen weniger erregbaren Punkt der Haut trifft. Zweitens hat der sp\u00e4ter auftretende Schmerz auch ein bestimmtes Empfindungselement, ein Stechen, Klopfen oder H\u00e4mmern. Man ! hat hier also mit zwei ganz verschiedenen Bewufstseinszust\u00e4nden I zu thun: mit der prim\u00e4ren Empfindung eines Stiches nebst der momentan damit verbundenen Unlust, und mit einer sekund\u00e4ren\ni\n| Empfindung unbestimmter Art, des Klopfens, H\u00e4mmerns oder dergleichen, an welche ebenfalls Unlust verkn\u00fcpft ist. Dieser sekund\u00e4re Schmerz entsteht wahrscheinlich durch \u00c4nderungen des besch\u00e4digten Organs, Blutkoagulationen u. dergl., die durch Eindringen der Luft in die tiefer liegenden Schichten verursacht werden. Von einem Zwischenraum zwischen dem Empfindungsund dem Gef\u00fchlselement kann also nur dann die Rede sein, wenn man die sekund\u00e4re Unlust als das zur prim\u00e4ren Empfindung geh\u00f6rende emotionelle Element betrachtet; dies erweist sich aber als unberechtigt, sobald man hinl\u00e4nglich scharf beobachtet. \u2014 Derselben Art wie dieses ist das n\u00e4chste der obengenannten Beispiele. Der bei Ber\u00fchrung eines warmen Ofens gef\u00fchlte Schmerz kommt unbestreitbar erst lange nach der Ber\u00fchrungsempfindung, hat allerdings aber auch nicht im mindesten mit dieser zu thun. Wir haben hier ja zwei durchaus verschiedene Empfindungsursachen : die Ber\u00fchrung, die nur eine leise Drucke","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nempfindung erzeugt, und die W\u00e4rme, die bei gen\u00fcgender St\u00e4rke etwas sp\u00e4ter einen W\u00e4rmeschmerz erregt. Meine oben [50] angegebenen Messungen der Reaktionszeit f\u00fcr Druck und W\u00e4rme zeigen, dafs jede, besonders jede schmerzlose W\u00e4rmeemptindung sp\u00e4ter eintritt als die Druckempfindung, und wir sahen, dafs dies wahrscheinlich dem Umstande zu verdanken ist, dafs die W\u00e4rme Zeit gebraucht, um sich durch die Haut fortzupflanzen. Es ist also nichts Merkw\u00fcrdiges, dafs der W\u00e4rmeschmerz im angegebenen Falle sp\u00e4ter kommt als die Ber\u00fchrungsempfindung, da sich doch nicht erwarten l\u00e4fst, dafs die Wirkung vor dem Eintreten der Ursache, der Schmerz vor der Reizung des Sinnesorgans entstehen sollte. Hier ist also ebenfalls kein Zwischenraum zwischen den zusammengeh\u00f6renden intellektuellen und emotionellen Elementen.\n54. Ein naheliegender Einwurf ist jedoch erst abzuweisen. Meine Messungen der Reaktionszeit f\u00fcr Druck und W\u00e4rme beziehen sich n\u00e4mlich nur auf rein punktuelle Eindr\u00fccke, auf Reizungen einzelner Sinnespunkte ; weil es sich aber unter solchen k\u00fcnstlich erzeugten Verh\u00e4ltnissen ergibt, dafs die Reaktionszeit f\u00fcr Druck k\u00fcrzer ist als die Reaktionszeit f\u00fcr W\u00e4rme, ist es darum keineswegs gegeben, dafs die Sache sich ebenso stellt, wenn gr\u00f6fsere Teile der Hautoberfl\u00e4che gleichzeitig gereizt werden, wie bei der Ber\u00fchrung eines warmen Ofens. Neuere von Wintschgau und Steinach angestellte Versuche haben indes erwiesen, dafs das Verh\u00e4ltnis der Reaktionszeiten nicht ver\u00e4ndert wird, weil man gr\u00f6fsere Reizfl\u00e4chen benutzt1). Bei den Untersuchungen der erw\u00e4hnten Forscher war die Fl\u00e4che kreisf\u00f6rmig, 10 mm im Durchmesser, und da der Reiz mithin bedeutend st\u00e4rker wurde, mufste man folglich erwarten, dafs die Reaktionszeit verk\u00fcrzt werde. Dies erweist sich denn auch ; die Reaktionszeit f\u00fcr W\u00e4rmereize ist aber stets von l\u00e4ngerer Dauer als die entsprechende f\u00fcr Druck, wie aus untenstehender, einer grofsen Anzahl gleichartiger Messungen entnommenen Tabelle hervorgeht. Um vergleichen zu k\u00f6nnen, nehme ich nur diejenigen Zahlen, welche durch Reizungen des Handr\u00fcckens gefunden wurden, an welchem ebenfalls meine oben angef\u00fchrten Messungen angestellt sind.\nx) Pfl\u00fcgers Archiv- Bd. 43.\t1888. S. 152 u. f.","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"Kein Intervall zwischen Empfindung und Gef\u00fchlston.\n45\nWintschgau\t.\t.\t.\t246\t233\nSteinach .\t.\t.\t.\t199\t196\nW\u00e4rme 48\u201449\u00b0.\nDruck.\n123\n111\nF\u00fcr W\u00e4rmereize sind in betreff beider Beobachter zwei Zahlen angegeben, deren erstere der Ulnar-, letztere der Radialfl\u00e4che des Handr\u00fcckens gilt; hinsichtlich der Druckreize wurde nur der Radialrand untersucht. Dafs die Reaktionszeiten im ganzen sehr kurz sind, scheint zun\u00e4chst anzudeuten, dafs die Reaktion eine muskul\u00e4re war ; dies ist aber ohne alle Bedeutung, da es keinen Unterschied im gegenseitigen Verh\u00e4ltnisse der Reaktionszeiten w\u00fcrde erzeugen k\u00f6nnen, w\u00e4re die Reaktion auch eine sensorielle gewesen. Die Grundlage, auf welcher die oben angestellten Betrachtungen aufgebaut wurden, hat durch die hier mitgeteilten Versuche also nur fernere Best\u00e4tigung erhalten.\n55.\tEbenso verh\u00e4lt es sich auch im dritten Falle, dem Schreck bei einem pl\u00f6tzlichen starken Sinneseindruck. Auch hier ist kein Zeitraum zwischen den wirklich zusammengeh\u00f6renden Elementen; dies ist jetzt aber nicht leicht darzulegen, ohne der Reihe Untersuchungen vorzugreifen, die uns im n\u00e4chsten Abschnitt besch\u00e4ftigen werden. Dort wird nachgewiesen werden, dafs die emotionellen Elemente, die bei der Gem\u00fctsbewegung \u201eSchreck\u201c mitbeth\u00e4tigt sind, nicht direkt durch die \u00e4ufsere sinnliche Einwirkung, sondern im Gegenteil durch die mittels derselben bewirkten motorischen Innervations\u00e4nderungen herorgerufen werden. Hierdurch werden in verschiedenen k\u00f6rperlichen Organen eine Reihe St\u00f6rungen erzeugt, die als Organempfindungen nebst daran gebundenen Unlustgef\u00fchlen zum Bewufstsein gelangen, und dieser gesamte komplexe Seelenzustand ist, was wir Schreck nennen. Die urspr\u00fcngliche Empfindung tr\u00e4gt nur als ziemlich unwesentliches Glied zur Gem\u00fctsbewegung bei und steht jedenfalls in keiner n\u00e4heren Verbindung mit deren emotionellen Elementen. Der n\u00e4here Beweis dieser Behauptung mufs indes, wie gesagt, bis zum n\u00e4chsten Abschnitt aufgeschoben werden.\n56.\tWir kommen nun zu Webers Untersuchungen des W\u00e4rmeschmerzes. Hat man aus diesen Versuchen einen Zeitraum zwischen den intellektuellen und emotionellen Elementen des Schmerzes herleiten wollen, so findet in Webers eigenen \u00c4ufserungen diese Behauptung jedenfalls keine St\u00fctze. Er geht nur darauf aus, zu zeigen, dafs der Schmerz gew\u00f6hnlich st\u00e4rkere Reize erheischt und unter anderen Bedingungen entsteht, als die","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\neigentliche Empfindung; von einer Sonderung der emotionellen und intellektuellen Elemente des Schmerzes ist jedoch keine Rede. Auch Funke folgert weiter nichts aus diesen Versuchen, als dafs Schmerz etwas anderes als Empfindung sei1); hat man sp\u00e4ter gemeint, hierunter sei eine Sonderung des Empfindungsund Gef\u00fchls elements des Schmerzes zu verstehen, so beruht dies wohl zun\u00e4chst auf einem MifsVerst\u00e4ndnis, herbeigef\u00fchrt durch die oben erw\u00e4hnte Zweideutigkeit des Wortes Gef\u00fchl, welches bald von den selbst\u00e4ndig existierenden Seelenzust\u00e4nden, bald von den bei diesen mitbeth\u00e4tigten emotionellen Elementen gebraucht wird. Die Beobachtungen selbst zeigen deutlich, dafs es zwischen den W\u00e4rmeempfindungen und der daran gebundenen Unlust gar keinen Zeitraum gibt. Beim Eintauchen des Fingers in heifses Wasser entsteht erst eine schmerzlose Empfindung; darauf, wenn die W\u00e4rme tiefer eingedrungen ist und deswegen die Sinnesorgane st\u00e4rker affiziert, wird die Empfindung schmerzhaft. Wir haben hier einen dem oben besprochenen Falle der Ber\u00fchrung eines warmen Ofens ganz analogen Vorgang. Der um einen sp\u00e4teren Zeitpunkt auftretende Schmerz ist nicht ein durch die urspr\u00fcngliche Ber\u00fchrungs- oder W\u00e4rmeempfindung erwecktes isoliertes emotionelles Element; derselbe ist ein v\u00f6llig entwickeltes Gef\u00fchl, ein W\u00e4rmeschmerz, und enth\u00e4lt mithin sowohl intellektuelle als emotionelle Elemente. So fafst jedenfalls Weber selbst die Sache auf, was deutlich aus der Bemerkung hervorgeht, mit welcher er seine Untersuchungen einleitet: \u201eUm den Einflufs genauer zu ermitteln, welchen die Zeit auf die Entstehung des Schmerzes hat, die erforderlich ist, damit W\u00e4rme und K\u00e4lte tiefer in den K\u00f6rper eindringen und die Nerven-St\u00e4mme ergreifen, liefs ich . . .\u201c Also auch diese Versuche k\u00f6nnen nicht zum Beweis einer wirklichen Sonderung zwischen den Erkenntnis- und den Gef\u00fchlselementen des Schmerzes dienen. \u2014 Unser Resultat wird nun folgendes:\n57. Wenn man gemeint hat, in verschiedenen F\u00e4llen einen mefsharen Zeitraum zwischen den intellektuellen und den emotionellen Elementen eines Gef\u00fchls nachweisen zu k\u00f6nnen, so beruht dies auf einer falschen Deutung der Beobachtungen. Thatsache ist, dafs zur Erzeugung eines Schmerzgef\u00fchls eine st\u00e4rkere Beizung des Sinnesorganes erforderlich ist, als zur Erregung einer schmerzlosen\nx) Hermanns Handbuch der Physiologie. Bd. III. Abt. 2. S. 315.","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"I\nKeine isolierten Gef\u00fchlst\u00f6ne.\t47\nEmpfindung, und deswegen wird das Schmerzgef\u00fchl nach der Empfindung enistehen, weww der Beiz allm\u00e4hlich an St\u00e4rJce zunimmt. Der auf diese Weise sp\u00e4ter entstehende Schmerz ist aber kein isoliertes emotionelles Element, sondern wie jedes andere Gef\u00fchl an bestimmte Empfindungselemente gebunden.\n58. Wir gelangen jetzt zum letzten der gegen die Kan tische Gef\u00fchlstheorie erhobenen Einw\u00fcrfe, zu dem n\u00e4mlich, dafs in gewissen F\u00e4llen Gef\u00fchlst\u00f6ne ohne irgend ein Empfindungselement sollten entstehen k\u00f6nnen. Man geht von der Thatsache aus, dafs die Empf\u00e4nglichkeit der Haut f\u00fcr schmerzliche Einwirkungen in gewissen F\u00e4llen aufgehoben ist, w\u00e4hrend noch v\u00f6llige Empf\u00e4nglichkeit f\u00fcr schmerzlose Empfindungen besteht, und umgekehrt kann Empf\u00e4nglichkeit f\u00fcr Schmerz vorhanden sein, w\u00e4hrend das Verm\u00f6gen, schw\u00e4chere Eindr\u00fccke zu empfinden, aufgehoben ist, Ersteren Fall hat man die Analgesie oder die Analgie, letzteren die An\u00e4sthesie genannt. Die Analgesie tritt in gewissen Stadien der \u00c4ther- und Chloroformnarkosen regelm\u00e4fsig ein, aufserdem j ist sie bei Bleivergiftungen (Bleikachexie) beobachtet, und, wie Schiff nachgewiesen hat, entsteht sie in den hinteren Glied-mafsen von Tieren durch Durchschneidung der grauen Substanz des R\u00fcckenmarks oberhalb des Ansatzes der Lendennerven. In allen diesen F\u00e4llen wird jede Ber\u00fchrung empfunden, wie schwach sie auch sei, aber sogar die st\u00e4rksten Besch\u00e4digungen bringen kein Schmerzgef\u00fchl mit sich. Umgekehrt beobachtete Schiff bei Durchschneidung der weifsen Substanz des R\u00fcckenmarks, dafs leichte Ber\u00fchrungen keine Empfindung hervorriefen, w\u00e4hrend die Empf\u00e4nglichkeit f\u00fcr schmerzhafte Reize sich sogar vermehrt hatte. Man ist geneigt gewesen, besonders aus diesem letzten Versuch den Schlufs zu ziehen, dafs Gef\u00fchlst\u00f6ne (namentlich Unlust) entstehen k\u00f6nnten, ohne an irgend eine Empfindung gebunden zu sein. Es m\u00f6chte indes zweifelhaft sein, ob man : wirklich berechtigt ist, so viel aus den genannten Beobachtungen 1 zu folgern. In dem Umstande, dafs leichte Ber\u00fchrungen nicht i empfunden werden, w\u00e4hrend st\u00e4rkere Schmerz erzeugen, liegt I ja doch gar nicht gegeben, dafs der Schmerz, wenn er entsteht,\n, keinen bestimmten Charakter haben, kein Empfindungselement e enthalten sollte. Thats\u00e4chlich kennen wir unter normalen Ver- .\nh\u00e4ltnissen keinen Schmerz, der nicht ein eigent\u00fcmliches, ein \u00e9 stechendes, h\u00e4mmerndes, sengendes u. s. w. Gepr\u00e4ge h\u00e4tte; alle ] Erfahrungen des t\u00e4glichen Lebens deuten darauf hin, dafs diese","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nEmpfindungselemente stets im Schmerzgef\u00fchl vorhanden sind, und wir befinden uns deshalb aufser st\u00e4nde, uns die Vorstellung von einem Schmerz zu bilden, der nicht ein derartiges mehr oder minder bestimmtes Gepr\u00e4ge tr\u00fcge. Man ist deshalb berechtigt, grofse Sicherheit von den Beobachtungen zu verlangen, dafs das Unlustgef\u00fchl ohne irgend ein Empfindungselement bestehen k\u00f6nne,, ehe man auf eine solche Annahme einzugehen braucht. Die Physiologen scheinen denn auch nicht geneigt zu sein, die Sache auf diese Weise als eine vollst\u00e4ndige Isolierung des emotionellen Elements aufzufassen. So sagt Pan um: \u201ehierdurch (durch Durchschneidung der weifsen Substanz des R\u00fcckenmarks) entsteht wahrscheinlich eine \u00e4hnliche \u00c4nderung und Abschw\u00e4chung des Gef\u00fchls, wie wenn man einen dicken Handschuh anzieht, ohne dafs die Schmerzempfindung dadurch ausgeschlossen wird\u201c*). D\u00fcrfte man diese \u00c4ufserung ganz w\u00f6rtlich nehmen, so w\u00fcrde dieselbe offenbar die positive Behauptung enthalten, das intellektuelle Element des Schmerzes bestehe fortgesetzt : \u201e. . . Die Schmerzempfindung ist nicht ausgeschlossen.\u201c So ist der Satz nun aber nicht zu verstehen, denn Pan um gebraucht wie alle Physiologen die W\u00f6rter Empfindung und Gef\u00fchl gew\u00f6hnlich in ganz anderem Sinne als die Psychologen. Wo er im citierten Satze Gef\u00fchl sagt, sollte unserem Sprachgebrauch gem\u00e4fs Sinnesempfindung stehen, und bei der Schmerzempfindung denkt Pan um nicht speziell an das intellektuelle Element des Schmerzes, sondern an das Schmerzgef\u00fchl in seiner Gesamtheit. Gehen wir, dieser sprachlichen Bemerkungen eingedenk, nun vom Bilde mit dem Handschuh aus als dem bezeichnenden Ausdruck, wie Pan um sich das Verh\u00e4ltnis dachte, so ist seine Meinung doch die, dafs das Empfindungselement unver\u00e4ndert im Schmerzgef\u00fchle fortbestehe. Denn mit einem dicken Handschuh an der Hand wird man, wenn auch weniger sicher, noch im st\u00e4nde sein, die verschiedenen Arten des Schmerzes, W\u00e4rmeschmerz, Druckschmerz u. s. w. zu unterscheiden. Nur die schw\u00e4cheren, schmerzlosen Empfindungen sind es, die nicht zum Bewufstsein kommen. Diese Auffassung stimmt auch v\u00f6llig mit der Erkl\u00e4rung der An\u00e4sthesie und der Analgesie, die Funke* 2) und\n1)\tNervesystemets Fysiologi (Die Physiologie des Nervensystems).\n2. Aufl. Kopenhagen 1883. S. 216.\n2)\tHermanns Handbuch d. Physiologie. III. Abt. 2. S. 297.","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"An\u00e4sthesie und Analgesie.\n49\nW u n d t*) gegeben haben, und der die meisten Forscher, welche sich mit diesen Erscheinungen besch\u00e4ftigten, beizutreten scheinen * 2).\n59. Bei der physiologischen Erkl\u00e4rung der erw\u00e4hnten Verh\u00e4ltnisse, der An\u00e4sthesie und der Analgesie, hat man sich namentlich auf die Resultate gest\u00fctzt, die durch partielle Durchschneidungen des R\u00fcckenmarks erzielt wurden. Da die schmerzlosen Empfindungen durch Zerst\u00f6rung der weifsen Str\u00e4nge wegfallen, der Schmerz dagegen durch Durchschneidung des grauen Teils, so ist gegeben, dafs das Entstehen dieser verschiedenen Seelenzust\u00e4nde durch eine verschiedene Leitung f\u00fcr die durch \u00e4ufsere Reizungen ausgel\u00f6sten Nervenbewegungen bedingt ist. Und die einfachste Annahme w\u00e4re nun die, dafs die Empfindung entstehe, wenn die Bewegung sich ausschliefslich durch die weifsen Str\u00e4nge des R\u00fcckenmarks bis ins Gehirn fortpflanze; gehe die Bewegung zugleich durch die grauen, so tr\u00e4ten die emotionellen Elemente hinzu. So w\u00e4re das Verh\u00e4ltnis aufzufassen, wenn die oben kritisierte Ansicht recht h\u00e4tte, denn hierdurch w\u00e4re die reelle Sonderung zwischen intellektuellen und emotionellen Elementen erm\u00f6glicht. Funke und Wundt nahmen die Sache indes anders, teils weil es keine sicheren Beobachtungen ; gibt, welche darlegten, dafs das Schmerzgef\u00fchl in der An\u00e4sthesie ! wirklich der Empfindungselemente ermangle, teils weil man die \u25a0 einzelnen Faktoren, in welche die psychologische Analyse eine Seelenerscheinung aufzul\u00f6sen vermag, nicht ohne weiteres auf getrennte physiologische Bahnen oder Organe beziehen kann. Die genannten Forscher nehmen deshalb an, der Schmerz entstehe, wenn ein Reiz von bedeutender St\u00e4rke das Zentralorgan treffe, w\u00e4hrend schw\u00e4chere Eindr\u00fccke nur schmerzlose Empfindungen ausl\u00f6sten. Auf dieser Basis lasse sich n\u00e4mlich schon allein vermittelst gewisser physiologischer Beobachtungen \u00fcber den Leitungswiderstand in den verschiedenen Teilen des R\u00fcckenmarks eine Erkl\u00e4rung durchf\u00fchren. \u2014 In der grauen Substanz ruft ein einzelner schwacher Reiz erfahrungsm\u00e4fsig gar keine Bewegung hervor; damit hier ein Nervenstrom entstehe, ist entweder ein sehr starker Eindruck oder eine Reihe schnell aufeinander folgender schw\u00e4cherer Eindr\u00fccke erforderlich. Hier ist also\n*) Physiologische Psychologie. 2. Aufl. Bd. I. S. 110\u2014111.\n2) Vgl. Goldscheider im Archiv f. Anat. u. Physiol. 1885. S. 90\u201491. Lehmann, Die Gef\u00fchle.\t4","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\ngleichsam ein Verm\u00f6gen, die Eindr\u00fccke zusammenzulegen; erst wenn die Summe der Reize hinl\u00e4ngliche St\u00e4rke erreicht hat, wird der Strom ausgel\u00f6st, und die hierdurch erzielte Wirkung, z. B. eine Muskelbewegung, erh\u00e4lt dann stets bedeutende St\u00e4rke. Durch die weifse Substanz dagegen werden schon schwache Reize fortgepflanzt; hier ist kein Verm\u00f6gen, die Eindr\u00fccke anzusammeln, und die ausgel\u00f6ste Bewegung erh\u00e4lt daher jedenfalls bedeutend geringere St\u00e4rke, weil selbst bei starken Eindr\u00fccken ein Maximum f\u00fcr die St\u00e4rke des Stromes existiert, der sich durch diesen Teil der Nervensubstanz fortpflanzen kann.\n60.\tDurch diese Thatsachen sind nun sowohl die normalen als die pathologischen Beziehungen zwischen der Empfindung und dem Schmerz leicht zu erkl\u00e4ren. Ist das R\u00fcckenmark unbesch\u00e4digt, so wird eine schwache Reizung des Sinnesorganes sich nur durch die weifse Substanz fortpflanzen, und die schwache Reizung, die somit das Zentralorgan trifft, erzeugt eine schmerzlose Empfindung. W\u00e4chst die Reizung des Sinnesorganes an, so wird die Hauptbahn (durch die weifsen Str\u00e4nge) nicht den ganzen Strom leiten k\u00f6nnen, ein Teil desselben nimmt den Weg durch die graue Substanz, summt sich hier auf und bewirkt schliefslich eine starke Erregung des Sensoriums, wodurch der Schmerz entsteht. Ganz auf dieselbe Weise verh\u00e4lt es, sich in den pathologischen F\u00e4llen. Nach Durchschneidung der weifsen Str\u00e4nge kann ein schwacher Eindruck \u00fcberhaupt nicht zum Bewufstsein gelangen ; es findet alsdann An\u00e4sthesie statt, schmerzlose Empfindungen kommen gar nicht vor. Erst bei hinl\u00e4nglich starken Eindr\u00fccken geht der Strom durch die unverletzte graue Substanz und erzeugt Schmerz verschiedener Art, je nach dem gereizten Sinnesorgan. Nach Zerst\u00f6rung der grauen Substanz dagegen werden sogar starke Reize keinen Schmerz erzeugen, weil die Leitung durch die weifsen Str\u00e4nge so leicht vor sich geht, dafs der Nervenstrom zu keiner bedeutenden Intensit\u00e4t anwachsen kann. Dasselbe ist der Fall, wenn das Leitungsverm\u00f6gen der grauen Masse durch Einwirkung an\u00e4sthetischer Mittel: \u00c4ther, Chloroform u. s. w., aufgehoben wird. Unter allen diesen Verh\u00e4ltnissen findet Analgesie statt, Schmerz kann gar nicht entstehen.\n61.\tWider diese Erkl\u00e4rung der Analgesie l\u00e4fst sich jedoch ein scheinbar gewichtiger Einwurf erheben. Es ist eine bekannte Sache, dafs man bei Hypnotisierten sowohl An\u00e4sthesie als Analgesie","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"Suggerierte Analgesie.\n51\ndurch Suggestion hervorrufen kann. In betreff der An\u00e4sthesie ist dies nicht schwer zu erkl\u00e4ren, ganz unabh\u00e4ngig von der Auffassung, die man r\u00fccksichtlich der physiologischen Ab\u00e4nderungen w\u00e4hrend der Hypnose vorziehen m\u00f6chte. So viel ist jedenfalls sicher, dafs gewisse Teile des Zentralorganes w\u00e4hrend des hypnotischen Zustandes ganz oder zum Teil aufser Funktion gestellt sind, zugleich die Funktion anderer Teile dagegen wahrscheinlich erh\u00f6ht ist. Und ebenfalls ist es eine Thatsache, dafs diese Funktionsst\u00f6rungen sich durch Suggestionen beeinflussen lassen, durch Vorstellungen, die auf verschiedene Weise dem Hypnotisierten eingegeben werden. Ist nun die Funktion des Sensoriums stark abgeschw\u00e4cht, so leuchtet es ein, dais schwache Reizungen eines Sinnesorganes nicht zum Bewufstsein gelangen k\u00f6nnen, w\u00e4hrend st\u00e4rkere Reizungen noch im st\u00e4nde sind, sich den Weg zu bahnen, und in diesem Falle besteht also An\u00e4sthesie. Anders verh\u00e4lt es sich dagegen w\u00e4hrend der Analgesie. Es ist anzunehmen, dafs das Sensorium hier un-geschw\u00e4cht ist, da schwache Eindr\u00fccke sich ja ganz ebenso wie unter normalen Verh\u00e4ltnissen sollen auffassen lassen; die Funktionsst\u00f6rung mufs also in den Leitungsbahnen liegen, da die starken schmerzhaften Reizungen nicht zum Bewufstsein kommen k\u00f6nnen. Nun ist es aber im h\u00f6chsten Grade unwahrscheinlich, dafs eine solche Aufhebung des Leitungsverm\u00f6gens bestimmter Bahnen wirklich durch die Suggestion hervorgebracht wird. Allerdings kann man die sonderbarsten Funktionsst\u00f6rungen allerw\u00e4rts im Organismus hervorrufen; diese \u00c4nderungen erfordern aber stets sehr lange Zeit; die suggerierte Analgesie dagegen tritt fast augenblicklich ein, jedenfalls in ihren leichteren Formen (vollst\u00e4ndige Analgesie ist \u00fcberhaupt sehr selten). Hieraus scheint denn zu folgen, dafs die oben von der pathologischen Analgesie gegebene Erkl\u00e4rung sich mit Bezug auf die suggerierte nicht durchf\u00fchren l\u00e4fst.\n62. Meines Ermessens verh\u00e4lt die Sache sich so, dafs die sogenannte suggerierte Analgesie gar keine Analgesie ist in dem Sinne, in welchem wir uns bisher dieses Wortes bedienten. Unstreitig l\u00e4fst sich Schmerzlosigkeit suggerieren, dann verschwindet aber auch die Empf\u00e4nglichkeit f\u00fcr schwache Eindr\u00fccke. In der fast endlosen hypnotischen Litteratur liegt kein einziger unzweifelhafter Nachweis vor, dafs sich w\u00e4hrend der normalen\nHypnose, d. h. bei Nicht-Hysterischen, unter unver\u00e4nderter\n4*","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\nEmpf\u00e4nglichkeit f\u00fcr schwache Reizungen des Sinnesorganes Schmerzlosigkeit erzeugen lasse. Was man bei Hypnotisierten Analgesie zu nennen pflegt, scheint nur eine hochgradige An\u00e4sthesie zu sein, zun\u00e4chst also ein Zustand, in welchem nicht nur schwache, sondern auch solche (ytarken Reize, die gew\u00f6hnlich schmerzhaft sind, sich nicht den Weg zum Bewufstsein zu bahnen verm\u00f6gen. Es bedarf keines n\u00e4heren Nachweises, dais ein derartiger Zustand leicht durch eine mehr oder weniger vollst\u00e4ndige Schw\u00e4chung der Th\u00e4tigkeit des Sensoriums zu erkl\u00e4ren ist, und derselbe l\u00e4fst sich also nicht als Argument gegen die Erkl\u00e4rung der pathologischen Analgesie verwenden, von welcher er sich in einem sehr wesentlichen Punkt unterscheidet. Unser Resultat wird also folgendes :\n63.\tWenn man gemeint hat, aus gewissen pathologischen Beobachtungen den Schlufs ziehen zu k\u00f6nnen, dafs der Gef\u00fchlston Unlust von jeglichem Empfindungselement isoliert Vorkommen k\u00f6nne, so ist ein solcher Schlufs unberechtigt. Es liegt keine einzige Erfahrung vor, die entschieden daf\u00fcr redet, dafs der Schmerz, der im Falle der An\u00e4sthesie entstehen kann, kein Empfindungselement enthalte, und die Beziehung zwischen Empfindung und Schmerz w\u00e4hrend der An\u00e4sthesie und der Analgesie ist auch am nat\u00fcrlichsten unter der Voraussetzung zu erkl\u00e4ren, dafs eine reelle Sonderung zwischen den Empfindungs- und den Gef\u00fchlselementen nicht vorkommt.\n64.\tDa unsere vorhergehenden Untersuchungen wesentlich auf die Ber\u00fchrungsempfindungen, Druck-, W\u00e4rme- und K\u00e4lteempfindungen abzielten, m\u00fcssen Avir noch in K\u00fcrze die Organempfindungen, d. h. die Empfindungen der Zust\u00e4nde der inneren Organe besprechen. Von diesen ist zwar nicht viel zu sagen, da sie verh\u00e4ltnism\u00e4fsig erst wenig untersucht sind; in der j\u00fcngsten Zeit hat man jedoch gemeint, in der Empfindung der Zust\u00e4nde der inneren Organe einen Beweis f\u00fcr den Satz zu finden, dafs Gef\u00fchlst\u00f6ne isoliert Vorkommen k\u00f6nnten. Die Behauptung ist aufgestellt worden, es gebe eigentlich nichts, was Organempfindungen genannt werden k\u00f6nnte, weshalb die eigent\u00fcmlichen Artunterschiede, welche die Schmerzen in den inneren Organen darb\u00f6ten, als besondere Gef\u00fchlsqualit\u00e4ten zu betrachten seien. So schreibt O. Kiilpe: \u201eNur die Erfahrung kann den Streit (ob Gef\u00fchlsqualit\u00e4ten \u00fcberhaupt existieren) entscheiden, und zwar isolierte Gef\u00fchle. Wir kennen solche in den inneren Teilen","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"Betonung der Organempfindungen.\n53\nunseres K\u00f6rpers; es ist bekannt, dafs dieselben empfindungsfrei sind, wohl aber der Sitz heftiger Schmerzen sein k\u00f6nnen. Da nun diese Schmerzen ein qualitativ verschiedenes Gepr\u00e4ge tragen, so ist zu folgern, dafs die intensiven Unlustgef\u00fchle und bei der allgemeinen Gleichartigkeit der Gef\u00fchle diese \u00fcberhaupt nicht blofs Intensit\u00e4ts-, sondern auch Qualit\u00e4tsunterschiede zeigen.\u201c1) Wie man sieht, folgert K\u00fclpe aus den beiden Pr\u00e4missen, unsere inneren Organe seien empfindungsfrei, aber dennoch der Sitz heftiger Schmerzen, den Schlufs, dafs diese Schmerzen und mithin auch alle anderen Gef\u00fchle qualitativ verschieden seien, d. h. Artuntersehiede bes\u00e4fsen, welche nicht durch die intellektuellen Elemente, an die die Gef\u00fchlst\u00f6ne gebunden sind, bestimmt w\u00e4ren. In dieser Konklusion ist aber ganz sicher die eine Pr\u00e4misse und wahrscheinlich der Folgesatz falsch, was wir nun nachweisen werden.\n65. Ist K\u00fclpe wirklich ein so schlechter Beobachter, dafs er im Innern des Organismus niemals Empfindungen mit einer ganz unbestimmten, kaum nachweisbaren Gef\u00fchlsbetonung gemerkt h\u00e4tte? Wenn man in erhitztem Zustand etwas Kaltes trinkt, oder wenn man an einem kalten Tage die Lebensgeister durch etwas Warmes oder in Ermangelung dessen durch ein Gl\u00e4schen zu erregen sucht, so hat man unzweifelhaft doch eine ganze Keihe von Empfindungen im Innern des Organismus. Erst empfindet man, dafs der Trunk hinuntergleitet, und darauf merkt man dessen Wirkungen als durchaus unbestimmbare Empfindungen in sozusagen dem ganzen Organismus. Da alle diese Empfindungen thats\u00e4chlich, wenngleich sehr unbestimmt, rund herum im K\u00f6rper lokalisiert werden, kann man doch nicht recht wohl sagen, das Innere des Organismus sei durchaus empfindungsfrei. Und stellt man sich auf und f\u00fchrt gymnastische Bewegungen aus, so kommen auch hier eine ganz neue Keihe Organempfindungen zum Bewufstsein, teils Empfindungen der Keibung der Haut \u00fcber den Muskeln, teils der Streckungen und Beugungen der verschiedenen Muskeln, der st\u00e4rkeren Luft-anf\u00fcllung der Lungen u. s. w. Oder hat Herr K\u00fclpe sich nie nach einem wohlbesetzten Tische behaglich in einem weichen Lehnsessel niedergelassen und unter vereinter Wirkung des Nichtsthuns und der Zigarre gef\u00fchlt, wie \u201edas Essen sich\nq Vierteljahrsehrit f\u00fcr wissenschaftliche Philosophie, 1887, S. 442.","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"54\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\nsackt\u201c ? Schon dieser popul\u00e4re Ausdruck zeigt uns, dafs wir es hier mit einer Empfindung zu thun haben, die im Innern des Organismus lokalisiert wird. Dasselbe gilt der von Fechner beschriebenen \u201eSpannung der Aufmerksamkeit\u201c1), die doch unzweifelhaft h\u00e4ufig eine sozusagen gef\u00fchlsfreie und bestimmt lokalisierte Organempfindung ist.\n66. Alle die erw\u00e4hnten Organempfindungen werden, obschon sie h\u00e4ufig ann\u00e4hernd gef\u00fchlsfrei sind, im allgemeinen doch von einem Gef\u00fchlstone begleitet sein. Ist der Reiz hinl\u00e4nglich schwach, werden die Empfindungen angenehm sein; im entgegengesetzten Falle schl\u00e4gt der Gef\u00fchlston in Unlust \u00fcber. Ist der Trank zu heifs oder zu kalt, sind die Bewegungen zu gewaltsam, hat man mehr gegessen, als eigentlich not that, so erh\u00e4lt der Zustand sogleich das Gepr\u00e4ge der Unlust. Viele Organempfindungen gehorchen also demselben Gesetz, das oben f\u00fcr die Druck- und Temperaturempfindungen nachgewiesen ward. Anderseits ist indes nicht zu bestreiten, dafs vielfache Ver\u00e4nderungen im Innern erst dann zum Bewufstsein gelangen,-wenn sie solche Intensit\u00e4t oder Ausdehnung erreicht haben, dafs sie Unlust erregen. Es besteht also wirklich im Innern des K\u00f6rpers gewissermafsen eine \u201enormale An\u00e4sthesie\u201c, die sich\nm\u00f6glicherweise ebenso erkl\u00e4ren liefse wie die pathologische.\n\u2022 \u2022 _ _ \u201c\n\u00dcbrigens ist es ganz gleichg\u00fcltig, wie man dieses Verh\u00e4ltnis erkl\u00e4ren m\u00f6chte. Denn sobald eine Ver\u00e4nderung im Innern des Organismus als Schmerz zum Bewufstsein kommt, hat dieser stets seinen eigent\u00fcmlichen Charakter des Stechens, Prickelns, Bohrens, Jagens u. s. w., und nicht das Geringste widerspricht der Annahme, dafs wir es hier mit Empfindungselementen zu thun haben. Dafs die verschiedenen Eigent\u00fcmlichkeiten von physischen oder chemischen Reizungen der sensiblen Nervenendigungen herr\u00fchren, wird schwerlich jemand bezweifeln, und der Umstand, dafs die verschiedenen Arten von Schmerz in fast jedem Organvorkommen k\u00f6nnen, enth\u00e4lt doch keinen Grund, das Entstehen der Arteigent\u00fcmlichkeiten aus Empfindungs element en zu bestreiten. Druck-, W\u00e4rme- und K\u00e4lteschmerz werden an der ganzen Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers aufgefafst, und mit Bezug auf diese ist es unbestreitbar, dafs die Arteigent\u00fcmlichkeiten von Empfindungselementen herr\u00fchren [45\u201451].\n1 Elemente der Psychophysik. II. S. 475.","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"Res\u00fcmee.\n55\n67.\tK\u00fclpes erste Pr\u00e4misse: das Innere des Organismus sei empfindungsfrei, ist also falsch. Denn erstens gibt es viele Organempfindungen, die bald das Gepr\u00e4ge der Lust, bald das der Unlust tragen, und bald ann\u00e4hernd gef\u00fchllos, neutral sind, wodurch sie sich deutlich als Empfindungen charakterisieren. Und ferner gibt es allerdings viele Ver\u00e4nderungen im Organismus, die nur als Schmerzen zum Bewufstsein kommen, da diese aber aufser der Unlust stets noch ein Element enthalten, das ihnen ihr Sondergepr\u00e4ge verleiht, so wird es der Analogie mit allen m\u00f6glichen anderen Gef\u00fchlen gem\u00e4fs am nat\u00fcrlichsten, anzunehmen, dafs dieses Element ein Empfin dungs element ist. Dieser Schlufs d\u00fcrfte gewifs mehr wissenschaftlich sein als derjenige K\u00fclpes. Wenn es einmal feststeht, dafs die Arteigent\u00fcmlichkeiten der Gef\u00fchle, was die \u00fcberwiegende Mehrzahl derselben betrifft, sich als Empfindungsqualit\u00e4ten erkl\u00e4ren lassen, ist dann nicht die Annahme die wahrscheinlichste, dafs dasselbe auch von den wenigen gelten mufs, die uns am wenigsten bekannt sind, weil sie sich am leichtesten der Untersuchung entziehen? Zu* einem anderen \u00bbSchl\u00fcsse kann ich wenigstens nicht gelangen.\nRes\u00fcmee.\nWir haben nun alle die auf Grundlage der Erfahrung wider die Kantische Gef\u00fchlstheorie erhobenen Einw\u00fcrfe durchgegangen. Wir fanden einerseits zahlreiche Thatsachen, welche direkt f\u00fcr die G\u00fcltigkeit der Theorie sprechen, und anderseits wurde nachgewiesen, dafs verschiedene der Theorie scheinbar widerstreitende\n\u2022 \u2022\nPh\u00e4nomene leicht und zwanglos mit derselben in \u00dcbereinstimmung zu bringen sind. Die Ergebnisse der ganzen Untersuchung m\u00fcssen demnach folgende werden:\n68.\tDer Gegensatz zwischen den intellektuellen und den emotionellen Zust\u00e4nden ist dadurch charakterisiert, dafs, w\u00e4hrend die Vorstellungen stets \u00fcber sich selbst hinaus auf eine vom vorstellenden Subjekt verschiedene Aufsenwelt hindeuten, das Gef\u00fchl nur das Subjekt selbst betrifft.\n69.\tEin rein emotioneller Bewufstseinszustand kommt nicht vor; Lust und Unlust sind stets an Erkenntniselemente gebunden.\n70.\tAlle selbst\u00e4ndig existierenden Gef\u00fchle sind als zusammengesetzte, komplexe Erscheinungen zu betrachten, in","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"56\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nwelchen intellektuelle und emotionelle Elemente in unaufl\u00f6slicher Verbindung zusammenfliefsen. Nur mittels Abstraktion, in der psychologischen Analyse, kann von Gef\u00fchlst\u00f6nen als selbst\u00e4ndigen Erscheinungen die Rede sein.\n71. Der eigent\u00fcmliche Charakter der einzelnen Gef\u00fchle ist durch diejenigen Erkenntniselemente (Empfindungen, Vorstellungen und Vorstellungskomplexe) bedingt, an welche die Gef\u00fchlst\u00f6ne Lust und Unlust gebunden sind.\nDas Verh\u00e4ltnis der Gef\u00fchle zu den k\u00f6rperlichen\nZust\u00e4nden.\nBestimmung des Verh\u00e4ltnisses zwischen Gef\u00fchl, Affekt und\nStimmung.\n72. Seit dem ersten Anfang der psychologischen Forschung hat man die Affekte oder Gem\u00fctsbewegungen von den eigentlichen Gef\u00fchlen ausgesondert; die n\u00e4here Bestimmung des Verh\u00e4ltnisses zwischen diesen beiden Gruppen von Seelenzust\u00e4nden ist nat\u00fcrlich aber immer eine sehr vage und willk\u00fcrliche gewesen, solange das Verh\u00e4ltnis der Gef\u00fchle zu den Vorstellungen noch nicht genau untersucht war. Und auch nachdem Tetens\nund Kant die Wissenschaft auf diesem Gebiete einen bedeuten-\n;\nden Schritt vorw\u00e4rts gef\u00fchrt hatten [10], stand man noch der\nNatur der Affekte so gut wie verst\u00e4ndnislos gegen\u00fcber. In der\n\u201eAnthropologie\u201c behandelt Kant die Affekte im Abschnitte: vom\nBegehrungsverm\u00f6gen, betrachtet dieselben aber nichtsdestoweniger\nwesentlich als Gef\u00fchle, indem er sagt: \u201eDas Gef\u00fchl einer Lust\noder Unlust im gegenw\u00e4rtigen Zustande, welches im Subjekt die \u2022 \u2022\n\u00dcberlegung (die Vernunftvorstellung, ob man sich ihm \u00fcberlassen\noder weigern solle) nicht aufkommen l\u00e4fst, ist der Affekt.\u201c Und\n\u2022 \u2022\nkurz darauf wird hinzugesetzt: \u201eder Affekt ist \u00dcberraschung\ndurch Empfindung, wodurch die Fassung des Gem\u00fcts (animus\nsui compos) aufgehoben wird. Er ist also \u00fcbereilt, d. i. er w\u00e4chst\n\u2022 \u2022\ngeschwinde zu einem Grade des Gef\u00fchls, der die \u00dcberlegung unm\u00f6glich macht.\u201c1) Kants Meinung ist also die, dafs die\n1) Ausgabe Kirschmann. S. 164\u2014165.","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"Vorl\u00e4ufige Definition des Affekts.\n57\nGem\u00fctsbewegung ein durch pl\u00f6tzlichen, \u00fcberraschenden Stofs erwecktes Gef\u00fchl sei, welches den normalen Lauf der Vorstellungen deswegen hemme, weil es eine bedeutende St\u00e4rke erreiche. Diese Auffassung scheint mit einzelnen Modifikationen die bis in die j\u00fcngste Zeit allgemein angenommene zu sein. So werden bei Lotze die Gef\u00fchle von den Affekten unterschieden: \u201edie wie Zorn und Wut eine im Ganzen feststehende Gesinnung durch einen pl\u00f6tzlichen Reiz zu dem \u00e4ufsersten der Lust und Unlust und zu mancherlei gewaltsamen Strebungen treiben.\u201c x) Bei den Herbartianern fanden die Affekte h\u00e4ufig eingehende Behandlung, die in der Hauptsache die von Kant gegebene Definition anerkennt, jedoch mit der von Herbart eingef\u00fchrten Ab\u00e4nderung, dafs die St\u00e4rke des Gef\u00fchls nicht als Ursache der St\u00f6rung des Vorstellungslaufes betrachtet wird, sondern im Gegenteil als ein Abgeleitetes, als eine Wirkung der durch den pl\u00f6tzlichen Stofs erzeugten St\u00f6rung. Dies steht ganz nat\u00fcrlich mit der oben kritisierten Herbartschen Grundanschauung in Verbindung, der zufolge das Gef\u00fchl etwas Abgeleitetes ist, aus der Wechselwirkung der Vorstellungen hervorgeht; von diesem Standpunkt aus wird es naturgem\u00e4fs, die pl\u00f6tzliche Hemmung des Vorstellungslaufes als Ursache des Gef\u00fchls aufzustellen. Unsere Kritik der Herbartianischen Auffassung vom Wesen der Gef\u00fchle trifft indes, wie leicht zu ersehen, nicht deren Bestimmung der Affekte. Denn auch wenn man annehmen mufs, dafs das Gef\u00fchl ein ebenso urspr\u00fcngliches psychisches Element ist wie die Empfindungen, ist es darum gar nicht gegeben, dafs es bei den Affekten die St\u00e4rke des Gef\u00fchls sei, die die St\u00f6rungen des Vorstellungslaufes bedingt; das Umgekehrte kann ebenso wohl der Fall sein. Mit Kant k\u00f6nnen wir daher Nahlowsky zusammenstellen, der den Affekt definiert : \u201eals die durch einen \u00fcberraschenden Eindruck bewirkte, vor\u00fcbergehende Verr\u00fcckung des inneren Gleichgewichts, wodurch auch der Organismus in Mitleidenschaft gezogen wird, demgem\u00e4fs die besonnene \u00dcberlegung und freie Selbstbestimmung entweder reduziert oder sogar momentan aufgehoben wird.\u201c* 2) Es er\u00fcbrigt nun dia Beantwortung der Frage, welcher der beiden Forscher in betreff\n*) Medizinische Psychologie. S. 260.\n2) Das Gef\u00fchlsleben. S. 180.","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"58\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\ndes Kausalzusammenhanges zwischen dem Gef\u00fchl und der St\u00f6rung des Vorstellungslaufes recht hat.\n78. Eine eigent\u00fcmliche Stellung nimmt Wundt diesem Problem gegen\u00fcber ein, indem er meint, beide Parteien h\u00e4tten zum Teil recht. Kant habe insofern recht, als der Affekt stets mit einem starken Auflodern des Gef\u00fchls seinen Anfang nehme, wodurch der normale Verlauf der Vorstellungen gehemmt werde ; diese St\u00f6rung wirke dann aber auf das Gef\u00fchl zur\u00fcck und verst\u00e4rke dasselbe \u2014 hierin liege das Wahre der Herbartianischen Auffassung. \u201eDie Affekte sind teils unmittelbare Wirkungen der Gef\u00fchle auf den Verlauf der Vorstellungen, teils R\u00fcckwirkungen dieses Verlaufs auf das Gef\u00fchl.\u201c 1) Inwiefern diese Bestimmung richtig ist, k\u00f6nnen wir nat\u00fcrlich nicht hier entscheiden, wro es nur gilt, die von verschiedenen Forschern gegebenen Definitionen hervorzuziehen, um aus denselben solche charakteristische Erscheinungen herzuleiten, durch welche die Affekte sich von anderen Seelenzust\u00e4nden unterscheiden lassen. Und in dieser Beziehung sind aufser den St\u00f6rungen des Vorstellungslaufes zugleich die von Nahlowsky ber\u00fchrten k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen von grofser Bedeutung. Wir k\u00f6nnen indes nicht ohne Vorbehalt Nahlowskys Auffassung dieses Punktes beitreten. Dieser betrachtet die k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen n\u00e4mlich offenbar als eine Wirkung der \u201evor\u00fcbergehenden Verr\u00fcckung des inneren Gleichgewichts\u201c. Aus dem t\u00e4glichen Leben ist es nun wohlbekannt, wie gewaltig die Gem\u00fctsbewegung in den gesamten Zustand des Organismus eingreifen und die wichtigsten vegetativen Funktionen, das Atmen, den Herzschlag, die Verdauungsth\u00e4tig-keit u. s. w. \u00e4ndern kann. Es ist undenkbar, dafs alle diese organischen St\u00f6rungen etwas rein Zuf\u00e4lliges, f\u00fcr das Wesen der Affekte Gleichg\u00fcltiges sein sollten; die Verbindung und Relation zwischen dem K\u00f6rperlichen und dem Psychischen ist an allen anderen Punkten eine so feste, dafs nicht anzunehmen ist, bedeutende Einwirkungen auf den Organismus k\u00f6nnten ohne R\u00fcckwirkungen auf den Seelenzustand verlaufen. Man darf deswegen, wenn man die eigentliche Natur der Affekte verstehen will, nicht ausschliefslich bei den Ergebnissen der Selbstbeobachtung stehen bleiben; diese sind im allgemeinen gar zu unsicher, und speziell m\u00f6chte es im vorliegenden Fall unm\u00f6glich\n*) Physiologische Psychologie. 2. Aufl. II. S. 327\u2014328.","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"Affekt und Stimmung.\n59\nsein, auf diesem Wege allein eine so zusammengesetzte Erscheinung, als welche die Gem\u00fctsbewegungen sich thats\u00e4chlich erweisen, ins reine zu bringen. So sicher es deshalb ist, dafs die k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen eine den Affekten \u00e4ufserst charakteristische Erscheinung sind, so unsicher ist es ebenfalls, in welcher Beziehung diese Ver\u00e4nderungen zu dem gleichzeitigen Bewufstseinszustande stehen. Und da nun jede vorl\u00e4ufige Definition erstens die f\u00fcr die Objekte am meisten charakteristischen Erscheinungen angeben soll und ferner nichts Problematisches enthalten darf, so bestimmen wir die Affekte vorl\u00e4ufig als:\n74.\tSeelenzust\u00e4nde, in welchen starke Gef\u00fchle mit gr\u00f6fserer oder geringerer St\u00f6rung des normalen Vorstellungslaufes verbunden sind, und welche zugleich von verschiedenen Ver\u00e4nderungen des k\u00f6rperlichen Zustandes begleitet werden.\nDurch diese Formulierung schliefsen wir jegliche voraus-gefafste Anschauung von dem Verh\u00e4ltnisse zwischen den drei charakteristischen Momenten aus, welches Gegenstand n\u00e4herer Untersuchung werden mufs; bevor wir aber zu dieser \u00fcbergehen , wird noch ein Punkt der vorl\u00e4ufigen Definition zu erw\u00e4gen sein.\n75.\tSowohl Kant als Nahlowsky legt der \u00dcberraschung wesentliche Bedeutung f\u00fcr den Affekt bei, und \u00fcberhaupt d\u00fcrfte es eine recht allgemeine Anschauung sein, dafs ein Affekt gew\u00f6hnlich durch einen pl\u00f6tzlichen Stofs entstehe. Nichtsdestoweniger ist es zweifelhaft, ob es zur Erzeugung einer Gem\u00fctsbewegung wirklich notwendigerweise eines unversehenen momentanen Eindrucks bedarf. Es kann keinem Zweifel unterworfen sein, dafs der pl\u00f6tzliche, \u00fcberraschende Eindruck stets ein st\u00e4rkeres Hervortreten des Affektes bewirkt. Befindet sich ein Individuum in normalem Gleichgewicht des Gem\u00fcts, so wird eine pl\u00f6tzliche, erfreuliche oder traurige Mitteilung einen Affekt erzeugen k\u00f6nnen, der im Gegensatz zur vorigen Ruhe sehr auff\u00e4llig wird. Aber eben weil die Gem\u00fctsbewegung sich also am deutlichsten zeigt, wenn sie durch einen Stofs hervorgerufen wird, ist eine gewisse Wahrscheinlichkeit vorhanden, dafs man diese F\u00e4lle besonders bemerkt und aus denselben den Schlufs gezogen hat, der pl\u00f6tzliche Stofs sei eine notwendige Bedingung ihres Entstehens. Ist dieser Schlufs nun aber richtig? L\u00e4fst es sich nicht denken, dafs man durch eine Reihe successiver schwacher Eindr\u00fccke, die jeder f\u00fcr sich nur eine fast unmerkbare St\u00f6rung des","page":59},{"file":"p0060.txt","language":"de","ocr_de":"60\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\nvorhandenen Zustandes bewirkten, einen Affekt erzeugen k\u00f6nnte ? Die Erfahrung scheint hierf\u00fcr zu sein. Bekanntlich kann man sich in Zorn arbeiten. Bei der Erinnerung an eine gewisse, urspr\u00fcnglich Zorn erregende Lage, kann man f\u00fchlen, wie dieser aufs neue wieder aufflammt, und indem man sich nun mit diesen Vorstellungen herumbalgt und die Lage immer mehr mit d\u00fcsteren Farben ausmalt, ist man im st\u00e4nde, sich selbst auf den Siedepunkt zu bringen. Und durch \u00e4ufsere Beizungen ist dasselbe zu erreichen wie durch reproduzierte Vorstellungen. Eine Reihe von Unf\u00e4llen, die jeder f\u00fcr sich nicht viel zu bedeuten haben w\u00fcrden, kann einen Menschen in einen \u00e4hnlichen Zustand der Trauer und des Kummers versenken, wie derjenige ist, welchen eine einzelne pl\u00f6tzliche, aber viel ernsthaftere Begebenheit erzeugen w\u00fcrde. Es scheint also zwischen dem momentan und dem successive hervorgerufenen Affekt kein wesentlicher Unterschied zu sein; ersterer verl\u00e4uft freilich im allgemeinen etwas geschwinder als letzterer und \u00e4ufsert sich meistens zugleich gewaltsamer; da dies aber keine Art-, sondern nur Intensit\u00e4tsund Extensit\u00e4tsunterschiede sind, kann man nicht sagen, der pl\u00f6tzliche, \u00fcberraschende Eindruck sei eine notwendige Bedingung f\u00fcr das Entstehen des Affekts.\n76. Hiergegen liefse sich n\u00fcn freilich einwenden, nur der durch einen pl\u00f6tzlichen Stofs erweckte Affekt sei eine wirkliche Gem\u00fctsbewegung, w\u00e4hrend der successive anwachsende zun\u00e4chst eine \u201eStimmung\u201c sei. Eine solche Sonderung scheint sich jedoch dem gew\u00f6hnlichen psychologischen Sprachgebrauch gem\u00e4fs kaum behaupten zu lassen. Nahlowsky hat in der Hauptsache sicher das Rechte getroffen, wenn er sagt: \u201eUnter Stimmung verstehen wir jenen lediglich durch seinen Grundton charakterisierten Kollektivzustand des Gem\u00fcts, welcher (in der Regel) weder das Hervortreten bestimmter Sondergef\u00fchle, noch das klare Bewufst-sein seiner veranlassenden Ursachen gestattet.\u201c1) Geht man von der Richtigkeit dieser Definition aus, so wird eine durch successiven Eindruck erzeugte \u00c4nderung des Gleichgewichts des Gem\u00fcts nicht schlechthin eine Stimmung genannt werden k\u00f6nnen, da meistens sowohl entschiedene Sondergef\u00fchle als zugleich Bewufstsein von deren Ursache vorhanden sein wird. H\u00e4lt man also Nahlowskys beide Definitionen bez\u00fcglich des\n1) Das Gef\u00fchlsleben. S. 171.","page":60},{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"61\nAffekt und Stimmung.\nAffekts und der Stimmung zusammen, so scheint gar kein Platz f\u00fcr die successive entstehenden Affekte \u00fcbrig zu bleiben, die halb der einen, halb der anderen Gruppe angeh\u00f6ren. Dies r\u00fchrt offenbar aus dem Umstande her, dafs wir mit einer Reihe sehr nahverwandter Zust\u00e4nde zu thun haben, die sich durch Definitionen durchaus nicht auseinanderhalten lassen. Viele der von den Psychologen gew\u00f6hnlich als Affekte bezeichneten Zust\u00e4nde liefsen sich ebensowohl Stimmungen benennen ; eine scharfe Grenze kann hier nicht gezogen werden. So ist es wohlbekannt, dafs ein schnell auf lodernder Affekt sich mitunter zwar verh\u00e4ltnism\u00e4fsig geschwind verlieren kann, meistens wird ' derselbe jedoch eine D\u00fcnung hinterlassen, eine Stimmung, w\u00e4hrend welcher das Individuum alle wesentlichsten Symptome des Affekts : zeigt, wenn auch weniger gewaltsam. Wo h\u00f6rt nun der Affekt ; auf, und wo f\u00e4ngt die Stimmung an? Und eine Stimmung, sie [ m\u00f6ge nun durch successive Eindr\u00fccke hervorgerufen sein oder ! als Nachwirkung eines urspr\u00fcnglichen Affekts bestehen, kann > wider die Basis neuer gewaltiger Ausbr\u00fcche der Gem\u00fctserregung i werden, indem es, wenn die Stimmung gegeben ist, nur eines geringen zuf\u00e4lligen Stofses bedarf, um den Zustand bis zum s Affekt zu verst\u00e4rken, zu potenzieren.\n77. Derartige Beobachtungen wird man leicht im t\u00e4glichen ! Leben anstellen k\u00f6nnen. Ist der erste Ausbruch leidenschaftlicher [ Trauer \u00fcberstanden, so versinkt das Individuum in einen betr\u00fcbten Zustand, der zun\u00e4chst als eine Stimmung zu bezeichnen ist, und alsdann ist nur ein geringer Anlafs, eine Association i oder dergl. erforderlich, um einen neuen, affekt\u00e4hnlichen Ausbruch eintreten zu lassen. Ebenso mit der Freude, der Furcht,\nI dem Zorn und anderen Stimmungen. Hieraus folgt also, dafs es sehr schwer, um nicht zu sagen unm\u00f6glich wird, zwischen 1 Affekt und Stimmung eine bestimmte Grenze zu ziehen, weil der Unterschied zwischen den beiden Zust\u00e4nden haupts\u00e4chlich ein Unterschied der St\u00e4rke und der Dauer ist. Die beiden i Ausdr\u00fccke bezeichnen Erscheinungen, die sich in der Praxis allerdings bis zu einem gewissen Grade sondern lassen, die aber doch nicht wesentlich verschieden sind. Die Konsequenz hiervon wird nun die, dafs wir der \u00dcberraschung, dem pl\u00f6tzlichen Stofs nicht dieselbe Bedeutung f\u00fcr den Affekt beilegen k\u00f6nnen, wie ! Kant und Nahlowsky. Denn erstens kann, wie wir sahen, i ein Affekt durch successive Eindr\u00fccke entstehen, und ferner","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"62\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nkann eine Stimmung, die vom Affekt nicht wesentlich verschieden\n\u2022 \u2022\nist, durch Ursachen, welche nichts \u00dcberraschendes an sich haben, zum Affekt potenziert werden. Der pl\u00f6ztliche Eindruck ist also etwas f\u00fcr den Affekt Unwesentliches, und wir k\u00f6nnen deshalb die oben [74] angegebene vorl\u00e4ufige Definition als ersch\u00f6pfend betrachten, als gen\u00fcgend, um den Affekt von allen anderen Seelenzust\u00e4nden, die Stimmung jedoch ausgenommen, abzugrenzen.\n78.\tZwischen Affekt und Stimmung l\u00e4fst sich, wie gesagt, eigentlich keine bestimmte Grenze ziehen. Wir werden sp\u00e4ter indes nach weisen, dafs zwischen den k\u00f6rperlichen \u00c4ufserungen, die den Seelenzustand in eben dem Moment charakterisieren, da das Gleichgewicht des Gem\u00fcts durch einen pl\u00f6tzlichen, \u00fcberraschenden Eindruck gest\u00f6rt wird, und denjenigen, welche den unmittelbar darauf eintretenden Affekt charakterisieren, ein sehr bedeutender Unterschied stattfindet. Wollte man deshalb die beiden W\u00f6rter, welche die Sprache nun einmal besitzt, zur Bezeichnung durchaus verschiedener Erscheinungen gebrauchen, so w\u00e4re es vielleicht am richtigsten, unter Gem\u00fctsbewegung oder Affekt den psychologischen Zustand im eigentlichen Moment des Eindrucks, unter Stimmung den kurz darauf eintretenden gleichm\u00e4fsigeren Zustand zu verstehen. Dieser Sprachgebrauch w\u00fcrde aber wieder die Unbequemlichkeit mit sich bringen, dafs er die gangbare Bedeutung der W\u00f6rter v\u00f6llig verr\u00fccken w\u00fcrde, indem Stimmung dann fast alles umfafste, was nun gew\u00f6hnlich Affekt genannt wird. Wollen wir uns keiner solchen \u00dcbertretung des allgemeinen Sprachgebrauchs schuldig machen, so steht nur der Ausweg offen, dafs wir die W\u00f6rter als Bezeichnungen f\u00fcr intensiv und extensiv verschiedene Zust\u00e4nde, die an keinem Punkte scharfe Grenzregulierungen gestatten, .annehmen. Und der Unterschied wird dann dieser:\n79.\tUnter Aff eh t verstehen wir den gewaltsameren aber schnell verlaufenden, unter Stimmung den schw\u00e4cheren aber nachhaltigeren Zustand.\nIndem wir die W\u00f6rter nun im Folgenden auf diese Weise anwenden, m\u00fcssen unsere Untersuchungen ebensowohl Stimmungen als Affekte umfassen, da dieselben sich nicht scharf sondern lassen.\n80.\tUnsere Aufgabe im Folgenden wird nun die sein, das Kausalverh\u00e4ltnis zwischen den drei Faktoren zu untersuchen,","page":62},{"file":"p0063.txt","language":"de","ocr_de":"Die fr\u00fchere Auffassung.\n63\nvon denen oben [74] nachgewiesen wurde, dafs sie im Verein den Affekt konstituieren. Und wir machen den Anfang mit dem Verh\u00e4ltnis zwischen dem Seelenzustand und den k\u00f6rperlichen \u00c4ufserungen , welches unzweifelhaft die dunkelste Seite der Sache ist, daf\u00fcr aber auch bei eingehender Behandlung den reichsten Gewinn verspricht.\nDie historische Entwickelung der Untersuchungen \u00fcber die\n\u2022 \u2022\nk\u00f6rperlichen Aufserungen der Affekte.\n81. Lange bevor die psychophysiologischen Untersuchungen\nden Charakter einer selbst\u00e4ndigen Wissenschaft angenommen\nhatten, wurde das Verh\u00e4ltnis zwischen den Gem\u00fctsbewegungen\n\u00ab \u2022\nund deren k\u00f6rperlichen Aufserungen zum Gegenstand n\u00e4herer Betrachtung gemacht. Viele Psychologen haben durch Ansammlung von Erfahrungsmaterial ihren Beitrag zur Beantwortung der Frage geleistet, und im Anfang unseres Jahrhunderts trat schon der erste Versuch einer strenger wissenschaftlichen, anatomisch - physiologischen Untersuchung \u00fcber die k\u00f6rperlichen \u00c4ufserungen der einzelnen Affekte auf. Darwin zufolge ist der Physiolog Ch. Bell der Gr\u00fcnder dieses Zweiges der Wissenschaft. Die erste Ausgabe seines Werkes : \u201eDie Anatomie und Physiologie des Ausdrucks\u201c erschien 1806, die dritte vielfach verbesserte und vermehrte 1844 nach des Verfassers Tode. Auf Beils Werk folgten die bekannten Arbeiten von Pi der it 1859, Duchenne 1862, Gratiolet 1865 und Darwin 1872. Es hat also keineswegs an Interesse f\u00fcr diese Erscheinungen gefehlt, und es liegt denn auch ein reichhaltiges Material vor von Detailuntersuchungen \u00fcber die \u00c4ufserungen der einzelnen Affekte, und von Versuchen einer Erkl\u00e4rung, weshalb der einzelne Affekt sich gerade auf eine bestimmte, erfahrungsm\u00e4fsig nachgewiesene Weise \u00e4ufsert. Wenn diese grofsen wissenschaftlichen Zur\u00fcstungen f\u00fcr die psychologische Bestimmung der Natur der Affekte dennoch nur von geringer Bedeutung waren, so r\u00fchrt das zweifelsohne aus dem Umstand her, dafs man sowohl von physiologischer als von psychologischer Seite die k\u00f6rperlichen Wirkungen als etwas Untergeordnetes, Sekund\u00e4res betrachtete, das der gegebenen Organisation wegen mit den Seelenzust\u00e4nden allerdings in notwendiger Verbindung st\u00fcnde, eigentlich aber etwas f\u00fcr diese Unwesentliches w\u00e4re, das sehr wohl wegfallen","page":63},{"file":"p0064.txt","language":"de","ocr_de":"64\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nk\u00f6nnte, (Dirne dafs sich darum der Affekt im geringsten \u00e4nderte. Und der Grund dieser Betrachtung war wahrscheinlich der, dafs man sich fast ausschliefslich mit den \u00e4ufserlichen k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen, mit den Bewegungen des Antlitzes und der Gliedmafsen besch\u00e4ftigte, die gr\u00f6fstenteils gewifs nur sekund\u00e4re, f\u00fcr den Affekt ziemlich unwesentliche Erscheinungen sind, w\u00e4hrend man die zu Grunde liegenden inneren organischen Ver\u00e4nderungen \u00fcbersah. Soweit mir bekannt, finden sich bis zu den j\u00fcngsten Jahren nur ausnahmsweise bei einzelnen Psychologen Andeutungen, dafs die k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen w\u00e4hrend des Affekts auf den Seelenzustand, durch welchen sie hervorgerufen sind, Einflufs haben k\u00f6nnen. So sagt Darwin: \u201eDie meisten unserer Gem\u00fctsbewegungen sind so innig mit ihren Ausdrucksformen verbunden, dafs sie kaum existieren, wenn der K\u00f6rper passiv bleibt . . . . ,wl) diese Betrachtung erh\u00e4lt jedoch keine fernere Bedeutung. Dies ist eigentlich um so merkw\u00fcrdiger, da die uralte, unmittelbare und unwissenschaftliche Auffassung der Affekte dieselben in den k\u00f6rperlichen Organen lokalisierte, die in jedem einzelnen Falle am kr\u00e4ftigsten gereizt werden, und somit also den organischen St\u00f6rungen eine sehr wesentliche Be-, deutung f\u00fcr die Affekte beilegte. In der j\u00fcngsten Zeit ist diese popul\u00e4re Auffassung gewissermafsen wieder zu Ehren gekommen, indem sie zu einer wissenschaftlichen Theorie entwickelt wurde, die mit den gew\u00f6hnlichen Anschauungen der Psychologen von dem Verh\u00e4ltnis zwischen den Affekten und deren k\u00f6rperlichen Wirkungen in vollst\u00e4ndigem Widerspruch steht. Auf diesen Punkt werden wir nun unsere Aufmerksamkeit richten.\n82. Der erste, der die Mitwirkung der organischen St\u00f6rungen beim Entstehen der Affekte pointiert hat, scheint W. James zu sein, der in einer Abhandlung im \u201eMind\u201c (April 1884) darauf aufmerksam machte, dafs die k\u00f6rperlichen, die Gem\u00fctsbewegungen begleitenden Ver\u00e4nderungen auf den Seelenzustand selbst in-fl uieren m\u00fcssen, indem sie als Organ empfind un gen zum Bewufst-sein kommen. Es ging aber hier wie so oft, wenn bisher \u00fcbersehene Momente endlich hervorgezogen werden : hat man ihnen vorher gar zu geringe Bedeutung beigelegt, so entsteht darauf eine starke Neigung, ihren Einflufs zu \u00fcbersch\u00e4tzen.\n*) Ausdruck der Gem\u00fctsbewegungen, \u00fcbersetzt von Cams. 1884.\nS. 208.","page":64},{"file":"p0065.txt","language":"de","ocr_de":"Moderne Ansichten.\n65\nDieser Versuchung hat James augenscheinlich nicht widerstehen k\u00f6nnen, wenn er zu dem Resultate gelangt: \u201edafs wir nicht weinten, weil wir betr\u00fcbt w\u00e4ren, sondern betr\u00fcbt w\u00e4ren, weil wir weinten\u201c. Der Sinn dieser Worte ist der, dafs der Affekt Trauer nicht vom Weinen \u201ebegleitet.\u201c werde, sondern dafs der Seelenzustand selbst, die Trauer, haupts\u00e4chlich in der Empfindung der beim Weinen stattfindenden organischen St\u00f6rungen best\u00fcnde. Glanz denselben Gedankengang finden wir wieder in einem gr\u00f6fseren Werke innerhalb der d\u00e4nischen Litteratur, in C. Langes: \u201e\u00dcber Gem\u00fctsbewegungen\u201c 1). Dieses interessante Werk enth\u00e4lt einen Reichtum an wertvollen Beobachtungen der physiologischen Verh\u00e4ltnisse bei Gem\u00fctsbewegungen , nebenbei aber eine grofse Anzahl psychologischer Irrt\u00fcmer. Dasselbe ist daher in hohem Mafse der Deutung und Kritik ben\u00f6tigt; auf rechte Weise verstanden wird es indes ganz neues Licht auf das uns hier besch\u00e4ftigende Problem werfen. Wir m\u00fcssen es deswegen zum Gegenstand einer genaueren kritischen Betrachtung machen.\n83. Der Gang in Langes Werk ist folgender. Da die von fr\u00fcheren Forschern gegebenen Definitionen der Affekte nicht befriedigen, indem sie nicht einmal bestimmte Grenzen zwischen den Gem\u00fctsbewegungen und allen anderen seelischen Zust\u00e4nden ziehen, w\u00e4hlt der Verfasser eine Reihe der ausgepr\u00e4gtesten und best charakterisierten Affekte zur Untersuchung aus. Er behandelt deshalb nur die sieben: Freude, Kummer, Schreck, Zorn, Verlegenheit, Spannung, Entt\u00e4uschung. Das Werk zerf\u00e4llt \u00fcbrigens in zwei Hauptabteilungen, indem der Verfasser erst die physiologischen \u00c4ufserungen der genannten Gem\u00fctsbewegungen m\u00f6glichst genau zu bestimmen sucht und darauf die Frage nach dem Verh\u00e4ltnis zwischen der physischen und der psychischen Seite des Affekts aufstellt. Der erste dieser Abschnitte hat gewifs den gr\u00f6fseren Wert; hier bewegt sich der Verfasser auf rein physiologischem Gebiete und von den Resultaten, die er hier erreicht, mufs man, wenn sich an verschiedenen Punkten auch einige Ein w\u00fcrfe machen lassen, gewifs sagen, dafs sie eine wertvolle Vermehrung unseres Wissens enthalten. Im zweiten Abschnitt verr\u00e4t der Verfasser, wie schon gesagt, dagegen einen nicht geringen Mangel an Kenntnis der\n\u2022 \u2022\n*) Deutsche \u00dcbersetzung von Kurella. Leipzig 1887.\nLehmann, Die Gef\u00fchle.\n0","page":65},{"file":"p0066.txt","language":"de","ocr_de":"66\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\npsychologischen Distinktionen, so dafs seine Worte dem allgemeinen psychologischen Sprachgebrauch gem\u00e4fs h\u00e4ufig etwas ganz anderes ausdr\u00fccken, als was eigentlich die Meinung sein kann. So wird, um nur ein einziges schlagendes Beispiel hervorzuheben, zwischen der physiologischen Ursache einer seelischen Erscheinung und dem erzeugten psychischen Zustande selbst kein Unterschied gemacht; es heilst stets: \u201edie k\u00f6rperlichen St\u00f6rungen sind die Gem\u00fctsbewegung,\u201c ein Satz, dessen Sinn doeh nur der sein kann, dafs die Empfindung der k\u00f6rperlichen St\u00f6rungen derjenige Seelenzustand sei, den man Affekt nenne. Eine andere Unannehmlichkeit ist der Mangel an bestimmten Definitionen, welcher zur Folge hat, dafs der Verfasser seinen eigenen Sprachgebrauch nicht konsequent durchf\u00fchren kann. Dafs diese Unsicherheit Einflufs auf die Ergebnisse erhalten mufs, leuchtet ein, und wir werden im Folgenden sehen, dafs wir durch einfache Deutung und Umschreibung der \u00c4ufserungen des Verfassers, so dafs diese mit einem strenger wissenschaftlichen Sprachgebrauch in \u00dcbereinstimmung kommen, ganz andere und wahrscheinlichere Resultate erreichen. \u2014 Wir nehmen nun jeden der beiden Abschnitte f\u00fcr sich unter Behandlung.\n\u2022 \u2022\n84. Gleich bei der Bestimmung der k\u00f6rperlichen \u00c4ufserungen der Gem\u00fctsbewegungen nimmt der Verfasser eine von allen fr\u00fcheren Forschern abweichende Stellung ein, die zu sehr bedeutenden Resultaten f\u00fchrt. W\u00e4hrend Darwin ebenso wie alle seine Vorg\u00e4nger seine Untersuchungen vorz\u00fcglich auf den Ausdruck der Affekte im Gesicht und in den Bewegungen der Gliedmafsen, auf die mimischen und pantomimischen \u00c4ufserungen, also die augenf\u00e4lligste, jedoch auch die \u00e4ufserlichste Seite der Sache richtete, nimmt Lange vorz\u00fcglich die inneren physiologischen St\u00f6rungen aufs Korn, indem er eine physiologische Ursache des gesamten Betragens, das eine Person bei erregtem Gem\u00fct zeigt, zu finden sucht. Die Methode ist bei allen untersuchten F\u00e4llen die n\u00e4mliche; der Verfasser stellt seine Hypothese auf und legt dar, dafs diese zur Erkl\u00e4rung aller bekannten Erscheinungen gen\u00fcgt. Da es uns zu weit f\u00fchren w\u00fcrde, alle Beobachtungen des Verfassers \u00fcber die einzelnen Affekte durchzugehen, beschr\u00e4nken wir uns darauf, die Resultate in K\u00fcrze herzusetzen, w\u00e4hrend wir den Leser \u00fcbrigens auf das Werk selbst verweisen. Lange stellt seine Resultate in folgendem Schema auf :","page":66},{"file":"p0067.txt","language":"de","ocr_de":"Langes Untersuchungen.\n67\nSchw\u00e4chung der willk\u00fcrlichen Innervation\t\u2014\tEntt\u00e4uschung\nSchw\u00e4chung ) +Gef\u00e4rSVererigemng' , s = K,mmer\nder willk\u00fcrlichen!\t\u201d,\t,\t, r J3*.8\n_\t. I mus der organischen Muskeln =\nInnervation | , T ,\t.\n) -f- Inkoordination\t=\n-f- Spasmus der organischen\nMuskeln\t=\u25a0= Spannung\n>-f- G ef\u00e4fser Weiterung\t= Freude\n+\t+ In-\nSchreck\nVerlegenheit\nErh\u00f6hung\nder willk\u00fcrlichen Innervation\nkoordination\t\u2014 Zorn*).\n86.\tMit diesem Schema vor Augen wird nun die Frage erhoben, ob alle diese Ph\u00e4nomene physiologisch nebengeordnet sind, oder ob einige derselben vielleicht nur als sekund\u00e4r, von den anderen bedingt und verursacht zu betrachten sind. Zwei M\u00f6glichkeiten k\u00f6nnen der Meinung des Verfassers zufolge sogleich ausgeschlossen werden, denn es ist nicht denkbar, dafs die St\u00f6rungen des vasomotorischen Apparats durch Innervationsver\u00e4nderungen weder der willk\u00fcrlichen noch der organischen Muskeln hervorgerufen w\u00fcrden. Es bleibt also, wenn man eine gemeinsame Ursache s\u00e4mtlicher Ph\u00e4nomene aufsuchen will, nur die M\u00f6glichkeit \u00fcbrig, dafs die erh\u00f6hte oder geschw\u00e4chte Funktion der vasomotorischen Nerven die Ursache von den Ver\u00e4nderungen der Th\u00e4tigkeit der anderen Muskeln ist. Diese Annahme, dafs die vasomotorischen St\u00f6rungen alle anderen, die Affekte begleitenden k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen bewirken, ist nat\u00fcrlich nur eine Hypothese, da die gegenw\u00e4rtige Entwickelung der Nervenphysiologie uns nicht gestattet, solche Fragen mit Sicherheit zu beantworten^ sie ist aber, sagt der Verfasser, eine sehr wahrscheinliche Hypothese. Denn da sich \u00fcberall im K\u00f6rper Blutgef\u00e4fse finden, verwehrt nichts, dafs eine Dilatation oder Kontraktion derselben durch vermehrte oder verminderte Blutzufuhr die Th\u00e4tigkeit jedes beliebigen Muskels erh\u00f6hen oder schw\u00e4chen kann.\n87.\tIn der letzten Abteilung seines Werkes behandelt\nLange das Kausalverh\u00e4ltnis zwischen dem Affekte, dem Seelenzustand selbst, und den begleitenden k\u00f6rperlichen Erscheinungen. Wie oben [81] erw\u00e4hnt, hat man bis in die j\u00fcngste Zeit allgemein\n1) Ang. Werk (\u00dcbersetzung von Kurelia). Leipzig 1887. S. 40.\n5*","page":67},{"file":"p0068.txt","language":"de","ocr_de":"68\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nangenommen, der Seelenzustand, den man Affekt nennt, veranlasse die begleitenden k\u00f6rperlichen Erscheinungen. Diese Annahme, sagt Lange, ist eine Hypothese, und als solche nur dann berechtigt, wenn sie uns erstens die Erscheinungen, zu deren Erkl\u00e4rung sie aufgestellt wird, zu erkl\u00e4ren vermag, und zweitens zur Erkl\u00e4rung dieser Erscheinungen notwendig ist. Keine dieser Bedingungen ist aber nach Ansicht des Verfassers erf\u00fcllt. Bez\u00fcglich des ersteren Punktes stellt er die Betrachtung auf, dafs wir \u00fcberhaupt aufser st\u00e4nde sind, zu verstehen, wie ein Seelenzustand bestimmte k\u00f6rperliche Ver\u00e4nderungen hervorrufen kann. ann die seelische Angst erkl\u00e4ren, dafs man erblafst, zittert etc. ? \\ Verstehen wir das nun auch nicht, so steht es uns doch frei, es anzunehmen, und dabei ist man .ja gewohnt, sich zu beruhigen.\u201c Der Meinung des Verfassers zufolge liegt also keine Spur einer Erkl\u00e4rung der Verh\u00e4ltnisse in der gangbaren Auffassung des Kausalzusammenhanges, und folglich h\u00e4ngt die Berechtigung der Hypothese davon ab, ob sie zur Erkl\u00e4rung der Erscheinungen notwendig ist.\n88. Hierauf erwidert Lange, dies sei so wenig der Fall, dafs die Sache uns erst einigermafsen verst\u00e4ndlich werde, wenn wir das Verh\u00e4ltnis umkehrten und die k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen als Ursache des Seelenzustandes, des Affektes betrachteten. Allerdings liefse sich einwenden, sagt er, wir h\u00e4tten doch eine deutliche Empfindung von einer eigent\u00fcmlichen seelischen Ver\u00e4nderung , von einem Zustande in der Seele aufser dem rein k\u00f6rperlichen, und dieser Einwand wird f\u00fcr die meisten eine grofse Bedeutung haben und schwer zu \u00fcberwinden sein. Es leuchtet indes ein, dafs wir aus einem gegebenen Seelenzustand nicht unmittelbar ersehen k\u00f6nnen, welcher Quelle derselbe entstammt, ob er von Ver\u00e4nderungen des ganzen Organismus oder vielleicht nur von Ver\u00e4nderungen des Gehirns herr\u00fchrt. Die Selbstbeobachtung ist mit anderen Worten durchaus inkompetent, um die Frage nach der Ursache eines Seelenzustandes zu entscheiden. \u201eIch zweifle nicht daran, dafs die Mutter, die \u00fcber ihr totes Kind trauert, sich str\u00e4uben, ja vielleicht sich entr\u00fcsten wird, wenn man ihr sagt, dafs], was sie f\u00fchlt, \u2014 die M\u00fcdigkeit und Schlaffheit ihrer Muskeln, die K\u00e4lte ihrer blutleeren Haut, der Mangel ihres Gehirns an Kraft zu klarem und schnellem Denken ist \u2014 alles erhellt von der Vorstellung der Ursache dieser Ph\u00e4nomene, Aber es ist kein Grund, entr\u00fcstet zu sein;","page":68},{"file":"p0069.txt","language":"de","ocr_de":"Langes Untersuchungen.\n69\ndenn ihr Gef\u00fchl ist ebenso stark, so tief und rein, ob es aus der einen oder der anderen Quelle stammt. Aber es kann ohne seine k\u00f6rperlichen Attribute nicht existieren. Man nehme bei dem Erschrockenen die k\u00f6rperlichen Symptome fort, lasse seinen Puls ruhig schlagen, seinen Blick fest sein, seine Farbe gesund, seine Bewegungen schnell und sicher, seine Sprache kr\u00e4ftig, seine Gedanken klar \u2014 was bleibt dann noch von seinem Schreck \u00fcbrig1)?\u201c Aus diesen Beispielen geht hervor, dafs es sich sehr wohl denken l\u00e4fst, dafs der Seelenzustand aus einer Reihe Empfindungen der k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen besteht, ohne dafs man im st\u00e4nde w\u00e4re, dies durch innere Wahrnehmungen zu beweisen oder zu widerlegen. Die Frage wird daher nur die, ob man irgend ein Beispiel hat, dafs Ver\u00e4nderungen oder St\u00f6rungen des Organismus Seelenzust\u00e4nde verursachen k\u00f6nnen, die den Gem\u00fctsbewegungen \u00e4hnlich sind. Denn ist dies der Fall, so wird die Annahme die nat\u00fcrlichste, dafs es wirklich die Empfindung der k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen ist, die das Eigent\u00fcmliche der Gem\u00fctsbewegung bildet. Hierdurch wird die Anzahl der R\u00e4tsel bedeutend reduziert werden. Solange wir n\u00e4mlich den psychischen Zustand als Ursache, den k\u00f6rperlichen als Wirkung betrachten, verstehen wir weder, weshalb der einzelne Affekt gerade die bestimmten psychischen Erscheinungen darbietet, noch weshalb derselbe von bestimmten k\u00f6rperlichen St\u00f6rungen begleitet wird. Kehren wir dagegen das Verh\u00e4ltnis um, so ist es uns freilich noch unverst\u00e4ndlich, weshalb der urspr\u00fcngliche Stofs, der \u00e4ufsere Eindruck, die bestimmte Gruppe k\u00f6rperlicher Ver\u00e4nderungen hervorruft, sobald diese aber gegeben ist, wird der Seelenzustand leicht erkl\u00e4rlich, da er nur die Empfindung aller k\u00f6rperlichen St\u00f6rungen ist.\n89. Beispiele, dafs Einwirkungen auf den Organismus selbst affekt\u00e4hnliche Zust\u00e4nde hervorrufen k\u00f6nnen, kennt man in grofser Menge. Spiritus, Opium und Haschisch erzeugen Seelenzust\u00e4nde der Freude und des Mutes, die sich von den auf andere Weise verursachten schwerlich unterscheiden lassen. Brechweinstein und Ipekakuanha rufen eine deprimierte Stimmung hervor, die der Furcht h\u00f6chst \u00e4hnlich ist. Der Genufs gewisser Arten des Fliegenpilzes veranlafst Wutanf\u00e4lle u. s. w. Und umgekehrt k\u00f6nnen wir durch viele Mittel Affekte verhindern. Ein kalter\ni) Ang. Werk. S. 52\u201453.","page":69},{"file":"p0070.txt","language":"de","ocr_de":"70\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nWasserstrahl d\u00e4mpft die Heftigkeit Bromkalium bes\u00e4nftigt Trauer und Angst, ja kann sogar einen ganz apathischen Zustand herbeif\u00fchren , in welchem das Individuum ebensowenig im st\u00e4nde ist, \u00e4ngstlich oder betr\u00fcbt, als heiter und zornig zu werden. Die Annahme, dafs diese Stoffe direkt auf die Seele einwirkten, ist offenbar ein wenig gewagt; dagegen wissen wir, dafs dieselben auf das vasomotorische Nervensystem wirken, in dessen Funktions\u00e4nderungen wir die Ursache der die Gem\u00fctsbewegungen begleitenden St\u00f6rungen fanden. Wird hierzu nun die Thatsache hinzugef\u00fcgt, dafs Krankheit des vasomotorischen Nervensystems stets von Seelenleiden begleitet ist, die sich von wirklichen Affekten nur dadurch unterscheiden lassen, dafs sie dem Individuum als durchaus unmotiviert erscheinen, so kann es kaum Zweifel unterworfen sein, dafs die durch vasomotorische St\u00f6rungen hervorgerufenen organischen Ver\u00e4nderungen auf den Bewufstseinszustand influieren k\u00f6nnen, sich empfinden lassen. Ist dies aber der Fall, so ist nach Meinung des Verfassers kein Grund f\u00fcr die Annahme, der Affekt werde nicht durch die vasomotorischen Ver\u00e4nderungen hervorgerufen. Der Einwurf, die durch k\u00fcnstliche Mittel verursachten Affekte seien keine wirklichen Affekte, ist ganz willk\u00fcrlich und l\u00e4fst sich durch keine einzige unangreifbare Thatsache begr\u00fcnden. Seelenzust\u00e4nde, die jedermann unbedenklich \u201ewirkliche\u201c Affekte nennt, k\u00f6nnen aus allen m\u00f6glichen Ursachen entstehen, sowohl aus \u00e4ufseren, z. B. Schreck bei einem starken Knall, als innneren, z. B. Freude und Trauer durch Erinnerungen, und in der Natur der wirkenden Ursachen ist also kein Grund zu finden, die durch Giftstoffe hervorgerufenen Seelenzust\u00e4nde aus der Benennung \u201ewirkliche\u201c Affekte auszuschliefsen.\n90. Das Ergebnis der ganzen Untersuchung wird also, dafs die Affekte die Empfindungen der durch Innervations\u00e4nderungen der vasomotorischen Nerven erzeugten organischen St\u00f6rungen sind. Und indem der Verfasser darauf zur Beantwortung der Frage \u00fcbergeht, wie denn die Innervations\u00e4nderungen entstehen, stellt er sich auf den Standpunkt des psychophysischen Materialismus. Er betrachtet als gegeben, dafs jede seelische Erscheinung unaufl\u00f6slich an eine Ver\u00e4nderung des Nervensystems gebunden ist1), und sucht demgem\u00e4fs zu zeigen, wie es sich denken l\u00e4fst, dafs eine sinnliche Wahrnehmung oder Vorstellung die vasomotorischen\n9 Ang. Werk, S. 58, Anm.","page":70},{"file":"p0071.txt","language":"de","ocr_de":"M\u00f6glichkeit experimenteller Untersuchungen.\n71\nZentren in Bewegung setzt, so dafs diese sich in die verschiedenen k\u00f6rperlichen Organe fortpflanzt. Halten wir uns an das vom Verfasser benutzte Beispiel. Es ist eine bekannte Erfahrung, dafs ein Kind, dem man irgend einen Gegenstand, z. B. einen L\u00f6ffel zeigt, gew\u00f6hnlich nach demselben greift. Hat das Kind aber ein paarmal bittere Arznei mit dem L\u00f6ffel bekommen, so wendet es den Kopf ab und weint, wenn es den L\u00f6ffel erblickt. Wie entsteht dieser Affekt? Der Verfasser gesteht, dafs es auf dem gegenw\u00e4rtigen Standpunkt der Hirnphysiologie nicht verlockend sei, eine physiologische Erkl\u00e4rung dieses Ph\u00e4nomens zu geben; man k\u00f6nne sich aber, ohne sich in gar zu verwegene Hypothesen zu verlieren, die Sache folgendermafsen denken. So oft das Kind Arznei erhalten hat, ist die beim Anblick des L\u00f6ffels im Gehirn entstandene Bewegung regelm\u00e4fsig von einer zweiten begleitet worden, die aus den unangenehmen Geschmackseindr\u00fccken herr\u00fchrt, welche annehmlich das vasomotorische Zentrum beeinflufst haben, wie die Unlust des Kindes an der Arznei deutlich zeigt. Sind nun die beiden Zentren bez\u00fcglich der Geschmacks- und der Gesichtseindr\u00fccke wiederholt gleichzeitig gereizt worden, so wird in diesen eine erh\u00f6hte Empf\u00e4nglichkeit entstanden sein, so dafs die durch den Anblick des leeren L\u00f6ffels im Gehirn erzeugte Bewegung das Geschmackszentrum wird beeinflussen k\u00f6nnen, mithin auch das vasomotorische Zentrum, indem die Bewegung nach allen Seiten irradiiert. Aus dem vasomotorischen Zentrum schreitet die Bewegung dann weiter, in den Organismus hinaus, und somit ist die Gem\u00fctsbewegung gegeben.\n91. Langes Werk ist reich an neuen, fruchtbaren Gedanken,\n\u2022 \u2022\nund seine Beobachtungen \u00fcber die k\u00f6rperlichen Aufserungen der Gem\u00fctsbewegungen geh\u00f6ren sicher zu den sch\u00e4rfsten, die bislang in der Litteratur vorliegen. Aber mehr als ein erster Schritt auf dem Wege zu einer rationellen Untersuchung der Affekte wird dasselbe doch nicht, und wie oben erw\u00e4hnt, leidet es in hohem Grade an allen Unvollkommenheiten eines ersten Schrittes. Der wesentlichste Mangel m\u00f6chte doch wohl der sein, dafs die Anzahl der untersuchten Affekte gar zu begrenzt ist, und die zur Untersuchung vorgenommenen sind zugleich, bis auf eine einzige Ausnahme, einige der zusammengesetztesten Gef\u00fchlszust\u00e4nde, die wir kennen. Hierin befolgte Lange wohl zun\u00e4chst das Beispiel seiner Vorg\u00e4nger, und die Auswahl ist zwar","page":71},{"file":"p0072.txt","language":"de","ocr_de":"72\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nauch insofern eine nat\u00fcrliche, als es die h\u00e4ufigst auftretenden und am meisten ausgepr\u00e4gten Affekte sind, die untersucht werden. Es bleibt aber doch immer ein methodischer Fehler, eine Untersuchung mit den kompliziertesten Erscheinungen anzufangen, und dieser Fehler r\u00e4cht sich, denn wie wir im Folgenden sehen werden, lassen sich recht wesentliche Einw\u00fcrfe gegen einzelne der Schl\u00fcsse erheben, die Lange aus seinen Beobachtungen zieht. Soll eine Untersuchung, wie die von Lange versuchte, einige Aussicht des Erfolges haben, so mufs sie die Sache notwendigerweise von der Wurzel anfassen, mit den am wenigsten zusammengesetzten Zust\u00e4nden anfangen, um von diesen zu komplizierteren Verh\u00e4ltnissen \u00fcberzugehen. Es k\u00f6nnte beim ersten Anblick scheinen, als w\u00e4re dieser Weg uns bei eben denjenigen Erscheinungen gesperrt, von welchen die Bede ist, weil alle Affekte zusammengesetzte Zust\u00e4nde sind. Anderseits ist es indes eine durch scharfe Beobachtung immer mehr best\u00e4tigte Thatsache, dafs nicht nur die Gem\u00fctsbewegungen, sondern auch die mehr \u201eruhigen\u201c Gef\u00fchle sich mittels organischer Ver\u00e4nderungen \u00e4ufsern. Im t\u00e4glichen Leben k\u00f6nnen wir ja in den Gesichtsz\u00fcgen der allermeisten Menschen sogar ganz fl\u00fcchtige und vor\u00fcbergehende Stimmungen und Gef\u00fchle lesen; Lust und Unlust jeglicher Art verraten sich je nach der St\u00e4rke des Gef\u00fchls durch mehr oder weniger ausgepr\u00e4gte Ver\u00e4nderungen im Organismus. Ein ruhiger \u00e4sthetischer Genufs l\u00e4fst ebensowohl wie die pl\u00f6tzlich und gewaltig auflodernde Freude das Auge strahlen ; eine leise wehm\u00fctige Stimmung bringt uns ebensowohl wie die tiefe Trauer zum Beugen des Hauptes, wenn auch in schw\u00e4cherem Grade. Auch die an die einfachen Sinnesempfindungen gebundenen Gef\u00fchlst\u00f6ne sind gewifs stets von k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen begleitet. So ist es bekannt genug, dafs unangenehme, schrille oder gellende Laute in vielen Menschen ein lange andauerndes Unwohlsein erzeugen k\u00f6nnen,\nund aus dem t\u00e4glichen Leben wissen wir ebenfalls, dafs der je i ,\t\u2022 \u2022\nnach Umst\u00e4nden angenehme oder unangenehme \u00dcbergang aus W\u00e4rme in K\u00e4lte oder umgekehrt von ausgedehnten vasomotorischen Ver\u00e4nderungen begleitet ist. Durch diese und \u00e4hnliche Wahrnehmungen wird die Grenze zwischen Gef\u00fchlen und Gem\u00fctsbewegungen verwischt, indem wir sehen, dafs jeder Gef\u00fchlszustand von Ver\u00e4nderungen im Organismus begleitet ist und zwar in so h\u00f6herem Grade, je st\u00e4rker das Gef\u00fchl ist.","page":72},{"file":"p0073.txt","language":"de","ocr_de":"M\u00f6glichkeit experimenteller Untersuchungen.\n73\n92. Die Grenze zwischen Gef\u00fchl und Gem\u00fctsbewegungen scheint sich also nur durch einen Gradunterschied augeben zu lassen. Man kann sich den \u00e4sthetischen Genufs durch unmerkbare \u00dcberg\u00e4nge bis zu einem Affekt der Begeisterung anwachsend denken, man kann sich den Mifsmut bis zur hoffnungslosen Verzweiflung, die leichte Kr\u00e4nkung bis zur Wut der Erbitterung steigend denken. Wo man, wissenschaftlich gesprochen, die Grenze ziehen soll, das wird daher nicht leicht anzugeben sein, weil es in allem \"Wesentlichen die n\u00e4mlichen Faktoren, nui an St\u00e4rke verschieden, zu sein scheinen, die alle diese Zust\u00e4nde charakterisieren. In der Praxis stellt die Sache sich gew\u00f6hnlich einfach genug* *, hier reden wir von Affekt, sobald die k\u00f6rperlichen \u00c4ufserungen besonders augenf\u00e4llig werden} dies ist in der That aber ja nur ein Gradunterschied. Es leuchtet nun ein, dafs, wenn wir auf diese Weise zu dem Eingest\u00e4ndnis gen\u00f6tigt werden, es gebe einen sanften \u00dcbergang aus der einfachen, betonten Empfindung in den kompliziertesten Affekt, so steht mithin einer methodischen Untersuchung der k\u00f6rperlichen \u00c4ufserungen der Gef\u00fchle der IVeg offen. Das Nat\u00fcrliche wild dann, mit der Untersuchung der einfachen Sinnesempfindungen zu beginnen, um von diesen zu verwickelteren Verh\u00e4ltnissen fortzuschreiten. Hierbei wird man zugleich den giofsen Voiteil haben, dafs man das Experiment zu Hilfe nehmen kann, denn gerade die am wenigsten zusammengesetzten Zust\u00e4nde verm\u00f6gen wir stets durch bestimmte \u00e4ufsere Reizungen willk\u00fcrlich hervorzurufen. Wo das Experiment fehlschl\u00e4gt, mufs man sich freilich mit den Wahrnehmungen aus dem t\u00e4glichen Leben begn\u00fcgen, man wird dann aber an den Versuchsresultaten eine Grundlage besitzen, auf welcher sich bei der keineswegs gar leichten Deutung der mehr zuf\u00e4lligen Wahrnehmungen bauen l\u00e4fst, und die M\u00f6glichkeit einer unrichtigen Auslegung der letzteren wird\nhierdurch bedeutend verringert sein.\n93. In der j\u00fcngsten Zeit haben die Physiologen Mos so1) und F\u00e9r\u00e92) diesen wesentlich experimentalen Weg betreten und, wie im voraus zu erwarten war, haben sie die Wissenschaft um eine Reihe interessanter Fakta bereichert. Eine L\u00f6sung des Problems von den Gem\u00fctsbewegungen ist durch diese\ni) A. Mosso: Die Furcht. Leipzig 1889.\n*) Ch. F\u00e9r\u00e9: Sensation et mouvement. Paris 1887.","page":73},{"file":"p0074.txt","language":"de","ocr_de":"74\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\nUntersuchungen doch hei weitem beigebracht; vielmehr k\u00f6nnte man sagen, die zahlreichen angeh\u00e4uften Thatsachen h\u00e4tten das Auffinden bestimmter Gesetzm\u00e4fsigkeiten noch schwerer als vorher gemacht. Mosso macht denn auch keinen Versuch einer Erkl\u00e4rung der verschiedenen , die einzelnen Affekte charakterisierenden k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen; dagegen untersucht er eingehend eine Reihe von Affekt\u00e4ufserungen, das Klopfen des Herzens, das unwillk\u00fcrliche Zittern der Muskeln, Ver\u00e4nderungen der Atmung, das Erblassen und Err\u00f6ten u. s. w., die w\u00e4hrend der verschiedensten Gem\u00fctsbewegungen Vorkommen k\u00f6nnen. Vornehmlich wird also der gesamte physiologische Apparat, mittels dessen die genannten k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen zu st\u00e4nde kommen, Gegenstand der Untersuchungen Mossos. \u2014 Anderseits untersuchte F\u00e9r\u00e9 fast ausschliefslich teils die Muskelkraft, teils die Verteilung des Blutes im Organismus w\u00e4hrend solcher einfachen Empfindungszust\u00e4nde, die durch allgemeine Sinneseindr\u00fccke, durch Geschmacks-, Geruchs-, Gesichtsund Schallreize erzeugt werden. Die Resultate dieser Versuche lassen sich in folgenden S\u00e4tzen aufstellen: 1) Jede angenehme Sinnesempfindung ist von einer Vermehrung, jede unangenehme von einer Verringerung der Energie (der Muskelkraft) begleitet1). 2) Jedes Lustgef\u00fchl \u00e4ufsert sich durch eine Vergr\u00f6fserung des Volumens der Gliedrnafsen, w\u00e4hrend jedes Unlustgef\u00fchl von einer Verminderung dieses Volumens begleitet ist2). Wie interessant und unzweifelhaft richtig diese Gesetze auch sind, l\u00e4fst sich auf denselben jedoch nicht viel aufbauen, dazu sind sie gar zu unbestimmt. Denn die Vergr\u00f6fserung oder Verkleinerung des Volumens der Gliedrnafsen \u2014 und die hiervon wahrscheinlich abh\u00e4ngige Vermehrung oder Verringerung der Muskelkraft \u2014 kann sehr verschiedene Ursachen haben, indem sie teils durch die Th\u00e4tigkeit des Herzens, teils durch die vasomotorische Th\u00e4tigkeit entstehen kann, welche letztere wieder scheinbar durchaus gleichartige Resultate auf sehr verschiedene Weise zu erzeugen vermag. Zu einer Bestimmung, wie diese verschiedenen Ursachen Zusammenwirken, leisten die F\u00e9r\u00e9schen Gesetze nicht den geringsten Beitrag, und noch weniger lassen sich aus denselben bestimmte Schl\u00fcsse ziehen mit Bezug auf den Blutgehalt\n*) Sensation et mouvement. S. 64.\n2) Ang. Werk. S. 118.","page":74},{"file":"p0075.txt","language":"de","ocr_de":"Versuchsanordnung und Apparate.\n75\nder inneren Organe w\u00e4hrend der Affekte, auf die Ver\u00e4nderungen der Atmung und auf \u00e4hnliche Faktoren, die bei den Gem\u00fctsbewegungen erfahrungsm\u00e4fsig von grofser Bedeutung sind und auf das Volumen der Gliedmafsen influieren k\u00f6nnen.\n94. Aufgekl\u00e4rt werden uns alle diese Verh\u00e4ltnisse auch dann nicht, wenn wir die F\u00e9r\u00e9schen Gesetze mit den Schl\u00fcssen zusammenstellen, die Lange aus seinen Beobachtungen des t\u00e4glichen Lebens zieht. Fs ist leicht zu ersehen, dafs zwischen den Resultaten, welche diese beiden Forscher auf so h\u00f6chst verschiedenen Wegen gewannen, gute \u00dcbereinstimmung herrscht. Als der Freude \u2014 und mithin wohl auch anderen Lustzust\u00e4nden \u2014 charakteristisch findet Lange eine Gef\u00e4fserweiterung an der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers, womit ein st\u00e4rkerer Blutzuflufs nach den betreffenden Teilen des Organismus verbunden ist. Dies wird sich nun unter anderem durch eine Vergr\u00f6fserung des Volumens der Gliedmafsen \u00e4ufsern, gerade so wie F \u00e9 r \u00e9 es fand. Bei den meisten Unlustaffekten dagegen nimmt Lange eine Gef\u00e4fs-verengerung an der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers an, durch welche die Blutmenge hier vermindert wird, so dafs das Volumen der Glieder abnehmen mufs, was ebenfalls mit F \u00e9 r \u00e9 s Gesetzen \u00fcbereinstimmt. Die von F\u00e9r\u00e9 auf experimentalem Wege gefundenen Gesetze scheinen die G\u00fcltigkeit von Langes Schl\u00fcssen also geradezu darzulegen und zu erweitern ; da letzterer Verfasser\nindes den Einflufs der Herz- und Atembewegungen auf den Blut-\n\u2022 \u2022\nkreislauf durchaus nicht ber\u00fccksichtigt, darf dieser \u00dcbereinstimmung kaum grofses Gewicht beigelegt werden. Es gibt auf diesem Gebiet also noch vieles, dessen v\u00f6lliges Verst\u00e4ndnis uns abgeht, und um einen Beitrag hierzu zu geben, habe ich \u00fcber die meisten derjenigen einfachen und zusammengesetzten Affekte, die sich durch \u00e4ufsere Eindr\u00fccke auf einen Menschen \u00fcberhaupt willk\u00fcrlich hervorrufen lassen, eine Reihe von Versuchen angestellt. Mit diesen Versuchen werden wir uns im Folgenden nun n\u00e4her besch\u00e4ftigen.\nExperimentelle Untersuchung \u00fcber die k\u00f6rperlichen Aufserungen\nder Affekte.\n95. Vor allen Dingen gilt es bei einer Untersuchung der Affekt\u00e4ufserungen dar\u00fcber ins reine zu kommen, auf welche k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen die Aufmerksamkeit vorz\u00fcligch zu","page":75},{"file":"p0076.txt","language":"de","ocr_de":"76\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nrichten ist. Es w\u00e4re nat\u00fcrlich zu w\u00fcnschen, dafs alle gleichzeitig an jedem Punkte des Organismus geschehenden Ver\u00e4nderungen sich bestimmen liefsen, da dies in der Praxis aber nicht ausf\u00fchrbar ist, m\u00fcssen wir die Untersuchung auf eine Bestimmung der wesentlichsten Ver\u00e4nderungen begrenzen. Im Vorhergehenden sahen wir nun, dafs Ver\u00e4nderungen des Blutkreislaufes einen nicht unbedeutenden Einflufs w\u00e4hrend der Gem\u00fctsbewegungen haben ; durch F \u00e9 r \u00e9 s Untersuchungen ist dies \u00fcber allen Zweifel erhoben. Anderseits wird es, wie angedeutet, kaum m\u00f6glich sein, diese St\u00f6rungen des Kreislaufes richtig aufzufassen, wenn man nicht die gleichzeitigen Ver\u00e4nderungen der Th\u00e4tigknit des Herzens kennt. Besonders w\u00e4re es zu w\u00fcnschen, dafs man den Umfang der Zusammenziehungen des Herzens bestimmen k\u00f6nnte, weil die durch jeden Herzschlag in den K\u00f6rper getriebene Blutmenge namentlich hiervon abh\u00e4ngig ist; da dies sich aber kaum mit Sicherheit durchf\u00fchren l\u00e4fst, so ist jedenfalls die Anzahl der Herzschl\u00e4ge zu bestimmen. Aus dem t\u00e4glichen Beben wissen wir ja, dafs die mehr oder weniger lebhafte Bewegung des Herzens das \u00e4ufserst charakteristische Anzeichen einer Gem\u00fctsbewegung ist; es ist gewifs nicht ohne Grund, dafs die Sprache ohne weiteres \u201eHerz\u201c mit \u201eGef\u00fchl\u201c identifiziert. Schliefslich wird auch eine Bestimmung der Atembewegungen notwendig sein. Teils erleiden diese, wie die Erfahrung uns lehrt, eigent\u00fcmliche Ver\u00e4nderungen sowohl hinsichtlich der St\u00e4rke als der H\u00e4ufigkeit w\u00e4hrend der Gem\u00fctsbewegungen, teils haben sie, wie Mosso zeigte1), grofsen Einflufs auf den Blutgehalt der verschiedenen Organe, so dafs es unm\u00f6glich sein wird, aus den Ver\u00e4nderungen des Volumens eines Organes irgend einen Schlufs zu ziehen, ob eine St\u00f6rung des Kreislaufes vorliege, wenn man nicht die Atembewegung im gegebenen Moment kennt. Also : die Anzahl der Herzschl\u00e4ge, die Atembewegung und der Blutzuflufs nach den verschiedenen Teilen des Organismus m\u00fcssen gleichzeitig bestimmt werden. Was den letzten Punkt betrifft, so werden wir aus praktischen Gr\u00fcnden nat\u00fcrlich gezwungen, eine Beschr\u00e4nkung zu unternehmen, indem der Blutgehalt der inneren Organe ohne Eingriffe in den Organismus einer direkten Messung \u00fcberhaupt unzug\u00e4nglich ist, und mit Bezug auf die Gliedmafsen\n\u2022 \u2022\n*) Uber den Kreislauf des Blutes im menschlichen Gehirn. -Leipzia-1881. S. 172 u. f.","page":76},{"file":"p0077.txt","language":"de","ocr_de":"Versuchsanordnung und Apparate.\n77\nwird es gen\u00fcgen, den Zustand eines einzelnen, z. B. eines Armes zu bestimmen, da die tierphysiologischen Versuche, besonder^ diejenigen Heidenhains, erwiesen haben, dafs ein m\u00e4fsig starker Sinnesreiz durchweg die n\u00e4mlichen vasomotorischen Ver\u00e4nderungen an der ganzen Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers erzeugt1). Ohne Ausnahme ist diese Regel freilich nicht, und wir werden im Folgenden auch zum Besprechen solcher Affektzust\u00e4nde kommen, w\u00e4hrend welcher der Blutzuflufs nach gewissen Teilen der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers zweifelsohne vermehrt, nach anderen gleichzeitig vermindert ist, diese Verh\u00e4ltnisse scheinen jedoch selten zu sein. Bei einer Untersuchung wie der hier vorliegenden, die der Natur der Sache zufolge keine v\u00f6llig ersch\u00f6pfende\nBestimmung aller Affekt\u00e4ufserungen erstrebt, sondern nur einen\n\u2022 \u2022\nallgemeinen \u00dcberblick \u00fcber die wesentlichsten Ver\u00e4nderungen zu gewinnen beabsichtigt, wird es sich deshalb schwerlich der M\u00fche lohnen k\u00f6nnen, sich auf eine Bestimmung solcher, sicherlich seltenen Abweichungen von der Norm einzurichten.\n96. Wir haben nun die Aufgabe auf die Bestimmung der Atembewegungen, des Herzschlages und des Volumens eines einzelnen Gliedm\u00e4fses, z. B. eines Armes reduziert. Die erste Bestimmung ist mittels des Pneumographen leicht auszuf\u00fchren, w\u00e4hrend die beiden letzten sich mittels Mossos Plethysmographen zusammen ausf\u00fchren lassen. Dieser besteht aus einem am einen Ende geschlossenen Rohr, das eben weit genug ist, den Arm zu umschliefsen, der durch einen Gummi\u00e4rmel wasserdicht mit dem Rohr verbunden wird. Durch ein Seitenrohr wird das ganze Rohr, nachdem der Arm in die rechte Stellung gebracht ist, mit Wasser gef\u00fcllt, und hierauf wird das Seitenrohr durch einen Gummischlauch mit einem Mareysehen Schreibapparat (tambour enregistreur) in Verbindung gebracht. Jede Ver\u00e4nderung des Armvolumens bewirkt eine Hebung oder Senkung des Wassers, durch welche die Luft im Schlauch und im Schreibapparat be-einflufst wird, und die Bewegung wird dann von dem Stifte des Schreibapparates auf eine rotierende Walze (das Kymographion) gezeichnet. Da nun alle diejenigen Verh\u00e4ltnisse, welche Einflufs auf das Volumen des Armes \u00fcben, hier auf einmal zur Geltung kommen werden, so wird unter anderem auch der Herzschlag in der vom Schreibstift auf die Walze des Kymographions\nr) Gruenhagen: Lehrbuch der Physiologie. 1887. Bd. III. S. 302-","page":77},{"file":"p0078.txt","language":"de","ocr_de":"78\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\ngezeichneten Kurve zum Vorschein kommen. Durch jede Zusammenziehung des Herzens wird das Blut in den Arm getrieben und erzeugt eine pl\u00f6tzliche Vergr\u00f6fserung des Volumens, und die Pulskurve erscheint also als ein Gekr\u00e4usel der Wellen, die langsameren Ver\u00e4nderungen des Volumens entstammen. Aul den beigelegten Tafeln I\u2014V ist denn auch in der Volumenkurve, der unteren der beiden zusammengeh\u00f6renden Kurven, der Pulsschlag den Umst\u00e4nden nach mehr oder weniger deutlich zu sehen*).\n97. Das bei meinen Versuchen angewandte Kymographion ist aus Kagenaars Institut in Utrecht hervorgegangen. Die Walze ist 60 cm im Umkreis und 16 cm hoch, und das Uhrwerk l\u00e4fst sich auf jede beliebige Umdrehungszeit zwischen 8 Minuten und 5 Sekunden einstellen. Die Umdrehungsgeschwindigkeit dei Walze ist, wie mehrere Kon trollversuche erwiesen, eine durchaus gleichm\u00e4fsige, was den grofsen Vorteil mit sich bringt, dafs man w\u00e4hrend der Versuche nicht zugleich die Zeit auf der Walze zu registrieren braucht. Wenn man sich auf die Anwendung einer und derselben Geschwindigkeit beschr\u00e4nkt, und diese ein f\u00fcr allemal bestimmt wird, kann man durch einfaches Messen leicht den Zeitunterschied zwischen zwei beliebigen Punkten finden. Bei allen hier vorliegenden Versuchen hatte die Walze eine Geschwindigkeit von 34,5 cm in der Minute oder ungef\u00e4hr 0,6 cm in der Sekunde*, diese gen\u00fcgt, um die einzelnen Pulsschl\u00e4ge deutlich hervortreten zu lassen, und ist anderseits nicht gr\u00f6fser, als dafs w\u00e4hrend 8 Minuten Atmungs- und Volumenkurve gleichzeitig und kontinuierlich auf einer Walze aufgenommen werden konnten. Auf den Tafeln ist die Zeit durch kleine Querstriche auf einer horizontalen Linie angegeben *, der Zwischenraum\n9 Auch ihrer Form nach sollte die durch den Plethysmographen beschriebene Volumen-Pulskurve in allem Wesentlichen mit der durch den Sphygmographen gefundenen Druck-Pulskurve stimmen. Es ist indes schwer, mittels des Plethysmographen die rechte Form hervorzustellen, weil die grofse Wassermasse des Rohres leicht in Sonderschwingungen ger\u00e4t, wodurch die Kurve verzeichnet wird. Tafel I A u. \u00df und Tafel IV B zeigen solche auf verschiedene Weise verzeichneten Kurven. Da es indes sichergestellt ist, dafs die Ursachen der Fehler nur die kleinen schnellen Volumenver\u00e4nderungen (besonders die der Pulskurve) influiert haben, wahrend sie auf die gr\u00f6fseren und langsameren Ver\u00e4nderungen von keinem Einflufs sind, trug ich kein Bedenken, diese Kurven als von gleichem Werte wie die anderen mitzunehmen.","page":78},{"file":"p0079.txt","language":"de","ocr_de":"79\nVersuchsanordnung und Apparate.\nzwischen den Querstrichen ist 29 mm, einer Zeit von 5 Sekunden entsprechend.\n98. Die Versuche wurden an f\u00fcnf verschiedenen Personen ausgef\u00fchrt, von denen die drei, D, M und C best\u00e4ndig assistierten, w\u00e4hrend die beiden anderen, E und O nur bei einzelnen Gelegenheiten zu Objekten dienten. \u00dcbrigens wurde jeder Versuch, mit Ausnahme der wenigen, die sich der Natur der Sache zufolge nicht wohl wiederholen liefsen, an wenigstens zwei der Teilnehmer angestellt, um Sicherheit zu gewinnen, dafs die gefundenen Erscheinungen wirklich allgemein und keine rein individuellen Eigent\u00fcmlichkeiten w\u00e4ren. Dafs solche h\u00e4ufig auftraten, braucht kaum gesagt zu werden, und insofern sie \u00fcberhaupt von Belang waren, habe ich die unter einander abweichenden Kurven auf den angebogenen Tafeln I\u2014V mitgenommen; im \u00fcbrigen habe ich mich nat\u00fcrlich darauf beschr\u00e4nkt, diejenige Kurve wiederzugeben, welche die typischen \u00c4ufserungen der verschiedenen Affekte am deutlichsten zeigt, und keine einzige Kurve ist mitgenommen, deren typischer Charakter an irgend einem Punkte zweifelhaft war. Wie wir im Folgenden sehen werden, herrscht denn auch so gute \u00dcbereinstimmung zwischen meinen Versuchsresultaten und den von fr\u00fcheren Forschern auf diesem Gebiete durch verschiedenes Verfahren geernteten Erfahrungen, dafs kein Grund vorliegt, zu bezweifeln, dafs meine Kurven wirklich allgemeine, typische Affekt\u00e4ufserungen ausdr\u00fccken. \u2014 Bei jedem Versuche wurden, wie erw\u00e4hnt, zwei Kurven aufgenommen, deren obere (vgl. die Tafeln) die Atembewegung, die untere das gleichzeitige Volumen des rechten Armes gibt. Zum n\u00e4heren Verst\u00e4ndnis dieser Kurven sei nur noch angef\u00fchrt, dafs sie beide den wiedergegebenen k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen proportional variieren. Eine Hebung des Brustkastens w\u00e4hrend des Einatmens brachte den Schreibstift des Kymographions zum Steigen, w\u00e4hrend des Ausatmens sank derselbe wieder; die Atmungskurve zeigt also schlechthin die Hebung und Senkung der Brust. Ganz analog erscheint jede Vergr\u00f6fserung des Volumens als eine Hebung, jede Verkleinerung als eine Senkung der Volumenkurve. Um die Beobachtung kleiner Volumenver\u00e4nderungen zu erleichtern, ist auf den Tafeln unter jeder Volumenkurve eine horizontale Linie angebracht, die vom Schreibstift gezeichnet sein w\u00fcrde, wenn gar keine Volumenver\u00e4nderungen stattgefunden h\u00e4tten. Der Abstand der wirklich","page":79},{"file":"p0080.txt","language":"de","ocr_de":"80\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\nentstandenen Kurve von dieser Nulllinie ist also ein relatives Mafs des Arm Volumens an jedem Punkt. Auf der Nulllinie sind endlich, wie schon vorher erw\u00e4hnt, eine Reihe kleiner Querstriche in der Entfernung von 29 mm von einander angebracht , die der L\u00e4nge der in 5 Sekunden von der Walze zur\u00fcckgelegten Strecke gleichkommt. \u00dcbrigens sind alle Kurven von links nach rechts zu lesen. \u2014 Wir gehen nun zur Betrachtung der einzelnen Versuche \u00fcber.\n99. Wenn eine Person ruhig auf einem Stuhle sitzt, ohne sich mit anstrengender Denkarbeit zu besch\u00e4ftigen und ohne von aufsen her beeinflufst zu werden, soweit dies m\u00f6glich ist, wird es an allen Ursachen pl\u00f6tzlicher und starker Ver\u00e4nderungen des Atmens und der Blutzirkulation mangeln, und es steht dann zu erwarten, dafs die gezeichneten Kurven eben und regelm\u00e4fsig sein werden. Dies scheint auch der Fall zu sein ; in den Tafeln sind solche Kurven allerdings nicht speziell aufgenommen, da diese an und f\u00fcr sich ja nichts zeigen, Tafel I C (bis ein wenig hinter der Stelle, wo + steht) und Tafel V B Ende geben indes ein ziemlich genaues Bild des Verh\u00e4ltnisses. Namentlich in letzterer Figur wird man bei n\u00e4herer Beobachtung jedoch leicht entdecken, dafs die Volumenkurve nicht ganz konstant ist; aufser einer schwachen und sanften Steigung, von welcher wir hier absehen, nimmt man ein sehr geringes periodisches Variieren des Volumens wahr, und diese Periode trifft mit der Atembewegung zusammen. Die Erkl\u00e4rung dieser Erscheinung ist leicht zu geben, wenn man sich an die Hauptz\u00fcge h\u00e4lt. Bei jedem Einatmen, wobei die Brust sich erweitert, fliefst das Blut reichlich nach den Lungen, wodurch eine Verminderung der Blutmenge in den anderen Organen und folglich auch eine Verkleinerung von deren Volumen bewirkt wird; beim Ausatmen geschieht das Entgegengesetzte. Dieses periodische Variieren ist also etwas ganz Normales, das von besonderen \u00e4ufseren Eindr\u00fccken unabh\u00e4ngig vorgehen wird, und in \u00dcbereinstimmung hiermit finden wir, dafs die Volumenkurve ihren Gipfel fast genau da erreicht, wo der niedrigste Punkt der Atmungskurve f\u00e4llt, und umgekehrt. Wie aber Fig. B der Tafel V uns lehrt, ist der Einflufs der Atembewegung auf das Armvolumen bei einem in Ruhe verharrenden Menschen nur wenig hervortretend. Ein fl\u00fcchtiger Blick auf die Tafeln wird zeigen, dafs dieser Einflufs unter","page":80},{"file":"p0081.txt","language":"de","ocr_de":"Einfache Lustzust\u00e4nde.\n81\nanderen, sp\u00e4ter zu betrachtenden Verh\u00e4ltnissen weit bedeutender\u2019 werden kann.\n100.\tWir lassen nun eine solche ruhig sitzende Person^ Gegenstand eines schwachen lusterregenden Reizes werden, indem wir ihr z. B. einen L\u00f6ffel voll starker Zuckeraufl\u00f6sung; geben. Tafel I A zeigt das Resultat hiervon. Wo in der Figur J steht, \u00f6ffnet das Individuum den Mund, um den Trunk anzunehmen; dafs dies nicht ohne Atmungsst\u00f6rungen und Bewegungen: anderer Muskeln ablaufen kann, ist leicht verst\u00e4ndlich und tritt denn auch w\u00e4hrend der n\u00e4chsten 5 Sekunden in den Kurven hervor. Darauf ist wieder 3 Sekunden Ruhe, dann beginnen die Pulsschl\u00e4ge aber h\u00f6her zu werden, und zugleich steigt das Volumen in seiner Totalit\u00e4t ganz wenig. Das gr\u00f6fsere Volumen h\u00e4lt sich bis ungef\u00e4hr 28 Sekunden nach der Reizung, darauf kehrt alles langsam in den vor Anfang des Versuches vorhandenen Zustand zur\u00fcck. Auch das Atmen hat eine geringe, jedoch nachweisbare Ver\u00e4nderung gleichzeitig mit der Volumenver\u00e4nderung erlitten, indem es durchweg etwas tiefer geworden ist. Ganz dasselbe Resultat findet man nach Anwendung anderer wohlschmeckenden Stoffe, z. B. einer schwachen Weins\u00e4ure- oder Zitronens\u00e4ureaufl\u00f6sung, Saccharin u. dergl. Tafel I C zeigt die Wirkung von 20 mgr Saccharin. Wo in der Figur J steht, wird der Stoff auf der Zunge angebracht, da Saccharin aber schwer l\u00f6slich ist, beginnt der Geschmack nicht sogleich, und es war deshalb vorher die Abrede getroffen worden, dafs die Versuchsperson in dem Nu, da sie den Geschmack zu merken anfinge, leise mit dem Kopf nicken sollte. Dieser Punkt ist in der Figur mit + bezeichnet. Eine deutliche Ver\u00e4nderung der Volumenkurve wird hier nicht wahrgenommen, aber ganz langsam \u2014 allm\u00e4hlich wie der Geschmack immer st\u00e4rker wird \u2014 w\u00e4chst das Volumen und die H\u00f6he der einzelnen Pulsschl\u00e4ge, so dafs 20 Sekunden sp\u00e4ter ein deutlicher Unterschied erscheint; besonders sind die Pulsschl\u00e4ge hervortretender, als dies unter gew\u00f6hnlichen Verh\u00e4ltnissen bei der betreffenden Versuchsperson, M, der Fall zu sein pflegt.\n101.\tWohlriechende Stoffe, z. B. Lavendel\u00f6l, Rosen\u00f6l, K\u00f6lnisches Wasser u. dergl., haben dieselbe Wirkung wie wohlschmeckende. Tafel I B zeigt den Einflufs des K\u00f6lnischen Wassers auf die Versuchsperson C, die sich nicht ganz wohl\ni befand, nerv\u00f6s und unruhig war. Dies gibt sich auch in der\nLehmann, Die Gef\u00fchle.\t6","page":81},{"file":"p0082.txt","language":"de","ocr_de":"82\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nVolumenkurve zu erkennen, indem die Atmungsperiode weit ausgepr\u00e4gter ist, als es je bei einem normalen, ruhigen Menschen vorkommt. Anderseits sind die Pulsschl\u00e4ge stark verwischt ; dies k\u00f6nnte auf unwillk\u00fcrliches Zittern, auf Unruhe der Muskeln hindeuten, da die Kurve aber am obenerw\u00e4hnten Fehler leidet, dafs der Schreibstift Sonderschwingungen ausgef\u00fchrt hat, lassen sich schwerlich bestimmte Schl\u00fcsse ziehen hinsichtlich der Ursache der Unregelm\u00e4fsigkeiten der Volumenkurven. Wegen der Undeutlichkeit der Pulsschl\u00e4ge ist es schwer zu entscheiden, ob ihre H\u00f6he variiert ; der angenehme, wohlthuende Einflufs des K\u00f6lnischen Wassers tritt dagegen aber in der gewaltigen Volumensteigung um so mehr hervor. Bei J wurde dem Individuum ein mit der Fl\u00fcssigkeit benetztes Tuch unter die Nase gehalten, und 8 Sekunden sp\u00e4ter sieht man, dafs die Volumenkurve bei der periodischen Senkung lange nicht das fr\u00fchere Niveau erreicht, und dieser Unterschied wird immer ausgepr\u00e4gter. Sobald die Reizung aufh\u00f6rt, was bei + geschieht, sinkt das Volumen ziemlich pl\u00f6tzlich bis zur urspr\u00fcnglichen Gr\u00f6fse, und von diesem Punkt an wird die Atmungsperiode im Volumen noch hervortretender als vorher. Das Atmen selbst wird w\u00e4hrend der Reizung immer tiefer, und dies setzt sich sogar noch einige Zeit nach Aufh\u00f6r des Reizes fort.\n102. Bei anderen lusterregenden Eindr\u00fccken finden wir das n\u00e4mliche wieder: eine Steigung des Volumens in Verbindung mit einer Vergr\u00f6fserung der H\u00f6he der Pulsschl\u00e4ge und einem tieferen Atemholen. Wie wir im Folgenden sehen werden, hat eine gute Zigarre eine ganz \u00e4hnliche Wirkung auf den Tabakraucher; bei W\u00e4rme von angemessener Temperatur, bei \u00e4sthetischen und intellektuellen Lustursachen treten entsprechende Ver\u00e4nderungen hervor, so dafs wir als allgemeines Gesetz aufstellen k\u00f6nnen:\n108. Jeder lusterregende Eindruck erzeugt eine Vergr\u00f6fserung des Volumens des Armes und der H\u00f6he der einzelnen Eulsschl\u00e4ge nebst einer Vergr\u00f6fserung der Tiefe des Atemholens.\n104. Daneben treten aber bei den zusammengesetzteren Lustursachen andere Erscheinungen auf, deren Verst\u00e4ndnis uns am leichtesten wird, wenn wir vorher die einfachen unlusterregenden Eindr\u00fccke betrachten. Es sei nur noch hinzugesetzt, dafs es mir nicht m\u00f6glich war, in meinem umfassenden Versuchsmaterial ein gesetzm\u00e4fsiges Variieren der Anzahl der Herzschl\u00e4ge w\u00e4hrend","page":82},{"file":"p0083.txt","language":"de","ocr_de":"Einfache Unlustzust\u00e4nde.\n83\nstattiindender Lustreize zu sp\u00fcren ; die Anzahl ist entweder konstant oder w\u00e4hrend der Zeit unmittelbar nach Anfang der Reizung schwach steigend.\n105.\tGehen wir nun zu den einfachen unlusterregenden Eindr\u00fccken \u00fcber, so finden wir, wie zu erwarten war, allerdings, dafs diese den lusterregenden entgegengesetzt wirken, die Sache stellt sich aber zugleich merklich komplizierter. Am wenigsten verwickelt ist das Verh\u00e4ltnis bei schwachen Unlustursachen. Tafel II A zeigt die Wirkung eines kleinen Glases lauwarmen Wassers mit einigen Tropfen Weins\u00e4ure auf die Versuchsperson D, die den Geschmack als fade und ekelhaft angab. Bei J wird der Stoff eingenommen, und wir finden hier eine pl\u00f6tzliche und starke Senkung des Volumens nebst einer geringen Verminderung der H\u00f6he der Pulsschl\u00e4ge, die doch erst ungef\u00e4hr 10 Sekunden nach der Reizung ausgepr\u00e4gt hervortritt. Da der Geschmack der Natur des Stoffes zufolge ein schwacher war und sich schnell verlor, wird der Zustand bald wieder normal, sowohl was das Volumen als die Pulsschl\u00e4ge betrifft, jedoch erst nachdem die normale Gr\u00f6fse des Volumens \u00fcberschritten wurde; die Figur zeigt das Maximum 27 Sekunden nach der Reizung. Augenf\u00e4llig ist es endlich, wie die Unlustursaehe ein st\u00e4rkeres Eingreifen des Atmens in das Armvolumen herbeif\u00fchrt. W\u00e4hrend man in den Schwingungen, welche die Volumenkurve vor der Reizung zeigt, nur hier und da die Respirationsperiode sp\u00fcren kann, findet man nach der Reizung fast jede Atembewegung im Volumen markiert.\n106.\tSt\u00e4rkere Reize haben sowohl nachhaltigere als verwickelter e Wirkungen. Tafel I D zeigt den Einflufs eines L\u00f6ffels 10\u00b0/ohaltiger Aufl\u00f6sung schwefelsauren Chinins ebenfalls auf die Versuchsperson D. Bei J, wo der Stoff eingenommen wird, finden wir erst eine sehr starke Senkung, die sich indes w\u00e4hrend einiger Sekunden verliert, die Pulsschl\u00e4ge vermindern sich aber immer mehr und erreichen 10 Sekunden nach der Reizung ein Minimum; zugleich beginnt eine stets zunehmende Volumen-vergr\u00f6fserung trotz der verkleinerten Pulsschl\u00e4ge. Langsam kehren nun die Pulsschl\u00e4ge zu ihrer normalen H\u00f6he zur\u00fcck und \u00fcberschreiten diese, w\u00e4hrend zugleich das Volumen zu steigen fortf\u00e4hrt; ungef\u00e4hr 65 Sekunden nach der Reizung haben beide ein weit \u00fcber dem Normalen liegendes Maximum erreicht. Von\nhier nimmt nun sowohl die H\u00f6he der Pulsschl\u00e4ge als das Volumen\n6 *","page":83},{"file":"p0084.txt","language":"de","ocr_de":"84\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\nab, und der Zustand geht rasch in die Norm vor Anfang des Versuches zur\u00fcck. Auch die Atmung hat mittlerweile charakteristische Ver\u00e4nderungen erlitten, indem sogleich nach der Reizung eine Reihe tiefer und verh\u00e4ltnism\u00e4fsig langsamer Atembewegungen kommen, denen eine Reihe weniger tiefer folgen, welche die Norm jedoch noch etwas \u00fcbersteigen; schliefslich kehrt alles in den urspr\u00fcnglichen Zustand zur\u00fcck. Die Einwirkung des Atmens auf das Armvolumen nach der Reizung erscheint hier wie oben, nur in noch st\u00e4rkerem Grade. W\u00e4hrend die Respirationsperiode vor der Reizung kaum in der Volumenkurve zu sp\u00fcren ist, markiert sie sich darauf sehr bestimmt, und dies dauert fort, selbst nachdem die Atmung in ihren urspr\u00fcnglichen Zustand zur\u00fcckgekehrt ist. Ganz \u00e4hnliche Ver\u00e4nderungen werden bei anderen kr\u00e4ftigen Unlustursachen, die jedoch nicht geradezu schmerzhaft sind, beobachtet, z. B. dem Geschmack schwefelsaurer Magnesia, starker Weins\u00e4ure, dem Geruch nicht zu starken Ammoniaks , des Schwefelkohlenstoffes u. dergl., K\u00e4lteeindr\u00fccken u. s. w. Tafel II D gibt ein h\u00f6chst charakteristisches Bild von der Einwirkung des Schwefelkohlenstoffes auf die Versuchsperson M, die man voraus benachrichtigt hatte, dafs ihre Geruchsorgane auf nichts weniger denn angenehme Weise affiziert werden w\u00fcrden. Bei J wird ihr die Flasche unter die Nase gehalten und fast augenblicklich wieder entfernt. Da die Person nun wufste, dafs der Inhalt der Flasche nicht wohlriechend war, hatte sie allen m\u00f6glichen Grund, den Atem zur\u00fcckzuhalten, aber nichtsdestoweniger sehen wir, dafs der Reiz einen ungeheuer tiefen Atemzug hervorruft. Es kann also kaum bezweifelt werden, dafs derselbe durchaus unwillk\u00fcrlich, durch den Reiz reflektorisch ausgel\u00f6st ist. Hierauf folgt eine Reihe Atemz\u00fcge, die langsamer und etwas schw\u00e4cher als vor der Reizung sind. Auch die Volumenkurve zeigt interessante Ver\u00e4nderungen, die in allem Wesentlichen \u00fcbrigens mit dem oben Erw\u00e4hnten \u00fcbereinstimmen. Wir finden hier wieder die starke und schnell verlaufende Senkung des Volumens gleich bei Anfang der Reizung; darauf h\u00e4lt das Volumen sich kurze Zeit lang ein wenig unter der urspr\u00fcnglichen Gr\u00f6fse mit verkleinerten Pulsschl\u00e4gen. Es w\u00e4chst nun an trotz der geringen H\u00f6he der Pulsschl\u00e4ge, und schliefslich \u00fcberschreitet sowohl der Pulsschlag als das Volumen die normale Gr\u00f6fse, um darauf langsam in den urspr\u00fcnglichen Zustand zur\u00fcckzukehren. Aufser-","page":84},{"file":"p0085.txt","language":"de","ocr_de":"Einfache Unlustzust\u00e4nde.\n85\ndem erscheint die schon vor der Reizung recht ausgepr\u00e4gte Atmungsperiode des Volumens noch deutlicher nach derselben. Aufser diesen fr\u00fcher erw\u00e4hnten Erscheinungen zeigt die Volumenkurve noch eine Reihe starker und h\u00f6chst unregelm\u00e4fsiger Schwingungen gleich beim Eintreten der Reizung. Diese r\u00fchren zweifelsohne von unwillk\u00fcrlichen Muskelbewegungen her, welche oft ganz einfach wahrzunehmen sind, indem die Versuchsperson den Kopf abkehrt oder sogar den ganzen K\u00f6rper bewegt, um dem Reiz zu entgehen. In anderen F\u00e4llen, wo dieselben nicht so stark hervortreten, ist das Individuum sich dennoch bewufst, irgend eine kleine Bewegung gemacht zu haben, was nat\u00fcrlich v\u00f6llig gen\u00fcgt, um die Volumenkurve kurze Zeit hindurch zu st\u00f6ren.\n107. Bei den am st\u00e4rksten unlustbetonten Eindr\u00fccken, die wir kennen, den schmerzhaften Reizungen der Haut und der Schleimh\u00e4utchen, werden alle genannten Ver\u00e4nderungen auch am hervortretendsten, und ganz besonders werden hier die St\u00f6rungen der Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln zur Geltung kommen, so dafs nicht nur die Volumen-, sondern auch die Atmungskurve einen ziemlich unregelm\u00e4fsigen Verlauf zeigt. Tafel II B zeigt die Einwirkung bis 52\u00b0 C. warmen Wassers auf die Versuchsperson D. Bei J wurde ein tiefes Gef\u00e4fs mit Wasser von unten um den schlaff herabh\u00e4ngenden linken Arm gef\u00fchrt, w\u00e4hrend die Volumenkurve hier wie bei allen \u00fcbrigen Versuchen vom rechten Arm beschrieben ward. Nun ist Wasser von einer Temperatur von 52\u00b0 C. sogleich zwar unangenehm warm, besonders wenn es auf einen gr\u00f6fseren Teil des Organismus wirkt, die W\u00e4rme ist aber doch nicht unertr\u00e4glich, was sie erst nach Verlauf einiger Zeit wird; wo in der Figur + steht, rifs D den Arm mit allen Anzeichen des Schmerzes an sich. Das Eigent\u00fcmliche der Kurve sind offenbar teils die beiden sehr tiefen Atemz\u00fcge, welche ausgef\u00fchrt werden, w\u00e4hrend der Reiz stattfindet, und deren letzterer der tiefere ist, teils die Un-regelm\u00e4fsigkeit der Volumenkurve. Der Einflufs der W\u00e4rme zeigt sich hier erst in zwei starken Steigungen des Volumens, und diese r\u00fchren sicherlich nicht von der Atembewegung her, da sie diese begleiten, w\u00e4hrend das Verh\u00e4ltnis, wie wir sahen, sonst das ist, dafs die Volumen- und die Atmungskurve in entgegengesetzter Richtung schwingen. Unmittelbar auf das Aufh\u00f6ren des Reizes folgt eine starke Senkung des Volumens,","page":85},{"file":"p0086.txt","language":"de","ocr_de":"86\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nund in ihrem ferneren Verlauf wird die Kurve durchaus un-regelm\u00e4fsig, wie denn die Pulsschl\u00e4ge nach Anfang der Heizung \u00fcberhaupt nicht mit Sicherheit wahrzunehmen sind. Dagegen ist die Respirationsperiode in der Volumenkurve leicht erkennbar und die sp\u00e4tere Steigung des Volumens \u00fcber die Norm unzweifelhaft. G-anz dasselbe ist Tafel II C, von der Versuchsperson M herr\u00fchrend, ersichtlich, wo ein sehr tiefer Atemzug und eine kolossale Volumenvergr\u00f6fserung als unmittelbare Folge eines Stiches mit einer Ahle in die Nates entstehen. Die Volumenvergr\u00f6fserung wird momentan von einer Verkleinerung abgel\u00f6st, die sich langsam verliert, worauf das Volumen \u00fcber das Normale steigt. Auch hier lassen sich die Pulsschl\u00e4ge wegen der Unregelm\u00e4fsigkeit der Kurve nicht beobachten. \u00c4hnliche Kurven erhielt ich, indem ich einem Individuum eine Flasche mit konzentriertem Ammoniakwasser oder Ameisens\u00e4ure unter die Nase hielt.\nWir k\u00f6nnen nun die Resultate dieser Versuche in folgendem Satze zusammenfassen:\n108.\tEinfache, unlusterregende Sinneseindr\u00fccke rufen, wenn sie schwach sind, sogleich eine Verminderung des Armvolumens und der H\u00f6he der einzelnen Pulsschl\u00e4ge hervor. Das Volumen nimmt bald wieder zu, trotz der Verkleinerung der Pulsschl\u00e4ge, und \u00fcberschreitet gew\u00f6hnlich die Norm, wenn die Pulsschl\u00e4ge ihre vorige Gr\u00f6fse erreicht haben, die \u00fcbrigens im allgemeinen ebenfalls \u00fcberschritten wird. Hei st\u00e4rkeren, aber doch nicht schmerzhaften Eindr\u00fccken treten diese Ver\u00e4nderungen mehr hervor und werden zugleich unmittelbar nach Anfang der Beizung von einigen tiefen Atembewegungen begleitet. Endlich treten bei schmerzhaften Eindr\u00fccken aufser den ausgepr\u00e4gten Volumenver\u00e4nderungen je nach der Hauer des Eindruckes eine gr\u00f6fsere oder geringere Anzahl gewaltiger Bespirationsbewegungen auf und aufserdem St\u00f6rungen der Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln, welche sich durch den sehr unregelm\u00e4fsigen Verlauf der Volumenkurve an den Tag legen. In allen Unlustzust\u00e4nden sind die vom Atemholen abh\u00e4ngigen Volumenver\u00e4nderungen weit mehr hervortretend als unter normalen\nVerh\u00e4ltnissen.\n109.\tWie man sieht, befinden die Ergebnisse meiner Versuche sich in v\u00f6lliger \u00dcbereinstimmung mit dem von F \u00e9 r \u00e9 Gefundenen, und f\u00fcgen \u00fcberdies an mehreren Punkten dem vorher Bekannten neue Thatsachen hinzu. Und schreiten wir nun zu dem Versuch","page":86},{"file":"p0087.txt","language":"de","ocr_de":"Physiologische Deutung des Beobachteten.\n87\neiner physiologischen Deutung des Beobachteten, so zeigt es\nsich, dafs meine Versuche sich durchweg aus den Schl\u00fcssen\nerkl\u00e4ren lassen, die Lange auf Grundlage seiner Beobachtungen\n\u2022 \u2022\nr\u00fccksichtlich der physiologischen Aufserungen der zusammengesetzten Affekte zog. \u2014 Das Charakteristische der Freude ist nach Lange eine Erweiterung der Gef\u00e4fse nebst einer Erh\u00f6hung der Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln. Nun mufs eine aktive Erweiterung der Gef\u00e4fse in irgend einem Organ, einerlei wie sie zu st\u00e4nde kommen m\u00f6ge, jedenfalls eine Vergr\u00f6fserung des Volumens dieses Organes herbeif\u00fchren, und wir fanden gerade, dafs eine solche Volumenvergr\u00f6fserung sogar unsere verh\u00e4ltnism\u00e4fsig am schw\u00e4chsten lustbetonten einfachen Empfindungen konstant begleitete. Aus derselben Ursache, der Erweiterung der Gef\u00e4fse, r\u00fchrt m\u00f6glicherweise auch die Erh\u00f6hung der Pulsschl\u00e4ge her, die, wie wir sahen, mit der Volumenvergr\u00f6fserung zusammengeht. Denn wenn ein Gef\u00e4fs sich erweitert, mufs dessen Muskelschicht, die hierdurch \u00fcber eine gr\u00f6fsere Fl\u00e4che verteilt wird, ein wenig d\u00fcnner werden, und die Annahme liegt dann nahe, dafs die Wandung nachgiebiger wird ; jede frische, ins Gef\u00e4fs getriebene Blutwelle wird dasselbe nun leichter erweitern k\u00f6nnen, und die Pulsschl\u00e4ge m\u00fcssen deswegen hervortretender werden. Unter dieser Voraussetzung k\u00f6nnen wir ebenfalls verstehen, weshalb bei einer bedeutenden Vergr\u00f6fserung des Volumens keine entsprechend starke Erh\u00f6hung der Pulsschl\u00e4ge wahrgenommen wird (vgl. Tafel I B, wo, wie erw\u00e4hnt, die Erh\u00f6hung der Pulsschl\u00e4ge zweifelhaft ist). Allerdings werden in diesem Falle die Gef\u00e4fswandungen sehr schlaff, aber zugleich\nmufs der Blutdruck im Organismus in seiner Gesamtheit sinken,\n*\nweil der Blutmasse mehr Platz gegeben wird; die einzelne Blutwelle \u00fcbt folglich keinen so grofsen Druck auf die Gef\u00e4fs-wandung, so dafs die H\u00f6he des Pulsschlages nicht merkbar vergr\u00f6fsert wird.\n\u2022 \u2022\n110. Gegen die ganze hier von den k\u00f6rperlichen Aufserungen der Lustzust\u00e4nde gegebene Erkl\u00e4rung l\u00e4fst sich unstreitig der naheliegende Einwurf erheben, dafs dieselbe nur eine M\u00f6glichkeit unter vielen sei, und dafs durchaus kein Beweis daf\u00fcr gegeben sei, dafs die Sache sich gerade so verhalte. Um nur eine einzige der erw\u00e4hnten Erscheinungen, die Volumensteigung, zu nehmen, ist es ebensowohl denkbar, dafs dieselbe durch eine Hemmung des Abflusses des ven\u00f6sen Blutes aus dem Arm zu st\u00e4nde komme","page":87},{"file":"p0088.txt","language":"de","ocr_de":"88\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nals durch die angenommene aktive Erweiterung der Gef\u00e4fse. Wir werden indes gleich im Folgenden sehen, dafs eine solche Aufstauung ven\u00f6sen Blutes eine Erscheinung herbeif\u00fchren mufs, die w\u00e4hrend der Lustzust\u00e4nde entweder nicht vorkommt oder doch jedenfalls stets verringert wird, die den Unlustzust\u00e4nden dagegen in hohem Grade charakteristisch ist. Es ist daher kaum zu bezweifeln, dafs die Volumensteigung, die w\u00e4hrend der Unlustzust\u00e4nde wahrgenommen wird, gerade von einer Anstauung ven\u00f6sen Blutes herr\u00fchren mufs, und dafs die Steigung w\u00e4hrend der Lustzust\u00e4nde eine andere Ursache haben mufs. Und da Lange nun nachgewiesen hat1), dafs alle Erfahrungen des t\u00e4glichen Lebens mit Bezug auf das Aussehen froher und zufriedener Individuen sich kaum anders erkl\u00e4ren lassen, als durch die Annahme einer Erweiterung der Gef\u00e4fse in den Muskeln und der Haut, so gibt diese Annahme zugleich die nat\u00fcrlichste Erkl\u00e4rung der Volumensteigung, welche sich auch unter den hier erw\u00e4hnten einfacheren Verh\u00e4ltnissen zeigt. Dagegen ist es nicht so sicher, dafs die Gef\u00e4fserweiterung auch die Ursache der wahrgenommenen Vergr\u00f6fserung der H\u00f6he der Pulsschl\u00e4ge ist. Dafs die Gef\u00e4fserweiterung eine solche zur Folge haben kann, l\u00e4fst sich kaum bezweifeln, es ist aber ebensowohl denkbar, dafs die vergr\u00f6fserte H\u00f6he der Pulsschl\u00e4ge einer Vermehrung des Umfanges der Herzkontraktionen, 'wodurch jedesmal mehr Blut in die Gef\u00e4fse getrieben wird, zu verdanken w\u00e4re. Es wird schwer, wo nicht unm\u00f6glich sein, zu entscheiden, inwiefern das Herz hier mitbeth\u00e4tigt ist. Da es sich indes erweisen wird,\ndafs die w\u00e4hrend der Unlustzust\u00e4nde beobachteten Volumen-%\nVer\u00e4nderungen sich schwerlich erkl\u00e4ren lassen, ohne eine Verminderung des Umfanges der Herzbewegungen anzunehmen, so ist es sehr wahrscheinlich, dafs im Gegensatz hierzu w\u00e4hrend der Lustzust\u00e4nde eine Vermehrung des Umfanges der Bewegungen stattfindet, so dafs dieser Faktor mit der Gef\u00e4fserweiterung zusammen wirkt, um die charakteristische Erscheinung, die Erh\u00f6hung der Pulsschl\u00e4ge hervorzubringen.\nDie Erh\u00f6hung der Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln, die w\u00e4hrend st\u00e4rkerer Lustaffekte beobachtet wird, scheint sich ebenfalls bei den hier vorliegenden Versuchen wenigstens sp\u00fcren zu lassen, indem die Atembewegungen, wie wir sahen, etwas\n*) Lange: \u00dcber Gem\u00fctsbewegungen. S. 19\u201421.","page":88},{"file":"p0089.txt","language":"de","ocr_de":"Physiologische Deutung des Beobachteten.\n89\ntiefer werden. Dafs dieselbe auf andere Weise hervortreten sollte, k\u00f6nnen wir kaum erwarten, da die untersuchten Zust\u00e4nde an und f\u00fcr sich ja schwach lustbetont sind, und sogar starke Lustaffekte bei Erwachsenen gew\u00f6hnlich keine Muskelbewegungen erzeugen werden, die sich nicht beherrschen liefsen. Und der Natur der Sache zufolge werden nur die nichtbeherrschten Bewegungen sich Ausschlag geben bei Versuchen, von welchen das Individuum weifs, dafs alles darauf beruht, dafs es sich m\u00f6glichst ruhig verh\u00e4lt.\nWir k\u00f6nnen also als in hohem Grade wahrscheinlich aufstellen :\n111.\tEinfache lustbetonte Sinnes empfmdung en werden von einer Gef\u00e4fserweiterung begleitet und vielleicht auch zugleich von einer Vergr\u00f6fserung des Umfanges der Herzhontrahtionen in Verbindung mit einer Erh\u00f6hung der Innervation der willh\u00fcrlichen Mushein, jedenfalls der Atmungsmushein.\n112.\tGehen wir nun zur Betrachtung der unlustbetonten\nEmpfindungen \u00fcber, so wird die Deutung nat\u00fcrlich etwas\nschwieriger wegen der komplizierteren Verh\u00e4ltnisse, welche die\nVersuche uns zeigten. Zum Teil k\u00f6nnen wir wohl auch hier die\nErscheinungen deuten, indem wir uns auf die Schl\u00fcsse st\u00fctzen,\ndie Lange aus den Beobachtungen des t\u00e4glichen Lebens gezogen\nhat. Als etwas den meisten Unlustzust\u00e4nden Charakteristisches\nfindet Lange die Gef\u00e4fsverengerung. Es leuchtet nun ein, dafs\neine solche Verengerung eine Verminderung des Volumens der\nGliedmafsen und vielleicht auch eine Verminderung der H\u00f6he\nder Pulsschl\u00e4ge herbeif\u00fchren wird, indem das Verh\u00e4ltnis hier\ngerade das entgegengesetzte von dem, was w\u00e4hrend der Gef\u00e4fs-\n\u2022 \u2022\nerweiterung eintritt, werden mufs. \u00dcbrigens k\u00f6nnen wir hier nat\u00fcrlich ebensowenig wie oben die M\u00f6glichkeit ausschliefsen, dafs die Verkleinerung der Pulsschl\u00e4ge auch von einer Verminderung des Umfanges der Herzbewegungen herr\u00fchrte, und der Umstand, dafs die Volumen Verkleinerung w\u00e4hrend der Unlustzust\u00e4nde sehr bald von einer Volumenvergr\u00f6fserung abgel\u00f6st wird, welche anf\u00e4ngt, w\u00e4hrend die Pulsschl\u00e4ge noch im Abnehmen sind, scheint sogar entschieden daf\u00fcr zu reden, dafs die Herzbewegting affiziert wird. Man weifs freilich, dafs auf eine Gef\u00e4fsverengerung gew\u00f6hnlich eine Beaktion, eine Erweiterung, eintritt, es ist jedoch mehr als zweifelhaft, ob die Vergr\u00f6fserung des Volumens, die unsere Kurven zeigen, ausschliefslich durch","page":89},{"file":"p0090.txt","language":"de","ocr_de":"90\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\neine solche Reaktion der Gef\u00e4fse entsteht. Wenn die besprochene Verminderung der H\u00f6he des Pulsschlages auch nur zum Teil von der Kontraktion der Gef\u00e4fse herr\u00fchrt, so ist es unm\u00f6glich, dafs die Volumenvergr\u00f6fserung von der Reaktion auf die Verengerung herr\u00fchren kann, da sie, wie schon gesagt, anfangt, w\u00e4hrend die H\u00f6he der Pulsschl\u00e4ge noch im Abnehmen ist. Es mufs also wenigstens noch ein Faktor bei der Volumenver\u00e4nderung mitbeth\u00e4tigt sein, und dieser Faktor mufs von der Spannung der Gef\u00e4fse an der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers unabh\u00e4ngig variieren k\u00f6nnen. Aber diese Bedingungen: auf das Volumen der Glieder einwirken zu k\u00f6nnen und von dem Zustand, in welchem sich die Gef\u00e4fse der Oberfl\u00e4che befinden, unabh\u00e4ngig zu sein, werden nur von den willk\u00fcrlichen Muskeln des betreffenden Gliedes, der Atmung, dem Herzen und den Gef\u00e4fsen im Innern des Organismus erf\u00fcllt. Wir m\u00fcssen jeden dieser Faktoren f\u00fcr sich betrachten.\n113. Was die beiden erstgenannten Faktoren betrifft, k\u00f6nnen wir vorl\u00e4ufig vollst\u00e4ndig von denselben absehen. Dafs die ganz gesetzm\u00e4fsigen Ver\u00e4nderungen des Armvolumens nicht aus willk\u00fcrlichen Muskelbewegungen entstehen, liegt auf der Hand, und der rhythmische Einflufs des Atmens kann eine Ver\u00e4nderung nicht hervorrufen, deren Dauer vielmal gr\u00f6fser ist als die Atmungsperiode, namentlich nicht, wenn die Atmung, wie hier, ungehindert und verh\u00e4ltnism\u00e4fsig tiefer als vor der Reizung ist. \u00dcbrig bleiben also nur das Herz und die Gef\u00e4fse im Innern des Organismus, in deren Zustand man die Erkl\u00e4rung suchen k\u00f6nnte. Was letztere betrifft, ist eine Mitwirkung nicht g\u00e4nzlich ausgeschlossen. Aus den tierphysiologischen Untersuchungen wissen wir, dafs ein starker Reiz eine Gef\u00e4fsverengerung an der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers, dagegen aber eine Gef\u00e4fserschlaffung der inneren Organe hervorruft. Dies wurde allerdings nur nach nicht ad\u00e4quaten Reizungen der Nerven bei Tieren gefunden, die sich in einem nichts weniger als normalen Zustande befanden, es liegt indes Grund f\u00fcr die Vermutung vor, dafs dasselbe auch unter normalen Verh\u00e4ltnissen stattfindet. Wenn wir daher davon ausgehen, dafs eine solche Gef\u00e4fserschlaffung im Innern des Organismus w\u00e4hrend der starken unlusterregenden Reizungen vorkommt, so wird diese im ersten Augenblick zu einer Verminderung des Armvolumens beitragen, indem sie eine Verminderung des Blutdruckes bewirkt, und wenn nun die Gef\u00e4fse im","page":90},{"file":"p0091.txt","language":"de","ocr_de":"Physiologische Deutung des Beobachteten.\n91\nInnern allm\u00e4hlich ihren Tonus wiedergewinnen, mufs die Folge werden, dafs das Armvolumen von neuem an w\u00e4chst. Dafs wir hier eine der Ursachen der beobachteten Volumen\u00e4nderungen haben, ist also ziemlich wahrscheinlich, diese Ursache kann aber schwerlich die einzige sein. Denn die Versuche zeigen, dafs das Armvolumen oft wenige Sekunden nach der Reizung merklich gestiegen ist, und so geschwind wird die Gef\u00e4fserschlaffung im Innern sich kaum verlieren k\u00f6nnen. Und die Versuche zeigen ebenfalls, dafs das Armvolumen sp\u00e4ter bis weit \u00fcber das Normale steigt. Dies kann auch nicht davon herr\u00fchren, dafs die Gef\u00e4fse im Innern ihren Tonus wiedergewinnen, denn hierdurch w\u00e4re h\u00f6chstens erreicht, dafs der Zustand der n\u00e4mliche wie vor der Reizung w\u00fcrde. Es mufs also sicherlich noch eine Ursache mit-wirken, und diese kann dann wohl eigentlich keine andere als das Herz sein.\n114.\tWir sahen oben, dafs die beobachtete Verminderung der H\u00f6he der Pulsschl\u00e4ge auf eine Verminderung des Umfanges der Herzbewegungen deuten k\u00f6nnte. Nehmen wir nun an, dafs diese wirklich stattfindet, so werden wir hierdurch bef\u00e4higt, alle diejenigen Erscheinungen zu verstehen, deren Erkl\u00e4rung wir bisher nicht in den betrachteten Verh\u00e4ltnissen finden konnten. Eine Verminderung des Umfanges der Herzkontraktionen bewirkt n\u00e4mlich, dafs bei den einzelnen Herzschl\u00e4gen weniger Blut aus den Venen aufgenommen wird als vorher, und das Blut wird daher in letzteren aufgestaut; hierdurch wird es also verst\u00e4ndlich, dafs eine Vergr\u00f6fserung des Arm Volumens eintreten kann, obschon die Gef\u00e4fse im Begriffe sind, sich zusammenzuziehen. Diese Volumen vergr\u00f6fserung wird dann ferner vermehrt, wenn als Reaktion auf die Verengerung der Gef\u00e4fse an der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers eine Erschlaffung eintritt, und indem diese sich langsam verliert und die Herzbewegungen ihren vorigen Umfang wiedergewinnen, kehrt der Organismus allm\u00e4hlich in den Zustand vor der Reizung zur\u00fcck. Wir sehen also, dafs die Volumenver\u00e4nderungen, welche die Versuche zeigten, sich eigentlich nur durch die Annahme eines Zusammenwirkens aller drei besprochenen Momente erkl\u00e4ren lassen, und wir k\u00f6nnen deshalb als in hohem Grade wahrscheinlich aufstellen:\n115.\tJeder unlusterregende Heiz erzeugt im ersten Augenblick einen Gef\u00e4fsspasmus an der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers in Verbindung mit einer Erschlaffung der Gef\u00e4fse im Innern und einer Verminderung","page":91},{"file":"p0092.txt","language":"de","ocr_de":"92\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\ndes Umfanges der Herzhontraktionen. Hie beiden ersten Faktoren im Verein bewirken eine pl\u00f6tzliche und h\u00e4ufig starke Verminderung des Volumens der Glieder, die beiden letzten im Verein haben eine Verminderung der H\u00f6he der Fulsschl\u00e4ge zur Folge, und zugleich f\u00fchrt der verminderte Umfang der Herzkontraktionen eine Anstauung ven\u00f6sen Flutes herbei, die sich durch eine bald eintretende Volumen-vergr\u00f6fserung der Glieder \u00e4ufsert. Letztere w\u00e4chst dann ferner an, weil der Gef\u00e4fsspasmus durch eine Erschlaffung abgel\u00f6st wird, w\u00e4hrend die Gef\u00e4fse des Innern ihren vorigen Tonus wieder-gewinnen.\n116. Betrachten wir nun die Atembewegungen und die Bewegungen der anderen willk\u00fcrlichen Muskeln, so zeigen die Versuche uns hier eine Erscheinung, die Langes Resultaten allenfalls anscheinend widerspricht. Lange findet n\u00e4mlich eine Schw\u00e4chung der Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln als den meisten Unlustaffekten charakteristisch, w\u00e4hrend meine Versuche st\u00e4rkere Atembewegungen sogleich nach dem unlusterregenden Reize, und ist dieser sehr stark, zugleich Muskelbewegungen zeigen, welche entschieden auf eine Erh\u00f6hung der Innervation hindeuten. Wirklicher Widerspruch ist hier jedoch nicht vorhanden, denn Lange hat seine Aufmerksamkeit aussehliefslich den mehr dauerhaften Zust\u00e4nden zugewandt, weil nur diese sich f\u00fcr die Untersuchung auf dem Wege der einfachen Beobachtung eignen, wogegen er das weniger zug\u00e4ngliche und ebenfalls weniger wesentliche Moment, die Einleitung der Affekte, nur selten ber\u00fccksichtigt. Dafs w\u00e4hrend eines Unlustzustandes gew\u00f6hnlich eine Verminderung der Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln erscheint, ist gewifs aufser allen Zweifel gestellt, und insofern hat Lange recht; anderseits ist es auch aus dem t\u00e4glichen Leben bekannt, dafs jeder starke Eindruck h\u00e4ufig eine Entladung herbeif\u00fchrt, die sich durch deutliches Zusammenfahren verr\u00e4t, und darauf erst folgt die Erschlaffung als eine Reaktion. Beide diese Phasen treten in den vorliegenden Versuchen entschieden hervor. Wir sahen, dafs die unmittelbar nach der Reizung beobachtete Verst\u00e4rkung des Atmens an St\u00e4rke und Dauer von der Reizung abh\u00e4ngig ist. Je st\u00e4rker die letztere, um so tiefer wird das Atmen, und je l\u00e4nger die Reizung anh\u00e4lt, um so gr\u00f6fser wird die Anzahl der tiefen Atemz\u00fcge. Darauf folgen dann oft verkleinerte Atembewegungen. Wo der Reiz sehr stark, schmerzhaft wird, beobachtet man zugleich unmittelbar","page":92},{"file":"p0093.txt","language":"de","ocr_de":"Physiologische Deutung des Beobachteten.\n93\nnach cler Reizung eine h\u00f6chst gewaltige und pl\u00f6tzliche Volumenyergr\u00f6fserung, auf welche eine ebenfalls sehr starke Volumenverminderung folgt, die sich w\u00e4hrend eines sehr un-regelm\u00e4fsigen Verlaufes der Volumenkurve nur langsam verliert. Die erste Steigung und Senkung des Volumens ist sowohl zu grofs als zu pl\u00f6tzlich, um sich als eine Folge der Zirkulationsst\u00f6rungen allein erkl\u00e4ren zu lassen, und da das Individuum sich unter solchen Verh\u00e4ltnissen geradezu bewufst ist, eine Zuckung gemacht zu haben, so ist es kaum zu bezweifeln, dafs diese Volumenver\u00e4nderungen von einer Muskelkontraktion mit nachfolgender Erschlaffung herr\u00fchren. Diese Schw\u00e4chung der Innervation ist denn auch wahrscheinlich die Ursache der andauernden Muskelunruhe, welche die Pulsschl\u00e4ge der Volumenkurve vollst\u00e4ndig verwischt. Allerdings kann Muskelunruhe, Zittern, auch von einer gar zu starken Innervation herr\u00fchren, was z. B. der Fall ist, wenn man sich l\u00e4ngere Zeit hindurch anstrengt, um den ganzen K\u00f6rper oder ein einzelnes Glied in einer unbequemen Stellung zu halten. Wenn aber, wie bei diesen Versuchen, der Arm in einer bequemen Stellung ruht, deren Behauptung keinerlei Anstrengung von seiten des Individuums erfordert, so deutet die zitternde Bewegung vielmehr auf eine Verminderung als auf eine Vergr\u00f6fserung der latenten Innervation hin. Es findet sich an diesem Punkt also keine Nicht\u00fcbereinstimmung zwischen Langes Resultaten und den meinigen, wenn man nur den unmittelbar durch\u2019 den Reiz selbst hervorgerufenen Zustand und die folgende nachhaltigere \u201eStimmung\u201c auseinanderh\u00e4lt.\n117. Das am meisten charakteristische Ph\u00e4nomen aller Unlustzust\u00e4nde ist der Einflufs, den das Atmen auf das Armvolumen erh\u00e4lt. Eine ganz schwache Unlustursache gen\u00fcgt, um diese periodischen Ver\u00e4nderungen des Volumens zu erzeugen, auch wenn im normalen Zustand nicht die geringste Spur derselben nachweisbar war, und nach deren Auftreten wird man deshalb mit fast v\u00f6lliger Sicherheit den Gem\u00fctszustand des Individuums beurteilen k\u00f6nnen. Um dies zu verstehen, m\u00fcssen wir uns ein wenig n\u00e4her auf die allgemeine Einwirkung der Atmung auf die Blutverteilung im Organismus einlassen. Bei jedem Einatmen steigt der Blutdruck, und hierdurch w\u00fcrde also eine Vergr\u00f6fserung des Armvolumens hervorgerufen werden, zugleich wird aber der Abflufs des ven\u00f6sen Blutes nach den Lungen","page":93},{"file":"p0094.txt","language":"de","ocr_de":"94\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nerleichtert, was eine Verminderung des Volumens zur Folge haben w\u00fcrde. Die wirklich hervorgerufene Volumen Ver\u00e4nderung wird also die Differenz zwischen der Vergr\u00f6fserung und der Verkleinerung, die jeder dieser Faktoren f\u00fcr sich bewirken w\u00fcrde. Unter normalen Zust\u00e4nden sehen wir nun (vgl. die Kurven) entweder, dafs diese beiden Faktoren sich vollst\u00e4ndig auf heben, so dafs gar keine Volumenver\u00e4nderung wahrgenommen wird, oder auch, dafs der erleichterte Abflufs des\n\u2022 \u2022\nven\u00f6sen Blutes ein geringes \u00dcbergewicht hat, so dafs w\u00e4hrend des Einatmens eine schwache Senkung sichtbar wird. Denken wir uns nun aber, dafs w\u00e4hrend eines Lustzustandes eine Erweiterung der Gef\u00e4fse an der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers vorgeht, so wird das Anwachsen des Blutdruckes w\u00e4hrend des Einatmens eine verh\u00e4ltnism\u00e4fsig starke Vermehrung des Armvolumens bewirken, indem die Gef\u00e4fswandungen dem Druck leichter nachgeben. Der gleichzeitig erleichterte Abflufs des ven\u00f6sen Blutes kann nicht bewirken, dafs die Verminderung des Volumens bedeutender wird, als vorher, und die Folge wird also, dafs die beiden Faktoren sich noch besser das Gleichgewicht halten. War vor der Beizung nur eine Spur der Atmungsperiode zu entdecken, so mufs diese nun verschwinden; war die Periode aber deutlich hervortretend, so mufs sie nun weniger erkennbar werden. Aber eben dies zeigen die Versuche [101], und die gegebene Erkl\u00e4rung gewinnt dadurch an Wahrscheinlichkeit.\n118. W\u00e4hrend der Unlustzust\u00e4nde stellt sich die Sache\n\u2666\nganz anders. Findet eine Gef\u00e4fsverengerung allein statt, so mufs das Verh\u00e4ltnis dem bei der Gef\u00e4fserweiterung gefundenen entgegengesetzt werden; wenn der Blutdruck w\u00e4hrend des Einatmens steigt, wird dies nur eine verh\u00e4ltnism\u00e4fsig geringe Vergr\u00f6fserung des Armvolumens hervorrufen, w\u00e4hrend die Erleichterung des Abflusses des ven\u00f6sen Blutes keine wesentliche Ver\u00e4nderung erleidet. Die Folge hieivon wird also ein verh\u00e4ltnism\u00e4fsig starkes Sinken des Volumens w\u00e4hrend der Einatmung. Findet aufser der Gef\u00e4fsverengerung zugleich eine Anstauung des ven\u00f6sen Blutes statt, so mufs dessen erleichterter Abflufs w\u00e4hrend der Einatmung ein starkes Sinken des Volumens mit sich bringen, und in beiden F\u00e4llen wird die Folge also, dafs die Atembewegung im Armvolumen stark hervortritt, auch wenn vor der Reizung nicht die geringste Spur von derselben zu finden war. Auch dies stimmt, wie wir sahen, v\u00f6llig mit der Erfahrung \u00fcberein [108]. Es liegt","page":94},{"file":"p0095.txt","language":"de","ocr_de":"W\u00e4rme und K\u00e4lte.\n95\n\u00fcbrigens in der Natur der Sache, dafs in den periodischen Ver\u00e4nderungen des Armvolumens ein Unterschied nachweisbar sein mufs, je nachdem nur ein Gef\u00e4fsspasmus oder zugleich eine Hemmung des ven\u00f6sen Abflusses stattfindet; da ich indes nicht im Besitz des erforderlichen Versuchsmaterials bin, um dieses mit Sicherheit zu konstatieren, werde ich mich nicht n\u00e4her hierauf einlassen. \u2014 Eine Gesetzm\u00e4fsigkeit im Variieren der Anzahl der Herzschl\u00e4ge habe ich nicht nachweisen k\u00f6nnen ; am h\u00e4ufigsten scheint eine Vermehrung der Anzahl zu sein, v\u00f6llige Konstanz kommt gewifs niemals vor.\nDas Resultat dieser Betrachtungen wird also :\n119. Bei allen Unlustzust\u00e4nden ist zwischen dem vom Beiz erzeugten Stofs und dem nachfolgenden Zustand scharf zu sondern. Im Beizungsmoment tritt tiefere Atmung ein und bei sehr starkem Beize zugleich Erh\u00f6hung der Innervation anderer willk\u00fcrlichen Muskeln. Darauf folgt dann gew\u00f6hnlich eine Erschlaffung. Dafs die Atmungsperiode der Volumenkurve w\u00e4hrend der Unlustzust\u00e4nde besonders hervortritt, ist als einfache Folge der Ver\u00e4nderungen zu verstehen, die jeder Atemzug im Blutdruck und im Abflufs des ven\u00f6sen Blutes nach den Lungen erzeugt.\n120. Wir gehen nun zur Untersuchung derjenigen physiologischen Erscheinungen \u00fcber, welche teils durch einige einfache Sinnesreize von speziellem Interesse, teils durch die eigentlichen Gem\u00fctsbewegungen entstehen. W\u00e4rme und K\u00e4lte werden je nach d\u00e7r Temperatur lust- oder unlusterregend sein k\u00f6nnen. Wir untersuchten oben [107] die Wirkung eines hohen W\u00e4rmegrades, wir werden nun einige andere F\u00e4lle betrachten. Tafel H E zeigt die Wirkung eines Eintauchens des linken Armes in Wasser bis 43\u00b0 C., das entschieden lusterregend ist. Das Eintauchen geschah passiv auf die oben erw\u00e4hnte Weise, so dafs keine willk\u00fcrlichen Muskelbewegungen die Volumenkurve st\u00f6ren. Als Versuchsperson diente O, dessen normale Volumenkurve die Atmungsperiode besser zeigt als die meisten anderen ; so ist letztere gleich am Anfang der Figur deutlich zu sehen. Bei J fand das Eintauchen statt, und man sieht hier statt einer langsamen und sanften Volumensteigung mit vergr\u00f6fserter Pulsh\u00f6he erst w\u00e4hrend 10 Sekunden eine Senkung, ohne wesentliche Ver\u00e4nderung der Pulsschl\u00e4ge, und darauf ein Steigen, das schliefslich","page":95},{"file":"p0096.txt","language":"de","ocr_de":"96\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nbis bedeutend \u00fcber das Normale geht. Dieser ersten Volumen-senkung charakteristisch ist es, dafs dieselbe so langsam vorgeht und bei allen von mir untersuchten Individuen so ziemlich die n\u00e4mliche Zeit gebraucht, 7\u201410 Sekunden n\u00e4mlich, w\u00e4hrend die bei den Unlustzust\u00e4nden beobachteten Senkungen stets instantan sind. Es l\u00e4fst sich daher kaum annehmen, dafs dieselbe aus Ursachen herr\u00fchren sollte, die w\u00e4hrend der Unlustzust\u00e4nde th\u00e4tig w\u00e4ren, wof\u00fcr ja auch um so weniger Grund ist, da wir hier mit einem entschiedenen Lustzustand zu thun haben. Es ist deshalb nat\u00fcrlicher, sie als eine rein passive Volumenver\u00e4nderung aufzufassen, die von einer Gef\u00e4fserweiterung anderer Organe herr\u00fchrt, und bedenkt man nun, dafs es der eine Arm ist, der gereizt wird, w\u00e4hrend der andere die Kurve beschreibt, so liegt die Erkl\u00e4rung auch sehr nahe. Durch die direkte Einwirkung der W\u00e4rme auf den einen Arm mufs hier eine recht bedeutende Gef\u00e4fserweiterung entstehen, und der hieraus resultierende verminderte Blutdruck erzeugt dann eine Senkung des Volumens des anderen Armes. Werden nun allm\u00e4hlich auch die Gef\u00e4fse des letzteren erweitert, so beginnt das Volumen hier zu steigen, und da es eine ziemlich bedeutende Gr\u00f6fse erreicht, mufs der Blutdruck im Organismus verh\u00e4ltnism\u00e4fsig gering werden*, dies ist wahrscheinlich die Ursache, weshalb hier keine bedeutende Vergr\u00f6fserung der H\u00f6he der Pulsschl\u00e4ge zu sehen ist.\n121. Wo in der Figur + steht, wurde das warme Wasser pl\u00f6tzlich mit kaltem von 12\u00b0 C. umgewechselt. Leider fehlt gleich hierauf ein St\u00fcck der Kurve, da das Papier der Walze an dieser Stelle zerschnitten und die Kurve etwas besch\u00e4digt ward, mehr als die Aufzeichnung w\u00e4hrend ein paar Sekunden ging jedoch nicht hierdurch verloren. Wir sehen jedenfalls im folgenden St\u00fcck eine deutliche Verminderung der H\u00f6he der Pulsschl\u00e4ge und daneben eine geringe Senkung des Volumens, das ungef\u00e4hr 17 Sekunden nach der Beizung sein Minimum erreicht. Ebenfalls sind die periodischen Atembewegungen in der Volumenkurve weit deutlicher als vorher zu sehen. Dies alles deutet auf einen Unlustzustand, und nach Aussage der Versuchsperson wirkte das kalte Wasser unmittelbar nach dem warmen auch entschieden unangenehm. Gegen Ende des hier gegebenen Teiles der Kurve sieht man, dafs trotz der fortdauernden Reizung sowohl die H\u00f6he der Pulsschl\u00e4ge als das","page":96},{"file":"p0097.txt","language":"de","ocr_de":"Reizwirkung und Vergiftungswirkung.\n97\nVolumen steigt. Der sp\u00e4tere Verlauf der Kurve ist ganz ebenso wie bei anderen Unlustzust\u00e4nden: indem die Reizung aufh\u00f6rt,, steigt die Kurve mit stark erh\u00f6htem Pulsschlage weit \u00fcber das Normale, da hierin aber nicht Neues enthalten ist ? habe ich diesen Teil der langen Aufzeichnung nicht mitgenommen.\n122. Tabak rauchen. Bisher setzten wir voraus, dafs die durch die verschiedenen angewandten Sinnesreize verursachten physiologischen Ver\u00e4nderungen mit dem gleichzeitig erscheinenden Bewufstseinszustand in Beziehung st\u00fcnden ; ein Beweis hierf\u00fcr ist indes nicht gegeben worden, und doch liegt die Annahme nahe, dafs die beobachteten Wirkungen der Reize rein physiologische, von dem gleichzeitigen Bewufstseinszustande durchaus unabh\u00e4ngige \u00c4ufserungen sein k\u00f6nnten. Namentlich mit Bezug auf die Geschmacksreize k\u00f6nnte man zu der Meinung geneigt sein, die beobachtete Wirkung w\u00fcrde entstehen, auch wenn das Individuum gar keine Geschmacksempfindungen erhielte, z. B. indem der Stoff den Verdauungsorganen in einer H\u00fclle zugef\u00fchrt w\u00fcrde. Einer solchen Annahme widerstreiten jedoch entschieden [ mehrere Umst\u00e4nde. Erstens sahen wir, dafs die verschiedenartigsten ! Stoffe, wie Weins\u00e4ure, Chinin, schwefelsaure Magnesia u. s. w.\n! ganz gleichartige Wirkungen hervorriefen, w\u00e4hrend diese Stoffe \u25a0 sonst, z. B. als Arznei angewandt, h\u00f6chst verschiedene physio-I logische Erscheinungen im Gefolge haben. Hierzu kommt nun, dafs \u00e4ufserst geringe Mengen (ein paar Decigramm), die bei den i hier besprochenen Versuchen zur Anwendung kamen, auf einen normalen Menschen durchaus keine nachweisbare Wirkung haben i w\u00fcrden, wenn sie den Verdauungsorganen zugef\u00fchrt w\u00e4ren, ohne den Geschmacksnerv zu reizen; zu einer beabsichtigten ; therapeutischen Wirkung sind stets weit bedeutendere Mengen erforderlich. Endlich entstehen die physiologischen Erscheinungen, die wir hier untersucht haben, augenblicklich durch Einwirkung I der Stoffe auf den Organismus und sind im allgemeinen nach i Verlauf weniger Minuten wieder vollst\u00e4ndig verschwunden, w\u00e4hrend 1 die Wirkung der Stoffe, wenn sie im Organismus aufgenommen i werden, stets verh\u00e4ltnism\u00e4fsig sp\u00e4t kommt und sich darauf viel l\u00e4ngere Zeit hindurch \u00e4ufsert. Es ist mit anderen Worten bestimmt zu unterscheiden zwischen einer Reizwirkung (Applikations-, Wirkung), die durch den Geschmacksnerv hervorgerufen wird, und einer Vergiftungswirkung (Intoxikationswirkung), die durch i Aufnahme des Stoffes in das Blut zu st\u00e4nde kommt, hierdurch eine\nLehmann, Die Gef\u00fchle.\t7","page":97},{"file":"p0098.txt","language":"de","ocr_de":"98\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\nReihe Ver\u00e4nderungen im Organismus erzeugt und dann erst in zweiter Reihe ihren Einflufs auf das Bewufstsein geltend macht. Bei allen hier vorliegenden Versuchen wurde, wie man leicht sieht, nur die Reizwirkung untersucht, und da wir stets fanden, dafs gleichartige Bewufstseinszust\u00e4nde (lust- oder unlustbetonte Empfindungen) von den n\u00e4mlichen physiologischen Ver\u00e4nderungen konstant begleitet sind, ohne R\u00fccksicht auf die Art des Reizes, wird es berechtigt, zu behaupten, dafs zwischen dem Bewufstseins-zustand und den physiologischen Wirkungen des Reizes ein n\u00e4heres Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltnis besteht. Wie dieses Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltnis nun \u00fcbrigens zu denken sei, wird im Folgenden zum Gegenstand n\u00e4herer Untersuchung gemacht werden.\n123. Ein fernerer Beweis, dafs der Bewufstseinszustand und die physiologischen Wirkungen des Reizes etwas mit einander zu thun haben, w\u00fcrde sich f\u00fchren lassen, wenn es m\u00f6glich w\u00e4re, einen Sinneseindruck zu finden, der in dem einen Individuum einen entschiedenen Lustzustand, in einem anderen dagegen Unlust erregte. Wenn es sich dann auch in diesem Falle zeigte, dafs man trotz des gleichartigen Reizes dennoch die f\u00fcr die beiden verschiedenen Bewufstseinszust\u00e4nde charakteristischen Erscheinungen hervorruft, so scheint es keinem Zweifel unterworfen zu sein, dafs die Bewufstseinserscheinungen und die physiologischen Ver\u00e4nderungen eng mit einander verbunden sind. Ein solches Mittel haben wir unter anderem an dem Tabak, der zwar den meisten, aber doch bei weitem allen eine allgemeine Quelle des Genusses ist. W\u00e4hrend z. B. D den Tabak sehr hoch sch\u00e4tzte, bediente O sich nie dieses herrlichen Krautes, ohne dafs er doch entschiedenen Widerwillen gegen dasselbe hegte. Er erbot sich deshalb willig zu einem Versuche \u00fcber dessen Wirkung auf ihn. Des Vergleiches wegen gebe ich auf Tafel III A und B die Kurve bez\u00fcglich des D und des O w\u00e4hrend des Tabakrauchens. Wo in den beiden Figuren J steht, wird eine Zigarette von feinem, aber ziemlich starkem t\u00fcrkischem Tabak angez\u00fcndet. Bei D sehen wir eine ausgepr\u00e4gte Lustkurve mit langsamem Anwachsen des Volumens und des Pulsschlages, aoer ohne Spur von Atembewegungen in der Volumenkurve. Die grofsen Wellen, welche die Kurve zeigt, stehen augenscheinlich in keinem Zusammenhang mit der Atmung; dieselben sind passive Volumenver\u00e4nderungen, die wahrscheinlich der Denk-th\u00e4tigkeit oder einer anderen inneren Ursache von Ver\u00e4nderungen","page":98},{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"Tabakrauchen.\n99\ndes Zustandes der Gef\u00e4fse irgendwo im Organismus entstammen1). Bei O dagegen finden wir eine ausgepr\u00e4gte Unlustkurve mit so grofsen Volumensenkungen, dafs der Schreibstift zuweilen gegen die Kante des Tambours schlug und folglich nicht hinl\u00e4nglich weit nach unten kommen konnte; hiervon r\u00fchren die kleinen geradlinigen Strecken im ersten Teil der Volumenkurve her. Die Atmung markiert sich mit gr\u00f6fster Deutlichkeit im Volumen. Die kleinen geradlinigen St\u00fccke, die st\u00e4rksten Senkungen also, linden sich, wie die Figur zeigt, gerade unter den Gipfeln der Atmungskurve, was mit dem oben Entwickelten \u00fcbereinstimmt, und man sieht, wie sogar ganz kleine Atemz\u00fcge merklich auf das Volumen einwirken. \u2014 Auf die Volumensenkung folgt eine starke Steigung, die sich ferner fortsetzt, nachdem der Versuchsperson die Zigarette abgenommen war, was bei + geschah. Die Pulsschl\u00e4ge lassen sich nirgends in der Kurve mit Sicherheit beobachten, indem sie wahrscheinlich durch unwillk\u00fcrliche Muskelbewegungen verdeckt werden, sie m\u00fcssen indessen sehr klein sein. Dies ist am besten zu ersehen, wenn man die Figur mit Tafel II E vergleicht, die von derselben Person herr\u00fchrt und ungef\u00e4hr 10 Minuten vor dem Versuch mit der Zigarette aufgenommen wurde. W\u00e4re der Pulsschlag bei dem zuletzt angestellten Versuch ebenso hervortretend gewesen wie bei dem zuerst angestellten, so h\u00e4tte er h\u00e4ufig in der Volumenkurve zum deutlichen Ausschlag kommen m\u00fcssen, w\u00e4re er auch streckenweise durch die unwillk\u00fcrlichen Muskelbewegungen verwischt worden; da aber eigentlich gar kein vom Pulse herr\u00fchrender Ausschlag vorkommt, so deutet das darauf hin, dafs der Tabak wenigstens w\u00e4hrend der drei ersten Viertel des Versuchs eine sehr kr\u00e4ftige Gef\u00e4fsverengerung hervorrief. In Analogie zu dem, was wir vorher w\u00e4hrend der Unlustzust\u00e4nde fanden, ist dies h\u00f6chst wahrscheinlich, denn die Versuchsperson erkl\u00e4rte, es sei \u201eniedertr\u00e4chtig starker Tabak, der ihm im h\u00f6chsten Grade unangenehm gewesen sei\u201c. \u2014 Ein besserer Beweis f\u00fcr die innige Verbindung zwischen dem Bewufstseinszustand und den physiologischen Ver\u00e4nderungen als diese beiden Versuche mit dem Tabakrauchen scheint mir nicht beigebracht werden zu k\u00f6nnen.\nWir gehen nun zur Betrachtung der eigentlichen Affekte \u00fcber.\nl) Mosso : \u00dcber den Kreislauf des Blutes. S. 104 u. f.","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"100\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\n124.\t\u00c4sthetische und intellektuelle Lust. Tafel III C zeigt den Gem\u00fctszustand des M beim Beschauen eines in Gold-und Farbendruck fein ausgef\u00fchrten maurischen Ornamehts. Bei J beginnt die Beschauung, bei + wird das Bild von einem Assistierenden entfernt. An beiden Stellen sehen wir von Muskelbewegungen herr\u00fchrende Volumen Ver\u00e4nderungen. Beim Anfang des Versuches fiel das Licht so ung\u00fcnstig auf das Bild, dafs M dasselbe nicht sogleich aufzufassen vermochte, und er machte deshalb eine kleine Drehung mit dem Kopfe; hiervon r\u00fchrt zweifelsohne die kleine, schnell verlaufende Volumensenkung her. Bei +, wo das Bild pl\u00f6tzlich entfernt wurde, sehen wir eine \u00e4hnliche, aber st\u00e4rkere Volumensenkung, auf welche einige Schwingungen der Kurve folgen. M machte hier mit dem Kopf und dem Oberk\u00f6rper einen Wurf in der Richtung des fortgenommenen Bildes. Darauf folgt eine j\u00e4he Volumensteigung, die sich erst im Laufe der n\u00e4chsten 5 Sekunden verliert; die Ursache hiervon ist nicht ganz klar. Man k\u00f6nnte sich denken, dafs M, als er dem Bild nicht mehr mit den Augen folgen konnte, mit der rechten Hand ganz instinktm\u00e4fsig eine Greifbewegung ausgef\u00fchrt h\u00e4tte; eine solche Muskelkontraktion m\u00fcfste gerade eine pl\u00f6tzliche Volumenvergr\u00f6fserung zur Folge haben, und diese w\u00fcrde sich allm\u00e4hlich verlieren, wenn die Muskeln nach und nach erschlafften. M ist sich indes keiner solchen Bewegung bewufst, und die gegebene Erkl\u00e4rung kann daher nicht fordern, mehr als eine wahrscheinliche Vermutung zu sein. \u00dcbrigens zeigt die Kurve einen schwachen Lustzustand in ihrem sanft an wachsenden Volumen, wo die vor dem Versuche deutlich zu sp\u00fcrenden Atembewegungen nun vollst\u00e4ndig fehlen. Interessant ist es auch, zu bemerken, wie der Puls best\u00e4ndig zwischen der normalen katakroten und der trikuspidalen Form schwingt; die Bedeutung hiervon m\u00f6chte wohl noch unbekannt sein. Dafs das Lustgef\u00fchl als Gesamtheit nicht sehr stark gewesen ist, zeigt sich besonders dadurch, dafs die Atmung nicht tiefer wird.\n125.\tIn der Figur A der Tafel IV tritt dieses Anzeichen eines lebhafteren Lustzustandes dagegen deutlich hervor. D, der hier als Objekt diente, wufste nat\u00fcrlich sehr wohl, dafs eine Stimmgabel eine andere gleichgestimmte in Bewegung setzen kann, er hatte den Versuch aber noch nie gesehen. Ich versprach, ihm denselben z\u00fc zeigen, und that dies, w\u00e4hrend er im Apparate safs. Bei J","page":100},{"file":"p0101.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022 \u2022 ________________________________\n\u00c4sthetische und intellektuelle Lust.\n101\nwird die eine Gabel angeschlagen, bei + wurde diese ged\u00e4mpft und ihm di\u00e7\u2019 andere ans Ohr gehalten; letztere klang \u00fcbrigens so stark, d\u00e0fs sie von allen umstehenden Assistierenden zu h\u00f6ren war. Schon allein der Klang der zuerst angeschlagenen, vollt\u00f6nenden Gabel erregt augenscheinlich Lust ; das Volumen steigt, und die Atmung wird etwas tiefer. Bei der Wahrnehmung des Mitklanges w\u00e4chst die Lust bedeutend. D verriet seine lebhafte Befriedigung durch ein L\u00e4cheln, und die gleichzeitig aufgezeichneten Kurven sind auch recht ausdrucksvoll. Das Volumen steigt, und die H\u00f6he der Pulsschl\u00e4ge w\u00e4chst, w\u00e4hrend die Tiefe des Atemzuges einen neuen pl\u00f6tzlichen Anwuchs erh\u00e4lt, der weit gr\u00f6fser ist als der vorige. Da dieser Anwuchs, wie oben erw\u00e4hnt, auf eine erh\u00f6hte Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln deutet, finden wir hier also alle diejenigen Ver\u00e4nderungen,\ni welche Lange als der Freude in ihren verschiedenen Formen charakteristisch aufstellt.\n126. Erschrecken, Schreck, Furcht. Die Furcht\nI wird fast stets mit dem Schreck verwechselt oder vermengt, obgleich sie doch an vielen Punkten von diesem verschieden ist. Das Charakteristische des Schrecks ist, dafs derselbe stets durch einen pl\u00f6tzlichen Eindruck entsteht; man \u201eerschrickt\u201c entweder vor einem starken, unerwarteten Sinneseindruck oder vor. einem\nj schw\u00e4cheren Beiz, der mit einer Gefahr unbekannter Natur droht, z. B. einem Schall- oder Gesichtsbilde, das man nicht\ni\t'\n; gleich zu deuten vermag u. dergl. Die Furcht, die \u00e4ngstliche Stimmung dagegen ist ein rein chronischer Zustand ; man \u201ehegt\u201c Furcht vor irgend etwas. Der Grund, weshalb diese beiden Affekte leicht vermengt werden, ist wahrscheinlich der, dafs das Erschrecken sehr h\u00e4ufig chronisch wird, in Schreck \u00fcbergeht. Verschwindet die Ursache des Erschreckens sogleich, wie bei einem pl\u00f6tzlichen Knall oder Aufleuchten, wodurch keine Vorstellungen von etwas Gefahrdrohendem erweckt werden, so verliert sich die Gem\u00fctsbewegung bald, es sei denn, sie sei gar zu gewaltig gewesen; f\u00e4hrt die Ursache dagegen zu bestehen fort, oder ruft sie ein Phantasiebild von irgend etwas Bedrohendem hervor, so kann das momentane Erschrecken in Schreck, oder in dessen h\u00f6chste Form, in Entsetzen \u00fcbergehen. Und zwischen diesen beiden chronischen Affekten : dem Schreck (Entsetzen) und der Furcht ist nun in psychischer Beziehung die \u00c4hnlichkeit, dafs beide Unlustzust\u00e4nde sind, die an die","page":101},{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"102\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nVorstellung von etwas K\u00fcnftigem, etwas, dessen Eintreten erwartet wird, gebunden sind. Deshalb die Verwechselung. Anderseits ist zwischen diesen Gem\u00fctsbewegungen aber so grofser Unterschied, dafs n\u00e4here Betrachtung uns zu einer entschiedenen Sonderung f\u00fchren wird. W\u00e4hrend, wie gesagt, der Schreck stets durch einen pl\u00f6tzlichen Stofs, das Erschrecken, eingeleitet wird, der sich schnell wieder verliert, also, wenn der Eindruck nicht fortdauert oder die Vorstellung von einer drohenden Gefahr erweckt, nicht in Schreck \u00fcbergeht, ist dies nicht mit der Furcht der Fall, die nur durch ein Phantasiebild hervorgerufen wird. Und w\u00e4hrend der Schreck sich auf ein Unbekanntes oder jedenfalls im ersten Augenblick Unbekanntes bezieht, ist die Furcht dagegen die Erwartung, dafs etwas Wohlbekanntes, Unangenehmes oder Trauriges zu einem mehr oder weniger bestimmten Zeitpunkt eintreten werde. \u2014 Ein Beispiel wird das Verh\u00e4ltnis klar machen. Jemand, der vom Aberglauben nicht ganz frei ist, kann Furcht hegen, sich um Mitternacht an einem Orte aufzuhalten, wo es der Sage nach spukt; hier haben wir den chronischen Zustand, die Erwartung, dafs etwas Unangenehmes bestimmter Art in einem bestimmten Moment eintreten werde. Wenn der Betreffende nun aber an dem Gespensterorte pl\u00f6tzlich etwas wahrzunehmen glaubt, so schl\u00e4gt die Furcht in Schreck \u00fcber oder wird von diesem abgel\u00f6st, der sich doch schnell wieder verliert, wenn es klar wird, dafs die Erscheinung eine Illusion war. Ist eine richtige Deutung der Erscheinung sogleich aber nicht m\u00f6glich, so kann das Erschrecken zum chronischen Schreck vor dem Unbekannten, Unerkl\u00e4rlichen werden [vgl. 393].\n127. Dem psychischen Unterschied zwischen den beiden Affekten entsprechend erweist sich auch der physiologische als ein sehr bedeutender. Der Schreck ist meines Ermessens von Lange vollst\u00e4ndig richtig aufgefafst, nur bedient er sich der Abwechselung wegen dann und wann des Wortes Furcht, um den n\u00e4mlichen Zustand zu bezeichnen, ohne jedoch darum die Erscheinungen zu verwechseln. Als physiologische \u00c4ufserungen des Schreckes gibt er an : eine pl\u00f6tzliche Kontraktion aller Muskeln (Erschrecken), worauf eine Schw\u00e4chung der Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln folgt, w\u00e4hrend der Spasmus der Ge-f\u00e4fse und der organischen Muskeln, besonders der Darmmuskulatur anh\u00e4lt. Ein ganz anderes Bild bietet dagegen die Furcht dar.","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"Erschrecken, Schreck, Furcht.\n103\nWegen der best\u00e4ndigen Vermengung der beiden Zust\u00e4nde liegen in der Litteratur wohl keine Beboachtungen \u00fcber den reinen Affekt Furcht vor; anderseits ist diese aber, wenigstens in ihren milderen Formen, aus dem t\u00e4glichen Leben so wohlbekannt, dafs der Mangel an Beobachtungsmaterial kaum f\u00fchlbar wird. 'Die popul\u00e4ren Ausdr\u00fccke : das Examenfieber, Lampenfieber, Kanonenfieber u. s. w. bezeichnen alle denselben Zustand, die \u00e4ngstliche Stimmung, nur von verschiedenen Ursachen herr\u00fchrend, und, wie die Namen zeigen, ist derselbe nicht ungew\u00f6hnlich. Der physiologische Zustand d\u00fcrfte in allen diesen F\u00e4llen der n\u00e4mliche sein: Unruhe und Drang nach Bewegung trotz einer gewissen Mattigkeit, K\u00e4lteempfindungen, oft in Verbindung mit kaltem Schweifs, Affektionen der Darm- und Blasenmuskulatur. Diese Erscheinungen deuten auf eine erh\u00f6hte, aber allerdings un-regelm\u00e4fsige Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln nebst einer erh\u00f6hten Innervation der organischen und der Gef\u00e4fsmuskeln.\n128. Die aus den Beobachtungen des t\u00e4glichen Lebens gefolgerten Resultate scheinen nun durch meine Versuche v\u00f6llige Best\u00e4tigung zu finden, jedenfalls was alle diejenigen Ver\u00e4nderungen betrifft, welche sich mittels solcher Versuche \u00fcberhaupt nachweisen lassen. Tafel IV B u. C und Tafel V A u. B geben Bilder der besprochenen Zust\u00e4nde. Tafel IV B r\u00fchrt von der Versuchsperson M, die \u00fcbrigen von E her. Tafel IV C zeigt ein typisches Erschrecken, charakterisiert durch einen gewaltigen Atemzug und starkes Zusammenfahren, das sich durch enormes Steigen des Volumens \u00e4ufsert, welches gleich wieder bis ungef\u00e4hr zur normalen Gr\u00f6fse zur\u00fcckkehrt. Andere Nachwirkung als eine Reihe schwacher Atemz\u00fcge l\u00e4fst sich nicht nachweisen. Der Zustand wurde dadurch hervorgerufen, dafs ein kleiner Ambos von einem Tisch auf eine am Fufse desselben stehende Flasche hinabgeworfen wurde, wodurch diese nat\u00fcrlich vollst\u00e4ndig zerschmettert ward; dies geschah hinter dem R\u00fccken des E, und ohne dafs er im geringsten davon unterrichtet war, dafs etwas Vorgehen w\u00fcrde. Da E im Laboratorium fremd war und sich nur f\u00fcr einige einzelne Versuche zur Verf\u00fcgung gestellt hatte, interessierte es ihn nat\u00fcrlich nicht, ob Flaschen zerschmettert w\u00fcrden; er blieb deshalb bei dem Geschehenen zun\u00e4chst \u201eunverfroren\u201c, und dies verr\u00e4t sich dadurch, dafs die ganze Wirkung auf ihn sich auf das momentane Zusammenfahren beschr\u00e4nkt. Ob wir Schreck bei etwas f\u00fchlen, ist wie gesagt davon abh\u00e4ngig,","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle,\nob wir uns aus irgend einem Grunde bedroht glauben, so dafs die Phantasie in Bewegung gesetzt wird; das Erschrecken ist dagegen unvermeidlich, da es mit der starken und pl\u00f6tzlichen Reizung unmittelbar verbunden ist.\n129.\tIm Gegensatz zu dem Verhalten des E zeigt Tafel IV B den Schreck, den M bei dem Gedanken f\u00fchlte, dafs einige Apparate von einem hinter ihm stehenden Tische herabgefallen seien; der Schall wurde nat\u00fcrlich durch das Fallenlassen einiger wertlosen Metallst\u00fcckchen hervorgerufen. Der Schreck des M ist verst\u00e4ndlich, da er ein paar Semester im Laboratorium gearbeitet hatte und an der ganzen Arbeit sehr interessiert war. Das Erschrecken ist nicht so ausgepr\u00e4gt wie bei M, obschon der L\u00e4rm gewifs ebenso stark und unerwartet war; die Kurve zeigt aber doch ein tiefes Einatmen, das vor Beendigung der vorhergehenden Ausatmung beginnt. Zugleich tritt eine starke und anhaltende Volumen Verkleinerung mit verh\u00e4ltnism\u00e4fsig geringer H\u00f6he der Pulsschl\u00e4ge und gleich darauf eine Erschlaffung der Atmungsmuskulatur ein, also gerade die Erscheinungen, welche Lange als f\u00fcr den Schreck charakteristisch hervorgehoben hat. \u00dcber den Zustand der Darmmuskulatur kann der Versuch keinen Aufschlufs geben ; wesentliche Ver\u00e4nderung mag hier wohl nicht stattgefunden haben, da der Schreck gewifs nicht besonders stark war, \u00fcbrigens ist dieses Verh\u00e4ltnis so wohlbekannt, dafs es keiner ferneren Best\u00e4tigung bedarf,\n130.\tAn Tafel V, Figur A haben wir ein ausgepr\u00e4gtes Bild der Furcht mit unregelm\u00e4fsiger Atmung, stark hervortretenden Respirationsperioden in der Volumenkurve, die Pulsschl\u00e4ge teils unregelm\u00e4fsig, teils der Muskelunruhe, des Zitterns, wegen ganz verwischt. Die Kurve r\u00fchrt von E her, der sonst doch nicht furchtsamer Natur war, der aber solchen Versuchen noch nie beigewohnt hatte, geschweige denn deren Objekt gewesen war. Er wurde deshalb in hohem Grade febril, als die verschiedenen Apparate zum erstenmal an ihm appliziert wurden. W\u00e4hrend der ersten f\u00fcnf Minuten, nachdem der Kymograph in Gang gesetzt war, sind die Aufzeichnungen so unregelm\u00e4fsig, dafs sie gar nichts zeigen ; es bedurfte vieler beschwichtigenden Worte und reichlicher Quantit\u00e4ten Zuckerwasser, um E zu \u00fcberzeugen, dafs die Situation nicht besonders gef\u00e4hrlich sei, und er beruhigte sich nun etwas. Aus diesem Zeitpunkt r\u00fchrt die Kurve A her. Die Reaktion auf den unzweifelhaft vorhandenen Gef\u00e4fsspasmus","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"Furcht.\n105\nbeginnt hier ihren Eintritt, indem das Volumen bei anwachsender H\u00f6he der PulsscLl\u00e4ge steigt; das Maximum wird ein wenig vor Mitte A erreicht, und der ganze Zustand kehrt nun langsam in die Norm zur\u00fcck. Gegen Ende der Kurve A ist die Atmung sanft und ruhig geworden, und die periodischen Volumenver\u00e4nderungen sind fast verschwunden. Auch der aus Furchtzust\u00e4nden wohlbekannte schnelle Puls kommt hier zum Vorschein; in der Mitte der Kurve ist die Anzahl der Pulsschl\u00e4ge 14 in 10 Sekunden, gegen Ende, wo E fast normal geworden war, dagegen nur 12.\n131. Als E einigermafsen ruhig geworden war, versuchte ich es, den fr\u00fcheren Zustand wieder willk\u00fcrlich hervorzurufen. Wo in der Kurve J steht, sagte ich: \u201eJetzt kommt etwas Unangenehmes.\u201c Augenblicklich begann der fr\u00fchere Zustand, nur in weniger ausgepr\u00e4gter Form, sich wieder emporzuarbeiten. Dies ist in der Kurve B zu sehen, die eine unmittelbare Fortsetzung von A ist. Anfangs wird die Atmung weniger tief, aber dennoch tritt die Respirationsperiode in der Volumenkurve hervor. Die H\u00f6he der Pulsschl\u00e4ge wird vermindert, ihre Anzahl w\u00e4chst aber sogleich bis 14 in 10 Sekunden (gleich zu Anfang von B). Nun wurde dem E ein L\u00f6ffel voll einer starken Aufl\u00f6sung schwefelsaurer Magnesia gegeben ; dieser Punkt ist in der Kurve mit J bezeichnet. Wie es unter den vorliegenden Verh\u00e4ltnissen zu erwarten war, hatte der Trank nur \u00e4ufserst geringe Wirkung; auf die starke vorhergehende Gem\u00fctsbewegung h\u00e4tten gewifs weit kr\u00e4ftigere Mittel zur Verwendung kommen m\u00fcssen, um einen ausgepr\u00e4gten Unlustzustand hervorzurufen. E brach gleich darauf aus: \u201eNa, war es doch nicht schlimmer,\u201c und als er nun eingesehen hatte, dafs sogar die weniger angenehmen Versuche, die man mit ihm anstellen m\u00f6chte, doch nicht von gef\u00e4hrlicher Natur seien, wurde er vollst\u00e4ndig ruhig. Die letzte H\u00e4lfte der Kurve B zeigt einen ruhigen und zufriedenen Gem\u00fctszustand mit grofsem Volumen, hohen und regelm\u00e4fsigen Pulsschl\u00e4gen und sehr tiefen Atemz\u00fcgen, die trotz ihrer Tiefe doch keine Spur in der Volumenkurve hinterlassen. \u2014 Der Versuch zeigt also alle erw\u00e4hnten Erscheinungen mit Ausnahme des Innervationsverh\u00e4ltnisses der organischen Muskeln, bez\u00fcglich dessen wir uns mit dem begn\u00fcgen m\u00fcssen, was die Erfahrungen des t\u00e4glichen Lebens uns lehren.","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\n132.\tKummer, deprimierte Stimmung. Wirklichen Kummer in einem Individuum nur zum Experiment willk\u00fcrlich hervorzurufen, m\u00f6chte \u00e4ufserst schwierig sein, besonders wenn der Betreffende weifs, dafs er Gegenstand des Experimentes ist.\nIch mufs mich deshalb darauf beschr\u00e4nken, hier einen Zustand wiederzugeben, der rein zuf\u00e4llig in D enstand, und der zwar nicht Kummer genannt werden kann, diesem Affekt aber jedenfalls sehr nahe steht. Irgend eine Kontrolle \u00fcber die Gemeing\u00fcltigkeit des Beobachteten habe ich der Natur der Sache zufolge nicht, da' die erschienenen Kurven aber ganz mit Langes Auffassung der Kummers \u00fcbereinstimmen, werden sie sich jedoch als fernerer Beweis f\u00fcr die Richtigkeit dieser Auffassung anf\u00fchren lassen. Die Kurven sind Tafel IV D gegeben.\n133.\tZun\u00e4chst in der Absicht, Unruhe, Spannung hervorzurufen, sagte ich sehr ernsthaft: \u201eJetzt kommt etwas besonders Unangenehmes.\u201c Dieser Punkt ist in der Figur mit J bezeichnet, und, wie man sieht, war die Wirkung augenblicklich und stark, unterscheidet sich aber in mehreren Beziehungen von derjenigen, welche ich in vielen \u00e4hnlichen F\u00e4llen durch dieselben Worte hervorrief (vgl. z. B. den oben erw\u00e4hnten Versuch mit E). Erstens gab D selbst an, dafs er nicht im geringsten unruhig wurde oder etwas Furcht\u00e4hnliches f\u00fchlte, nur wurde er in hohem Grade deprimiert. Der Zustand ist deshalb wohl zun\u00e4chst als eine niedergedr\u00fcckte Stimmung, eine mildere Form des Kummers I zu bezeichnen. Ferner zeigen auch die Kurven in allem Wesentlichen einen derartigen Zustand, n\u00e4mlich stark verminderte Pulsschl\u00e4ge und bedeutende Volumensenkung, was der vorher dargestellten Auffassung dieser Verh\u00e4ltnisse zufolge auf Gef\u00e4fsverengerung an der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers und eine gewifs starke Gef\u00e4fserschlaffung im Innern deutet. Dagegen scheint eine Verminderung des Umfanges der Herzkontraktionen anfangs nicht stattzufinden, da diese annehmlich durch Aufstauung des Blutes eine Volumenvergr\u00f6fserung herbeif\u00fchren w\u00fcrde, w\u00e4hrend die Kurve stetige Verminderung des Volumens zeigt. Leider war ich nicht sogleich im reinen \u00fcber das Eigent\u00fcmliche des Zustandes, dessen weiterer Verlauf interessant zu beobachten gewesen w\u00e4re; nun wurde er, wo + steht, dadurch unterbrochen, dafs dem D eine 10\u00b0/o haltige Aufl\u00f6sung von Weins\u00e4ure gereicht ward. Der fernere Verlauf der Kurve entspricht, wie man sieht, ganz der Wirkung einer Chininaufl\u00f6sung (Tafel I D), hat in diesem","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"Kummer, deprimierte Stimmung.\n107\nZusammenhang aber kein grofses Interesse. Dafs der Unlustzustand durch die Weins\u00e4ureaufl\u00f6sung verst\u00e4rkt wird, geht aus der stattfindenden ferneren Volum en Verminderung und abnehmenden H\u00f6he der Pulsschl\u00e4ge hervor; es l\u00e4fst sich nat\u00fcrlich aber nicht entscheiden, wieviel auf die Rechnung der Weins\u00e4ure kommt, und wieviel der schon bestehenden deprimierten Stimmung zu verdanken ist. Die psychische Depression ist von keiner nachweisbaren Ver\u00e4nderung der Atmung begleitet; die Schw\u00e4chung der Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln, welche bei dem tiefen Kummer unzweifelhaft wahrzunehmen ist, scheint sich also bei den leichteren Formen nicht geltend zu machen; dagegen zeigt die Kurve deutlich die erh\u00f6hte Innervation als Folge eines\nt \u2022\nkr\u00e4ftigen Geschmacksreizes. Aufser der \u00dcbereinstimmung mit Langes Resultaten, die im Anfangsstadium der Depression erscheint, ist die Kurve noch ferner von Interesse, indem sie zeigt, wie zwei verschiedene Ursachen der Unlust ihre Wirkungen addieren k\u00f6nnen. Jedoch erzeugt die neue Ursache nat\u00fcrlich eine relativ geringe Ver\u00e4nderung in denjenigen Richtungen, in welchen die beiden Ursachen gleichartige Wirkungen haben; vergleiche die auffallend geringe Volumenverkleinerung, welche die Weins\u00e4ure herbeif\u00fchrt.\n134. Zorn. Langes Auffassung des Zornes scheint mir\nan einem einzelnen Punkt entschieden die Wahrscheinlichkeit\nwider sich zu haben. Betrachtet man sein Schema [85], wird\nes der Aufmerksamkeit nicht entgehen k\u00f6nnen, dafs Freude und\nZorn, die psychisch besehen doch sehr verschieden sind, indem\nerstere ein Lust-, letzterer ein fast reiner Unlustaffekt ist, in\nphysiologischer Beziehung \u00e4ufserst nahe verwandt sein sollen.\nLange findet keinen anderen Unterschied zwischen denselben,\nals den, dafs der Zorn eine Art potenzierter Freude, von einer\nInkoordination der willk\u00fcrlichen Bewegungen begleitet, sei. Und\nvon dieser Inkoordination ist \u00fcberdies hervorzuheben, dafs sie\nnur bei den gewaltigeren Ausbr\u00fcchen in ausgepr\u00e4gtem Grade\nvorhanden ist. Eine recht ernstliche Erbitterung, die dem\nBetreffenden indes noch erlaubt, seinen Gegner in einigermafsen\nfliefsender Rede geh\u00f6rig abzukanzeln, und bei welcher also\nkeine nachweisbare Inkoordination der willk\u00fcrlichen Bewegungen\n\u2022 \u2022\nstattfindet, sollte also in ihren physiologischen Aufserungen sehr nahe mit einem Ausbruch der Freude Zusammentreffen. Ein so merkw\u00fcrdiges Resultat mufs notwendigerweise Zweifel an der","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nRichtigkeit der Betrachtungen erwecken. Um n\u00e4heren Aufschlufs \u00fcber diesen Punkt zu erhalten, schrieb ich an Herrn Dr. H e 1 w e g, damaligen Reservearzt, der als Irrenarzt bessere Gelegenheit hatte, als das t\u00e4gliche Leben gibt, die physiologischen Aufserungen der Emotionen zu beobachten, und bat ihn, mir g\u00fctigst ein angemessenes Material zu \u00fcberlassen, auf welches sich eine wahrscheinlichere Auffassung des Zornes st\u00fctzen liefse. Hierauf erhielt ich eine sehr zuvorkommende Antwort, die interessante Aufschl\u00fcsse \u00fcber verschiedene Affektzust\u00e4nde, speziell den Zorn enth\u00e4lt, und da Dr. Helwegs Auffassung in betreff des letzteren durch meine sp\u00e4teren Versuche in allem Wesentlichen best\u00e4tigt wird, setze ich dieselbe mit des Verfassers Erlaubnis hierher.\n135. \u201eW\u00e4hrend des Zornes glaube ich, dafs der Gef\u00e4fsspasmus, die Verengerung, sicher ist. Was Lange schildert, ist das pl\u00f6tzliche Eintreten des Zornes, und bei diesem kann man eine Hyper\u00e4mie erblicken, die durch Muskelanspannung, gehemmte Atmung u. s. w. erh\u00f6ht wird; aber dieses Err\u00f6ten ist nicht etwas dem Zorn Spezifisches, dasselbe bedeutet nur, dafs etwas Unerwartetes, Neues, pl\u00f6tzlich im Bewufstsein aufgetaucht ist, und sehr h\u00e4ufig fehlt dieses Stadium, die Bl\u00e4sse tritt augenblicklich und oft mit erstaunlicher Kraft ein. Und wo der Zorn sich festgesetzt hat und oft Monate und Jahre lang den gesamten Bewufstseinsinhalt beherrscht, da ist die Bl\u00e4sse konstant und universell in den \u00e4ufseren Teilen; die Extremit\u00e4ten sind kalt; der K\u00f6rper verliert seinen Turgor und schrumpft ein ; das Gewicht sinkt sehr schnell. Die Folge des Gef\u00e4fsspasmus ist n\u00e4mlich verminderte Blutzufuhr und vermehrter Abflufs der Lymphe; dies bedingt das Austrocknen und Einschrumpfen der Gewebe ; da aber die Transsudation durch die verengerten Gef\u00e4fse vermindert ist, so sp\u00fclt die Fl\u00fcssigkeit nicht in hinl\u00e4nglicher Menge durch die Gewebe, um die Schlacken ordentlich auszuwaschen, und diese h\u00e4ufen sich deshalb an trotz des erleichterten Abflusses. Psychisch wird das Resultat: erh\u00f6hte Reizbarkeit der ausgetrockneten Gewebe und peinliche Empfindungen wegen der Verunreinigungen. \u2014 Dies mit dem Gef\u00e4fsspasmus als Grundlage des Zornes ist f\u00fcr mich das Sicherste im ganzen Problem von den Affekten; ich weifs indes nicht, ob auch in den inneren Organen ein solcher Zustand zu finden ist, vermute dies aber, und die gewaltsamen, fast konvulsivischen Bewegungen w\u00e4hrend eines Paroxysmus des","page":108},{"file":"p0109.txt","language":"de","ocr_de":"Zorn.\n109\nZornes lassen sich auch besser durch pl\u00f6tzlichen Blutmangel der motorischen Zentren als durch Hyper\u00e4mie erkl\u00e4ren. Der Zorn ist ja doch eine entschieden schmerzliche Verstimmung, und es ist ein h\u00f6chst sonderbarer Gedanke, dafs derselbe auf physiologischen Verh\u00e4ltnissen beruhen sollte, die eine h\u00f6here Potenz der Grundlage der Freude sind. Nein, der Kummer und Zorn sind Br\u00fcder; diese entspringen beide aus mangelhaftem Stoffumsatz und mangelhafter Ern\u00e4hrung des Gehirns; die Weise aber, wie diese Ern\u00e4hrungsdefekte zu st\u00e4nde kommen, bedingt ihren verschiedenen Charakter. Auch die enge Verbindung des k\u00f6rperlichen Schmerzes mit dem Zorn spricht daf\u00fcr, dafs die durch das Gef\u00e4fszentrum reflektorisch hervorgerufene Gef\u00e4fs-verengerung die Grundlage des letzteren ist.\u201c\n136.\tEinen einzigen Einwurf gegen Helwegs Darstellung kann ich nicht unterlassen; er hat gewifs nicht recht, wenn er sagt, die Kongestion beim Zorn beschr\u00e4nke sich auf den ersten momentanen Stofs. In den wenigen F\u00e4llen, die mir die Gelegenheit boten, teils an mir selbst und teils an anderen Personen\nt\nBeobachtungen anzustellen, zeigten sich Kongestionen besonders nach dem Zornesausbruch, und in einem einzelnen Falle (Selbstbeobachtung) traten sie periodisch auf. Sobald der Zorn sich bes\u00e4nftigte, drang das Blut stark nach dem Kopfe, um darauf, als der Zorn von neuem wieder aufflammte, einer bedeutenden K\u00e4lteempfindung den Platz zu r\u00e4umen. Diese Erfahrungen scheinen zun\u00e4chst daf\u00fcr zu sein , dafs die Gef\u00e4fserschlaffung als Reaktion nach dem Spasmus ein tritt; im ganzen dienen sie aber doch mehr dazu, Helwegs als Langes Vermutungen zu st\u00fctzen. Und bei dem einzigen Versuch, den ich \u00fcber den Zorn anzustellen die Gelegenheit hatte, und den wir jetzt besprechen werden, ist der Gef\u00e4fsspasmus und die nachfolgende Erschlaffung unzweifelhaft.\n137.\tEs gelang mir, bei dem etwas reizbaren M einen heftigen Zornesausbruch hervorzurufen, w\u00e4hrend er im Apparate safs. Mehrere zum Teil unangenehme Versuche waren mit ihm angestellt worden, und ich sagte deshalb zuletzt zu ihm, dafs er zur Rekreation eine feine Zigarette erhalten sollte, deren Wirkung wir beobachten wollten. Vorher war mit einem der Assistierenden die Abrede getroffen, dafs er auf ein Zeichen von mir dem M die Zigarette aus dem Munde schlagen sollte ; ich hoffte hierdurch eine wirklich erbitterte Stimmung hervorzurufen und war darauf","page":109},{"file":"p0110.txt","language":"de","ocr_de":"110\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nvorbereitet, M durch kr\u00e4ftiges Zureden zum Ruhigsitzen zu bewegen, wenn er mir in seiner Erbitterung den Versuch durch gar zu lebhafte Bewegungen zu verderben drohte. Dieser gelang weit \u00fcber Erwarten und ist in seinem ganzen Umfang Tafel V C wiedergegeben. Sobald die Volumenkurve durch ihre Form zeigte, dafs M sich unter dem Einfl\u00fcsse des Tabaks wohl befand, gab ich das Signal, und ein kr\u00e4ftiger und wohlgezielter Knips schnellte die funkenspr\u00fchende Zigarette l\u00e4ngs des Fufs-bodens hin. M wurde, wie er selbst sagte, \u201efuchsteufelswild\u201c, da es ihm erst lange nach Beendigung des Versuches einleuchtete, dafs das Ganze abgekartetes Spiel war; \u00fcbrigens verhielt er sich so ruhig, wie es ihm \u00fcberhaupt m\u00f6glich war. Unwillk\u00fcrliche Bewegungen waren nat\u00fcrlich nicht zu vermeiden, und daher kommt wahrscheinlich die starke pl\u00f6tzliche Volumen-vergr\u00f6fserung, auf welche eine bedeutende, aber vor\u00fcbergehende Senkung gleich im Anfang des Versuches folgt. Nach einigen ziemlich geringen Unregelm\u00e4fsigkeiten, die wohl auch von Muskelunruhe herr\u00fchren, zeigt die Kurve ein langsam steigendes Volumen von fast normaler Gr\u00f6fse und sehr niedrige Pulsschl\u00e4ge. Die ungew\u00f6hnlich geringe H\u00f6he der letzteren springt sogleich in die Augen, wenn man die Mitte der Kurve mit deren Anfang vergleicht, der den normalen Zustand w\u00e4hrend der letzten 15 Sekunden unmittelbar vor der Reizung zeigt.\n138.\tDie Atmungskurve ist ebenfalls sehr interessant. Eine erh\u00f6hte, aber unregelm\u00e4fsige (inkoordinierte) Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln gibt sich deutlich in den zackigen, ganz anormalen Atembewegungen von verh\u00e4ltnism\u00e4fsig grofser Tiefe zu erkennen, auf welche dann ein andauerndes Stillestehen der Atmung in der Exspirationsstellung und zuletzt ein tiefer Seufzer folgt. Da der Cylinder fast ganz vollgeschrieben war, mufste ich das Kymographion hier w\u00e4hrend zwei Minuten anhalten, um den Schlufs des Affektes beobachten zu k\u00f6nnen. W\u00e4hrend dieser beiden Minuten zeigt die Volumenkurve eine bedeutende Steigung, und die Pulsschl\u00e4ge haben mittlerweile ihre normale H\u00f6he fast ganz wieder erreicht ; das Volumen h\u00e4lt sich einige Zeit auf dem Maximum und nimmt dann mit die normale H\u00f6he \u00fcberschreitenden Pulsschl\u00e4gen verh\u00e4ltnism\u00e4fsig rasch ab.\n139.\tW\u00e4hrend, wie wir sahen, die Atmungskurve ganz damit \u00fcbereinstimmt, was man auf anderem Wege von der Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln w\u00e4hrend des Zornes weifs,","page":110},{"file":"p0111.txt","language":"de","ocr_de":"Ergebnisse der Versuche.\n111\nist die Deutung der Ver\u00e4nderungen der Volumenkurve nicht so leicht. Dafs an der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers ein Gef\u00e4fsspasmus eintritt, wie Hel weg vermutet, scheint unzweifelhaft, nach der sehr verminderten H\u00f6he der Pulsschl\u00e4ge gleich nach der Reizung zu urteilen; dagegen f\u00e4llt es auf, dafs der Gef\u00e4fsspasmus keine wesentliche Volumenverringerung herbeif\u00fchrt. Die Ursache hiervon kann sehr verschiedener Natur sein; sie kann entweder in einer Verminderung des Umfanges der Herzbewegungen bestehen, bei welcher die Aufstauung ven\u00f6sen Blutes der durch die Gef\u00e4fs-verengerung hervorgerufenen Volumenverminderung entgegenwirkt; sie kann aber auch aus einem Gef\u00e4fsspasmus im Innern ,des Organismus entstehen, durch welchen der Blutdruck vermehrt wird. Wie man sieht, stimmt letztere Annahme mit der von Hel weg aufgestellten Auffassung, und an und f\u00fcr sich ist es recht wahrscheinlich, dafs ein Affekt von so gewaltiger Natur, wie der Zorn, sich durch eine Gef\u00e4fsverengerung im ganzen Organismus Ausschlag gibt; soweit ich aber beurteilen kann, gew\u00e4hrt die Kurve keinen Beweis daf\u00fcr, dafs diese Annahme der anderen vorzuziehen sei. Dagegen geht es aus dem Versuche deutlich hervor, dafs die Gef\u00e4fsverengerung durch eine starke Gef\u00e4fserschlaflfung nebst vergr\u00f6fsertem Volumen abgel\u00f6st wird. Die Gef\u00e4fsverengerung mit der Kongestion als Reaktion scheint also aufser allen Zweifel gestellt zu sein.\n140. Die wenigen oben beschriebenen Versuche ersch\u00f6pfen nat\u00fcrlich nicht im geringsten das ausgedehnte Gebiet der Gem\u00fctsbewegungen mit ihren mannigfaltigen \u00dcbergangsformen zwischen den typischen Erscheinungen. Der Natur der Sache zufolge ist es indes \u00e4ufserst schwierig, die meisten dieser Zust\u00e4nde zum blofsen Experiment hervorzurufen, und was die \u00fcberwiegende Mehrzahl betrifft, wird unter solchen Verh\u00e4ltnissen nur ein gl\u00fccklicher Zufall sie dem Experimentator in die H\u00e4nde spielen. Ich habe mich deshalb darauf beschr\u00e4nken m\u00fcssen, hier die Resultate meiner ein halbes Jahr hindurch fortgesetzten Untersuchungen darzustellen ; eine ersch\u00f6pfende Bearbeitung des ganzen Gebietes wird von einem einzelnen Menschen doch schwerlich zu erreichen sein. Mehr als ein kleiner Beitrag, ein Schritt auf dem Wege zur L\u00f6sung des Problems der Gem\u00fctsbewegungen, werden diese Versuche zwar nicht, aber hierdurch ist immerhin eine Grundlage gewonnen, auf welcher sich sp\u00e4ter weiter bauen","page":111},{"file":"p0112.txt","language":"de","ocr_de":"112\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nl\u00e4fst. Soviel der Forschung auch noch \u00fcbrig bleibt, gibt es doch jedenfalls drei Punkte, die meines Ermessens durch die vorliegenden Untersuchungen recht gut erhellt sind.\n141.\tErstens sahen wir, dafs die zusammengesetzten Gem\u00fctsbewegungen, die Affekte, sich an keinem wesentlichen Punkte von den einfachen betonten Sinnesempfindungen unterscheiden.\nIn beiden Gruppen treffen wir dieselben physiologischen Erscheinungen, bald in gr\u00f6fserer, bald in kleinerer Anzahl, als konstante Begleiter des Gem\u00fctszustandes an. \u00dcberall sind es die verschiedenen Muskeln, in erster Reihe die Gef\u00e4fs-muskulatur, demn\u00e4chst das Herz, die verschiedenen willk\u00fcrlichen und organischen Muskeln, deren Innervation sich ver\u00e4ndert. Die intellektuelle und \u00e4sthetische Freude ist ebensowie die einfache lustbetonte Sinnesempfindung von einer Gef\u00e4fserweiterung und Erh\u00f6hung der Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln, jedenfalls der Atmungsmuskeln, begleitet. W\u00e4hrend aller Unlustaffekte tritt an der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers der Gef\u00e4fsspasmus und in den meisten F\u00e4llen wahrscheinlich im Innern die Gef\u00e4fserschlaffung nebst Verminderung des Umfanges der Herzkontraktionen ein, | ganz ebensowie bei den unlustbetonten Empfindungen. Im Erschrecken und im chronischen Zustand des Schreckes finden wir aufserdem ebensowie bei den schmerzhaften Empfindungen eine pl\u00f6tzliche Erh\u00f6hung der Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln, gefolgt von einer Erschlaffung. Die Furcht ist von einer un-regelm\u00e4fsigen Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln begleitet, und in den letztgenannten drei Zust\u00e4nden ist ein Spasmus der organischen Muskeln, besonders der Darm- und Blasenmuskulatur,\nin den gewaltigeren F\u00e4llen hervortretend. Der Kummer und die deprimierte Stimmung zeigen aufser dem Gef\u00e4fsspasmus eine Erschlaffung der willk\u00fcrlichen Muskeln, und der Zorn \u00e4ufsert sich durch erh\u00f6hte, aber inkoordinierte Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln und m\u00f6glicherweise durch Gef\u00e4fsVerengerung im ganzen Organismus. Wir finden also:\n142.\tiMstbetonte Zust\u00e4nde jeglicher Art sind begleitet von Gef\u00e4fserweiterung an der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers, erh\u00f6hter Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln (besonders der Atmungsmuskeln) und wahrscheinlich von Vergr\u00f6fserung des Umfanges der Herzbewegungen. Unlustbetonte Zust\u00e4nde sind begleitet von Gef\u00e4fsverengerung an der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers, St\u00f6rungen verschiedener Art der Innervation der willk\u00fcrlichen und organischen Muskeln und wahrscheinlich","page":112},{"file":"p0113.txt","language":"de","ocr_de":"Ergebnisse der Versuche.\n113\ngew\u00f6hnlich von Gef\u00e4fserschlaffung im Inneren in Verbindung mit Verminderung des Umfanges der Herzbewegungen.\n143.\tAus dem Umstand, dafs also dem n\u00e4mlichen Gem\u00fctszust\u00e4nde durchweg die n\u00e4mlichen physiologischen Ver\u00e4nderungen entsprechen, k\u00f6nnen wir den Schlufs ziehen:\nEs besteht ein enges Abh\u00e4ngigJceitsverh\u00e4ltnis zwischen der Gef\u00fchlsbetonung des Bewufstseinszustandes in einem gegebenen Augenblick und dem gleichzeitigen Innervationszustand der verschiedenen Muskeln des Organismus.\n144.\tEndlich geht aus den vorliegenden Versuchen hervor, dafs sich schwerlich eine gemeinschaftliche physiologische Ursache der einen Gef\u00fchlszustand begleitenden Innervationsver\u00e4nderungen nachweisen l\u00e4fst. W\u00e4hrend Lange geneigt ist, nur die St\u00f6rungen der Gef\u00e4fsinnervation als prim\u00e4re Erscheinung aufzufassen, aus welcher alle anderen Erscheinungen sich ableiten liefsen, zeigen die Versuche, dafs allenfalls die St\u00f6rungen der Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln in vielen F\u00e4llen so pl\u00f6tzlich auftreten, dafs sie unm\u00f6glich als sekund\u00e4r aufgefafst werden k\u00f6nnen. Ist es aber gegeben, dafs diese motorischen Zentren durch den einen Affekt erzeugenden Eindruck direkt angegriffen werden k\u00f6nnen, so entsteht auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dafs das Reflexzentrum des Herzens und der Atembewegungen sich direkt affizieren l\u00e4fst, und hierf\u00fcr redet denn auch der Umstand, dafs wenigstens die Atmung durch \u00e4ufseren Reiz momentane Ver\u00e4nderungen erleiden kann, wie die Versuche dies zeigten. Da nun nichts dadurch gewonnen w\u00e4re, ohne zwingenden Grund eine einzelne Affekt-\u00e4ufserung vorz\u00fcglich als prim\u00e4r aufzufassen, und da eine derartige Annahme \u00fcberdies, wie wir sahen, der Erfahrung widerstreiten\nw\u00fcrde, wenn sie als f\u00fcr alle F\u00e4lle g\u00fcltig behauptet w\u00fcrde, m\u00fcssen\n%\nwir also festhalten:\n145.\tEs ist vorl\u00e4ufig kein besonderer Grund f\u00fcr die Annahme, die vasomotorischen Ver\u00e4nderungen seien die Ursache der \u00fcbrigen Innervationsver\u00e4nderungen, welche die einzelnen Gem\u00fctsbewegungen begleiten. In welcher Beziehung diese zu einander stehen, mufs r\u00fccksichtlich der allermeisten Affekte noch als offene Frage betrachtet werden.\n146.\tIn einem sp\u00e4teren Stadium unserer Untersuchungen wird es dagegen unsere Aufgabe werden, di$se Seite der Sache m\u00f6glichst ins klare zu bringen. Dies gilt auch von den mimischen und pantomimischen Bewegungen, d. h. den f\u00fcr die einzelnen\nLehmann, Die Gef\u00fchle.\tt\t8","page":113},{"file":"p0114.txt","language":"de","ocr_de":"114\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nAffekte besonderen und charakteristischen Bewegungen der Muskeln des Gesichtes und der Glieder, durch welche der Affekt sich einem Beobachter gew\u00f6hnlich verr\u00e4t. Diese sind in \u00e4lteren Werken \u00fcber die Gem\u00fctsbewegungen so ausf\u00fchrlich behandelt, dafs wir sie hier nicht n\u00e4her zu beschreiben brauchen.\nDas Kausalverh\u00e4ltnis zwischen dem Gef\u00fchlszustand und den physiologischen Erscheinungen der Affekte.\n147.\tIm vorigen Abschnitte wurde dargelegt, dafs zwischen dem Gef\u00fchlszustande und den begleitenden physiologischen Ver\u00e4nderungen ein enges Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltnis besteht, indem Bewufstseinszust\u00e4nde mit derselben Gef\u00fchlsbetonung von ungef\u00e4hr denselben physiologischen Erscheinungen begleitet werden. Wir werden nun das Kausalverh\u00e4ltnis zwischen den beiden Faktoren, dem k\u00f6rperlichen und dem psychischen Zustand , zu bestimmen suchen.\n148.\tDie gew\u00f6hnliche Annahme, der psychische Zustand erzeuge die k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen, kann, wie Lange mit Beeilt bemerkt hat [87], nur eine Hypothese sein, da es unm\u00f6glich mittels innerer Beobachtung zu entscheiden ist, ob zuerst\nder Seelenzustand in seinen wesentlichen Z\u00fcgen vorhanden ist,\n\u00bb \u2022\nehe die k\u00f6rperlichen Aufserungen entstehen, oder ob nicht letztere der St\u00f6rung des Bewufstseinszustandes vorausgehen, so dafs Empfindungen der organischen Ver\u00e4nderungen als integrierende Glieder der Gem\u00fctsbewegung mitwirkten. Welcher der beiden Annahmen man den Vorzug geben soll, kann deshalb, wie [87] erw\u00e4hnt, nur davon abh\u00e4ngen, welche derselben die Erscheinungen am leichtesten und einfachsten erkl\u00e4rt. Und in dieser Beziehung ist die letztere Hypothese unzweifelhaft vorzuziehen. Die Empfindungen der Mattigkeit, M\u00fcdigkeit, Schlaffheit, K\u00e4lte, W\u00e4rme, Kraft, Spannung u. s. w., die in allen Affekten gegenw\u00e4rtig sind, sind augenscheinlich Organempfindungen, aus Ver\u00e4nderungen in den verschiedenen Funktionen des Organismus herr\u00fchrend, und lassen sich leicht als Folgen bestimmter Innervations\u00e4nderungen verstehen, w\u00e4hrend durchaus kein Grund zu erblicken ist, weshalb j ene Seelenzust\u00e4nde die motorischen Zentren oder irgend einen anderen Teil des Organismus sollten beeinflussen k\u00f6nnen. Kommen nun hierzu die aus der Wirkung von Giftstoffen und aus den verschiedenen pathologischen F\u00e4llen bekannten","page":114},{"file":"p0115.txt","language":"de","ocr_de":"Organgef\u00fchle als wesentliche Glieder der Affekte.\t115\nErscheinungen, bei welchen beweislich oft vasomotorische Ver\u00e4nderungen und hieraus resultierende, den Affekten analoge Seelenzust\u00e4nde Vorkommen, so kann man schwerlich zu einem anderen Ergebnis gelangen als:\n149.\tEine Ver\u00e4nderung des Gemeingef\u00fchls, d. h. der Organempfindungen mit den an dieselben gebundenen Lust- oder Unlustbetonungen ist ein wesentliches Glied der \u201eAffekte\u201c genannten Seelenzust\u00e4nde. Und es mag ferner als dargethan betrachtet werden, dafs die Ursache der staitfmdenden Ver\u00e4nderung des Gemeingef\u00fchls motorische Innervations\u00e4nderungen verschiedener Art sind.\n150.\tVon den Thatsachen gezwungen, haben wir den Organempfind\u00fcngen nebst den damit verbundenen Gef\u00fchlst\u00f6nen wesentliche Bedeutung f\u00fcr die Affekte eingestehen m\u00fcssen. Ist es darum aber gegeben, dafs die auf gew\u00f6hnlichem Wege entstehenden Affekte, die \u201enormalen\u201c Affekte, wie wir sie nennen k\u00f6nnen, ausschliefslich in solchen Ver\u00e4nderungen des Gemeingef\u00fchls bestehen? Sind keine anderen psychischen Elemente bei diesen Gem\u00fctsbewegungen mitbeth\u00e4tigt ? Lange meint offenbar, dafs die vasomotorischen Ver\u00e4nderungen allein die Gem\u00fctsbewegung bestimmen, indem er die Freude nach Genufs des Alkohols oder des Opiums mit der Freude identifiziert, die z. B. durch eine angenehme Nachricht entsteht, und die M\u00f6glichkeit kurz von sich weist, Affekte ersterer Art seien keine \u201ewirklichen\u201c. Es m\u00f6chte nun ein unbestrittenes Faktum sein, dafs die k\u00fcnstlich erzeugten Affekte den \u201enormalen\u201c in vielen Beziehungen \u00e4hnlich sind, darum ist aber ja nicht gegeben, dafs gar kein Unterschied stattfinde. Nicht das Geringste stellt sich dem entgegen, dafs verschiedene Ursachen Erscheinungen hervor-rufen k\u00f6nnen, die einander in den wesentlichsten Z\u00fcgen \u00e4hnlich sind, ohne dafs sie deshalb gerade vollst\u00e4ndig kongruent w\u00e4ren. D ie k\u00fcnstlich erzeugten Affekte keine \u201ewirklichen\u201c zu nennen, ist sicherlich unberechtigt, da ihre \u00c4hnlichkeit mit den normalen gar zu grofs ist, als dafs man ihnen den Namen \u201eAffekte\u201c absprechen k\u00f6nnte ; anderseits wird die \u00c4hnlichkeit \u00fcbersch\u00e4tzt, wenn die beiden Gruppen ohne weiteres miteinander identifiziert werden. Auf Grundlage der Erfahrung l\u00e4fst sich leicht nach-weisen, dafs der verschiedene Ursprung der beiden Gruppen von Erscheinungen einen nicht unbedeutenden Unterschied ihres\nWesens mit sich bringt; ob dieser Unterschied so grofs ist, dafs\n8 *","page":115},{"file":"p0116.txt","language":"de","ocr_de":"116\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\nseinetwegen eine neue und besondere Benennung der k\u00fcnstlichen Affekte notwendig w\u00e4re, m\u00f6chte zun\u00e4chst ein Streit um Worte sein. Jeder, der einen Haschischberauschten im ersten Stadium gesehen hat, wenn seine Bede und sein ganzes Betragen meistens nur auf \u00fcberstr\u00f6mende Freude deutet ohne irgend ein Anzeichen der k\u00fcnstlichen Erzeugung der Erscheinung, wird kaum Bedenken tragen, diesen Zustand einen Affekt zu nennen. Und jeder, der denselben unter g\u00fcnstigen Verh\u00e4ltnissen selbst versucht hat, mufs zugeben, dafs die \u00c4hnlichkeit mit einer \u201enormalen\u201c Freude durchaus \u00fcberw\u00e4ltigend ist, eine ganz bestimmte Verschiedenheit ausgenommen, die wir sogleich n\u00e4her besprechen werden. Ich kann deshalb, vorl\u00e4ufig wenigstens, keinen entscheidenden Grund finden, die k\u00fcnstlich erzeugten sowohl als die in Krankheitsf\u00e4llen entstehenden Gem\u00fctszust\u00e4nde nicht mit dem Namen \u201eAffekte\u201c zu bezeichnen, ohne dafs sie darum jedoch v\u00f6llig mit den normalen zu identifizieren w\u00e4ren. Es gibt einen bestimmten Unterschied, den wir nun n\u00e4her nachweisen werden.\n151. Sonderbar ist es, dafs Lange selbst das Verh\u00e4ltnis\nzwischen den normalen und den k\u00fcnstlichen Affekten nicht\nbestimmt hervorgehoben hat, da er an einzelnen Orten doch\ndeutlich genug der Sache nahe zu Leibe r\u00fcckt. In der oben [88]\n\u2022 \u2022\ncitierten Aufserung \u00fcber die Mutter, die ihr totes Kind betrauert, wird ja gesagt, dafs, was sie f\u00fchle, der Zustand aller Organe, \u201eerhellt von der Vorstellung der Ursachen dieser Ph\u00e4nomene\u201c, sei. Und sp\u00e4ter finden wir folgende Bemerkung: \u201eIn Wirklichkeit besteht der Unterschied zwischen der Wut des pilzvergifteten Berserkers, des Maniakalischen, und dessen, der eine blutige Beleidigung erlitten hat, allein in der Verschiedenheit der Ursachen, und in dem Bewufstsein von den respektiven Ursachen \u2014 oder dem Mangel des Bewufstseins von einer Ursache.\u201c *) Der Verfasser glaubt aber augenscheinlich, diese \u201eErhellung\u201c, die doch zweifelsohne etwas recht Wesentliches sein d\u00fcrfte, auf ein reines Nichts reduzieren zu k\u00f6nnen. Hierin k\u00f6nnen wir ihm nicht recht geben. Jeder normale Affekt wird, wie die t\u00e4gliche Erfahrung dies darthut, durch irgend eine betonte Vorstellung eingeleitet \u2014 sodann treten alle organischen Ver\u00e4nderungen sekund\u00e4r hinzu und verst\u00e4rken das prim\u00e4re Gef\u00fchl. Jede normale Gem\u00fctsbewegung, diese sei nun Freude, Kummer, Furcht, Hoffnung,\n*) Ang. Werk. 8. 63.","page":116},{"file":"p0117.txt","language":"de","ocr_de":"Motivierte und unmotivierte Affekte.\n117\nErwartung, Scham u. s. w., ist Freude , Scham oder Kummer \u00fcber etwas, Furcht vor etwas, Hoffnung auf etwas, Erwartung von etwas. Der Affekt hat stets einen Vorstellungsinhalt , auf welchen er sich bezieht, und welcher dem Bewufstsein als die urspr\u00fcngliche Ursache dasteht. Sogar im Schreck, der gew\u00f6hnlich durch einen pl\u00f6tzlichen und starken Sinneseindruck entsteht, ist man sich doch bewufst, \u00fcber etwas erschrocken zu sein, geschieht es auch mitunter, dafs man nicht entscheiden kann, welcher Art der Sinneseindruck gewesen sei. In allen diesen F\u00e4llen, \u00fcberall , wo wir mit einem normalen Affekt zu schaffen haben, erscheint dieser uns als durch den urspr\u00fcnglichen Vorstellungsinhalt motiviert, mit dem der prim\u00e4re Gef\u00fchlston direkt, die sekund\u00e4ren Gef\u00fchlst\u00f6ne indirekt verbunden sind. Hierin liegt I offenbar der Unterschied zwischen einerseits den normalen, anderseits den k\u00fcnstlichen und pathologischen Affekten. Was letztere betrifft, wurde schon vorher erw\u00e4hnt [89], dafs sie dem Individuum als durchaus unmotiviert dastehen ; dafs dasselbe mit den k\u00fcnstlichen Affekten der Fall ist, wird nicht so leicht nachzuweisen sein, da diese gew\u00f6hnlich unter Verh\u00e4ltnissen Vorkommen , wo andere Faktoren hinzutreten und die fehlende Motivierung abgeben. Trinkt man ein paar Gl\u00e4schen in heiterer Gesellschaft, so ist die resultierende Freude ja nicht dem Alkohol allein zu verdanken, sondern auch dem fr\u00f6hlichen Gespr\u00e4ch, witzigen Einf\u00e4llen u. dergk, und der Berauschte kann deshalb unter solchen Verh\u00e4ltnissen nicht die Empfindung haben, seine Freude sei psychologisch unmotiviert, was sie ja auch nicht ist, teilweise jedenfalls. Wollte man aber alle derartigen fremden Faktoren fernhalten, so m\u00fcfste die Spiritusfreude einem scharfen Beobachter unzweifelhaft als eine leere, sinnlose Freude erscheinen. In der Litteratur habe ich eine einzige \u00c4ufserung gefunden, die entschieden in dieser Richtung geht. J\u00e4ger erz\u00e4hlt in seinem wohl mehr ber\u00fcchtigten als bekannten Werke : \u201eAus dem Bummlerleben in Christiania,\u201c wie der Verfasser sich eines Tages in Einsamkeit einen Rausch antrinkt und setzt dann fort: \u201eEine Weile darauf schlenderte ich die Karl-Johan-Strafse hinan mit ein paar Seidel im Magen \u2014 halbbetrunken und froh. Nicht froh \u00fcber etwas, nur froh, ganz einfach froh; halbbetrunken und froh . . .U1) Deutlicher ausgedr\u00fcckt kann man diesen Mangel einer Motivierung\n!) Fra Kristiania Bohemen. I T. S. 263.","page":117},{"file":"p0118.txt","language":"de","ocr_de":"118\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nwohl kaum verlangen, und es liegt gewifs kein Anlafs vor, die Richtigkeit der Beobachtung in Zweifel zu ziehen, da die meisten aus eigener Erfahrung wo nicht gerade den beschriebenen, so doch ganz analoge Zust\u00e4nde kennen werden.\n152. Unser Resultat in betreff des Verh\u00e4ltnisses zwischen den verschiedenen Arten der Gem\u00fctsbewegungen wird also folgendes. Nicht nur sind, wie nachgewiesen [149J, die ver\u00e4nderten Organempfindungen mit den an dieselben gekn\u00fcpften Gef\u00fchlst\u00f6nen integrierende Glieder der Gem\u00fctsbewegungen, sondern sie sind auch gen\u00fcgend, um einen Affekt mit dessen ganzem eigent\u00fcmlichem Charakter hervorzurufen. Sobald eine Reihe motorischer Innervations\u00e4nderungen verschiedener Art gegeben ist, entsteht ein Affekt, indem die organischen St\u00f6rungen eine Ver\u00e4nderung des Gemeingef\u00fchls erzeugen. Die Ursache der motorischen Ver\u00e4nderungen kann aber verschieden sein, und hierdurch wird eine Verschiedenheit der Gem\u00fctsbewegung bedingt.\n158. Ein \u201enormaler\u201c Affekt entsteht, indem ein durch \u00e4ufseren Reiz oder durch die Erinnerung hervor gerufenes prim\u00e4res Gef\u00fchl auf die motorischen Zentren wirkt und sich selbst mittels der aus den Innervations st\u00f6r ungen resultierenden Organempfindungen und der an diese gebundenen Gef\u00fchlst\u00f6ne verst\u00e4rkt. In diesem Falle erscheint der Affekt dem Individuum als motiviert, als durch den Vorstellungsinhalt des prim\u00e4ren Gef\u00fchls verursacht.\n154.\tWird der Affekt dagegen durch Vergiftung oder durch Erkrankung des Nervensystems hervorgerufen, so steht der resultierende Affekt cds unmotiviert da, indem er nicht als durch einen bestimmten Vorstellungsinhalt verursacht erblickt wird.\nEs wird also das Richtigste, die Affekte ihrem verschiedenen Urspr\u00fcnge nach in die normalen und die unmotivierten zu teilen, indem wir unter letzteren solche Affekte verstehen, deren Ursache das Individuum nicht in seinem eigenen Bewufstsein zu finden vermag.\n155.\tDie Notwendigkeit einer solchen Sonderung tritt \u00fcbrigens deutlich in einer Reihe von Thatsachen hervor, die sich schwerlich erkl\u00e4ren lassen, nimmt man nicht einen Bewufstseins-zustand, ein prim\u00e4res Gef\u00fchl, als urspr\u00fcngliche Ursache der die Affekte konstituierenden k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen an. So ist es eine aus dem t\u00e4glichen Leben bekannte Sache, dafs Menschen vor Freude stumm statt geschw\u00e4tzig werden k\u00f6nnen, dafs das","page":118},{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":"Bedeutung des prim\u00e4ren Gef\u00fchls.\n119\nErschrecken seinem Opfer das Blut zu Kopfe steigen lassen kann, statt dasselbe blafs zu machen, dafs ein Bek\u00fcmmerter rastlos und jammernd umhereilen kann, statt schweigsam und niedergebeugt zu sitzen u. s. w. Betrachtet man nun die Innervationsst\u00f6rungen als das einzige den Affekt Bestimmende, so ist es durchaus unverst\u00e4ndlich, wie k\u00f6rperliche Ver\u00e4nderungen, die gew\u00f6hnlich gewisse Affekte bedingen, ausnahmsweise ganz andere hervorbringen k\u00f6nnen. Aus den unmotivierten Affekten entnommene Erfahrungen scheinen geradezu darzulegen, dafs etwas Derartiges nicht stattfinden kann. Alkohol, in geringer Menge genossen, hat wohl so ziemlich dieselbe Wirkung auf alle Menschen, in gr\u00f6fserer Dosis eingenommen kann dessen psychische Wirkung jedoch h\u00f6chst verschieden sein. Einige Menschen werden \u00e4ufserst heiter, geschw\u00e4tzig und faselig, andere traurig und wieder andere reizbar und streitlustig. Und alle Beobachtungen scheinen darauf hinzudeuten, dafs diese verschiedenen psychischen Wirkungen aus dem verschiedenen Einflufs des Alkohols auf die Gef\u00e4fsnerven und somit auf das ganze Gemeinbefinden der Individuen entstehen. Ganz analoge individuelle Verschiedenheiten kennt man auch von den anderen Giftstoffen, welche ausgepr\u00e4gte psychische Wirkungen haben. Und ebensowie gr\u00f6fsere oder geringere Mengen eines Giftes auf dasselbe Individuum verschieden wirken k\u00f6nnen, ebenso kann dessen Zustand auch bei allm\u00e4hlichem F ortschreiten der V ergiftung V er\u00e4nderungen erleiden, und allen diesen untereinander verschiedenen Seelenzust\u00e4nden entsprechend zeigen sich Verschiedenheiten im Zustand des kapillaren Gef\u00e4fs-netzes. So wird die Haschischvergiftung gew\u00f6hnlich durch einen Ausbruch \u00fcberstr\u00f6mender Freude eingeleitet, h\u00e4ufig von ganz entgegengesetzten Wirkungen unterbrochen; es k\u00f6nnen Zust\u00e4nde der Furcht und der tiefsten psychischen Depression eintreten, w\u00e4hrend welcher das Individuum in der entsetzlichsten Unruhe hin und her f\u00e4hrt, sich setzt, sich erhebt, sich niederwirft und geradezu sich selbst zu entfliehen sucht. Diese entgegengesetzten Seelenzust\u00e4nde werden gewifs, soweit ich Gelegenheit zur Beobachtung hatte, durch ebenso entgegengesetzte vasomotorische Ver\u00e4nderungen bedingt. W\u00e4hrend der Exaltation l\u00e4fst sich kaum etwas Anormales nachweisen; nur die Frequenz des Herzschlages scheint ein wenig \u00fcber dem Normalen zu sein. W\u00e4hrend der Depression ist dagegen die Innervation der Vasomotoren in einem Zustande durchaus labilen Gleichgewichts. Bald finden gewaltige\n\u00bb","page":119},{"file":"p0120.txt","language":"de","ocr_de":"120\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nKongestionen nach dem Kopfe bei kalten H\u00e4nden und F\u00fcfsen statt, bald str\u00f6mt das Blut mit Heftigkeit in die Extremit\u00e4ten, so dafs diese heifs und schwer gef\u00fchlt werden. Alle diese Erfahrungen scheinen sich kaum anders verstehen zu lassen, als dafs der psychische Zustand bestimmt ist, sobald eine Reihe vasomotorischer Ver\u00e4nderungen gegeben sind. Betrachtet man also die vasomotorischen Ver\u00e4nderungen als f\u00fcr den normalen Affekt alleinbestimmend, so ist es ganz r\u00e4tselhaft, weshalb eine dem Individuum erfreulich erscheinende Begebenheit einige derjenigen organischen St\u00f6rungen hervorrufen sollte, welche gew\u00f6hnlich mit dem Affekt des Kummers verbunden sind. Denn f\u00e4nde dieses statt, so w\u00fcrde das Individuum ja keine Freude f\u00fchlen, sondern kraft der organischen Ver\u00e4nderungen \u2014 Kummer. Nimmt man dagegen ein prim\u00e4res Gef\u00fchl als Ursache der motorischen Ver\u00e4nderungen an, so wird die Sache nicht gar so schwer zu verstehen sein. Es mufs dann angenommen werden, dafs der Vorstellungsinhalt des prim\u00e4ren Gef\u00fchls andere Vorstellungen mit daran gebundenen Gef\u00fchlst\u00f6nen reproduziert, welche auf die vasomotorischen Zentren einzuwirken verm\u00f6gen und hierdurch organische Ver\u00e4nderungen von etwas anderer Art hervorrufen als diejenigen, welche das prim\u00e4re Gef\u00fchl f\u00fcr sich allein erzeugt haben w\u00fcrde. Auf diese Weise kann ein und derselbe Affekt ein den Umst\u00e4nden nach verschiedenes Aussehen darbieten, ohne dafs sein Charakter in der Hauptsache ver\u00e4ndert w\u00fcrde; einige Verschiedenheit mufs der Seelenzustand aber doch wahrscheinlich stets aufzeigen, wenn die organischen Aufserungen verschieden sind.\n156. Es scheint sich schwerlich eine andere Erkl\u00e4rung der erw\u00e4hnten Thatsachen geben zu lassen, als die hier entwickelte; wenigstens wird man bei den einzelnen Forschern, welche die Sache behandelt haben, Andeutungen in derselben Richtung finden. So schreibt Lotze: \u201eKaum wird man es f\u00fcr wahrscheinlich halten, dafs der unzivilisierte Wilde jemals vor Freude weinte; Lachen allein wird der nat\u00fcrliche Ausdruck seiner Stimmung sein. Wir dagegen, deren Bildungsgang unserer ganzen Auffassung der Welt und des Lebens einen eigent\u00fcmlich, bald freudig, bald traurig, bald wehm\u00fctig angehauchten Hintergrund gibt, wir kommen allerdings leicht zu einer solchen Mischbarkeit und Versalit\u00e4t der Stimmung, dafs eine in die andere hinein scheint, und die nat\u00fcrlichen Ausdrucksweisen aller","page":120},{"file":"p0121.txt","language":"de","ocr_de":"Verh\u00e4ltnis der Gef\u00fchlsbetonung zu den Organempfindungen. 121\nsich verschieben. So sind namentlich die Frauen den Freuden-thr\u00e4nen geneigt, da sie jede Ersch\u00fctterung \u00fcberhaupt als St\u00f6rung empfinden ; ein bedenkliches Zeichen zunehmender Nervenreizbark eit ist es dagegen, wenn M\u00e4nner auch bei freudigen Affekten eine leicht erregbare R\u00fchrung zeigen.\u201c *) Und selbst Lange gesteht dem prim\u00e4ren Gef\u00fchl und den an dasselbe gebundenen Associationen offenbar eine weit gr\u00f6fsere Bedeutung zu, als er sonst zu thun geneigt ist, indem er sagt: \u201eGanz nat\u00fcrlich (dafs derselbe Affekt sich auf verschiedene Weise \u00e4ufsern kann), denn eine und dieselbe Ursache wirkt verschieden auf die Gef\u00e4fsnerven der verschiedenen Menschen, da diese nicht i bei allen gleich reagieren, und aufserdem der Impuls auf seinem Wege durch das Gehirn zum vasomotorischen Zentrum von fr\u00fcheren Eindr\u00fccken verschieden beeinflufst wird, unter der psychologischen Form von Erinnerungen oder Ideenassociationen.\u201c * 2). Ein deutlicher ausgesprochenes Eingest\u00e4ndnis der Bedeutung der psychischen Faktoren l\u00e4fst sich kaum verlangen.\n157. Es er\u00fcbrigt noch eine Frage, die allerdings rein theoretischer Natur ist, darum aber nicht weniger als die bisher behandelten Probleme Interesse und Bedeutung hat. Wir stellten oben fest, dafs jeder normale Affekt durch ein prim\u00e4res \u201eGef\u00fchl\u201c eingeleitet werde. Streng genommen, haben wir so viel jedoch gar nicht bewiesen. Es unterliegt keinem Zweifel, dafs ein normaler Affekt durch einen Bewufstseinszustand eingeleitet wird, welcher entweder durch \u00e4ufseren Reiz entsteht oder als Phantasiebild auftritt; es ist aber nicht dargethan, dafs wir berechtigt sind, diesen prim\u00e4ren Bewufstseinszustand als \u201eGef\u00fchl\u201c zu kennzeichnen. Der Bewufstseinszustand, oder vielmehr die gleichzeitigen Bewegungen im Sensorium rufen ja eine Reihe Ver\u00e4nderungen im Organismus hervor, und erst, wenn diese Ver\u00e4nderungen sich dem Bewufstsein angezeigt haben, besitzen wir den Gesamtzustand, den wir einen Affekt nennen. Es l\u00e4fst sich also sehr wohl denken \u2014 und in der j\u00fcngsten Zeit ist das Verh\u00e4ltnis von mehreren Forschern, Lange, M \u00fc n s t e r b e r g, James u. s. w., so aufgefafst worden \u2014, dafs erst die Empfindungen der verschiedenen Ver\u00e4nderungen im Organismus die\n*) Medizinische Psychologie. S. 522.\n2) Ang. Werk. S. 75.","page":121},{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"122\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nGef\u00fchlsbetonung konstituierten. Ist das aber der Fall, so haben wir offenbar nur das Recht, von einer prim\u00e4ren \u201eEmpfindung\u201c, nicht aber von einem prim\u00e4ren \u201eGef\u00fchl\u201c bei den normalen Affekten zu reden.\n158.\tAuf einem anderen Wege werden wir demselben Problem gegen\u00fcbergestellt. Wir sahen, dafs die einfachen betonten Sinnesempfindungen ebensowohl als die zusammengesetzten Affekte von einer Reihe Ver\u00e4nderungen im Organismus begleitet sind, welche ihrerseits nat\u00fcrlich dazu beitragen, dem Bewufstseins-zustande des einzelnen Moments seinen eigent\u00fcmlichen Charakter zu verleihen, indem alle diese Ver\u00e4nderungen sich im Bewufst-sein als Organempfindungen anzeigen. Auch hier l\u00e4fst sich nun die Frage aufstellen: ist die Gef\u00fchlsbetonung der einfachen Sinnesempfindung nur die Summe der Organempfindungen, oder besteht sie von diesen unabh\u00e4ngig? Es bedarf kaum n\u00e4heren Nachweises, dafs wir hier mit demselben Problem zu schaffen haben, zu dessen Aufstellung die Betrachtung des prim\u00e4ren \u201eGef\u00fchls\u201c der Affekte uns zwang* die Frage in ihrer Allgemeinheit ist diese : l\u00e4fst sich \u00fcberhaupt annehmen, dafs mit einer Empfindung oder Vorstellung eine von den begleitenden Ver\u00e4nderungen des Organismus unabh\u00e4ngige Gef\u00fchlsbetonung verbunden ist, oder ist die Betonung nur die Summe der Empfindungen, deren Ursachen die St\u00f6rungen im Organismus sind? Meines Erachtens ist letztere Annahme erstens h\u00f6chst unzweckm\u00e4fsig, indem sie uns in eine Wirrnis von Hypothesen hineinzwingt, deren Rechtfertigung sehr schwer fallen wird, und ferner widerstreitet sie der Erfahrung an mehreren entscheidenden Punkten. Ich werde dies n\u00e4her zu entwickeln versuchen.\n159.\tVor allen Dingen ist wohl zu bedenken, dafs wenn die Gef\u00fchlsbetonung der Sinnesemptindungen nur eine Summe von Organempfindungen ist, so darf man nicht annehmen, dafs die Betonung der einzelnen Organempfindung von irgend etwas anderem als einer \u00e4hnlichen Summe anderer Organempfindungen herr\u00fchrte. Hier st\u00f6fst uns sogleich eine Schwierigkeit auf. Ich habe z. B. Leib weh, d. h. ich habe eine h\u00f6chst unangenehme, stechende, in der Magengegend lokalisierte Empfindung. In physiologischer Beziehung haben wir hier eine prim\u00e4re Reizung der Schleimh\u00e4ute des Magens oder des Darmes und sekund\u00e4r eine Reihe organischer St\u00f6rungen, Gef\u00e4fsVerengerung hier, Erschlaffung dort u. s. w. Weshalb soll nun die erste dieser","page":122},{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"Verh\u00e4ltnis der Gef\u00fchlsbetonung zu den Organempfindungen. 123\nVer\u00e4nderungen sich in meinem Bewufstsein als stechende Empfindung melden, w\u00e4hrend alle \u00fcbrigen zu demjenigen Psychischen verschmelzen, welches ich Schmerz nenne? Hierf\u00fcr erblicke ich keinen angemessenen Grund. \u2014 In einem anderen Falle wird das Verst\u00e4ndnis noch schwieriger. Ich tauche die H\u00e4nde in warmes M^asser und erhalte eine angenehme \"W \u00e4rmeempfindung. Hie Einwirkung der AV\u00e4rme auf den Organismus besteht, wie wir sahen, wesentlich aus einer Gef\u00e4fserweiterung an der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers und einer geringen Erh\u00f6hung der Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln. Ist nun wirklich anzunehmen, dafs die prim\u00e4re Reizung der W\u00e4rmenerven eine W\u00e4rmeempfindung erzeuge , w\u00e4hrend die sekund\u00e4re, die aus der Gef\u00e4fserweiterung entsteht, mit einer Empfindung cier vermehrten Kraft der Muskeln zu einer Lustbetonung verschmelze? Und wie in diesem, so in allen analogen F\u00e4llen. Soll die Gef\u00fchlsbetonung aus einer Summe von Organempfindungen bestehen, so werden wir stets gezwungen, die Verschmelzung einer Gruppe von Organempfindungen zu den Lust oder Unlust genannten Zust\u00e4nden anzunehmen, w\u00e4hrend andere, den verschmelzenden ganz gleichartige Empfindungen ohne nachweisbaren Grund isoliert als Empfindungen fortbest\u00fcnden. Diese Annahme ist schon allein aus dem Grunde unhaltbar, weil Lust oder Unlust f\u00fcr die Selbstbeobachtung als ein nichtzusammengesetzter Zustand dasteht, w\u00e4hrend wir uns aufser der Gef\u00fchlsbetonung der verschiedenen Organ empfindungen bewufst sind} wir empfinden die W\u00e4ime dei Haut, die vermehrte St\u00e4rke der Muskeln, K\u00e4lteschauer u. s. w.\n160. Wollte man hiergegen einwenden, wir empf\u00e4nden alle diese Zust\u00e4nde gar nicht jeden f\u00fcr sich, sondern nur als Lust oder Unlust, so entsteht auf nat\u00fcrliche Weise die Frage: woher wissen wir denn, dafs sie existieren ? Hie Berechtigung der Behauptung, dafs die Organempfindungen wesentliche Glieder der Affekte sind, st\u00fctzt sich auf die Beobachtung, dafs wir diese Empfindungen w\u00e4hrend der Affekte merken} bestreitet man dies, so ist also die Frage nach der Bedeutung der Organ empfindungen f\u00fcr die Gem\u00fctsbewegungen ohne Wurzel, und jede Untersuchung \u00fcber diese Sache ist abzuweisen. Ich kann deshalb zu keinem anderen Resultate gelangen als diesem: da Organempfindungen thats\u00e4chlich als verh\u00e4ltnism\u00e4fsig selbst\u00e4ndige Glieder bei jedem gef\u00fchlsbetonten Zustand und besonders entschieden bei den","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nAffekten mitbeth\u00e4tigt sind, so kann die Gef\u00fchlsbetonung nicht aus einer Summe dieser Empfindungen bestehen.\n161.\tDiese Auffassung wird ferner durch folgende Betrachtung best\u00e4tigt. Wir sahen, dafs in allen F\u00e4llen Lust und Unlust von derselben Art sind, nur an St\u00e4rke verschieden; die Verschiedenheit der Gef\u00fchle liegt in deren Vorstellungsinhalt. Sollten Lust und Unlust nun aus einer Summe von Organempfindungen bestehen, so m\u00fcfsten auch diese stets die n\u00e4mlichen sein, um die n\u00e4mliche Summe geben zu k\u00f6nnen. Unsere Empfindungen sind ja nicht als rein quantitative Gr\u00f6fsen aufzufassen, aus denen die n\u00e4mliche Summe durch Addition h\u00f6chst verschiedener Addenden entstehen k\u00f6nnte. Es gibt \u00fcberhaupt \u00e4ufserst wenige Beispiele, dafs eine Ver\u00e4nderung des einen Gliedes eines Bewufstseinszustandes sich durch Ver\u00e4nderung eines anderen Gliedes kompensieren liefse, und auch wo dieses stattfinden kann, wird der gesamte resultierende Bewufstseins-zustand doch nie eine konstante Gr\u00f6fse. Hat man, um nur ein einzelnes Beispiel zu nehmen, zwei gleichfarbige Fl\u00e4chen A und B, so l\u00e4fst sich eine Ver\u00e4nderung des B allerdings dadurch kompensieren, dafs man B auf einem angemessen gew\u00e4hlten Hintergr\u00fcnde anbringt; wegen des Kontrastes mit diesem wird B dann noch gleich A aufgefafst werden k\u00f6nnen. Der gesamte Bewufstseinszustand bleibt aber nicht derselbe wie vorhin, denn aufser der Empfindung von A und B wirkt zugleich die Empfindung von dem neuen Hintergr\u00fcnde des B, und letztere Empfindung ist eine notwendige Bedingung, damit B fortw\u00e4hrend als gleich A aufgefafst werde. Ebenso stellt sich die Sache, soweit ich zu sehen vermag, in allen \u00e4hnlichen F\u00e4llen. Da nun bei den verschiedenen Gef\u00fchlszust\u00e4nden, besonders den Unlustaffekten, aufser gewissen gemeinschaftlichen Organempfindungen, die jedoch oft verschieden lokalisiert sein werden, zugleich Gruppen verschiedener Organempfind\u00fcngen mitbeth\u00e4tigt sind, so wird es durchaus r\u00e4tselhaft, wie die Summen trotz der Verschiedenheit der Addenden konstant werden, dieselbe Lust und Unlust betragen k\u00f6nnen. Diese Schwierigkeit vermeidet man kaum anders, als indem man festh\u00e4lt, dafs die Gef\u00fchlsbetonung eines, die Organempfindung etwas anderes ist.\n162.\tZu diesen Betrachtungen kommen noch einige That-sachen hinzu, die der Annahme eines zusammengesetzten Charakters der Gef\u00fchlsbetonung direkt widerstreiten. Es wurde","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"Verh\u00e4ltnis der Gef\u00fchlsbetonung zu den Organempfindungen. 125\nschon vorher nachgewiesen, dafs zwischen der einfachen Sinnes-empiindung und deren Gef\u00fchlsbetonung kein Zwischenraum existiert, und jeder, der den Versuch anstellt, wechselweise z. B. auf die Empfindung eines Stiches und auf die damit verbundene Unlust zu reagieren, wird sich leicht \u00fcberzeugen, dafs es \u00fcberhaupt unm\u00f6glich ist, zwischen diesen beiden Momenten zu sondern. Eine solche Sonderung m\u00fcfste sich aber unternehmen lassen, wenn die Unlust nur eine Summe von Organempfindungen w\u00e4re. Denken wir uns n\u00e4mlich, dafs der durch Reizung eines Sinnesorganes hervorgerufene Nervenstrom sich teilt, indem er das Gehirn erreicht, und dafs die eine Bewegung bis ins Sensorium fortschreitet, wo die Empfindung entsteht, w\u00e4hrend die andere nach den motorischen Zentren geht und eine Reihe Ver\u00e4nderungen im Organismus bewirkt. Es ist dann einleuchtend, dafs w\u00e4hrend der eine Ast der Bewegung nur den psychophysischen Prozefs hervorruft, der sich durch das Entstehen einer Empfindung im Bewufstsein \u00e4ufsert, hat der andere einen viel weiteren Weg zu durchlaufen, bis er sich im Bewufstsein kenntlich macht. Erst wird ein motorischer Nervenstrom aus-gel\u00f6st, der sich zu den Muskeln fortpflanzt und diese in Bewegung setzt; darauf gehen von verschiedenen Punkten des Organismus, an welchen die St\u00f6rungen stattfanden, zentripetale Nervenstr\u00f6me ins Sensorium und erzeugen Organempfindungen. Das Entstehen einer Empfindung im Bewufstsein m\u00f6ge nun kurze oder lange Zeit erfordern, so m\u00fcssen diese Organempfindungen notwendigerweise um einen mefsbaren Zeitraum sp\u00e4ter kommen, als die durch den Reiz direkt ausgel\u00f6ste Sinnesempfindung, weil vor Zustandekommen der Organempfindungen erst eine Reihe physiologischer Prozesse (die Fortpflanzung des zentrifugalen und des zentripetalen Nervenstromes, die Muskelkontraktionen u. s. w.) vorgehen m\u00fcssen, deren Zeitdauer sogar ziemlich betr\u00e4chtlich ist. Und da nun faktisch zwischen einer Sinnesempfindung und deren Betonung kein mefsbarer Zeitraum existiert, kann der Gef\u00fchlston also nicht aus Empfindungen der gleichzeitigen Ver\u00e4nderungen des Organismus bestehen.\n163. Endlich zeigt die Selbstbeobachtung, dafs die prim\u00e4re Vorstellung eines Affekts schon, ehe die ebenfalls betonten Organempfindungen sich l\u00fcelden, betont auftritt. W\u00e4hlen wir das Erschrecken zum Beispiel. Unsere Versuche zeigten hier, dafs die pl\u00f6tzliche Muskelkontraktion fast gleichzeitig mit dem Eindruck","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\nauftritt, d. h. nur einen geringen Bruchteil einer Sekunde nach Stattfinden des Reizes. Hier ist also doch einige Wahrscheinlichkeit, dafs die Unlust von Organempfindungen herr\u00fchren k\u00f6nnte; aber auch in diesem Falle wird man bei genauer Selbstbeobachtung-leicht die beiden gesonderten Momente auffassen k\u00f6nnen: die prim\u00e4re, unangenehm starke Sinnesempfindung und die unmittelbar nachfolgende, ebenfalls unlustbetonte Empfindung von dem Zusammenfahren des K\u00f6rpers, die in Verbindung mit anderen Organempfindungen, Herzklopfen u. s. w. das Erschrecken konstituiert. Ganz analoge Verh\u00e4ltnisse sind bei den anderen Affekten zu beobachten, und somit scheint jede M\u00f6glichkeit, die Gef\u00fchlsbetonung als eine Summe von Organempfindungen aufzufassen, ausgeschlossen zu sein.\nAuf Grundlage dieser ganzen Reihe von Betrachtungen ist also zu behaupten:\n164.\tDte Gef\u00fchlsbetonung sowohl der Sinnes- als der Organempfindungen ist mit der Empfindung unmittelbar verbunden. ln keinem Falle wird es m\u00f6glich sein, die Gef\u00fchlst\u00f6ne Lust und Unlust als eine Summe von Organempfindungen aufsufassen.\nSt\u00f6rungen des Vorstellungslaufes w\u00e4hrend der Affekte.\n165.\tWir begannen unsere Untersuchung der Affekte, indem wir diese als Seelenzust\u00e4nde bezeichneten, in welchen starke Gef\u00fchle mit gr\u00f6fserer oder geringerer St\u00f6rung des normalen Vorstellungslaufes verbunden sind, und welche zugleich von verschiedenen unwillk\u00fcrlichen Ver\u00e4nderungen des k\u00f6rperlichen Zustandes begleitet werden. Von diesen verschiedenen, f\u00fcr die Affekte wesentlichen Momenten untersuchten wir bisher die zwei, n\u00e4mlich das gegenseitige Verh\u00e4ltnis der Gef\u00fchle und die organischen V er\u00e4nderungen.\n166.\tEs er\u00fcbrigt jetzt nur, das Verh\u00e4ltnis zwischen den St\u00f6rungen des normalen Vorstellungslaufes und den anderen f\u00fcr die Affekte charakteristischen Faktoren zu bestimmen. Am leichtesten wird uns die Erhellung dieses Punktes gelingen, wenn wir untersuchen, ob die genannten St\u00f6rungen sowohl bei den unmotivierten als den normalen Affekten Vorkommen k\u00f6nnen. Ist dieses n\u00e4mlich der Fall, so m\u00fcssen die St\u00f6rungen des Vorstellungslaufes aller Wahrscheinlichkeit nach eine Wirkung der vasomotorischen Ver\u00e4nderungen sein. Denn bei den un-","page":126},{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"St\u00f6rungen bei den normalen Affekten.\n127\nmotivierten Affekten haben wir ja nur mit physischen Ursachen zu schaffen, mit Vergiftungen oder Erkrankungen, von denen anzunehmen ist, dafs sie direkt auf die verschiedenen motorischen Zentren einwirken und dadurch die Gem\u00fctsbewegung hervor-rufen. Hier kann also wohl von nichts anderem die Rede sein, als dafs die St\u00f6rungen des Vorstellungslaufes sekund\u00e4re Erscheinungen, Folgen des ver\u00e4nderten organischen Zustandes sein m\u00fcssen. Und werden wir erst gen\u00f6tigt, r\u00fccksichtlich der einen Gruppe von Affekten einen bestimmten Kausalzusammenhang der beiden Faktoren anzunehmen, so ist es in hohem Grade wahrscheinlich, dafs dasselbe Kausalverh\u00e4ltnis auch f\u00fcr die andere Gruppe gilt, es sei denn, dafs die St\u00f6rungen des Vorstellungslaufes in den beiden F\u00e4llen so verschiedenen Charakters w\u00e4ren, dafs man zur Annahme eines verschiedenen Ursprungs gezwungen w\u00fcrde. Es mufs daher unsere erste Aufgabe werden, die Hauptformen zu untersuchen, welche die St\u00f6rungen des Vorstellungslaufes innerhalb jeder der beiden Gruppen von Affekten annehmen k\u00f6nnen, um auf diese empirischen Data die Auffassung eines bestimmten Kausalverh\u00e4ltnisses zu st\u00fctzen.\n167. Nehmen wir zum Anfang die normalen Affekte vor, so finden wir, dafs die St\u00f6rungen des Vorstellungslaufes hier zwei Hauptformen annehmen k\u00f6nnen. Es kann entweder ein ungew\u00f6hnlicher Reichtum oder ein unter das Normale sinkender Mangel an Vorstellungen vorhanden sein. Ersteres scheint bei allen Affekten, die den Charakter der Lust tragen, letzteres dagegen bei den Unlustaffekten stattzufinden. Beispiele bieten sich in Menge dar. Die Hoffnung, ein erf\u00fcllter Wunsch oder eine erfreuliche \u00dcberraschung setzt die Phantasie in lebhafte Th\u00e4tigkeit und ruft eine Menge von Vorstellungen hervor, die zu dem prim\u00e4ren Gef\u00fchl in n\u00e4herer oder fernerer Beziehung stehen und zu dessen Verst\u00e4rkung beitragen, indem sie mit Lust verbunden sind. Das Gegenteil ist aber mit den Affekten der Fall, die den Charakter der Unlust tragen. Schmerz, get\u00e4uschte Erwartung, Zorn, Furcht und Schreck haben miteinander gemein, dafs der Vorstellungslauf gehemmt wird, so dafs nur der Inhalt des prim\u00e4ren Gef\u00fchls das Bewufstsein beherrscht; der Trauernde und der Entt\u00e4uschte haben nur Gedanken f\u00fcr ihren Verlust, der Zornige sieht und h\u00f6rt nichts und weifs manchmal gar nicht, was er unternimmt ; w\u00e4hrend der Furcht und des Schrecks kann das Denken so vollst\u00e4ndig ins Stocken geraten, dafs man kein","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\nMittel erblickt, der Gefahr entgegenzuwirken. Von dem allgemeinen Gesetz, das hier unzweifelhaft zur Geltung kommt, ist nur eine einzige, rein scheinbare Ausnahme bekannt. Wie man weifs, kann eine erfreuliche, aber allzu gewaltige \u00dcberraschung im ersten Augenblick den Vorstellungslauf hemmen, ja sogar Bewufstlosigkeit herbeif\u00fchren, so dafs sie sich auf eine von anderen LustafFekten ganz abweichende Weise \u00e4ufsert. Man sieht aber leicht, dafs wir hier dennoch nur eine scheinbare Ausnahme haben. Jeder pl\u00f6tzlich auftretende Affekt kann, wie oben erw\u00e4hnt [119 u. 163], durch Erscheinungen eingeleitet werden, die zu der nachfolgenden Gem\u00fctsbewegung in keinem\nn\u00e4heren Verh\u00e4ltnisse stehen, und dafs man diese \u201eEinleitung\u201c\n\u2022 \u2022\nbesonders bei der erfreulichen \u00dcberraschung bemerkt hat, l\u00e4fst sich leicht aus dem gerade in diesem Falle so stark hervortretenden Gegens\u00e4tze zwischen der Einleitung und dem folgenden Zustande erkl\u00e4ren. Streng genommen ist die erfreuliche \u00dcberraschung im ersten Moment nur ein Erschrecken, indem der Eindruck sich blofs durch seine Gewaltigkeit und gar nicht durch seinen besonderen Inhalt geltend macht. Erst wenn das Erschrecken sich beruhigt hat, wird der Inhalt der Mitteilung dem Bewufstsein klar werden und dann die Freude mit all ihren charakteristischen Symptomen hervorrufen. Es scheint sich also kein Einwurf von Bedeutung anf\u00fchren zu lassen gegen das allgemeine Gesetz:\n168.\tJeder Lustaffekt erzeugt eine erh\u00f6hte Th\u00e4tigkeit der Phantasie, wogegen die Unlustaffekte den Vor stellungslauf hemmen.\n169.\tSchon die hier nachgewiesene Gesetzm\u00e4fsigkeit scheint daf\u00fcr zu sein, dafs die St\u00f6rungen des Vorstellungslaufes Wirkungen der vasomotorischen Ver\u00e4nderungen sind. Wir fanden n\u00e4mlich, dafs eine erh\u00f6hte Th\u00e4tigkeit der Phantasie bei denjenigen Affekten stattfindet, die eine aktive Gef\u00e4fserweiterung und erh\u00f6hte Th\u00e4tigkeit des Herzens zeigen, w\u00e4hrend die Th\u00e4tigkeit der Phantasie bei denjenigen Affekten gehemmt ist, in welchen die Blutgef\u00e4fse verengert sind. Nun mufs man notwendigerweise annehmen, dafs eine Ver\u00e4nderung des Blutzuflusses nach dem Gehirn Einflufs auf die gesamte Hirnth\u00e4tigkeit hat, und wie wenig wir auch die Prozesse kennen, welche das Entstehen der Vorstellungen bedingen, so kann es doch kaum einem Zweifel unterliegen, dafs dieselben sich in der Hauptsache wie alle anderen Nerven-prozesse verhalten. Ein st\u00e4rkerer Blutzuflufs oder eine schnellere","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"St\u00f6rungen bei den unmotivierten Affekten.\n129\nZirkulation und ein hieraus resultierender geschwinderer Stoffwechsel im Gehirn f\u00fchrt also annehmlich eine Vermehrung der Vorstellungsproduktion mit sich, ein langsamerer Stoffwechsel dagegen wird die Vorstellungsth\u00e4tigkeit bis zu vollst\u00e4ndiger Bewufstlosigkeit hemmen. Die Wahrscheinlichkeit ist also nicht gering, dafs auch die hier besprochenen Erscheinungen als eine Folge der vasomotorischen Innervations\u00e4nderungen aufzufassen sind ; einen ferneren Beweis f\u00fcr die Richtigkeit der Annahme werden wir nun erhalten, indem wir zur Untersuchung der unmotivierten Affekte \u00fcbergehen.\n170.\tDer Natur der Sache zufolge mufs zwischen den St\u00f6rungen des Vorstellungslaufes, die sich in den beiden Gruppen von Affekten zeigen, ein bestimmter Unterschied sein. W\u00e4hrend\nI die erh\u00f6hte Th\u00e4tigkeit der Phantasie bei den normalen Affekten best\u00e4ndig mit dem Vorstellungsinhalt des prim\u00e4ren Gef\u00fchls in enger Beziehung steht, so dafs die neuen auftauchenden Vorstellungen mit der urspr\u00fcnglichen in einer gewissen inneren Verbindung\nstehen, kann dies nat\u00fcrlich nicht der Fall sein bei den un-\n' *\nmotivierten Affekten, wo ein prim\u00e4res Gef\u00fchl \u00fcberhaupt nicht zu finden ist. Man kann im voraus erwarten, dafs die Richtung der Phantasieth\u00e4tigkeit in letzterem Falle zun\u00e4chst durch zuf\u00e4llige \u00e4ufsere Eindr\u00fccke oder willk\u00fcrliche Hinrichtung der Aufmerksam-keit bestimmt ist. Einen wesentlichen Unterschied zwischen den j beiden Gruppen von Affekten kann man doch kaum hierin finden, da die willk\u00fcrliche Hinrichtung der Aufmerksamkeit auch bei den normalen Affekten grofsen Einflufs auf die Richtung des Phantasielaufes haben mufs, und die Frage ist eigentlich nur die, ob wir \u00fcberhaupt St\u00f6rungen des Vorstellungslaufes als Glieder der unmotivierten Affekte kennen. Ist dies der Fall, so ist - damit, wie oben nachgewiesen [166], das Kausalverh\u00e4ltnis zwischen diesen St\u00f6rungen und den vasomotorischen Ver\u00e4nderungen ent-; schieden.\n171.\tWohlbekannt ist aus dem t\u00e4glichen Leben die Wirkung > des Alkohols auf den Vorstellungslauf. Dafs eine geringe Menge i Spiritus die Th\u00e4tigkeit der Phantasie erh\u00f6ht und uns bef\u00e4higt, 1 kiirze Zeit hindurch nicht nur k\u00f6rperlich, sondern auch geistig i intensiver zu arbeiten, weifs jeder, der dem Gen\u00fcsse geistiger ) Getr\u00e4nke nicht g\u00e4nzlich entsagt hat. Da eine solche anormale I Kraftentfaltung aber nur auf Kosten der im Nervensystem geil lagerten Spannkr\u00e4fte stattfinden kann, f\u00fchrt die starke Anreizung\nLehmann, Die Gef\u00fchle.\t9","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"130\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\ndes Nervensystems eine nachfolgende Erschlaffung* herbei, die um so deutlicher wird und um so schneller ein tritt, je st\u00e4rker die k\u00fcnstliche Reizung gewesen ist. Auf \u00fcbertriebenen Genufs des Spiritus folgt daher bald ein Schlaffheitszustand. Kraepelin hat es versucht, der Natur der Einwirkung und der Dauer der verschiedenen Stadien auf die Spur zu kommen, indem er die Zeitdauer der psychischen Prozesse an verschiedenen Individuen mafs, die sich teils in normalem Zustande, teils unter Einwirkung verschiedener Quanta Spiritus befanden1). Hierbei zeigte es sich, dafs kurze Zeit (2\u201420 Minuten, bei verschiedenen Individuen verschieden und mit der Menge des getrunkenen Spiritus variierend) nach dem Einnehmen einer Dosis eine erh\u00f6hte Nerven-th\u00e4tigkeit eintrat, indem alle psychischen Prozesse verk\u00fcrzt wurden, einige sogar sehr bedeutend, um bald darauf wieder bis \u00fcber das Normale zu steigen. Die Messungen best\u00e4tigen also v\u00f6llig die Erfahrungen aus dem t\u00e4glichen Leben und zeigen uns zugleich, dafs der wesentlichste Einflufs des Alkohols in einer Vermehrung der Geschwindigkeit der nerv\u00f6sen Prozesse besteht, deren ganz nat\u00fcrliche Konsequenz der gr\u00f6fsere Vorstellungsreichtum w\u00e4hrend eines gegebenen Zeitraumes ist. \u2014 Bei der Haschischvergiftung stellt sich die Sache anders. In einigen F\u00e4llen zeigen sich dieselben Erscheinungen wie bei der Alkoholvergiftung, nur in sehr erh\u00f6htem Mafse, eine solche F\u00fclle von Ideen, dafs kein einziger Gedanke sich festhalten l\u00e4fst, sondern sogleich von anderen verdr\u00e4ngt wird. In anderen F\u00e4llen sieht man nicht so sehr eine Vermehrung der Vorstellungsmenge, als vielmehr eine Verst\u00e4rkung der, einzelnen Vorstellungen. Die Vorstellungsreproduktion geschieht w\u00f6hl eher langsamer als gew\u00f6hnlich, das Individuum spricht und liest nur mit grofser Anstrengung und sucht oft nach den Worten, daf\u00fcr haben die einzelnen Vorstellungen aber eine ganz abnorme St\u00e4rke. Gewaltige Halluzinationen auf allen Sinnesgebieten, ebensowohl denen des Geschmacks und des Geruchs als denen des Gesichts und Geh\u00f6rs m\u00f6chten wohl eine der charakteristischsten Erscheinungen des Haschischrausches sein. In gewissen Stadien tritt dann zugleich eine Verwirrung der Raum- und Zeitauffassung ein, die wohl auch als eine St\u00f6rung des Vorstellungslaufes zu betrachten ist.\nx) Wundt: Philosophische Studien. I. S. 573 u. f.","page":130},{"file":"p0131.txt","language":"de","ocr_de":"St\u00f6rungen bei den unmotivierten Affekten.\n131\n172. Es w\u00fcrde zu weitl\u00e4ufig werden, hier alle die Stoffe durchzugehen, die durch ihre Einwirkung auf das Nervensystem Affekte und die mit denselben verbundenen St\u00f6rungen des Vorstellungslaufes hervorzurufen verm\u00f6gen; \u00fcberdies sind diese Wirklingen nicht in allen F\u00e4llen so untersucht, dafs wir sie mit Sicherheit erkl\u00e4ren k\u00f6nnten. Gewifs ist auf diesem Gebiete noch vieles zu untersuchen \u00fcbrig, und k\u00fcnftige Forschungen werden unzweifelhaft vieles aufkl\u00e4ren, was uns bis jetzt noch dunkel ist, unsere Auffassung von den Wirkungen der vasomotorischen Ver\u00e4nderungen bereichern und modifizieren. Ein Beispiel in dieser Richtung haben wir an dem Einflufs des Bromkaliums auf die Hirnth\u00e4tigkeit. Die Anwendung dieses Stoffes als Schlafmittel glaubte man fr\u00fcher seiner beruhigenden Einwirkung auf die vasomotorischen Nerven zuschreiben zu k\u00f6nnen, durch welche unter anderem der Blutzuflufs nach dem Gehirn geschw\u00e4cht werden sollte. Hierdurch, glaubte man, w\u00fcrde eine Hemmung der Hirnth\u00e4tigkeit verursacht, unter anderem also auch eine Verminderung der Vorstellungsproduktion, die, wie wir wissen, eine der wesentlichsten Bedingungen f\u00fcr das Eintreten des Schlafes ist. Neuere Untersuchungen haben es indes wahrscheinlich gemacht, dafs die Zellen des Sensoriums gleichzeitig mit oder sogar noch vor den vasomotorischen Zentren in ihrer Funktion geschw\u00e4cht werden, indem die Nervensubstanz selbst eigent\u00fcmliche Ver\u00e4nderungen erleidet. Dann w\u00e4re also die Hemmung des Vorstellungslaufes nicht ausschliefslich den vasomotorischen Wirkungen des Stoffes zuzuschreiben1). Aber auch, wenn analoge Verh\u00e4ltnisse in anderen F\u00e4llen nachgewiesen w\u00fcrden, w\u00e4re dies offenbar ganz ohne Bedeutung f\u00fcr die uns hier besch\u00e4ftigende Frage. Denn die besonderen Ver\u00e4nderungen, welche einzelne Giftstoffe in den Nervenzellen selbst hervorzurufen verm\u00f6gen, k\u00f6nnen der Natur der Sache zufolge gar nicht in Betracht kommen, wenn von normalen Affekten die Rede ist. Es dreht sich deshalb nur darum, inwiefern bei den unmotivierten Affekten St\u00f6rungen des normalen Vorstellungslaufes Vorkommen k\u00f6nnen, und ob sich annehmen l\u00e4fst, dafs diese St\u00f6rungen, in einigen F\u00e4llen wenigstens, von vasomotorischen Ver\u00e4nderungen im Gehirn herr\u00fchren. Da dies als aufser allen Zweifel gestellt zu betrachten ist [155], und da zugleich die Weise, wie die\n*) Binz: Vorlesungen \u00fcber Pharmakologie. I. Abt. S. 233\u2014234.\n9*","page":131},{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"132\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nSt\u00f6rungen des Vorstellungslaufes sich bei den normalen Affekten \u00e4ufsern, entschieden auf einen Kausalzusammenhang mit den vasomotorischen Ver\u00e4nderungen deutet [169], so scheint das Resultat werden zu m\u00fcssen, dafs es bei den normalen Affekten die vasomotorischen Ver\u00e4nderungen im Gehirn sind, welche die Ursache der St\u00f6rungen des Vorstellungslaufes bilden.\n173.\tMit diesem Resultat vor Augen ist es leicht zu sehen, dafs weder Herbart, noch Kant, noch Wundt in seiner Auffassung der St\u00f6rungen des Vorstellungslaufes bei den Affekten entschieden recht hat. Wir k\u00f6nnen die St\u00f6rungen nicht mit Kant als direkte Wirkungen eines prim\u00e4ren Gef\u00fchls betrachten; noch weniger k\u00f6nnen wir mit Herbart in den St\u00f6rungen des Vorstellungslaufes die Ursache der \u00fcbrigen, f\u00fcr die Gem\u00fctsbewegung charakteristischen Erscheinungen erblicken. Auch Wundt hat zum Teil unrecht, insoweit er sich n\u00e4mlich an Kant anschliefst; dagegen l\u00e4fst sich nicht bestreiten, dafs die einmal entstandenen St\u00f6rungen einen bedeutenden Einflufs auf den gesamten Bewufstseinszustand erhalten m\u00fcssen. Ist die Th\u00e4tig-keit der Phantasie n\u00e4mlich erh\u00f6ht, so m\u00fcssen die zahlreich auftauchenden Vorstellungen dem Bewufstsein eine ganze Reihe von Gef\u00fchlen zuf\u00fchren, die durch ihr Verschmelzen mit dem prim\u00e4ren Gef\u00fchle dieses verst\u00e4rken. Denn selbst, wenn auch Vorstellungen mit entgegengesetztem Gef\u00fchlstone auftauchen sollten, werden diese, wie wir sp\u00e4ter sehen werden, doch nur schwer zur Geltung kommen k\u00f6nnen. Und ist der Vorstellungslauf gehemmt, so kann die St\u00e4rke des prim\u00e4ren Gef\u00fchls dadurch anwachsen, dafs es im Bewufstsein so gut wie alleinherrschend ist, indem die ganze Aufmerksamkeit auf dasselbe konzentriert wird. So wirken bei den Gem\u00fctsbewegungen alle Faktoren zusammen, um einen Zustand von ganz merkw\u00fcrdiger St\u00e4rke zu erzeugen.\nAls Resultat dieser Untersuchungen k\u00f6nnen wir also zu den vorhin aufgestellten S\u00e4tzen folgende neue hinzuf\u00fcgen:\n174.\tEs ist anzunehmen, dafs diejenigen St\u00f6rungen des normalen Vor Stellungslaufes, welche die normalen Gem\u00fctsbewegungen begleiten, haupts\u00e4chlich aus Innervations\u00e4nderungen der Dlutgef\u00e4fse des Gehirns entstehen, durch welche die zentrale Nerventh\u00e4tigheit erh\u00f6ht oder gehemmt wird. Diese St\u00f6rungen sind also nicht als direhte psychische Wirkungen des prim\u00e4ren Gef\u00fchls und noch","page":132},{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"Affekt\u00e4ufserungen und Willens\u00e4ufserungen.\n133\nweniger als urspr\u00fcngliche Ursache der \u00fcbrigen Ph\u00e4nomene der Gem\u00fctsbewegungen zu betrachten.\n175. Eine Erh\u00f6hung oder Hemmung der Vor Stellung sth\u00e4tigkeit ivird das prim\u00e4re Gef\u00fchl verst\u00e4rken, indem im ersteren Falle eine Beihe neuer Gef\u00fchle herbeigef\u00fchrt wird, die mit dem prim\u00e4ren verschmelzen, im letzteren Falle das prim\u00e4re Gef\u00fchl das im Bewufstsein alleinherrschende wird.\nDas Verh\u00e4ltnis des Gef\u00fchls zu den Willens\u00e4ufserungen.\n176. Wir sahen, dafs unter den k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen, die jedes Gef\u00fchl begleiten und dasselbe verst\u00e4rken, indem sie als betonte Organempfindungen zum Bewufstsein kommen, auch Bewegungen der willk\u00fcrlichen Muskeln Vorkommen. Anderseits wissen wir aus der Erfahrung des t\u00e4glichen Lebens, dafs es eine Mannigfaltigkeit von Bewegungen der willk\u00fcrlichen Muskeln gibt, welche wir gew\u00f6hnlich nicht als Gef\u00fchls\u00e4ufserungen auffassen, obgleich die Selbstbeobachtung uns lehrt, dafs auch diese Bewegungen aus betonten Vorstellungen entspringen oder allenfalls zu diesen in der engsten Beziehung stehen. Man pflegt alle diese Bewegungen unter dem Namen \u201eWillens\u00e4ufserungen\u201c zusammenzufassen und teilt sie in instinktive, triebm\u00e4fsige und gewollte (beschlossene) Bewegungen ein, je nach der mehr oder minder zusammengesetzten Natur des vorangehenden Bewufstseins-zustandes. Bei den beschlossenen Bewegungen, den \u201eHandlungen\u201c, ist dieser Bewufstseinszustand gew\u00f6hnlich \u00e4ufserst kompliziert, indem erst zahlreiche gef\u00fchlsbetonte Vorstellungsreihen miteinander ab wechseln (die Erw\u00e4gung), um schliefslich die Vorstellung von bestimmten Bewegungen hervorzurufen, die entweder sogleich oder unter gewissen sp\u00e4ter eintreffenden Umst\u00e4nden ausgef\u00fchrt werden sollen (der Entschlufs). Der Entschlufs bringt dann die Handlung mit sich, wenn diese nicht im Augenblicke der Ausf\u00fchrung durch andere Bewufstseinszust\u00e4nde gehemmt wird. Die instinktiven und triebm\u00e4fsigen Bewegungen dagegen werden durch eine einzelne betonte Vorstellung eingeleitet und unterscheiden sich also, jedenfalls bei weniger eingehender Betrachtung, nicht wesentlich von dem unmittelbaren k\u00f6rperlichen Ausschlag einer Gem\u00fctsbewegung.","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"134\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\n177.\tEs entsteht nun auf nat\u00fcrliche Weise die Frage, ob zwischen diesen verschiedenen Bewegungsformen ein wesentlicher Unterschied besteht, oder ob es sich hier, ebensowie bei Gef\u00fchl,\n\u2022 v\ti t\nAffekt und Stimmung, nur um Unterschiede des Grades dreht.\nEs m\u00f6chte um so notwendiger sein, sich auf dieses Verh\u00e4ltnis n\u00e4her einzulassen, da eine sch\u00e4rfere Bestimmung des Unterschiedes bisher kaum versucht ist, oder doch jedesmal, wenn sie versucht wurde, scheint gescheitert zu sein. So sagt Wundt:\n\u201eIn der That ist jeder Trieb zugleich Affekt; es unterscheidet ihn von dem letzteren nur die unmittelbare Beziehung der von ihm verursachten \u00e4ufseren Bewegung zur Verst\u00e4rkung oder Ausgleichung des vorhandenen Gef\u00fchlszustandes.\u201c1) Und Hoff ding macht zwar darauf aufmerksam, dafs \u201edie Gef\u00fchlsbewegungen freilich teilweise solche sind, die dem direkten Einflufs des Willens entzogen sind und dadurch entstehen, dafs die starke Bewegung des Gehirns sich auf gr\u00f6fsere oder kleinere Regionen des Organismus fortpflanzt. Aber\u201c, heifst es weiter, \u201eauch Organe und Muskeln, die sonst der Herrschaft des Willens unterworfen sind, k\u00f6nnen durch starke Gef\u00fchle in Bewegung gesetzt werden, und es kann schwer, wenn nicht unm\u00f6glich sein, zwischen Gef\u00fchlsbewegung und Willensbewegung zu unterscheiden.\u201c 2) Wie man sieht, enthalten diese Worte nicht gerade eine Aufmunterung, eine sch\u00e4rfere Unterscheidung zu versuchen, und doch mufs der Versuch angestellt werden, damit wir dar\u00fcber ! ins reine kommen k\u00f6nnen, ob wir \u00fcberhaupt berechtigt sind, von Gef\u00fchls- und Willensbewegungen als wesentlich verschiedenen Erscheinungen zu reden. Es ist einleuchtend, dafs die \u00fcber- j fl\u00fcssigen W\u00f6rter, wenn kein wirklicher Unterschied nachweisbar ist, aus der Wissenschaft fortgeschafft werden m\u00fcssen, da sie sonst nur zur Verwirrung der Begriffe dienen.\n178.\tEs kommt mir indes vor, als m\u00fcfsten sich bestimmte Grenzen ziehen lassen. Der Grund, weshalb man zwischen den Gef\u00fchls\u00e4ufserungen und den Trieb\u00e4ufserungen keinen wesentlichen Unterschied zu finden vermochte, ist gewifs der schon fr\u00fcher [81] angef\u00fchrte Umstand, dafs besonders die \u00e4ufseren k\u00f6rperlichen Bewegungen als das Eigent\u00fcmliche der Affekte betrachtet wurden. Den gr\u00f6fsten Teil der k\u00f6rperlichen \u00c4ufserungen der Gem\u00fctsbewegungen erkl\u00e4rt Darwin durch das Prinzip der\n1)\tPhysiologische Psychologie. 3. Aufl. II. S. 410.\n2)\tPsychologie in Umrissen. Leipzig 1887. S. 121.","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"Affekt\u00e4ufserungen und Willens\u00e4urserungen.\t135\n\u201ezweckm\u00e4fsigen associierten Gewohnheiten \u201c, was mit anderen Worten nur heifst, dafs er dieselben als urspr\u00fcngliche, zweck-m\u00e4lsige Willens\u00e4ufserungen auffafst, die im Laufe der Zeit in unwillk\u00fcrliche Affekt\u00e4ufserungen \u00fcbergegangen sind. Wenn er, und mit ihm wohl die meisten j\u00fcngeren Forscher, nun aber die Affektbewegungen als trieb- und instinktm\u00e4fsige Bewegungen auffafst, so ist es leicht zu verstehen, dafs aller Unterschied zwischen Affekt und Trieb oder Instinkt verschwinden mufs. Sind wir dagegen der Ergebnisse eingedenk, die unsere Untersuchungen \u00fcber die Affekte geleistet haben, so wird es wohl kaum unm\u00f6glich sein, die Sonderung durchzuf\u00fchren. Nur gilt es, sich klar zu machen, wo man den Unterschied suchen will.\n179.\tSieht man jemand den Arm erheben und eine Fliege von der Stirn wegstreichen, so kann diese Bewegung das endliche Resultat einer weitl\u00e4ufigen Erw\u00e4gung sein, ob die Fliege \u00fcberhaupt zu verscheuchen sei, ob mit der rechten oder der linken Hand u. s. w. Die Bewegung kann aber auch rein reflektorisch ausgel\u00f6st sein, so dafs der Betreffende erst nach deren Ausf\u00fchrung sich dessen bewufst wird, dafs er gehandelt hat. ln beiden F\u00e4llen kann die Bewegung ganz die n\u00e4mliche sein, so dafs es dem Beobachter unm\u00f6glich ist, einen Unterschied zu entdecken ; wenn wir nichtsdestoweniger die eine \u00fcberlegt, willk\u00fcrlich, die andere reflektorisch nennen, so stellen wir hiermit dennoch einen Unterschied zwischen den Bewegungen auf. Und ein solcher Unterschied findet sich denn auch, allerdings nicht zwischen den \u00e4ufseren Formen der Bewegungen, sondern in deren Ursprung, in ihrer Entstehungsweise. Dasselbe Prinzip ist nat\u00fcrlich festzuhalten, wenn man zwischen Affekt-lind Triebbewegungen zu sondern sucht. Wir k\u00f6nnen nicht erwarten, dafs es Kennzeichen g\u00e4be, die einem \u00e4ufseren Beobachter sogleich verrieten, ob eine ausgef\u00fchrte Bewegung eine Affekt- oder eine Trieb\u00e4ufserung sei, weil sich aber kein sichtbarer Unterschied nachweisen l\u00e4fst, braucht eine Sonderung dennoch nicht unm\u00f6glich zu sein. In der Entstehungsweise der Bewegungen, in dem vorangehenden Bewufstseinszustand oder Mangel an Bewufstsein k\u00f6nnen sich Verschiedenheiten finden, die es erm\u00f6glichen, zwischen den Affektbewegungen und allen anderen Reaktionsformen ganz bestimmte Grenzen zu ziehen.\n180.\tNehmen wir nun, um der Sache auf die Spur zu kommen, das m\u00f6glichst einfache Beispiel: ein starker pl\u00f6tzlicher","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"136\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nSchall ruft den Zustand hervor, den wir Erschrecken nennen. Wir haben hier im ersten Moment nur eine unlustbetonte Schallempfindung, begleitet von einer Reihe k\u00f6rperlicher Ver\u00e4nderungen, Gef\u00e4fsverengerung in einigen Teilen des Organismus, Gef\u00e4fserschlaffung in anderen, eine Verminderung des Umfanges der Herzbewegungen und vielleicht Kontraktion der Blasenmuskulatur und anderer organischen Muskeln. -K\u00e4men nun bei verschiedenen Affekten keine anderen Gattungen k\u00f6rperlicher Ver\u00e4nderungen vor, so w\u00fcrde eine Sonderung zwischen Affekt-und Gef\u00fchlsbewegungen einerseits und trieb- oder instinktm\u00e4fsigen Bewegungen anderseits nicht schwierig sein. Die Trieb- und Instinkt\u00e4ufserungen sind n\u00e4mlich stets Bewegungen der willk\u00fcrlichen Muskeln, und einen Zustand, der nur von Ver\u00e4nderungen der vasomotorischen und organischen Muskeln begleitet w\u00e4re, w\u00fcrde man niemals Trieb nennen. Die Schwierigkeit liegt nun aber eben darin, dafs, wie wir sahen, die meisten Affekte auch von Ver\u00e4nderungen der Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln begleitet sind. Diese Innervations\u00e4nderungen und die damit folgenden Bewegungen zerfallen indes in zwei Gruppen: in die bestimmt und die unbestimmt gerichteten. Zur ersteren Gruppe geh\u00f6ren die mimischen und die pantomimischen Bewegungen, die so konstant sind, dafs wir sie als Kennzeichen der sich regenden Affekte benutzen*, zur letzteren Gruppe geh\u00f6ren solche Erscheinungen wie allgemeine Unruhe, Zittern und Beben, Zusammenfahren des ganzen K\u00f6rpers oder Zuckungen einzelner Glieder, unregelm\u00e4fsige Atmung, Erstarren aller Muskeln u. s. wr. Selbst wenn diese verschiedenen Bewegungen bestimmte Affekte konstant begleiten, sind ihre Form und ihr Umfang doch keineswegs konstant; je nach Art und St\u00e4rke des Reizes treten sie bald auf diese, bald auf jene Weise auf, und anscheinend haben sie daher einen mehr zuf\u00e4lligen Charakter. Wir k\u00f6nnen deshalb auch ohne Schwierigkeit erkl\u00e4ren, wie diese Bewegungen durch das prim\u00e4re Gef\u00fchl des Affekts unmittelbar ausgel\u00f6st werden k\u00f6nnen. Die durch den Reiz hervorgerufene starke Bewegung im Sensorium breitet sich aus, irradiiert und erzeugt Ver\u00e4nderungen in der Innervation verschiedener Muskeln, wenn sie motorische Zentren trifft. Solange nun nichts diese Innervations\u00e4nderungen begrenzt, mufs es in hohem Grade von zuf\u00e4lligen Umst\u00e4nden abh\u00e4ngen, Avelche Form die ausgel\u00f6sten Bewegungen annehmen, und die gemeinschaftliche Eigent\u00fcmlichkeit aller dieser","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"Affekt\u00e4ufserungen und Willens\u00e4ufserungen.\n137\nBewegungen ist deshalb auch die Unregelm\u00e4fsigkeit. Sollen bestimmt gerichtete Bewegungen entstehen, so scheint dies nur dann m\u00f6glich zu sein, wenn etwas zu dem prim\u00e4ren Gef\u00fchl hinzutritt, das die Innervations\u00e4nderungen auf ganz bestimmte Nervenzentren begrenzt. Die Selbstbeobachtung lehrt uns nun, dafs dies geschehen wird, wenn das urspr\u00fcngliche Gef\u00fchl Vorstellungen von bestimmten Bewegungen erweckt, die auf ein gewisses \u00e4ufseres Objekt oder Verh\u00e4ltnis gerichtet sind. Ein solcher Zustand heifst aber Trieb.\n181.\tUnter den Psychologen scheint noch keine v\u00f6llige Einigkeit dar\u00fcber zu herrschen, ob der Trieb auf ein \u00e4ufseres Objekt oder auf ein Gef\u00fchl gerichtet ist. So schreibt Volkmann: \u201eDer Hungrige begehrt nicht Brot, sondern die Empfindung der S\u00e4ttigung durch das Brot.\u201c 0 Wird dieser Satz w\u00f6rtlich genommen, so scheint es unleugbar Volkmanns\nMeinung zu sein, dafs der Trieb auf ein Gef\u00fchl gerichtet sei.\n\u2022 \u2022 __\nBei Hoff ding finden wir dagegen folgende Aufserung: \u201eDas Verh\u00e4ltnis darf nicht so aufgefafst werden, als ob das Objekt des Triebes immer ein Gef\u00fchl der Lust (oder ein Aufheben des Unlustgef\u00fchls) w\u00e4re .... Im Hunger z. B. gilt der Trieb vor allen Dingen der Nahrung selbst, nicht dem Gef\u00fchl der Lust beim Verzehren der Nahrung.\u201c * 2) Hier wird also deutlich genug gesagt, dafs der Gegenstand des Triebes ein \u00e4ufseres Objekt sei, der Mangel an \u00dcbereinstimmung zwischen diesen Auffassungen ist jedoch ein rein anscheinender, indem der erstere der genannten Forscher von dem Zweck des Triebes, letzterer von dem Gegenstand der Triebbewegung redet, und eine scharfe Sonderung dieser Verh\u00e4ltnisse ist daher notwendig.\n182.\tDie Ursache des Triebes, das erste Glied des Prozesses, der mit der Triebbewegung abschliefst, ist ein Gef\u00fchl, eine betonte Vorstellung. Diese erzeugt die ebenfalls gef\u00fchlsbetonte Vorstellung von dem Gegenst\u00e4nde des Triebes, d. h. dem \u00e4ufseren Objekte oder Verh\u00e4ltnisse, das nach fr\u00fcheren Erfahrungen des Individuums zum Entfernen oder Festhalten des urspr\u00fcnglichen Gef\u00fchls dienen kann. Mit der Vorstellung vom Gegenstand des Triebes sind aber, gleichfalls fr\u00fcherer Erfahrungen wegen, gewisse Bewegungsvorstellungen associiert, die, indem sie nun\n!) Lehrbuch der Psychologie. K\u00f6then 1885. Bd. II. S. 397.\n2) Psychologie in Umrissen. S. 410\u2014411.","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nreproduziert werden, die entsprechende \u00e4ufsere Bewegung unmittelbar hervorrufen. Alle diese verschiedenen Gef\u00fchle und Vorstellungen treten im allgemeinen jedoch nicht als getrennte Zust\u00e4nde im Bewufstsein des Individuums auf; je h\u00e4utiger der Trieb sich geltend gemacht und sich durch Bewegungen Ausdruck gegeben hat, um so mehr verschmelzen dieselben. Nach hinl\u00e4nglich h\u00e4utiger Wiederholung wird es geschehen k\u00f6nnen, dafs das urspr\u00fcngliche Gef\u00fchl, die Ursache des Triebes, die Bewegung direkt ausl\u00f6st, ohne dafs die Vorstellung vom Gegenst\u00e4nde des Triebes zur Geltung kommt; die Bewegung ist dann instinktiv geworden oder hat wenigstens das Gepr\u00e4ge des Instinktes erhalten. Denn die Eigent\u00fcmlichkeit des Instinktes besteht gerade darin, dafs ein Gef\u00fchl eine Bewegung hervorruft, deren Zweck das Individuum nicht kennt. Es m\u00f6ge dem Individuum nun aber klar stehen oder auch nicht, dafs etwas durch die Bewegung zu erreichen sei, so erh\u00e4lt diese unter allen Umst\u00e4nden ihre Bedeutung f\u00fcr das Individuum dadurch, dafs sie die Ursache des Triebes entfernt. Solange dieses Gef\u00fchl unver\u00e4ndert besteht, mufs der Trieb als Gesamtheit sich fortw\u00e4hrend geltend machen und sich in Bewegung Ausschlag geben. Solange der Hungrige nicht anf\u00e4ngt, sich satt zu f\u00fchlen, solange wird er fortw\u00e4hrend nach der Nahrung greifen. Der Trieb h\u00f6rt erst auf, wenn er befriedigt ist, d. h. wenn eine bestimmte Modifikation des urspr\u00fcnglichen Gef\u00fchls vorgegangen ist. Diese Ver\u00e4nderung hervorzurufen, die urspr\u00fcngliche Unlust zu entfernen oder die sinkende Lust festzuhalten, mufs deshalb der eigentliche Zweck des Triebes genannt werden, auch wenn das Individuum, wie es wohl h\u00e4ufig der Fall sein mag, sich dieses Zweckes gar nicht klar bewufst ist.\n183. Die Sache stellt sich nun also auf folgende Weise. Wir sahen, dafs jeder Affekt nicht nur von Bewegungen der unwillk\u00fcrlichen Muskeln, sondern auch von sowohl bestimmt als unbestimmt gerichteten Bewegungen der willk\u00fcrlichen Muskeln begleitet wird. Die unbestimmt gerichteten Bewegungen verm\u00f6gen wir leicht als durch Irradiation der urspr\u00fcnglichen Bewegung im Sensorium nach den motorischen Zentren entstanden zu erkl\u00e4ren. Die bestimmt gerichteten Bewegungen setzen dagegen etwas voraus, das die Lichtung der Bewegung bestimmt. Wird die Richtung durch einen mehr zusammengesetzten Bewufstseinszustand bestimmt, der wenigstens die","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"Affekt, Trieb, Instinkt.\n139\nVorstellungen von einem \u00e4ufseren Objekt oder Verh\u00e4ltnisse und von einer auf dasselbe gerichteten Bewegung enth\u00e4lt, so heifst die Bewegung triebm\u00e4fsig. Ist dieser Bewufstseinszustand zwar urspr\u00fcnglich vorhanden gewesen, wegen h\u00e4ufiger Wiederholung der Bewegung aber \u00fcberfl\u00fcssig geworden, indem die Bewegung von dem urspr\u00fcnglichen Gef\u00fchle mehr oder weniger unmittelbar ausgel\u00f6st wird, so heifst die Bewegung.instinktiv. Es gibt also gar keine bestimmt gerichteten Bewegungen der willk\u00fcrlichen Muskeln, die in demselben Sinne wie die unbestimmt gerichteten unmittelbare Gef\u00fchlsbewegungen zu nennen w\u00e4ren. Und unser Resultat wird also :\n184.\tGef\u00fchls- oder Affekt\u00e4ufserungen sind teils Bewegungen der unwillk\u00fcrlichen Muskeln, teils unbestimmt gerichtete Bewegungen der ivillk\u00fcrlichen Muskeln.\n185.\tTrieb- und Instinktbewegungen dagegen sind stets Bewegungen der willk\u00fcrlichen Muskeln, auf ein bestimmtes \u00e4ufseres Objekt oder Verh\u00e4ltnis gerichtet. Ihr Zweck ist das Festhalten des urspr\u00fcnglichen Gef\u00fchls, wenn dieses Lust ist, dessen Entfernung, wenn es Unlust ist.\n186.\tMittels dieser Bestimmungen, die jedenfalls was die Trieb- und Instinktbewegungen betrifft, mit der gew\u00f6hnlichen psychologischen Auffassung \u00fcbereinstimmen m\u00f6chten, wird es nicht schwer sein, in jedem einzelnen Falle zu entscheiden, ob eine Bewegung als Affekt\u00e4ufserung oder als Triebbewegung aufzufassen sei. Nur ist hierbei zu erinnern, dafs h\u00e4ufig der eigene Organismus des Individuums das Objekt werden kann, auf welches sich die Triebbewegung richtet. Hat man z. B. lange in gebeugter Stellung gesessen, so \u201ef\u00fchlt man das Bed\u00fcrfnis\u201c, die Beine und den R\u00fccken zu strecken; hier ist der Trieb offenbar auf das Herbeif\u00fchren einer bestimmten Stellung des K\u00f6rpers, also auf ein \u00e4ufseres Verh\u00e4ltnis gerichtet, und dieses wird nur durch bestimmt gerichtete Bewegungen erreicht. Diese erf\u00fcllen also alle Bedingungen, um triebm\u00e4fsig heifsen zu k\u00f6nnen, und als solche werden sie wohl auch stets betrachtet werden. Aber ebensowenig, wie es nun im allgemeinen schwer zu entscheiden sein wird, ob eine gewisse Bewegung unter die eine oder die andere Gruppe zur\u00fcckzuf\u00fchren sei, ebenso schwierig wird es sein, einen bestimmten Gef\u00fchlszustand als Affekt oder als Trieb zu kennzeichnen. Aufser den eigentlichen Gef\u00fchls-\u00e4ufserungen wird n\u00e4mlich eine betonte Vorstellung, wie wir oben","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nsahen [180] ? meistens auch bestimmt gerichtete Bewegungen der Muskeln des Antlitzes oder der Glieder, die mimischen und pantomimischen Bewegungen, hervorrufen, und diese sind unseren Bestimmungen gem\u00e4fs als triebm\u00e4fsige oder instinktive aufzufassen. Durch einige wenige Beispiele l\u00e4fst es sich auch leicht nach-weisen, dafs eine solche Auffassung berechtigt ist.\n187.\tWenn man bei einem h\u00e4fslichen Anblick voll Abscheu den Kopf abkehrt und die H\u00e4nde vorstreckt, so sind diese Bewegungen leicht als instinktive zu verstehen, indem sie auf den Zweck gerichtet sind, durch Vermeidung des Anblicks und durch Beseitigung der \u00e4ufseren Ursache das Gef\u00fchl zu entfernen. Wenn der Fr\u00f6hliche \u201edas Bed\u00fcrfnis f\u00fchlt\u201c, sich zu bewegen und zu sprechen, so sind diese Bewegungen ebenfalls als W illens-\u00e4ufserungen aufzufassen, die darauf ausgehen, der vermehrten Muskelkraft und Vorstellungsmasse Abflufs zu verschaffen. Der Zornige, der die F\u00e4uste ballt, aufschreit und dreinschl\u00e4gt, und der Erwartungsvolle, der rastlos und unruhig hin und her wandert, bieten Beispiele in derselben Richtung dar; die pantomimischen Bewegungen sind Trieb- oder Instinkt\u00e4ufserungen, die im ersteren Falle darauf gerichtet sind, die Ursache des Zornes zu vernichten, im letzteren die durch die motorischen Ver\u00e4nderungen hervorgerufenen Organgef\u00fchle zu entfernen suchen. Es w\u00fcrde uns indes zu weit von der Sache ablenken, wollten wir noch mehr Beispiele aufz\u00e4hlen, wir werden aber in einem folgenden Abschnitte mit R\u00fccksicht auf eine Reihe von Affekten die wichtigsten \u00e4ufseren Bewegungen durchgehen, welche dieselben begleiten, und es wird sich dann erweisen, dafs alle sowohl mimischen als pantomimischen Bewegungen am nat\u00fcrlichsten als Trieb- oder Instinktbewegungen aufzufassen sind. Und da nun \u00fcberhaupt wohl kaum ein ausgespr\u00e4gter Gef\u00fchlszustand existiert, der sich nicht wenigstens im Antlitze seinen charakteristischen Ausdruck g\u00e4be, so wird das Resultat also, dafs jeder Affekt zugleich Trieb ist, insofern er n\u00e4mlich Trieb\u00e4ufserungen ver-anlafst.\n188.\tAnderseits erh\u00e4lt offenbar auch Wundt recht in der oben citierten Aufserung, dafs jeder Trieb zugleich Affekt sei. Der Trieb wird n\u00e4mlich, wie erw\u00e4hnt, durch ein Gef\u00fchl eingeleitet , und dieses wird schwerlich unterlassen k\u00f6nnen, sich zum Teil in solchen k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen Ausschlag zu geben, welche als eigentliche Affekt\u00e4ufserungen zu bezeichnen","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"Affekt, Trieb, Instinkt.\n141\nsind. Meistens wird es daher unm\u00f6glich zu entscheiden, ob ein gegebener Zustand Affekt oder Trieb zu nennen sei. Betrachtet man z. B. denjenigen, der in berechtigtem Zorne wegen einer grundlosen Beschuldigung auf den Beleidiger losgeht und die zugef\u00fcgte Kr\u00e4nkung durch einen wohlgezielten Schlag r\u00e4cht, so wird man dem vorliegenden psychophysischen Zustand ebensowohl den einen als den anderen Namen geben k\u00f6nnen. Affekt ist derselbe, insofern alle charakteristischen \u00c4ufserungen des Zornes vorhanden sind ; Trieb, insofern der Gef\u00fchlszustand von Bewegungen begleitet wird, die entschieden auf ein \u00e4ufseres Objekt gerichtet sind. Und ebenso in anderen F\u00e4llen. Es d\u00fcrfte \u00fcberhaupt sehr zweifelhaft sein, ob bei einem entwickelten Individuum jemals reine Affekte und Triebe Vorkommen, ganz einfach weil hier jede betonte Vorstellung aufser eigentlichen Gef\u00fchlsbewegungen mit Hilfe fr\u00fcherer Erfahrungen zugleich Vorstellungen erweckt, welche die Richtungen der Bewegungen auf ein \u00e4ufseres Objekt oder Verh\u00e4ltnis, das zum Festhalten oder Aufheben des Gef\u00fchlszustandes dienen kann, n\u00e4her bestimmen. Das Resultat dieser Betrachtungen ivird also :\n189.\tBeine Affekte, Triebe und Instinkte kommen sicherlich nicht vor. Jeder Affekt ist zugleich Trieb (Instinkt) und umgekehrt, indem jedes Gef\u00fchl gew\u00f6hnlich sowohl eigentliche Gef\u00fchls \u00e4ufserungen als trieb- und instinktm\u00e4fsige Bewegungen hervorruft.\n190.\tNoch eine Eigent\u00fcmlichkeit des Verh\u00e4ltnisses zwischen Affekt und Trieb (Instinkt) verdient n\u00e4her ber\u00fchrt zu werden. Die Erfahrung scheint zu zeigen, dafs je mehr ein Gef\u00fchlszustand sich in allen solchen k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen, welche wir eigentliche Affekt\u00e4ufserungen nannten, Ausschlag gibt, um so weniger treten die triebm\u00e4fsigen Bewegungen hervor, und umgekehrt. Gew\u00f6hnlich wird das Verh\u00e4ltnis so sein, dafs der Zustand im ersten Augenblick des Aufbrausens zun\u00e4chst Affekt ist; erst wenn das Individuum etwas zur Ruhe gekommen ist, werden diejenigen Bewegungen ausgel\u00f6st, welche zum Festhalten oder Aufheben des Gef\u00fchls dienen. Es besteht also ein wirklich gegens\u00e4tzliches Verh\u00e4ltnis zwischen den Affekt- und den Trieb-\u00e4ufserungen; ihre Energien w\u00e4hrend einer Gem\u00fctsbewegung sind unter sonst gleichen Verh\u00e4ltnissen indirekt proportionale Gr\u00f6fsen. Letzterem Umstand ist es wahrscheinlich zu verdanken, dafs wir im t\u00e4glichen Leben selten Zweifel hegen, ob ein Zustand Affekt oder Trieb (Handlung) zu nennen sei, da bald der eine,","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nbald der andere Ausschlag des Gef\u00fchls der vorherrschende ist. Es l\u00e4fst sich deshalb nicht im allgemeinen sagen, dafs starke Gef\u00fchle starke Willens\u00e4ufserungen erzeugten. Dieser Satz hat seine relative Berechtigung, weil starke Affekt\u00e4ufserungen gew\u00f6hnlich allerdings anzeigen werden, dafs das Nervensystem die zur Leistung kr\u00e4ftiger Willens\u00e4ufserungen erforderliche Energie besitzt. Damit aber sogenannte Willens\u00e4ufserungen entstehen sollen, ist es, wie wir sahen, notwendig, dafs das Gef\u00fchl einen die Richtung der Bewegung bestimmenden Vorstellungskomplex reproduzieren kann; bleiben diese Vorstellungen aus, so kommt das Individuum nicht \u00fcber das blofse Aufbrausen des Gef\u00fchls hinaus. Wenn P\u00e4dagogen die Sache oft so auffassen, dafs das Gef\u00fchlsleben entwickelt werden m\u00fcsse, um thatkr\u00e4ftige Individuen zu erzeugen, so m\u00f6chte dies ein verh\u00e4ngnisvolles Mifsverst\u00e4ndnis des Verh\u00e4ltnisses zwischen den Gef\u00fchlen und den Willens\u00e4ufserungen sein. \u2014 Das Resultat dieser Betrachtungen wird also in K\u00fcrze :\n191.\tW\u00e4hrend eines Gef\u00fchlszustandes zeigen sich die Willens\u00e4ufserungen oft als den Gef\u00fchls \u00e4ufs er ungen entgegengesetzt, d. h. die Energie der Willens\u00e4ufserungen ist gew\u00f6hnlich der Energie der gleichzeitigen Affekt\u00e4ufs er ungen indirekt proportional.\n192.\tEndlich folgt als Konsequenz der ganzen hier dargestellten Auffassung, dafs wahrscheinlich diejenigen Psychologen recht haben, welche die Gef\u00fchls\u00e4ufserungen als das Urspr\u00fcngliche und die Triebbewegungen als aus diesen abgeleitet betrachten. Der Umstand, dafs eine betonte Vorstellung von verschiedenen k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen begleitet wird, bedarf n\u00e4mlich keiner besonderen Erkl\u00e4rung; es liegt in der Natur des Nervensystems, Bewegungen fortzupflanzen, und die durch einen \u00e4ufseren Reiz hervorgerufene Bewegung mufs sich daher vom Sensorium aus nach allen Seiten verbreiten und durch Innervations\u00e4nderungen der motorischen Zentren rings herum im Organismus St\u00f6rungen verursachen. Bei jedem mit einem Nervensystem ausger\u00fcsteten Wesen kann man daher solche Gef\u00fchls\u00e4ufserungen zu finden erwarten, die wir also als die urspr\u00fcnglichsten Bewegungsformen anzunehmen haben. Und es l\u00e4fst sich nun leicht erkl\u00e4ren, wie aus solchen unbestimmt gerichteten Bewegungen der willk\u00fcrlichen Muskeln, welche die Gef\u00fchle begleiten, bestimmt gerichtete Trieb- und Instinktbewegungen entstehen k\u00f6nnen. Wenn die unbestimmten Gef\u00fchlsbewegungen n\u00e4mlich zuf\u00e4lligerweise das","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"Ursprung der Willens\u00e4ufserungen aus den Affekt\u00e4ufserungen. 143\nIndividuum einmal in derartige Beziehung mit einem \u00e4ufseren Objekt bringen, dafs hieraus eine besondere Befriedigung entsteht, indem ein weichendes Lustgef\u00fchl festgehalten oder ein Unlustgef\u00fchl entfernt wird, so wird sich die Aufmerksamkeit auf dieses Objekt und die die Beziehung bewerkstelligenden Bewegungen richten, und die Vorstellungen hiervon werden sich mit dem Vorstellungsinhalte des Gef\u00fchls assoeiieren. Das n\u00e4chste Mal, wenn dieser Gef\u00fchlszustand sich meldet, wird er die Vorstellungen reproduzieren k\u00f6nnen, und somit ist die M\u00f6glichkeit einer bestimmt gerichteten Bewegung gegeben; der Affekt ist also Trieb geworden. Hiernach ist es ziemlich wahrscheinlich, dafs das Verh\u00e4ltnis zwischen den Gef\u00fchls\u00e4ufserungen und den Trieben gerade das Umgekehrte von dem ist, was Darwin mut-mafste. Dieser fafste, wie erw\u00e4hnt, die meisten der k\u00f6rperlichen \u00c4ufserungen der Affekte als urspr\u00fcngliche Willens\u00e4ufserungen auf, w\u00e4hrend man mit gr\u00f6fserem Rechte das Verh\u00e4ltnis umkehren und sagen kann, dafs alle sogenannten Willens\u00e4ufserungen aus urspr\u00fcnglich unbestimmt gerichteten Gef\u00fchlsbewegungen entsprungen sind. Dies schliefst nat\u00fcrlich nicht aus, dafs Darwin zum Teil recht hat. Auch die mimischen und pantomimischen Bewegungen, die die konstanten Begleiter der Affekte sind, haben sich urspr\u00fcnglich gewifs als Trieb\u00e4ufserungen aus unbestimmt ; gerichteten Gef\u00fchls\u00e4ufserungen entwickelt, aber sp\u00e4terhin haben sie durch best\u00e4ndige Wiederholung das Gepr\u00e4ge des Instinktes j angenommen, und was Darwin vor Augen hat, ist ausschliefslich dieser letzte Teil des Entwickelungsprozesses.\nHypothese yoii der Natur des Gef\u00fchls.\nDie Bedeutung der Gef\u00fchlst\u00f6ne.\n193. Auf Grundlage vorstehender Untersuchungen mufs es nun m\u00f6glich sein, von der Natur der Gef\u00fchle eine allgemeine Hypothese aufzustellen. Wir suchten im Vorhergehenden \u2014 soweit die gegenw\u00e4rtige Entwickelungsstufe der Wissenschaft dies gestattet \u2014 das fundamentale Verh\u00e4ltnis des Gef\u00fchls teils zu den Vorstellungen, teils zu den verschiedenen Formen k\u00f6rperlicher Ver\u00e4nderungen zu bestimmen. Unsere Aufgabe w\u00e4re nun die, auf Grundlage der gewonnenen Ergebnisse eine Hypothese","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\n\u00dcber die Natur der G-ef\u00fchle.\nvon der psychophysischen Th\u00e4tigkeit aufzustellen, die sich in der Erzeugung der Gef\u00fchlst\u00f6ne Lust und Unlust \u00e4ufsert. In der eigenen Sache der Natur liegt es, dafs die Beantwortung dieser Aufgabe nur eine h\u00f6chst unvollkommne werden kann. Noch heutzutage wissen wir fast nichts \u00fcber die zentralen Nerven-prozesse, von denen unsere Bewufstseinszust\u00e4nde zun\u00e4chst abh\u00e4ngig sind, und alle Hypothesen von der Natur der einzelnen Bewufstseinselemente und den diesen zu Grunde liegenden Th\u00e4tigkeiten m\u00fcssen daher entweder ziemlich gehaltlos oder unerlaublich weitschwebend werden. Es hat indes sein Interesse, zu sehen, was wir aus dem wenigen uns Bekannten um einen gegebenen Zeitpunkt zu schliefsen verm\u00f6gen, und dieser Versuch ist es, den wir hier anstellen wollen, indem wir uns m\u00f6glichst eng an die vorliegenden Thatsachen halten.\n194.\tRichten wir unsere Aufmerksamkeit nun zuv\u00f6rderst auf die Thatsache, dafs die Gef\u00fchlst\u00f6ne unaufl\u00f6slich und unmittelbar an intellektuelle Elemente gebunden sind, so lernen wir hieraus, dafs die Gef\u00fchlsbetonung mit zentralen Nerven-prozessen in enger Beziehung steht. Da Lust und Unlust n\u00e4mlich nur in Verbindung mit Empfindungen und Vorstellungen Vorkommen, so mufs also in allen den F\u00e4llen, wo ein Gef\u00fchl entstehen soll, einer der \u00fcbrigens unbekannten Prozesse im Zentralnervensystem Vorgehen, die, wie man gew\u00f6hnlich annimmt, die n\u00e4chste Ursache eines intellektuellen Zustandes sind. Und da die Gef\u00fchlst\u00f6ne unmittelbar, ohne zwischenliegenden Zeitraum, mit den intellektuellen Elementen verbunden sind, so scheint hieraus zu folgen, dafs eine Empfindung und deren Gef\u00fchlston ihr Entstehen keinen successiven Prozessen zu verdanken haben. Wie dies die M\u00f6glichkeit ausschliefst, dafs der Gef\u00fchlston eine Summe von Organempfindungen w\u00e4re, wurde schon oben [157\u2014164] ausf\u00fchrlich nachgewiesen* hier er\u00fcbrigt nur, die M\u00f6glichkeit der h\u00e4ufig angenommenen Hypothese zu untersuchen, der Gef\u00fchlston sei eine psychische Reaktion auf die Vorstellungen.\n195.\tDieser Satz l\u00e4fst sich auf zwei verschiedene Weisen auffassen. Entweder kann man sich denken, der Gef\u00fchlston r\u00fchre von einem neuen psychophysischen Prozesse her, der durch die Bewegung im Sensorium, an welche die Vorstellungen gebunden sind, hervorgerufen w\u00fcrde, oder auch kann man sich denselben als das Ergebnis einer rein psychischen, von allen materiellen","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"Verh\u00e4ltnis der G-ef\u00fchlst\u00f6ne zum Vorstellungsprozesse.\n145\nVorg\u00e4ngen unabh\u00e4ngigen Th\u00e4tigkeit denken, die durch die Vorstellung in der \u201eSeelett eingeleitet werde. Gegen die erstere dieser Auffassungen l\u00e4fst sich schwerlich etwas einwenden. Nur mufs der psychophysische Prozefs, dessen psychisches Resultat der Gef\u00fchlston ist, so eng mit dem Vorstellungsprozesse verbunden sein und in einem so fr\u00fchzeitigen Stadium des letzteren eingeleitet werden, dafs die Vorstellung schon betont im Bewufstsein auftauchen kann. Mit diesem Vorbehalt gibt es meines Erachtens keine einzige Thatsache, welche die M\u00f6glichkeit ausschl\u00f6sse, dafs die Vorstellungen und die Gef\u00fchlst\u00f6ne von verschiedenen psychophysischen Prozessen herr\u00fchren k\u00f6nnten. Darum ist es nat\u00fcrlich doch nicht gegeben, dafs das Verh\u00e4ltnis wirklich so w\u00e4re-, es stellt sich ebensowenig irgend etwas der Annahme entgegen, dafs die Vorstellung und ihre Betonung von einem und demselben Prozesse herr\u00fchren, und wie wir sp\u00e4ter sehen werden, hat diese Auffassung die \u00fcberwiegende Wahrscheinlichkeit f\u00fcr sich. Vorl\u00e4ufig m\u00fcssen aber beide genannte Annahmen als M\u00f6glichkeiten dahingestellt bleiben.\n196. Anders stellt sich die Sache mit der letzteren der beiden obengenannten Auffassungen : der Gef\u00fchlston sei eine von allen materiellen Bewegungen unabh\u00e4ngige, durch die Vorstellung eingeleitete Seelenth\u00e4tigkeit. Entst\u00fcnde der Gef\u00fchlston durch einen solchen Prozefs, so m\u00fcfste er notwendigerweise nach der Vorstellung hinterher kommen, was thats\u00e4chlich nicht geschieht, und somit scheint die ganze Auffassung unhaltbar. Es mufs indes zugegeben werden, dafs die Sache hiermit nicht entschieden ist; denn kann man sich eine rein psychische Th\u00e4tigkeit denken, die nicht das Geringste mit gleichzeitigen Prozessen im Gehirn zu schaffen hat, so k\u00f6nnte man sich diese psychische Th\u00e4tigkeit wohl auch dergestalt von der Zeit unabh\u00e4ngig denken, dafs sie, obschon durch die Vorstellung eingeleitet, in demselben Nu, da sie anfinge, beendigt w\u00e4re. Oder mit anderen Worten: \u201eDie Seele\u201c als etwas, das von allen k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen unabh\u00e4ngig w\u00e4re, ist ein so unbestimmter Begriff, dafs sich wider eine auf dieser Grundlage aufgebaute Erkl\u00e4rung schwerlich argumentieren l\u00e4fst. Da es nun aber an und f\u00fcr sich h\u00f6chst unwahrscheinlich ist, dafs derartige unabh\u00e4ngige psychische Th\u00e4tigkeiten Vorkommen sollten, bleibt nur die doppelte M\u00f6glichkeit zur\u00fcck:\nLehmann, Die Gef\u00fchle.\n10","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\n197.\tDie emotionellen Elemente, die Gef\u00fchlst\u00f6ne, entstehen\nentweder durch die Bewegung im Zentralorgan,\twelcher die\nintellektuellen Zust\u00e4nde, die Empfindungen und Vorstellungen herr\u00fchren , oder auch durch einen mit derselben gleichzeitigen psychophysischen Prozefs.\n198.\tWir werfen jetzt den Blick auf das zweite Hauptergebnis unserer fr\u00fcheren Untersuchungen: dafs jeder Gef\u00fchlszustand von k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen begleitet wird. Und unter diesen Ver\u00e4nderungen sind es vorz\u00fcglich wieder die bestimmt gerichteten Bewegungen der willk\u00fcrlichen Muskeln, die Trieb- und Instinkt\u00e4ufserungen, die uns hier interessieren, weil diese zu einer n\u00e4heren Bestimmung der Bedingungen f\u00fchren, unter welchen Lust bezw. Unlust entstehen wird. Wir sahen n\u00e4mlich, dafs jedes Gef\u00fchl ein Eingreifen in die Aufsenwelt herbeif\u00fchren wird zu dem Zwecke, das Gef\u00fchl festzuhalten, wenn dieses Lust ist, es zu entfernen, wenn es Unlust ist \u2014 sofern die Bewegung denn nicht durch andere gleichzeitige Gef\u00fchlszust\u00e4nde gehemmt wird. Hieraus hat man schliefsen zu k\u00f6nnen gemeint, das Lusterregende m\u00fcsse n\u00fctzlich, das Unlusterregende sch\u00e4dlich sein, oder n\u00e4her bestimmt : das Lusterregende m\u00fcsse in \u00dcbereinstimmung, das Unlusterregende in Streit mit den seelisch - k\u00f6rperlichen Lebensbedingungen des Subjektes stehen. Denn n\u00e4hme man das Gegenteil an, n\u00e4hme man an, dafs das Lusterregende dem Individuum sch\u00e4dlich, das Unlusterregende ihm n\u00fctzlich sei, so w\u00fcrden wir thats\u00e4chlich stets an unserem eigenen Untergang arbeiten, indem wir dann suchen w\u00fcrden, das Sch\u00e4dliche festzuhalten und das N\u00fctzliche zu entfernen. Ein derartiges Wesen w\u00fcrde offenbar gar nicht existieren k\u00f6nnen, und deshalb sei diese Annahme zu verwerfen. Durch diese Betrachtung, die h\u00e4ufig mit fast den n\u00e4mlichen Worten bei vielen modernen Verfassern wiederkehrt, ist nun allerdings dargethan, dafs das Lusterregende unm\u00f6glich sch\u00e4dlich und das Unlusterregende ebensowenig n\u00fctzlich sein kann. Damit ist nat\u00fcrlich aber keineswegs dargethan \u2014 was die meisten jedoch zu glauben geneigt scheinen \u2014 dafs das Lusterregende notwendigerweise n\u00fctzlich, das Unlusterregende sch\u00e4dlich sein m\u00fcsse. Zwei andere F\u00e4lle sind noch m\u00f6glich, und diese m\u00fcssen erst ausgeschlossen werden, ehe sieh ein solcher Schlufs ziehen l\u00e4fst. Man k\u00f6nnte sich ja entweder denken, das Lust- und Unlusterregende sei weder n\u00fctzlich noch sch\u00e4dlich, mit anderen Worten","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"Verh\u00e4ltnis der Gef\u00fchlst\u00f6ne zum Wohl u. Wehe des Organismus. 147\nalso durchaus indifferent hinsichtlich der seelisch - k\u00f6rperlichen Lebensbedingungen des Subjektes. Oder auch k\u00f6nnte man annehmen , das Lust- und Unlusterregende sei bald n\u00fctzlich, bald sch\u00e4dlich, so zwar, dafs die n\u00fctzlichen Wirkungen des Lusterregenden, die sch\u00e4dlichen des Unlust erregenden das \u00dcbergewicht h\u00e4tten, und das Streben des Subjektes, das Lusterregende festzuhalten und das Unlusterregende zu entfernen, im ganzen doch gr\u00f6fseren Nutzen als Schaden br\u00e4chte. \u2014 Beide diese M\u00f6glichkeiten m\u00fcssen, wie gesagt, erst ausgeschlossen werden, und wir betrachten daher jede f\u00fcr sich.\n199. Was nun erstens die M\u00f6glichkeit betrifft, das Lust-und Unlusterregende sollte das seelisch-k\u00f6rperliche Leben weder f\u00f6rdern noch hemmen k\u00f6nnen, so ist diese wahrscheinlich rein a priori abzuweisen. Denn alles, was Lust oder Unlust erregt, steht ja gerade f\u00fcr das Subjekt als etwas da, das im innigsten Sinne dieses selbst betrifft, f\u00fcr dasselbe Bedeutung hat, und erweist sich also direkt als nicht - indifferent. Alle Erfahrungen sind denn auch f\u00fcr die Richtigkeit dieser Betrachtung. Die an einfache Sinnesempfindungen gebundenen Gef\u00fchle zeigen uns, dafs Unlust stets durch Eindr\u00fccke entsteht, welche die organischen Gewebe stark angreifen, w\u00e4hrend Lust durch Eindr\u00fccke entsteht, welche die Empf\u00e4nglichkeit der Organe nicht \u00fcberschreiten1). Hier steht also das Gef\u00fchl der Unlust unzweideutig als Anzeichen eines Streites zwischen den k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen und den Lebensbedingungen des Organismus, und h\u00f6chstens k\u00f6nnte deshalb davon die Rede sein, dafs das Lusterregende ohne Bedeutung f\u00fcr das Wohl des psychophysischen Organismus sei. Diese M\u00f6glichkeit ist jedoch abzuweisen, weil wir wissen, dafs jedes Organ sich dadurch entwickelt, dafs es ohne \u00dcberanstrengung gebraucht wird. Durch \u00dcbung wird unsere sinnliche Wahrnehmung sch\u00e4rfer und zuverl\u00e4ssiger, und da nun, wie wir sahen, mit der normalen Th\u00e4tigkeit der Sinnesapparate Lust verbunden ist, so erweist das Lusterregende sich also als entwickelnd, mithin n\u00fctzlich. \u00dcberdies wissen wir ja, dafs alle betonten Empfindungen von bestimmten Ver\u00e4nderungen des Organismus begleitet werden, und diese Ver\u00e4nderungen selbst k\u00f6nnen kaum ganz ohne Bedeutung\n9 Dies wird eingehend nachgewiesen in Grant Allen: Physiological aesthetics. 1877. S. 6\u201427.\n10*","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nsein. Die Gef\u00e4fserweiterung und die Vergr\u00f6fserung des Umfanges der Herzbewegungen, die wir bei den meisten Lustzust\u00e4nden an treffen, f\u00fchren einen lebhafteren Kreislauf des Blutes herbei; hieraus folgt wieder ein rascherer Stoffwechsel und bessere Ern\u00e4hrung der Gewebe, Ver\u00e4nderungen also, die als dem Organismus direkt n\u00fctzlich zu betrachten sind. Und da der k\u00f6rperliche Ausschlag der Unlustzust\u00e4nde in allem Wesentlichen das Gegenst\u00fcck von dem der Lustzust\u00e4nde ist, mufs wohl zun\u00e4chst angenommen werden, dafs er dem Organismus sch\u00e4dlich ist. Hiergegen liefse sich einwenden, es sei nat\u00fcrlicher, die w\u00e4hrend der Unlustzust\u00e4nde wahrgenommenen Ver\u00e4nderungen als eine Reaktion aufzufassen, mittels deren der Organismus dem sch\u00e4dlichen Einfl\u00fcsse der urspr\u00fcnglichen Reizung entgegenwirkte. Ein\u00e9 solche Betrachtung hat unbestreitbar vieles f\u00fcr sich, es mufs dann aber auch zugegeben werden, dafs der Organismus gar nicht dazu gekommen wr\u00e4re, auf diese Weise zu reagieren, wenn kein sch\u00e4dliches Eingreifen stattgefunden h\u00e4tte, dem entgegenzuwirken w\u00e4re. Also: man m\u00f6ge die k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen w\u00e4hrend der Unlustzust\u00e4nde als direkt sch\u00e4dlich betrachten oder dieselben als eine dem sch\u00e4dlichen Eindruck entgegenwirkende Reaktion auffassen, so ist es in beiden F\u00e4llen gegeben, dafs der unlusterregende Eindruck als sch\u00e4dlich zu betrachten ist. Da nun auch an die sogenannten h\u00f6heren Gef\u00fchle, bei denen der \u00e4ufsere Eindruck von untergeordneter Bedeutung ist, entsprechende k\u00f6rperliche Ver\u00e4nderungen gebunden sind, so m\u00fcssen diese Betrachtungen auch f\u00fcr sie gelten. Das Resultat wird also :\n200.\tDie Erfahrung lehrt, dafs das Lust- und Unlusterregende f\u00fcr das Wohl des psychophysischen Organismus nicht ohne Bedeutung ist, dafs das Verh\u00e4ltnis aber durchweg so ist, dafs das Lusterregende das Wohl des k\u00f6rperlich-seelischen Organismus f\u00f6rdert, das Unlusterregende dasselbe hemmt.\n201.\tDie M\u00f6glichkeit, das Lust- und Unlust erregende sei indifferent, ohne Bedeutung f\u00fcr die Lebensbedingungen des Subjektes, ist somit ausgeschlossen, zur\u00fcck bleibt aber noch die letztere der obengenannten M\u00f6glichkeiten, da diese ja nur durchweg \u00dcbereinstimmung oder Streit mit den psychophysischen Lebensbedingungen fordert. Wir haben die M\u00f6glichkeit noch nicht von uns gewiesen, dafs etwas von dem, was Lust erregt, sch\u00e4dlich, und umgekehrt, etwas Unlusterregendes n\u00fctzlich sein k\u00f6nnte. Nur so viel steht fest [198], dafs diese F\u00e4lle in der","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"Verh\u00e4ltnis der Gef\u00fchlst\u00f6ne zum Wohl u. Wehe des Organismus. 149\nMinderzahl sein m\u00fcssen. Es wird nun auch nicht schwer halten, Thatsachen nachzuweisen, die scheinbar wenigstens dieser An-n\u00e4hme das Wort reden. So ist es wohlbekannt, dafs es zahlreiche Giftstoffe, z. B. Bleizucker, Amygdalin, Cyankalium u. s. w. gibt, die einen recht angenehmen Geschmack haben, nichtsdestoweniger aber in h\u00f6chstem Grade sch\u00e4dlich sind. Und umgekehrt gibt es viele Arzneimittel von unbestritten wohlth\u00e4tiger Wirkung, die sehr unangenehm schmecken. An Analoga aus den Gebieten der \u201eh\u00f6heren\u201c Gef\u00fchle ist auch kein Mangel. Viele Menschen finden grofses Wohlgefallen daran, sich ihren Phantasien zu \u00fcberlassen, \u201eLuftschl\u00f6sser zu bauen\u201c, die jedoch fortw\u00e4hrend T\u00e4uschungen herbeif\u00fchren, das Individuum der wirklichen Welt entfremden und mithin die Energie im Kampf ums Dasein schw\u00e4chen. Umgekehrt kann eine ernstliche R\u00fcge \u00e4ufserst unangenehm und doch sehr n\u00fctzlich sein. Es gibt also Thatsachen in Menge, die f\u00fcr die Annahme zu reden scheinen, das N\u00fctzliche k\u00f6nne unangenehm, das Sch\u00e4dliche angenehm sein, sieht man aber n\u00e4her nach, so zeigt es sich jedoch, dafs das Verh\u00e4ltnis ein ganz anderes ist. Denn das Lustgef\u00fchl, das z. B. mit dem Geschmack eines Giftstoffes verbunden ist, hat mit den sp\u00e4ter ein tretenden sch\u00e4dlichen Wirkungen offenbar nicht im geringsten zu schaffen. Die inneren organischen Destruktionen, welche das Gift hervorrufen wird, wenn es Zeit zum Wirken bekommt, werden ebenfalls bestimmte Empfindungen erzeugen, und letztere sind sicherlich nichts weniger als angenehm. Betrachtet man das Lustgef\u00fchl beim Geschmack als mit den nachfolgenden sch\u00e4dlichen Wirkungen verkn\u00fcpft, so begeht man offenbar denselben Fehler, auf den wir oben [50\u201457] aufmerksam machten: dafs Empfindungen und Gef\u00fchlsbetonungen, die durch einen k\u00fcrzeren oder l\u00e4ngeren Zeitraum getrennt sind, als zusammengeh\u00f6rend betrachtet werden. Der rechte Zusammenhang der Sache ist in dem hier besprochenen Falle so einfach, dafs er kaum n\u00e4heren Nachweises bedarf. Durch die erste Einwirkung des Giftstoffes auf den Organismus (die ApplikationsWirkung) wird eine Sinnesempfindung hervorgerufen, die wie jede andere normale Th\u00e4tigkeit eines Sinnesorgans von Lust begleitet ist; durch die sp\u00e4teren Destruktionen der organischen Gewebe, die das Gift durch seine Aufnahme in das Blut erzeugt (die Intoxikationswirkung), entsteht eine Reihe schmerzhafter Organempfindungen. In einem anderen, ganz analogen Falle ist das","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"150\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\nVerh\u00e4ltnis noch durchschaulicher. Trinkt man an einem heifsen Sommertage ein Glas eiskalten Wassers, so wird die unmittelbare Wirkung, ein Stillen des Durstes, unzweifelhaft sowohl angenehm als n\u00fctzlich sein. Dafs aber das eiskalte Wasser im erhitzten Organismus als Gift wirkt und einen bedeutenden Darmkatarrh herbeif\u00fchrt, das hat mit dem urspr\u00fcnglichen Lustgef\u00fchl augenscheinlich nichts zu thun. Und wie in diesen, so in allen anderen F\u00e4llen. Dafs der unangenehme Geschmack eines Arzneimittels mit dessen n\u00fctzlichen Wirkungen nicht das Geringste zu schaffen hat, geht doch deutlich genug aus der Thatsache hervor, dafs man den Geschmack ganz eliminieren kann, ohne der beabsichtigten Wirkungen verlustig zu gehen, indem man entweder einen wohlschmeckenden Stoff hinzusetzt oder die Arznei die Geschmacksorgane in einer H\u00fclse passieren l\u00e4fst, die sich erst im Ged\u00e4rme aufl\u00f6st. Freilich sind alle diese Beispiele dem Gebiete der am wenigsten komplizierten Gef\u00fchle entnommen, das Verh\u00e4ltnis ist sonst aber \u00fcberall das n\u00e4mliche. Eine R\u00fcge, die dem Bewufstsein die Unrichtigkeit einer Handlung klarstellt, mufs im gegebenen Augenblick und solange die Erinnerung an sie noch vorhanden ist, auf das gesamte Seelenleben nat\u00fcrlich niederdr\u00fcckend, hemmend wirken, und deshalb erregt sie Unlust ; die Erfahrung lehrt leiderdessen aber, dafs zwischen der urspr\u00fcnglichen Unlust und den beabsichtigten n\u00fctzlichen Wirkungen keine unaufl\u00f6sliche Beziehung stattfindet. Alle Erfahrungen scheinen also darauf hinzudeuten, dafs alles, was Lust oder Unlust erregt, das Wohl des psychophysischen Organismus f\u00f6rdert oder hemmt, zwar nur, solange es wirklich mit der einen oder der anderen dieser Gef\u00fchlsbetonungen auftritt. Es ist nur die momentane Bedeutung des Eindrucks f\u00fcr die seelischk\u00f6rperlichen Lebensbedingungen des Subjektes, die als Lust oder Unlust zum Bewufstsein kommt; das Gef\u00fchl kann, um einen treffenden Ausdruck Grant Aliens zu gebrauchen, nicht weissagen; es sagt uns nichts dar\u00fcber, was sp\u00e4ter stattfinden wird1). Das Resultat unserer Untersuchungen \u00fcber die Entstehung des Gef\u00fchls wird also dieses :\n* \u2022\n202. Lust entsteht durch \u00dcbereinstimmung, Unlust durch einen Streit entweder zwischen den in einem gegebenen Moment durch \u00e4ufseren Beiz hervor gerufenen f\u00f6rderlichen Ver\u00e4nderungen\n0 Physiological aesthetics. S. 26.","page":150},{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"Verh\u00e4ltnis der Gef\u00fchlst\u00f6ne zum Wohl u. Wehe des Organismus. 151\nund den Lebensbedingungen des Organismus, oder zwischen den intellektuellen Zust\u00e4nden und den Bedingungen des Bewufstseins-\nlebens.\n203. In diesem Satz ist noch nichts Hypothetisches, indem nur ausgesprochen wird, dafs wir von den n\u00e4chsten Ursachen der Gef\u00fchlst\u00f6ne nichts wissen, und was die fernerliegenden Ursachen betrifft, ist nur hervorgehoben, was alle Erfahrungen uns sagen. Anderseits ist der Satz aber allerdings auch so schwebend, dafs man mit Recht den Einwurf machen k\u00f6nnte, mangelhaftes Verst\u00e4ndnis sei durch Worte vertuscht. Denn was will, n\u00e4her besehen, das heifsen, dafs eine \u00dcbereinstimmung oder ein Streit zwischen gegebenen Eindr\u00fccken und den psychophysischen Lebensbedingungen als Gef\u00fchl zum Bewufstsein kommt? Solange man nicht auf irgend eine Weise veran-\nschaulichen kann, was im Organismus stattfindet, wenn z. B. ein\n'\t\u00ab \u2022\nEindruck mit den physischen Bedingungen in \u00dcbereinstimmung ist, bleibt das Verh\u00e4ltnis ja noch ganz dunkel; jedenfalls l\u00e4fst\nI sich nicht sagen, dafs ein eigentliches Verst\u00e4ndnis erreicht w\u00e4re. Etwas mufs ja im Organismus geschehen, und dieses Etwas ist wahrscheinlich das v\u00f6llige Gegenst\u00fcck von dem, was geschieht, wenn ein Eindruck das organische Leben hemmt; was ist es aber, das in den beiden F\u00e4llen geschieht? Und wie erreichen diese unbekannten Prozesse das Bewufstsein? Es leuchtet ein, dafs sich \u00fcber diese Verh\u00e4ltnisse auf der gegenw\u00e4rtigen Stufe der Wissenschaft nur Hypothesen aufstellen lassen und weiter nichts; es leuchtet aber ebenfalls ein, dafs, wenn wir nicht wenigstens eine m\u00f6gliche Hypothese aufstellen k\u00f6nnen, so geht uns in der That alles Verst\u00e4ndnis ab. Sich dadurch \u00fcber die Schwierigkeit hinweg zu helfen, dafs man das Gef\u00fchl f\u00fcr ein Verm\u00f6gen erkl\u00e4rt, die Beziehung der Vorstellungen zu den seelischk\u00f6rperlichen Zust\u00e4nden zu sch\u00e4tzen, hilft augenscheinlich nichts, denn dann mufs man ja fragen, wie eine solche Sch\u00e4tzung zu st\u00e4nde kommt. Und hierauf ist noch keine Antwort gegeben; die Sache ist ein reines R\u00e4tsel. Wir werden deshalb nun im Folgenden untersuchen, ob sich eine eingermafsen wahrscheinliche Hypothese von der Beschaffenheit derjenigen Prozesse aufstellen l\u00e4fst, deren letztes Resultat wir als die Zust\u00e4nde Lust und Unlust aus unserem Bewufstsein kennen.","page":151},{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\nDie physiologischen Bedingungen f\u00fcr das Entstehen der\nGef\u00fchlst\u00f6ne.\n204. Wir liefsen es oben als durchaus unbestimmt dahin-\n\u2022 \u2022\ngestellt bleiben, ob die \u00dcbereinstimmung oder der Streit, deren psychisches Anzeichen die Gef\u00fchlst\u00f6ne sind, auf physischem oder auf psychischem Gebiete stattfinde. Hiermit soll jedoch nicht gesagt sein, dafs wir von diesem Verh\u00e4ltnisse gar nichts wissen. Wir haben schon gesehen [199], dafs mit Bezug auf alle Sinnesempfindungen triftiger Grund f\u00fcr die Annahme vorliegt, dafs die dieselben begleitenden Lust- oder Unlustgef\u00fchle dem Verh\u00e4ltnisse der organischen Ver\u00e4nderungen zu den physischen Lebensbedingungen zu verdanken sind. Ist eine Empfindung von Unlust begleitet, so l\u00e4fst sich sicherlich stets eine partielle Destruktion der peripherischen Organe oder eine \u00dcberreizung der Nervenleitungen nachweisen, in allen F\u00e4llen also Ver\u00e4nderungen, die den physischen Lebensbedingungen widerstreiten ; Lust begleitet die Empfindung nur dann, wenn das Sinnesorgan nicht \u00fcberangestrengt wird. Es kann also kaum Zweifel unter-worfen sein, dafs es in einigen F\u00e4llen physische Verh\u00e4ltnisse sind, die sich als Lust oder Unlust in unserem Bewufstsein melden; dagegen wissen wir nicht, ob das, worum es sich dreht, stets physische Verh\u00e4ltnisse sind. R\u00fccksichtlich der mehr komplizierten Gef\u00fchle, bei denen die \u00e4ufseren Eindr\u00fccke von verh\u00e4ltnism\u00e4fsig untergeordneter Bedeutung sind, liefse sich wohl denken, dafs es die normale oder die abnorm starke Reizung des Zentralorgans sei, die als Lust oder Unlust zum Bewufstsein k\u00e4me, es w\u00e4re ja aber auch wohl denkbar, dafs es sich hier um rein psychische Verh\u00e4ltnisse drehte, um \u00dcbereinstimmung oder Streit zwischen den Vorstellungen und den psychischen Lebensbedingungen des Subjektes. Da dies nicht vonvornherein zu entscheiden war, liefsen wir die Frage bisher offen stehen; da wir nun aber suchen sollen, zum Verst\u00e4ndnis des Entstehens der Lust und Unlust zu kommen, mufs es untersucht werden, welche der genannten M\u00f6glichkeiten die Wahrscheinlichkeit f\u00fcr sich hat. Eine Entscheidung hier\u00fcber setzt indes voraus, dafs wir uns eine einigermafsen begr\u00fcndete Vorstellung von dem zu bilden verm\u00f6gen, was im Organismus geschieht, wenn ein Gef\u00fchl durch \u00e4ufseren Eindruck erweckt wird. Denn ist dieser Prozefs derartiger Beschaffenheit, dafs man annehmen darf, derselbe","page":152},{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"Verscliiedene Ansichten.\n153\nverlaufe auch in den F\u00e4llen, in welchen die \u00e4ufseren Eindr\u00fccke von keiner wesentlichen Bedeutung f\u00fcr das Gef\u00fchl sind, so liegt offenbar kein Grund f\u00fcr die Annahme eines besonderen Ursprungs der \u201eh\u00f6heren\u201c Gef\u00fchle vor; widrigenfalls wird man wahrscheinlich gezwungen werden, den Ursprung dieser Gef\u00fchle in psychischen Verh\u00e4ltnissen zu suchen. Unsere erste Aufgabe mufs es also werden, zu untersuchen, worauf die N\u00fctzlichkeit oder Sch\u00e4dlichkeit eines Eindrucks f\u00fcr den Organismus beruht, oder mit anderen Worten, welche Ver\u00e4nderungen in diesen F\u00e4llen annehmbar stattfinden.\n205.\tEs sind vorz\u00fcglich die j\u00fcngeren englischen Psychologen, die sich mit diesem Problem besch\u00e4ftigt haben. Bei Hamilton und Bain findet man folgende Erkl\u00e4rung: \u201eStates of pleasure are concomitant with an increase, and states of pain with an abatement, of some, or all, of the vital functions.\u201c1) Dieser Satz ist indes \u00e4ufserst unbestimmt, denn was ist eigentlich unter einer \u201eErh\u00f6hung oder Schw\u00e4chung der Lebensth\u00e4tigkeiten\u201c zu verstehen? Wird weiter nichts hiermit gemeint, als die \u00e4ufseren Ursachen seien beziehungsweise n\u00fctzlich oder sch\u00e4dlich, so ist der Satz aufser allen Zweifel gestellt, da er dann ein reiner Erfahrungssatz ist [202\u2014203] ; er sagt dann aber auch nicht das Geringste dar\u00fcber aus, was eigentlich im Organismus geschieht. Will man dagegen etwas mehr in denselben hineinlegen, so wird er sogleich zweideutig, indem zwei durchaus verschiedene Auffassungen m\u00f6glich sind. Entweder ist der Satz ganz buchst\u00e4blich zu nehmen, und dann bedeutet Erh\u00f6hung der Lebensth\u00e4tigkeit eine Vermehrung der ausgef\u00fchrten Arbeit, eine gr\u00f6fsere Anwendung oder Entfaltung der Kraft, wodurch die \u00fcbrigbleibende potenzielle Energie also vermindert wird. Oder auch kann man sich unter Erh\u00f6hung, der Th\u00e4tigkeit eine Vermehrung der Arbeit denken, die geleistet werden kann, eine wirkliche Vermehrung also der vorhandenen potenziellen Energie. Der Satz ist thats\u00e4chlich auf beide Weisen aufgefafst worden, und beide Auffassungen sind auf gewichtige Einw\u00fcrfe gestofsen.\n206.\tH\u00e4lt man erstere Anschauung fest, so kommt man, wie Dumont richtig bemerkt, zu dem an und f\u00fcr sich sonderbaren Pesultate, dafs Lust durch eine Verminderung, Unlust dagegen durch eine Vermehrung der Spannkraft des Organismus\n1) Bain: The senses and the intellect. 1868. S. 283.","page":153},{"file":"p0154.txt","language":"de","ocr_de":"154\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nentst\u00fcnde1). Dies widerspricht denn auch der Erfahrung insofern, als eine Kraftentfaltung \u00fcber gewisse Grenzen hinaus zweifelsohne Unlust herbeif\u00fchrt, und Dumont h\u00e4lt deshalb die letztere Deutung der Ham il to n-B ai n sehen Theorie f\u00fcr die richtige. \u201eNicht in der Verausgabung der Kraft erblicken wir die Bedingungen des Vergn\u00fcgens, sondern vielmehr in dem Empfange derselben.\u201c2) Hiergegen f\u00fchrt Grant Allen treffend an: \u201eIf Pleasures were the psychical concomitants of an increase of some of the vital functions, then our two greatest if not our only Pleasures ought to be digestion, and repose after exertion.\u201c3 4) Dies ist eine unzweifelhaft richtige Betrachtung, denn da alle sinnliche Wahrnehmung mit Sicherheit und alle zusammengesetzte Vorstellungs-th\u00e4tigkeit wahrscheinlich von physiologischen Prozessen abh\u00e4ngig ist, welche die Spannkr\u00e4fte der Nervensystems verbrauchen, so ist es nicht leicht einzusehen, wie der Hypothese Dumonts gem\u00e4fs mit irgend etwas anderem als der Verdauung und der Ruhe Lust verbunden sein kann. Nichtsdestoweniger f\u00fchrt der Verfasser seine Hypothese weiter und baut auf derselben eine ganze systematische Einteilung der Gef\u00fchle auf. Dies wird aber nur mit Hilfe von Postulaten m\u00f6glich, die, wenn sie sich gleich nicht widerlegen lassen, doch im allerh\u00f6chsten Grade die Wahrscheinlichkeit wider sich haben. So sagt Dumont z. B. : \u201eJede Wahrnehmung ist eine dem Nervensystem durch einen \u00e4ufseren Gegenstand mitgeteilte Bewegung. Sie ist folglich eine Vermehrung von Kraft, die eine Lust verursacht, indem sie sich dem Gehirn mitteilt.u 4). Beim ersten Anblick sieht dieser Satz vielleicht ganz unschuldig aus, es verbirgt sich unter demselben aber gewifs ein ernstlicher Irrtum. Denn es l\u00e4fst sich zwar nicht bestreiten, dafs jede Reizung eines Sinnesorgans dem Nervensystem eine gewisse Energie zuf\u00fchrt, die einen Nervenstrom ausl\u00f6st, aber diese zugef\u00fchrte Energiemenge mufs in den meisten F\u00e4llen im Vergleich mit dem dadurch verursachten Verbrauch angeh\u00e4ufter Spannkr\u00e4fte durchaus verschwindend sein. Dumont macht sich augenscheinlich des Fehlers schuldig, dafs er das Nervensystem als eine unorganische Leitung betrachtet, die gleichg\u00fcltig und unth\u00e4tig einen Strom durch sich laufen l\u00e4fst.\n1)\tVergn\u00fcgen und Schmerz. 1876. S. 82.\n2)\tA. a. 0.\n8) Phys. aesthetics. S. 20.\n4) Vergn\u00fcgen und Schmerz. S. 82.","page":154},{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"Abh\u00e4ngigkeit der Gef\u00fchlst\u00f6ne von der Ern\u00e4hrungsth\u00e4tigkeit. J55\nWenn es sich wirklich so verhielte, dann w\u00fcrde es richtig sein, zu sagen, alle sinnliche Wahrnehmung komme durch Zufuhr von Energie nach dem Zentralorgane zu st\u00e4nde. Die Thatsache m\u00f6chte nun die sein, dafs sinnliche Wahrnehmung nur auf Kosten der im Nervensystem liegenden Spannkr\u00e4fte zu st\u00e4nde kommt, die allein durch die von aufsen her zugef\u00fchrte Energie ausgel\u00f6st, in Bewegungsenergie umgesetzt werden. Und schliefst man die Rechnung \u00fcber Soll und Haben der Energie ah, so wird diese in den allermeisten F\u00e4llen, wo nicht stets, ein bedeutendes Minus erweisen; es wird weit mehr verbraucht als zugef\u00fchrt. Dumonts Hypothese ist also durchaus unhaltbar; dieselbe geht von ganz falschen Voraussetzungen \u00fcber die Natur des Nervensystems aus.\n207. Wir haben nun gesehen, dafs keine der beiden genannten Auffassungen m\u00f6glich ist. Man kann das Lustgef\u00fchl nicht als die Folge eines reellen Verlustes an Spannkr\u00e4ften des Organismus, auch nicht als die Folge einer absoluten Vermehrung von dessen Energie erkl\u00e4ren. Denn eine wirkliche Vermehrung findet wahrscheinlich nur w\u00e4hrend der Verdauung und der Ruhe statt; in allen anderen F\u00e4llen ist Lust mit einem Verlust an Energie verbunden. Aber nicht jeder Verlust an Energie f\u00fchrt Lust herbei; wird derselbe zu grofs, so entsteht Unlust. Beide Auffassungen leiden jedoch auch an dem gemeinschaftlichen Mangel, dafs sie nur die eine Seite der Th\u00e4tigkeit, die w\u00e4hrend des Arbeite ns der Organe in diesen vorgeht, die Ausl\u00f6sung und den Umsatz der Spannkr\u00e4fte n\u00e4mlich, ber\u00fccksichtigen ; sie vergessen den anderen, ebenso wichtigen Umstand, die fortw\u00e4hrende Erneuerung durch die Ern\u00e4hrungsth\u00e4tigkeit. Wird diese mit in Betracht gezogen, so l\u00e4fst sich eine recht wahrscheinliche Hypothese von dem Verh\u00e4ltnis aufstellen. W\u00e4hrend der Th\u00e4tigkeit eines Organs wird Energie fortw\u00e4hrend verbraucht und zugef\u00fchrt werden. Nun ist es einleuchtend, dafs' die betreffende Arbeit, wenn der Verbrauch die Zufuhr nicht \u00fcbersteigt, dem\nOrgane n\u00fctzlich sein wird, indem dieses sich der Erfahrung\n\u2022 #\ngem\u00e4fs im Laufe der Zeit durch Gebrauch ohne Uberanstregung, d. h. ohne Ersch\u00f6pfung seines Vorrats an Spannkraft, entwickelt. \u00dcberschreitet der Verbrauch dagegen die Zufuhr, so wird die Arbeitsf\u00e4higkeit des Organs allm\u00e4hlich ersch\u00f6pft, und das Organ leidet darunter. Dasselbe findet wahrscheinlich auch im Laufe der Zeit statt, wenn ein Organ gar zu lange in Unth\u00e4tigkeit","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"156\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\ngehalten wird, indem die normale Ern\u00e4hrung dann dadurch gehemmt wird, dafs kein Verbrauch eintritt. Nun wissen wir aber, dafs das N\u00fctzliche Lust, das Sch\u00e4dliche Unlust erregt. Wir k\u00f6nnen deshalb als eine in hohem Grade wahrscheinliche Hypothese aufstellen:\n208.\tLust ist die psychische Folge davon, dafs ein Organ w\u00e4hrend seiner Arbeit Jeeine gr\u00f6fsere Energiemenge verbraucht, als die Ern\u00e4hrung sth\u00e4tig Jceit ersetzen Jcann: Unlust dagegen ist die psychische Folge jedes Mifsverh\u00e4ltnisses zwischen Verbrauch und Ern\u00e4hrung, indem dieselbe entsteht, sowohl wenn der Verbrauch an Energie die Zufuhr \u00fcberschreitet, als auch wenn die Zufuhr wegen Unth\u00e4tigJceit des Organs das Maximum, das aufgenommen werden Jcann, \u00fcberscJireitet.\nIn den Hauptz\u00fcgen wenigstens ist diese Hypothese schon von Grant Allen aufgestellt worden, der dieselbe so formuliert: \u201ePleasure is the concomitant of the healthy action of any or all of the organs or membres supplied with afferent cerebro - spinal nerves, to an extent not exceeding the ordinary powers of reparation possessed by the system.\u201c *)\n209.\tUm einem naheliegenden Mifsverst\u00e4ndnisse vorzubeugen, m\u00fcssen wir doch noch einen Augenblick bei der Hypothese von der Natur der Gef\u00fchle verweilen, zu welcher unsere Betrachtungen uns f\u00fchrten. Man k\u00f6nnte wider dieselbe einwenden, sie widerstreite anscheinend unseren eigenen Voraussetzungen. Wir behaupteten, die Gef\u00fchlst\u00f6ne Lust und Unlust seien neue psychische Elemente, die sich nicht aus Empfindungen ableiten liefsen, und wir wiesen speziell nach, dafs man die Gef\u00fchlst\u00f6ne nicht als eine Summe von Organempfindungen auffassen kann [164]. Einer oberfl\u00e4chlichen Betrachtung k\u00f6nnte es nun scheinen, als w\u00fcrden einer solchen Auffassung in der hier aufgestellten Hypothese dennoch Zugest\u00e4ndnisse gemacht. Denn wenn Lust und Unlust als psychische Wirkungen der Ern\u00e4hrungsverh\u00e4ltnisse der Organe betrachtet werden, scheint der Unterschied zwischen den emotionellen Zust\u00e4nden und den Organempfindungen durchaus verschwindend zu sein. Dies w\u00fcrde indes ein v\u00f6lliges Mifs-verst\u00e4ndnis der Hypothese sein. Zwischen einer Empfindung, sie sei nun eine Sinnes- oder eine Organempfindung, und einem Gef\u00fchlstone besteht fortw\u00e4hrend der grofse Unterschied, dafs\ni) Angef. Werk. S. 21.","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"Einwirkung des Energieumsatzes auf das Bewufstsein.\n157\nerstere wesentlich durch die Natur des Eindrucks und des betreffenden Sinnesorgans bestimmt wird, w\u00e4hrend letzterer von diesen beiden Faktoren fast unabh\u00e4ngig ist und nur durch das Verh\u00e4ltnis zwischen der im arbeitenden Organe verbrauchten und der demselben zugef\u00fchrten Energie bestimmt wird. Eben deswegen sind die Empfindungen ebenso verschieden und mannigfaltig wie die Eindr\u00fccke und die Sinnesorgane, w\u00e4hrend die Gef\u00fchlst\u00f6ne nur den einen Gegensatz, Lust und Unlust, darbieten, der dadurch bestimmt ist, ob die Spannkr\u00e4fte der Organe w\u00e4hrend der Arbeit unterhalten oder verbraucht werden. Die Frage ist jetzt nur die, wie man sich das eigentlich zu denken hat, dafs die Energieums\u00e4tze, die w\u00e4hrend einer \u00e4ufseren Reizung im Sinnesorgan, in der Nervenleitung und dem Zentralorgan Vorgehen, psychisch als ein Gef\u00fchlston auftreten k\u00f6nnen.\n210. Es liegt in der Natur der Sache selbst, dafs wir weiter nichts als nur rein willk\u00fcrliche Mutmafsungen hier\u00fcber aufstellen k\u00f6nnen, da wir \u00fcberhaupt nicht wissen, was ein psychophysischer Prozefs ist, oder mit anderen Worten, wie Bewufstseinszust\u00e4nde entstehen. Da aber unser gesamter psychophysischer Organismus doch als eine ungeheuer komplizierte Maschine betrachtet werden kann, die u. a. die Erzeugung von Bewufstseinszust\u00e4nden leistet, ebensowie eine physische Maschine, z. B. ein Kran, die Hebung einer Last leistet, so l\u00e4fst sich aus dieser Analogie doch eine nicht gar zu unwahrscheinliche Annahme von der Entstehung der Gef\u00fchlst\u00f6ne ableiten. Nehmen wir, um einen Anhaltspunkt zu haben, an, dafs die Arbeit im Krane durch eine Zahnradverbindung von dem Angriffspunkte der Kraft nach dem der Last \u00fcbertragen wird. Solange die Maschine nun nicht \u00fcberangestrengt wird, solange man nicht verlangt, dafs sie gr\u00f6fsere Lasten heben soll, als das ganze arbeitende System auszuhalten vermag, wird jede Last gleich -m\u00e4fsig und ruhig gehoben werden, unter der Voraussetzung, dafs die Kraft gleichf\u00f6rmig und regelm\u00e4fsig wirkt. Ganz anders stellt sich dagegen die Sache, wenn man die Maschine eine gr\u00f6fsere Last nehmen l\u00e4fst, als ihre Einrichtung gestattet. Es werden dann an den schw\u00e4chsten Punkten allerw\u00e4rts Besch\u00e4digungen entstehen; einzelne Z\u00e4hne zerbrechen vielleicht, andere biegen sich; das ganze tragende System kr\u00fcmmt sich, so dafs die Zahnr\u00e4der aus ihrer gegenseitigen Stellung verschoben werden. Auch wenn nun die Kraft gleichf\u00f6rmig und regelm\u00e4fsig","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nUber die Natur der Gef\u00fchle.\nwirkt, wird die Bewegung der Last doch h\u00f6chst unregelm\u00e4fsig werden, indem jedesmal St\u00f6fse und Ersch\u00fctterungen in der Maschine stattfinden, wenn ein Eingreifen der nicht mehr zusammenpassenden Teile vorgeht.\n211.\tIn Analogie hiermit k\u00f6nnen wir nun das Entstehen der Gef\u00fchlst\u00f6ne leicht verstehen. Der Hebung der Last entspricht die Produktion der Vorstellungen; der Weise, wie die Hebung vorgeht, entspricht die Gef\u00fchlsbetonung. Solange der psychophysische Organismus nicht \u00fcberangestrengt wird, geht die Erzeugung der Vorstellungen leicht und sanft vor, und diese Leichtigkeit der Produktion tritt psychisch als die Betonung Lust auf. Werden dagegen gr\u00f6fsere Forderungen an das arbeitende System gestellt, als dasselbe erf\u00fcllen kann, so entstehen ebensowie in der physischen Maschine St\u00f6fse und Ersch\u00fctterungen, die psychisch als die Betonung Unlust auftreten. Es ist also v\u00f6llige \u00dcbereinstimmung vorhanden, und es scheint in der gegebenen Erkl\u00e4rung nichts Widersinniges zu liegen. Unser Organismus mufs als rein physischer Apparat doch zweifelsohne denselben Bedingungen unterworfen sein wie eine von Menschenhand hervorgebrachte Maschine; er kann nur eine begrenzte Arbeit leisten, ohne zum Teil darunter zu leiden. Und wegen des engen Zusammenhanges zwischen dem Psychischen und dem K\u00f6rperlichen sind wir zu der Annahme gezwungen, dafs die gr\u00f6fsere oder geringere Leichtigkeit, mit welcher die Arbeit geleistet wird, sich eine psychische Spur hinterlassen mufs. Das einzige Hypothetische dieser Betrachtung liegt also in der Annahme, dafs die psychische Spur die Gef\u00fchlst\u00f6ne Lust und Unlust sind; es ist aber nicht leicht zu ersehen, f\u00fcr was man dieselben sonst ansehen sollte.1)\n212.\tDurch die hier dargestellte Anschauung von der Entstehung der Gef\u00fchlst\u00f6ne haben wir, wie leicht zu sehen ist, auch eine andere Frage entschieden. Es blieb oben [197] als eine doppelte M\u00f6glichkeit dahingestellt, dafs die Gef\u00fchlst\u00f6ne entweder von eben dem Prozesse, mit welchem die Vorstellungen verbunden sind, oder auch von einem anderen, gleichzeitigen herr\u00fchren k\u00f6nnten. Wir haben keine Thatsachen, die uns zw\u00e4ngen, die eine dieser M\u00f6glichkeiten der anderen vorzuziehen, gibt man\nb Bei fr\u00fcherer Gelegenheit habe ich in anderem Zusammenh\u00e4nge diese Auffassung angedeutet, vgl. Wundt: Phil. Studien. Bd. VII. S. 183.","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"Erweiterung der Hypothese.\n159\naber die Wahrscheinlichkeit der soeben dargestellten Erkl\u00e4rung zu, so ist damit auch die Wahl unter den beiden M\u00f6glichkeiten entschieden. Sind die Gef\u00fchlst\u00f6ne nur die psychischen Ausdr\u00fccke der Weise, wie der Vorstellungsprozefs verl\u00e4uft, so ist damit gegeben, dafs man keinen neuen psychophysischen Prozefs zur Erzeugung dieser Zust\u00e4nde anzunehmen braucht. Dieses Resultat scheint unserer Auffassung besondere Best\u00e4tigung zu verleihen, da es damit stimmt, dafs es den Physiologen bislang nicht m\u00f6glich gewesen ist, ein spezielles Zentrum der Gef\u00fchlst\u00f6ne im Gehirn nachzuweisen.\n213. Nachdem wir nun die Hypothese so weit durchgef\u00fchrt\nhaben, wie dies irgend thunlich war, kehren wir zu der oben [204]\naufgestellten Frage zur\u00fcck : Sind es auch in den komplizierteren\nGef\u00fchlen, bei denen \u00e4ufsere Eindr\u00fccke von verh\u00e4ltnism\u00e4fsig\nuntergeordneter Bedeutung sind, die normale Arbeit und die\n\u00dcberanstrengung des Zentralorgans, die als Lust oder Unlust\nzum Bewufstsein kommen, oder dreht es sich hier um rein\n\u2022 \u2022\npsychische Verh\u00e4ltnisse, um \u00dcbereinstimmung oder Streit zwischen den Vorstellungen und den psychischen Lebensbedingungen des Subjekts? Da die Gef\u00fchlst\u00f6ne nach unserer Hypothese von dem Ursprung der primitiven Gef\u00fchle an physische Prozesse gebunden sind, welche annehmbar in jedem arbeitenden Organ verlaufen, so stellt sich einer analogen Auffassung der komplizierteren Gef\u00fchle offenbar nichts entgegen. Selbst wenn eine Erinnerung Kummer oder Freude in uns erweckt, m\u00fcssen wir annehmen, dafs im Zentralorgan etwas vorgeht, und im Verh\u00e4ltnisse zwischen dem Verbrauch und der Zufuhr von Energie w\u00e4hrend dieses psychophysischen Prozesses k\u00f6nnte man ja, ebensowie bei den einfachen F\u00e4llen, die physische Ursache der emotionellen Zust\u00e4nde suchen. Eine nicht geringe St\u00fctze wird diese Annahme an der Thatsache haben, dafs Organgef\u00fchle einen nicht unwesentlichen, integrierenden Teil aller \u201eh\u00f6heren\u201c Gef\u00fchle betragen. Und da man unserer Hypothese zufolge annehmen mufs, dafs die Organgef\u00fchle von physischen Ursachen herr\u00fchren, so bleibt bei den komplizierten Gef\u00fchlen jedenfalls nur ein gewisser \u201eRest\u201c zur\u00fcck, der nicht von physischen Verh\u00e4ltnissen herr\u00fchren sollte. Nun wird es aber, streng genommen, unwissenschaftlich sein, f\u00fcr diese Reste ein besonderes Kausalverh\u00e4ltnis aufzustellen, solange kein Hindernis besteht, dieselben auf die n\u00e4mliche Weise wie alle anderen emotionellen Zust\u00e4nde aufzufassen. Es k\u00f6nnte daher","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"160\n\u00dcber die Natur der Gef\u00fchle.\nv\u00f6llig berechtigt scheinen, die Hypothese von der Entstehung der Gef\u00fchlst\u00f6ne [208] so zu erweitern, dafs sie, unabh\u00e4ngig von der gr\u00f6fseren oder geringeren Kompliziertheit des Vorstellungsinhalts f\u00fcr alle Lust und Unlust g\u00fcltig w\u00fcrde. Das Resultat w\u00e4re dann dieses :\n214.\tEs ist anzunehmen, dafs Lust und Unlust in allen F\u00e4llen die psychischen Resultate des Verh\u00e4ltnisses zwischen dem im gegebenen Augenblick von dem arbeitenden System erforderten Energieverbrauch und der Energiezufuhr durch die Ern\u00e4hrungs-th\u00e4tigkeit sind [208].\n215.\tEs m\u00f6chte nun \u00fcbrigens die grofse Frage sein, ob durch die Aufstellung einer solchen Hypothese f\u00fcr die praktische Forschung Erhebliches gewonnen ist. Wir wissen doch, sobald wir uns auf das Gebiet der komplizierteren Gef\u00fchle begeben, nicht das Geringste davon, was in den einzelnen F\u00e4llen im Zentralorgan geschieht, wogegen wir den psychischen Zustand selbst gew\u00f6hnlich ganz gut darlegen k\u00f6nnen. Beim Studium | des Gef\u00fchlslebens wird man daher noch auf lange Zeiten gezwungen sein, sich an die Selbstbeobachtung zu halten; sobald ' man sich mit den n\u00e4heren und n\u00e4chsten physischen Ursachen der Gef\u00fchle einl\u00e4fst, kann man nur erreichen, dafs man sich in weitschwebenden Mutmafsungen verliert, wovon das hier citierte, an vielen Punkten interessante Werk Grant Aliens ein Beispiel geben d\u00fcrfte. Es ist leicht zu sehen, dafs wir in manchen F\u00e4llen viel weiter kommen und ein klareres Verst\u00e4ndnis der Verh\u00e4ltnisse gewinnen, wenn wir diese so nehmen, wie sie sich in unserem Bewufstsein zeigen, als wenn wir auf die physischen Ursachen zur\u00fcckgehen. Als eines unter vielen Beispielen k\u00f6nnen wir die logischen Gef\u00fchle nehmen. H\u00f6rt man einen unklaren Vortrag, bei welchem man trotz des besten Willens \u201eden Faden nicht festzuhalten\u201c vermag, weil der Redner seine Schlufsfolgerungen nicht ordentlich zurechtlegt, so f\u00fchlt man Unlust. Diese Unlust ist als eine nat\u00fcrliche Konsequenz davon zu verstehen, dafs der Vorstellungslauf dem Grundgesetz unseres Bewufstseins, dem Identit\u00e4tssatze widerstreitet, denn in einer Vorstellungsreihe den Faden nicht festhalten, den Sinn nicht finden zu k\u00f6nnen, bedeutet ja nur, dafs die Identit\u00e4t der einzelnen Glieder der Deduktion nicht durchschaulich ist. Solange wir uns also auf psychischem Gebiete halten, ist die Unlust verst\u00e4ndlich, n\u00e4mlich als Resultat eines Streites zwischen dem Vorstellungslauf und der Grund-","page":160},{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"Erweiterung der Hypothese.\n161\nbedingung unserer Erkenntnis. Gehen wir dagegen auf die hypothetischen physischen Ursachen des Gef\u00fchls zur\u00fcck, so verstehen wir dasselbe wohl nicht so leicht. Man kann nat\u00fcrlich sagen, in dem betreffenden Falle werde zum Aneinanderkn\u00fcpfen der einzelnen Gedanken gr\u00f6fsere Arbeit vom Zentralorgane verlangt, als dieses normal leisten k\u00f6nne, und dafs somit auch hier zu ersehen sei, die Unlust r\u00fchre von einem gr\u00f6fseren Energieverbrauche her, als die Ern\u00e4hrungsth\u00e4tigkeit ersetzen k\u00f6nne. Ist die Sache darum aber verst\u00e4ndlicher geworden? Hier\u00fcber wird sich in diesem und gewifs auch in den meisten anderen F\u00e4llen disputieren lassen. Wir werden deshalb im Folgenden die Hypothese ruhen lassen. Wie oben erw\u00e4hnt [203], ist sie nur aufgestellt, um anzudeuten, es lasse sich \u00fcberhaupt ein bestimmter Sinn mit den Worten verbinden, dafs die Gef\u00fchlst\u00f6ne die psychischen Resultate einer \u00dcbereinstimmung oder eines Streites zwischen einem organischen Prozefs und den Lebensbedingungen des Organismus seien. Hiermit m\u00f6chte ihre Rolle aber auch vorl\u00e4ufig ausgespielt sein ; praktische Bedeutung kann sie f\u00fcr den Augenblick nicht erhalten, da sie in gar zu hohem Grade einer erfahrungsm\u00e4fsigen Grundlage ermangelt. Bei unseren folgenden Untersuchungen halten wir uns daher aus-schliefslich an das Wenige, das sich mit Sicherheit \u00fcber die Natur und den Ursprung der Gef\u00fchlst\u00f6ne angeben l\u00e4fst [202]. Dafs ein solcher empirischer Standpunkt nicht unbedingt als ein unfruchtbarer zu bezeichnen ist, davon werden hoffentlich die Untersuchungen, zu denen wir jetzt \u00fcbergehen, gen\u00fcgendes Zeugnis ablegen, und \u00fcberdies m\u00fcssen diese Untersuchungen jedenfalls angestellt werden, ehe davon die Rede sein kann, die Tragweite der Hypothese an denselben zu pr\u00fcfen.\nLehmann, Die Gef\u00fchle.\n11","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"Die speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nEinleitung.\n216. Alle unsere vorigen Untersuchungen waren auf das Ziel gerichtet, das Verh\u00e4ltnis der Gef\u00fchlst\u00f6ne teils zu den Vorstellungen, teils zu den k\u00f6rperlichen Zust\u00e4nden, welche die Gef\u00fchlszust\u00e4nde unmittelbar oder mittelbar begleiten, zu bestimmen. Auf dieser Grundlage haben wir eine bestimmte Ansicht von der Natur und dem Ursprung der Gef\u00fchlst\u00f6ne aufgestellt ; wir d\u00fcrfen annehmen, dafs Lust und Unlust in allen F\u00e4llen die psychischen Resultate einer \u00dcbereinstimmung oder eines Streites zwischen der organischen Th\u00e4tigkeit in einem gegebenen Moment und den Lebensbedingungen des psychophysischen Organismus sind. Es erhebt sich nun ganz nat\u00fcrlich die Frage : wird das, was in einem gegebenen Augenblick dem Individuum n\u00fctzlich ist, dies auch stets sein, oder mit anderen Worten: wird sich in demselben Individuum stets der n\u00e4mliche Gef\u00fchlston mit gleichartigen Vorstellungen verbinden? Dafs sich in verschiedenen Individuen nicht immer der n\u00e4mliche Gef\u00fchlston mit einer gegebenen Vorstellung verbinden wird, ist leicht zu verstehen ; dies ist eine ganz einfache Konsequenz davon, dafs die psychophysischen Lebensbedingungen der einzelnen Individuen nicht genau dieselben sind. Wie stellt sich nun aber das Verh\u00e4ltnis mit Bezug auf das einzelne Individuum? Dieses ist, wie wir wissen, einer doppelten Reihe von Ver\u00e4nderungen unterworfen. Einerseits entwickelt sich fortw\u00e4hrend sowohl der Organismus als das Bewufstseinsleben, aber diese Ver\u00e4nderungen gehen gew\u00f6hnlich doch so langsam vor, dafs man innerhalb eines begrenzten, k\u00fcrzeren oder l\u00e4ngeren Zeitraumes die individuellen","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"Ver\u00e4nderungen des Gef\u00fchlslebens w\u00e4hrend Erkrankungen. 163\npsychophysischen Lebensbedingungen als eine konstante Gr\u00f6fse betrachten darf. Hieraus scheint folgen zu m\u00fcssen , dafs innerhalb eines solchen begrenzten Zeitraumes eine gegebene Vorstellung stets von demselben Gef\u00fchlstone begleitet sein mufs. Anderseits kann das Individuum Ver\u00e4nderungen meist vor\u00fcbergehender Natur von k\u00fcrzerer oder gr\u00f6fserer Dauer unterworfen sein , Krankheiten verschiedener Art, w\u00e4hrend welcher die Lebensbedingungen und das Arbeitsverm\u00f6gen des Organismus von den normalen Verh\u00e4ltnissen in hohem Grade abweichend sein k\u00f6nnen. Hier m\u00f6gen wir also eingreifende St\u00f6rungen des Gef\u00fchlslebens zu finden erwarten. \u2014 Wir betrachten nun jede der beiden Reihen von Ver\u00e4nderungen f\u00fcr sich.\n217. Was erstens die Ver\u00e4nderungen des Gef\u00fchlslebens w\u00e4hrend Erkrankungen betrifft, sind Beispiele in dieser Richtung bekannt genug. Ist irgend ein Organ, das Auge, das Ohr oder Teile der Hautoberfl\u00e4che krankhaft angegriffen, so kann sogar ged\u00e4mpftes Licht, ein schwacher Laut oder eine sanfte Ber\u00fchrung schmerzhaft sein. Dafs Kranke der Ruhe bed\u00fcrfen, kein Gespr\u00e4ch oder anderes Ger\u00e4usch in ihrer N\u00e4he ertragen k\u00f6nnen, will ja weiter nichts heifsen, als dafs solche Schalleindr\u00fccke, die einen gesunden Menschen durchaus nicht affizieren, f\u00fcr sie angreifend, unlusterregend sind. Selbst ein leichteres Unwohlsein ist oft von Widerwillen gegen Speise begleitet; bei dem Seekranken wird nicht nur der Geruch, sondern auch schon die blofse Vorstellung von Speise einen neuen Ausbruch herbeif\u00fchren k\u00f6nnen. Bekannt ist ferner, dafs Frauen w\u00e4hrend der Schwangerschaft sowohl in betreff der Nahrung als in anderen Richtungen h\u00f6chst abnorme Gel\u00fcste und Neigungen haben k\u00f6nnen. Obgleich die Schwangerschaft nicht eben eine Krankheit zu nennen ist, bewirkt sie doch eine so eingreifende Ver\u00e4nderung des Organismus, dafs verschiedenartige Modifikation der Gef\u00fchlszust\u00e4nde ganz nat\u00fcrlich wird. Endlich ist da die lange Reihe nerv\u00f6ser Krankheiten, bei welchen Affektausbr\u00fcche durch Eindr\u00fccke hervorgerufen werden k\u00f6nnen, die unter normalen Verh\u00e4ltnissen ganz andere oder jedenfalls viel schw\u00e4chere Gef\u00fchlszust\u00e4nde erzeugen w\u00fcrden. Als einzelnes Beispiel in dieser Richtung sind die sexualen Affekte zu nennen, die in gewissen F\u00e4llen der Nervenschw\u00e4chung durch ganz absurde \u00e4ufsere Veranlassungen hervorgerufen werden k\u00f6nnen [vgl. 356]. Es\nwird kaum notwendig sein, bei diesen Verh\u00e4ltnissen zu verweilen;\n11*","page":163},{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"164\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\ndie genannten Beispiele zeigen uns, was f\u00fcr uns hier von Belang ist: dafs krankhafte Ver\u00e4nderungen des Organismus wohl nicht Vorkommen k\u00f6nnen, ohne auf die durch bestimmte Eindr\u00fccke hervorgerufenen Gef\u00fchlszust\u00e4nde modifizierend einzuwirken. Da ein Verzeichnis dieser krankhaften Ver\u00e4nderungen des Gef\u00fchlslebens aber wohl ebenso lang werden w\u00fcrde wie die Liste der menschlichen Krankheiten, und da es nur in den wenigsten F\u00e4llen m\u00f6glich sein wird, den Kausalzusammenhang zwischen den Krankheitserscheinungen und den durch dieselben ver-anlafsten Modifikationen des Gef\u00fchlslebens nachzuweisen, wird es vorl\u00e4ufig wahrscheinlich vergeblich sein, sich auf eine n\u00e4here Untersuchung dieser Verh\u00e4ltnisse einzulassen. Wir halten uns im Folgenden daher ausschliefslich an den normalen, gesunden Menschen.\n*\n218. Gehen wir nun zu den Ver\u00e4nderungen \u00fcber, denen jedes normale Individuum w\u00e4hrend seiner Entwickelung im Laufe der Zeit unterworfen ist, so gehen diese, wie gesagt, im allgemeinen so langsam vor, dafs man erwarten m\u00f6chte, eine Vorstellung h\u00e4tte innerhalb eines begrenzten Zeitraumes im Leben des Individuums eine konstante Gef\u00fchlsbetonung. Dieses Resultat widerstreitet indes aller Erfahrung. Es zeigt sich, dafs die an bestimmte Vorstellungen gebundenen Gef\u00fchlst\u00f6ne teils sehr variable St\u00e4rke besitzen, teils je den Umst\u00e4nden gem\u00e4fs aus Lust in Unlust oder umgekehrt \u00fcberschlagen k\u00f6nnen. Beispiele hiervon bieten sich in Menge dar. \u2014 Jeder Genufs, welcher Art er auch sei, verliert durch gar zu lange Andauer an St\u00e4rke und kann zuletzt in Unlust \u00fcbergehen. Derselbe Eindruck ruft also, wenn er eine Zeitlang gewirkt hat, nicht dasselbe Gef\u00fchl wie anfangs hervor. Kummer und Freude, Furcht, Hoffnung, Zweifel, Mitleid und andere Gef\u00fchle k\u00f6nnen, wie die Erfahrung zeigt, in hohem Grade dadurch ged\u00e4mpft oder gemildert werden, dafs neue Vorstellungen im Bewufstsein hervorgeholt werden, ohne dafs darum die Vorstellungen, an welche die Gef\u00fchlst\u00f6ne urspr\u00fcnglich gebunden waren, g\u00e4nzlich verdr\u00e4ngt w\u00fcrden. Wir sehen also, dafs die St\u00e4rke des an einen gewissen Vorstellungs-inbalt gebundenen Gef\u00fchlstones von dem \u00fcbrigen Inhalt des Bewufstseins abh\u00e4ngig ist. Das Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltnis zwischen dem Gef\u00fchlston einer Vorstellung und dem gleichzeitigen Bewufstseinszustand ist jedoch am deutlichsten aus der That-sache zu ersehen, dafs jede Stimmung den neuauftauchenden","page":164},{"file":"p0165.txt","language":"de","ocr_de":"Ver\u00e4nderungen des Gef\u00fchlslebens im Laufe der Zeit.\n165\nVorstellungen eine bestimmte F\u00e4rbung gibt; die n\u00e4mliche Vorstellung wird uns, je nachdem sie uns bei guter oder schlechter \u201eLaune\u201c antrifft, auf h\u00f6chst verschiedene Weise beeinflussen k\u00f6nnen.\n219. Alle diese Thatsachen, denen noch viele andere hinzugef\u00fcgt werden k\u00f6nnten, stehen also entschieden in Streit mit unserer Ansicht von der Natur der Gef\u00fchlst\u00f6ne, die uns zu dem Ergebnis f\u00fchrte, dafs der Gef\u00fchlston einer gegebenen Vorstellung eine ziemlich konstante Gr\u00f6fse sein m\u00fcsse. Die Nicht-\u00dcbereinstimmung zwischen Theorie und Erfahrung ist indes nur scheinbar. Denn wenn die Gef\u00fchlst\u00f6ne wirklich die psychischen Resultate einer solchen \u00dcbereinstimmung oder eines solchen Streites sind, wie wir dies annahmen, so wird sich mit einer bestimmten Vorstellung doch nur unter der Voraussetzung, dafs alle \u00e4ufseren und inneren Verh\u00e4ltnisse unver\u00e4ndert bleiben, derselbe Gef\u00fchlston verbinden. Wenn eine Vorstellung in dem einen Falle allein im Bewufstsein auftritt, in einem anderen sich dagegen mit mehreren anderen zusammen meldet, so mufs eine solche Ver\u00e4nderung der Verh\u00e4ltnisse doch einigen Einflufs auf den entstehenden Gef\u00fchlston haben. Wie dieser Einflufs vorgeht, das ist ziemlich unwesentlich. Man kann entweder annehmen, dafs mit einer gegebenen Vorstellung immer derselbe Gef\u00fchlston verbunden sei (stets vorausgesetzt, dafs die psychophysischen Lebensbedingungen des Individuums unver\u00e4ndert sind), indem man dann nur zugleich festh\u00e4lt, dafs der gesamte Gef\u00fchlszustand durch den gleichzeitigen Bewufstseinsinhalt modifiziert werden kann. Oder auch kann man annehmen, dafs eben der in einem gegebenen Moment vorhandene Bewufstseinsinhalt Einflufs auf die psychophysischen Lebensbedingungen \u00fcbe, wodurch nat\u00fcrlich auch der Gef\u00fchlston ein anderer wird. Welche dieser Erkl\u00e4rungen man vorzieht, ist, vorl\u00e4ufig wenigstens, ganz gleichg\u00fcltig ; das Wesentliche ist, dafs wir im st\u00e4nde sind, die M\u00f6glichkeit einer Ver\u00e4nderung des Gef\u00fchlszustandes durch einen gleichzeitigen Bewufstseinsinhalt nachzuweisen. Ist auch letzterer in zwei F\u00e4llen der n\u00e4mliche, so k\u00f6nnen die unmittelbar vorhergehenden Bewufstseinszust\u00e4nde verschieden sein, und auch dies mufs einige Verschiedenheit der Gef\u00fchle bewirken. Denn weder die rein physischen Lebensbedingungen noch die psychophysischen, weder die des Organismus noch die des Subjekts d\u00fcrfen als von der in einem gegebenen Moment eben abgeschlossenen Th\u00e4tigkeit unabh\u00e4ngig aufgefafst","page":165},{"file":"p0166.txt","language":"de","ocr_de":"Die speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\n166\nwerden. Es scheint also im ganzen nicht schwer zu verstehen zu sein, dafs der Gef\u00fchlston einer gegebenen Vorstellung in demselben Individuum Variationen unterworfen sein kann.\n220.\tHierbei k\u00f6nnen wir nat\u00fcrlich nicht stehen bleiben. Es gen\u00fcgt nicht, das Vorkommen solcher Variationen der Gef\u00fchlst\u00f6ne erfahrungsm\u00e4fsig und deren M\u00f6glichkeit theoretisch nachgewiesen zu haben. Soll auf einem so komplizierten Gebiete wie dem des Gef\u00fchlslebens, wo es an aller quantitativen Bestimmtheit gebricht, von Berechenbarkeit die Rede sein k\u00f6nnen, so wird dies erst dann m\u00f6glich sein, wenn man alle Bedingungen, nicht nur die allgemeinen, sondern auch die zuf\u00e4lligeren Umst\u00e4nde kennt, die auf den Gef\u00fchlston einer gegebenen Vorstellung Einflufs haben. Es mufs daher unsere Aufgabe im Folgenden werden, eine m\u00f6glichst ersch\u00f6pfende Behandlung dieser Verh\u00e4ltnisse zu geben. Wir wollen also untersuchen: 1) welche Faktoren auf die an gegebene Vorstellungen gebundenen Gef\u00fchlst\u00f6ne Einflufs haben, und 2) wie diese Gef\u00fchlst\u00f6ne in allen einzelnen F\u00e4llen unter dem Einflufs dieser bestimmten Faktoren variieren. Beide diese Probleme lassen sieh indes auch auf k\u00fcrzere und deshalb mehr praktische Weise formulieren, indem wir von dem schon vorhin dargelegten Satze ausgehen: \u201eder eigent\u00fcmliche Charakter der einzelnen Gef\u00fchle ist bedingt durch die Erkenntniselemente, an welche die Gef\u00fchlst\u00f6ne Lust und Unlust gebunden sind\u201c [71]. Hieraus folgt n\u00e4mlich, dafs der gesamte komplexe Zustand, das konkrete \u201eGef\u00fchl\u201c variieren wird, wenn der mit dem Vorstellungsinhalt verbundene Gef\u00fchlston variiert. Wir k\u00f6nnen deshalb unsere Aufgaben auch so formulieren: Welche Faktoren haben Einflufs auf ein gegebenes Gef\u00fchl bestimmter Art, und wie variiert das Gef\u00fchl unter dem Einflufs dieser bestimmten Faktoren? Wenn wir die Gesetze, zu deren Aufstellung uns eine Untersuchung dieser Verh\u00e4ltnisse f\u00fchren wird, die speziellen Gesetze der Gef\u00fchle nennen, so darf dieser Ausdruk nicht mifsverstanden werden. Die Gesetze, die wir suchen, sollen nicht einzelne, spezielle Gef\u00fchle betreffen, sondern, wie es in der Natur der Sache liegt, allgemein, f\u00fcr alle Gef\u00fchle g\u00fcltig sein, jedoch deren Variationen unter speziellen Bedingungen angeben.\n221.\tMeines Wissens findet sich nicht einmal in den j\u00fcngsten und bedeutendsten psychologischen Werken eine gesamte Darstellung der speziellen Gef\u00fchlsgesetze. Und dafs dies nicht daher","page":166},{"file":"p0167.txt","language":"de","ocr_de":"Fr\u00fchere Bestimmungen der Gef\u00fchlsgesetze.\t107\nr\u00fchrt, dafs dieselben in der That keine Bedeutung h\u00e4tten, geht wohl am klarsten aus dem Faktum hervor, dafs man sie fast alle in jeder einigermafsen ausf\u00fchrlichen Darstellung der Lehre von den Gef\u00fchlen finden kann, allerdings mehr als stillschweigende Voraussetzungen allgemeiner Betrachtungen, als mit klarem Bewufstsein ihrer Tragweite ausgesprochen. Nur einige einzelne, sehr auff\u00e4llige (z. B. Hobbes-Spinozas Beziehungsgesetz) sind zum Gegenstand n\u00e4herer Untersuchung gemacht worden, und auch diese m\u00fcssen gew\u00f6hnlich von verschiedenen Orten her, an welchen die Verfasser eine zuf\u00e4llige Gelegenheit zu deren Darstellung fanden, zusammengesammelt werden. Man geht daher wohl nicht zu weit, wenn man sagt, dafs die Psychologen bisher diesen Gesetzen bei weitem die Aufmerksamkeit geschenkt haben, auf welche deren weitreichende Bedeutung Anspruch machen kann. Wie die Sache jetzt steht, mufs man eine gesamte Darstellung und scharfe Formulierung der einzelnen Gesetze vielmehr \u2022 \u2022 _______________________________________________________\nbei den \u00c4sthetikern als bei den Psychologen suchen. Hiermit\n\u2022 \u2022\nsoll doch nicht gesagt sein, die \u00c4sthetiker h\u00e4tten klar erkannt, dafs das, was sie nachwiesen, allgemeine psychologische Gesetze waren. Ihre Bestrebungen waren in der That mehr auf das Ziel gerichtet, eine Beihe \u201e\u00e4sthetischer Prinzipien\u201c, d. h. Gesetze zu finden, die als f\u00fcr alle \u00e4sthetischen Gef\u00fchle g\u00fcltig zu betrachten w\u00e4ren, und auf welchen man deshalb bei den spezielleren \u00e4sthetischen Untersuchungen weiterbauen k\u00f6nnte. Von einem richtigen wissenschaftlichen Instinkt geleitet, haben sie aber diesen \u201ePrinzipien\u201c h\u00e4ufig einen so allgemeinen Charakter und eine so vollst\u00e4ndige Begr\u00fcndung gegeben, dafs viele derselben sich als allgemeine Gef\u00fchlsgesetze erweisen, die nicht nur innerhalb des engeren \u00e4sthetischen Gebietes G\u00fcltigkeit besitzen.\n222. Vor allen anderen verdienen die Untersuchungen Fechners n\u00e4here Besprechung. In seinem bahnbrechenden Werk \u00fcber die \u00c4sthetik1) stellt di\u00e7ser geniale Forscher, der Begr\u00fcnder der Psychophysik, eine Beihe von nicht weniger als 15 Gef\u00fchlsgesetzen auf, die er als umfassende und erkl\u00e4rende Prinzipien auf die \u00c4sthetik \u00fcbertr\u00e4gt. Unter diesen findet man nun nicht nur alle diejenigen Gesetze, welche fr\u00fchere Forscher aufgestellt haben \u2014 es sei nun als allgemeine Gef\u00fchlsgesetze oder blofs als \u00e4sthetische Prinzipien \u2014, sondern auch zahlreiche\n*) Vorschule der \u00c4sthetik. 2 Bde. Leipzig 1875.","page":167},{"file":"p0168.txt","language":"de","ocr_de":"168\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nneue, die Fechner durch eine Menge Beobachtungen darthut. Es ist also ein breites und solides Fundament, das er der \u00c4sthetik gibt, und er hat somit das Verdienst, diesen bisher so vernachl\u00e4ssigten Zweig der angewandten Psychologie zu einer wirklichen Wissenschaft gemacht zu haben. Hierzu kommt aufserdem, dafs Fechner mehr als irgend einer seiner Vorg\u00e4nger und Nachfolger bei der Deduktion seiner \u00e4sthetischen Prinzipien so viele kritische Reservationen genommen hat, dafs sich dieselben bis auf eine oder h\u00f6chstens zwei Ausnahmen als allgemeine Gef\u00fchlsgesetze erweisen. Dadurch hat er zugleich, wenn er selbst auch nicht dar\u00fcber ganz im klaren war, einen nicht unbedeutenden Grund zu einer strenger wissenschaftlichen Behandlung der Lehre von den Gef\u00fchlen gelegt. Ohne diese Grundlage w\u00e4ren unsere folgenden Untersuchungen gewifs nur vag und gehaltlos geworden.\n223. Wenn wir nun im Folgenden trotz der gr\u00fcndlichen Vorarbeit, die von Fechners Hand vorliegt, dennoch im Wesentlichen der von ihm gegebenen Darstellung nicht folgen k\u00f6nnen, so hat das in zwei Umst\u00e4nden sein Grund. Erstens tr\u00e4gt Fechners Werk einen eigent\u00fcmlich aphoristischen Charakter. Die einzelnen Gesetze sind als zuf\u00e4llige, obschon wohlbegr\u00fcndete Einf\u00e4lle hingeworfen und stehen in keiner n\u00e4heren gegenseitigen Beziehung zu einander. Da sie also nicht als nat\u00fcrliche Konsequenzen einer logischen Deduktion hervorgehen, sieht man auch nicht ein, weshalb gerade diese Gesetze und nicht irgend eine andere beliebige Anzahl derselben auf-gestellt sind. Ferner spielt, wie nat\u00fcrlich, bei Fechner die R\u00fccksichtnahme auf die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle eine vorwiegende Rolle, und an vielen Punkten gebricht es an dem f\u00fcr uns notwendigen Nachweis, dafs die Gesetze auch \u00fcber das \u00e4sthetische Gebiet hinaus g\u00fcltig sind. Diese Umst\u00e4nde im Verein machen eine Umarbeitung der Darstellung Fechners erw\u00fcnscht, und es wird also vor allen Dingen unsere Aufgabe werden, alle diejenigen Faktoren nachzuweisen, welche auf das an eine gegebene Vorstellung gebundene emotionelle Element Einflufs erhalten k\u00f6nnen. Mit einer solchen Bestimmung als leitendem Faden k\u00f6nnen wir uns sichern, dafs wir nicht nur alle Gesetze mitbekommen, sondern auch in ihrem gegenseitigen Zusammenhang erblicken, und mit dieser Untersuchung wollen wir deshalb anfangen.","page":168},{"file":"p0169.txt","language":"de","ocr_de":"Plan der folgenden Untersuchungen.\n169\n224.\tAuch wenn der Charakter eines Gef\u00fchls wesentlich durch diejenigen Vorstellungen bestimmt wird, an welche der Gef\u00fchlston gebunden ist [22], braucht darum der Gef\u00fchlston selbst doch nicht durch die Art der intellektuellen Elemente v\u00f6llig bestimmt zu sein. Denn Vorstellungen bestimmter Art k\u00f6nnen noch sowohl hinsichtlich der St\u00e4rke als der Zeitdauer verschieden sein, und von beiden diesen Faktoren ist anzunehmen, dafs sie auf das emotionelle Element Einflufs haben. Es mufs also erst untersucht werden, wie das Gef\u00fchl variiert: 1) mit der St\u00e4rke der Vorstellungen, und 2) mit der Zeitdauer der Vorstellungen. Da nun nicht wohl anzunehmen ist, dafs eine Vorstellung gegebener Art in anderen Beziehungen als den beiden genannten allein variieren sollte, mufs man alle die \u00fcbrigen Faktoren, die auf den Gef\u00fchlston einer gegebenen Vorstellung Einflufs erhalten k\u00f6nnen, in anderen Bewufstseins-elementen suchen, die gleichzeitig mit oder unmittelbar vor der betonten Vorstellung vorhanden sind. Und da man erfahrungs-m\u00e4fsig nicht direkt, sondern nur auf Umwegen auf die Gef\u00fchle einwirken kann, indem man andere Vorstellungen und Gef\u00fchle erweckt, werden also die Bewufstseinselemente, die ein gegebenes Gef\u00fchl zu modifizieren verm\u00f6gen, ausschliefslich in Vorstellungen mit den daran gebundenen Gef\u00fchlst\u00f6nen zu suchen sein. Diese zerfallen nun auf nat\u00fcrliche Weise in zwei Hauptgruppen, indem die Vorstellungen entweder von \u00e4ufseren Eindr\u00fccken herr\u00fchren k\u00f6nnen, also dem Individuum aufgedr\u00e4ngt wurden, oder durch die urspr\u00fcngliche Vorstellung selbst mittels Association erweckt sind. Es wird demnach zu untersuchen sein : 3) die Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchls von anderen, von aufsenher gegebenen Vorstellungen, und 4) die Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchls von reproduzierten Vorstellungen. Jede dieser Gruppen umfafst indes einen solchen Reichtum verschiedener F\u00e4lle, dafs eine n\u00e4here Einteilung notwendig sein wird. Hierbei stofsen wir aber auf die grofse Schwierigkeit, dafs eine solche Einteilung sich auf vielen verschiedenen Gr\u00fcnden wird aufbauen lassen k\u00f6nnen, und es gilt also, unter diesen den an und f\u00fcr sich nat\u00fcrlichsten und fruchtbarsten zu erw\u00e4hlen. Indem wir anfangs nun ausschliefslich bei der Gruppe 3 stehen bleiben, wollen wir suchen, ein nat\u00fcrliches Prinzip f\u00fcr deren n\u00e4here Einteilung nachzuweisen.\n225.\tGeht man fortw\u00e4hrend davon aus, dafs die Gattung der Gef\u00fchle durch die Vorstellungen bestimmt wird, an welche die Gef\u00fchls t\u00f6ne gebunden sind, so wird es wahrscheinlich, dafs","page":169},{"file":"p0170.txt","language":"de","ocr_de":"170\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\ndiejenigen Modifikationen, die ein Gef\u00fchl durch das Vorhandensein anderer, gleichzeitiger oder unmittelbar vorausgehender Be-wufstseinselemente erleiden kann, wesentlich von dem Verh\u00e4ltnisse zwischen der betonten und den fremden modifizierenden Vorstellungen abh\u00e4ngig sein werden. Trifft eine Vorstellung, die an und f\u00fcr sich einen Gef\u00fchlston hervorzurufen vermag, im Bewufst-sein andere, betonte oder unbetonte Vorstellungen an, so darf man annehmen, dafs das resultierende Gef\u00fchl nicht ganz dasselbe werden wird, wie dasjenige, welches entstehen w\u00fcrde, wenn kein anderes Bewufstseinselement vorhanden w\u00e4re, und es ist ziemlich wahrscheinlich, dafs die stattfindende Modifikation durch das Verh\u00e4ltnis zwischen den verschiedenen Vorstellungen bestimmt wird. Sind auch Gef\u00fchlselemente dabei, so werden diese nat\u00fcrlich ebenfalls ihren Einflufs geltend machen, aber die Beziehung, in welche sie zum neuen, auftauchenden Gef\u00fchl treten, wird annehmbar gleichfalls durch die gegenseitige Beziehung der verschiedenen Vorstellungen zu einander bestimmt sein. Das f\u00fcr das Gef\u00fchl Entscheidende wird also teils die n\u00e4here oder fernere Verwandtschaft, teils das n\u00e4here oder fernere \u00e4ufsere Ber\u00fchrungsverh\u00e4ltnis zwischen der betonten und den fremden Vorstellungen. Es werden also verschiedene Ver\u00e4nderungen des Gef\u00fchls entstehen, je nachdem die betonte und die modifizierenden Vorstellungen sind :\nA.\tgleichartig und verschiedene \u00e4ufsere Objekte betreffen*,\nB.\tungleichartig und verschiedene \u00e4ufsere Objekte betreffen ;\nC.\tgleichartig und dasselbe \u00e4ufsere Objekt betreffen;\nD.\tungleichartig und dasselbe \u00e4ufsere Objekt betreffen.\nEs ist anzunehmen, dafs jedem dieser vier F\u00e4lle ein besonderes Gesetz entspricht, die Richtigkeit der Betrachtung, von welcher wir ausgingen, vorausgesetzt. Und bemerkenswert ist es nun, dafs sich unter den von Fechner aufgestellten \u00e4sthetischen Prinzipien drei finden, die wenigstens zum Teil drei dieser Gruppen entsprechen, n\u00e4mlich das \u201ePrinzip des \u00e4sthetischen Kontrastes\u201c der Gruppe A, das \u201ePrinzip der \u00e4sthetischen Hilfe oder Steigerung\u201c Gruppe C und das \u201ePrinzip der Widerspruchs-losigkeit\u201c Gruppe D, w\u00e4hrend die vierte unserer Gruppen zu einem Gesetze f\u00fchrt, das sich nicht bei F echner findet, f\u00fcr die \u00c4sthetik aber auch ohne Bedeutung ist. Diese \u00dcbereinstimmung mit den Resultaten Fechners scheint f\u00fcr die Frucht-bark\u00e9it unserer rationellen Einteilung zu sprechen.","page":170},{"file":"p0171.txt","language":"de","ocr_de":"Plan der folgenden Untersuchungen.\n171\n226. Ganz dieselbe Betrachtung, die wir mit Bezug auf den Einflufs der von aufsen gegebenen Vorstellungen auf das Gef\u00fchl anstellten, scheint sich auch in betreff der reproduzierten Vorstellungen durchf\u00fchren zu lassen. Die Ver\u00e4nderung, die ein Gef\u00fchl durch die Einwirkung modifizierender Vorstellungen erleiden kann, mag wohl kaum von dem Ursprung der letzteren abh\u00e4ngig sein. Ob die Vorstellungen durch \u00e4ufsere Eindr\u00fccke hervorgerufen wurden oder reproduziert sind, kann annehmlich keinen Unterschied in dieser Beziehung herbeif\u00fchren, und folglich m\u00fcssen dieselben Gesetze in beiden F\u00e4llen g\u00fcltig sein. Es scheint also kein eigentlicher Grund vorzuliegen, zwischen diesen beiden Gruppen von Vorstellungen so scharf zu sondern, wie wir dies oben thaten; mit vollem Recht k\u00f6nnte man sicherlich beide zusammen behandeln. Wenn wir nichtsdestoweniger die reproduzierten Vorstellungen hier zum Gegenstand besonderer Betrachtung machen wollen, so geschieht dies zun\u00e4chst, um zu untersuchen, welche Bedeutung f\u00fcr das Gef\u00fchl man ihnen \u00fcberhaupt beilegen mufs, und um die Gelegenheit zu erhalten, einzelne hierhergeh\u00f6rende, besonders komplizierte Probleme selbst\u00e4ndig zu behandeln. Aus \u00e4hnlichen, rein praktischen Gr\u00fcnden werden wir gleichfalls die beiden Gruppen C und D vereinen, da es sich erweisen wird, dafs es f\u00fcr Vorstellungen, die dasselbe Objekt betreffen, ohne gr\u00f6fseren Belang ist, ob sie ! mehr oder weniger gleichartig sind, ob sie aus demselben oder aus verschiedenen Sinnesgebieten herr\u00fchren. Unsere Untersuchungen werden also in folgende Hauptgruppen zerfallen:\nI.\tDie Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchls von der St\u00e4rke der betonten Vorstellung.\nII.\tDie Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchls von der Zeitdauer der betonten Vorstellung.\nIII.\tDie Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchls von fremden, von aufsenher gegebenen Vorstellungen.\nA.\tDie betonte und die modifizierenden Vorstellungen sind gleichartig und betreffen verschiedene Objekte.\nB.\tDie betonte und die modifizierenden Vorstellungen sind ungleichartig und betreffen verschiedene Objekte.\nC.\tDie betonte und die modifizierenden Vorstellungen betreffen dasselbe Objekt.\nIV.\tDie Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchls von fremden, durch Association erweckten Vorstellungen.","page":171},{"file":"p0172.txt","language":"de","ocr_de":"172\nDie speziellen G-esetze der Gef\u00fchle.\nWir werden im Folgenden die einzelnen Verh\u00e4ltnisse in der hier angegebenen Ordnung behandeln.\nDie Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchls von der St\u00e4rke der\nbetonten Vorstellung.\n227.\tAn eine gegebene Vorstellung bestimmter Art ist nicht immer ein merkbarer Gef\u00fchlston gebunden* damit dies stattfinde, ist es eine notwendige Bedingung, dafs die Vorstellung mit hinl\u00e4nglicher St\u00e4rke im Bewufstsein zur Geltung kommt. Nennt man das hierzu erforderliche, \u00fcbrigens nicht n\u00e4her bestimmbare Minimum der St\u00e4rke die \u201eintensive Schwelle\u201c, so l\u00e4fst sich das Gesetz folgendermafsen ausdr\u00fccken :\n228.\tDamit ein Gef\u00fchlston an eine Vorstellung gebunden sei, mufs diese die intensive Schwelle \u00fcberschreiten.\nDie Dichtigkeit dieses Satzes wird durch so zahlreiche Erfahrungen best\u00e4tigt, dafs einige einzelne Beispiele in dieser Richtung gen\u00fcgen werden zur Erhellung des Gesetzes und besonders der Verh\u00e4ltnisse, von welchen der Wert der Schwelle abh\u00e4ngig ist.\n229.\tDie G\u00fcltigkeit des Gesetzes ist am deutlichsten aus der bekannten Thatsache zu ersehen, dafs sehr schwache Empfindungen unbetonte, neutrale Zust\u00e4nde sind. Es ist uns im allgemeinen fast unm\u00f6glich, anzugeben, ob wir bei schwachen Druck-, Temperatur-, Schall- und Lichtempfindungen Lust oder Unlust f\u00fchlen. Auf dem Gebiete der Geschmacks-, Geruchsund Organempfindungen sind wir gew\u00f6hnlich etwas mehr feinf\u00fchlend, die Schwelle liegt niedriger, es ist aber doch auch auf diesen Gebieten in betreff der meisten Empfindungen m\u00f6glich, Zust\u00e4nde nachzuweisen oder durch hinl\u00e4nglich schwache Reizungen hervorzurufen, die zun\u00e4chst als unbetonte zu bezeichnen sind. In allen diesen F\u00e4llen sehen wir also, dafs wir uns nicht einmal bei der angespanntesten Aufmerksamkeit eines Gef\u00fchls \u2014 des Behagens oder des Unbehagens \u2014 bewufst werden. Scheinbare Ausnahmen k\u00f6nnen Vorkommen. Sitzt man bei einem Konzert oder einem Vortrag so weit zur\u00fcck, dafs man die Musik oder die Rede nur mit grofser Anstrengung aufzufassen vermag, ist die Beleuchtung zu schwach, um bei der Arbeit sehen zu k\u00f6nnen,","page":172},{"file":"p0173.txt","language":"de","ocr_de":"Die intensive Schwelle.\n173\nist die Speise zu wenig gesalzen oder nicht s\u00fcfs genug, so f\u00fchlt man Unlust. Diese Unlust hat aber mit den schwachen Empfindungen offenbar nicht im geringsten zu thun, denn man w\u00fcrde auch dann Unlust f\u00fchlen, wenn man in den betreffenden F\u00e4llen gar nichts h\u00f6ren, sehen oder schmecken k\u00f6nnte ; wo aber keine Empfindung ist, kann, wie wir wissen, auch kein Gef\u00fchlston sein. Die Unlust r\u00fchrt in allen genannten und in analogen Verh\u00e4ltnissen nicht von der schwachen Empfindung her, sondern von der Nichterf\u00fcllung unseres Wunsches, unseres Bed\u00fcrfnisses oder unserer Erwartung. Was wir f\u00fchlen., ist die Unlust der T\u00e4uschung, der Entbehrung, und diese wird sich melden, sobald das Wahrgenommene unseren Erwartungen nicht entspricht, auch wenn die Empfindung \u00fcbrigens sehr bedeutende St\u00e4rke besitzt, welche die intensive Schwelle weit \u00fcberschreitet. In anderen F\u00e4llen kann Lust scheinbar an sehr schwache Empfindungen gebunden sein. So f\u00fchlen wir es als sehr angenehme Erleichterung, wenn ein ohrenzerreifsender L\u00e4rm sich bes\u00e4nftigt. Aber auch hier l\u00e4fst sich nicht sagen, der Gef\u00fchlston r\u00fchre von der schwachen Empfindung her, denn v\u00f6llige Stille w\u00e4re wom\u00f6glich noch angenehmer. Wir haben hier mit einer Kontrasterscheinung zu thun, die wir an diesem Orte indes nicht n\u00e4her erkl\u00e4ren k\u00f6nnen. Das Resultat wird aber jedenfalls, dafs sich keine wirklichen Ausnahmen von dem Gesetze nachweisen lassen, dafs sehr schwache Empfindungen ann\u00e4hernd unbetont, neutral sind.\n230. Bisher setzten wir voraus, die Aufmerksamkeit sei auf die die Empfindungen oder Vorstellungen erzeugenden \u00e4ufseren Eindr\u00fccke gerichtet, die G\u00fcltigkeit des Gesetzes wird jedoch nicht aufgehoben, wenn dies auch nicht der Fall sein sollte. Ist die Aufmerksamkeit nicht willk\u00fcrlich auf den \u00e4ufseren Eindruck gerichtet, so wird nur erforderlich sein, damit eine betonte Vorstellung entstehe, dafs dieser verh\u00e4ltnism\u00e4fsig gr\u00f6fsere St\u00e4rke besitzt. Geht man, mit seinen eigenen Gedanken besch\u00e4ftigt, eine belebte Strafse hinab oder in einer h\u00fcbschen Gegend, so erh\u00e4lt man fortw\u00e4hrend zahlreiche Eindr\u00fccke, welche das Gef\u00fchl unvermeidlich in Bewegung setzen w\u00fcrden, w\u00e4re man nicht von anderen Vorstellungen erf\u00fcllt. Wie das Verh\u00e4ltnis nun ist, haben die ausgel\u00f6sten Vorstellungen nur so geringe St\u00e4rke, tfeten sie so undeutlich im Bewufstsein auf, dafs der Gef\u00fchlston kaum merkbar ist. Die Erfahrung lehrt aber, dafs wenn man zuf\u00e4llig von einem besonders starken Eindruck getroffen wird, kann die","page":173},{"file":"p0174.txt","language":"de","ocr_de":"174\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nausgel\u00f6ste Vorstellung so grofse St\u00e4rke erhalten, dafs der Gef\u00fchlston merkbar wird. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dafs eine Vorstellung bestimmter Art, ceteris paribus, nur von bestimmter St\u00e4rke sein mufs, damit der Gef\u00fchlston merkbar werde, die Aufmerksamkeit sei den Eindr\u00fccken nun zugewandt oder abgewandt. Oder mit anderen Worten:\n231.\tEs ist anzunehmen, dafs der Wert der Schwelle unter sonst gleichen Umst\u00e4nden f\u00fcr eine gegebene Vorstellung eine konstante, von dem Grad der Aufmerksamkeit unabh\u00e4ngige Gr\u00f6fse besitzt.\n232.\tF\u00fcr Vorstellungen verschiedener Art ist der Wert der Schwelle dagegen verschieden. Dies geht schon aus der oben erw\u00e4hnten Thatsache hervor [229], dafs wir auf einigen Sinnesgebieten empfindlicher sind als auf anderen. W\u00e4hrend die Gef\u00fchlst\u00f6ne auf allen den Sinnesgebieten, die gew\u00f6hnlich zun\u00e4chst der Erkenntnis dienstbar sind, nur wenig hervortreten, sind sie auf den Gebieten, die zun\u00e4chst die Zust\u00e4nde des Organismus betreffen, von weit gr\u00f6fserer Bedeutung. Dies will aber mit anderen Worten nur heifsen, dafs der Wert der Schwelle im letzteren Falle tiefer liegt als im ersteren. Auch andere Erfahrungen sprechen f\u00fcr solche Differenzen. Es wird h\u00e4ufig geschehen k\u00f6nnen, dafs ein verh\u00e4ltnism\u00e4fsig schwacher Eindruck die Aufmerksamkeit leichter auf sich hinlenkt, als ein st\u00e4rkerer. Viele wechselnde Bilder k\u00f6nnen auf dem Wege die Strafse hinab an uns vor\u00fcbergeglitten sein, ohne das Gef\u00fchl in Bewegung gesetzt zu haben, pl\u00f6tzlich erhalten wir aber eine dunkle Vorstellung, dafs ein Kind fast \u00fcberfahren w\u00e4re, und an diese ist ein weit st\u00e4rkerer Gef\u00fchlston gebunden als an irgend eine der vorhergehenden Vorstellungen, die doch vielleicht deutlicher und klarer waren. Die Aufmerksamkeit wird deshalb sogleich mit voller St\u00e4rke auf diese Erscheinung konzentriert. Von dergleichen F\u00e4llen bietet das t\u00e4gliche Leben Beispiele in Menge dar, und es ist deswegen aufser allen Zweifel gestellt, dafs:\n233.\tDer Wert der intensiven Schwelle f\u00fcr verschiedene Vor-stellunpen sehr verschieden ist. \u2014\ni/\n234.\tW\u00e4chst die St\u00e4rke der Vorstellung bis \u00fcber die intensive Schwelle an, so wird, innerhalb gewisser Grenzen, auch der Gef\u00fchlston an St\u00e4rke zunehmen.\nAm leichtesten wird dieses Verh\u00e4ltnis an den von \u00e4ufseren Eindr\u00fccken herr\u00fchrenden Vorstellungen zu beobachten sein, weil wir hier bei konstantem Grad der Aufmerksamkeit an der","page":174},{"file":"p0175.txt","language":"de","ocr_de":"Wachsen des Gef\u00fchls.\n175\nIntensit\u00e4t der Reize einen Mafsstab fiir die St\u00e4rke der Vorstellungen haben. So wissen wir aus dem t\u00e4glichen Leben, dafs je st\u00e4rker die Reizung irgend eines Sinnesorganes ist, um so st\u00e4rker ist auch das Gef\u00fchl, dieses sei nun Lust oder Unlust. \u00dcber das n\u00e4here Verh\u00e4ltnis zwischen der Intensit\u00e4t der Vorstellung und der Intensit\u00e4t des Gef\u00fchls etwas mit Sicherheit anzugeben, scheint dagegen nicht m\u00f6glich, da unser subjektives Gutachten keine quantitative Bestimmung gestattet. Wir k\u00f6nnen im t\u00e4glichen Leben allerdings mit ziemlicher Bestimmtheit entscheiden, welches unter zwei verwandten Gef\u00fchlen das intensivere ist, ob wir eines \u201elieber m\u00f6gen\u201c als etwas anderes, es geht uns aber durchaus das Verm\u00f6gen ab, eben merkbare Gef\u00fchlsdifFerenzen sicher aufzufassen, so dafs ein mathematisches Gesetz f\u00fcr das Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltnis zwischen Reiz (oder Vorstellung) und Gef\u00fchl nicht zn erzielen ist, wenigstens nicht auf experimentalem Wege. Die Ursache unserer Unsicherheit in der Auffassung der St\u00e4rkegrade der Gef\u00fchle ist wahrscheinlich die, dafs wir die Aufmerksamkeit gar nicht auf einen Gef\u00fchlston konzentrieren k\u00f6nnen; damit ein Gef\u00fchl m\u00f6glichst klar und deutlich auftrete, mufs die Aufmerksamkeit auf dessen Vorstellungsinhalt gerichtet werden. Hieraus folgt aber ganz nat\u00fcrlich, dafs das Hervortretende wesentlich die Differenzen der Vorstellungselemente werden, wenn man zu dem Zwecke, eine eben merkbare Gef\u00fchlsdifferenz zu bestimmen, die Aufmerksamkeit auf zwei Gef\u00fchle richtet. Durch Versuche kann man sich leicht \u00fcberzeugen, dafs dem wirklich so ist. Reizt man z. B. die Haut an zwei verschiedenen Stellen, so wird es n\u00e4mlich leicht zu beobachten sein, dafs der st\u00e4rkere Reiz der unangenehmere ist. Vergr\u00f6fsert oder verkleinert man nun den einen Reiz in der Absicht, eine minimale Gef\u00fchlsdifferenz hervorzurufen, so kommt man anscheinend leicht zu einem Ergebnis. Bei sch\u00e4rferer Beobachtung \u00fcberzeugt man sich jedoch bald, dafs es nur die stechenden, prickelnden oder sengenden Empfindungen, kurz, die intellektuellen Elemente sind, die man verglichen hat, w\u00e4hrend das Mifsbehagen selbst, das emotionelle Element, sich einem solchen sorgf\u00e4ltigen Vergleich v\u00f6llig entzieht, und zwar um so mehr, je eifriger die Aufmerksamkeit auf den Versuch konzentriert ist. F\u00fcr die St\u00e4rke des Gef\u00fchls ein \u00e4hnliches Gesetz zu finden, wie wir an dem Weberschen f\u00fcr die St\u00e4rke der Empfindung besitzen, scheint also wegen der Natur des Gef\u00fchls selbst zur Unm\u00f6glichkeit","page":175},{"file":"p0176.txt","language":"de","ocr_de":"176\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\ngemacht zu sein, und wir k\u00f6nnen deshalb das Verh\u00e4ltnis zwischen Vorstellung und Gef\u00fchl nicht n\u00e4her bestimmen als: das Gef\u00fchl w\u00e4chst mit der Vorstellung an. Dies gilt doch nur innerhalb gewisser Grenzen ; hat die Empfindung ein gewisses Maximum erreicht, so kann ein Umschlag eintreten.\n235.\tAlle urspr\u00fcnglich unlustbetonten Vorstellungen, wie stark sie auch werden m\u00f6chten, werden stets wachsende Unlust erwecken, bis Bewufstlosigkeit eintritt; bei den urspr\u00fcnglich lustbetonten w\u00e4chst das Lustgef\u00fchl nur bis zu einem gewissen Maximum an. Wird dieses \u00fcberschritten, so nimmt das Lustgef\u00fchl ab, um zuletzt in Unlust \u00fcberzuschlagen.\nHier finden sich also zwei beachtungswerte Punkte, der Wendepunkt, wo das Lustgef\u00fchl abzunehmen beginnt, und der \u00dcbergangspunkt, wo Lust in Unlust \u00fcberschl\u00e4gt ; alle beide werden wir jeden f\u00fcr sich betrachten.\n236.\tWo der Wendepunkt, also der Maximumspunkt des Gef\u00fchls liegt, verm\u00f6gen wir, wie erw\u00e4hnt, nicht auf experimentalem Wege zu bestimmen. Die Erfahrung scheint \u00fcbrigens zu lehren, dafs von einem eigentlichen Punkte gar nicht die Rede sein kann, sondern vielmehr von einer ganzen Strecke. Wir k\u00f6nnen die Beleuchtung eines farbigen Objektes verst\u00e4rken oder schw\u00e4chen, wir k\u00f6nnen die St\u00e4rke einer Reihe von T\u00f6nen innerhalb eines sehr weiten Spielraumes vergr\u00f6fsern oder vermindern, ohne dafs dies auf die Intensit\u00e4t des Gef\u00fchlstones grofsen Einflufs erhielte. Erst ganz nahe an den Grenzen, bei sehr starken oder sehr schwachen Eindr\u00fccken nimmt der Gef\u00fchlston an St\u00e4rke ab. Es ist also gewifs ganz unrichtig, von einem Maximumspunkt des Gef\u00fchls zu reden ; dasselbe kann sich sogar bei ziemlich grofsen Variationen der Empfindungsst\u00e4rke auf dem Maximum behaupten. Hierdurch entsteht eine recht merkw\u00fcrdige \u00dcbereinstimmung zwischen der Variation der Gef\u00fchlst\u00f6ne mit der St\u00e4rke der Empfindungen und der Variation der Empfindungen mit der St\u00e4rke der Reize. Denn ebensowie ein geringer Zuwachs eines schwachen Reizes in der St\u00e4rke der Empfindung bedeutende Ver\u00e4nderung hervorrufen wird, w\u00e4hrend der n\u00e4mliche Zuwachs eines st\u00e4rkeren Reizes fast gar keinen Einflufs auf die Empfindung hat (dem Weberschen Gesetze gem\u00e4fs), ebenso sehen wir, dafs ein kleiner Zuwachs der Empfindung, solange das Gef\u00fchl schwach ist, die St\u00e4rke des Gef\u00fchlstones um ein Bedeutendes vermehren k\u00f6nnen wird ; ist das Gef\u00fchl dagegen","page":176},{"file":"p0177.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcbergang aus Lust in Unlust.\n177\ndem Maximum nahe, so wird derselbe Zuwachs fast keinen Einflufs erhalten. Es findet also unbestreitbar eine \u00dcbereinstimmung statt, solange wir die Sache ganz grob anfassen; ob es darum aber berechtigt ist, Webers Gesetz auf das Verh\u00e4ltnis zwischen Empfindung und Gef\u00fchlston zu \u00fcbertragen, was man oft gethan hat, ist eine ganz andere Frage. Da uns unzweifelhaft das Verm\u00f6gen feiner quantitativer Sch\u00e4tzungen auf dem Gebiete des Gef\u00fchls abgeht, kann unsere Berechtigung zur \u00dcbertragung des Gesetzes jedenfalls nicht auf experimentalem Wege dargethan werden, und es ist sehr problematisch, ob die hypothetische Annahme von dessen G\u00fcltigkeit mehr als rein praktische Bedeutung haben kann [vgl. 334].\n237. Auch der \u00dcbergangspunkt scheint nicht leicht zu bestimmen zu sein, obschon man von vornherein zu der Erwartung berechtigt sein m\u00fcfste, es liefse sich ohne grofse Schwierigkeit angeben, wann eine Empfindung aufh\u00f6rt, angenehm zu sein, und anf\u00e4ngt, schmerzhaft zu werden. Aus Versuchen geht aber hervor, dafs ein solcher scharfer \u00dcbergangspunkt gar nicht existiert. H o r w i c z ist gewifs der erste, der dies beobachtet hat. Legt man z. B. die Hand auf einen K\u00f6rper, dessen Temperatur fortw\u00e4hrend an w\u00e4chst, so entsteht nach Ho rwicz bei einem bestimmten W\u00e4rmegrad eine schwache Unlust neben der angenehmen W\u00e4rmeempfindung1); das Unbehagen w\u00e4chst allm\u00e4hlich und verdr\u00e4ngt zuletzt das angenehme Gef\u00fchl vollst\u00e4ndig. Dieses Resultat ist nun allerdings h\u00f6chst sonderbar, weil wir sonst kein einziges Beispiel haben, dafs an dieselbe Vorstellung entgegengesetzte Gef\u00fchlst\u00f6ne gebunden sein k\u00f6nnen, die jeder f\u00fcr sich zum Bewufstsein k\u00e4men. Wie wir sp\u00e4ter sehen werden [327], ist es im Gegenteil ein allgemeines Gesetz, dafs emotionelle Elemente, die an die n\u00e4mliche oder auch nur an zusammengeh\u00f6rende Vorstellungen gebunden sind, so miteinander verschmelzen, dafs die einzelnen Elemente sich eigentlich gar nicht unterscheiden, jedes f\u00fcr sich auffassen lassen. Horwiczs Versuch ist aber auch kein \u201ereiner\u201c. Denn aufser den W\u00e4rmenerven finden sich in der Haut sowohl K\u00e4lte- als Drucknerven, und auch diese k\u00f6nnen durch hohe Temperaturen gereizt werden. Aufserdem kann die konstante Ber\u00fchrung des erhitzten K\u00f6rpers, wie wir im Folgenden nachweisen werden,\n1) Psychologische Analysen. II, 2. S. 26.\nLehmann, Die Gef\u00fchle.\n12","page":177},{"file":"p0178.txt","language":"de","ocr_de":"178\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\neine Abstumpfung des Lustgef\u00fchls herbeif\u00fchren, die es erm\u00f6glich t? dafs gleichzeitig vorhandene Unlustgef\u00fchle bemerkt werden, und es kann dann ein schneller rhythmischer Wechsel der Lust und Unlust entstehen. Welchen Anteil diese verschiedenen Umst\u00e4nde an der Erzeugung der H o r w i c z sehen Erscheinung haben, l\u00e4fst sich nicht im voraus entscheiden. Aber auch durch Versuche ist es nicht m\u00f6glich, andere Fehler zu eliminieren, als nur denjenigen, welcher von der konstanten Ber\u00fchrung herr\u00fchrt, denn es ist kaum durchf\u00fchrbar, mehrere W\u00e4rmepunkte gleichzeitig, nicht aber die zwischenliegenden K\u00e4lte- und Druckpunkte anzugreifen. Die M\u00f6glichkeit bleibt also stets zur\u00fcck, dafs die Unsicherheit in der Bestimmung des Ubergangspunktes der Gef\u00fchle der Mitwirkung dieser fremden Sinnesorgane zu verdanken w\u00e4re. Dafs dies wirklich der Fall ist, scheint aus folgenden Versuchen hervorzugehen.\n288. In untenstehender Tabelle sind die Gef\u00fchlszust\u00e4nde angegeben, die von zwei verschiedenen Beobachtern fast \u00fcbereinstimmend gefunden wurden bei teils intermittierendem, teils konstantem Eintauchen der beiden \u00e4ufsersten Fingerglieder in Wasser, dessen Temperatur im Laufe von 2 Min. 20 Sek. bei beiden Versuchen von 85\u00b0 bis 50\u00b0 C. stieg. Im ersteren Falle wurde der Finger nur 5 Sekunden eingetaucht gehalten, wenn das Wasser den angegebenen W\u00e4rmegrad erreicht hatte*, im letzteren Falle wurde er w\u00e4hrend des ganzen Versuches konstant und unersch\u00fctterlich eingetaucht gehalten.\n85\u00b0\n89\u00b0\n40\u00b0\n42\u00b0\n48 \u00b0-\nEintauchen w\u00e4hrend 5\". Angenehme W\u00e4rme.\nKonstantes Eintauchen. Angenehme W\u00e4rme.\n55\n55\n55\n55\n55\n55\nAngenehme W\u00e4rme. Schwache Stiche.\n45 \u00b0. Die Stiche nehmen an St\u00e4rke u. Unbehagen zu.\nAngenehme W\u00e4rme. Unangenehme schwache Stiche.\nWechselnde Zust\u00e4nde, jagende unangenehme Stiche mit einzelnen ruhigen Augenblicken.\nSchmerz.\n48 \u00b0. Entschiedenes Unbehagen.\n50 \u00b0. Schmerz.\nBei einem Vergleich der beiden Leihen tritt der Einflufs der \u201eAbstumpfung\u201c sehr deutlich hervor, indem die entschieden angenehme W\u00e4rme schon bei 89\u00b0 C. auf h\u00f6rt, wenn der Finger konstant eingetaucht gehalten wird, dagegen erst bei 41 \u00b0, wird","page":178},{"file":"p0179.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022 \u2022\n\u00dcbergang aus Lust in Unlust.\n179\ner nur w\u00e4hrend 5 \" eingetaucht. Zugleich tritt der entschiedene Schmerz im ersteren Falle etwas fr\u00fcher ein als im letzteren. Die Tabelle zeigt indes mit gen\u00fcgender Klarheit, dafs die Abstumpfung nicht die Ursache ist, weshalb Lust- und Unlustgef\u00fchle zugleich vorhanden sind, denn diese Doppelheit macht sich auch beim Eintauchen w\u00e4hrend 5 \" geltend, wo von einer betr\u00e4chtlichen Abstumpfung noch nicht die Rede sein kann. Die Erkl\u00e4rung der doppelten Gef\u00fchlst\u00f6ne ist wahrscheinlich darin zu suchen, dafs mehrere Sinnesorgane gleichzeitig affiziert werden. Soviel scheint unzweifelhaft zu sein, dafs es nicht die W\u00e4rme ist, die angenehm und unangenehm zugleich ist, denn, wie die Tabelle zeigt, ist man w\u00e4hrend des Versuches sehr wohl im st\u00e4nde, zwischen der angenehmen W\u00e4rmeempfindung und einer anderen, unangenehmen Empfindung des Stechens zu sondern. Ob letztere durch eine Reizung der Druckpunkte oder eine Reizung der K\u00e4ltepunkte entsteht, mufs dahingestellt bleiben; ersteres scheint mir indes das Wahrscheinlichste, da die Empfindung ganz dieselbe ist wie diejenige, welche bei Reizung der Druckpunkte durch ad\u00e4quate Einwirkung entsteht. \u2014 Der Versuch vermag also nicht die Frage zu entscheiden, ob es einen neutralen \u00dcbergangspunkt gibt, wenn das Gef\u00fchl wegen fortw\u00e4hrend an wachsender\nEmpfindungsst\u00e4rke aus Lust in Unlust \u00fcberschl\u00e4gt. Denn, wie\n__\t\u2022 \u2022\nwir sahen, wird der Ubergangspunkt durch fremde Empfindungen verdeckt, maskiert. Soll die Frage beantwortet werden, so m\u00fcssen wir unsere Zuflucht auf einem Sinnesgebiete suchen, auf welchem wir vor dem Eingreifen fremder Faktoren gesichert sind. Und in dieser Beziehung scheint das Auge vor allen anderen Sinnesorganen wesentliche Vorteile darzubieten, denn \u00c4therwellen lassen sich so begrenzen, dafs sie nur auf die Netzhaut wirken, w\u00e4hrend die mechanischen und chemischen Irritamente, welche Schall-, Geruchs- und Geschmacksempfindungen hervorrufen, leicht andere Sinnesnerven als die betreffenden affizieren k\u00f6nnen, wenn sie die zu diesen Versuchen erforderliche Intensit\u00e4t besitzen. Die Verh\u00e4ltnisse der Gesichtsempfindungen scheinen auf diese Weise f\u00fcr das Problem eines neutralen \u00dcbergangspunktes entscheidend zu sein.\n289. Mit Hilfe eines gew\u00f6hnlichen Taschenspektroskops kann man sich leicht Farbenempfindungen von ganz beliebiger St\u00e4rke verschaffen, wenn man an einem heiteren Tage den Apparat auf\nverschiedene Punkte des Himmels richtet. Stellt man denselben\n12 *","page":179},{"file":"p0180.txt","language":"de","ocr_de":"180\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nso ein, dafs man mit einem der Sonne ziemlich fern liegenden Punkte anf\u00e4ngt, und dreht man ihn darauf langsam in der Richtung auf diese, so w\u00e4chst die Intensit\u00e4t des Spektrums, bis dieselbe hei direkter Einstellung auf die Sonne und hinl\u00e4nglich grofsem Spalt unertr\u00e4glich wird. L\u00e4fst sich nun in dieser Reihe immer st\u00e4rker werdender Empfindungen ein Punkt nachweisen, wo man weder Lust noch Unlust f\u00fchlt? Meinen Erfahrungen nach ist dies entschieden zu verneinen. Unter gew\u00f6hnlichen Verh\u00e4ltnissen wird man etwas beobachten, das der Horwiczschen Erscheinung g\u00e4nzlich entspricht. W\u00e4hrend man noch die Farbenpracht geniefst, f\u00e4ngt man an, ein gewisses Mifsfallen zu sp\u00fcren bei der Anstrengung, welche die Akkommodation an das starke Licht erfordert. Woher die Unlust herr\u00fchrt, l\u00e4fst sich zwar nicht mit Sicherheit angeben, es ist aber doch eine recht wahrscheinliche Annahme, dafs die gewaltige Kontraktion der Pupille, das unwillk\u00fcrliche Zusammenkneifen der Augenlider und das damit verbundene starke Runzeln der Stirnhaut im Verein die unangenehme Empfindung der Anstrengung hervorrufen k\u00f6nnen. Eine solche Empfindung ist nun jedenfalls vorhanden, ehe die\nschmerzhafte Blendung eintritt, und somit wird die genaue\n\u2022 #\nBestimmung des Ubergangspunktes zur Unm\u00f6glichkeit, ganz ebenso wie bei den W\u00e4rmeempfindungen. Das Resultat unserer Versuche wird also, dafs sich bei an wachsender Empfindungsst\u00e4rke kein neutraler \u00dcbergangspunkt aus Lust in Unlust nach-weisen l\u00e4fst. Und die Ursache hiervon ist wahrscheinlich die, dafs die starken Eindr\u00fccke, durch welche der \u00dcbergangspunkt hervorgerufen werden sollte, die Sinnesorgane so stark affizieren, dafs unangenehme Nebenwirkungen sentstehen, ehe die bestimmte Vorstellung selbst unlustbetont wird. Es ist also ganz wahrscheinlich, dafs es einen neutralen Punkt geben w\u00fcrde, wenn diese Nebenwirkungen nicht stattf\u00e4nden, da diese sich aber nur mittels ganz besonderer Versuchsvorrichtungen vermeiden lassen [45], hat dies offenbar kein grofses praktisches Interesse.\nWir k\u00f6nnen nun den Inhalt des vorliegen Abschnittes wie folgt zusammenfassen:\n240. \u201eGesetz f\u00fcr die Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchls von der St\u00e4rke der betonten Vorstellung\u201c :\nDamit ein Gef\u00fchlston an eine Vorstellung gebunden werde, mufs diese ein gewisses Minimum der St\u00e4rke, die intensive Schwelle \u00fcberschreiten, deren Gr\u00f6fse f\u00fcr eine gegebene Vorstellung wahr-","page":180},{"file":"p0181.txt","language":"de","ocr_de":"Resultat.\n181\nscheinlich konstant, von dem Grade der Aufmerksamkeit unabh\u00e4ngig, f\u00fcr verschiedene Vorstellungen aber sehr verschieden ist. W\u00e4chst die Intensit\u00e4t der Vorstellung bis \u00fcber den Wert der Schwelle an, so wird auch das Gef\u00fchl an St\u00e4rke zunehmen, das Verh\u00e4ltnis stellt sich nun aber verschieden, je nachdem die Vorstellung anf\u00e4nglich von Lust oder Unlust begleitet war. Alle urspr\u00fcnglich unlustbetonten Vorstellungen erregen fortw\u00e4hrend, wie stark sie auch werden m\u00f6gen, anwachsende Unlust, bis Bewufstlosigkeit ein-tritt; bei den urspr\u00fcnglich lustbetonten w\u00e4chst das Lustgef\u00fchl nur bis zu einem gewissen Maximum, auf welchem es sich seihst bei\nsehr bedeutenden Variationen der Intensit\u00e4t der Vorstellung scheint\n\u2022 \u2022\nunver\u00e4ndert halten zu k\u00f6nnen. \u00dcberschreitet aber die Vorstellung\ndieses Maximum, so f\u00e4ngt das Gef\u00fchl an abzunehmen, um zuletzt\n\u2022 \u2022\nin Unlust \u00fcberzuschlagen. Der \u00dcbergang aus Lust in Unlust geschieht nicht durch einen neutralen Zustand, da fremde, unlustbetonte Vorstellungen schon in einem fr\u00fcheren Stadium hinzutreten und die urspr\u00fcngliche Vorstellung begleiten.\n241. Zur n\u00e4heren Illustration des durch das Gesetz ausgedr\u00fcckten Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltnisses zwischen Vorstellung und Gef\u00fchl k\u00f6nnen wir dasselbe graphisch darstellen. Wird die St\u00e4rke der Vorstellung als Abscisse, die St\u00e4rke des Gef\u00fchls als Ordinate abgesetzt, so m\u00f6gen die positiven Ordinaten Lust, die negativen Unlust bezeichnen. +\nDie Kurve ABC (Fig. 1) wird dann das Verh\u00e4ltnis zwischen der Vorstellung und dem Gef\u00fchl bei den urspr\u00fcnglich o lustbetonten, die Kurve AD bei den urspr\u00fcnglich unlustbetonten Vorstellungen aus-\ndr\u00fccken. Das St\u00fcck O A be- ^\n\u2022\nzeichnet die intensive Schwelle :\tBig. 1.\nder Gef\u00fchlston wird erst bei einem positiven Werte der Vorstellung merkbar. Die punktierte Linie EF bezeichnet die fremden, unlustbetonten Empfindungen, die bei einer gewissen\nSt\u00e4rke der urspr\u00fcnglichen Empfindung auftauchen und den\n\u2022 \u2022\nneutralen Ubergangspunkt verdecken.","page":181},{"file":"p0182.txt","language":"de","ocr_de":"182\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nDie Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchls von der Zeitdauer der\nbetonten Vorstellung.\n242.\tIm Vorhergehenden ber\u00fccksichtigten wir nur die St\u00e4rke der bestehenden Vorstellung, indem wir voraussetzten, dafs diese sich nur eine gewisse konstante Zeit hindurch geltend machte. Die Notwendigkeit dieser Voraussetzung erwies sich deutlich durch den besprochenen Versuch [288], der uns verschiedene Resultate brachte, je nachdem die Empfindung kontinuierlich oder sprungweise anwuehs. Es geht hieraus hervor, dafs die Zeitdauer einer Vorstellung auch auf den Gef\u00fchlston Einflufs hat, selbst wenn die St\u00e4rke der Vorstellung konstant ist. Unsere Aufgabe sollte es nun sein, den Einflufs der Zeit zu untersuchen, indem wir voraussetzen, dafs die St\u00e4rke der Vorstellung unver\u00e4ndert bleibt. Mit Bezug auf die Bedeutung der Zeit f\u00fcr die Gef\u00fchle m\u00fcssen wir indes zwei verschiedene F\u00e4lle unterscheiden, die nur selten scharf auseinander gehalten worden sind, deswegen aber auch Mifsverst\u00e4ndnisse und Verwechselungen veranlagst haben. Eine gegebene Vorstellung kann n\u00e4mlich entweder w\u00e4hrend eines k\u00fcrzeren oder l\u00e4ngeren Zeitraums ununterbrochen, kontinuierlich wirken, oder auch kann sie stofsweise, intermittierend wirken, indem sie von Zeit zu Zeit best\u00e4ndig wieder im Bewufstsein auftaucht und sich l\u00e4ngere oder k\u00fcrzere Zeit hindurch geltend macht. Diese beiden F\u00e4lle werden, wie wir nun sehen sollen, von wesentlich verschiedener Bedeutung f\u00fcr den Gef\u00fchlston sein, der sich an die Vorstellung kn\u00fcpft, und wir behandeln deshalb jeden f\u00fcr sich.\n243.\tDie Vorstellung ist kontinuierlich. Bei jeder konstanten Vorstellung oder jedem konstanten Vorstellungskomplexe, der hinl\u00e4nglich lange im Vordergr\u00fcnde des Bewufstseins auftritt, kann man mit Bezug auf dessen Gef\u00fchlston mehrere verschiedene Stadien unterscheiden. Erstens gewahrt man leicht, dafs \u00fcberall, wo mehrere Vorstellungen zur Erzeugung eines Gef\u00fchlszustandes mitwirken, Zeit und Ruhe erforderlich sind, damit das Gef\u00fchl sich entfalte. Ein Kunstwerk l\u00e4fst sich nicht im Vorbeieilen geniefsen; ein schneller Gang durch eine Gem\u00e4ldegalerie gibt eigentlich keinen anderen Gewinn als den rein geographischen : man ist da gewesen. Dasselbe gilt von dem Genufs der Natursch\u00f6nheiten; man erh\u00e4lt schwerlich einen Ein-","page":182},{"file":"p0183.txt","language":"de","ocr_de":"Die extensive Schwelle.\n183\ndruck von einer anmutigen Gegend, wenn man dieselbe im Eilzug durchjagt. Wir sind aber nicht darauf beschr\u00e4nkt, aus den \u00e4sthetischen Gef\u00fchlen Beispiele herbeizuholen; jeder Vorstellungskomplex, an welchen sich normalerweise Gef\u00fchlst\u00f6ne kn\u00fcpfen, erfordert ein gewisses Besinnen, bevor das Gef\u00fchl sich mit seinem ganzen, eigent\u00fcmlichen Charakter geltend machen kann, so bei Kummer und Freude, Hoffnung und Furcht, Zorn u. s. w. Wir ber\u00fchrten im Vorhergehenden schon mehrmals, dafs eine Gem\u00fctsbewegung gew\u00f6hnlich durch einen psychophysischen Zustand eingeleitet wird, der zu dem nachfolgenden Affekt in keiner n\u00e4heren Beziehung steht [119, 163 und 167], und wir wissen ebenfalls, worauf dies beruht. Die durch den Reiz hervorgerufenen k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen treten nicht mit derselben Geschwindigkeit ein; einige entstehen fast augenblicklich bei der Reizung, w\u00e4hrend f\u00fcr das Entstehen anderer l\u00e4ngere Zeit erforderlich ist, und folglich mufs es etwas dauern, bis sich der gesamte Gef\u00fchlszustand entwickelt hat. Schon bei solchen einfachen Sinnesempfindungen, die von verh\u00e4ltnism\u00e4fsig starken organischen Ver\u00e4nderungen begleitet sind, l\u00e4fst sich diese eigent\u00fcmliche Entwickelung des Gef\u00fchlszustandes wahrnehmen. So ruft bei mir jede hinl\u00e4nglich grofse Dosis eines Bitterstoffes, namentlich schwefelsauren Chinins, im ersten Augenblick nur den unangenehm bitteren Geschmack hervor, einige Sekunden sp\u00e4ter fangen kalte Schauer mich zu \u00fcberfallen an, und erst hiermit hat der \u201eAffekt\u201c sein rechtes Gepr\u00e4ge erhalten. Unter besonders g\u00fcnstigen Verh\u00e4ltnissen wird man dies auch bei Sinnesreizen beobachten k\u00f6nnen, welche gew\u00f6hnlich nicht stark auf den Organismus einwirken. So fand Scripture, dafs einfache Farbenempfindungen mitunter, n\u00e4mlich wenn sie zuf\u00e4lligerweise keine anderen Vorstellungen reproduzierten, recht ausgepr\u00e4gte Affektzust\u00e4nde hervorrufen konnten, und diese kamen dann immer etwas sp\u00e4ter als die prim\u00e4ren Empfindungen1). Es\n1) Wundt: Phil. Studien. Bd. VI. S. 536 u. f Scripture schliefst \u2014 man w\u00e4re versucht zu sagen: nat\u00fcrlich\u2014 aus seinen Versuchsergehnissen, dafs der Gef\u00fchlston merkbar sp\u00e4ter als die Empfindung kommen k\u00f6nne. Es leuchtet indes ein, dafs Gef\u00fchlszust\u00e4nde, die sich als \u201egeheimnisvoll, m\u00e4chtig, verborgen\u201c oder als \u201eNeigung zur Traurigkeit\u201c oder \u201eNeigung zu Furcht, Schauer, Einsamkeit\u201c charakterisieren lassen, unm\u00f6glich die einfachen aber schwachen Gef\u00fchlst\u00f6ne sein k\u00f6nnen, die jede Farben-emplindung unmittelbar begleiten. Es sind offenbar affekt\u00e4hnliche Zust\u00e4nde,","page":183},{"file":"p0184.txt","language":"de","ocr_de":"184\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nliegt \u00fcbrigens in der Natur der Sache selbst, dafs je gr\u00f6fser der Komplex von Vorstellungen ist, durch welchen der Gef\u00fchlszustand eingeleitet wird, um so l\u00e4nger wird es dauern, bis der Organismus unter dem Einflufs der verschiedenen Ursachen k\u00f6rperlicher Ver\u00e4nderungen, die einander oft zum Teil entgegenwirken k\u00f6nnen, in ein gewisses Gleichgewicht kommt. Nennen wir diesen Zeitraum von unbestimmter Dauer, der vom Auftauchen der Vorstellung im Bewufstsein verl\u00e4uft, bis der Gef\u00fchlszustand seinen gesamten eigent\u00fcmlichen Charakter angenommen hat, die extensive Schwelle, so kann man also als allgemeines Gesetz aufstellen:\n244.\tEine gegebene Vorstellung mufs die extensive Schwelle \u00fcberschreiten, damit der Gef\u00fchlszustand sich vollst\u00e4ndig entwickeln kann. Der Wert der Schwelle scheint der Erfahrung gem\u00e4fs mit dem Vorstellungsinhalt anzuwachsen.\n245.\tHat die Vorstellung die extensive Schwelle \u00fcberschritten, und macht sie sich darauf fortw\u00e4hrend mit unverminderter St\u00e4rke im Bewufstsein geltend, so w\u00e4chst auch das Gef\u00fchl an St\u00e4rke bis zu einem gewissen Maximum, auf welchem es sich dann k\u00fcrzere oder l\u00e4ngere Zeit hindurch halten kann. Der weitere Verlauf des Gef\u00fchls wird sich nun wesentlich verschieden stellen, je nachdem wir mit lust- oder mit unlustbetonten Vorstellungen zu thun haben. Die Lustgef\u00fchle werden n\u00e4mlich, nachdem sie sich eine Zeitlang auf dem Maximum gehalten haben, anfangen, abgestumpft zu werden, und k\u00f6nnen schliefslich in Unlust \u00fcberschlagen. Mit Bezug auf den zeitlichen Verlauf dieser Zust\u00e4nde lassen sich also vier Stadien unterscheiden: das Stadium des Wachstums, des Maximums, der\n\u2022 * _\nAbstumpfung und der \u00dcbers\u00e4ttigung. Mit Bezug auf die Unlustgef\u00fchle l\u00e4fst sich zwar ebenfalls nach der Maximumsperiode gew\u00f6hnlich ein Stadium der Abstumpfung nachweisen, dagegen wird der Erfahrung nach ein Unlustgef\u00fchl nie in Lust \u00fcberschlagen, nur weil die Ursache des Gef\u00fchls ununterbrochen fortbesteht. Wir behandeln daher die beiden Gruppen von Zust\u00e4nden jede f\u00fcr sich. \u2014 Betrachten wir zuerst die Lustgef\u00fchle, so scheint hier in allen Stadien das oben ber\u00fchrte Gesetz\nderen das Individuum sich bewufst wird, weil zuf\u00e4lligerweise keine mehr bestimmten Vorstellungen reproduziert werden, welche die Aufmerksamkeit fesseln k\u00f6nnten.","page":184},{"file":"p0185.txt","language":"de","ocr_de":"Ver\u00e4nderungen der Lustgef\u00fchle.\n185\ng\u00fcltig zu sein: je komplizierter der Vorstellungsinhalt ist, um so l\u00e4nger ist die Dauer der Perioden. Bei den Gef\u00fchlst\u00f6nen der Sinnesempfindungen wird das Maximum fast instantan erreicht; der Genufs einer wohlschmeckenden Frucht wird schwerlich gr\u00f6fser, wenn er einige Zeit fortgesetzt wird; das H\u00f6chste, das sich erreichen l\u00e4fst, ist, dafs er nicht an St\u00e4rke verliert. Das Gefallen an einer sch\u00f6nen Farbe oder einem sch\u00f6nen Ton w\u00e4chst auch nicht durch fortgesetzte Betrachtung; das Maximum wird sogleich erreicht, und das Stadium der Abstumpfung beginnt verh\u00e4ltnism\u00e4fsig fr\u00fch. Dagegen werden der Genufs eines Kunstwerkes, das Vergn\u00fcgen an einer unterhaltenden Besch\u00e4ftigung, Kummer und Freude, welches Ursprungs sie auch sein m\u00f6gen, erst allm\u00e4hlich ihre volle St\u00e4rke und Innigkeit erreichen. Und wie das Maximum des Gef\u00fchls schneller bei den nichtzusammengesetzten Vorstellungen als bei den komplizierteren erreicht wird, so verl\u00e4uft ebenfalls deren Stadium der Abstumpfung schneller. Leicht ist dies zu beobachten, wenn man sich eine einigermafsen sanfte Leihe von \u00dcberg\u00e4ngen aus der ganz einfachen Sinnesempfindung in die komplizierteste Vorstellung bildet und den Verlauf der Gef\u00fchlst\u00f6ne der einzelnen Glieder vergleicht. Nimmt man z, B. eine einzelne Farbe, eine Kombination von zwei oder drei Farben ohne Muster, ein geometrisches polychromes Ornament und ein Gem\u00e4lde, so wird kaum jemand bezweifeln, dafs man der isolierten Farbe und der Farbenkombination sehr schnell m\u00fcde wird; \u00fcber das Ornament kann man sich schon l\u00e4nger freuen, eigentlich kann aber erst das Gem\u00e4lde eine Quelle dauerhaften Genusses werden. Beispiele in dieser Richtung bietet das t\u00e4gliche Leben in Menge dar; so werden wir, um nur ein einzelnes zu nennen,, um so l\u00e4nger bei einer erfreulichen Mitteilung verweilen k\u00f6nnen, je eingreifender und bedeutungsvoller die Nachricht ist, je gr\u00f6fser also der in Bewegung gesetzte Vorstellungskomplex wird. Allen lustbetonten Vorstellungen gemeinsam ist jedoch, dafs das Gef\u00fchl zuletzt dennoch geschw\u00e4cht wird, um schliefslich in seinen Gegensatz \u00fcberzuschlagen. Selbst die unterhaltendste Besch\u00e4ftigung, selbst die spannendste Lekt\u00fcre wird endlich erm\u00fcdend, sogar die erfreulichste Begebenheit wird zuletzt unertr\u00e4glich, wenn wir aus\nirgend einem Grunde gezwungen werden, unsere Gedanken fort-\n\u2022 \u2022 \u2022\nw\u00e4hrend mit derselben zu besch\u00e4ftigen. Es tritt \u00dcbers\u00e4ttigung","page":185},{"file":"p0186.txt","language":"de","ocr_de":"186\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nein. die durch ein Unlustgef\u00fchl charakterisiert ist, welches das Bed\u00fcrfnis der Abwechselung entstehen l\u00e4fst.\n246. Wir sahen oben [248], dafs es stets k\u00fcrzerer oder l\u00e4ngerer Zeit bedarf, bis ein Gef\u00fchlszustand seinen eigent\u00fcmlichen Charakter annimmt. Und wir fanden, dafs dieses wahrscheinlich nicht von einer Ver\u00e4nderung der Betonung der einleitenden Vorstellung herr\u00fchrt, sondern vielmehr dem Umstande zu verdanken ist, dafs sich an das prim\u00e4re Gef\u00fchl eine Reihe anderer betonten Empfindungen oder Vorstellungen kn\u00fcpfen, die sich erst im Bewufstsein angezeigt haben m\u00fcssen, bevor das Gef\u00fchl mit seinem gesamten speziellen Gepr\u00e4ge hervortritt. Es entsteht nun ganz nat\u00fcrlich die Frage, ob auch die \u00fcbrigen in der Entwickelung des Gef\u00fchls wahrzunehmenden Stadien solchen successive hinzutretenden fremden, betonten Vorstellungen zu\nverdanken sind, oder ob das Wachstum, die Abstumpfung und\n\u2022 \u2022\ndas schliefsliche \u00dcberschlagen des Gef\u00fchls von Ver\u00e4nderungen der urspr\u00fcnglichen Betonung selbst herr\u00fchren? Unter diesen beiden M\u00f6glichkeiten hat erstere unbedingt die Wahrscheinlichkeit f\u00fcr sich. Schon die Thatsache, dafs alle Perioden um so schneller verlaufen, je weniger kompliziert der Vorstellungsinhalt des prim\u00e4ren Gef\u00fchls ist, je weniger Associationsm\u00f6glichkeiten er also darbietet, macht es wahrscheinlich, dafs es gerade Associationen sind, worum es sich dreht. Die Betonung der einfachen Sinnesempfindungen w\u00e4chst nicht an St\u00e4rke, weil die Empfindung fortdauert ; sobald die extensive Schwelle \u00fcberschritten ist, hat der Gef\u00fchlszustand damit sein Maximum erreicht. Dasselbe gilt von wenig zusammengesetzten Vorstellungen, z. B. der eines Ornaments, die selten bedeutende Associationen veranlassen werden. Bei jedem mehr komplizierten Kunstwerk wird das Gef\u00fchl dagegen an St\u00e4rke zunehmen, bis wir mit demselben v\u00f6llig vertraut geworden sind, d. h. bis alle diejenigen Associationen, zu welchen das Kunstwerk Anlafs gibt, nebst ihren Betonungen im Bewufstsein aufgetreten sind [339\u201440]. Dann f\u00e4ngt bald darauf die Abstumpfung an. Beruht diese nun auf einer wirklichen Schw\u00e4chung der St\u00e4rke der vorhandenen Gef\u00fchlsbetonung, oder sind es auch hier fremde Momente, die hinzutreten und die Erscheinung hervorrufen ? Soweit ich zu ersehen vermag, werden in den meisten F\u00e4llen beide diese Momente zur Geltung kommen. \u2014 Der Einflufs fremder Faktoren l\u00e4fst sich bei vielen einfachen Sinnesempfindungen deutlich nach-","page":186},{"file":"p0187.txt","language":"de","ocr_de":"Ver\u00e4nderungen der Lustgef\u00fchle.\n187\nweisen. Macht man sich eines heifsen Sommertages an einen mit guten Beeren dicht behangenen Stachelbeerstrauch , so wird man sich allerdings, da dieses Obst nicht sonderlich s\u00e4ttigt, sehr lange dem Gen\u00fcsse ergeben k\u00f6nnen; es kommt aber doch ein Augenblick, da eine gewisse Empfindung des \u201e\u00dcberf\u00fcllens\u201c ans Auf halten mahnt. W\u00e4hrend das Lustgef\u00fchl des Geschmacks in allem Wesentlichen noch ungeschw\u00e4cht ist [siehe jedoch 247], k\u00f6nnen diese unangenehmen Empfindungen solche St\u00e4rke erlangen, dafs der Genufs unterbrochen wird. Aus dem Umstand aber, dafs Kinder, wenn es ihnen gestattet wird, sich dennoch h\u00e4ufig mit Obst \u00fcberladen, lernen wir, dafs das Lustgef\u00fchl am Geschmack noch zu einem Zeitpunkte sehr stark sein kann, da die unangenehmen Organempfindungen das Individuum daran mahnen, dafs die Grenze dessen, was der Organismus aufnehmen kann, erreicht ist. \u2014 Auf anderen Gebieten treten nat\u00fcrlich andere Unlustgef\u00fchle hinzu und rufen die Abstumpfung hervor. Betrachtet man eine Zeitlang eine ausgedehnte Fl\u00e4che mit einem sch\u00f6nen gleichartigen Farbenton, und tr\u00e4gt man Sorge, dafs st\u00f6rende Gedanken ferngehalten werden, so entsteht bald eine eigent\u00fcmliche Unlust an der Unth\u00e4tigkeit, w\u00e4hrend man gleichzeitig noch zum Teil das Gef\u00fchl von der Sch\u00f6nheit der Farbe hat. Bein instinktm\u00e4fsig suchen die Augen andere Objekte auf. Deutlicher tritt diese Unlust an Unth\u00e4tigkeit bei komplizierteren Objekten hervor. Hat man k\u00fcrzere oder l\u00e4ngere Zeit hindurch ein Gem\u00e4lde betrachtet, so f\u00e4ngt man an, sich zu langweilen und unterbricht deshalb das Beschauen. Diese Langeweile, die sich einstellt, ist offenbar aber weiter nichts, als Unlust an der Unth\u00e4tigkeit, die sich leicht aus dem oben Erw\u00e4hnten verstehen l\u00e4fst. B\u00fchrt der Genufs eines Kunstwerkes nur zum Teil von den reproduzierten Vorstellungen her, und dies ist kaum zu bezweifeln [340], so mufs auch ein Unlustgef\u00fchl entstehen, wenn die geistige Th\u00e4tigkeit aufh\u00f6rt, weil die Beziehungen des Kunstwerkes zu dem Bewufstseinsinhalt des Individuums ersch\u00f6pft sind. Wir k\u00f6nnen noch ein Beispiel nehmen, wo das Verh\u00e4ltnis so deutlich und bestimmt hervortritt, dafs an dem Zusammenhang der Sache kein Zweifel sein kann. Versucht man es, ein interessantes, aber sehr umfangreiches Buch, z. B. einen der gr\u00f6fsten und besten Bomane von Dickens, ohne andere Unterbrechung als die notwendigen Mahlzeiten, zu lesen, so werden die meisten sich wahrscheinlich gen\u00f6tigt sehen, auf halbem Wege","page":187},{"file":"p0188.txt","language":"de","ocr_de":"188\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\naufzuhalten. Nach Verlauf einer gewissen Zeit fangen brennende Schmerzen in den Augen an. und die rein k\u00f6rperliche Un-th\u00e4tigkeit macht sich auf h\u00f6chst unangenehme Weise geltend. Das Buch interessiert indes noch so lebhaft, dafs man anfangs diese Gef\u00fchle der M\u00fcdigkeit und Unth\u00e4tigkeit durchaus ignoriert, allm\u00e4hlich werden sie aber st\u00e4rker und zwingen zuletzt den Leser, das Buch von sich zu legen \u2014 indem er bedauert, dafs seine k\u00f6rperlichen Kr\u00e4fte eine Fortsetzung des Genusses nicht erlauben.\n247. Es kann, wie wir nun sahen, wohl kaum Zweifel unterworfen sein, dafs die Abstumpfung der Lustgef\u00fchle und deren Umschlagen in Unlust in den meisten F\u00e4llen darauf beruht, dafs fremde, unlustbetonte Empfindungen neben dem bestehenden Gef\u00fchl auftauchen und schliefslich so stark werden, dafs sie den Bewufstseinszustand beherrschen. Das sogenannte Umschlagen eines andauernden Lustgef\u00fchls in Unlust scheint also auf dieselbe Weise vorzugehen wie der entsprechende \u00dcbergang bei an wachsender St\u00e4rke der Vorstellung; einen neutralen \u00dcbergangspunkt gibt es nicht. In gewissen sehr einfachen F\u00e4llen stellt sich das Verh\u00e4ltnis doch ein wenig anders. Tritt man an einem kalten Tage in ein warmes Zimmer, so ist die W\u00e4rme sogleich sehr angenehm, das Gef\u00fchl wird aber schnell abgestumpft, und nach Verlauf kurzer Zeit ist der Zustand eigentlich neutral, ohne merkbare Betonung. Weit deutlicher beobachtete ich dies w\u00e4hrend der im vorigen Abschnitte besprochenen Versuche \u00fcber W\u00e4rmeempfindung. Um zu versuchen, ob die bei konstantem Eintauchen stattfindende Abstumpfung m\u00f6glicherweise noch deutlicher hervortreten w\u00fcrde, wenn der W\u00e4rmegrad sehr langsam an w\u00e4chst, stellte ich *\u2014 wie fr\u00fcher, an zwei Beobachtern \u2014 einen Versuch an, bei welchem der W\u00e4rmegrad im Laufe von 5 Minuten von 35\u00b0 bis 50\u00b0 C. stieg. Das Resultat ist in untenstehender Tabelle gegeben und der \u00dcbersicht wegen mit den [238] angef\u00fchrten entsprechenden Versuchen (bei konstantem Eintauchen) verglichen.\nDie W\u00e4rme steigt w\u00e4hrend 2' 20\" Die W\u00e4rme steigt w\u00e4hrend 5' von von 35\u00b0 bis 50\u00b0.\t35\u00b0 bis 50\u00b0.\n35\u00b0 Angenehme W\u00e4rme.\n39\u00b0\n40 0 Angen. W\u00e4rme, schwache Stiche.\nAngenehme W\u00e4rme.\nNeutraler Zustand.\nSchwache unangenehme Stiche dann und wann.","page":188},{"file":"p0189.txt","language":"de","ocr_de":"Ver\u00e4nderungen der Lustgef\u00fchle.\n189\nDie W\u00e4rme steigt w\u00e4hrend 2' 2044 von 35\u00b0 bis 50\u00b0.\n42\u00b0 bis < 45\u00b0\n48\u00b0\nWechselnde Zust\u00e4nde, jagende unangenehme Stiche mit einzelnen ruhigen Augenblicken. Schmerz.\nDie W\u00e4rme steigt w\u00e4hrend 5' von 35\u00b0 bis 50\u00b0.\nr\nUnangenehme Stiche nehmen an H\u00e4ufigkeit und St\u00e4rke zu.\nk.\nSehr unangenehme zusammenschn\u00fcrende Empfindung. Schmerz.\nWie hieraus hervorgeht, wurde trotz des sanften Anwachsens der Reizst\u00e4rke ein wirklich neutraler Zustand beobachtet. Die Ursache dieser Erscheinung nachzuweisen, ist indes nicht schwer. Es ist eine bekannte Sache, dafs der Nullpunkt des Temperatursinnes innerhalb gewisser Grenzen mit dem W\u00e4rmegrad der Umgebungen variiert, so dafs eine nicht allzu grofse Ver\u00e4nderung der Temperatur der Umgebungen nach Verlauf kurzer Zeit keine merkbare Empfindung mehr ausl\u00f6st. Tritt man z. B. aus der K\u00e4lte in einen Raum mit gew\u00f6hnlicher Zimmertemperatur, so merkt man nach Verlauf einiger Minuten die W\u00e4rme nicht mehr, obgleich diese gleich beim \u00dcbergange vielleicht unangenehm stark war. Dasselbe war bei dem erw\u00e4hnten Versuche der Fall; die Temperatur des Wassers stieg so langsam, dafs in einem gewissen Augenblick gar keine Empfindung gemerkt wurde. Wo aber keine Empfindung ist, kann auch keine Gef\u00fchlsbetonung sein, und der beobachtete neutrale Zustand ist also vielmehr einer Abstumpfung der Empfindung als einer Abstumpfung des Gef\u00fchls zuzuschreiben. Diese eigent\u00fcmliche Abstumpfung der Empfindung macht sich auch auf anderen Sinnesgebieten geltend, wenn auch weniger ausgepr\u00e4gt. Sehr deutlich ist sie auf dem Gebiete des Geruchsinnes und zum Teil auf dem des Geschmacksinnes, wenig hervortretend dagegen beim Gesicht und Geh\u00f6r. Es liegt nun in der Natur der Sache selbst, dafs diese Erscheinung \u00fcberall, wo sie vorkommt, in Verbindung mit den oben [246] besprochenen Verh\u00e4ltnissen die eigent\u00fcmliche Variation der Gef\u00fchlszust\u00e4nde erzeugen mufs, die gew\u00f6hnlich die Abstumpfung des Gef\u00fchls genannt wird. \u2014 Als Resultat dieser Untersuchungen k\u00f6nnen wir\nalso folgenden Satz aufstellen:\n248. Die sogenannte Abstumpfung eines Lustgef\u00fchls ist ein scheinbares Ph\u00e4nomen, das entweder auf einer Verminderung der St\u00e4rke der betonten Vorstellung oder darauf beruht, dafs aus","page":189},{"file":"p0190.txt","language":"de","ocr_de":"190\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nverschiedenen Ursachen fremde, unlustbetonte Empfindungen und Vorstellungen entstehen, oder endlich auf beiden diesen Faktoren im Verein.\n249. Gehen wir nun zu den Unlustgef\u00fchlen \u00fcber, so zeigen diese durchweg Perioden von gr\u00f6fserer Dauer. So wird ein k\u00f6rperlicher Schmerz gew\u00f6hnlich um so unertr\u00e4glicher werden, je l\u00e4nger er andauert, und hat er endlich ein Maximum erreicht, kann er sich lange auf diesem halten, ohne merkbar abgestumpft zu werden. Dasselbe gilt auch von den seelischen Schmerzen, Kummer, Zweifel u. s. w.; diese treten auch selten sogleich mit ihrer vollen St\u00e4rke auf und werden nur sehr langsam abgestumpft. Der Zweifel ist gerade ein vorz\u00fcgliches Beispiel in dieser Richtung. Je l\u00e4nger die Ungewifsheit dauert, um so unertr\u00e4glicher wird der Zustand, so dafs man zuletzt der an-\n__ 9 9\nhaltenden Ungewifsheit die unangenehme Gewifsheit des \u00c4rgsten, das geschehen kann, vorzieht. Jedoch beginnen auch die Unlustgef\u00fchle fr\u00fcher oder sp\u00e4ter stumpf zu werden. Da hier nicht wohl von einem Mitwirken fremder Faktoren die Rede sein kann, liegt die Annahme nahe, dafs diese Abstumpfung darauf beruht, dafs das Nervensystem w\u00e4hrend der gewaltigen Arbeit, welche die Erhaltung der Unlustzust\u00e4nde wohl stets erfordert, allm\u00e4hlich ersch\u00f6pft wird. Hierf\u00fcr scheint auch der bekannte Umstand zu sprechen, dafs sowohl die \u201ek\u00f6rperlichen\u201c als die \u201eseelischen\u201c Schmerzen w\u00e4hrend der Abstumpfung oft periodisch auf h\u00f6ren, um dann kurz darauf, aber an St\u00e4rke merkbar geschw\u00e4cht, wieder anzufassen. Auf diese Weise kann der Gef\u00fchlszustand nach Null konvergieren, wogegen sich kein Fall anf\u00fchren l\u00e4fst, in welchem die Unlust durch fortw\u00e4hrendes Bestehen in Lust \u00fcberginge. Dafs das Gegenteil stattfinden kann, dafs Lust allm\u00e4hlich in Unlust \u00fcberzugehen vermag, beruht, wie wir sahen, ganz einfach darauf, dafs fremde, unlustbetonte Vorstellungen auftauchen, die zuletzt den urspr\u00fcnglichen Lustzustand verdr\u00e4ngen k\u00f6nnen. Ist aber ein Unlustzustand bis zur Unmerkbarkeit abgestumpft, so ist stets gewifs die urspr\u00fcngliche, betonte Empfindung nebst ihrer Betonung verschwunden, und taucht sie wieder auf, so wird sie sich aufs neue mit Unlust, nicht aber mit einer Lustbetonung melden. Man f\u00fchrt allerdings h\u00e4ufig die bekannte Sache an, dafs das Tabakrauehen, das dem Anf\u00e4nger doch gew\u00f6hnlich Unannehmlichkeiten verursacht, zuguterletzt ein fast unentbehrlicher Genufs wird,","page":190},{"file":"p0191.txt","language":"de","ocr_de":"Ver\u00e4nderungen der Unlustgef\u00fchle.\n191\ndieser und analoge F\u00e4lle geh\u00f6ren aber gar nicht hierher. Denn bislang hat noch kein Mensch vermocht, durch kontinuierlichen, ununterbrochenen Genufs eines Giftstoffes, es sei nun Nikotin oder irgend ein anderer, die unangenehmen Wirkungen in angenehme umzuwandeln. Das H\u00f6chste, das sich auf diese Weise erreichen l\u00e4fst, ist Schmerzlosigkeit, wie der Dichter Wessel sagt: \u201ezwar mufst\u2019 er sterben d;ran, doch hielt das Fieber auf.\u201c Nur wenn man von Zeit zu Zeit kleine Quantit\u00e4ten einnimmt, kann man den Organismus allm\u00e4hlich an das Gift gew\u00f6hnen und dieses sogar zur Notwendigkeit machen. Also nicht durch kontinuierliche, sondern nur durch intermittierende Wirkung kann eine Unlust im Laufe der Zeit in Lust \u00fcbergehen, und es ist folglich nur eine Vermengung dieser ganz verschiedenen Verh\u00e4ltnisse, die dazu bewogen hat, den genannten Fall hierunter anzuf\u00fchren.\nDas Resultat der vorangehenden Betrachtungen k\u00f6nnen wir nun zusammenfassen in folgendem:\n250.\t\u201eGesetz von der Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchls von der Zeitdauer einer kontinuierlichen Vorstellung\u201c :\nEine gegebene Vorstellung mufs, um einen bestimmten Gef\u00fchls-mstand hervorrufen zu k\u00f6nnen, ein gewisses Minimum der Zeitdauer, die extensive Schwelle haben. Besteht die Vorstellung \u00fcber diesen Zeitraum hinaus fort, so wird der Gef\u00fchlston erst an St\u00e4rke bis zu einem Maximum wachsen, auf welchem er sich einige Zeit behaupten kann, um endlich stumpf zu werden. Diese Abstumpfung ist indes ein rein scheinbares Ph\u00e4nomen [248]. H\u00e4lt die Vorstellung bis \u00fcber diesen Punkt hinaus an, so wird in betreff der urspr\u00fcnglich lustbetonten Vorstellungen ein Umschlag eintret en, indem das Gef\u00fchl in Unlust \u00fcbergeht; in betreff der urspr\u00fcnglich unlustbetonten Vorstellungen scheint dagegen ein solcher Umschlag nicht stattfinden zu k\u00f6nnen. \u2014 Hinsichtlich der Dauer der einzelnen Perioden gilt das Gesetz, dafs deren Ausdehnung um so k\u00fcrzer ist, je weniger kompliziert die betonte Vorstellung ist. Ceteris paribus werden die Perioden bei Unlustgef\u00fchlen durchweg gr\u00f6fsere Ausdehnung haben als bei Lustgef\u00fchlen.\n251.\tZur besseren Erhellung des durch das Gesetz aus-gedr\u00fcckten Verh\u00e4ltnisses zwischen der Zeitdauer des Gef\u00fchls und der der Vorstellung k\u00f6nnen wir dasselbe wie oben graphisch darstellen. Wir setzen die Zeit von dem Augenblick, da die Vorstellung im Bewufstsein auftaucht, als Abscisse ab. Die St\u00e4rke des Gef\u00fchls wird als Ordinate genommen, so dafs die","page":191},{"file":"p0192.txt","language":"de","ocr_de":"192\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\npositive Bichtung der Ordinatenachse Lust, die negative aber\nist die extensive Schwelle. Die Kurve AB bezeichnet den Verlauf eines Gef\u00fchls-zustandes mit wenig zusammengesetztem V orstel-lungsinhalt, mit einer einfachen Empfindung. Das Gef\u00fchl steigt j\u00e4h bis zum Maximum, und nimmt dann ganz langsam ab, aber schon nach Verlauf kurzer Zeit tauchen fremde, unlust-betonte Empfindungen, EF, auf, die schnell an St\u00e4rke wachsen und bald die im Bewufstsein alleinherrschenden werden. Ganz denselben Verlauf w\u00fcrde man bei komplizierteren Gef\u00fchlszust\u00e4nden haben, nur mit etwas l\u00e4ngerer Dauer der einzelnen Perioden. \u2014 Die Kurve AD bezeichnet das Verh\u00e4ltnis bei unlustbetonten Vorstellungen ; um den h\u00e4ufig intermittierenden Charakter des Gef\u00fchls zu bezeichnen, ist das Ende der Kurve dann und wann unterbrochen.\n252. Die Vorstellung ist intermittierend. Die Erfahrung lehrt, dafs ein Gef\u00fchl nicht nur dann abgestumpft werden kann, wenn die betonte Vorstellung fortw\u00e4hrend im Bewufstsein waltet, sondern auch, wenn sie stets wieder auftaucht, selbst wenn sie sich jedesmal nur verh\u00e4ltnism\u00e4fsig kurze Zeit hindurch geltend macht. Sowohl unlust- als lustbetonte Zust\u00e4nde k\u00f6nnen auf diese Weise abgestumpft werden, und es scheinen hierdurch jedenfalls ann\u00e4hernd neutrale Zust\u00e4nde entstehen zu k\u00f6nnen; die hierzu erforderliche Zeit ist nat\u00fcrlich aber in hohem Grade davon abh\u00e4ngig, teils wie h\u00e4ufig die betonte Vorstellung wiedererscheint, teils wie lange sie jedesmal zur Geltung kommt. Wir werden dies nun mittels einiger einzelnen Beispiele, die zugleich dazu dienen k\u00f6nnen, die eigentliche Art und Weise der Abstumpfung zu erhellen, im Folgenden nachweisen. Wohlbekannt ist die Abstumpfung der Gef\u00fchle f\u00fcr unser t\u00e4gliches Hausger\u00e4t. Sogar ein M\u00f6bel, das man urspr\u00fcnglich seiner Sch\u00f6nheit wegen anschaffte, wird nach Verlauf kurzer Zeit die Aufmerksamkeit nicht mehr fesseln; tritt man ins Zimmer, so sieht man mit\nUnlust bezeichnet. Das St\u00fcck OA\nFig. 2.","page":192},{"file":"p0193.txt","language":"de","ocr_de":"Abstumpfung durch Wiederholung.\n193\neinem einzigen Blick, dafs es sich am gew\u00f6hnlichen Platze befindet, und damit ist dessen Rolle ausgespielt. Mit den Kunstwerken an unseren W\u00e4nden verh\u00e4lt es sich \u00e4hnlicherweise. Auch Unlustgef\u00fchle werden abgestumpft. Eine neue Mode der Kleidung kann uns anfangs h\u00e4fslich Vorkommen, allm\u00e4hlich s\u00f6hnt man sich aber mit derselben aus. Selbst st\u00e4rkere Unlustgef\u00fchle k\u00f6nnen auf diese Weise zuletzt unmerkbar werden. Wer h\u00e4ufig Anf\u00e4lle einer nur nicht allzu schmerzhaften Krankheit hat, wird zuletzt mit denselben so vertraut, dafs er sie nicht mehr beachtet. In allen diesen und in analogen F\u00e4llen ist es leicht zu sehen, wie die Abstumpfung zu st\u00e4nde kommt. Dieselbe beruht augenscheinlich darauf, dafs wir die Aufmerksamkeit willk\u00fcrlich nach anderen Richtungen lenken. Hat man sieh mit einem einzigen Blick \u00fcberzeugt, dafs die t\u00e4glichen Umgebungen unver\u00e4ndert sind, so vertieft man sich in seine Arbeit oder eine andere Besch\u00e4ftigung. Sobald der Kranke dar\u00fcber im reinen ist, dafs es die alten, bekannten Symptome sind, sucht er die Schmerzen zu vergessen, indem er sich etwas zu thun macht, und nur wenn ein derartiges Vergessen ihm m\u00f6glich ist, wird von einer Abstumpfung die Rede sein k\u00f6nnen. Das Verh\u00e4ltnis ist hier also ein \u00e4hnliches wie das [247] behandelte; der Gef\u00fchlszustand ist nur darum abgestumpft, weil die Vorstellung nicht deutlich im Bewufstsein hervortritt. Geschieht es also einmal, dafs man die Aufmerksamkeit nicht ablenkt, so mufs auch das Gef\u00fchl wieder hervortreten. Dafs dies der Fall ist, zeigt denn auch die Erfahrung. W\u00fcrdigt man die Kunstwerke an seiner Wand einmal n\u00e4herer Betrachtung, so werden dieselben einem noch Vergn\u00fcgen schaffen k\u00f6nnen. Indes ist es klar, dafs es hier in wesentlichem Grade darauf ankommt, ob man die Associationsm\u00f6glichkeiten nicht schon ersch\u00f6pft hat, denn alsdann wird eine erneuerte Betrachtung schnell und leicht Langeweile erzeugen [246]. Die Photographie einer Gegend, in welcher man interessante Begebenheiten erlebte, wird deshalb eher eine Quelle best\u00e4ndigen Genusses sein k\u00f6nnen als selbst ein vorz\u00fcgliches Gem\u00e4lde, das mit den Erlebnissen des Individuums in keiner bestimmten Beziehung steht. Die Abstumpfung kann also auch hier darauf beruhen, ob sich fremde, unlustbetonte Zust\u00e4nde neben dem urspr\u00fcnglichen Gef\u00fchle geltend machen, und am h\u00e4ufigsten wird dies wohl Langeweile, Unlust an Unth\u00e4tigkeit sein. Wir kommen also zu folgendem Ergebnis:\nLehmann, Die Gef\u00fchle.\n13","page":193},{"file":"p0194.txt","language":"de","ocr_de":"194\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\n253.\tEin Gef uhIszustan\u00e4 wird durch Wiederholung auf \u00e4hnliche Weise abgestumpft wie durch best\u00e4ndiges Fortdauern. Entweder tritt der Vorstellungsinhalt des Gef\u00fchls nicht deutlich im Bewufstsein hervor, weil die Aufmerksamkeit nach anderen Richtungen gekehrt ist, oder auch tauchen fremde, unlustbetonte Zust\u00e4nde auf oder beide diese Umst\u00e4nde wirken im Verein.\n254.\tIst ein Gef\u00fchlszustand nun durch best\u00e4ndige Wiederholung bis zur Unmerkbarkeit abgestumpft, so zeigt es sich, dafs die urspr\u00fcnglich betonte Vorstellung in emotioneller Beziehung dennoch nicht ganz ohne Bedeutung ist, indem ihr Nicht-Vorhandensein im Bewufstsein in bestimmten Momenten von Unlust begleitet sein wird. Dies ist eines der f\u00fcr das Gef\u00fchlsleben bedeutungsvollsten Gesetze: \u201edas Gesetz von der Unentbehrlichkeit des Angewohnten\u201c, das wir folgendermafsen formulieren k\u00f6nnen :\n1st eine urspr\u00fcnglich lust- oder unlustbetonte Vorstellung durch h\u00e4ufge Wiederholung ann\u00e4hernd unbetont geworden, so wird deren Nicht-Vorhandensein im Bewufstsein in bestimmten Momenten von Unlust begleitet sein.\n255.\tDie allgemeine G\u00fcltigkeit und weitreichende Bedeutung dieses Gesetzes bedarf kaum des eingehenden Nachweises. Es ist ja eben das Charakteristische f\u00fcr alles, was wir angewohnte Verh\u00e4ltnisse nennen, dafs man denselben, solange man sich unter ihnen befindet, keine gr\u00f6fsere Bedeutung beileg;, sich aber unangenehm ber\u00fchrt findet, sobald ein Eingriff in sie geschieht. Dies zeigt sich auf allen Gebieten des Lebens. An dem Grade der Ordnung, Reinlichkeit, Traulichkeit und des Luxus, mit welchem wir uns im t\u00e4glichen Leben umgeben , an dem Mafse von Freiheit, Licht und Luft, \u00fcber das wir gew\u00f6hnlich verf\u00fcgen k\u00f6nnen, haben wir unsere \u201estandard of life\u201c, der wir selten besondere Aufmerksamkeit schenken, bis sie an irgend einem Punkte unter das Normale sinkt, was sogleich eine Entbehrung, eine Unlust mit sich bringt. Wer sollte nicht die Schreckenv des grofsen j\u00e4hrlichen Reinmachens 1) kennen? Wenn es keinen einzigen Raum im Hause gibt, wo man ungest\u00f6rt sein kann, wenn es \u00fcberall feucht, kalt und unwohnlich ist, dann f\u00fchlt man erst, wie hoch man die allt\u00e4gliche Ruhe und Ordnung sch\u00e4tzt. Auch auf anderen Gef\u00fchlsgebieten tritt uns die G\u00fcltigkeit\n9 Wohl eine speziell d\u00e4nische Erscheinung!","page":194},{"file":"p0195.txt","language":"de","ocr_de":"Unentbehrlichkeit des Angewohnten.\n195\ndes Gesetzes entgegen. Wenn alte, einsame Frauen Hunde, Katzen oder V\u00f6gel um sich haben, die zum Gegenstand ihrer gesamten Liebe gemacht werden, so ist es wieder die Unentbehrlichkeit des Angewohnten, die sich auf schlagende Weise verr\u00e4t. Es f\u00e4llt ihnen zu hart, Menschen zu vermissen, denen sie sich opfern k\u00f6nnten, und sie suchen deswegen in arideren lebenden Wesen Ersatz. \u2014 F\u00fcr die ethischen Gef\u00fchle ist das Gesetz ebenfalls von grofser Bedeutung, und hier tritt es sogar in einen recht sonderbaren Gegensatz zu dem Gesetze der Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchls von der kontinuierlichen Vorstellung, mit welchem es so oft vermengt worden ist. Man hat n\u00e4mlich folgendes Problem aufgestellt: wenn alle Gef\u00fchle durch Wiederholung abgestumpft werden, wie ist es dann m\u00f6glich, dafs die ethischen Gef\u00fchle sich ein ganzes Leben hindurch nicht nur frisch erhalten k\u00f6nnen, sondern sogar scheinbar an St\u00e4rke zunehmen , so dafs ein Mensch sich um so schwieriger auf eine unmoralische Handlung einlassen wird, je \u00f6fter er der Versuchung ausgesetzt war und dieselbe \u00fcberwand? Die Thatsache, von welcher man hier ausgeht, dafs das ethische Handeln im Laufe der Zeit sicherer wird, l\u00e4fst sich kaum bestreiten, und anderseits leuchtet ein, dafs dies dem Gesetze der Abstumpfung anscheinend widerstreitet. Das Unerkl\u00e4rliche verschwindet indes, i sobald man das Gesetz von der Unentbehrlichkeit des Angewohnten mit in Anschlag bringt. Denn selbst wenn man auch annimmt, das Pflichtgef\u00fchl werde im Laufe der Zeit abgestumpft wie jedes andere Gef\u00fchl, wird das best\u00e4ndige Streben, seine Pflicht zu erf\u00fcllen und recht zu handeln, dem Menschen wertvollen Ersatz f\u00fcr die Schw\u00e4chung des Gef\u00fchls geben ; das ethische Handeln wird angewohnt, und die blofse Vorstellung von einer Unterbrechung der Feinheit und Ordnung des Lebenswandels wird Abscheu erregen.\n256. Endlich geh\u00f6ren auch die oben erw\u00e4hnten F\u00e4lle hierher, in welchen urspr\u00fcnglich unlustbetonte Vorstellungen im Laufe der Zeit in Lusterregung \u00fcbergingen. Das bekannteste Beispiel hiervon w\u00e4re wohl das Tabakrauchen. Durch h\u00e4ufige Wiederholung wird erst das urspr\u00fcngliche Unlustgef\u00fchl geschw\u00e4cht, und indem der Organismus sich im Laufe k\u00fcrzerer oder l\u00e4ngerer * Zeit an das Gift gew\u00f6hnt, wird das Bed\u00fcrfnis Unlust erwecken. Mit diesem Bed\u00fcrfnis verh\u00e4lt es sich nun aber bei den verschiedenen Menschen sehr verschieden. Der starke Tabakraucher\n13*","page":195},{"file":"p0196.txt","language":"de","ocr_de":"196\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\n(der Kettenraucher) wird das Bed\u00fcrfnis f\u00fchlen, sobald er mit dem Rauchen aufh\u00f6rt*, ein solcher wird daher von Morgen bis Abend mit der Pfeife oder Zigarre im Munde sitzen k\u00f6nnen. Bei anderen tritt das Bed\u00fcrfnis nur zu verschiedenen Zeiten, z. B. gleich nach den Mahlzeiten, oder mit bestimmten Zwischenr\u00e4umen auf, und aufser diesen Augenblicken bringt ihnen das Rauchen auch keinen besonderen Genufs. Letzterer Umstand zeigt, dafs die Lust wirklich auf Befriedigung eines Bed\u00fcrfnisses beruht, diese Lust ist nat\u00fcrlich aber ebenso positiv als alle andere Lust. Dies geht aus den vorher besprochenen Versuchen mit dem Tabakrauchen deutlich hervor [123]. Ganz dasselbe gilt wahrscheinlich auch von den anderen derartigen Gen\u00fcssen, die anfangs keine durchaus ungetr\u00fcbten sind, z. B. dem Opiumrauchen u. s. w. Analogien aus dem Gebiete der seelischen Schmerzen liefsen sich wohl ebenfalls aufweisen. Wenn S. Kierkegaard die Bemerkung hinwirft: \u201eViele Menschen betrachten es als eine der Bequemlichkeiten des Lebens, Kummer zu haben\u201c1), so ist der Satz allerdings nicht eindeutig, und wie der Verfasser ihn verstanden wissen will, ist wohl nicht leicht zu entscheiden. Es m\u00f6chte indes nicht ganz unm\u00f6glich sein, im wirklichen Leben Beispiele nachzuweisen, dafs Personen, die viele Sorgen hatten, sich im Laufe der Zeit so daran gew\u00f6hnt haben, dafs sie in einem sorgenlosen Augenblick etwas vermissen. Sicher ist es allenfalls, dafs es Menschen gibt, die Verdrufs gar nicht entbehren k\u00f6nnen, so dafs sie sich selbst denselben schaffen, wenn ihre Umgebungen ihnen das erforderliche Quantum nicht zuf\u00fchren.\nDie Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchls von fremden, von anfsen\nher gegebenen Vorstellungen.\nDie betonte und die modifizierenden Vorstellungen sind gleichartig und betreffen verschiedene Objekte.\nKontrast der Gef\u00fchle.\n257. In der Einleitung zu diesem Abschnitte gingen wir davon aus, dafs gewisse Modifikationen des Gef\u00fchlstones einer gegebenen Vorstellung dadurch herbeigef\u00fchrt werden k\u00f6nnten,\n1) Viktor Eremita : Enten \u2014 Eller (Entweder \u2014 Oder). 4. Aufl. I. S. 6.","page":196},{"file":"p0197.txt","language":"de","ocr_de":"Beispiele des Kontrastes.\n197\ndafs andere Vorstellungen entweder gleichzeitig mit oder unmittelbar vor der betonten Vorstellung voraus im Bewufstsein\n\u2022 \u2022\nvorhanden w\u00e4ren. Und ferner nahmen wir an, dafs die \u00c4nderungen des Gef\u00fchlstones teils von der gr\u00f6fseren oder geringeren Verwandtschaft, teils von dem n\u00e4heren oder ferneren \u00e4ufseren Ber\u00fchrungsverh\u00e4ltnisse zwischen der betonten und den modifizierenden Vorstellungen abhangen w\u00fcrden. Indem wir nun zur n\u00e4heren Untersuchung eines einzelnen dieser F\u00e4lle \u00fcbergehen, desjenigen n\u00e4mlich, in welchem die betonte und die modifizierenden Vorstellungen gleichartig sind und verschiedene Objekte betreffen, wollen wir damit anfangen, dafs wir mit Hilfe verschiedener Beispiele nachweisen, dafs die St\u00e4rke des Gef\u00fchls wirklich von | dem Vorhandensein dieser fremden Vorstellungen abh\u00e4ngig ist. i\t258. Beispiele von derartigen Gef\u00fchlsmodifikationen, wie\nwir hier betrachten sollen, geh\u00f6ren zu den allgemeinsten psychologischen Erfahrungen. Sitzt man eines Winterabends im warmen und traulichen Zimmer bei einer angenehmen Besch\u00e4ftigung und i h\u00f6rt den Wind heulen und den Regen an die Fensterscheiben schlagen, so wird die Vorstellung von der Finsternis, K\u00e4lte und Unheimlichkeit draufsen das Wohlbehagen, das man an dem gesch\u00fctzten Aufenthalt f\u00fchlt, in hohem Mafse vergr\u00f6fsern. Und umgekehrt, die Vorstellung, ins Unwetter hinaus zu m\u00fcssen, wird um so abschreckender sein, je besser man sich in seinen vier Pf\u00e4hlen befindet. In diesen F\u00e4llen ist es zun\u00e4chst die Beziehung zu gleichzeitig gegebenen Vorstellungen, die die St\u00e4rke der Gef\u00fchlst\u00f6ne bestimmt; aber auch bei successive gegebenen wird die Beziehung der Vorstellungen von Bedeutung f\u00fcr die Gef\u00fchle. So ist das Unbehagen, wenn man bei schlechtem W^etter hinaus mufs, gew\u00f6hnlich um so gr\u00f6fser, je wohler es einem drinnen war. Kommt man aus einem warmen Zimmer, so werden die K\u00e4lte und der Wind weit unangenehmer gef\u00fchlt, als wenn man einen kalten und unheimlichen Raum verl\u00e4fst; in letzterem Falle kann rasche Bewegung im Freien unter den genannten Verh\u00e4ltnissen sogar zur Annehmlichkeit werden. Ist man lange nicht krank gewesen, so wird ein k\u00f6rperliches Unwohlsein weit st\u00e4rker gef\u00fchlt als w\u00e4hrend Perioden, in welchen ein vollst\u00e4ndig normaler Zustand zu den Seltenheiten geh\u00f6rt. Und umgekehrt ist die Empfindung der wieder erworbenen Gesundheit nach einer langwierigen Krankheit von entschiedener Lust begleitet, w\u00e4hrend man unter normalen Verh\u00e4ltnissen die Gesundheit eigentlich","page":197},{"file":"p0198.txt","language":"de","ocr_de":"198\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nnicht \u201ef\u00fchlt\u201c. Mit der sogenannten psychischen Lust und Unlust verh\u00e4lt es sich ebenso. In tr\u00fcbseligen Zeiten kann ein einzelner Lichtpunkt, ein einzelnes erfreuliches Ereignis weit mehr aufheiternd wirken, als unter gl\u00fccklicheren, sorgenlosen Zust\u00e4nden. Unter dr\u00fcckenden \u00f6konomischen Verh\u00e4ltnissen betrachtet man eine kleine, unerwartete Einnahme als ein grofses Gl\u00fcck, w\u00e4hrend man unter g\u00fcnstigeren Verh\u00e4ltnissen die n\u00e4mliche Summe kaum beachten w\u00fcrde. Wir werden mehr erstaunt und erfreut, wenn wir h\u00f6ren, dafs eine Person, von welcher wir nie eine edle Handlung erwarteten, einmal eine solche ausgef\u00fchrt hat, als wenn ein nobler Charakter der Reihe seiner uneigenn\u00fctzigen Handlungen ein neues Glied hinzuf\u00fcgt. Der Anf\u00e4nger in irgend einem k\u00f6rperlichen Sport oder einer Geschicklichkeit, bei welcher pers\u00f6nliche T\u00fcchtigkeit das Entscheidende ist, kann sich nicht sonderlich unangenehm dadurch ber\u00fchrt f\u00fchlen, dafs er in einem Wettstreit besiegt wird, wogegen derjenige, der schon die Meisterschaft errungen hat, eine Niederlage als \u00e4ufserst kr\u00e4nkend f\u00fchlen wird. \u2014 Den \u00e4sthetischen Gef\u00fchlen hat F e c h n e r folgendes treffende Beispiel entnommen. Jedes Kunstwerk gewinnt durch einen Vergleich mit weniger vollkommenen Werken derselben Art. Kenner, die die geschichtliche Entwickelung der Kunst verfolgen, k\u00f6nnen oft grofses Gefallen an sehr un-vollkommnen Kunstwerken finden, indem sie n\u00e4mlich den grofsen Fortschritt in Betracht ziehen, den solche Arbeiten im Gegensatz zu fr\u00fcheren, noch unvollkommneren zeigen k\u00f6nnen ; wogegen Nichtkenner, denen die geschichtliche Entwickelung unbekannt ist, dieselben nur mit den vollkommneren Werken der Gegenwart vergleichen und sie deshalb ung\u00fcnstig beurteilen.\nEine gr\u00f6fsere Anh\u00e4ufung von Beispielen d\u00fcrfte \u00fcberfl\u00fcssig sein. Die schon angef\u00fchrten m\u00f6gen gen\u00fcgen, um zu zeigen, dafs die St\u00e4rke des Gef\u00fchlstones, der sich an eine bestimmte Vorstellung kn\u00fcpft, keineswegs konstant ist, sondern von anderen lust- oder unlustbetonten Vorstellungen abh\u00e4ngt, die zugleich oder unmittelbar voraus vorhanden sind. Und in allen angef\u00fchrten F\u00e4llen erweist sich dies:\n259. jEin Lustgef\u00fchl wird verh\u00e4ltnisni\u00e4fsig st\u00e4rker, wenn es zu unlustbetonten oder weniger lustbetonten Vorstellungen in Gegensatz tritt, mit diesen kontrastiert ; und ein Unlustgef\u00fchl wird Verh\u00e4ltnis-m\u00e4fsig st\u00e4rker, wenn es mit lustbetonten oder weniger unlustbetonten Vorstellungen kontrastiert.","page":198},{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"Bedingungen des Kontrastes.\n199\n260.\tWir m\u00f6gen nun als gegeben voraussetzen, dafs Gef\u00fchle dadurch verst\u00e4rkt werden k\u00f6nnen, dafs diejenigen Vorstellungen, an welche die Gef\u00fchlst\u00f6ne gebunden sind, miteinander kontrastieren, und die Frage wird nun, ob solche Kontrastwirkung stets stattfindet oder nur unter gewissen Bedingungen entstehen kann. Wir machten es zwar wahrscheinlich, dafs der Kontrast sich auf allen Gebieten des Gef\u00fchls, d. h. zwischen allen Gattungen von Vorstellungen, mit welchen Gef\u00fchlst\u00f6ne \u00fcberhaupt verbunden sind, \u00e4ufsern k\u00f6nne; hieraus folgt aber doch nicht, dafs derselbe in allen F\u00e4llen eintreten wird. Es wird also notwendig sein, die Bedingungen zu untersuchen, unter welchen er stattfinden kann. Allerdings sollte man diese, zum Teil wenigstens, in der Psychologie der Erkenntnis aufsuchen k\u00f6nnen, da es das Verh\u00e4ltnis zwischen der betonten und den modifizierenden Vorstellungen ist, das die Variation des Gef\u00fchls herbeif\u00fchrt, und infolge dessen die allgemeinen Bedingungen f\u00fcr den Kontrast der Vorstellungen auch die Bedingungen f\u00fcr den Kontrast der Gef\u00fchle sein m\u00fcssen. Eine solche Hinweisung auf die Lehre von der Erkenntnis wird uns hier aber nicht viel n\u00fctzen, da die Gesetze von dem Kontraste der Vorstellungen uns nur wenig bekannt sind, indem sie erst w\u00e4hrend der letzten Jahre in den psychophysischen Laboratorien zum Gegenstand der Nachforschung gemacht sind. Eine vollst\u00e4ndige Darstellung dieser Gesetze l\u00e4fst sich also nicht geben, wenigstens nicht im Augenblick, und die Sache ist allzu weitl\u00e4ufig, als dafs wir uns, unseres speziellen Zweckes wegen, auf eine experimentelle Untersuchung einlassen k\u00f6nnten. Wir m\u00fcssen uns deshalb darauf beschr\u00e4nken, die augenf\u00e4lligsten Gesetze nachzuweisen, die sich durch eine Betrachtung verschiedener Beispiele auf dieselbe Weise herleiten lassen, wie wir die Existenz des Kontrastes der Gef\u00fchle selbst konstatierten. Und das Nat\u00fcrlichste wird nun sein, den Anfang damit zu machen, dafs wir die Notwendigkeit der beiden Bedingungen darlegen, die wir hier stillschweigend vorausgesetzt haben, n\u00e4mlich dafs die betonte und die modifizierenden Vorstellungen V gleichartig sind und 2\u2019 verschiedene Objekte betreffen.\n261.\tEs ist eine bekannte Sache, dafs zwischen zwei durchaus verschiedenen Vorstellungen, wie z. B. einem k\u00f6rperlichen Schmerz und der Betrachtung eines Gem\u00e4ldes oder dergl., kein Kontrast stattfinden kann. Es wird niemand einfallen, anzunehmen, man h\u00e4tte gr\u00f6fseren Genufs an einem Kunstwerk,","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200\n- Die speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nwenn man gleichzeitig Zahnweh h\u00e4tte, als wenn man vollst\u00e4ndig normal ist. Im Gegenteil, ein solcher Schmerz wird die Aufmerksamkeit ablenken und somit den ruhigen Genufs unm\u00f6glich machen. Ein gewandter Schachspieler, der dar\u00fcber \u00e4rgerlich wird, dafs er eine Partie an jemand verliert, dem er \u00fcberlegen zu sein glaubte, kann nicht sonderlich affiziert werden, wenn er im Wettlaufen seinen Meister findet. Zwischen so verschiedenen Vorstellungen ist kein Kontrast m\u00f6glich. Ein gutes Gem\u00e4lde kann durch den Vergleich mit einem weniger guten gewinnen, aber nicht mit schlechter Musik kontrastieren. Rein ausnahmsweise kann etwas Derartiges indes anscheinend stattfinden, und da ein solcher Fall recht erl\u00e4uternd ist, wollen wir einen Augenblick bei demselben verweilen. \u2014 Wir denken uns einen musikliebenden Mann an seiner Arbeit sitzend. Nach und nach f\u00e4ngt die aufwachsende weibliche Jugend der ganzen Nachbarschaft an, das Klavier mit Tonleitern, L\u00e4ufen und anderen musikalischen \u00dcbungen, die nicht eben auf einen Genufs berechnet sind, zu bearbeiten. Eine\n:\nZeitlang k\u00e4mpft der Studierende mit der Energie der Verzweiflung, um die Gedanken bei der Arbeit zu halten; die Stellung wird jedoch unhaltbar, und zuletzt gibt er dieselbe auf und geht in eine Gem\u00e4ldeausstellung, um sich dort die Zeit zu vertreiben. Sein Genufs der einzelnen Kunstwerke wird nun anscheinend durch die schlechte Musik beeinflufst werden k\u00f6nnen, die ihn aus dem Hause vertrieb, und zwar in doppelter Richtung. Entweder kann er n\u00e4mlich in eine so unzufriedene Stimmung, \u201eschlechte Laune\u201c, gekommen sein, weil er das Arbeiten aufgeben mufste, dafs er gar nicht zu geniefsen vermag1). Oder auch kann der \u00dcbergang aus der vorigen Unruhe in die gegenw\u00e4rtige friedliche und ungest\u00f6rte Betrachtung bewirken, dafs er die Kunstwerke weit intensiver geniefst, als dies unter anderen vorausgehenden Umst\u00e4nden der Fall gewesen w\u00e4re. Bei rein oberfl\u00e4chlicher Betrachtung k\u00f6nnte man freilich sagen, hier sei ein Kontrast zwischen Malerei und Musik, es ist aber leicht zu sehen, dafs es nicht das einzelne Kunstwerk ist, dessen .Wert durch einen Vergleich mit der schlechten Musik erh\u00f6ht wird, sondern dafs es die Situation als Totalit\u00e4t, der angenehme Friede und Kunstgenufs ist, die mit der vorigen Situation, den St\u00f6rungen und den nichts weniger als ansprechenden Finger\u00fcbungen\n1) \u00dcber dieses eigent\u00fcmliche Verh\u00e4ltnis N\u00e4heres unten [293 und 345].","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"Bedingungen des Kontrastes.\n201\nkontrastiert. In allen diesen F\u00e4llen sehen wir also, dafs gar kein Kontrast zu st\u00e4nde kommt, wenn die beiden Vorstellungen so ungleichartig sind, dafs ein Vergleich unm\u00f6glich ist; nur wo sich ein \u00c4hnlichkeitspunkt der Vorstellungen findet, wird eine Verst\u00e4rkung des Gef\u00fchls stattfinden k\u00f6nnen.\n262.\tDafs Gleichartigkeit der Vorstellungen eine notwendige Bedingung f\u00fcr den Gef\u00fchlskontrast ist, geht ferner daraus hervor, dafs der Kontrast um so st\u00e4rker hervortritt, je gleichartiger die Vorstellungen in allen anderen Beziehungen, mit alleiniger Ausnahme der Betonung sind. So kann ein Gem\u00e4lde durch den Kontrast mit jedem beliebigen anderen freilich erhoben werden, aber unter sonst gleichen Verh\u00e4ltnissen um so leichter, je mehr Gemeinschaftliches die beiden Werke haben. Zwischen zwei Landschaftsbildern tritt der Kontrast st\u00e4rker hervor als zwischen einer Landschaft und einem religi\u00f6sen Gem\u00e4lde, und am st\u00e4rksten zwischen zwei dasselbe Motiv behandelnden Gem\u00e4lden. Raffaels \u00dcberlegenheit \u00fcber seine Vorg\u00e4nger schon in seiner Jugend tritt z. B. da am deutlichsten hervor, wo er denselben Stoff auf fast dieselbe Weise wie diese behandelt; vergleiche die fast \u00fcbereinstimmenden Darstellungen der \u201eVerm\u00e4hlung Mari\u00e4\u201c von Raffael und P e r u g i n o. Wir k\u00f6nnen also folgende allgemeine Bedingung f\u00fcr den Gef\u00fchlskontrast aufstellen:\n263.\tZwei willk\u00fcrliche Gef\u00fchle k\u00f6nnen nicht kontrastieren; damit dies stattfinde, ist es notwendig, dafs der Vorstellungsinhalt der Gef\u00fchle so gleichartig ist, dafs ein Vergleich m\u00f6glich wird. Und der Kontrast tritt um so st\u00e4rker hervor, je gleichartiger die betonten Vorstellungen sind.\n264.\tWir schreiten nun zur Betrachtung der n\u00e4chsten Bedingung f\u00fcr den Gef\u00fchlskontrast, derjenigen n\u00e4mlich, dafs die betonte und die modifizierenden Vorstellungen verschiedene Objekte betreffen sollen. Es wird denn auch nicht schwer fallen, mittels verschiedener Beispiele nachzuweisen, dafs gleichartige Vorstellungen gleichzeitig oder successive im Bewufstsein gegeben sein k\u00f6nnen, ohne dafs ein Kontrast entsteht, weil die Vorstellungen dem Bewufstsein als zusammengeh\u00f6rend erscheinen und keine verschiedenen Objekte betreffen. \u2014 Oft kann man bei einem Kunstwerk das lebhafte Gef\u00fchl haben, dafs es etwas enth\u00e4lt, das einen anspricht, anderseits aber auch etwas, das einem weniger gef\u00e4llt. Solange diese entgegengesetzt betonten Vorstellungen nun nicht klar hervortreten, solange man sich","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nnicht klar machen kann, was das Anziehende und was das Abstofsende ist, solange kann auch von keinem Kontrast der Vorstellungen die Rede sein. Sobald es uns aber klar dasteht, dafs dieser Teil des Werkes uns im Gegensatz zu jenem anderen besonders anziehend erscheint, ist die Bedingung des Kontrastes vorhanden, und ersterer Teil hebt sich dann auf Kosten des letzteren. \u2014 Auch ein anderes unserer fr\u00fcher benutzten Beispiele ist in dieser Beziehung bezeichnend. Werden \u00fcber eine Person eine Reihe Ereignisse erz\u00e4hlt, in welchen dieselbe eine mehr oder weniger ansprechende Rolle spielt, so werden alle diese Vorstellungen gew\u00f6hnlich gar nicht zum Kontrastieren untereinander kommen. Wie wir sp\u00e4ter sehen werden, verschmelzen sie gew\u00f6hnlich zu einem Bilde von dem ganzen Charakter der Person, dessen Gef\u00fchlsbetonung nat\u00fcrlich von den Umst\u00e4nden abhangen wird. Wenn dagegen ein einzelnes der Ereignisse als Gegensatz zu den anderen besonders hervorgehoben wird, oder wenn wir den Mann kennen und nun etwas von ihm h\u00f6ren, das ihm gar nicht \u201e\u00e4hnlich sieht\u201c, so wird der Kontrast entstehen. In beiden genannten F\u00e4llen, denen noch viele andere derselben Art hinzugef\u00fcgt werden k\u00f6nnten, sehen wir also, dafs kein Kontrast entsteht, solange die einzelnen Vorstellungen unserem Bewufstsein als zusammengeh\u00f6rend, eine Totalit\u00e4t (ein Kunstwerk, einen Charakter u. dergl.) bildend dastehen. Erst wenn die \u00e4ufseren Objekte, Erscheinungen oder Verh\u00e4ltnisse, welche die Vorstellungen betreffen, als relativ selbst\u00e4ndige Gr\u00f6fsen auf-gefafst werden, wird der Kontrast eintreten k\u00f6nnen. Und das Resultat wird also folgendes:\n265.\tDamit zwischen zwei Gef\u00fchlen Kontrast stattfinde, gen\u00fcgt es nicht, dafs der Vorstellungsinhalt der Gef\u00fchle gleichartig und gleichzeitig oder successive im Bewufstsein gegeben ist, sondern derselbe mufs auch verschiedene Objekte, Erscheinungen oder Verh\u00e4ltnisse betreffen.\n266.\tEs ist nun nachgewiesen, dafs die f\u00fcr den Gef\u00fchlskontrast angegebenen Bedingungen wirklich notwendig sind ; aber sind sie nun auch hinl\u00e4nglich? Wird mit anderen Worten stets Kontrast entstehen, wenn zwei gleichartige, lust- oder unlustbetonte, verschiedene Objekte betreffende Vorstellungen gleichzeitig oder unmittelbar nacheinander im Bewufstsein auftauchen? Da man, wie schon oben ber\u00fchrt, die Gesetze f\u00fcr den Kontrast der Vorstellungen noch nicht vollst\u00e4ndig kennt,","page":202},{"file":"p0203.txt","language":"de","ocr_de":"Kontrastst\u00f6rende Verh\u00e4ltnisse.\n203\nsteht uns nur der Ausweg offen, zu untersuchen, ob bestimmte Erfahrungen nicht darauf hindeuten k\u00f6nnten, dafs fernere Bedingungen notwendig w\u00e4ren. Soviel ich sehen kann, ist dies wirklich der Fall; unter unseren vorher angef\u00fchrten Beispielen finden sich einzelne, die nach dieser Richtung deuten. \u2014 Zu Zeiten voller Bek\u00fcmmernis kann ein einzelner Lichtpunkt, eine einzige erfreuliche Begebenheit weit aufheiternder wirken als unter gl\u00fccklicheren, sorgenlosen Zust\u00e4nden. Wenn alle Hoffnung aus ist, kann eine kleine Begebenheit, die man unter lichteren Verh\u00e4ltnissen kaum beachten w\u00fcrde, aufs neue den Mut beleben; es ist aber ebenfalls bekannt, dafs man so niedergedr\u00fcckt sein kann, dafs nichts einen zu erheitern vermag. Und anderseits kann das Gem\u00fct so von Freude \u00fcberw\u00e4ltigt sein (z. B. in der religi\u00f6sen Ekstase), dafs keine Trauer oder Bek\u00fcmmernis zur Geltung zu kommen vermag. Hieraus geht hervor, dafs der Kontrast nicht immer eintreten wird, selbst wenn die vorher angegebenen Bedingungen auch erf\u00fcllt sind, und wir lernen ferner, dafs, um den Kontrast zu erm\u00f6glichen, noch folgende Bedingung erf\u00fcllt sein mufs:\n267.\tDie an die modifizierenden Vorstellungen gefundenen Gef\u00fchlst\u00f6ne d\u00fcrfen nicht von so grofser St\u00e4rke sein, dafs das kontrastierende Gef\u00fchl sich neben denselben nicht geltend machen kann.\nFast alle F\u00e4lle ausbleibenden Kontrastes lassen sich gewifs hierauf zur\u00fcckf\u00fchren, so z. B. folgende Wahrnehmung. Die eigne St\u00e4rke wird am besten im Gegensatz zu der Schw\u00e4che anderer gef\u00fchlt. Es kann nicht nur eine gewisse Befriedigung, sondern sogar fast ein k\u00f6rperliches Wohlbefinden entstehen, wenn man sieht, dafs andere Menschen Anstrengungen unterliegen, die man selbst mit Leichtigkeit ertr\u00e4gt. Dieses Gef\u00fchl verschwindet aber augenblicklich, wenn Mitleid mit den Leiden anderer entsteht. Das Verh\u00e4ltnis scheint hier wirklich so zu sein, dafs, sobald die an die Vorstellung von der Schw\u00e4che anderer gebundene Unlust gr\u00f6fsere St\u00e4rke und Tiefe annimmt, kein Raum f\u00fcr ein anderes Gef\u00fchl im Bewufstsein \u00fcbrig bleibt, und somit f\u00e4llt der Kontrast weg.\n268.\tZu der hier angef\u00fchrten Bedingung, die speziell f\u00fcr den Kontrast gleichzeitig gegebener Vorstellungen gilt, k\u00f6nnen wir noch folgende hinzuf\u00fcgen, die ausschliefslich f\u00fcr successive gegebene Vorstellungen Bedeutung hat:","page":203},{"file":"p0204.txt","language":"de","ocr_de":"204\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\n269.\tWenn zwei Vorstellungen nacheinander im Bewufstsein gegeben sind, wird der Kontrast nur auf den an die zuletzt eintretende gebundenen Gef\u00fchlston, nicht aber auf den der zuerst eintretenden wirken k\u00f6nnen.\nBeispiele zum n\u00e4heren Beweis hierf\u00fcr anzuf\u00fchren, m\u00f6chte wohl \u00fcberfl\u00fcssig sein, da es in der Natur der Sache selbst liegt, dafs ein schon entschwundener Bewufstseinszustand w\u00e4hrend seines Verlaufs durch keinen sp\u00e4ter eintretenden Zustand be-einflufst werden kann. Hat man an einem k\u00f6rperlichen Unwohlsein gelitten, so wird der normale Zustand, der bei dem Auf h\u00f6ren des Schmerzes eintritt, durch Kontrast mit dem vorausgehenden erhoben werden und deshalb von starker Lust begleitet sein; es leuchtet indes ein, dafs der vergangene Zustand selbst, unser Befinden w\u00e4hrend des schon verflossenen Zeitraums, durch das sp\u00e4ter Eintretende nicht beeinflufst werden kann. Nat\u00fcrlich ist hier nur von wirklich successiven Zust\u00e4nden die Rede. Versetzt man sich nach Aufh\u00f6ren des Schmerzes in der Erinnerung in den fr\u00fcheren Zustand zur\u00fcck, so kann dieser wegen Kontrastes mit dem gegenw\u00e4rtigen weit unertr\u00e4glicher erscheinen, als er wirklich war, alsdann haben wir aber auch nicht mit successiven Vorstellungen zu schaffen, sondern im Gregenteil mit zwei gleichzeitigen : dem Erinnerungsbilde des vorangehenden unangenehmen Zustandes und dem gegenw\u00e4rtigen schmerzlosen Zustande.\n270.\tSomit w\u00e4ren jedenfalls die wesentlichsten Bedingungen des Gef\u00fchlskontrastes wohl ersch\u00f6pft. Ob man sp\u00e4ter durch zuf\u00e4llige Beobachtungen oder rationelle Untersuchungen noch andere finden wird, mufs dahingestellt bleiben; m\u00f6glich ist dies ja immerhin. Mit diesem Vorbehalt k\u00f6nnen wir unsere Resultate also zusammenfassen in folgendem :\n271.\t\u201eGesetz von dem Kontrast der Gef\u00fchle\u201c.\nEin Lustgef\u00fchl wird verh\u00e4ltnism\u00e4fsig st\u00e4rker, wenn es mit unlustbetonten oder weniger lustbetonten Vorstellungen kontrastiert ; ein Unlustgef\u00fchl wird verh\u00e4ltnism\u00e4fsig st\u00e4rker, wenn es mit lustbetonten oder weniger unlustbetonten Vorstellungen kontrastiert. Der Kontrast tritt ein, wenn der VorstellungsInhalt der Gef\u00fchle gleichzeitig oder successive im Bewufstsein gegeben ist, gleichartig ist und verschiedene Objekte betrifft; jedoch darf die Gef\u00fchlsbetonung der modifizierenden Vorstellungen nicht so stark sein, dafs das kontrastierende Gef\u00fchl sich nicht neben derselben im Bewufstsein geltend machen kann. B\u00fccksichtlich successive gegebener Vor-","page":204},{"file":"p0205.txt","language":"de","ocr_de":"Bedeutung der Folges\u00e4tze.\n205\nStellungen wird nur der an die zuletzt eintretende Vorstellung gebundene Gef\u00fchlston von dem Kontrast beeinflufst.\nFolges\u00e4tze des Kontrast- und des Zeitgesetzes.\n272. Es ist einer der grofsen praktischen Erfolge der Wissenschaft, dafs sie uns unsere Erfahrungen ordnen hilft. In der Natur sowohl als im Menschenleben finden wir tagaus, tagein eine Menge Erscheinungen, die so h\u00e4ufig und so regelm\u00e4fsig eintreten, dafs wir nicht unterlassen k\u00f6nnen, auf dieselben aufmerksam zu werden; solange wir sie aber nicht verstehen, sie nicht auf eine umfassende Formel zur\u00fcckf\u00fchren k\u00f6nnen, sind die Wahrnehmungen uns oft von keinem Nutzen. Erst wenn die Wissenschaft uns das allgemeine Schema, das alle einzelnen Wahrnehmungen umfassende Gesetz gegeben hat, erst dann verm\u00f6gen wir, indem wir unser Erfahrungsmaterial demselben unterwerfen, dieses so zurechtzulegen, dafs es in allen eintretenden F\u00e4llen verf\u00fcgbar wird. Jedermann weifs, dafs an klaren Sommerabenden Tau f\u00e4llt, dafs kalte K\u00f6rper mit Feuchtigkeit beschlagen, wenn sie in warme R\u00e4ume kommen, dafs in grofsen, kalten Lokalen, wo viele Menschen versammelt sind, das Wasser an den W\u00e4nden herabl\u00e4uft; nicht jeder weifs aber, dafs diese und vielleicht zahlreiche andere ebenso allt\u00e4gliche Erfahrungen dem allgemeinen Gesetz unterworfen sind : D\u00e4mpfe werden durch Abk\u00fchlung verdichtet. Ohne dieses umfassende Wissen bilden alle genannten Erfahrungen ein Chaos, einen ungeordneten Wust, der sich nur schwer anwenden l\u00e4fst; erst wenn die Formel, das Gesetz, gegeben ist, k\u00f6nnen wir aus unseren Erfahrungen Nutzen ziehen. Deswegen ist Wissen K\u00f6nnen; die Kenntnis der Natur gibt uns die Herrschaft \u00fcber sie. \u2014 Ganz auf dieselbe Weise verh\u00e4lt es sich mit unseren Wahrnehmungen des Menschenlebens, sowohl was das \u00e4ufsere Auftreten der Menschen, als deren inneres Seelenleben betrifft. Auch hier h\u00e4ufen sich unsere Erfahrungen von Tag zu Tag an; ohne allgemeine Formeln, unter die die Erscheinungen sich zur\u00fcckf\u00fchren lassen, wird das Ganze aber ein ziemlich unn\u00fctzes Chaos. Man hat allerdings h\u00e4ufig die Meinung aufgestellt gesehen, eine wissenschaftliche Psychologie k\u00f6nne gar keine praktische Bedeutung erhalten, da das Leben selbst unsere Erfahrungen dem Bedarfe gem\u00e4fs ordne, was am besten daraus zu ersehen sei, dafs viele Generationen ohne wissenschaftliche Psychologie gelebt und sich mit ihren eigenen","page":205},{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"206\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nErfahrungen vortrefflich durchgeschlagen h\u00e4tten. Man \u00fcbersieht hier aber erstens, dafs wir an Sprichw\u00f6rtern, Redensarten und den sprachlichen Formen selbst eine grofse Masse von Formeln, von Resultaten der angeh\u00e4uften Erfahrungen von Generationen besitzen, die wir fortw\u00e4hrend zur Ordnung unserer eigenen Erfahrungen benutzen, und ferner schliefst die Thatsache, dafs man sich mit kleinen Mitteln zu behelfen vermag, ja nicht aus, dafs man sich besserer Mittel bedient, wenn solche sich darbieten. Und da es nun gerade die Aufgabe der wissenschaftlichen Psychologie ist, an allen Punkten die Gesetze f\u00fcr unser Seelenleben nachzuweisen und klar und bestimmt zu formulieren, so scheint kein Zweifel dar\u00fcber herrschen zu k\u00f6nnen, dafs diese Gesetze in so grofser Ausdehnung, wie es \u00fcberhaupt m\u00f6glich ist, f\u00fcr unser Verh\u00e4ltnis zu den Menschen \u00e4hnliche Bedeutung erhalten werden, wie die Naturgesetze f\u00fcr unser Verh\u00e4ltnis zur Natur, ohne dafs Sprichw\u00f6rter und andere psychologische Sch\u00e4tze darum ihren praktischen Wert zu verlieren brauchen. Diese werden wahrscheinlich zu allen Zeiten die Scheidem\u00fcnze sein, die von Hand zu Hand geht, w\u00e4hrend die grofsen wissenschaftlichen Werte zum Teil kapitalisiert werden, was jedoch nicht damit gleichbedeutend ist, dafs sie keinen Nutzen stiften.\n273. Die Bedeutung, welche die Psychologie bis zum heutigen Tage in genannter praktischen Richtung gehabt hat, ist keine grofse. Nur auf dem Gebiete der Erkenntnis, f\u00fcr die sinnliche Wahrnehmung und die Vorstellungsverbindungen sind Gesetze gefunden worden, die nach und nach, wenn sie aus den Studierzimmern der Forscher .und den wissenschaftlichen Werken hervordringen und Gemeinbesitz werden, ihren ordnenden Einflufs geltend machen k\u00f6nnen. Auf dem tiefstliegenden und interessantesten Gebiet unseres Seelenlebens, dem Gef\u00fchlsleben, hat man dagegen noch erst schwache Anl\u00e4ufe gemacht, Gesetze zu formulieren, und man findet daher sogar in wissenschaftlichen Psychologien nur wenige Versuche, die komplizierteren psychologischen Erfahrungen, die wir t\u00e4glich machen, zu erkl\u00e4ren. Dieser Mangel k\u00f6nnte vielleicht auch daher r\u00fchren, dafs die Forscher sich bisher zun\u00e4chst mit theoretischen Erw\u00e4gungen besch\u00e4ftigten, und es als unter ihrer W\u00fcrde betrachteten, sich mit dergleichen einfacheren Sachen zu befassen; dieses wissenschaftliche Vornehmthun ist hier aber ganz am Unrechten Orte. Jede konstante Erscheinung des Menschenlebens hat ebenso","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"Das Folgegesetz.\n207\ngrofsen Anspruch auf wissenschaftliche Erkl\u00e4rung, wie eine Naturerscheinung. \u2014 Im Folgenden werden wir zu zeigen suchen, dafs schon die Ergebnisse unserer vorigen Untersuchungen dazu dienen k\u00f6nnen, eine wissenschaftliche Erkl\u00e4rung verschiedener wohlbekannter Erfahrungen zu geben. Was wir jetzt darstellen wollen, enth\u00e4lt insofern nichts Neues, als es allt\u00e4gliche Erscheinungen sind, die behandelt werden, und jeder denkende Mensch sie unter den Formeln der praktischen Menschenkenntnis anzubringen vermag. Eine wissenschaftliche Erkl\u00e4rung, eine Subordination der Erscheinungen unter bestimmt formulierte Gesetze, hat bisher wohl sonst niemand als Fechner versucht, dessen fr\u00fcher besprochenem Werke wir die Hauptpunkte der folgenden Entwickelung entnehmen.\n274.\tAls einfache Konsequenzen des Gesetzes von der Abh\u00e4ngigkeit der Gef\u00fchle von der Zeit im Verein mit dem Gesetz von dem Kontrast der Gef\u00fchle gehen zwei neue Gesetze hervor, die Fechner das \u201ePrinzip der \u00e4sthetischen Folge\u201c x) und das \u201ePrinzip der \u00e4sthetischen Vers\u00f6hnung\u201c 1 2) genannt hat. Diese Gesetze sind indes ebensowenig speziell \u00e4sthetische Prinzipien als die Gesetze, aus denen sie sich ableiten lassen, und wir wollen sie deshalb kurzweg das \u201eFolgegesetz\u201c und das \u201eVers\u00f6hnungsgesetz\u201c nennen. Wir k\u00f6nnen das\n275.\t\u201eFolgegesetz\u201c so formulieren:\nWenn zwei oder mehr entweder lust- oder unlustbetonte, gleichartige Vorstellungen, die nur in betreff der St\u00e4rke ihrer Gef\u00fchlst\u00f6ne verschieden sind, aufeinander folgen, so wird die resultierende Summe der Lust oder Unlust verschieden werden, je nachdem schw\u00e4chere Lust oder Unlust einer st\u00e4rkeren vorausgeht oder umgekehrt. Und n\u00e4her bestimmt wird der Unterschied der Gef\u00fchlssumme der, dafs die m\u00f6glichst grofse Ljust oder die m\u00f6glichst geringe Unlust, die unter den gegebenen Umst\u00e4nden zu erreichen ist, durch eine Bewegung in positiver Richtung, d. h. von der st\u00e4rkeren zur schw\u00e4cheren Unlust oder von der schw\u00e4cheren zur st\u00e4rkeren Lust, entsteht; umgekehrt wird die wenigste Lust oder die gr\u00f6fste Unlust durch eine Bewegung in negativer Richtung entstehen, eine Bewegung also von der st\u00e4rkeren Lust zur schw\u00e4cheren, von der schw\u00e4cheren Unlust zur st\u00e4rkeren.\n1)\tVorschule der \u00c4sthetik. II. S. 234.\n2)\tIbid. S. 238.","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\n276.\tEs ist leicht zu ersehen, dafs wir hier nur mit einer Konsequenz der beiden obengenannten S\u00e4tze zu thun haben. Denn bei Kontrast zwischen successive gegebenen Vorstellungen wird, wie wir wissen, nur der mit der nachfolgenden verbundene Gef\u00fchlston durch Kontrast verst\u00e4rkt werden, nie aber der Gef\u00fchlston der vorangehenden. Hat man nun eine Reihe gleichartiger Vorstellungen, die aufeinander folgen, so wird hier erstens wegen der Gleichartigkeit der Vorstellungen, der zufolge diese zum Teil als eine einzelne Vorstellung wirken, stets eine Abstumpfung stattfinden, so dafs jede nachfolgende einen schw\u00e4cheren Gef\u00fchlston hervorruft, als wenn keine gleichartige Vorstellung vorausgegangen w\u00e4re. Schreitet diese Reihe \u00fcberdies nun in negativer Richtung, von st\u00e4rkerer zu schw\u00e4cherer Lust fort, so wird zugleich jede folgende Vorstellung wegen des Kontrastes mit der vorausgehenden geringere Lust geben, als wenn keine st\u00e4rker betonte vorausgegangen w\u00e4re. Bei einer Bewegung in negativer Richtung werden also die Abstumpfung und der Kontrast Zusammenwirken, um die ganze Summe der Lust zu vermindern. Bei einer Bewegung in positiver Richtung wird der Gef\u00fchlston einer nachfolgenden Vorstellung dagegen durch Kontrast mit der vorausgehenden erh\u00f6ht werden, und es wird also dem Einfl\u00fcsse der Abstumpfung entgegengearbeitet. Und was hier von einer Reihe lustbetonter Vorstellungen gezeigt ist, gilt offenbar auch von einer Reihe unlustbetonter. Bei negativer Richtung der Bewegung arbeiten Abstumpfung und Kontrast gegeneinander an, so dafs sie die m\u00f6glichst grofse Unlust erzeugen ; bei positiver Richtung wirken sie zur Erzeugung der m\u00f6glichst geringen Unlust zusammen.\n277.\tEine grofse Menge wohlbekannter Erscheinungen lassen sich durch dieses Gesetz erkl\u00e4ren. Demselben gem\u00e4fs f\u00e4ngt man bei einem gr\u00f6fseren Diner mit den einfacheren Weinsorten an und schreitet darauf zu den edleren und wohlschmeckenderen 1). H\u00e4lt man sich eine Zeitlang in einer h\u00fcbschen Gegend auf, so f\u00e4ngt man nicht mit dem Besuche der interessantesten und sch\u00f6nsten Punkte an; die Ausbeute wird gr\u00f6fser, wenn man in\n1) Hat man dann einen gewissen Gipfel erreicht, so kann man sehr wohl wieder abw\u00e4rts steigen, da der Geschmack, wie die meisten anderen Sinne, zuletzt dermafsen abgestumpft werden kann, dafs die folgenden Glieder ohne Bedeutung sind.","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"Das Folgegesetz.\n209\numgekehrter Ordnung verf\u00e4hrt. Wer sich seine Vorstellung von Bergen nach den Felsen Bornholms gebildet hat, wird auf einer Reise in Norwegen oder in der Schweiz sehr \u00fcberrascht werden; die umgekehrte Reihenfolge kann dagegen leicht T\u00e4uschung bringen. Will man jemand durch verschiedene Gaben erfreuen , so gibt man ihm nicht die gr\u00f6fste zuerst und die kleineren hinterdrein, da er dann nur durch jede der nachfolgenden get\u00e4uscht werden w\u00fcrde; f\u00e4ngt man dagegen mit den kleinsten an und steigt dann allm\u00e4hlich, so wird man ihm einmal \u00fcber das andere eine erfreuliche \u00dcberraschung bereiten. \u2014\n\u2022 \u2022\nWie man sieht, ist es das Grundgesetz der \u00d6konomie des Genusses, mit dem wir hier zu schaffen haben, und jedermann wird aus eigener Erfahrung den schon angef\u00fchrten Beispielen zahlreiche andere hinzuf\u00fcgen k\u00f6nnenx). \u2014 Mit Unlustgef\u00fchlen geht es ebenso. Eine Reihe unangenehmer Begebenheiten affizieren uns mehr, wenn die am wenigsten unangenehme zuerst kommt und die St\u00f6fse uns darauf mit immer wachsender St\u00e4rke treffen. Kommt dagegen der st\u00e4rkste Stofs zuerst, so werden die nachfolgenden weniger gesp\u00fcrt. Der Kranke, der seiner Genesung entgegensieht, oder der Arme, der im Begriff ist, sich aus seiner dr\u00fcckenden Lage herauszuarbeiten, kann ganz wohl noch sehr krank oder sehr arm sein, und doch wird schon der Umstand, dafs die Sache vorw\u00e4rts geht, eine Lust herbeif\u00fchren, welche die vorhandene Unlust kompensieren oder sogar \u00fcberwiegen kann ; fortw\u00e4hrendes R\u00fcckschreiten wird ihn den augenblicklichen Zustand dagegen weit schlimmer f\u00fchlen lassen, als derselbe eigentlich ist.\n278. Das Folgegesetz ist scheinbar nicht immer stichhaltig, indem wir es in gewissen F\u00e4llen erfahrungsgem\u00e4fs vorziehen, direkt zur st\u00e4rksten Lust zu schreiten und die schw\u00e4cher betonten Vorstellungen \u00fcberschlagen. Dies widerstreitet dem Folgegesetz doch eigentlich nicht, denn dasselbe sagt nur, dafs man eine gr\u00f6fsere Summe der Lust erh\u00e4lt, wenn man eine Vorstellungsreihe in positiver Richtung durchl\u00e4uft, als wenn man in negativer Richtung geht, sofern die ganze Reihe durchgemacht werden mufs. Dagegen sagt es durchaus nichts dar\u00fcber, ob man\n*) Eine vorz\u00fcgliche Illustration des Gesetzes auf einem einzelnen Gebiete wird man finden in Mantegazzas: Die Physiologie der Liebe. 1885. S. 126 u. f.\nLehmann, Die Gef\u00fchle.\n14","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nnicht eine im Moment st\u00e4rkere Lust erreichen k\u00f6nnte, wenn man nur ein einzelnes Glied der Reihe erw\u00e4hlte und dieses allein wirken liefse. Dafs letzteres m\u00f6glich ist, l\u00e4fst sich nicht bezweifeln. Wenn n\u00e4mlich die ganze Vorstellungsreihe und zwar unter den g\u00fcnstigsten Bedingungen, also in positiver Richtung, durchgemacht wird, so wird jede nachfolgende Vorstellung wegen der stattgefundenen Abstumpfung notwendigerweise schw\u00e4chere Lust geben, als wenn sie f\u00fcr sich allein gewirkt h\u00e4tte, ohne dafs eine mit derselben gleichartige Vorstellung vorausgegangen w\u00e4re. Also wird besonders die letzte, am st\u00e4rksten betonte Vorstellung (es wird ja angenommen, dafs die Reihe in positiver Richtung durchlaufen wird) dadurch bedeutend an ihrer Gef\u00fchlswirkung geschw\u00e4cht werden, dafs alle die anderen schon gewirkt haben. Hieraus folgt dann wieder, dafs man, wenn man einen besonders starken Eindruck w\u00fcnscht, nicht eine ganze Reihe durchlaufen, sondern sogleich die am st\u00e4rksten betonte Vorstellung ergreifen mufs. Es ist offenbar hiermit in \u00dcbereinstimmung, dafs man sich w\u00e4hrend des Aufsteigens nach einer sch\u00f6nen Aussicht nicht umkehrt, sondern mit der Beschauung wartet, bis man den eigentlichen Aussichtspunkt erreicht hat. Der Eindruck, den man dann erh\u00e4lt, ist frischer, d. h. weniger abgestumpft, als er sein w\u00fcrde, wenn man die Landschaft betrachtete, wie sie sich allm\u00e4hlich entfaltet. Ein Kranker f\u00fchlt gr\u00f6fsere Freude bei schneller als bei langsamer Genesung; je gr\u00f6fser der Kontrast mit dem fr\u00fcheren, ungl\u00fccklichen Zustande, um so gr\u00f6fser die momentane Lust.\n279.\tDas Vers\u00f6hnungsgesetz erg\u00e4nzt das Folgegesetz. W\u00e4hrend letzteres n\u00e4mlich die Ordnung feststellt, in welcher eine Reihe entweder lust- oder unlustbetonter Vorstellungen aufeinander folgen m\u00fcssen, um die m\u00f6glichst grofse Lust oder die m\u00f6glichst geringe Unlust zu geben, bezeichnet das Vers\u00f6hnungsgesetz dagegen die Reihenfolge teils lust-, teils unlustbetonter Vorstellungen, durch welche ein entsprechendes Resultat zu erreichen ist. Dem vorigen Gesetz analog formulieren wir nun:\n280.\tDas \u201e Vers\u00f6hnungsgesetzu : Wenn zwei oder mehr teils lust-, teils unlustbetonte gleichartige Vorstellungen, nur hinsichtlich der St\u00e4rke ihrer Gef\u00fchlst\u00f6ne verschieden, aufeinander folgen, so wird die nach den Umst\u00e4nden m\u00f6glichst grofse Lust oder m\u00f6glichst geringe Unlust dadurch erreicht werden, dafs die Bewegung als Totalit\u00e4t in positiver Richtung geht, und die m\u00f6glichst geringe Lust","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"Das Vers\u00f6hnungsgesetz.\n211\noder die m\u00f6glichst grofse Unlust entsteht, wenn die Bewegung als Totalit\u00e4t in negativer Richtung geht.\n281. Ebensowie das Folgegesetz ist auch dieses Gesetz eine Konsequenz des Kontrastgesetzes in Verbindung mit dem Gesetze von der Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchls von der Zeit. Je mehr n\u00e4mlich die unlustbetonten Vorstellungen dergestalt geordnet sind, dafs sie einander gegenseitig abstumpfen, was, wie oben nachgewiesen, eine positive Richtung erheischt, und je mehr die lustbetonten durch den Kontrast mit jenen verst\u00e4rkt werden, wozu ebenfalls eine positive Richtung erforderlich ist, um so mehr erh\u00e4lt die Lust das \u00dcbergewicht \u00fcber die Unlust. Wie \u00fcbrigens aber dieses gegenseitige Abstumpfen der unlustbetonten und der Kontrast der lustbetonten mit jenen am besten zu erreichen sei, dar\u00fcber scheint sich kein allgemeines Gesetz geben zu lassen. Je nach der Gattung der Vorstellungen und der St\u00e4rke der begleitenden Gef\u00fchlst\u00f6ne kann bald die eine, bald die andere Ordnung den Vorzug verdienen. Wir k\u00f6nnen ein paar einzelne F\u00e4lle betrachten. \u2014 Hat man nur zwei Vorstellungen, so ist es einleuchtend, dafs die lustbetonte die letzte sein mufs, wenn die m\u00f6glichst grofse Lust bezweckt wird. Hat man dagegen eine ganze Reihe unlustbetonter Vorstellungen, deren Gef\u00fchlst\u00f6ne verschiedene St\u00e4rke besitzen, aber nur eine einzelne lustbetonte, so mufs diese notwendigerweise die letzte sein, um durch den Kontrast mit den anderen verst\u00e4rkt zu werden; in betreff dieser anderen lassen sich aber wenigstens zwei verschiedene Ordnungen denken, die ungef\u00e4hr dasselbe Resultat geben k\u00f6nnen. Folgen die Unlustgef\u00fchle n\u00e4mlich in positiver Richtung, von dem st\u00e4rksten zum schw\u00e4chsten, aufeinander, so werden sie allerdings durch Abstumpfung geschw\u00e4cht, der Kontrast zwischen dem letzten und der nachfolgenden Lust wird dann aber auch ein ziemlich geringer. Folgen die Unlustgef\u00fchle dagegen in negativer Richtung aufeinander, so wird ihre gesamte Wirkung kraft des Folgegesetzes die m\u00f6glichst grofse Unlust, daf\u00fcr wird dann aber die abschliefsende Lust durch den Kontrast m\u00f6glichst erh\u00f6ht. In komplizierteren F\u00e4llen sind nat\u00fcrlich noch mehr Ordnungen mit ungef\u00e4hr demselben Resultate denkbar; es w\u00fcrde uns aber gar zu weit f\u00fchren, wollten wir uns n\u00e4her auf diese einlassen. Nur so viel steht fest, dafs die Bewegung als Totalit\u00e4t in positiver\nRichtung gehen mufs, wenn Lust erzielt werden soll, da wir\n14*","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212\nDie speziellen Gesetze cler Gef\u00fchle.\nwidrigenfalls statt mit den vorkommenden Unlustgef\u00fchlen vers\u00f6hnt zu werden diese st\u00e4rker f\u00fchlen w\u00fcrden.\n282. Die G\u00fcltigkeit und die grofse Bedeutung des Vers\u00f6hnungsgesetzes treten in Dichterwerken aller m\u00f6glichen Gattungen am deutlichsten hervor. In der sogenannten romantischen Schule, die es als die wesentlichste, alle anderen Zwecke \u00fcberragende Aufgabe der Dichtkunst betrachtete, eine gewisse Summe \u00e4sthetischer Lust im Leser zu erzeugen, finden wir deshalb in zahllosen Werken eine Gef\u00fchlsbewegung, die als Totalit\u00e4t in positiver Richtung geht. Das in fr\u00fcherer Zeit so allgemein angewandte \u201eRezept\u201c f\u00fcr Novellen und Lustspiele ist ja gerade folgendes. Das Verh\u00e4ltnis zwischen dem Helden und der Heldin wird immer verwickelter, so dafs die Wahrscheinlichkeit, dafs sie \u201esich kriegen\u201c, immer geringer wird. Durch die Schilderung dieser Verwickelungen sucht man unser Interesse und unsere Sympathie f\u00fcr die Personen zu vermehren, so dafs auch die Unlust wegen ihrer immer gr\u00f6fseren Entfernung voneinander best\u00e4ndig w\u00e4chst. Die Spannung erreicht zuletzt einen Gipfel, der Knoten wird gel\u00f6st und durch die Vereinigung der Liebenden werden wir mit ihren fr\u00fcheren Widerw\u00e4rtigkeiten vers\u00f6hnt. \u201eEnde gut, alles gut.\u201c Wie man sieht, entsprechen die Bewegungen der Gef\u00fchle hier der oben erw\u00e4hnten Form, in welcher eine Reihe Unlustgef\u00fchle in negativer Richtung aufeinander folgen, wodurch dann wieder eine abschliefsende Lust mittels Kontrastes so erh\u00f6ht wird, dafs das gesamte Resultat \u00fcberwiegende Lust wird. \u2014 Man k\u00f6nnte freilich zu der Annahme geneigt sein, dafs das Ziel, wenn es die Erzeugung der m\u00f6glichst grofsen Summe von Lust ist, am leichtesten zu erreichen sein m\u00fcsse, wenn Unlustgef\u00fchle v\u00f6llig ausgeschlossen w\u00fcrden. Dies ist jedoch nur innerhalb sehr enger Grenzen m\u00f6glich*, denn wenn nur mit lustbetonten Vorstellungen operiert wird, so wird das Gef\u00fchl schnell abgestumpft, was hier wohl zun\u00e4chst heifsen will, dafs fremde, unlustbetonte Vorstellungen entstehen, die um so st\u00e4rker werden, je l\u00e4nger die urspr\u00fcngliche Lust andauert, so dafs sie den Genufs zuletzt unm\u00f6glich machen. Ohne sp\u00e4teren Untersuchungen [310\u2014311] vorzugreifen, k\u00f6nnen wir das Entstehen dieser Gef\u00fchle hier nicht im einzelnen erkl\u00e4ren ; es ist indes leicht zu ersehen, dafs, wenn menschliche Verh\u00e4ltnisse als unbedingt gl\u00fccklich geschildert werden, im Leser leicht die wohlbegr\u00fcndete Furcht entsteht, dieses Gl\u00fcck werde nicht fortdauern.","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Gleichzeitig gegebene Vorstellungen.\n213\nIn Romanen und \u00fcberhaupt in allen gr\u00f6fseren Dichter werken findet man deshalb auch eine sehr komplizierte Bewegung der Gef\u00fchle. \u2014 Bei den modernen Verfassern, die es gew\u00f6hnlich nicht als die Aufgabe der Dichtkunst aufstellen, eine gewisse Summe \u00e4sthetischer Lust zu erzeugen, bei denen dagegen die moralisierende Tendenz die erste Linie einnimmt, wird man auch ganz andere Bewegungen der Gef\u00fchle als die oben geschilderten finden. Das Streben, ethische Unlust oder ethischen Abscheu vor gegebenen Verh\u00e4ltnissen zu erwecken, f\u00fchrt meistens zu einer rein negativen Bewegungsrichtung ohne andere abschliefsende Vers\u00f6hnung als die, welche der Tod, der eine Fortsetzung der Leiden unm\u00f6glich macht, zu geben vermag. Auch hier zeigt sich also die G\u00fcltigkeit des Vers\u00f6hnungsgesetzes, indem die durchweg negative Bewegungsrichtung des Gef\u00fchls so vielen modernen Werken ihr trostloses Gepr\u00e4ge verleiht.\n283.\tEs bedarf kaum n\u00e4heren Nachweises, dafs das Vers\u00f6hnungsgesetz, wenn seine G\u00fcltigkeit uns in dem Gebiete der Dichtung entnommenen Beispielen entgegentritt, auch allgemein g\u00fcltig sein mufs, da dasselbe nur von der Reihenfolge, nicht aber von dem Ursprung der betonten Vorstellungen redet. Die allgemeine G\u00fcltigkeit des Gesetzes ist \u00fcbrigens schon durch dessen Ableitung aus den beiden einfacheren, allgemeinen Gesetzen gegeben.\nDie betonte und die modifizierenden Vorstellungen sind ungleichartig und betreffen verschiedene Objekte.\n284.\tIm Vorhergehenden sahen wir, dafs es f\u00fcr die Verst\u00e4rkung eines Gef\u00fchls durch Kontrast eine notwendige Bedingung ist, dafs die verschiedenen Vorstellungen bis zu einem gewissen Grade gleichartig sind. Es entsteht daher ganz nat\u00fcrlich die Frage : welchen Einflufs k\u00f6nnen Gef\u00fchle aufeinander haben, wenn ihr Vorstellungsinhalt nicht nur verschiedene Objekte betrifft, sondern auch ungleichartig ist? Wir m\u00fcssen hier verschiedene F\u00e4lle ber\u00fccksichtigen, die in zwei Hauptgruppen zerfallen, je nachdem die Vorstellungen 1) gleichzeitig und 2) successive gegeben sind.\n285.\tGleichzeitig gegebene Vorstellungen. Wir sahen schon bei der Untersuchung des Gef\u00fchlskontrastes, dafs dieser nicht eintreten konnte, wenn die einzelnen Gef\u00fchle nicht","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nziemlich gleich stark waren, weil das st\u00e4rkste sonst die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen w\u00fcrde, wenn diese denn nicht willk\u00fcrlich auf einen bestimmten Punkt gerichtet w\u00e4re. Dafs ganz dasselbe der Fall werden wird, wenn die verschiedenen betonten Vorstellungen ungleichartig sind, k\u00f6nnen wir leicht durch Beispiele nachweisen. \u2014 Bei grofsen psychischen Leiden kann man k\u00f6rperliche Schmerzen v\u00f6llig vergessen, und umgekehrt bringt ein starkes k\u00f6rperliches Unwohlsein, z. B. die Seekrankheit, fast vollst\u00e4ndige Unempf\u00e4nglichkeit f\u00fcr jedes andere Gef\u00fchl mit sich. Man kann den einen Schmerz durch einen anderen d\u00e4mpfen} grofse Freude kann alle kleinen Sorgen und\nBek\u00fcmmernisse verscheuchen u. s. w. In allen diesen F\u00e4llen \u00bb \u2022\ntritt das \u00dcbergewicht des st\u00e4rkeren Gef\u00fchls \u00fcber das schw\u00e4chere deutlich hervor, wie auch der Vorstellungsinhalt sein m\u00f6ge. Das Resultat wird also:\n286.\tWenn mehrere gleichzeitig gegebene, ungleichartige Vorstellungen von Gef\u00fchlst\u00f6nen mit h\u00f6chst verschiedener St\u00e4rke begleitet sind, wird im allgemeinen, wenn die Aufmerksamkeit nicht aus besonderen Gr\u00fcnden willk\u00fcrlich auf eine bestimmte Vorstellung\ngerichtet ist, nur die am st\u00e4rksten betonte im JBewufstsein hervor-treten.\n287.\tWenn verschiedene gleichzeitige Vorstellungen dagegen ungef\u00e4hr gleich stark betont sind, stellt sich die Sache ganz anders. Auch hier werden jedoch verschiedene F\u00e4lle eintreten, je nachdem die gegebenen Gef\u00fchle s\u00e4mtlich Lust oder Unlust sind, oder beide Gattungen nebeneinander Vorkommen. Im ersteren Falle tritt ein eigent\u00fcmlicher Zustand ein, der sich vielleicht am besten durch den Namen \u201e Gef\u00fchlsmischung\u201c charakterisieren l\u00e4fst; im letzteren dagegen entsteht ein Umtauschen oder Wechseln der Gef\u00fchle. Wir wollen nun jedes dieser Verh\u00e4ltnisse f\u00fcr sich untersuchen.\n288.\tWenn bei einem festlichen Diner die zahlreichen, abwechselnden Geschmacksempfindungen, pr\u00e4chtiges Tischger\u00e4t, Lichter, Blumen, Musik und heiteres Gespr\u00e4ch jedes f\u00fcr sich uns Lustgef\u00fchle zuf\u00fchren und das ihrige zur Erzeugung der sogenannten \u201efestlichen Stimmung\u201c beitragen, so haben wir hier das typische Beispiel eines solchen Zustandes, den wir als Gef\u00fchlsmischung bezeichneten. Solange die Aufmerksamkeit n\u00e4mlich auf keine der betonten Vorstellungen willk\u00fcrlich gerichtet wird, bilden alle vorhandenen Gef\u00fchle eine kompakte Masse, in welcher kein","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"Gef\u00fchlsmischungen.\n215\neinzelnes Moment besonders hervortritt. Alle diese Gef\u00fchle stehen aber dennoch in einer rein \u00e4ufseren, zuf\u00e4lligen Beziehung zu einander, und sobald man die Aufmerksamkeit willk\u00fcrlich auf eine der betonten Vorstellungen richtet, treten alle anderen Gef\u00fchlsmomente in den Hintergrund, und nur das besonders festgehaltene Gef\u00fchl steht im Bewufstsein klar da. Man kann auf diese Weise successive jedes einzelne der zusammenwirkenden Lustmomente hervorziehen und jedes f\u00fcr sich geniefsen. \u2014 Derselbe Zustand l\u00e4fst sich auch durch eine Reihe gleichzeitiger Unlustgef\u00fchle erzeugen. Geht man durch eine enge Strafse in einem der Armenviertel der grofsen Hauptst\u00e4dte, so werden hier die D\u00fcsterheit, die Unheimlichkeit, die schlechte Luft, die Armut und das Elend, die einem an allen Punkten und unter allen Gestalten entgegentreten, eine kompakte Unlust erregen, deren einzelne Momente durch willk\u00fcrliche Hinrichtung der Aufmerksamkeit festgehalten und isoliert werden k\u00f6nnen. Eine solche Gef\u00fchlsmischung haben wir endlich auch an dem \u00f6fters erw\u00e4hnten Lebens- oder Gemeingef\u00fchl, das aus den zahllosen, gleichzeitigen, aber verschieden lokalisierten, betonten Organempfindungen gebildet wird. Letztere sind in der Realit\u00e4t nicht vollst\u00e4ndig miteinander verschmolzen, was, wie wir sp\u00e4ter sehen werden, nur unter ganz besonderen Bedingungen stattfindet; wegen des vagen Charakters und der unsicheren Lokalisation der Organempfindungen ist es jedoch mit Schwierigkeiten verbunden, die einzelnen Glieder auszusondern. Liegt man aber eines Sommertages auf dem R\u00fccken\nin einem Heuschober und geniefst das Leben, wird man doch\n* \u2022\nbei gen\u00fcgender Anspannung der Aufmerksamkeit und \u00dcbung im Beobachten subjektiver Zust\u00e4nde eine ganze Reihe von Momenten im allgemeinen k\u00f6rperlichen Wohlbefinden unterscheiden k\u00f6nnen : den Genufs beim Einatmen der frischen Luft, beim Riechen des aromatischen Heues, bei der W\u00e4rme, dem Strecken und der Frische aller Glieder, dem weichen Lager u. s. w. Und wandert man eines Wintertages m\u00fcde, hungrig und durchfroren eine glatte Landstrafse entlang, so bildet hier eine Reihe von Unlustgef\u00fchlen auf dieselbe Weise eine Mischung, eine allgemeine k\u00f6rperliche Mattigkeit und Schlaffheit, deren einzelne Momente, M\u00fcdigkeit, Hunger, K\u00e4lte, wunde Ftifse, unsicheres Gleichgewicht auf dem glatten Wege u. s. w. sich jedoch isolieren lassen. Auf Grundlage aller dieser Wahrnehmungen, denen noch zahlreiche andere hinzugef\u00fcgt werden k\u00f6nnten, stellen wir folgendes Gesetz auf:","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\n289.\tWenn mehrere ungleichartige, entweder lust- oder unlustbetonte Vorstellungen, die verschiedene Objekte betreffen, (verschieden lokalisierte Empfindungen), sich gleichzeitig mit ungef\u00e4hr gleicher St\u00e4rke ihrer . Gef\u00fchlsbetonung im Bcivufstsein geltend machen, so entsteht eine Gef\u00fchlsmischung, d. h. ein einzelnes Gef\u00fchl, dessen verschiedene Momente sieh durch willk\u00fcrliche Hinrichtung der Aufmerksamkeit auf die bez\u00fcglichen Vorstellungen aussondern lassen.\n290.\tWenden wir uns nun zu dem anderen Falle, in welchem sowohl lust- als unlustbetonte Vorstellungen gleichzeitig gegeben sind, so nehmen wir ein ganz anderes Verh\u00e4ltnis wahr. Die einzelnen Lust- und Unlustgef\u00fchle k\u00f6nnen dann, beide f\u00fcr sich, ebenso wie vorhin Mischungen bilden ; unter den auf diese Weise entstandenen Gef\u00fchlsmassen ist jedoch keine n\u00e4here Verbindung m\u00f6glich; sie verm\u00f6gen nur, im Bewufstsein miteinander zu wechseln, so dafs bald die eine, bald die andere Masse hervortritt. \u2014 Wenn der m\u00fcde Wandrer sein Ziel in der Ferne erblickt, kann die Freude dar\u00fcber, bald ruhen zu k\u00f6nnen, ihn allerdings einen Augenblick seine Ermattung vergessen lassen und ihm frische Kraft geben; dies dauert aber selten lange. Ein wenig sp\u00e4ter meldet die M\u00fcdigkeit sich wieder, um dann aufs neue dem erfreulichen Bewufstsein, zu weichen, dafs er dem Ziel doch immer n\u00e4her komme. So schwingt der Zustand zwischen Lust und Unlust, bis das Ziel erreicht ist oder die M\u00fcdigkeit ihn \u00fcberw\u00e4ltigt; von einer Ausgleichung der beiden\nentgegengesetzten Gef\u00fchlszust\u00e4nde wird aber wahrscheinlich niemals die Rede sein. Ganz ebenso wird sich die bekannte Erfahrung, \u201edafs ein Tropfen Unlust ein ganzes Meer von Lust gr\u00fcndlich zu verg\u00e4llen im st\u00e4nde ist\u201c,1) erkl\u00e4ren lassen. Ruhen wir eines Sommertages auf dem Heuschober, so wird eine einzige M\u00fccke, die uns um die Ohren zu summen anf\u00e4ngt, unserem dolce far niente sehr schnell ein Ende machen k\u00f6nnen. Wir versuchen zwar fortw\u00e4hrend, ihr Dasein zu vergessen, aber jeden Augenblick taucht die Vorstellung von der unangenehmen Nachbarschaft aufs neue wieder auf und verbittert uns den Genufs. Und so in allen F\u00e4llen; \u00fcberall finden wir:\n291.\tLust und Unlust, an ungleichartige, verschiedene Objekte betreffende Vorstellungen gebunden, und ebenfalls entgegengesetzte\n1) Volkmann: Lehrbuch der Psychologie. 1885. II. S. 842.","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"Successive gegebene Vorstellungen.\n217\nGef\u00fchlsmischungen k\u00f6nnen keine n\u00e4here Verbindung miteinander schliefsen, sondern wechseln im Bewufstsein ab.\n292.\tSuccessive gegebene Vorstellungen. Bei der Untersuchung des Gef\u00fchlskontrastes wiesen wir nach und begr\u00fcndeten wir, dafs unter zwei successiven Bewufstseinszust\u00e4nden nur der letztere durch Kontrast mit dem ersteren erh\u00f6ht werden k\u00f6nne, wogegen das Umgekehrte niemals stattlinde [269]. Dieser Satz mufs allgemeing\u00fcltig sein, weil von einem k\u00fcnftigen Bewufstseinszustand auf einen gegenw\u00e4rtigen keine R\u00fcckwirkung wird stattlinden k\u00f6nnen, ganz davon abgesehen, worin die Wechselwirkung zwischen den beiden Zust\u00e4nden bestehe. Keine Ver\u00e4nderung ohne Ursache} was im jetzigen Moment nicht existiert, kann jetzt auch keine Wirkungen haben. Es er\u00fcbrigt also nur, im Folgenden zu untersuchen, welchen Einllufs ein bereits entschwundener Bewufstseinszustand auf den oder die nachfolgenden haben kann.\n293.\tZahlreiche Vorstellungen, jede mit ihrer eigent\u00fcmlichen ! Gef\u00fchlsbetonung, k\u00f6nnen sich im Bewufstsein abl\u00f6sen, ohne dem\nAnschein nach aufeinander zu wirken. Geht man eine belebte Strafse hinab, so erh\u00e4lt man von allen Umgebungen ein Gew\u00fchl von Eindr\u00fccken, bald erfreuliche, bald niederdr\u00fcckende, die miteinander abwechseln, ohne dafs der eine nachweisbaren Einllufs auf den folgenden h\u00e4tte. Dasselbe ist unter allen Verh\u00e4ltnissen des Lebens wahrzunehmen. Je nachdem eine Arbeit, schneller oder l\u00e4ssiger von der Hand geht, schwingt das Gef\u00fchl zwischen Lust und Unlust; bald d\u00e4mpft eine unvorhergesehene Schwierigkeit den Mut, bald ist die Schwierigkeit \u00fcberwunden und die Arbeit geht wieder mit Lust von statten. Anderseits kann aber oft eine kleine, an und f\u00fcr sich unbedeutende Begebenheit eine Stimmung, einen k\u00fcrzere oder l\u00e4ngere Zeit hindurch konstanten Gef\u00fchlszustand herv\u00f6rrufen, der lange nach dem Verschwinden der urspr\u00fcnglichen Ursache fortbestehen kann und allen sp\u00e4ter auftauchenden Vorstellungen eine eigent\u00fcmliche Gef\u00fchlsbetonung zu geben vermag. Man kann oft \u00fcber eine geringf\u00fcgige Sache \u201eguter Laune werden\u201c, noch leichter aber verstimmt werden, seine \u201egute Laune verlieren\u201c, und beide diese entgegengesetzten Stimmungen k\u00f6nnen tagelang auf alle sp\u00e4teren Erlebnisse und Besch\u00e4ftigungen influieren und denselben ein Gef\u00fchlsgepr\u00e4ge verleihen, das sie normal nicht haben. Man hat diese Erscheinung die \u201eExpansion des Gef\u00fchls\u201c genannt. Hiernach sieht es aus, als","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nob ein Gei\u00fchl bisweilen mit der erzeugenden Vorstellung verschw\u00e4nde , bisweilen aber auch isoliert fortbestehen k\u00f6nne, und es mufs also unsere Aufgabe werden , zu bestimmen, wann ersteres und wann letzteres stattfinden wird.\n294. Schon in der Thatsache, dafs das Gef\u00fchl expandieren kann, ist ein Moment gegeben, das im st\u00e4nde sein mufs, eine Erkl\u00e4rung der Erscheinung herbeizuf\u00fchren. Denn unserer durch alle vorhergehenden Untersuchungen best\u00e4tigten Theorie zufolge kann ein emotionelles Element nicht isoliert bestehen, sondern mufs stets an bestimmte Vorstellungen gebunden sein. Soll eine Stimmung also nach dem Verschwinden der urspr\u00fcnglichen betonten Vorstellung bestehen k\u00f6nnen, so ist dies nur dadurch m\u00f6glich, dafs die Vorstellung mittels Association andere Vorstellungen mit der n\u00e4mlichen Gef\u00fchlsbetonung erweckt hat, die sich dann fortw\u00e4hrend im Bewufstsein geltend machen oder auch ihrerseits wieder andere Vorstellungen mit entsprechenden Gef\u00fchlst\u00f6nen hervorrufen u. s. w. Indem eine bestimmte Vorstellung auf diese Weise durch best\u00e4ndiges Reproduzieren neuer Vorstellungen einen gewissen Gef\u00fchlston im Bewufstsein fort- ! bestehen l\u00e4fst, kann dieser auf vielfache Weisen \u2014 deren etliche wir schon im Vorhergehenden behandelt haben \u2014 auf andere, von aufsen gegebene Vorstellungen einwirken und deren Gef\u00fchlst\u00f6ne modifizieren. Diese Erkl\u00e4rung hat schon von vornherein einen hohen Grad der Wahrscheinlichkeit f\u00fcr sich, weil, wie wir 1 wissen, jedes Gef\u00fchl sich durch Erzeugung von Ver\u00e4nderungen des Lebensgef\u00fchls verst\u00e4rkt, und diese Ver\u00e4nderungen verlieren sich nur langsam. Sind wir in Affekt gewesen, so werden die Nachwirkungen der Gem\u00fctsbewegung sich noch lange nachher als eine Stimmung sp\u00fcren lassen [76\u201477]; das Gleichgewicht wird erst allm\u00e4hlich wiedergewonnen. Und auch wenn das Gef\u00fchl kein solches Maximum der St\u00e4rke und des Umfangs erreicht, dafs es anderen Menschen als sichtbare Gem\u00fctsaufregung' erscheint, hat es doch in h\u00f6herem oder geringerem Grade seinen Einflufs auf den Organismus zur Geltung gebracht, und diese Ver\u00e4nderungen des Lebensgef\u00fchls k\u00f6nnen dann auf sp\u00e4tere betonte Vorstellungen influieren. An den die Gef\u00fchle begleitenden organischen Ver\u00e4nderungen, die wieder selbst von starken Gef\u00fchlst\u00f6nen begleitet werden, haben wir also einen Faktor, der es verst\u00e4ndlich macht, wie der einmal entstandene Gef\u00fchlston auf sp\u00e4tere Bewufstseinszust\u00e4nde einzuwirken vermag. Auf eine","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"Successive gegebene Vorstellungen.\n219\nUntersuchung, welchen Gesetzen gem\u00e4fs sich dieser Einflufs \u00fcbrigens geltend macht, k\u00f6nnen wir uns hier nicht wohl einlassen, da wir die Wirkungen reproduzierter Vorstellungen auf das Gef\u00fchl \u00fcberhaupt nicht n\u00e4her behandeln. In einem sp\u00e4teren - Abschnitte werden wir indes sehen, dafs alle unsere wesentlichsten Erfahrungen in betreff der Expansion des Gef\u00fchls sich aus der hier gegebenen Erkl\u00e4rung in Verbindung mit bekannten Gesetzen f\u00fcr die gegenseitige Einwirkung der Gef\u00fchle aufeinander verstehen lassen [345],\n295. Ohne unseren sp\u00e4teren Untersuchungen vorzugreifen, k\u00f6nnen wir nun behaupten, dafs die Hauptbedingung f\u00fcr die Expansion des Gef\u00fchls die ist, dafs die betonte Vorstellung im st\u00e4nde sein mufs, andere Vorstellungen mit der n\u00e4mlichen Betonung zu reproduzieren, und besonders Organgef\u00fchle hervorzurufen, die l\u00e4ngere Zeit hindurch ihren Einflufs vorz\u00fcglich geltend machen k\u00f6nnen. Alles, was das Entstehen solcher Associationen verhindert, wird also auch eine Expansion des Gef\u00fchls verhindern. Und da wir nun wissen, dafs jedes Gef\u00fchl sich auf die angef\u00fchrte Weise verst\u00e4rkt, und zwar um so mehr, je st\u00e4rker dasselbe ist, so werden es nur schwache Gef\u00fchle sein, die, namentlich wenn sie an schnell wechselnde Vorstellungen gebunden sind, ohne Expansion, ohne Einflufs auf sp\u00e4tere Zust\u00e4nde verlaufen k\u00f6nnen. Denn wenn die Vorstellungen schnell wechseln, so wird, zufolge des Gesetzes von der Abh\u00e4ngigkeV des Gef\u00fchls von der Zeit, das einzelne Gef\u00fchl nicht im st\u00e4nde sein, das Maximum zu erreichen und sich somit in seinem vollen Umfang geltend zu machen. Dies stimmt auch mit den oben [293] angef\u00fchrten Beispielen von ausbleibender Expansion, bei denen wir gerade mit einer Reihe schnell wechselnder Vorstellungen von ziemlich schwacher Betonung zu thun hatten; dagegen wird jedes noch so geringe Ereignis, das zum Ausgangspunkt einer Gedankenreihe oder der Reproduktion einer Reihe von Vorstellungen wird, leicht eine Expansion des Gef\u00fchls herbeif\u00fchren. Wir k\u00f6nnen also das Resultat dieser Betrachtungen in folgendem Satze zusammenfassen :\n296. Wenn eine Heike verh\u00e4ltnism\u00e4fsig schwach betonter Vorstellungen schnell miteinander im Bewusstsein abwechseln, so ivird das einzelne Gef\u00fchl ohne nachweisbaren Einflufs auf die folgenden Zust\u00e4nde verlaufen k\u00f6nnen. Sobald dagegen eine lust-oder unlustbetonte Vorstellung andere Vorstellungen, und zwar","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220\nDie speziellen G-esetze der Gef\u00fchle.\nbesonders Organempfindung en, mit derselben JBetonung reproduziert, wird eine Expansion des Gef\u00fchls entstehen, d. h. die reproduzierten Gef\u00fchle werden, selbst nach dem Verschivinden des urspr\u00fcnglichen, auf verschiedene Weise auf die folgenden Beivufstseinszust\u00e4nde influiercn.\nDer n\u00e4here Nachweis, wie diese Influenz vorgeht, mufs indes bis zu einem sp\u00e4teren Zeitpunkt aufgeschoben werden [345\u2014349].\nDie betonte und die modifizierenden Vorstellungen betreffen\ndasselbe Objekt.\nDurch die Beziehung zusammenwirkender Vorstellungen erzeugte Gef\u00fchlst\u00f6ne.\n297.\tUnsere vorhergehenden Untersuchungen erwiesen, dafs der Gef\u00fchlston der betonten Vorstellung nur dann merkbar ver\u00e4ndert wird, wenn mit den modifizierenden Vorstellungen auch emotionelle Elemente verbunden sind ; wenigstens fanden wir an keinem Punkte Beispiele, dafs das blofse Vorhandensein unbetonter Vorstellungen das mit einer Vorstellung verbundene emotionelle Element modifizieren k\u00f6nnte. In dem jetzt zu betrachtenden Falle, in welchem die betonte und die modifizierenden Vorstellungen dasselbe Objekt betreffen, zeigt es sich dagegen, dafs eiie gegenseitige Beziehung der Vorstellungen selbst, ganz davon abgesehen, ob mit irgend einer derselben Gef\u00fchlst\u00f6ne verbunden seien oder nicht, ein emotionelles Element hervorrufen kann, das dann auf verschiedene Weise mit den an die einzelnen Vorstellungen gebundenen Gef\u00fchlst\u00f6nen zusammenzuwirken vermag. Da dieses Verh\u00e4ltnis f\u00fcr das gesamte menschliche Gef\u00fchlsleben von aufserordentlicher Bedeutung ist, werden wir erst die Bedingungen f\u00fcr das Entstehen der Gef\u00fchlst\u00f6ne durch alleiniges Zusammenwirken der Vorstellungen suchen, und darauf werden wir den Einflufs untersuchen, den die solchergestalt entstandenen emotionellen Elemente auf die Gef\u00fchlst\u00f6ne der einzelnen Vorstellungen haben k\u00f6nnen, wenn solche vorhanden sind.\n298.\tWas nun erst die Bedingungen f\u00fcr das Entstehen emotioneller Elemente durch alleiniges Zusammenwirken der Vorstellungen betrifft, so l\u00e4fst es sich a priori als \u00e4ufserst wahrscheinlich betrachten, dafs Streit zwischen verschiedenen Auffassungen eines gegebenen Objekts im menschlichen Bewufst-","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"Gef\u00fchl der Leichtigkeit und der Klarheit.\n221\nsein nicht Vorkommen kann, ohne lebhafte Unlust herbeizuf\u00fchren. Denn unsere ganze Existenz, unser praktisches Handeln sowohl als unser theoretisches Denken gr\u00fcndet sich, wie wir wissen, auf die Voraussetzung, dafs ein Ding ist, was es ist, solange sich die n\u00e4mlichen Verh\u00e4ltnisse geltend machen. Wenn nun ein Objekt unter ganz unver\u00e4nderten Umst\u00e4nden von dem einen Gesichtspunkt aus auf die eine, von einem anderen aus auf eine andere, mit der vorhergehenden in Streit stehende, unvereinbare Weise aufgefafst wird, mufs ein solches Verh\u00e4ltnis der Vorstellungen , das anscheinend die Grundlage unserer ganzen Existenz umzust\u00fcrzen droht, notwendigerweise Unlust erzeugen. Anderseits mufs man dagegen annehmen, dafs \u00dcbereinstimmung der verschiedenen Vorstellungen von dem Objekt Lust herbeif\u00fchrt, weil ein solches Verh\u00e4ltnis mit der Grundbedingung unseres psychophysischen Lebens im Einklang ist. \u2014 Mittels zahlreicher, verschiedenen Gebieten entnommener Beispiele werden wir nun den Beweis f\u00fcr die G\u00fcltigkeit dieser Deduktion f\u00fchren. Und anf\u00e4nglich nehmen wir einige ganz einfache F\u00e4lle, in welchen die zusammenwirkenden Vorstellungen selbst als in emotioneller Beziehung neutral betrachtet werden k\u00f6nnen, und der durch ihr gegenseitiges Verhalten erweckte Gef\u00fchlston deshalb deutlich hervortritt.\n299. Liest man ein Buch oder h\u00f6rt man eine Rede nicht rein erz\u00e4hlenden Inhalts, so wird es einem den Umst\u00e4nden gem\u00e4fs mehr oder weniger leicht fallen, der Gedankenreihe zu folgen. Diese gr\u00f6fsere oder geringere Leichtigkeit kann in zwei wesentlich verschiedenen Verh\u00e4ltnissen ihren Grund haben. Entweder kann die Ursache an uns selbst liegen, je nachdem wir die notwendigen Voraussetzungen, um mitzufolgen, vollst\u00e4ndig beherrschen oder auch derselben ermangeln, oder sie kann an der Darstellung liegen, je nachdem diese mit gr\u00f6fserer oder geringerer Klarheit und Evidenz gegeben ist. Es leuchtet nun ein, dafs je mehr wir die Voraussetzungen beherrschen und je gr\u00f6fser die Klarheit der Darstellung ist, um so leichter sind wir im st\u00e4nde, der Auseinandersetzung zu folgen; umgekehrt wird dies bei unserem eigenen Mangel an Kenntnis des Verhandelten und bei Unklarheit des Gedankenganges an Schwierigkeit zunehmen. Der Fehler m\u00f6ge nun aber an uns selbst oder an der Darstellung liegen, so wird die Leichtigkeit, mit welcher wir dieser zu folgen verm\u00f6gen, unserer F\u00e4higkeit, die Identit\u00e4t des","page":221},{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nGedankenganges festzuhalten, direkt proportional sein. Denn, wie wir wissen, ist jede logische Schlufsfolgerung ausschliefslich auf den Identit\u00e4tssatz gegr\u00fcndet; jeder Schlufs ist von den Voraussetzungen, auf welche er gebaut wird, nur an Form verschieden, an Inhalt dagegen mit denselben identisch. Den Faden einer Entwickelung festhalten bedeutet also dasselbe wie die Identit\u00e4t der einzelnen Glieder einsehen, und die Lust- und Unlustgef\u00fchle, die unsere mehr oder weniger vollst\u00e4ndige Auffassung des Dargestellten fortw\u00e4hrend begleiten, entstehen also eben aus der Identit\u00e4t oder dem Mangel an Identit\u00e4t zwischen den Gedankengliedern in unserem Bewufstsein. Und je.nachdem sich an die Gef\u00fchle die Vorstellung kn\u00fcpft, dafs die Ursache unserer mehr oder weniger vollst\u00e4ndigen Auffassung an uns selbst oder an der Darstellung liegt, zerfallen dieselben auf nat\u00fcrliche Weise in zwei Gruppen : das Gef\u00fchl von der Klarheit oder Unklarheit des Gedankens einerseits, und das Gef\u00fchl von der gr\u00f6fseren oder geringeren Denkanstrengung anderseits. Dafs wir hier wirklich mit zwei ziemlich verschiedenen Gef\u00fchlen zu thun haben, geht deutlich daraus hervor, dafs sie sozusagen gleichzeitig in demselben Bewufstsein vorhanden sein k\u00f6nnen. Wir k\u00f6nnen sehr wohl die Klarheit und Schlichtheit eines Vortrags bewundern, und dennoch eine gewisse Unlust bei der Anstrengung f\u00fchlen, die das Mitfolgen uns der mangelhaften Voraussetzungen wegen verursacht. Und umgekehrt k\u00f6nnen wir bei einem unklaren Vortrag Unlust f\u00fchlen, w\u00e4hrend die Leichtigkeit, mit welcher wir den rechten\nZusammenhang der Sache durchschauen, uns, Lust verschafft.\n# #\nIn allen F\u00e4llen ist es indes unzweifelhaft die \u00dcbereinstimmung oder Nicht-\u00dcbereinstimmung der Gedanken, deren mehr oder weniger vollst\u00e4ndig aufgefafste Identit\u00e4t, an die sich die Gef\u00fchlst\u00f6ne kn\u00fcpfen.\n300. Eine andere, nicht weniger bedeutungsvolle Gruppe von Gef\u00fchlen, die ebenfalls durch das alleinige Zusammenwirken von Vorstellungen entstehen, haben wir an den sogenannten Wahrheits- und Unwahrheitsgef\u00fchlen1). Diese gehen nicht wie die vorigen aus dem Verh\u00e4ltnisse zwischen den aufeinander folgenden Gliedern einer logischen Auseinandersetzung hervor, sondern im Gegenteil aus dem Verh\u00e4ltnisse zwischen einzelnen, ein einziges\n0 Nicht zu verwechseln mit der Wahrheitsliebe.","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"Das objektive Wahrheitsgef\u00fchl.\n223\nObjekt oder Ph\u00e4nomen betreffenden Gedanken oder Vorstellungen. Bekanntlich macht es einem immer Freude, einen Meinungsgenossen zu treffen. Ansichten \u00fcber irgend eine bestrittene Frage, die wir\nteilen, von einem anderen ausgesprochen zu h\u00f6ren, f\u00fchrt stets\n_ _ _ \u2022 \u2022\nrecht lebhafte Lust herbei, w\u00e4hrend Nicht-\u00dcbereinstimmung in solchen Verh\u00e4ltnissen Unlust erzeugt. Hier tritt die Identit\u00e4t oder Kontradiktion der Vorstellungen ohne n\u00e4heren Nachweis deutlich als Ursache der Gef\u00fchle hervor. Und da jede Meinung oder Ansicht mir wenigstens im ersten Augenblicke wahr oder unwahr erscheinen wird, je nachdem sie mit der meinigen \u00fcbereinstimmt oder nicht, k\u00f6nnten diese Gef\u00fchle recht bezeichnend mit dem gew\u00f6hnlichen Namen: Wahrheits- und Unwahrheitsgef\u00fchle benannt werden. Es wird hier jedoch sehr triftiger Grund vorliegen, zwischen zwei verschiedenen Gruppen zu sondern, indem die Gedanken oder Vorstellungen, deren Identit\u00e4t oder Kontradiktion den Gef\u00fchlston hervorruft, zwei durchaus verschiedenen Sph\u00e4ren angeh\u00f6ren k\u00f6nnen. Entweder k\u00f6nnen sie solche Verh\u00e4ltnisse betreffen, die \u00fcberhaupt Gegenstand der Erkenntnis werden k\u00f6nnen, oder auch k\u00f6nnen sie die grofse Gruppe von Verh\u00e4ltnissen betreffen, von welchen wir uns Meinungen, pers\u00f6nliche \u00dcberzeugungen bilden, deren Richtigkeit sich nicht beweisen l\u00e4fst. Mit anderen Worten: die Gewifsheit von der Wahrheit oder Unwahrheit des Satzes kann sich auf Wissen oder auf Glauben gr\u00fcnden; die Wahrheit kann entweder \u201eobjektive\u201c Wahrheit oder nur Wahrheit \u201ef\u00fcr mich\u201c sein. Je nachdem nun die S\u00e4tze, zwischen denen sich die \u00dcbereinstimmung oder der Streit geltend macht, der einen oder der anderen dieser Gruppen angeh\u00f6ren, werden Gef\u00fchle von ziemlich verschiedenem Charakter und verschiedener Bedeutung entstehen, und es scheint deshalb Grund vorzuliegen, zwischen einem \u201eobjektiven\u201c und einem \u201esubjektiven\u201c Wahrheitsgef\u00fchl zu sondern. Durch verschiedene Beispiele k\u00f6nnen wir den Unterschied zwischen diesen leicht nachweisen, und wir fangen nun mit den \u201eobjektiven\u201c Gef\u00fchlen an, deren Bedeutung sich an jedem Punkt in der Geschichte der Wissenschaft erweist.\n301. \u00dcberall, wo die Entstehungsgeschichte einer wissenschaftlichen Entdeckung uns n\u00e4her bekannt geworden ist, l\u00e4fst sich nachweisen, dafs der Forscher einander widerstreitende Vorstellungen von einer gegebenen Erscheinung zum Ausgangspunkt hatte, und dafs alle seine Bestrebungen auf das Ziel","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\ngerichtet waren, das anscheinend Unvereinbare zu vers\u00f6hnen. So wurde Lavoisier zur Untersuchung der Verbrennungserscheinungen gerade durch die einander widerstreitenden Gedanken bewogen, dafs einerseits ein K\u00f6rper erfahrungsgem\u00e4fs durch Verbrennung an Gewicht zunimmt, w\u00e4hrend derselbe anderseits der damals gangbaren Auffassung zufolge einen seiner Bestandteile, das Phlogiston, abgeben sollte. Hier ist logischer Streit : ein K\u00f6rper verliert etwas und erh\u00e4lt dennoch vergr\u00f6fsertes Gewicht, und dieser Streit gibt den Anstofs zu einer epochemachenden Untersuchung. Und die Annahme ist sicherlich keine unberechtigte, dafs die Unlust beim Widerspruche das Motiv, die Triebfeder der Untersuchung ist. Ein anderes klassisches Beispiel derselben Art haben wir an dem kopernikanischen Weltsystem. Der Auffassung des Aristoteles zufolge, die unbestrittene G\u00fcltigkeit besafs, bis Kepler den rechten Zusammenhang der Sache nach wies, sollten die Himmelsk\u00f6rper als die vollkommensten K\u00f6rper sich auch in den vollkommensten und einfachsten Bahnen, in Kreisen bewegen. Im Laufe der Zeit hatten indes Observationen der Bewegungen der Planeten erwiesen, dafs es unm\u00f6glich sei, diese Kreisform mit der Erde als Zentrum zu behaupten ; man mufste, wenn die zentrale Stellung der Erde behauptet Averden sollte, seine Zuflucht zu einem System von Epicykeln nehmen, welches die Bewegung der Planeten nichts weniger als vereinfachte. Diesen Widerspruch, dafs Bewegungen, die so \u00e4ufserst einfach sein sollten, h\u00f6chst kompliziert wurden, suchte Kopernikus durch die hypothetische Annahm\u00e8 zu heben, dafs die Sonne das Zentrum des Planetensystems sei, und um diese sollten sich alle Planeten in Kreisen bewegen. Hierdurch wurde es m\u00f6glich, die Kreisform zu behaupten und dennoch alle durch die Observationen nachgewiesenen Eigent\u00fcmlichkeiten auf nat\u00fcrliche Weise zu erkl\u00e4ren. \u2014 Wie in diesen, so in vielen anderen F\u00e4llen; was den Forscher wegen der erweckten Unlust in Bewegung setzt, ist der Streit, der Widerspruch, unvereinbare Auffassungen der n\u00e4mlichen Erscheinung.\n302. Wie das objektive Wahrheitsgef\u00fchl das Motiv, die Triebkraft ist, so ist dasselbe in vielen F\u00e4llen auch der den Forscher leitende Kompafs. Um bei einer Untersuchung methodisch zu verfahren, mufs der Forscher gew\u00f6hnlich damit beginnen, dafs er auf Grundlage der ihm zur Verf\u00fcgung stehenden einzelnen","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"Das objektive Wahrheitsgef\u00fchl.\n225\nErfahrungen eine Hypothese aufstellt, und er geht nun darauf aus, diese Hypothese zu bewahrheiten oder zu st\u00fcrzen, indem er seine Versuche diesem besonderen Zwecke gem\u00e4fs einrichtet. Stimmen die auf diese Weise gewonnenen Ergebnisse nicht mit der Hypothese, so wird dieselbe verworfen und eine neue aufgestellt, die wieder bei den folgenden Untersuchungen der leitende Faden wird, und so wird fortgesetzt, bis endlich eine Erkl\u00e4rung gefunden ist, die zu allen beobachteten Thatsachen pafst. Indem der Forscher sich nun aber bei der Bildung seiner vorl\u00e4ufigen Hypothesen auf ungen\u00fcgende Thatsachen st\u00fctzt, bedient er sich eigentlich der Induktionsmutmafsung, des unvollst\u00e4ndigen Induktionsschlusses. Dieser ist aber gar kein logisch berechtigter Schilds, sondern ganz einfach B\u00e4tselei. Man sollte deshalb erwarten, dafs ein Verfahren wie das angef\u00fchrte, statt zu wissenschaftlich brauchbaren Resultaten zu f\u00fchren, von der einen wirren und unm\u00f6glichen Hypothese zu der anderen f\u00fchren w\u00fcrde. Wenn der Forscher nichtsdestoweniger diesen Weg nicht nur thats\u00e4chlich betritt, sondern denselben wahrscheinlich auch stets betreten mufs, um \u00fcberhaupt vern\u00fcnftige Fragen an die Natur stellen zu k\u00f6nnen und nicht ins Blaue hinein zu experimentieren, so l\u00e4fst dies sich nur dadurch erkl\u00e4ren, dafs sein logisches Gef\u00fchl ihm die Ableitung allzu gewagter Schl\u00fcsse verwehrt. Gar zu grofse Nicht-\u00dcbereinstimmung zwischen der Tragweite einer m\u00f6glichen Hypothese und dem geringen Wissen erzeugt sogleich Unlust und bewegt den Forscher zu einer vern\u00fcnftigen Begrenzung seiner Annahmen. Und nicht nur bei dem streng wissenschaftlichen Forschen, sondern bei allem unserem Denken greift dieses \u201elogische\u201c Gef\u00fchl, das \u201eobjektive Wahrheitsgef\u00fchl\u201c ein und ist von nicht geringer Bedeutung. Ist man auf irgend einem Gebiete gr\u00fcndlich zu Hause, so hat man es gew\u00f6hnlich \u201eam Gef\u00fchl\u201c, ob eine Sache sich irgendwie verhalten kann oder nicht, lange bevor man sich auf dem Wege des Denkens von dem rechten Zusammenhang \u00fcberzeugt hat. Hier ist es offenbar die deutlich gef\u00fchlte Lust oder Unlust an dem Einklang oder dem Widerstreit mit unserem gesamten Wissen, die uns bef\u00e4higt, ein Urteil in der Sache zu f\u00e4llen, Schl\u00fcsse \u00fcber deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit zu ziehen. Dergleichen Schl\u00fcsse, \u201eGef\u00fchls- oder Taktschl\u00fcsse\u201c, wie man sie genannt hat, k\u00f6nnen nat\u00fcrlich richtig sein, eine Garantie hat\nman aber nicht daf\u00fcr, und sie m\u00fcssen deshalb fortw\u00e4hrend durch Lehmann, Die Gef\u00fchle.\t15","page":225},{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"226\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nlogisches Denken kontrolliert werden. Wer seine Resultate aus-schliefslich auf Taktscliltisse gr\u00fcndet, mufs daher stets vorbereitet sein, vieler Irrt\u00fcmer \u00fcberwiesen zu werden. -\u2014 Wir wollen nur noch ein paar Beispiele aus dem t\u00e4glichen Leben anf\u00fchren, in welchen das logische Gef\u00fchl deutlich hervortritt. Wenn wir die unrichtige Darstellung einer Sache h\u00f6ren, von welcher wir besser Bescheid zu wissen glauben, so findet die Unlust sich sogleich ein. Wer eine Rechnung abschliefst, ohne die Bilanz finden zu k\u00f6nnen, der kennt das unangenehme Gef\u00fchl, welches diese Nicht-\u00dcbereinstimmung herbeif\u00fchrt. Man rechnet um, es stimmt abermals nicht. Man geht die einzelnen Posten durch, um zu sehen, ob nicht irgendwo etwas vergessen oder verkehrt angef\u00fchrt sein sollte. Endlich findet man, was in die Sache scheint Ordnung bringen zu k\u00f6nnen. Man rechnet aufs neue nach ; nun stimmt es ! Die \u00dcbereinstimmung der Zahlen wird hier die Quelle eines starken Lustgef\u00fchls, das durch den Kontrast mit der aufgehobenen Unlust noch mehr verst\u00e4rkt wird.\n303. Wenden wir uns nun zu dem subjektiven Wahrheitsund Unwahrheitsgef\u00fchl. Dieses entsteht wie das objektive durch \u00dcbereinstimmung oder Nicht-\u00dcbereinstimmung zwischen Vorstellungen und Gedanken, die irgend ein Verh\u00e4ltnis betreffen, nur mit dem oben ber\u00fchrten Unterschiede, dafs es sich hier um keine Erkenntnis, sondern um Glaubenssachen dreht. Zu jedem gegebenen Zeitpunkt gibt es vielfache Probleme, die sich durchaus nicht auf exakt wissenschaftlichem Wege beantworten lassen; was einige Fragen betrifft, ist dies schon in der Natur der Sache begr\u00fcndet, indem sie Erscheinungen angehen, die weit aufserhalb des Bereichs menschlicher Erfahrung liegen, in betreff anderer Fragen ist die Unl\u00f6sbarkeit nur einstweilig, indem die Wissenschaft dieselben noch nicht zu bew\u00e4ltigen vermochte. Der Umstand, dafs ' die Fragen also offen stehen, verwehrt nat\u00fcrlich aber nicht, dafs die Menschen zu allen Zeiten eifrig eine Beantwortung zu finden streben; im Gegenteil bringt die grofse Tragweite der Probleme und die Bedeutung, die eine bestimmte L\u00f6sung derselben notgedrungen f\u00fcr den ganzen praktischen Lebenswandel erhalten mufs, es mit sich, dafs jeder Mensch wenigstens \u00fcber die wesentlichsten Punkte eine Meinung haben mufs. Zu einer solchen Totalauffassung, einer Lebens- und Weltanschauung, legt die sittlich-religi\u00f6se Erziehung den Grund und Boden, und wenn die meisten auch bei dem auf diese Weise direkt \u00dcberlieferten","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"Das subjektive Wahrheitsgef\u00fchl.\n227\nstehen bleiben, so dafs dasselbe im Laufe der Zeit nur in geringem Mafse entwickelt wird, bauen viele doch durch Studien und Selbstdenken entweder in positiver oder in negativer Richtung auf die durch die Erziehung gegebene Grundlage weiter. Und von einer solchen mehr oder weniger klar und vollst\u00e4ndig ausgeformten Totalauffassung aus sucht das Individuum, stets vom Gef\u00fchl geleitet, alle auftauchenden Probleme zu beantworten. Alles, was mit der Totalauffassung \u00fcbereinstimmt, wird als Wahrheit aufgenommen; das Nicht-\u00dcbereinstimmende sucht man zu entfernen. Jedermann weifs, wie sicher das Gef\u00fchl zu entscheiden vermag, ob eine auf dem Gebiete des ewigen Streites aufgestellte Ansicht auch f\u00fcr uns Wahrheit ist. Wir haben vielleicht nie \u00fcber die Frage nachgedacht und w\u00fcrden folglich in bedeutende Verlegenheit geraten, sollten wir unsere pers\u00f6nliche Meinung dar\u00fcber aus dem Stegreif entwickeln. Nichtsdestoweniger f\u00fchlen wir deutlich, sobald wir eine \u00c4ufserung dar\u00fcber h\u00f6ren, wiefern wir einer solchen Auffassung beitreten k\u00f6nnen oder nicht. Seinen Beifall oder seine Mifsbilligung mit Gr\u00fcnden zu belegen, ist in dergleichen F\u00e4llen fast unm\u00f6glich; was ausgesprochen wird, ist ein reines Gef\u00fchlsurteil. Es ist leicht zu ersehen, dafs diese subjektiven Wahrheitsgef\u00fchle f\u00fcr die Entwickelung unseres Bewufstseinslebens aufserordentliche Bedeutung besitzen, indem sie der eigentliche H\u00fcter der Einheitlichkeit des Bewufstseins sind. Denn gerade deswegen, weil diese Gef\u00fchle uns sogleich sagen, ob die neuen Vorstellungen mit den Konsequenzen unserer Totalauffassung \u00fcbereinstimmen oder nicht, auch wenn wir \u00fcber diese Konsequenzen nicht ganz im reinen sind, werden wir in stand gesetzt, alles, was mit dem gesamten fr\u00fcheren Inhalt unseres Bewufstseins- \u00fcbereinstimmt, festzuhalten und das Nicht-\u00dcbereinstimmende zu entfernen. Somit werden diese Gef\u00fchle also zum Regulator und Schwungrad der psychischen Entwickelung \u2014 sie verhindern alle Spr\u00fcnge, alle gewaltigen Umschl\u00e4ge unserer Denk- und Handlungsweise und sorgen auf diese Weise daf\u00fcr, dafs die Bewegung sanft und ruhig vorgeht.\n304. Die verschiedenen Gef\u00fchle, die wir hier behandelt haben, und denen allen es gemeinsam ist, dafs sie aus einem Einklang oder einem Streit zwischen Gedanken \u00fcber ein bestimmtes Objekt hervorgehen, geh\u00f6ren zu der grofsen Gruppe von Gef\u00fchlen,\nwelche gew\u00f6hnlich die \u201eformellen\u201c oder die Beziehungsgef\u00fchle\n15*","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\ngenannt werden ; im Gegensatz zu diesen k\u00f6nnen wir die Gef\u00fchle, die an einen bestimmten Vorstellungsinhalt gebunden sind, die Inhaltsgef\u00fchle nennen. Die Darstellung dieser Zust\u00e4nde, die hier gegeben wurde, ist bei weitem eine ersch\u00f6pfende, eine solche wurde aber auch nicht bezweckt. In dem Abschnitte, in dem wir versuchen werden, den Grundrifs einer Systematik der Gef\u00fchle zu geben, wird nachgewiesen werden, dafs unter die hier behandelten Hauptformen noch andere emotionelle Zust\u00e4nde sehr verschiedenen Charakters und sehr verschiedener Bedeutung geh\u00f6ren. Hier haben wir diese Erscheinungen nur hervorgezogen, um Beispiele und Beweise zu geben, dafs sich Gef\u00fchlst\u00f6ne an das alleinige Verh\u00e4ltnis zwischen gegebenen Vorstellungen und Gedanken kn\u00fcpfen k\u00f6nnen. Wir sind indes noch nicht ganz hiermit fertig; es er\u00fcbrigt noch ein Punkt, dessen Er\u00f6rterung notwendig sein wird. In allen vorhergehenden Untersuchungen ist n\u00e4mlich nur von verschiedenen \u201eAuffassungen\u201c eines gegebenen Objekts oder Ph\u00e4nomens die Rede gewesen, eigentlich haben wir nur das Verh\u00e4ltnis zwischen Gedanken, mehr oder weniger bestimmt formulierten S\u00e4tzen oder Urteilen ber\u00fccksichtigt. Mit Bezug auf diese erwies es sich als aufser allen Zweifel gestellt, dafs an deren Einklang oder Streit Lust oder Unlust gebunden ist, wie ihr Inhalt sonst auch sein m\u00f6chte. Diese Erkenntnis gen\u00fcgt aber nicht zum Aufbau eines allgemeinen Gesetzes. Denn unsere Auffassung eines Objekts tritt ja bei weitem immer unter der Form des Urteils auf; wo wir einem Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung gegen\u00fcberstehen, haben wir wohl vielmehr mit Vorstellungen, Bildern, als mit S\u00e4tzen oder Gedanken zu thun. Es wird deshalb von Interesse sein, zu untersuchen, ob auch an Einklang oder Streit zwischen Sinnesbildern, die dasselbe Objekt betreffen, Gef\u00fchlst\u00f6ne gebunden sein k\u00f6nnen.\n305. Dafs dies m\u00f6glich ist, m\u00f6chte schon vonvornherein deswegen gegeben sein, weil in psychologischer Beziehung zwischen einer zusammengesetzten Vorstellung und einem Gedanken kein wesentlicher Unterschied ist. Der \u00dcbergang aus der Vorstellung \u201edas gr\u00fcne Blatt\u201c in das formulierte Urteil \u201edas Blatt ist gr\u00fcn\u201c geschieht im entwickelten menschlichen Bewufstsein so leicht, dafs es im allgemeinen wohl unm\u00f6glich zu unterscheiden w\u00e4re, ob in einem gegebenen Moment ersterer oder letzterer Zustand in unserem Bewufstsein zu finden sei. Unser Denken geht gewifs grolsenteils mit Hilfe solcher zusammengesetzten Vorstellungen","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"Verh\u00e4ltnis komplexer Vorstellungen zu Gedanken.\n229\nvor; erst wenn wir den Gedankengang n\u00e4her pr\u00e4zisieren wollen, um logische Garantie f\u00fcr dessen Richtigkeit zu erhalten, formulieren sich die Vorstellungen als Gedanken, als Urteile. Man wird die zusammengesetzten Vorstellungen deshalb auch gewifs\nmit Recht nichtformulierte Gedanken nennen k\u00f6nnen. Und es\n\u2022 \u2022\nliegt nun in der Natur der Sache selbst, dafs von \u00dcbereinstimmung und Streit ebensowohl zwischen solchen nichtformulierten, dasselbe Objekt betreffenden Gedanken als zwischen klar ausgesprochenen Gedanken, S\u00e4tzen, die Rede sein kann. Die Bedingung ist nat\u00fcrlich fortw\u00e4hrend die, dafs es wirklich komplexe Vorstellungen sind, die in Beziehung zu einander treten. Zwischen den beiden einfachen Vorstellungen \u201egr\u00fcn\u201c und \u201egelb\u201c kann von einem Streite keine Rede sein ; habe ich aber die Vorstellung von einem bestimmten gr\u00fcnen Blatte, und erweist dieses sich bei gegebener Gelegenheit als gelb, so findet zwischen meinen Vorstellungen in betreff des bestimmten Objektes Streit statt. Und es liegt dann kein besonderer Grund vor, weshalb nicht ebensowohl in diesem Falle, als wenn die Vorstellungen bestimmt formulierte gewesen w\u00e4ren, Unlust erregt werden sollte. Wir werden nun untersuchen, inwiefern die Erfahrung die Richtigkeit der An n\u00e4hme best\u00e4tigt.\n306. Hier treffen wir jedoch eine Schwierigkeit ganz eigent\u00fcmlicher Natur an. Indem wir n\u00e4mlich im Vorhergehenden unsere Beispiele dem Gebiete des theoretischen und des praktischen Wissens entnahmen, konnten wir von der Betonung der Vorstellungsverbindungen, der Gedanken selbst, vollst\u00e4ndig ab-sehen, und deshalb traten die durch deren Einklang oder Streit erweckten Gef\u00fchlst\u00f6ne deutlich hervor. Bei den nun zu untersuchenden Verh\u00e4ltnissen, wo wir mit Sinnesbildern zu thun haben, die durch Betrachtung eines vorgelegten Objekts entstehen, wird es fast unm\u00f6glich sein, mit Vorstellungen zu operieren, die in emotioneller Beziehung selbst neutral w\u00e4ren, und deswegen entgehen die h\u00e4ufig schwachen Gef\u00fchlst\u00f6ne, die aus ihrem gegenseitigen Verh\u00e4ltnisse resultieren, leicht der Aufmerksamkeit. Es wird also nicht gen\u00fcgen, allein auf solche F\u00e4lle zu verweisen, die oft im t\u00e4glichen Leben Vorkommen k\u00f6nnen, weil in allen diesen F\u00e4llen zum Auffassen der vorhandenen Beziehungsgef\u00fchle ein scharfes Beobachtungsverm\u00f6gen erforderlich ist. Es bleibt uns dann wohl kaum ein anderer Ausweg, als der, durch Gedankenexperimente, deren emotionelle","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nResultate jedermann leicht wird bestimmen k\u00f6nnen, die erw\u00e4hnten Gef\u00fchlst\u00f6ne hervortreten zu lassen.\n307.\tZum Anfang w\u00e4hlen wir einen der am wenigsten komplizierten F\u00e4lle, ein polychromes Ornament. Dieses m\u00f6ge aus ein paar, einfachen geometrischen Figuren bestehen, die regelm\u00e4fsig miteinander abwechseln, wie z. B. nebenstehende Guilloche (Theben, 18\u201420 Dyn.)*). Gibt man dieser Figur eine bestimmte Grundfarbe, und l\u00e4fst man die Guilloche sich wie ein Band ebenfalls von bestimmter Farbe \u00fcber den Grund schl\u00e4ngeln, w\u00e4hrend Rosetten von einer dritten Farbe Abwechselung hervorbringen, so wird man, vorausgesetzt nat\u00fcrlich, dafs die Farben mit gen\u00fcgender Ber\u00fccksichtigung der Gesetze der Farbenharmonie gew\u00e4hlt sind, ein h\u00f6chst geschmackvolles Ornament haben. Denkt man sich aber statt dieser Anordnung, dafs jede einzelne Rosette ihre besondere Farbe h\u00e4tte und die Guilloche sich wie ein Cham\u00e4leon mit ebenfalls best\u00e4ndig wechselnder Farbe zwischen diesen hindurchschl\u00e4ngelte, so k\u00f6nnte man die Farben wahrscheinlich w\u00e4hlen, wie man wollte, das Auge w\u00fcrde doch nie befriedigt werden. Kein Zeitalter und kein Volk, wie sehr es auch die Farben lieben m\u00f6chte, scheint jemals einen solchen Versuch gewagt zu haben, und w\u00e4re ein solcher gewagt worden, w\u00fcrde er zweifelsohne mifslungen sein. Die Figur, das Muster, zeigt uns ja, dafs dieselbe Rosette und dieselbe Verschlingung des Bandes stets wiederholt werden. W\u00e4ren diese nun in verschiedenen Farben gegeben, so w\u00fcrde also zwischen der Form und den Farben Nicht-\u00dcbereinstimmung entstehen; wir w\u00fcrden eine Reihe von Gliedern erhalten, die von dem Gesichtspunkte der Form betrachtet gleichartig, von dem der Farbe dagegen verschieden w\u00e4ren, und wir w\u00fcrden in der Betrachtung deshalb nie Ruhe finden k\u00f6nnen. Das Ornament w\u00fcrde sein, was man \u201eunruhigw zu nennen pflegt. Dafs die Unlust hier wirklich einer Nicht - \u00dcbereinstimmung zwischen zwei Vorstellungen zu verdanken ist, wird sich erweisen, sobald wir den Seelenvorgang, mittels dessen sie zu st\u00e4nde kommt, n\u00e4her analysieren.\n308.\tBei Betrachtung eines zusammengesetzten Objekts sehen wir ja gew\u00f6hnlich nur einen geringen Teil' aufs Mal; zuerst erblicken wir einen Teil der Bandverschlingung und eine einzelne Rosette. Indem das Auge sich darnach auf die zun\u00e4chst\n0 Prisse d\u2019Avennes: l\u2019art \u00e9gyptien.","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"\u00c4sthetische Beziehungsgef\u00fchle bei Malerei.\t231\nangrenzenden Teile richtet, entdecken wir , dafs die Form der Rosetten hier dieselbe ist wie vorhin, und an das Bild der neuen Rosetten kn\u00fcpft sich deshalb mittels Association die Vorstellung von der an der ersten Rosette wahrgenommenen Farbe. Mittlerweile hat unsere sinnliche Wahrnehmung uns schon gezeigt, dafs die Farbe eine andere ist, und die Unm\u00f6glichkeit, die von seiten der Form gleichen Glieder v\u00f6llig zu identifizieren, ruft dann Unlust hervor. Der hier verlaufende Vorgang ist derselbe wie der, mittels dessen ein zusammengesetztes Objekt wiedererkannt wird, und man k\u00f6nnte die formellen Gef\u00fchle, mit denen wir hier zu thun haben, deshalb vielleicht am geeignetsten als die Lust des Wiedererkenn en s und die Unlust des Nichte rkennens bezeichnen. Diese Bezeichnungen m\u00f6chten jedenfalls korrekter sein als die gew\u00f6hnlich benutzten Ausdr\u00fccke : Erf\u00fcllung der Erwartung und T\u00e4uschung. Bei aller Erwartung, Erf\u00fcllung der Erwartung und T\u00e4uschung treffen wir freilich den n\u00e4mlichen Vorgang an; hier ist er jedoch in so weit h\u00f6herem Grade bewufst, dafs es mifslich wird, diese Bezeichnungen auf die oben behandelten, \u00e4ufserst primitiven Erscheinungen zu \u00fcbertragen. Erwarte ich einen Bekannten an einem bestimmten Orte, so bilde ich mir auf Grundlage gewisser gegebenen Voraussetzungen: dafs der Mann versprochen hat, zu kommen, dafs er pr\u00e4zis zu sein pflegt, und dafs der verabredete Zeitpunkt gerade jetzt eintrifft, ein Phantasiebild von dem Manne, wie er kommen wird. Die Unlust der Erwartung besteht nun darin, dafs dieses Phantasiebild beim Vergleich mit der Wirklichkeit best\u00e4ndig als mit dieser nicht-\u00fcbereinstimmend befunden wird; wir erleiden eine fortw\u00e4hrende T\u00e4uschung, indem wir von Zeit zu Zeit unsere sinnlichen Wahrnehmungen, den Ort ohne den Mann, mit unserem Phantasiebilde vergleichen. Diese Unlust der Erwartung, der T\u00e4uschung, wird erst in dem Augenblick aufgehoben, da der Mann wirklich kommt; die Identit\u00e4t der Phantasie mit der Wirklichkeit wird dann die Quelle einer Lust, deren Intensit\u00e4t um so gr\u00f6fser sein wird, je mehr sie durch den Kontrast mit der vorausgehenden Unlust erh\u00f6ht wird, was wieder davon abh\u00e4ngt, wie lange die Erwartung gedauert hat.\n309. Wie man sieht, sind es also die n\u00e4mlichen Vorg\u00e4nge, die beim W7iedererkennen und bei der Erwartung stattfinden, nur sind sie w\u00e4hrend der Erwartung mehr bewufst, und es verl\u00e4uft hier auch gew\u00f6hnlich ein l\u00e4ngerer Zeitraum zwischen dem","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"282\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nEntstehen des Phantasiebildes und der Identifizierung als beim Wiedererkennen. Alles beruht also zun\u00e4chst darauf, wie wir die Begriffe definieren. Will man unter der Erwartung nur das eigentliche, bewufste Erwarten verstehen, dafs etwas eintreffen werde, so kann man bei den mehr primitiven mechanischen Vorg\u00e4ngen derselben Art nat\u00fcrlich von keiner Erwartung reden. Wenn dagegen die blofse Reproduktion einer Vorstellung, die im n\u00e4chsten Moment mit einer Wahrnehmung verglichen und mit dieser identisch oder nicht - identisch befunden wird, ebenfalls eine, wenngleich primitive Erwartung genannt werden soll, so hat man nat\u00fcrlich das Recht, von einer Lust der Erf\u00fcllung einer Erwartung und einer Unlust der T\u00e4uschung sogar da zu reden, wo der Vorgang so mechanisch wie m\u00f6glich verl\u00e4uft. Letzterer Sprachgebrauch scheint nun der gew\u00f6hnlichere zu sein, und im Anschlufs hieran k\u00f6nnen wir also sagen, dafs die Unlust an dem unruhigen Ornament auf einer \u2014 unbewufsten \u2014 T\u00e4uschung beruht, auf fortw\u00e4hrender Nicht-\u00dcbereinstimmung zwischen unseren primitiven Erwartungen und dem wirklich Wahrgenommenen. Ein \u00e4hnliches Verh\u00e4ltnis treffen wir in den bildenden K\u00fcnsten, der Malerei, Skulptur u. s. w. an, nur ist die Identifizierung, aus welcher die Gef\u00fchle entspringen, hier gew\u00f6hnlich eine mehr bewufste.\n310. Um die eigent\u00fcmlichen Verh\u00e4ltnisse, die hier zur Geltung kommen, n\u00e4her zu untersuchen, k\u00f6nnen wir ein einzelnes Beispiel nehmen. Ein Gem\u00e4lde m\u00f6ge ein einzelnes rundes Objekt, z. B. eine grofse Frucht darstellen, und nehmen wir nun an, dafs der Schatten unrichtig gelegt ist, so dafs der dunkelste Schatten nicht dort f\u00e4llt, wo er, nach der Lage des Lichtpunktes zu schliefsen, fallen sollte. Hier ist dann eine Nicht-\u00dcbereinstimmung zwischen der Form und der Farbe, die notwendigerweise eine gewisse Unlust erwecken wird, indem sie die Auffassung pessen, was die Darstellung eigentlich beabsichtigte, erschwert. Eine solche Nicht-\u00dcbereinstimmung wird aber zugleich mit sich bringen, dafs zwischen dem Bilde und der Wirklichkeit Streit eintritt, denn eine wirkliche Frucht mit der vom Gem\u00e4lde geschilderten Form und Lage m\u00fcfste einen anderen Schatten werfen. Und es wird kaum schwer nachzuweisen sein, dafs jede beliebige Nicht-\u00dcbereinstimmung zwischen Farbe, Form und Inhalt eines Gem\u00e4ldes zugleich stets einen Streit mit der Wirklichkeit herbeif\u00fchren wird. Denn eben die Abweichung","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"\u00c4sthetische Beziehungsgef\u00fchle bei Skulptur.\n233\nvon der Wirklichkeit ist es, die bewirkt, dafs wir die einzelnen Faktoren als nicht-\u00fcbereinstimmend betrachten. Wir stellen uns ja mit der Erwartung vor das Gem\u00e4lde hin, dafs dieses uns eine mehr oder weniger idealisierte Wiedergabe nat\u00fcrlicher Verh\u00e4ltnisse mit Hilfe der Mittel, \u00fcber welche diese spezielle Kunstart verf\u00fcgt, zeigen werde. Durch die Betrachtung erhalten wir nun auch ein Wirklichkeitsbild, indem Licht und Schatten, perspektivische und anatomische Proportionen u. s. w., soweit die technischen Mittel dies gestatten, mit den nat\u00fcrlichen Verh\u00e4ltnissen \u00fcbereinstimmen. Findet sich nun aber ein Fehler in irgend einer Beziehung, so werden hierdurch Vorstellungen in uns erweckt werden, die dem durch die \u00fcbrigen Faktoren hervorgerufenen Wirklichkeitsbilde widerstreiten, und es entsteht dann Unlust. Es ist nun offenbar ziemlich gleichg\u00fcltig, ob wir den Streit zwischen der Wahrnehmung und der Wirklichkeit oder den Streit zwischen den verschiedenen Faktoren des Gem\u00e4ldes als Ursache der entstandenen Unlust betrachten ; ersterer ist nur die n\u00e4here, letzterer die ferner liegende Ursache.\n311. Dasselbe Verh\u00e4ltnis, das wir mit Bezug auf Malereien nachwiesen, gilt offenbar auch f\u00fcr Skulpturen, nur kommt hier bei den gew\u00f6hnlichen, einfarbigen Skulpturen die Farbe nicht in Betracht. Bei polychromen Werken wird die Sache dagegen etwas komplizierter, und da diese Frage gewisses aktuelles Interesse hat, wollen wir einen Augenblick bei derselben verweilen. \u2014 Je mehr eine Kunstart sich der illusorisch wirkenden Wiedergabe der Wirklichkeit n\u00e4hert, um so schwieriger wird sie auch, denn um so gr\u00f6fser ist die Wahrscheinlichkeit, dafs Widerspr\u00fcche zwischen dem Kunstwerk und der Wirklichkeit hervor treten und wegen der erzeugten Unlust den gesamten \u00e4sthetischen Wert des Werkes verringern. In der Ornamentik hat die Wirklichkeit nur sehr wenig zu sagen, denn selbst da, wo sie Pflanzen- und Tierformen behandelt, geschieht dies nur rein schematisch, so dafs die Darstellung gerade keinen Anspruch macht, mit der Natur \u00fcbereinzustimmen; deshalb k\u00f6nnen wir auch ohne Anstofs gr\u00fcne Blumen und zinnoberrote Bl\u00e4tter betrachten, wohl zu merken, wenn diese auch der Form nach rein dekorativ behandelt sind. In der bildenden Malerei wird die\nt\nSache ganz anders, weil ein einziger Blick uns sagt, dafs wir hier einer Reproduktion der Wirklichkeit gegen\u00fcberstehen, insofern es thunlicli ist, den tridimensionalen Raum auf einer","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nbidimensionalen Fl\u00e4che darzustellen ; eine merkbare Nicht\u00fcbereinstimmung innerhalb dieser Grenzen wird uns deshalb sogleich unangenehm ber\u00fchren. In der polychromen Skulptur wird nun die Reproduktion der Wirklichkeit unter Anspruch der Illusion auf den Gipfel getrieben; der Bildhauer gibt die Form mit v\u00f6lliger Wahrheit in allen drei Dimensionen wieder, und nimmt er dann die Farbe zu Hilfe und sucht, auch das Farbenspiel des abgebildeten K\u00f6rpers wiederzugeben, so fehlt ja nur das Leben, um die \u00dcbereinstimmung der Abbildung mit der Wirklichkeit vollst\u00e4ndig zu machen. Aber dies eben, dafs nur das Leben fehlt, ist das Ungl\u00fcck der polychromen Skulptur. Denn ist man der Natur so nahe gekommen, dafs man nur das Leben vermifst, damit die Illusion vollst\u00e4ndig werde, so wird man das Leben auch unaufh\u00f6rlich vermissen ; zwischen dem Kunstwerk und der Wirklichkeit wird dann fortw\u00e4hrend Streit und Nicht\u00fcbereinstimmung bestehen : unsere Erwartung des Lebens wird in jedem Moment get\u00e4uscht. \u2014 In einer interessanten kleinen Abhandlung1) hat Prof. Jul. Lange gerade diesen Einwurf gegen die polychrome Skulptur geltend gemacht. Bei schlechten Kunstwerken dieser Art wird das Auge unaufh\u00f6rlich an dem Mifsverh\u00e4ltnis zwischen Form und Farbe Anstofs nehmen. Ist die Farbe nicht hinl\u00e4nglich diskret behandelt, so sehen wir keine nat\u00fcrliche Hautfl\u00e4che, sondern geradezu eine Schicht Farbe an einem K\u00f6rper, wo sie gar nicht hingeh\u00f6rt, und das wirkt ab-stofsend. Und sogar wenn die Farbe mit gr\u00f6fster Feinheit angelegt ist, kann man kaum vermeiden, dafs das Werk, in verschiedener Beleuchtung (blofs von verschiedenen Seiten) erblickt, unnat\u00fcrlich wird, weil die Farbe, die in einem Lichte das Anzeichen der Frische und Gesundheit ist, in einem anderen leicht den Eindruck der Ungesundheit machen kann. Und denken wir uns endlich, dafs es der Kunst gel\u00e4nge, auch diese Schwierigkeit zu \u00fcberwinden, so w\u00fcrde es doch noch \u00fcbel aus-sehen, denn wir w\u00fcrden dann das Leben vermissen. Als Beispiel k\u00f6nnen wir Bildnisse unserer eigenen Eltern w\u00e4hlen. \u201eWo sollen wir sie hinstellen? Z. B. auf ein Pi\u00e9destal in unserer Stube? Nein, das pafst ja nicht zu der vollkommnen Illusion, die hier\n*) Farven og Billedhuggerkunsten. Tidsskrift for Kunstindustri (Die Farbe und die Bildhauerkunst. Zeitschrift f\u00fcr Kunstindustrie). 1886. S. 72\u201484.","page":234},{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"Erzeugnisse der technischen K\u00fcnste.\n235\ngerade erreicht werden sollte. Vater und Mutter safsen nie auf\neinem Pi\u00e9destal, und ein vollkommen t\u00e4uschendes Bild derselben,\nin nat\u00fcrlicher Gr\u00f6fse auf einem Pi\u00e9destal sitzend, w\u00fcrde nur\nschlecht mit ihrem Wesen stimmen. Nein, die Mutter mag mit\neinem Buch oder einer Handarbeit in der Sophaecke und der\nVater am Arbeitstische sitzen, so safsen sie. Nun ist die Illusion\nvollkommen. \u2014 Aber weshalb sprechen sie nicht? Ich kenne\njeden Zug, jede Miene ihres Gesichts, den Blick des Auges, das\nL\u00e4cheln um die Lippe. Das ist ja eine ewige Qual, dais sie\nschweigend und unbeweglich dasitzen und nie den Mund auf-\nmachen. Geschwind fort mit diesen indiskreten Bildern, die so\nviel versprechen, ohne es halten zu k\u00f6nnen.\u201c*) Es ist also gerade\nL anges Meinung, dafs wir an solchen vollkommen t\u00e4uschenden\nSkulpturen das Leben vermissen w\u00fcrden, und dieser Streit\nzwischen der Reproduktion und der Wirklichkeit macht die\n\u2022 \u2022\nWerke als Kunstwerke unm\u00f6glich. \u2014 \u00dcbrigens liegt es in der Natur der Sache selbst, dafs wir darum nicht v\u00f6llig auf die Anwendung der Farbe in der Skulptur zu verzichten brauchen. Wird die Farbe mit Feinheit angelegt und lieber in der Kleidung und anderen Nebensachen als gerade an der Haut, so wird sie die Wirkung des Kunstwerkes erh\u00f6hen k\u00f6nnen, indem sie die Einf\u00f6rmigkeit der Fl\u00e4chen unterbricht, ohne dafs die durch die Nicht-\u00dcbereinstimmung herbeigef\u00fchrte Unlust sich geltend macht. In diesem Falle ist ja n\u00e4mlich gar kein Anlauf gemacht, um gr\u00f6fsere Illusion zu erzeugen, als das nichtfarbige Kunstwerk hervorzubringen vermag.\n312. Es gibt vielleicht kein anderes Gebiet, auf welchem die durch Harmonie oder Streit verschiedener Vorstellungen erregte Lust und Unlust deutlicher hervortreten und gr\u00f6fsere Bedeutung haben, als das der Kunstindustrie. Wir kennen eine Menge kunstindustrieller Erzeugnisse, deren Form und Ausschm\u00fcckung alle \u00e4sthetischen Anspr\u00fcche v\u00f6llig befriedigen, die aber nichtsdestoweniger in ihrer Totalit\u00e4t ungen\u00fcgend sind. Dieser Umstand l\u00e4fst sich schwer erkl\u00e4ren, wenn man nicht\ngerade annimmt, dafs die Vollkommenheit der einzelnen Faktoren\n\u2022 \u2022\nnicht gen\u00fcgt, sondern dafs diese auch in v\u00f6lliger \u00dcbereinstimmung miteinander sein m\u00fcssen, da sonst eine Unlust entsteht, die der mit den einzelnen Vorstellungen verbundenen Lust entgegenwirkt.\ni) A. a. O. S. 80.","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nHier eine ersch\u00f6pfende Behandlung dieser Verh\u00e4ltnisse zu geben, w\u00fcrde uns nat\u00fcrlich gar zu weit f\u00fchren; wir heben daher nur einige der h\u00e4ufigsten F\u00e4lle hervor, welche die Nicht-\u00dcbereinstimmung zwischen den zusammenwirkenden Vorstellungen und die hieraus resultierende Unlust deutlich hervortreten lassen. \u2014 Streit zwischen Form und Dekoration ist in der Kunstindustrie eine allgemeine Vers\u00fcndigung, weil das Belief ein ebenso beliebtes als schwer zu verwendendes Dekorationsmittel ist. Auf jedem runden Gegenstand, der von allen Seiten zu sehen sein soll, wird eine plastische Darstellung, selbst im Flachrelief, das reine und klare Hervortreten der Konturen verhindern, und dies gilt nat\u00fcrlich in noch h\u00f6herem Mafse von dem Hochrelief. Die Verwendung des letzteren wird im erw\u00e4hnten Falle daher stets unzweckm\u00e4fsig sein1), und das Flachrelief ist mit Vorsicht zu gebrauchen. W\u00e4hrend der Bl\u00fctezeit der Kunst vermieden die \u00c4gypter, die das Relief sonst \u00fcberall verwendeten, die beiden genannten Formen an runden Gegenst\u00e4nden, S\u00e4ulen u. s. w. ; hier finden wir best\u00e4ndig eine Art Hohlrelief (Relief en creux), welches eigentlich nur darin besteht, dafs die Konturen des Gegenstandes in das zu dekorierende Objekt eingemeifselt sind, so dafs die hervorspringendsten Teile der Dekoration nicht h\u00f6her liegen als die Oberfl\u00e4che des Objekts. So wurde mit sicherem k\u00fcnstlerischen Takte vermieden, dafs die Dekoration die Konturen des Objekts bricht. Ein anderer h\u00e4ufig vorkommender Fehler besteht darin, dafs zwischen der Bestimmung und der Dekoration eines Gegenstandes Streit stattfindet. Geradezu handgreiflich wird der Zwiespalt, wenn ein Gegenstand, z. B. eine Sch\u00fcssel, so reich dekoriert ist, namentlich mit Reliefwerk, dafs er hierdurch unbrauchbar wird. Jeder Versuch, denselben seiner eigentlichen Bestimmung gem\u00e4fs zu benutzen, wird dann sogleich verraten, dafs die Kunst ihre rechte Grenze \u00fcberschritten hat. Dergleichen Gegenst\u00e4nde sind daher denn auch nicht als Nutzgegenst\u00e4nde aufzufassen, sondern m\u00fcssen als rein dekorative Arbeiten, als Schaust\u00fccke genommen werden ; nur in diesem Falle h\u00f6rt der Streit zwischen der Dekoration und der Bestimmung des Objektes auf. Wird das Werk nun solcherweise von einem Nutzgegenstand auf eine dekorative Zier reduziert, so mufs es auch an sich die Bedingungen haben, um als Zierat\n_ \u2022 \u2022\n*) J. Falke: \u00c4sthetik des Kunstgewerbes. Fig. 3 und 51.","page":236},{"file":"p0237.txt","language":"de","ocr_de":"Erzeugnisse der technischen K\u00fcnste.\n237\nverwendet zu werden, oder mit anderen Worten, seine Dekoration mufs hinl\u00e4nglichen k\u00fcnstlerischen Wert besitzen, wenn das Ganze nicht sinnlos werden soll. Es ist indes keineswegs notwendig, dafs die Nicht - \u00dcbereinstimmung so hervortretend wird wie in diesem Falle, um die Unlust f\u00fchlbar zu machen; schon ein einzelner Widerspruch zwischen dem Nutzen und der Dekoration des Gegenstandes wird gen\u00fcgen. Als Beispiele in dieser Richtung k\u00f6nnen wir Schr\u00e4nke und \u00e4hnliche M\u00f6beln nennen, die als Schlofsfassaden mit S\u00e4ulen, Pfeilern, Nischen und Gesimsen ausgestattet sind. Dergleichen Dinge k\u00f6nnen ganz kurios aussehen, aber ein Schrank ist nun einmal kein Schlofs, und wie h\u00fcbsch das Ganze auch ausgef\u00fchrt sein mag, kann man sich doch nicht befriedigt linden; sobald man eine Th\u00fcr \u00f6ffnet und somit die S\u00e4ulensch\u00e4fte entfernt, w\u00e4hrend Kapit\u00e4ler und Gesimse frei in der Luft schwebend Zur\u00fcckbleiben, tritt der Widerspruch, das Unlogische, hervor. Ganz dasselbe ist mit gewissen, sowohl aus der pompejanischen als der byzantinischen Kunst bekannten Mosaikfufsb\u00f6den der Fall, in denen mittels verschiedenfarbiger Steine ein falsches Relief hervorgebracht ist, das dem Fufsboden das Aussehen gibt, als h\u00e4tte er Vertiefungen und hervorspringende Spitzen. Da ein Fufsboden notwendigerweise einigermafsen eben sein mufs, damit man sich mit Sicherheit auf demselben bewegen kann, wird eine derartige Dekoration vielmehr unangenehm als ansprechend sein. Aus demselben Grunde sind St\u00fchle mit wirklichem Relief auf den Sitzen ein Unding. Schon der blofse Anblick derselben wird einem die Empfindung von der nicht eben wohlthuenden Einwirkung des Sitzes auf denjenigen K\u00f6rperteil geben, der ihn ber\u00fchren soll, und es wird deshalb eine Unlust erregt, die wohl kaum bes\u00e4nftigt wird, weil die Dekoration ein vollendetes Kunstwerk ist.\n313. Es liefsen sich noch mehr der m\u00f6glichen Nicht\u00fcbereinstimmungen zwischen den verschiedenen Faktoren eines technischen Kunstwerkes anf\u00fchren; wir wollen uns aber nicht zu tief auf diese einlassen, da dieses ganze Thema eigentlich der \u00c4sthetik angeh\u00f6rt, in welcher es seine ersch\u00f6pfende Behandlung\nfinden sollte, w\u00e4hrend wir alle diese Erscheinungen hier nur als _ _ \u2022 \u2022\nBeispiele von der Bedeutung der \u00dcbereinstimmung benutzen. Und es m\u00f6chte nun deutlich genug nachgewiesen sein, dafs Einklang oder Streit zwischen verschiedenen Vorstellungen in betreff desselben Objekts Gef\u00fchle von oft grofser St\u00e4rke und","page":237},{"file":"p0238.txt","language":"de","ocr_de":"238\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nnicht geringer Bedeutung verursachen kann. Wir k\u00f6nnen deshalb das Resultat der voranstehenden Betrachtungen ganz kurz\nfassen in folgendem Satze, dem :\n\u2022 \u2022\n314.\t\u201eGesetz der \u00dcbereinstimmung\u201c :\n\u2022 \u2022\nAlle \u00dcbereinstimmung, Identit\u00e4t, zwischen Vorstellungen oder\nGedanken, die dasselbe Objekt betreffen, erzeugt Lust, alle Nicht-\u2022 \u2022\n\u00dcbereinstimmung, aller Mangel an Identit\u00e4t ist mit Unlust verbunden.\nVerschmelzung gleichzeitiger Gef\u00fchlst\u00f6ne.\n315.\tIm Vorhergehenden suchten wir nachzuweisen, dafs schon allein durch das gegenseitige Verh\u00e4ltnis zwischen Vorstellungen, die dasselbe Objekt betreffen, Gef\u00fchlst\u00f6ne entstehen werden. Unsere Aufgabe sollte nun die sein, z\u00fc untersuchen, wie die emotionellen Elemente, die mit den verschiedenen zusammenwirkenden Vorstellungen verbunden sein k\u00f6nnen, sich verhalten werden, teils gegenseitig zu einander, teils zu den neuen, durch die \u00dcbereinstimmung oder den Streit der Vorstellungen erweckten Gef\u00fchlst\u00f6nen. Dafs eine ersch\u00f6pfende Beantwortung dieser Frage mit grofsen Schwierigkeiten verbunden sein mufs, k\u00f6nnen wir vonvornherein daraus ersehen, dafs die zus\u00e4mmenwirkenden Vorstellungen, welche alle dasselbe Objekt betreffen, in sehr verschiedener, n\u00e4herer oder fernerer Beziehung zu einander stehen k\u00f6nnen, und dies mufs dann wieder auf die gegenseitigen Verbindungen der Gef\u00fchlst\u00f6ne einwirken zufolge des \u00fcberall durch unsere Untersuchungen best\u00e4tigten Gesetzes, dafs das Verh\u00e4ltnis der Vorstellungen entscheidenden Einflufs auf das Verh\u00e4ltnis zwischen den mit denselben verbundenen emotionellen Elementen besitzt. Es steht also zu erwarten, dafs die Verbindung zwischen den Gef\u00fchlst\u00f6nen im hier vorliegenden Falle \u00e4ufserst variabel sein wird. Und da eine Darstellung der unendlich vielen m\u00f6glichen Verh\u00e4ltnisse, die Vorkommen k\u00f6nnen, nicht zu bew\u00e4ltigen sein wird, werden wir ganz nat\u00fcrlich bewogen, unsere Aufgabe so zu begrenzen, dafs wir nachweisen, wie die \"V erbindung der Gef\u00fchlst\u00f6ne mit dem Verh\u00e4ltnis zwischen den Vorstellungen variiert. Eine Reihe von Beispielen wird dies klar machen.\n316.\tBetrachten wir ein polychromes Ornament, z. B. die auf Tafel VI wiedergegebene Guilloche aus Theben, so wird der","page":238},{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"Verbindungen niedrigsten Grades.\n239\ngesamte hierdurch hervorgerufene Gef\u00fchlszustand von den beiden Faktoren, der Form (dem Muster, dem Raumbild) und der Farbe abh\u00e4ngig sein. Diese beiden Gr\u00f6fsen stehen indes in sehr loser Beziehung zu einander. Nachdem wir die Guilloche eine Zeitlang betrachtet haben, k\u00f6nnen wir das Muster leicht bei geschlossenen Augen reproduzieren, so dafs die Farbe keine wesentliche Bedeutung erh\u00e4lt, und anderseits k\u00f6nnen wir uns leicht dieselben Farben auf ungef\u00e4hr dieselbe Weise verteilt vorstellen, aber in einem ganz anderen Muster. Form und Farbe stehen also in keiner notwendigen, unaufl\u00f6slichen Beziehung zu einander. Dies bringt nun eine entsprechend lose Verbindung der Gef\u00fchlst\u00f6ne der bez\u00fcglichen Vorstellungen mit sich; indem man n\u00e4mlich durch willk\u00fcrliche Hinrichtung der Aufmerksamkeit auf die einzelnen Vorstellungen dieselben zu isolieren vermag, sondert man ja auch die Betonung d\u00e9r Vorstellungen auseinander. Man kann das Muster h\u00fcbsch, aber die Zusammenstellung der Farben unangenehm finden, und umgekehrt, und dies zeigt uns, dafs die einzelnen Gef\u00fchlst\u00f6ne nicht v\u00f6llig miteinander verschmelzen, sondern voneinander relativ unabh\u00e4ngig bestehen. Das Verh\u00e4ltnis zwischen den Gef\u00fchlst\u00f6nen wird also sehr ann\u00e4hernd, was wir oben eine Gef\u00fchlsmischung nannten [289]. Eine solche entsteht, wie wir sahen, wenn mehrere entweder lust- oder unlustbetonte, verschiedene Objekte betreffende Vorstellungen gleichzeitig im Bewufstsein vorhanden sind, und sie ist dadurch charakterisiert, dafs die einzelnen Gef\u00fchle sich durch willk\u00fcrliche Hinrichtung der Aufmerksamkeit auf die bez\u00fcglichen Vorstellungen vollst\u00e4ndig sondern lassen. Wir sehen nun, dafs ein nahe verwandtes Verh\u00e4ltnis durch Zusammenwirken von dasselbe Objekt betreffenden Vorstellungen entsteht. Die Verh\u00e4ltnisse sind in der That aber nur nahe verwandt, sie sind nicht genau dieselben. Der Umstand, dafs die Vorstellungen in dem einen Falle eigentlich gar nichts miteinander zu thun haben, w\u00e4hrend sie in dem andern durch denselben \u00e4ufseren Beiz entstehen, bringt es ganz nat\u00fcrlich mit sich, dafs die Verbindung der Gef\u00fchlst\u00f6ne im letzteren Falle eine verh\u00e4ltnism\u00e4lsig festere wird als im ersteren. Vertieft man sich an einem wohlbesetzten Mittagstische in ein interessantes Gespr\u00e4ch mit dem Nachbar, so kann man alles andere vollst\u00e4ndig vergessen; man ifst ganz mechanisch und h\u00f6rt und sieht nur wenig von den Umgebungen. Das Gespr\u00e4ch und die durch dasselbe erregten Gef\u00fchle fesseln die ganze Aufmerksamkeit.","page":239},{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240\nDie speziellen Gesetze cler Gef\u00fchle.\nBei der Betrachtung eines polychromen Ornaments stellt sich die Sache wahrscheinlich ein wenig anders. Es ist uns nicht m\u00f6glich, wenn wir einmal das Ornament betrachtet haben, so vollst\u00e4ndig von den Farben zu abstrahieren, dafs deren Gef\u00fchls-t\u00f6ne sich nicht einschleichen und, wie wenig es auch sei, die mit dem Raumbild verbundene Lust oder Unlust beeinflussen w\u00fcrden. Hierzu kommt dann noch der durch die Beziehung der Vorstellungen erregte Gef\u00fchlston [307], der mit irgend einem der \u00fcbrigen Gef\u00fchlst\u00f6ne so v\u00f6llig zu verschmelzen scheint, dafs seine Existenz uns \u00fcberhaupt erst dann klar wird, wenn er als besonders starke Unlust einen Gegensatz der anderen emotionellen Elemente bildet. \u2014 Es scheint also keinem Zweifel unterworfen zu sein, dafs eine verh\u00e4ltnism\u00e4fsig lose Verbindung der einzelnen ein gegebenes Objekt betreffenden Vorstellungen eine entsprechende Lockerheit der Verbindung der Gef\u00fchlst\u00f6ne, allenfalls der an die einzelnen Vorstellungen gebundenen, herbeif\u00fchrt. Diese Gef\u00fchlst\u00f6ne bilden zun\u00e4chst eine Gef\u00fchlsmischung, eine kompakte Masse, solange die Aufmerksamkeit nicht auf ein einzelnes der zusammen wirkend en Momente g\u00e9richtet wird, lassen sich aber doch bis zu einem gewissen Grade aussondern, wenn auch nicht so vollst\u00e4ndig, wie bei den eigentlichen Gef\u00fchlsmischungen.\n317. Ein ganz analoges Verh\u00e4ltnis finden wir zwischen der Form und der Dekoration eines Gegenstandes. Mit einem Blick k\u00f6nnen wir die Form \u00fcberschauen und von der Dekoration ab-sehen, und wir k\u00f6nnen uns in die Betrachtung der Dekoration vertiefen und die Form des dekorierten Objekts zu bemerken unterlassen. Diese Vorstellungen stehen also in ziemlich loser Beziehung zu einander, und hiermit \u00fcbereinstimmend lassen auch die mit denselben verbundenen Gef\u00fchlst\u00f6ne sich auseinander halten. Wir k\u00f6nnen die Form sch\u00f6n, aber die Dekoration geschmacklos finden, und umgekehrt; jedes der emotionellen Elemente f\u00fcr sich l\u00e4fst sich also zum Teil festhalten. Ganz dasselbe, das wir oben von dem polychromen Ornament nachwiesen, gilt offenbar aber auch hier. Haben wir erst einmal den Gegenstand und dessen Dekoration zusammen betrachtet, so lassen sich die einzelnen Gef\u00fchlst\u00f6ne wohl kaum so vollst\u00e4ndig aussondern, dafs der eine nicht ein wenig in den andern hin\u00fcberspielte und diesem ein Plus oder Minus hinzuf\u00fcgte, so dafs auch hier von einer blofsen Gef\u00fchlsmischung nicht die Rede werden","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"Verbindungen niedrigsten Grades.\n241\nkann. Es liefsen sich wahrscheinlich verschiedene Beispiele in derselben Richtung finden , wir wollen uns aber nicht ferner hierbei auf halten. Denn eben die Thatsache, dafs es Gef\u00fchlszust\u00e4nde gibt, die fast Gef\u00fchlsmischungen sind, aber dennoch, wenn man so sagen darf, ein Differential der Festigkeit in der Verbindung zwischen den einzelnen Elementen besitzen,\n\u00e8\nmacht es sehr mifslich, eine Reihe durchaus analoger F\u00e4lle aufzusuchen. Die Psychologen haben bisher scharf gesondert zwischen \u201eGef\u00fchlsmischungen\u201c und \u201egemischten Gef\u00fchlen\u201c, welche letzteren dadurch charakterisiert sein sollten, dafs die einzelnen emotionellen Elemente so verschmolzen w\u00e4ren, dafs diese sich nicht aussondern liefsen, sondern ein einziges Gef\u00fchl bildeten. Das Verh\u00e4ltnis zwischen diesen beiden Zust\u00e4nden, der Gef\u00fchlsmischung und dem gemischten Gef\u00fchl, sollte also den Gegens\u00e4tzen v\u00f6llig analog sein, die wir aus dem rein physischen Gebiete kennen, den mechanischen Mischungen und chemischen Verbindungen. Nun m\u00f6chte man wohl a priori berechtigt sein, zu bezweifeln, dafs eine solche Analogie zwischen physischen und psychischen Verh\u00e4ltnissen sich streng durchf\u00fchren liefse, und die Erfahrung scheint die Berechtigung des Zweifels zu best\u00e4tigen. Denn an den beiden genannten Beispielen fanden wir ja eine \u00dcbergangsform, die der Gef\u00fchlsmischung zwar nahe steht, die sich indes einem gemischten Gef\u00fchl, in welchem eine vollst\u00e4ndige Verschmelzung der emotionellen Elemente stattgefunden hat, zu n\u00e4hern anf\u00e4ngt. Und ist erst eine solche \u00dcbergangsform nachgewiesen, so wird die Wahrscheinlichkeit einer ganzen Reihe von sanften \u00dcberg\u00e4ngen zwischen den beiden \u00e4ufsersten Gliedern aufserordentlich grofs. Es wird mit anderen Worten fast zweifelhaft, ob \u00fcberhaupt zwei F\u00e4lle existieren, in welchen das Verh\u00e4ltnis zwischen den Vorstellungen oder den Gef\u00fchlst\u00f6nen v\u00f6llig dasselbe ist, und es hat daher kein grofses Interesse, noch mehr Beispiele aufzusuchen, die den genannten ganz nebengeordnet w\u00e4ren. Von weit gr\u00f6fserer Bedeutung w\u00fcrde offenbar die Untersuchung sein, ob es wirklich eine derartige Reihe \u00dcberg\u00e4nge mit immer zunehmender St\u00e4rke gibt, von der zuf\u00e4lligen losen Mischung von Gef\u00fchlen an bis zu dem gemischten Gef\u00fchl, in welchem die einzelnen Elemente eine Art chemischer Verbindung geschlossen haben. Im Folgenden werden wir nun sehen, dafs diese \u00dcbergangsformen mit einer wahrscheinlich unendlichen Reihe von Gliedern wirklich Vorkommen.\nLehmann, Die Gef\u00fchle.\n16","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\n318. Nehmen wir ein St\u00fcck Natur, z. B. eine Landschaft. Ebenso wie beim Ornamente sind Form und Farbe auch hier von wesentlicher Bedeutung, sie stehen in diesem Falle aber in weit innigerer Beziehung zu einander. In einer flachen und fruchtbaren Gregend, in welcher wogende Gefilde, glitzernde Seen und ausgedehnte W\u00e4lder abwechseln, tragen die gelben, blauen und gr\u00fcnen Farbent\u00f6ne mit ihren zahlreichen Schattierungen dazu bei, der Landschaft ihr ruhiges und freundliches Gepr\u00e4ge zu verleihen ; in einer wilden und \u00f6den Gegend des Hochgebirges werden die starken Kontraste zwischen der schwarzen Farbe! der Felsen und der gl\u00e4nzend weifsen des Schnees ebensosehr wie die scharfen, zackigen Konturen die Empfindung der Unruhe und Unheimlichkeit hervorrufen, von welcher man sich in den h\u00f6chsten Legionen nur schwer befreit. Und da Form und Farbe in der Natur so eng miteinander verbunden sind, werden ihre Gef\u00fchlswirkungen sich auch wohl kaum aussondern lassen; wir k\u00f6nnen uns nicht leicht eine Landschaft irgend welcher Art vorstellen, ohne dafs die Farben hinzutreten und auf den gesamten Gef\u00fchlszustand Einflufs erhalten. Hier ist also eine verh\u00e4ltnism\u00e4fsig bedeutende Festigkeit der Verbindung zwischen den einzelnen emotionellen Elementen, diese sind aber doch nicht ganz verschmolzen. Denn jede Landschaft wird ja wesentlich dieselben Formen, aber zu verschiedenen Jahreszeiten ganz verschiedene Farben darbieten; Form und Farbe sind also nicht unaufl\u00f6slich miteinander verbunden, und wir m\u00fcssen erwarten, dafs ihre Gef\u00fchlst\u00f6ne dies ebensowenig sind. Die Erfahrung\nbest\u00e4tigt dies; betrachtet man eines Sommertages eine sch\u00f6ne\n* \u2022\nAussicht, kann man sehr wohl die Aufserung h\u00f6ren : wie es des Winters hier h\u00fcbsch sein mufs. Dies zeigt aber ja eben, dafs wir im st\u00e4nde sind, in der Phantasie die Form bis zu einem gewissen Grade von den gegebenen Farben zu isolieren, andere Farben hineinzulegen, und den solchergestalt hervorgebrachten Gef\u00fchlszustand mit demjenigen zu vergleichen, welchen das Wahrgenommene selbst erzeugt hat. \u2014 Als Beispiel einer vielleicht noch gr\u00f6fseren Festigkeit der Verbindung zwischen Form und Farbe k\u00f6nnen wir die menschliche Sch\u00f6nheit nennen. Sch\u00f6ne Formen sind hier kaum anders denkbar als in Verbindung mit einer gesunden und frischen Hautfarbe, strahlenden Augen u. s. w., und der \u00e4sthetische Eindruck, den eine Person auf uns macht wird daher durch diese beiden Faktoren bestimmt","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"Innigere Verschmelzung.\n243\nsein, nat\u00fcrlich in Verbindung mit vielen anderen, von welchen wir hier abstrahieren. Vollst\u00e4ndig verschmolzen sind die Gef\u00fchlst\u00f6ne indes auch hier nicht, denn ein vor Kummer und Krankheit abgezehrtes Antlitz kann noch sch\u00f6n sein, wenn die Haut auch \u25a0etwas runzelig und die Farbe blafs ist; wir verm\u00f6gen hier also noch die durch die Form erregte Lust von der Unlust zu sondern, wreiche die Farbe notwendigerweise hervorrufen wird.\n319. W as hier mit Bezug auf die Natursch\u00f6nheit nachgewiesen wurde, gilt, wie man leicht sieht, ganz w\u00f6rtlich von Reproduktionen der Natur durch die Malerei, nur werden die Verh\u00e4ltnisse in diesem Falle ein wenig komplizierter. Denn bei jeder solchen Wiedergabe treten aufser den mit den einzelnen Vorstellungen verbundenen Gef\u00fchlst\u00f6nen noch einige formelle Gef\u00fchle hinzu, diejenigen n\u00e4mlich, welche durch \u00dcbereinstimmung oder Streit der Vorstellungen mit der Wirklichkeit entstehen. Ein Gem\u00e4lde kann meisterlich ausgef\u00fchrt sein und uns in seiner Totalit\u00e4t h\u00f6chst ansprechend Vorkommen; erwacht in uns aber eine \u2014 wenn auch noch so unbegr\u00fcndete \u2014 Vermutung, dafs etwas im Bilde nicht wahr ist, nicht mit der Wirklichkeit \u00fcbereinstimmt, so wrird dieses Verh\u00e4ltnis eine Unlust erregen, die den \u00e4sthetischen Genufs verringert. Und mit diesen formellen Gef\u00fchlen scheint es sich auf eigene Weise zu verhalten. Stellen wir uns irgend ein vorz\u00fcgliches Werk eines alten Meisters vor, an welchem selbst die sch\u00e4rfste Kritik nichts auszusetzen h\u00e4tte. Hier k\u00f6nnen wir nun, wie erw\u00e4hnt, die emotionellen Elemente, die der Form und der Farbe zu verdanken sind, bis zu einem gewissen Grade aussondern (von den Gef\u00fchlst\u00f6nen des Inhalts sehen wir vorl\u00e4ufig ab); das formelle Gef\u00fchl, die durch die \u00dcbereinstimmung mit der Wirklichkeit erregte Lust, k\u00f6nnen wrir aber gar nicht erfassen ; dieses scheint mit den anderen Lustgef\u00fchlen unmittelbar zu verschmelzen. Und doch ist ein solches zweifelsohne vorhanden, denn sobald wir etwas Unwahres oder Unnat\u00fcrliches zu erblicken glauben, einen falschen Schatten oder eine verkehrte Lichtwirkung, ein perspektivisches Versehen oder dergleichen, mischt sich ein Moment der Unlust dem Gen\u00fcsse bei, und man mufs mit einer gewissen Anstrengung die Aufmerksamkeit von diesem Verh\u00e4ltnis fernhalten, um noch geniefsen zu k\u00f6nnen. Was die formellen Gef\u00fchle betrifft, findet sich also fast vollst\u00e4ndige Analogie mit den eigentlichen Gef\u00fchlsmischungen.\nDiese k\u00f6nnen nur entweder aus Lust- oder aus Unlustgef\u00fchlen\n16*","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\ngebildet werden; sind beide Gattungen von Elementen vorhanden, so entsteht ein Umtausch oder Wechsel der Gef\u00fchle [291].\n320. Wenn wir uns bisher ausschliefslich an die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle hielten, so ist dies darin begr\u00fcndet, dafs dieselben sich weit leichter analysieren lassen als andere, weil sie an bestimmte \u00e4ufsere Verh\u00e4ltnisse gebunden sind; nichts verhindert uns aber, aus anderen Gef\u00fchlsgebieten analoge F\u00e4lle nachzuweisen. Ein Beispiel von einem zusammengesetzten Gef\u00fchl, in welchem die einzelnen emotionellen Elemente bedeutende Festigkeit der Verbindung besitzen, indes noch nicht durchaus untrennbar sind, haben wir an den Gef\u00fchlen, die man in der t\u00e4glichen Rede Sympathie f\u00fcr oder Antipathie gegen eine einzelne Person nennt. Diese Gef\u00fchle sind augenscheinlich sehr zusammengesetzte Zust\u00e4nde, indem es von einer ganzen Reihe von Eindr\u00fccken abh\u00e4ngt, ob jemand uns \u201egef\u00e4llt\u201c oder \u201enicht gef\u00e4llt\u201c. Das Aussehen des Betreffenden, sein Auftreten und Betragen, einzelne seiner Handlungen, deren Augen- oder Ohrenzeugen wir gewesen sind, seine Ansichten in verschiedenen Richtungen und vielleicht noch viele andere Faktoren haben auf unsere Auffassung Einfiufs, indem diese verschiedenen Momente \u00e4sthetische und moralische Gef\u00fchle in uns erregen, die mehr oder weniger zu einer Grundstimmung verschmelzen, welche, je nachdem sie vorwiegend den Charakter der Lust oder den der Unlust tr\u00e4gt, Sympathie oder Antipathie heifst. Aus dieser gesamten Gef\u00fchlsmasse verm\u00f6gen wir zum Teil die an die einzelnen zusammenwirkenden Momente gebundenen Gef\u00fchle auszuscheiden, aber auch nur zum Teil; wie uns die Erfahrung lehrt, wird unsere gesamte Grundstimmung, die Sympathie f\u00fcr oder die Antipathie gegen die bestimmte Person, stets auf unser Gef\u00fchl f\u00fcr seine einzelnen Handlungen urJ das hierauf begr\u00fcndete Urteil \u00fcber dieselben influieren. Das unschickliche Betragen einer Person, die wir sonst leiden m\u00f6gen, wird uns stets in milderem Lichte, mehr zu entschuldigen erscheinen, als w\u00e4re es von jemand erwiesen, gegen den wir Antipathie hegen.\nEs ist \u00fcbrigens nicht durchaus notwendig, eine Person wirklich zu kennen, damit ausgepr\u00e4gte Sympathie oder Antipathie r\u00fccksichtlich derselben entstehe. Viele Menschen k\u00f6nnen gleich beim ersten Zusammentreffen mit einer sonst ganz unbekannten Person sich von dieser bestimmt angezogen oder abgestofsen f\u00fchlen. In diesem Falle sind es unzweifelhaft Gef\u00fchle f\u00fcr fr\u00fcher","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"Ann\u00e4herung an gemischte Gef\u00fchle.\n245\ngekannte Personen, die mittels Association \u00fcbertragen werden [356], indem ein einzelner Gesichtszug, eine bestimmte Bewegung oder dergleichen die Erinnerung an eine andere Person gewissen Charakters erweckt, von welcher man sich angezogen oder ab-gestofsen f\u00fchlte, und ohne dafs das Individuum sich der Ursache klar bewufst w\u00fcrde, macht dieses Gef\u00fchl sich nun auch bei der neuen Bekanntschaft geltend. Ein gutes Beispiel zur Erhellung dieser Verh\u00e4ltnisse gibt Mark Twain in seiner interessanten Erz\u00e4hlung \u201eRoughing it\u201c, in welcher er von dem bekannten amerikanischen Banditen Slade sagt : \u201eNoch heute kann ich mich nichts besonders Merkw\u00fcrdigen an Slade entsinnen, ausgenommen dafs sein Gesicht \u00fcber die Backenknochen ziemlich breit war, und dafs diese K\u00fcioclien ziemlich weit nach unten safsen, sowie auch, dafs seine Lippen merkw\u00fcrdig d\u00fcnn und gerade waren.\nEindruck in mir hinterlassen haben, denn sp\u00e4ter habe ich selten ein etwas \u00e4hnliches Gesicht erblicken k\u00f6nnen, ohne mir einzubilden, der Betreffende m\u00fcsse ein gef\u00e4hrlicher Mann sein.\u201c Es kann kaum Zweifel unterworfen sein, dafs dieses Beispiel die Erkl\u00e4rung vieler r\u00e4tselhaften Sympathien und Antipathien gibt, die man im t\u00e4glichen Leben antreffen kann.\n321. Wir k\u00f6nnen den gemischten Gef\u00fchlen noch einen Schritt n\u00e4her gehen. Im Vorhergehenden sahen wir, dafs je innigere Verbindung, je festere Association bestimmte Vorstellungen miteinander schliefsen k\u00f6nnen, um so mehr werden auch ihre Gef\u00fchlst\u00f6ne verschmelzen und sich von einer blofsen Gef\u00fchlsmischung unterscheiden. Liefsen sich also Vorstellungsverbindungen von solcher Festigkeit nach weisen, dafs die eine Vorstellung unvermeidlich die andere herbeif\u00fchrte, so w\u00e4re auch anzunehmen , die an dieselben gebundenen Gef\u00fchlst\u00f6ne seien so fest verbunden, dafs sie ganz nahe daran w\u00e4ren, ein gemischtes Gef\u00fchl zu bilden. Dafs es solche Associationen gibt, d\u00fcrfte unzweifelhaft sein, und in einem folgenden Abschnitt, der die Bedeutung der Associationen f\u00fcr die Gef\u00fchle n\u00e4her behandelt, werden wir verschiedene Beispiele in dieser Richtung sehen; hier wollen wir, um das fehlende Glied der Reihe auszuf\u00fcllen, nur ein einzelnes Beispiel nehmen. Betrachten wir ein allgemein bekanntes Hausger\u00e4t, so wird sogleich die Vorstellung von dessen Nutzen oder Bestimmung im Bewufstsein entstehen, und der Gef\u00fchlston, der durch Einklang oder Streit zwischen der Form","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"246\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nund der Bestimmung des Gegenstandes erweckt wird, verschmilzt so vollst\u00e4ndig mit den anderen emotionellen Elementen, dafs wohl in keinem Falle eine Trennung m\u00f6glich ist. An einem einzelnen konkreten Beispiel ist dies am leichtesten zu ersehen. Das Objekt sei ein Stuhl, ein wahres Prachtwerk der Kunsttischlerei. Jeden einzelnen Teil, die Beine, den Sitz und die Lehne k\u00f6nnen wir uns m\u00f6glichst geschmackvoll und elegant verarbeitet denken, das hilft alles nichts; ist der Sitz grofs und massiv, Beine und Lehne aber so d\u00fcnn, dafs man augenblicklich die Empfindung erh\u00e4lt, der Stuhl werde keinen gew\u00f6hnlichen Menschen tragen k\u00f6nnen, so wird niemand diesen Stuhl sch\u00f6n nennen. Man kann zugeben, dafs die einzelnen Teile, jeder f\u00fcr sich betrachtet, eine sch\u00f6ne Form haben, von dem Ganzen wird man dies aber nie sagen, weil das Mifsverh\u00e4ltnis zwischen Form und Bestimmung ein gar zu schreiendes ist. Auch wenn die Linien des Gegenstandes, als geometrische Figuren betrachtet, vollkommen sch\u00f6n sind, geht diese Sch\u00f6nheit durchaus zu Grunde, sobald das Objekt als Nutzgegenstand aufgefafst wird. Wir k\u00f6nnen mit anderen Worten die Formsch\u00f6nheit gar nicht aus der durch das Mifsverh\u00e4ltnis erregten Unlust aussondern : die Gef\u00fchlst\u00f6ne verschmelzen hier vollst\u00e4ndig.\n322. Es liegt in der Natur der Sache selbst, dafs wirkliche Kenntnis der praktischen Anwendung eines Gegenstandes erforderlich ist, damit die R\u00fccksicht auf den Nutzen auf die erw\u00e4hnte Weise f\u00fcr das \u00e4sthetische Urteil entscheidend werde. Bei allen solchen Ger\u00e4ten, die nicht im t\u00e4glichen Leben gebraucht werden, Instrumenten, Maschinen u. s. w., wird die R\u00fccksicht auf den Nutzen deshalb f\u00fcr den unkundigen Beobachter ganz, unwesentlich. F\u00fcr den ge\u00fcbten Konstrukteur und kundigen Mechaniker hat dieselbe aber sehr grofse Bedeutung, denn bei ihnen beruht die Sch\u00f6nheit eines solchen Gegenstandes fast aus-schliefslich auf dessen \u00dcbereinstimmung mit dem Zweck ; ihnen wird der Gegenstand nur dann sch\u00f6n sein, wenn jeder einzelne Teil eben die Gr\u00f6fse und die Dicke des Gutes hat, die er haben mufs, um die Krafteinwirkung ertragen zu k\u00f6nnen, der er unterworfen werden wird. Und dafs Konstrukteur und Mechaniker durch langj\u00e4hrige \u00dcbung im st\u00e4nde sind, diese Verh\u00e4ltnisse mit einem einzigen Blick ebenso sicher zu beurteilen, wie jeder zivilisierte Mensch die Tragkraft eines Stuhles beurteilen kann, geht aus der bekannten Thatsache hervor, dafs","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"Gemischte Gef\u00fchle.\n247\nuntergeordnete Maschinenteile in vielen F\u00e4llen nach Augenmafs konstruiert werden. Sind die Hauptteile berechnet, so k\u00f6nnen die minder wesentlichen Glieder so hineingezeichnet werden, dafs \u201esie sich gut ausnehmen\u201c, und ist es nun ein kundiger Mann, der dies thut, so kann man sicher sein, dafs sie ihrem Zweck entsprechen werden. Hier l\u00e4fst sich also mit Recht sagen, man habe es am Gef\u00fchl, wie das Ding zu machen sei.\n323. Als die letzte Stufe der Reihe kommen nun die \u201egemischten\u201c Gef\u00fchle. Sibbern, welcher der erste und zugleich der einzige Forscher zu sein scheint, der diesen Zust\u00e4nden n\u00e4here Erw\u00e4hnung zu teil werden l\u00e4fst, stellt folgende Definition auf: \u201eEin gemischtes Gef\u00fchl ist ein solches, in welchem sich etwas Unangenehmes, Unbefriedigendes, Hemmendes oder Niederschlagendes findet, aber so, dafs gerade hierdurch etwas Belebendes, F\u00f6rderndes, Befriedigendes hervorgerufen wird \u2014 oder auch umgekehrt, und zwar so, dafs das eine nicht nur die vorausgehende Bedingung des anderen ist, sondern zugleich fortw\u00e4hrend mitwirkt, indem es dem anderen zu fortw\u00e4hrender Erhaltung und Nahrung dient, so dafs es, auch^ wenn es sich g\u00e4nzlich in demselben verliert, dennoch dergestalt darin enthalten ist, dafs mit dem Aufh\u00f6ren des einen auch das andere aufh\u00f6ren w\u00fcrde.\u201c1) In dieser Bestimmung hat Sibbern, wenn auch ziemlich schwerf\u00e4llig, gerade das hervorgehoben, worauf es ankommt. Da jede, sogar die festeste und innigste Association zwischen Vorstellungen sich dennoch stets bis zu einem gewissen Grade aufl\u00f6sen l\u00e4fst, werden auch die an nur associativ verbundene Vorstellungen gekn\u00fcpften Gef\u00fchlst\u00f6ne nicht vollst\u00e4ndig verschmelzen k\u00f6nnen. Damit dies geschehe, damit ein wirklich gemischtes Gef\u00fchl entstehe, mufs das Verh\u00e4ltnis der Vorstellungen so sein, dafs das fortw\u00e4hrende Vorhandensein der einen die notwendige Bedingung ist, um \u00fcberhaupt einen Gef\u00fchlston mit der anderen verbunden zu erhalten. Eben dies m\u00f6chte aber wohl die Pointe in Sibberns Definition sein. \u00dcbrigens teilt er die gemischten Gef\u00fchle in zwei Hauptgruppen ein : I. die Gef\u00fchle der subjektiven Befriedigung und II. die Gef\u00fchle, die durch das R\u00fchrende hervorgerufen werden und darin bestehen, dafs wir uns ger\u00fchrt f\u00fchlen. In diesen beiden Gruppen bringt er verschiedene F\u00e4lle an, und zur n\u00e4heren Erhellung des\n1) Sibbern: Psychologie. 3. Aufl. Kj\u00f6benhavn, 1856. S. 380.","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"248\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nCharakteristischen dieser Gef\u00fchle werden wir nun Sibberns Darstellung kritisch durchgehen.\n324. Zu den Gef\u00fchlen der subjektiven Befriedigung werden die Gef\u00fchle gerechnet, die durch die Befriedigung eines Triebes oder Bed\u00fcrfnisses entstehen, ferner das Gef\u00fchl f\u00fcr das Anreizende, Spannende und Romantische, und endlich das Gef\u00fchl f\u00fcr das Komische. \u2014 Was die erste dieser Gruppen betrifft, scheint der sonst so scharfsinnige Psycholog die Verh\u00e4ltnisse hier verkehrt betrachtet zu haben. Denn damit ein Gef\u00fchl gemischt sei, fordert er, dafs der eine der mitbeth\u00e4tigten Gef\u00fchlst\u00f6ne nicht nur die vorausgehende Bedingung des anderen sei, sondern auch, dafs er stets auf die Weise vorhanden sei, dafs der letztere auf h\u00f6rt, wenn ersterer verschwindet. Zwischen der in jedem Bed\u00fcrfnisse vorhandenen Unlust und der durch Befriedigung des Bed\u00fcrfnisses erzeugten Lust m\u00f6chte das Verh\u00e4ltnis wohl zun\u00e4chst so sein, dafs die eine verschwindet, wenn die andere entsteht. Solange das Bed\u00fcrfnis vorhanden ist, gibt es Unlust, nach dessen Befriedigung f\u00fchlen wir Lust, und von einer Verschmelzung dieser emotionellen Elemente scheint nur in solchen F\u00e4llen die Rede sein zu k\u00f6nnen, in welchen die Befriedigung des Bed\u00fcrfnisses eine gewisse Zeit erfordert, z. B. beim Stillen des Hungers oder Durstes. Aber auch in diesen g\u00fcnstigsten F\u00e4llen scheint kein gemischtes Gef\u00fchl zu entstehen, denn w\u00e4hrend wir essen, haben wir eine best\u00e4ndig abnehmende, von Unlust begleitete Empfindung des Hungers; an einem gewissen Punkte weicht diese einer stets zunehmenden angenehmen Empfindung der S\u00e4ttigung. Ich sehe deshalb nicht anders, als dafs Sibbern sich irrte, wenn er die Lust bei Befriedigung eines Bed\u00fcrfnisses unter die gemischten Gef\u00fchle rechnete; das Bed\u00fcrfnis ist eine vorausgehende, aber nicht eine fortw\u00e4hrend mitbeth\u00e4tigte Bedingung f\u00fcr das Entstehen der Lust ; \u00fcbrigens mufs zugegeben werden, dafs sich mehreres sowohl f\u00fcr als wider die Sache sagen l\u00e4fst. Entschieden unrichtig ist es dagegen, das Gef\u00fchl f\u00fcr das Komische unter die gemischten Gef\u00fchle zu z\u00e4hlen. Damit etwas uns komisch Vorkommen soll, mufs allerdings sowohl ein Lust- als ein Unlustmoment vorhanden sein, wie aber Kraepelin in seiner meisterhaften Analyse dieser Verh\u00e4ltnisse nachgewiesen hat, ist es so weit davon, dafs die emotionellen Elemente hier verschm\u00f6lzen, dafs sie im Gegenteil \u201eeinander schroff und unvermittelt gegen\u00fcbertreten\u201c.1) Da eine\nx) Wundt: Phil. Studien. Bd. II. S. 329.","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"Gemischte Gef\u00fchle.\n249\nn\u00e4here Begr\u00fcndung dieser Sache uns zu weit f\u00fchren w\u00fcrde, m\u00fcssen wir uns damit begn\u00fcgen, auf die citierte Abhandlung zu verweisen.\n325. Unter den Gef\u00fchlen der subjektiven Befriedigung bleiben also nur die Gef\u00fchle f\u00fcr das Anreizende, Spannende und Romantische zur\u00fcck; von diesen gilt es aber auch in vollem Mafise, dafs sie gemischte Gef\u00fchle sind. Am deutlichsten tritt dies in den Gef\u00fchlen hervor, die durch Aus\u00fcbung irgend \u2022eines mit Gefahr verbundenen Sports entstehen, z. B. die Jagd auf reifsende Tiere, Wasserfahrten unter schwierigen Verh\u00e4ltnissen, Bergbesteigungen u. s. w. In allen diesen Verh\u00e4ltnissen ist es eine notwendige Bedingung f\u00fcr das Entstehen des Lustgef\u00fchls, dafs Schwierigkeiten oder Gefahren zu \u00fcberwinden sind. Der k\u00fchne Bergsteiger verachtet die Gipfel, die nur einen anstrengenden Spaziergang bieten; was er sucht, ist der eigent\u00fcmliche, spannende Genufs, der nur dann entsteht, wenn er bei jedem Schritt nichtvorausgesehene Schwierigkeiten zu bek\u00e4mpfen hat.\nDie Unlust, welche die Gefahren und Schwierigkeiten erregen,\n\u2022 \u2022\nverschmilzt vollst\u00e4ndig mit der Lust an deren \u00dcberwindung, und durch diese Verschmelzung erh\u00e4lt der gesamte Seelenzustand sein eigent\u00fcmliches Gepr\u00e4ge. Dafs wirklich beide Momente vorhanden sind, ist am besten daraus ersichtlich, dafs, wenn die Gefahren und die damit verbundene Unlust nicht w\u00e4ren, auch von keiner Lust an deren \u00dcberwindung die Rede sein k\u00f6nnte ; h\u00f6rt ersteres auf, so f\u00e4llt auch letzteres weg. Es liegt \u00fcbrigens in der Natur der Sache selbst, dafs das resultierende Gef\u00fchl nur, solange die Gefahren sich wirklich \u00fcberwinden lassen, den Charakter der Lust erh\u00e4lt. Wachsen die Gefahren dagegen bis zu solcher H\u00f6he an, dafs die Aussicht eines g\u00fcnstigen Erfolgs gar zu gering wird, so wird auch das Unlustmoment \u00fcberwiegend werden, darum braucht die Lust aber nicht v\u00f6llig aufzuh\u00f6ren. Es entsteht dann dieser charakteristische Zustand, in welchem die Furcht zwar vorherrscht, der Mut aber doch noch nicht verloren ist; es gibt noch eine gewisse Entschlossenheit, den Gefahren entgegenzutreten und sich wom\u00f6glich mit heiler Haut aus der Lage zu retten. \u2014 \u00dcbrigens ist leicht zu sehen, dafs die Verh\u00e4ltnisse ganz die n\u00e4mlichen sein k\u00f6nnen, man m\u00f6ge mit wirklichen oder mit eingebildeten Gefahren zu thun haben, man m\u00f6ge sich mitten in der Aktion befinden oder nur Zuschauer sein. Wer nicht viel darum gibt, pers\u00f6nlich an L\u00f6wenjagden","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\noder an der Besteigung schwindelnder Berggipfel teilzunehmen,, kann mit grofsem Interesse die Beschreibung solcher Wagnisse lesen, indem er in den mehr ged\u00e4mpften Gef\u00fchlen der Phantasiebilder die n\u00e4mliche Spannung erlebt. Wenn die Knaben B\u00e4uber und Soldaten spielen, wenn die Spanier sich an Stierk\u00e4mpfen erfreuen, und wenn das Dienstm\u00e4dchen den Roman aus einem Leihinstitut mit seinem ganzen Lager von Verbrechen und Schrecknissen verschlingt, so ist der Genufs in allen diesen F\u00e4llen ein gemischtes Gef\u00fchl. In allen genannten Beispielen gibt es ein von wirklichen oder eingebildeten Gefahren herr\u00fchrendes Unlustmoment, und die Lust entsteht nun eben durch deren \u00dcberwindung, indem man entweder wie die spielenden Knaben selbst Teilnehmer ist, oder auch als Zuschauer eines Stierkampfes oder als Romanleser sich nur betrachtend verh\u00e4lt.\n326. Unter der zweiten Hauptgruppe Sibberns: den Gef\u00fchlen f\u00fcr das R\u00fchrende, wollen wir, um uns nicht gar zu weit von unserem Ziel zu entfernen, nur ein paar einzelne F\u00e4lle beispielsweise hervorheben. Wir treffen hier Gef\u00fchle wie Wehmut, Ehrfurcht, das Gef\u00fchl Ar das \u00e4sthetisch Erhabene u. dergl. an. Inwiefern alle diese mit Recht Gef\u00fchle f\u00fcr das R\u00fchrende genannt werden k\u00f6nnen, m\u00f6chte zun\u00e4chst Geschmack-sachef< sein ; so viel ist jedenfalls sicher, dafs sie alle gemischte\ni\nGef\u00fchle sind. \u2014 Wir f\u00fchlen Wehmut, wenn die Erinnerung an einen angenehmen Zustand Trauer \u00fcber das Aufh\u00f6ren dieses Zustandes herbeif\u00fchrt, also z. B. wenn wir im Begriffe stehen, einen Ort oder Personen zu verlassen, die wir liebgewonnen haben. Die Lust, welche die Erinnerung an die verflossenen frohen Tage erregt, ist hier eine notwendige Bedingung f\u00fcr das Entstehen der Unlust bei dem Gedanken, dafs sie jetzt vorbei sind, denn k\u00f6nnten wir nicht auf etwas Erfreuliches zur\u00fcckblicken, so w\u00fcrden wir auch nicht das Auf h\u00f6ren des Zustandes betrauern k\u00f6nnen. Das eine Gef\u00fchl ist also wirklich eine fortw\u00e4hrende Bedingung f\u00fcr die Existenz des anderen, und die emotionellen Elemente verschmelzen deshalb zu dem wohlbekannten, aber nicht zu beschreibenden Zustande, der, je nachdem das Lustoder das Unlustmoment die Oberhand hat, zur wehm\u00fctigen Freude oder wehm\u00fctigen Trauer wird. Als Gegenst\u00fcck der Wehmut kann man die Lust aufstellen, die durch die Erinnerung an \u00fcberwundene Gefahren und Beschwerden entsteht. Hier ist die mit Unlust verbundene Erinnerung die Ursache, weshalb","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Resultat.\n251\ndurch die Vorstellung von dem Auf h\u00f6ren des Zustandes ein Lustelement entsteht ; dieses verschmilzt mit der Unlust und erzeugt das gemischte Gef\u00fchl, das unter sp\u00e4teren, gl\u00fccklicheren Verh\u00e4ltnissen stets den Gedanken an die Widerw\u00e4rtigkeiten verflossener Tage begleitet. \u2014 Nahe verwandte Zust\u00e4nde sind die Ehrfurcht und das Gef\u00fchl f\u00fcr das \u00e4sthetisch Erhabene. Erstere entsteht durch die Betrachtung einer aufserordentlichen Gewalt, die auf ethisch verantwortliche Weise benutzt wird. Die Gewalt selbst fl\u00f6fst Furcht, also Unlust ein, diese ist aber eben die Bedingung f\u00fcr das Entstehen der Lust durch die Vorstellung von dem rechten Gebrauch der Gewalt, also der Achtung vor dem Gewaltbesitzer; denn bes\u00e4fse er nicht die Gewalt, w\u00fcrde ja auch von keinem Gef\u00fchl f\u00fcr deren Anwendungsweise die Rede sein k\u00f6nnen. Auch hier verschmelzen also zwei entgegengesetzte emotionelle Elemente zu einem gemischten Gef\u00fchl. \u2014 In dem zuletzt genannten, dem Gef\u00fchl f\u00fcr das \u00e4sthetisch Erhabene, ist zwar ein Moment eigentlicher Furcht nicht mitbeth\u00e4tigt, wie man bisweilen geglaubt hat*), nichtsdestoweniger ist dennoch ein Unlustelement vorhanden. Erhaben oder imposant ist, was das Normale an Gr\u00f6fse \u00fcberschreitet, wie aufserordentlich grofse Zeit- und Raumgr\u00f6fsen (das mathematisch Erhabene) und jede Kraft, die ungew\u00f6hnliche Wirkungen erzeugt (das dynamisch Erhabene). Wie fr\u00fcher nachgewiesen, wird aber jede Vorstellung, deren St\u00e4rke ein gewisses Maximum \u00fcbersteigt, Unlust herbeif\u00fchren. Diese Unlust mufs als unerl\u00e4fsliches und integrierendes Glied bei jeder Betrachtung des ungew\u00f6hnlich Grofsen vorhanden sein und gibt dem resultierenden Gef\u00fchl einen eigent\u00fcmlichen Charakter, indem sie mit der durch den Vorstellungsinhalt erregten Lust verschmilzt.\nWir sammeln nun die Resultate dieser Untersuchung zu veinem\n327. \u201eGesetz von der partiellen oder vollst\u00e4ndigen Verschmelzung der Gef\u00fchlst\u00f6neu :\nEine je festere Association verschiedene, dasselbe Objekt betreffende Vorstellungen miteinander geschlossen haben, um so inniger werden auch die mit den verschiedenen Vorstellungen verkn\u00fcpften emotionellen Elemente sich miteinander verbinden, und um so\n_ _ _ \u2022 \u2022\n\u25a0) Vgl. Fechners Kritik dieser Auffassung: Vorschule der \u00c4sthetik.\nBd. II. S. 174.","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nschwieriger wird es, dieselben zu trennen, ln dem sogenannten gemischten Gef\u00fchl, ivelches entsteht, wenn das fortw\u00e4hrende Vorhandensein der einen Vorstellung im Bewufstsein eine notwendige Bedingung ist, damit sich ein Gef\u00fchlston \u00fcberhaupt mit der\nanderen verbinde, ist die Verschmelzung eine vollst\u00e4ndige. Es gibt\n__\t\u2022 \u2022\nalso eine Reihe von \u00dcberg\u00e4ngen, von zusammengesetzten Gef\u00fchlen,\nmit stets zunehmender Festigkeit der Verbindung zwischen den\nGef\u00fchlst\u00f6nen, von der Gef\u00fchlsmischung an, in ivelchcr die einzelnen\nGef\u00fchle sich durch willk\u00fcrliche Hinrichtung der Aufmerksamkeit\naussondern lassen, bis zum gemischten Gef\u00fchl, in ivelchem jede\n\u2022 \u2022\t^\nTrennung unm\u00f6glich ist. Diese Uber gangs for men bieten, ivo die Verbindung am losesten ist, am meisten \u00c4hnlichkeit mit der Gef\u00fchlsmischung dar; wo die Verbindung dagegen fester ist, ivird die \u00c4hnlichkeit mit dem gemischten Gef\u00fchl die gr\u00f6fsere. Am deutlichsten tritt dies hervor, ivo Lust und Unlust zugleich vorhanden sind; im erster en Falle (bei der loseren Verbindung) entsteht dann ein Zustand, der zun\u00e4chst ein Umtausch oder Wechsel der Gef\u00fchle ist, im letzteren dagegen k\u00f6nnen s\u00e4mtliche Elemente eine Verbindung miteinander schliefsen.\nDie St\u00e4rke des zusammengesetzten Gef\u00fchls.\n328. Bisher untersuchten wir nur das Verh\u00e4ltnis zwischen den gleichzeitig vorhandenen emotionellen Elementen ohne die St\u00e4rke des durch partielle oder vollst\u00e4ndige Verschmelzung der Elemente entstandenen zusammengesetzten Gef\u00fchls zu ber\u00fccksichtigen. Da aber jedes zusammengesetzte Gef\u00fchl, solange wir dessen Elemente nicht willk\u00fcrlich zu trennen suchen, eine Totalit\u00e4t bilden wird, entsteht die Frage von selbst, wie die St\u00e4rke des zusammengesetzten Gef\u00fchls sich zu derjenigen der einzelnen Elemente verh\u00e4lt. Wir werden nun die L\u00f6sung dieses Problems versuchen, indem wir jedoch, um die Untersuchung zu erleichtern, zwei wesentlich verschiedene F\u00e4lle unterscheiden. Das Gesetz von der partiellen oder vollst\u00e4ndigen Verschmelzung zeigt n\u00e4mlich, dafs in allen F\u00e4llen eine Verbindung der Gef\u00fchlst\u00f6ne stattfindet, obschon mit verschiedener Festigkeit, wenn diese Lust allein oder Unlust allein sind; gibt es dagegen sowohl Lust- als Unlustelemente, so wird sich das Verh\u00e4ltnis den Umst\u00e4nden gem\u00e4fs bald einem Wechsel der verschiedenen Elemente und bald einer wirklichen Verschmelzung n\u00e4hern. Es w\u00e4re daher wohl am geeignetsten, folgende beiden F\u00e4lle zu unterscheiden:","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Summation der Gef\u00fchlst\u00f6ne.\n25a\nI. die zusammen wirkend en Elemente sind alle entweder Lust oder Unlust, und II. die zusammen wirkenden Elemente sind teils Lust, teils Unlust.\n329. Die zusammenwirkenden Elemente sind alle entweder Lust oder Unlust. Jedes, sogar das gehaltvollste Gedicht verliert, wenn es in Prosa umgesetzt wird, vorausgesetzt, dais Versmafs und Reim untadelhaft sind. Dies zeigt, dafs die Lust, welche ein einzelner der zusammenwirkenden Faktoren, der Inhalt, erzeugen kann, geringer ist als diejenige, welche durch Inhalt, Metrum und Reim im Verein erzielt wird. Noch deutlicher tritt dies hervor, wenn man nur das Metrum, nicht aber den Inhalt des Gedichtes angibt. Zwar wird der Rhythmus an sich in diesem Falle wohl auch eine schwache Lust erregen, die aber im Vergleich mit dem Gef\u00fchl, welches das Gedicht als Totalit\u00e4t zu erzeugen vermag, durchaus verschwindend ist. Mit Bezug auf Natursch\u00f6nheiten und Malereien sind dieselben Verh\u00e4ltnisse wahrzunehmen. Die blofse Beschreibung einer h\u00fcbschen Gegend oder eines stimmungsvollen Gem\u00e4ldes ist allerdings nicht ohne emotionelle Wirkung, diese steht jedoch weit hinter der zur\u00fcck, welche die Natur oder das Kunstwerk selbst hervorrufen w\u00fcrde. Gr\u00f6lsere Wirkung ist schon durch die Wiedergabe mittels einer Zeichnung, eines Holzschnittes, Kupferstiches oder dergleichen zu erreichen, aber auch eine solche kann die Wirklichkeit nicht ersetzen. Auch hier sieht man also, dafs durch das Zusammenwirken mehrerer, lustbetonter Vorstellungen gr\u00f6fsere Lust entsteht, als irgend einer der einzelnen Faktoren f\u00fcr sich erzeugen kann. Hiergegen liefse sich nun freilich einwenden, dafs viele Menschen den Malereien Kupferstiche vorziehen, was anzudeuten scheint, dafs die Farben des Gem\u00e4ldes in keinem wesentlichen Mafse die Lust vermehrten. Diese scheinbare Ausnahme l\u00e4fst sich indes ganz nat\u00fcrlich erkl\u00e4ren, denn es m\u00f6chten wohl stets gute Kupferstiche nach ber\u00fchmten Vorbildern sein, die solchen Gem\u00e4lden vorgezogen werden, welche einem Privatmanne im allgemeinen erschwinglich sind. Es werden hier also durchaus ungleichartige Gr\u00f6fsen verglichen : gute Kupferstiche und mittelm\u00e4fsige Gem\u00e4lde, und in diesem Falle geschieht die Wahl ganz nat\u00fcrlich zu gunsten der ersteren. H\u00e4tte man dagegen die Wahl zwischen guten Kupferstichen und ebenso vorz\u00fcglichen Gem\u00e4lden, so w\u00fcrde jedermann gewifs das Farbige dem Farblosen vorziehen, es sei denn, dafs sich andere durchaus","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nnicht hierhergeh\u00f6rende R\u00fccksichten geltend machten. Mit weit gr\u00f6fserem Gewicht w\u00fcrde man anf\u00fchren k\u00f6nnen, dafs farblose Skulptur gew\u00f6hnlich der farbigen vorgezogen wird, aber auch dieser Einwurf ist bei n\u00e4herer Betrachtung nicht stichhaltig. Wir erw\u00e4hnten schon oben [311], dafs es sehr gef\u00e4hrlich sei, Farben an ein Bildhauerwerk anzulegen, weil dieses hierdurch der Wirklichkeit allzu nahe komme, ohne nat\u00fcrlich dieselbe erreichen zu k\u00f6nnen. Durch diese Nicht-\u00dcbereinstimmung zwischen Kunstwerk und Wirklichkeit wird ein Unlustelement eingef\u00fchrt, das sich vermeiden l\u00e4fst, solange das Bildhauerwerk ungef\u00e4rbt gehalten wird, weil dann keine illudierende Wirkung bezweckt ist. Sollte man also mit R\u00fccksicht auf eine Sammlung polychromer und ungef\u00e4rbter Skulpturen zu dem Resultat kommen, dafs die ungef\u00e4rbten den Sieg davontr\u00fcgen, so l\u00e4fst dies sich nicht als Beweis anf\u00fchren, dafs mittels der Farben keine vermehrte Lust erzeugt werde. Zweifelsohne f\u00fcgt man mittels der Farben ein Plus hinzu, zugleich f\u00fchrt man aber wegen ganz besonderer Umst\u00e4nde ein Minus ein, das in den meisten F\u00e4llen das Plus der Farben vielleicht aufwiegen wird.\n330. Es zeigt sich also, dafs durch das Zusammenwirken mehrerer, lustbetonter Vorstellungen gr\u00f6fsere Lust entsteht, als irgend eine der einzelnen Vorstellungen f\u00fcr sich erzeugen kann, es sei denn, dafs durch das gegenseitige Verhalten der Vorstellungen ein st\u00f6rend eingreifendes Unlustmoment eingef\u00fchrt werde. Dafs bei Unlustgef\u00fchlen das Entsprechende stattfindet, l\u00e4fst sich leicht nachweisen. Hat ein Gedicht guten Klang, d. h. sind Metrum und Reim vollkommen, so gehen wir leicht dar\u00fcber hin, dafs der Sinn, der Inhalt, ziemlich d\u00fcrftig ist. Umgekehrt kann ein gedankenschwerer Inhalt f\u00fcr technische M\u00e4ngel Ersatz geben, schlechte Verse ohne Sinn sind jedoch unertr\u00e4glich. Doch kann auch hier ein formelles Lustmoment eingef\u00fchrt werden, das der vermehrten Unlust entgegenwirkt. Dies findet in Parodien statt. So k\u00f6nnen parodische Gedichte mitunter von unwiderstehlicher Wirkung sein, obgleich, oder vielleicht vielmehr weil sie manchmal jeglicher Spur einer Meinung ermangeln und von falschen Betonungen und unm\u00f6glichen Reimen wimmeln. Die \u00c4hnlichkeit, die \u00dcbereinstimmung mit den Dichterwerken, deren M\u00e4ngel sie so scharf hervorheben, erregt hier ein Lustmoment, das der sonst unvermeidlichen Unlust entgegenwirkt. Ganz dasselbe ist z. B. mit Holbergs Ulysses von Ithacia der Fall, dessen Absurdit\u00e4ten","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Intensit\u00e4t zusammengesetzter Gef\u00fchle.\n255\nnu s\u00e9rieux genommen nur unangenehm sind. Das Werk verlangt daher, um komisch zu wirken, dafs der Zuschauer stets eingedenk ist, er habe eine Parodie der damaligen Schauspiele vor sich, und selbst dies gen\u00fcgt nicht an allen Punkten, um uns \u00fcber das Absurde hinweg in das Komische zu f\u00fchren, weil uns das zweite Glied des Vergleichs fehlt; die parodierten Dramen sind jetzt fast unbekannt. \u2014 Das Resultat wird also, dafs durch das Zusammenwirken mehrerer, lust- oder unlustbetonter Vorstellungen stets eine gr\u00f6fsere Lust oder Unlust entsteht als diejenige, welche mit irgend einer der einzelnen Vorstellungen verbunden ist, und wenn in gewissen F\u00e4llen scheinbare Ausnahmen hiervon Vorkommen, so hat dies seinen Grund in einem st\u00f6rend eingreifenden formellen Lust- oder Unlustmoment. Welchem Gesetze gem\u00e4fs diese Einwirkung vorgeht, werden wir sp\u00e4ter untersuchen, wenn wir zur Behandlung derjenigen F\u00e4lle kommen, in welchen die zusammenwirkenden Elemente teils Lust-, teils Unlustgef\u00fchle sind; hier wollen wir als unser erstes Ergebnis nur hervorheben :\n331.\t\u201eDas Gesetz von der Summation der Gef\u00fchlst\u00f6ne\u201c:\nWenn mehrere entweder nur lust- oder nur unlustbetonte,\ndasselbe Objekt betreffende Vorstellungen gleichzeitig im Bewufstsein vorhanden sind, so dafs ihre Gef\u00fchlst\u00f6ne ganz oder teilweise verschmelzen, wird gr\u00f6fsere Lust bezw. Unlust entstehen als diejenige, die mit irgend einer der einzelnen Vorstellungen verbunden ist.\n332.\tWie schon oben [234] nachgewiesen, ist alle feinere Sch\u00e4tzung der St\u00e4rke der Gef\u00fchle unm\u00f6glich ; wir verm\u00f6gen nur anzugeben, welches von zwei einigermafsen gleichartigen Gef\u00fchlen das st\u00e4rkere ist, obendrein nur dann, wenn es sich nur um eine grobe Sch\u00e4tzung dreht, bei welcher die Aufmerksamkeit nicht auf die Gef\u00fchle gerichtet zu sein braucht. Zur Begr\u00fcndung des Summationsgesetzes bedienten wir uns, wie leicht zu ersehen, nur solcher groben, allt\u00e4glichen Sch\u00e4tzungen, und bei zweck-m\u00e4fsiger Verwendung derselben k\u00f6nnen wir noch einen Schritt weiter gelangen. Man k\u00f6nnte n\u00e4mlich die Frage erheben, ob das durch Verschmelzung mehrerer Gef\u00fchlst\u00f6ne entstehende Gef\u00fchl von gr\u00f6fserer, gleicher oder geringerer St\u00e4rke als die Summe der Komposanten sei, oder ob es m\u00f6glicherweise gar nicht den Komposanten proportional anwachse. Eine direkte Bestimmung dieses Verh\u00e4ltnisses ist offenbar nicht m\u00f6glich wegen der Unsicherheit der Sch\u00e4tzung der Gef\u00fchle ; die allgemeine","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nAnnahme m\u00f6chte indes wohl die sein, dafs die St\u00e4rke des resultierenden Gef\u00fchls nicht der Summe der Komposanten proportional, sondern in einem ganz anderen Verh\u00e4ltnisse an w\u00e4chst, so dafs ein zusammengesetztes Gef\u00fchl relativ am st\u00e4rksten wird, wenn die Komposanten am schw\u00e4chsten sind. Durch einige Beispiele wird man die Richtigkeit dieses Satzes auch leicht einleuchtend machen k\u00f6nnen. Ein ganz einfaches, aus geraden Linien zusammengesetztes Muster wird, schwarz auf weifs ausgef\u00fchrt,, gew\u00f6hnlich nur sehr geringe Lust erregen. Wird es aber in verschiedenen Farben ausgef\u00fchrt, kann trotz der Einfachheit der Zeichnung ein sehr ansprechendes Ornament entstehen (siehe Tafel VI). Hier entsteht also durch Kombination von Formen und Farben, die jede f\u00fcr sich nur schwach betont sein w\u00fcrden, eine recht bedeutende Lust. Nehmen wir anderseits ein gutes Gem\u00e4lde und eine wohl ausgef\u00fchrte Wiedergabe desselben im Kupferstich, so wird die Verschiedenheit der St\u00e4rke des Gef\u00fchl\u00bb lange nicht so bedeutend. Im allgemeinen wird freilich wohl das Gem\u00e4lde vorgezogen werden, zwischen diesem und dem Kupferstich ist der Unterschied aber bei weitem so grofs als zwischen dem polychromen Ornament und dessen Muster. Der Zuwachs an Lust, den die Farben in diesen beiden F\u00e4llen herbeif\u00fchren, ist also sehr verschieden, und am st\u00e4rksten da, wo die einzelne oder alle \u00fcbrigen Komposanten am schw\u00e4chsten sind. Analoge F\u00e4lle lassen sich auf anderen Gef\u00fchlsgebieten nachweisen. Ein einzelner sch\u00f6ner Charakterzug einer Person, die uns nicht sehr bekannt ist, kann unsere Sympathie f\u00fcr dieselbe in hohem Mafse vermehren, w\u00e4hrend dasselbe Betragen, von einem uns bekannten und werten Menschen erwiesen, nur geringen Einflufs auf unsere Gef\u00fchle f\u00fcr diesen hat. Dasselbe materielle Gut hat nicht f\u00fcr alle denselben Wert5 je gr\u00f6fser das Wohlsein ist, um so weniger wird es dadurch vermehrt werden, dafs seine physischen Bedingungen um eine bestimmte Gr\u00f6fse vermehrt werden. So kann der Arme sein ganzes Wohlsein durch ein abgetragenes Kleidungsst\u00fcck stark erh\u00f6ht f\u00fchlen, das der Reiche am liebsten los sein m\u00f6chte, und das f\u00fcr diesen also nicht die geringste Bedeutung hat. Auf diese und zahlreiche analoge F\u00e4lle aus anderen Gebieten begr\u00fcnden wir nun das\n333. \u201eGesetz von der St\u00e4rke der zusammengesetzten Gef\u00fchle\u201c :\nDer Zuwachs, den eine gegebene Vorstellung mit ihrem emotionellen Element einem bestehenden Gef\u00fchl geben kann, indem","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Intensit\u00e4t zusammengesetzter Gef\u00fchle.\n257\nder neue Gef\u00fchlston mit den fr\u00fcheren verschmilzt, ist nicht konstant, sondern wird von der St\u00e4rke des bereits bestehenden Gef\u00fchls abh\u00e4ngig sein. Der Zuwachs wird um so gr\u00f6fser, je schw\u00e4cher das urspr\u00fcngliche Gef\u00fchl ist.\n334. Dieses Gesetz ist insofern merkw\u00fcrdig, als es die vollst\u00e4ndige Parallele eines einzelnen Moments im Gesetze von der Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchlstones von der St\u00e4rke der Vorstellung bildet. Wir fanden [236], dafs die St\u00e4rke des Gef\u00fchlstones mit der Intensit\u00e4t der Empfindung anw\u00e4chst, aber so, dafs der n\u00e4mliche Zuwachs der Empfindung einen weit gr\u00f6fseren Zuwachs der St\u00e4rke des Gef\u00fchlstones herbeif\u00fchrt, wenn die Empfindung schwach, als wenn sie stark ist. Und wir sehen nun, dafs von einem zusammengesetzten Gef\u00fchl das Entsprechende gilt, indem die St\u00e4rke des Gef\u00fchls mit dem Umfange des Vorstellungsinhalts anw\u00e4chst, aber so, dafs die n\u00e4mliche Vermehrung des Umfangs weit gr\u00f6fseren Zuwachs der St\u00e4rke des Gef\u00fchls herbeif\u00fchrt, wenn dieses schwach, als wenn es stark ist1). Wir m\u00fcssen hier nun pointieren, was wir schon oben der Beachtung empfahlen, dafs es, wenn diese beiden Gesetze im Prinzip auch mit dem Webe r sehen Gesetz von der Abh\u00e4ngigkeit der Empfindung von der St\u00e4rke des Reizes \u00fcbereinstimmen, dennoch unberechtigt bleibt, den mathematischen Ausdruck, dessen G\u00fcltigkeit f\u00fcr das Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltnis der Empfindungen zum Teil dargethan ist, ohne weiteres auf die Gef\u00fchle zu \u00fcbertragen. Man beruft sich h\u00e4ufig zur Gew\u00e4hr auf Bernoulli und Laplace, . indem diese das \u201eWeb er sehe\u201c Gesetz zuerst auf dem Gebiete der Gef\u00fchle entwickelt haben sollen. Ganz richtig ist dies jedoch nicht, wenigstens nicht, was Laplace betrifft, der sich folgendermafsen \u00fcber die Sache \u00e4ufsert: \u201eil est visible qu\u2019un franc a beaucoup plus de prix pour celui qui n\u2019en a que cent, que pour un millionnaire. On\nJ) Meines Wissens hat man bisher nicht versucht, diese beiden Gesetze auseinander zu halten, sondern \u2014 mit Ausnahme von Fechner \u2014 man hat sie nebst dem Kontrastgesetz unter der gemeinsamen Benennung \u201edas Relativit\u00e4tsgesetz\u201c zusammengefafst. Dies ist insofern nat\u00fcrlich berechtigt, als alle diese Gesetze zeigen, dafs die St\u00e4rke eines Gef\u00fchls von dessen Beziehung zu anderen Gef\u00fchlen abh\u00e4ngig ist, da die Gesetze aber doch f\u00fcr verschiedene F\u00e4lle und unter verschiedenen Bedingungen'gelten, m\u00f6chte es wohl am richtigsten sein, sie auseinander zu halten, wie hier versucht wurde.\nLehmann, Die Gef\u00fchle.\n17","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\ndoit donc distinguer dans le bien esp\u00e9r\u00e9 sa valeur absolue et sa valeur relative : celle-ci se r\u00e8gle sur les motifs qui le font d\u00e9sirer, au lieu que la premi\u00e8re en est ind\u00e9pendante. On ne peut donner de principe g\u00e9n\u00e9ral, pour appr\u00e9cier cette valeur relative. En voici cependant un propos\u00e9 par Daniel Bernoulli, et qui peut servir dans beaucoup de cas\u201c1). Laplace entwickelt darauf zur Bestimmung der fortune morale wesentlich denselben mathematischen Ausdruck, den wir aus Webers Gesetze kennen, es scheint aber aus seiner ganzen Aufserung hervorzugehen, dafs er der mathematischen Formel doch nur begrenzte Bedeutung beilegt2). Und weiter als bis zur Anwendung auf rein praktischen Gebieten darf man dieselbe gewifs auch nicht ausdehnen; die Unm\u00f6glichkeit einer wissenschaftlichen Begr\u00fcndung des mathematischen Gesetzes liegt in der Unsicherheit der Sch\u00e4tzung des Gef\u00fchls.\n335. Die zusammen wirk en den Elemente sind teils Lust, teils Unlust. F\u00fcr diesen Fall scheint sich kein einzelnes Gesetz geben zu lassen, da die Verh\u00e4ltnisse hier sehr variabel sind. Es wurde nachgewiesen [327], dafs, solange die zusammenwirkenden Elemente nur sehr lose miteinander verbunden sind, die die Vorstellungen begleitenden Gef\u00fchlst\u00f6ne kaum verschmelzen werden; es entsteht dann ein Wechsel der Gef\u00fchle. In diesem Falle wird denn auch von keinem einzelnen Gef\u00fchl bestimmter St\u00e4rke die Rede; die einzelnen emotionellen Elemente bestehen voneinander unabh\u00e4ngig. Ist die Verbindung der Vorstellungen eine festere, ohne dafs sich jedoch schon ein gemischtes Gef\u00fchl bildete, so scheinen die Gef\u00fchlst\u00f6ne sich als positive und negative Gr\u00f6fsen zu heben, indem sie miteinander verschmelzen. So mit einem mittelm\u00e4fsigen Kunstwerke. Solange wir nicht mittels willk\u00fcrlicher Hinrichtung der Aufmerksamkeit dessen Fehler und M\u00e4ngel ausfindig zu machen suchten, werden die bei der Betrachtung entstehenden emotionellen Elemente zu einem zusammengesetzten Gef\u00fchle verschmolzen sein, das je den Umst\u00e4nden nach eine schwache Lust oder Unlust sein kann. Sind die Lustelemente vorherrschend, so wird ersteres stattfinden, im entgegengesetzten Falle aber letzteres; indes deutet gerade der Umstand, dafs die Resultante stets ein schwaches Gef\u00fchl,\nq Essai philosophique sur les probabilit\u00e9s. 1840. S. 25\u201426.\n2) Vgl. Meyer: Wahrscheinlichkeitsrechnung. 1879. S. 150 u. f.","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Verh\u00e4ltnisse beim Zusammenwirken der Lust und der Unlust. 259\noft von fast unbestimmbarem Charakter wird, darauf hin, dafs Lust und Unlust sich hier als plus und minus heben. Dasselbe Verh\u00e4ltnis macht sich in unseren Sympathien und Antipathien geltend. Die Vorstellung von einer Person, f\u00fcr deren gute und schlechte Seiten man nicht blind ist, wird von einem Gef\u00fchl begleitet sein, das Lust oder Unlust werden kann, je nachdem das Gute oder das weniger Gute des Charakters st\u00e4rker hervortritt, aber auch hier deutet die geringe Intensit\u00e4t des Gef\u00fchls nuf eine Kompensation der verschiedenartigen emotionellen Elemente hin.\n336. Ganz anders stellt sich die Sache bei den gemischten Gef\u00fchlen. Man hat diese mitunter mit chemischen Verbindungen verglichen 5 dieser Vergleich trifft aber nat\u00fcrlich nicht vollst\u00e4ndig zu, weil das Charakteristische der chemischen Verbindungen darin zu suchen ist, dafs die Eigenschaften der Elemente verschwinden, indem ein neuer Stoff mit ganz neuen Eigenschaften \u25a0entsteht; ein solches Verh\u00e4ltnis treffen wir aber bei den gemischten Gef\u00fchlen nicht an. In diesen k\u00f6nnen wir n\u00e4mlich ja noch beide Bestandteile beobachten; f\u00fchlten wir nicht, dafs sowohl Lust als Unlust vorhanden ist, so w\u00fcrden wir nicht im st\u00e4nde sein, dieselben als gemischte Gef\u00fchle zu bezeichnen. Anderseits l\u00e4fst sich aber nicht bestreiten, dafs die entgegengesetzten Elemente in den genannten Zust\u00e4nden auf h\u00f6chst \u2022eigent\u00fcmliche Weise eine Verbindung miteinander geschlossen haben. Dafs sie sich nicht als positive und negative Gr\u00f6fsen heben, scheint unzweifelhaft, denn dann k\u00f6nnte man wohl schwerlich das Vorhandensein beider Elemente direkt wahrnehmen, und aufserdem m\u00fcfste dann stets ein verh\u00e4ltnism\u00e4fsig schwaches Gef\u00fchl resultieren; die Erfahrung lehrt aber, dafs jedes gemischte Gef\u00fchl sehr bedeutende Intensit\u00e4t wird erreichen k\u00f6nnen. Nehmen wir z. B. nur das Wehmutsgef\u00fchl, so sieht man leicht, dafs je st\u00e4rkere Lust die Erinnerung an die Vergangenheit bringt, desto st\u00e4rkere Unlust wird im allgemeinen auch der Gedanke erzeugen, dafs der Zustand schon aufgeh\u00f6rt hat. Wenn nun die entgegengesetzten Gef\u00fchlst\u00f6ne sich als plus und minus h\u00f6ben, so m\u00fcfste der resultierende Zustand notwendigerweise verh\u00e4ltnism\u00e4fsig schwach betont werden, und zwar als Lust oder als Unlust, je nachdem das eine oder das andere Element vorherrschend w\u00e4re. Die Erfahrung lehrt aber,\ndafs in diesem Falle ein sehr intensives Wehmutsgef\u00fchl resultieren\n17*","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nwird, das sich nur den Umst\u00e4nden gem\u00e4fs der Lust oder der Unlust zuneigt. Analoge Verh\u00e4ltnisse werden hei anderen gemischten Gef\u00fchlen wahrgenommen. Im Gef\u00fchl f\u00fcr das Spannende, Romantische wird vermehrte Gef\u00e4hrlichkeit der Lage gr\u00f6fsere Unlust herbeif\u00fchren, dagegen w\u00e4chst innerhalb gewisser Grenzen auch die Lust am Kampfe mit den Gefahren. Und auch wenn diese einen solchen Umfang annehmen, dafs man die Situation nicht mehr beherrscht, verschwinden die Lustelemente nicht g\u00e4nzlich [325] ; es besteht dann ein sehr intensives gemischtes Gef\u00fchl, in welchem das Unlustgef\u00fchl nur das vorwiegende ist. \u2014 Thatsache ist es also, dafs wir an den gemischten Gef\u00fchlen eine Reihe h\u00f6chst merkw\u00fcrdiger Erscheinungen haben, denen Analoges sich auf keinem anderen Seelengebiete scheint nachweisen zu lassen. Zwei einander entgegengesetzte Zust\u00e4nde machen sich gleichzeitig geltend, nicht nur ohne einander zu heben, sondern sogar so, dafs die vermehrte St\u00e4rke des einen wenigstens bis zu einem gewissen Grade auch die St\u00e4rke des anderen vermehrt. Man k\u00f6nnte diese Verh\u00e4ltnisse mit den bekannten stehenden Wellen vergleichen, die in gewissen F\u00e4llen durch Zur\u00fcckweisung einer Wellenbewegung entstehen. Hier hat man Bewegungen, die in entgegengesetzter Richtung fortschreiten und einander verst\u00e4rken; und je gr\u00f6fsere H\u00f6he die urspr\u00fcngliche Welle hat, um so gr\u00f6fser wird auch die H\u00f6he der zur\u00fcckgeworfenen, und mithin w\u00e4chst auch die gr\u00f6fste H\u00f6he der resultierenden stehenden Wellen. Ein solches Bild ist aber sehr unzweckm\u00e4fsig : es erkl\u00e4rt n\u00e4mlich durchaus nichts. Wenn wir von stehenden Wellen des Gef\u00fchls reden, sind wir einem Verst\u00e4ndnis darum doch keinen einzigen Schritt n\u00e4her gekommen, ob ein solches Bild gleich als eine Art graphischer Darstellung der Verh\u00e4ltnisse etwas Bestechendes an sich haben kann. Die Sache scheint sich vorl\u00e4ufig so zu stellen, dafs ebenso sicher wie die gemischten Gef\u00fchle Thatsachen sind, ebenso sicher liegt in der blofsen M\u00f6glichkeit ihrer Existenz ein Problem vor, zu dessen L\u00f6sung ich keinen Beitrag zu geben vermag. Wie verhalten sich \u2014 um nur ein einzelnes Moment hervorzuheben \u2014 w\u00e4hrend dieser Zust\u00e4nde die k\u00f6rperlichen \u00c4ufserungen, die sich ja zum Teil ausgleichen m\u00fcssen [142], wenn Lust und Unlust gleichzeitig vorhanden sind?","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Reproduktion der Gef\u00fchlst\u00f6ne durch Vorstellungen.\n261\nDie Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchls von fremden, reproduzierten\nVorstellungen.\nDie Reproduktion der Gef\u00fchle im allgemeinen.\n337. Der Grad der Genauigkeit und der St\u00e4rke, mit welchem sich ein Gef\u00fchl reproduzieren l\u00e4fst, ist gewifs den Umst\u00e4nden gem\u00e4fs sehr verschieden, aber die Thatsache selbst, dafs Gef\u00fchle sich wiedererzeugen lassen, m\u00f6chte wohl ebenso sicher sein wie jede andere Thatsache, die durch Selbstbeobachtung allein gegeben ist. In der j\u00fcngeren Psychologie spielen die reproduzierten, sogenannten \u201eideellen\u201c Gef\u00fchle denn auch eine nicht geringe Rolle, und wie grofse Uneinigkeit sonst \u00fcber die Lehre von den Gef\u00fchlen herrschen m\u00f6ge, scheinen die bedeutendsten Forscher doch in ihren Ansichten von der ; Reproduktion der Gef\u00fchle zusammenzutreffen. Man nimmt jetzt allgemein an, dafs alle Wiedererzeugung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden mit Hilfe der intellektuellen Elemente als Mittelglieder geschieht; wenn eine Vorstellung, mit welcher fr\u00fcher ein emotionelles Element verbunden war, reproduziert wird, so wird sie auch ! ihren Gef\u00fchlston mit sich hervorziehen, und nur auf diesem Wege l\u00e4fst sich der Gef\u00fchlston wiedererzeugen. F\u00fcr die Richtigkeit einer solchen Auffassung spricht eine ganze Reihe von Erfahrungen, die wir schon fr\u00fcher erw\u00e4hnt haben [25], und auf die wir deshalb jetzt nur verweisen. S\u00e4mtliche Beobachtungen zeigen, dafs die Leichtigkeit, Genauigkeit und St\u00e4rke, womit ein Gef\u00fchl sich reproduzieren l\u00e4fst, davon allein abh\u00e4ngig .sind, wie leicht und vollst\u00e4ndig die intellektuellen Elemente des Gef\u00fchls sich reproduzieren lassen. Auf den niederen Sinnesgebieten, wo die willk\u00fcrliche Wiedererzeugung einer Empfindung sehr schwer, um nicht zu sagen unm\u00f6glich ist, gelingt es auch nicht, die mit der Empfindung verbundenen Gef\u00fchlst\u00f6ne zu reproduzieren, betritt man aber die h\u00f6heren Sinnesgebiete, so zeigt es sich, dafs je leichter und vollst\u00e4ndiger sich die Empfindung wiedererzeugen l\u00e4fst, um so leichter und st\u00e4rker tritt auch deren Betonung hervor. Noch deutlicher zeigt sich dies bei solchen Gef\u00fchlen, bei Avelchen Vorstellungen und Vorstellungskomplexe mitbeth\u00e4tigt sind. Je vollst\u00e4ndiger diese wiedererzeugt werden, je besser man sich in der Erinnerung in eine fr\u00fchere","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nSituation zur\u00fcckversetzen kann, um so st\u00e4rker stellt sich auch\ndas Gef\u00fchl ein, das man damals hatte. Auf diese Thatsachem\n7 * 7 die gewifs so wohlbekannt sind, dafs es \u00fcberfl\u00fcssig sein m\u00f6chte,.\nspeziellere Beispiele des Angef\u00fchrten hervorzuziehen, st\u00fctzen\nwir das :\n838. \u201eGesetz von der Reproduktion der Gef\u00fchlst\u00f6ne.u\nGef\u00fchlsi\u00f6ne k\u00f6nnen dadurch reproduziert werden, dafs die Vor Stellung en, mit welchen sie verbunden geivesen sind, iviecler-erzeugt werden. Und je vollst\u00e4ndiger die Reproduktion der intellektuellen Elemente stattfindet, um so genauer und st\u00e4rker werden auch die emotionellen Elemente wieder er zeugt werden.\n339. Ebenso sicher wie man annehmen darf, dafs Gef\u00fchlst\u00f6ne sich, reproduzieren lassen, ebensowenig ist es zu bezweifeln, dafs die reproduzierten Gef\u00fchle f\u00fcr unser Bewufstseinsleben von aufserordentlicher Wichtigkeit sind. Ein einzelnes Beispiel gen\u00fcgt, um dies nachzuweisen. Wenn ein arbeitsloser Handwerker vielleicht mehrere Tage lang verzweifelt von Werkstatt zu Werkstatt gewandert ist und \u00fcberall dieselbe Antwort erhalten hat, dafs kaum f\u00fcr die festen Arbeiter genug zu thun sei, so wird niemand bezweifeln, dafs seine Freude, wenn er endlich zu einem passenden Lohne Besch\u00e4ftigung findet, den gesamten Charakter und die St\u00e4rke einer Gem\u00fctsbewegung annehmen wird. Der Sinneseindruck allein aber, die Worte an und f\u00fcr sich : \u201e ja, Sie erhalten so und so viel des Tages\u201c, k\u00f6nnen doch kaum als Ursache der gewaltigen Gef\u00fchlsbewegung angenommen werden. Unter g\u00fcnstigeren Verh\u00e4ltnissen w\u00fcrden ganz dieselben Worte wahrscheinlich gar keine Freude hervorgerufen haben; der angebotene Lohn k\u00f6nnte ihm so gering Vorkommen, dafs er sich, ehe er auf denselben einginge, vielleicht erst an anderen Orten erkundigen w\u00fcrde. Wie die Sachen jetzt aber stehen, erzeugen die Worte \u00fcberstr\u00f6mende Freude, die uns ganz unverst\u00e4ndlich ist, wenn wir die reproduzierten Gef\u00fchle nicht ber\u00fccksichtigen. \u201eArbeit und Tagelohn\u201c bedeuten f\u00fcr den arbeitslosen Armen Nahrung, Kleider, Obdach und Feuerung f\u00fcr die daheim, zufriedene und fr\u00f6hliche Gesichter statt Hunger und Kummer. Ein Gew\u00fchl von Vorstellungen tauchen auf, jede von ihrem Lustelement begleitet, und indem alle diese emotionellen Elemente sich vereinen, erh\u00e4lt das zusammengesetzte Gef\u00fchl eine St\u00e4rke, die einen Ausbruch der Freude leicht erkl\u00e4rlich macht.","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Bedeutung reproduzierter Gef\u00fchle.\n263\n340. Sonderbar ist es, dafs die \u00c4sthetiker, die doch an so vielen Punkten bestimmte Gef\u00fchlsgesetze zu formulieren gesucht haben, die Bedeutung der reproduzierten Gef\u00fchle vollst\u00e4ndig haben \u00fcbersehen k\u00f6nnen. Es gibt wohl kaum irgend ein Gebiet, auf welchem Vorstellungsassociationen, Erinnerung und Phantasie von gr\u00f6fserer Bedeutung sind als eben auf dem \u00e4sthetischen, und dennoch hat die von Schiller begr\u00fcndete sogenannte \u201eForm\u00e4sthetik\u201c zu allen Zeiten zahlreiche Anh\u00e4nger gefunden. Der Grundsatz der Form\u00e4sthetik ist der, dafs diejenigen Vorstellungen , die ein Kunstwerk mittels Association in uns erregt, neben der blofsen Form, der r\u00e4umlichen oder zeitlichen Anordnung der Elemente, nichts bedeuten oder allenfalls bedeuten sollten. Eine eingehende Kritik dieser Auffassung m\u00f6chte auf dein jetzigen Standpunkte der Psychologie fast abgedroschen erscheinen; Fechner hat indes die M\u00fche nicht gescheut1) und kommt nat\u00fcrlich zu dem Ergebnis, dafs die Form\u00e4sthetik eine durchaus unhaltbare Position ist. Von einem rein psychologischen Standpunkte aus k\u00f6nnen wir leicht zu demselben Resultate kommen, ohne uns auf speziell \u00e4sthetische Betrachtungen einzulassen. Jede sinnliche Wahrnehmung wird stets Vorstellungen reproduzieren, wenn das Wahrgenommene nur nicht etwas so durchaus Neues ist, dafs es mit unserem gesamten fr\u00fcheren Bewusstseinsinhalt nicht den geringsten Ber\u00fchrungspunkt hat. Ein Kunstwerk, das seinen Inhalt doch zum Teil der Wirklichkeit entnommen haben mufs, kann daher nicht unterlassen, unsere Phantasie und Erinnerung in Bewegung zu setzen, und mit den auf diese Weise reproduzierten Vorstellungen m\u00fcssen dann dem Gesetz von der Reproduktion der Gef\u00fchle zufolge st\u00e4rkere oder schw\u00e4chere Gef\u00fchlst\u00f6ne verbunden sein. Es wird also fast zur psychologischen Unm\u00f6glichkeit, dafs ein Kunstwerk unsere Gef\u00fchle nicht indirekt, durch reproduzierte Vorstellungen, beeinflussen sollte. Man darf also behaupten, dafs der Gedankeninhalt eines Kunstwerkes stets auf die erregten Gef\u00fchle Einflufs hat, folglich auch auf die \u00e4sthetische Auffassung oder das \u00e4sthetische Urteil. Und will man nun nicht annehmen, dafs es auf dem \u00e4sthetischen Gebiete die Aufgabe des Menschen sein sollte, fortw\u00e4hrenden Kampf mit seiner eigenen Natur zu f\u00fchren und bei der Erzeugung oder Betrachtung' von Kunstwerken\n3) Vorschule der \u00c4sthetik. Bd. II. S. 20 u. f.","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nstets das Unvermeidliche, n\u00e4mlich den Einflufs des Inhalts auf das Gef\u00fchl, zu vermeiden zu suchen, so mufs die Behauptung berechtigt sein, dafs der Inhalt ebensowohl als die Form Einflufs auf das \u00e4sthetische Gef\u00fchl haben mufs. Thats\u00e4chlich besitzt derselbe solchen Einflufs ; gibt man dessen Berechtigung nicht zu, so hat man es zugleich dem K\u00fcnstler und dem Geniefsenden zur Pflicht gemacht, der menschlichen Natur unabl\u00e4ssig entgegenzuarbeiten. Somit l\u00e4fst sich also sagen, dafs die reine Form\u00e4sthetik in absurdum reduziert ist.\n341.\tDie Psychologen sind schon l\u00e4ngst dar\u00fcber im reinen gewesen, dafs ein sehr grofser Teil der Vorstellungen, die im Laufe eines gegebenen Zeitraums das Bewufstsein erf\u00fcllen, reproduziert sind. Sogar wenn wir glauben, etwas direkt wahrzunehmen, wird nur ein Teil der Elemente, aus welchen das Wahrgenommene besteht, durch die sinnliche Wahrnehmung gegeben sein ; die reproduzierten Elemente, welche die wirklich wahrgenommenen erg\u00e4nzen, werden bei dem Erwachsenen am \u00f6ftesten wohl sogar die vorwiegenden sein. Und diesen schliefsen sich dann wieder zahlreiche andere Vorstellungen an, die zu der eigentlichen sinnlichen Wahrnehmung nur in verh\u00e4ltnism\u00e4fsig fernerliegender Beziehung stehen. Unter allen denjenigen Vorstellungen, deren Beproduktion eine einzelne sinnliche Wahrnehmung auf diese Weise veranlassen kann, mufs es nun stets einige geben, die von Gef\u00fchlst\u00f6nen begleitet sind, und diese werden also auf den durch das Sinnesbild selber erregten Gef\u00fchlston influieren. Man kann deshalb sicherlich mit Recht als Parallele der zusammengesetzten Natur der sinnlichen Wahrnehmung den Satz aufstellen :\n342.\tSelbst bei dem scheinbar rein nichtzusammengesetzten Gef\u00fchl sind mehrere emotionelle Elemente mitbeth\u00e4tigt.\nEs gibt nun auch verschiedene Erfahrungen, welche dies anzudeuten scheinen. Die einfachen Farben erregen, wie wir wissen, eine Lust, die nicht ganz derselben Natur ist; die roten und gelben wirken belebend und erheiternd, w\u00e4hrend die Wirkung der blauen und violetten Farbent\u00f6ne mehr eine herabstimmende, d\u00e4mpfende ist. Und innerhalb jeder dieser Gruppen lassen sich wieder in der emotionellen Wirkung der verschiedenen Farben-n\u00fcancen nicht unbedeutende Verschiedenheiten nachweisen, was sich wohl schwerlich als durch den direkten Einflufs der verschiedenen Farbenstrahlen auf den nerv\u00f6sen Organismus verursacht","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"Verh\u00e4ltnis zwischen reproduzierten u. direkt gegebenen Uef\u00fchlen. 265\nerkl\u00e4ren l\u00e4fst. Darf man auch die M\u00f6glichkeit einer solchen Einwirkung nicht geradezu bestreiten, so ist es doch h\u00f6chst wahrscheinlich, dafs reproduzierte Gef\u00fchlst\u00f6ne mitspielen. \"Wir k\u00f6nnen kaum eine einzelne Farbe betrachten , ohne dafs mittels Association ein st\u00e4rkeres oder schw\u00e4cheres Bild der Naturverh\u00e4ltnisse hervorgerufen w\u00fcrde, unter welchen die Farbe uns am h\u00e4ufigsten erschienen ist, und das hieran gebundene emotionelle Element kann sich dann mit dem direkt erregten verkn\u00fcpfen und dasselbe auf verschiedene Weise modifizieren. Die Summe aller zusammenwirkenden intellektuellen und emotionellen Elemente wird dann, was man die emotionelle Wirkung der einzelnen Farbe nennt, und diese Wirkung, die der Selbstbeobachtung als etwas durchaus Nichtzusammengesetztes erscheint, ist also wahrscheinlich ein sehr kompliziertes Produkt.\n343.\tEs leuchtet nun ein, dafs eine Untersuchung der Gesetze, denen gem\u00e4fs die reproduzierten Gef\u00fchlst\u00f6ne auf die direkt gegebenen influieren, f\u00fcr uns von gr\u00f6fster Bedeutung wrerden mufs, wenn man, wiewohl hypothetisch, den Einflufs der Associationen sogar bis auf die Gef\u00fchlswirkung der einfachen Sinnesempfindungen verfolgen kann. Wir w\u00fcrden trotz aller unserer vorhergehenden Untersuchungen das Ziel nur halbwegs erreicht haben, wenn wir nicht den Einflufs der reproduzierten Vorstellungen auf das Gef\u00fchl darlegten. Hier stellt sich die Sache indes so g\u00fcnstig, dafs wir, wie [226] erw\u00e4hnt, annehmen d\u00fcrfen, dafs dieselben Gesetze, die r\u00fccksichtlich des Einflusses von aufsenher gegebener Vorstellungen auf den Gef\u00fchlston einer betonten Vorstellung nachgewiesen wurden, auch f\u00fcr den Einflufs der reproduzierten Vorstellungen gelten m\u00fcssen. Und es fand sich denn auch bei allen vorhergehenden Untersuchungen \u00fcber die speziellen Gesetze des Gef\u00fchls an keinem Punkte ein Anlafs, die G\u00fcltigkeit der Gesetze auf eine einzelne dieser Gruppen zu begrenzen; die angef\u00fchrten Beispiele betrafen im Gegenteil ebenso oft reproduzierte Vorstellungen als sinnliche Wahrnehmungen. Wir k\u00f6nnen daher als einen von vornherein h\u00f6chst wahrscheinlichen Satz folgendes aufstellen :\n344.\tDie reproduzierten Vorstellungen nebst den mit denselben verbundenen Gef\u00fchlst\u00f6nen gehorchen bei ihrer gegenseitigen Ein-Wirkung aufeinander und ihrem Einflufs auf andere Gef\u00fchle denselben Gesetzen, die f\u00fcr die durch auf sere Beize hervor gerufenen intellektuellen und emotionellen Elemente gelten.","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nDie Expansion und die Verschiebung der Gef\u00fchle.\n345. Um die Bedeutung der reproduzierten Gef\u00fchle n\u00e4her zu erhellen und zu beweisen, werden wir ein paar eigent\u00fcmliche Erscheinungen von besonderem Interesse betrachten, n\u00e4mlich teils die schon oben erw\u00e4hnte \u201eExpansion des Gef\u00fchls\u201c, teils die sogenannte \u201eVerschiebung\u201c des Gef\u00fchlstones. Zuerst nehmen wir nun die Gef\u00fchlsexpansion vor, von welcher wir oben [296] fanden : \u201eSobald eine lust- oder unlustbetonte Vorstellung andere Vorstellungen, und zwar besonders Organempfindungen, mit derselben Betonung reproduziert, wird eine Expansion des Gef\u00fchls entstehen,, d. h. die reproduzierten Gef\u00fchle werden, selbst nach dem \\ er-schwinden des urspr\u00fcnglichen, auf verschiedene Weise auf die folgenden Bewufstseinszust\u00e4nde influieren.\u201c Den n\u00e4heren Nachweis,, wie diese Influenz vorgeht, liefsen wir dahingestellt bleiben, eben weil wir bei einer solchen Untersuchung sowohl mit reproduzierten als durch Wahrnehmung gegebenen Vorstellungen zu thun bekommen w\u00fcrden, und hier wird also der Ort f\u00fcr eine n\u00e4here Betrachtung dieses Verh\u00e4ltnisses sein. Ist dem nun wirklich so7 dafs die reproduzierten betonten Vorstellungen bei ihrer Einwirkung auf andere Vorstellungen denselben Gesetzen unterworfen sind wie die durch \u00e4ufsere Reize hervorgerufenen intellektuellen und emotionellen Elemente, so mufs man im st\u00e4nde sein, a priori zu entwickeln, unter welchen Verh\u00e4ltnissen und auf welche Weise die Expansion des Gef\u00fchls sich zeigen wird. Denn hat ein intensives Gef\u00fchl eine Reihe Organgef\u00fchle erzeugt, so werden diese, wie vorher nachgewiesen, als eine Stimmung bestehen k\u00f6nnen, selbst nach dem Verschwinden des urspr\u00fcnglichen Gef\u00fchls. Kommt nun hierzu eine entweder durch \u00e4ufseren Reiz oder durch Association erregte Vorstellung, die wir uns von allem m\u00f6glichen anderen als eben den Zust\u00e4nden des Organismus herr\u00fchrend denken k\u00f6nnen, so mufs die gegenseitige Einwirkung des neuen Gef\u00fchls und der gegebenen Stimmung durch die Gesetze bestimmt sein, die wir f\u00fcr das Verh\u00e4ltnis zwischen Gef\u00fchlen fanden, welche mit ungleichartigen, verschiedene \u00e4ufsere Objekte betreffenden Vorstellungen verbunden sind. Diese Gesetze formulierten wir oben folgendermafsen : \u201eWenn mehrere gleichzeitig gegebene ungleichartige Vorstellungen von Gef\u00fchlst\u00f6nen mit h\u00f6chst verschiedener St\u00e4rke begleitet sind, wird im allgemeinen, wenn die Aufmerksamkeit nicht aus besonderen","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"Expansion der Gef\u00fchle.\n267\nGr\u00fcnden willk\u00fcrlich auf eine bestimmte Vorstellung gerichtet ist, nur die am st\u00e4rksten betonte im Bewufstsein hervortreten\u201c [286]. \u201eWenn mehrere ungleichartige, entweder lust- oder unlustbetonte Vorstellungen, die verschiedene Objekte betreffen, sich gleichzeitig mit ungef\u00e4hr gleicher St\u00e4rke ihrer Gef\u00fchlsbetonung im Bewufstsein geltend machen, so entsteht eine Gef\u00fchlsmischung, d. h. ein einzelnes Gef\u00fchl, dessen verschiedene Momente sich durch willk\u00fcrliche Hinrichtung der Aufmerksamkeit auf die bez\u00fcglichen Vorstellungen aussondern lassen\u201c [289]. \u201eLust und Unlust, an ungleichartige, verschiedene Objekte betreffende Vorstellungen gebunden, und ebenfalls entgegengesetzte Gef\u00fchlsmischungen k\u00f6nnen keine n\u00e4here Verbindung miteinander schliefsen, sondern wechseln im Bewufstsein ab\u201c [291]. Ist nun die Voraussetzung von der Gleichstellung der reproduzierten und der durch Wahrnehmung gegebenen Gef\u00fchle richtig, so k\u00f6nnen die Gesetze der Expansion des Gef\u00fchls nur spezielle F\u00e4lle der angef\u00fchrten allgemeinen S\u00e4tze werden und wir k\u00f6nnen dann folgende Expansionsgesetze aufstellen :\n346.\t1st eine intensive Stimmung gegeben, so wird ein schw\u00e4cheres Gef\u00fchl \u00fcberhaupt nicht zum Bewufstsein kommen. Bine schw\u00e4chere Stimmung dagegen kann durch ein neues, intensiveres Gef\u00fchl verdr\u00e4ngt werden.\n347.\tSind die Stimmung und das neue Gef\u00fchl von ungef\u00e4hr derselben St\u00e4rke, so wird der resultierende Zustand davon abh\u00e4ngig sein, ob beide denselben, oder ob sie entgegengesetzte Gef\u00fchlst\u00f6ne haben. Sind beide entweder Lust- oder Unlustgef\u00fchle, so wird st\u00e4rkere Lust oder Unlust resultieren.\n348.\tHaben die beiden Zust\u00e4nde dagegen entgegengesetzte Gef\u00fchlst\u00f6ne, so werden sie im Bewufstsein miteinander abivechseln, indem der eine den anderen nur momentan verdr\u00e4ngen kann.\n349.\tDiese Gesetze stimmen, wie man sieht, v\u00f6llig mit dem \u00fcberein, was die Erfahrung zeigt. Allerdings gibt es ebenso viele Gattungen der Stimmungen, wie Affekte [79], dieselben zerfallen aber alle in zwei Hauptgruppen, die im t\u00e4glichen Leben als \u201egute\u201c und \u201eschlechte\u201c Laune bezeichnet werden, und auf die feineren N\u00fcancen brauchen wir uns hier nicht n\u00e4her einzulassen. Ist die Laune besonders gut, so wird das ganze Dasein in rosigem Licht erblickt*, kleine Verdriefslichkeiten werden entweder gar nicht beachtet, oder sie werfen nur ganz vor\u00fcbergehende Schatten auf den frohen Zustand, dem sie bald wieder weichen","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nm\u00fcssen. Zur Herabstimmung der Laune ist irgend ein ernstlicher Kummer erforderlich. Ganz analog \u00e4ufsert sich die schlechte Laune, die Verstimmtheit. In dieser gehen alle solchen Eindr\u00fccke, die sonst Freude verursachen, gew\u00f6hnlich spurlos vor\u00fcber oder wirken h\u00f6chstens momentan erheiternd. Zur Verscheuchung der d\u00fcsteren Stimmung geh\u00f6rt ein gr\u00f6fseres erfreuliches Ereignis. \u2022\u2014 Selbst ohne kr\u00e4ftige \u00e4ufsere Reize verliert jede Stimmung sich am Ende, indem das Nervensystem allm\u00e4hlich in seinen normalen Zustand zur\u00fcckkehrt. Nur in krankhaften, nerv\u00f6sen F\u00e4llen wird eine Stimmung sehr lange Zeit hindurch andauern k\u00f6nnen, sonst nur, wenn sie durch ein besonders bedeutungsvolles Ereignis erzeugt ist, so dafs die Erinnerung an dieses fortw\u00e4hrend hinzutritt und sie erh\u00e4lt. Aber auch dieser Fall, das fortw\u00e4hrende Wiedererzeugen einer Stimmung durch die Erinnerung an das, was dieselbe urspr\u00fcnglich hervorrief, ist ja nur ein fernerer Beweis, dafs die Gef\u00fchlst\u00f6ne der reproduzierten und die der durch \u00e4ufseren Reiz erweckten Vorstellungen denselben Gesetzen unterworfen sind.\n350. Nahe mit der Expansion des Gef\u00fchls ist die andere Erscheinung, die \u201eVerschiebung\u201c des Gef\u00fchls verwandt; diese ein wenig n\u00e4her zu betrachten, wird sich der M\u00fche lohnen, teils weil sie anscheinend allem widerstreitet, was wir bisher \u00fcber das Verh\u00e4ltnis zwischen den intellektuellen und den emotionellen Elementen eines Gef\u00fchls entwickelt haben, teils weil sie aufser-ordentlich grofse praktische Bedeutung besitzt. Die Erscheinung besteht, wie der Name angibt, darin, dafs ein Gef\u00fchlston sich gleichsam von der einen Vorstellung auf eine andere verschieben kann. Ginge diese Verschiebung faktisch auf die Weise vor, dafs der Gef\u00fchlston erst von der Vorstellung, an welche er urspr\u00fcnglich gekn\u00fcpft war, isoliert w\u00fcrde, um sich darauf mit einer anderen Vorstellung zu verbinden, so w\u00fcrde die Annahme, ein Gef\u00fchlston k\u00f6nne niemals isoliert bestehen, unstreitig durchaus falsch sein. Nun wurde diese Annahme indes durch alle unsere vorhergehenden Untersuchungen best\u00e4tigt, und wir m\u00fcssen deshalb, bevor wir dieselbe aufzugeben verm\u00f6gen, berechtigt sein, f\u00fcr deren Unhaltbarkeit in diesem speziellen Falle einen eklatanten Beweis zu verlangen. Ein solcher Beweis l\u00e4fst sich aber der Natur der Sache zufolge nur auf die Weise f\u00fchren, dafs es wirklich einmal gel\u00e4nge, w\u00e4hrend der Verschiebung des Gef\u00fchls das isolierte emotionelle Element zu beobachten. Dies scheint","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"Scheinbare Verschiebung der Gef\u00fchle.\n269\nbislang jedoch niemand gelungen zu sein. Keiner der Forscher, welche die Erscheinung besprochen haben, hat jemals angedeutet, dafs sich eine Isolation des Gef\u00fchlstones beobachten liefse. Es wird nur gesagt, ein Gef\u00fchlston, der auf einer Entwickelungsstufe mit einer gewissen Vorstellung verbunden sei, k\u00f6nne auf einer sp\u00e4teren mit einem anderen Vorstellungsinhalt verbunden sein. Es wird nun auch nicht schwer nachzuweisen sein, dafs eine Verschiebung der \u201eGef\u00fchlst\u00f6ne\u201c in buchst\u00e4blichem Sinne gar nicht vorkommt. In vielen derjenigen F\u00e4lle, welche man als Beispiele in dieser Richtung angef\u00fchrt hat, geht \u00fcberhaupt gar keine Verschiebung von irgend etwas vor; in anderen F\u00e4llen, in welchen wirklich von einer Art Verschiebung die Rede sein kann, sind es aber keine \u201eGef\u00fchlst\u00f6ne\u201c, sondern \u201eGef\u00fchle\u201c, die von einem Verh\u00e4ltnis auf ein anderes \u00fcbertragen werden. Wir wollen die Erscheinung nun n\u00e4her betrachten.\n351. Als Beispiel von der Verschiebung des Gef\u00fchls wird gew\u00f6hnlich die bekannte Thatsache genannt, dafs der Geizhals anf\u00e4nglich meistens gar nicht das Geld um des Geldes wegen sammelte, sondern nur als Mittel zur Erreichung irgend eines Zweckes. W\u00e4hrend des best\u00e4ndigen Strebens nach Gold wird indes der urspr\u00fcnglich beabsichtigte Zweck vergessen, und nun wird das fortw\u00e4hrende Anh\u00e4ufen des Geldes selbst Zweck. Die anfangs mit einem gewissen Vorstellungsinhalt verbundene Lust, die das Streben nach demselben verursachte, hat sich also im Laufe der Zeit auf das Mittel, das Geld, verschoben, durch welches der Zweck erreicht werden sollte, und nun wird dieses deshalb erstrebt. Wie man leicht sieht, ist dieses Beispiel nur ein spezieller Fall. Auf jedem beliebigen Gebiete wird man beobachten k\u00f6nnen, dafs das, was urspr\u00fcnglich nur als Mittel interessiert, allm\u00e4hlich selber Zweck werden kann. Ein Mann der Wissenschaften, welcher w\u00e4hrend seiner Arbeit ein Problem antrifft, dessen L\u00f6sung eine notwendige Bedingung f\u00fcr das Erreichen seines eigentlichen Zweckes ist, kann, wenn die neue Frage sich nicht im Vor\u00fcbergehen l\u00f6sen l\u00e4fst, seinen urspr\u00fcnglichen Zweck v\u00f6llig aus den Augen verlieren und sich vielleicht lange Zeit hindurch in den neuen vertiefen. Und nicht das Geringste verhindert, ja es lassen sich sogar wohl historische Beispiele anf\u00fchren, dafs ein Forscher auf diese Weise ganz aus seiner Bahn gebracht wurde, so dafs er nie wieder zu seiner urspr\u00fcnglichen Besch\u00e4ftigung zur\u00fcckkehrte. Denselben Fall haben","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nwir, wenn ein Arbeiter sich an die Konstruktion einer Maschine macht, die ihm die Ausf\u00fchrung einer bestimmten Arbeit erleichtern soll und hierdurch in das Konstruieren von Maschinen ger\u00e4t, so dafs er vielleicht mit der Sache, die von Anfang an die Triebfeder war, gar nichts mehr zu thun bekommt. Ein ferneres Aufz\u00e4hlen solcher Beispiele m\u00f6chte \u00fcberfl\u00fcssig sein ; allen diesen F\u00e4llen ist es gemeinsam, dafs ein Gef\u00fchl von dem, was urspr\u00fcnglich Zweck ist, auf das, was urspr\u00fcnglich Mittel ist, verschoben, \u00fcbertragen wird, so dafs der eigentliche Zweck zuletzt gar nicht mehr interessiert.\n852. Es d\u00fcrfte nun indes die grofse Frage sein, ob wir hier \u00fcberhaupt von einer \u201eVerschiebung\u201c eines Gef\u00fchlstones reden k\u00f6nnen. Eine solche liefse sich vielleicht annehmen, wenn die Vorstellungen, auf welche der Gef\u00fchlston \u00fcbertragen werden sollte, von Anfang an unbetont gewesen w\u00e4ren, dies werden sie gew\u00f6hnlich aber nicht sein. Wer ein Geizhals geworden ist, weil er etwa Lust f\u00fchlte, sich in kostspielige Ausschweifungen zu st\u00fcrzen, zu denen ihm vorl\u00e4ufig das erforderliche Geld fehlte, hat es von Anfang an ganz sicher als etwas sehr Unangenehmes gef\u00fchlt, dieses verdienen zu m\u00fcssen. Die Vorstellung vom Gelde ist in einem fr\u00fcheren Stadium, gerade weil er dessen ermangelte, mit nichts weniger als Lustgef\u00fchlen verbunden gewesen. Mit einem bestimmten Zweck vor Augen hat er sich jedoch an die Arbeit gemacht : Geld anzuh\u00e4ufen. Der psychische Prozefs, der nun im Laufe der Zeit vorgeht, mufs ein doppelter sein; nicht nur mufs das Lustgef\u00fchl vom Zweck aufs Mittel verschoben werden, sondern auch die mit der Vorstellung vom Mittel verbundene Unlust mufs verdr\u00e4ngt werden. Dieser Prozefs l\u00e4fst sich aber viel nat\u00fcrlicher erkl\u00e4ren als durch die Annahme einer wirklichen \u00dcbertragung oder Verdr\u00e4ngung. Denn Geld wird ja nur durch Th\u00e4tigkeit erworben. Und wie jede andere Arbeit, die gelingt, bringt auch diese ihre eigene Befriedigung mit sich. Jeder kleine Erfolg erweckt Lust, und der Arbeitende betrachtet das Erworbene mit einer Freude, die durchaus keiner anderen Vorstellung entlehnt oder aus derselben \u00fcbertragen zu sein braucht, die aber ihre nat\u00fcrliche Ursache darin findet, dafs sie das Resultat einer Th\u00e4tigkeit ist. Anfangs mag mit dieser Freude wohl noch die Vorstellung verbunden sein, wozu das Geld gebraucht werden sollte, wenn man dessen erst genug h\u00e4tte ; ist die Arbeit aber durch Gewohnheit allm\u00e4hlich zur","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"Scheinbare Verschiebung der Gef\u00fchle.\n271\nNatur geworden, so verlieren die urspr\u00fcnglich anreizenden Vorstellungen ihre Anziehungskraft, und zur\u00fcck bleibt nur die Freude \u00fcber das Gold als das durch die Arbeit Erworbene, sowie das Bed\u00fcrfnis, mehr zu verdienen. Ob der Mensch nun aber ein Geizhals wird oder sein Geld auf vern\u00fcnftige Weise gebraucht, m\u00f6chte wohl von mehreren \u00e4ufseren und inneren Umst\u00e4nden abh\u00e4ngig sein, von der Erziehung, der Anstrengung, die der Erwerb des Verm\u00f6gens gekostet hat, der Intelligenz, dem Kenntnisreichtum und dem hierdurch bedingten Reichtum oder Mangel an Interessen. Es leuchtet ein, dafs ein schwach begabter, ungebildeter Mensch, der sein Verm\u00f6gen m\u00fchselig Pfennig auf Pfennig zusammengescharrt hat, weit gr\u00f6fsere Aussicht hat, vollst\u00e4ndig im Gelderwerb aufzugehen und sich in diesem zu verlieren, als ein intelligenter, kenntnisreicher Mann, der neben einer uners\u00e4ttlichen Geldgier und trotz des fortw\u00e4hrenden Strebens, diese zu befriedigen, dennoch andere Interessen bewahren kann. Wie jemand aber seinen erworbenen Besitz gebraucht oder auch nicht gebraucht, damit hat die scheinbare Verschiebung des Gef\u00fchls nat\u00fcrlich gar nichts zu thun.\tDie Hauptsache ist, dafs das, was urspr\u00fcnglich nur\nMittel war, zuletzt selber Zweck werden kann; es m\u00f6ge nun aber der einzige Zweck werden oder andere Interessen neben sich bestehen lassen, so ist leicht zu ersehen, dafs man durchaus keine mystische Verschiebung emotioneller Elemente von der einen auf die andere Vorstellung anzunehmen braucht, um dies zu erkl\u00e4ren. Das Mittel wird selbst Zweck wegen der Lust, die es auf nat\u00fcrliche M eise erregt, indem es durch Arbeit erk\u00e4mpft wird. Und wie in diesem, so in allen anderen F\u00e4llen. Wenn ein Mann der Wissenschaften, um ein Problem zu l\u00f6sen, mehrere Jahre anwenden mufs, um sich gr\u00fcndlich in Zweige der Wissenschaft hineinzuarbeiten, mit denen er sich bisher nicht abgegeben hat, ist es nicht zu bezweifeln, dafs er eine solche Unterbrechung seiner eigentlichen Studien anfangs als eine sehr grofse Unannehmlichkeit f\u00fchlt. Entschlielst er sich aber dennoch aus R\u00fccksicht auf seinen Zweck hierzu, und geht er nun allm\u00e4hlich mit v\u00f6lliger Befriedigung in seiner neuen Arbeit auf, so braucht man keine wirkliche Verschiebung der Gef\u00fchlst\u00f6ne anzunehmen. Dieselbe Freude, die ihm von Anfang an wissenschaftliche Probleme der einen Art verschafften, wird er nach und nach f\u00fchlen, wenn er sich mit anderen wissenschaftlichen Untersuchungen besch\u00e4ftigt,","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nweil auch diese an und f\u00fcr sich die Quelle intellektueller Lust sein k\u00f6nnen. Und wenn die neuen Interessen zuletzt die alten g\u00e4nzlich verdr\u00e4ngen , so geschieht dies nicht, weil das Gef\u00fchl sich von diesen auf jene verschoben hat, sondern weil ein neues, selbst\u00e4ndiges und kr\u00e4ftiges Gef\u00fchl das Bewufstsein beherrscht.\n353. Dafs es sich wirklich so verh\u00e4lt, ist am besten aus den F\u00e4llen zu ersehen, in welchen es dem Mittel nie gelingt, selbst Zweck zu werden. Wie viele Menschen \u00fcbernehmen nicht irgend eine einbringende Arbeit, der sie niemals Interesse abzugewinnen verm\u00f6gen, nur um hierdurch die erforderlichen Geldmittel zu erwerben, damit sie betreiben k\u00f6nnen, was sie wirklich interessiert? Wir lernen hieraus, dafs der zu einem verlockenden Ziel f\u00fchrende Weg selbst durchaus nicht ansprechend zu sein braucht. Erzeugt nicht die Arbeit an und f\u00fcr sich eine gewisse Lust, so werden wir gar nicht die Erscheinung erblicken, die sich als die Verschiebung eines Gef\u00fchls ausnimmt. Eine wirkliche Verschiebung eines Gef\u00fchls kommt zweifelsohne vor und hat, wie wir im Folgenden sehen werden, auch eine grofse praktische Bedeutung, diese wird aber wohl sehr h\u00e4ufig \u00fcbersch\u00e4tzt. Wenn ein Kind, das nie eine eigentliche Arbeit ausgef\u00fchrt hat, das Lesenlernen anfangen soll, f\u00fchlt es diese Unterbrechung des Spielens gew\u00f6hnlich als etwas h\u00f6chst Unangenehmes , und die meisten str\u00e4uben sich mit H\u00e4nden und Ftifsen gegen die Gelahrtheit. Um nun das Kind zur Arbeit zu locken, bedient man sich h\u00e4ufig des Verfahrens, ihm ein Buch mit interessanten Bildern zu zeigen, und wenn es nun um deren Erkl\u00e4rung bittet, erz\u00e4hlt man, diese sei im Buche zu lesen. Indem man auf diese Weise h\u00e4ufig ein lockendes Ziel aufstellt, bewegt man allerdings das Kind zum Aufgeben seines Widerstandes, ist die Arbeit darum aber notwendigerweise angenehm geworden? Selbst ziemlich kleine Kinder kann man durch das Versprechen einer Belohnung bewegen, etwas zu thun, wozu sie keine Lust haben; sie k\u00f6nnen \u00fcber der Aussicht einer sp\u00e4teren und gr\u00f6fseren Lust die augenblickliche Unlust vergessen, darum wird die Arbeit selbst ihnen aber nicht lustig. Das wird sie offenbar erst dann, wenn man durch irgend eine Vorspiegelung die Arbeit zu einem Spiel verwandeln kann, dann ist die Lust aber ja ein selbst\u00e4ndiges, neues Lustgef\u00fchl und nicht aus irgend etwas anderem \u00fcbertragen. Unser Ergebnis wird also :","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"Wirkliche Verschiebung von Gef\u00fchlen.\n273\n354.\tEine wirkliche Verschiebung eines Gef\u00fchls findet schwerlich in den F\u00e4llen statt, in iceichen das urspr\u00fcnglich nur als Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zweckes Erstrebte w\u00e4hrend der Arbeit seihst Ziveck wird. Da jede gelungene Arbeit ihre besondere Lust erzeugt, ivird ein solches Gef\u00fchl, wenn* es hinl\u00e4nglich stark und andauernd wird, das vorige verdr\u00e4ngen k\u00f6nnen. Dieses Verh\u00e4ltnis ist cdso nur ein spezieller Fall des allgemeinen Gesetzes, dafs ein starkes Gef\u00fchl die Aufmerksamkeit von den schw\u00e4cheren ahlenkt und somit im Eeivufstsein alleinherrschend wird [286].\n355.\tEin wenig anders stellt sich die Sache in einer umfassenden Gruppe von F\u00e4llen, die f\u00fcr die Entwickelung des Gef\u00fchlslebens von gr\u00f6fster Bedeutung sind, \u00fcberall da n\u00e4mlich, wo an Abstraktionen oder Gemein Vorstellungen Gef\u00fchlst\u00f6ne gebunden sind. Wenn jemand \u201eHunde liebt\u201c, so sind es nat\u00fcrlich nicht Hunde im allgemeinen, als Gattung betrachtet, die seine Gef\u00fchle urspr\u00fcnglich in Bewegung setzten, da die Hundegattung als solche ja nirgends existiert. Was ihm anf\u00e4nglich Freude verschaffte, sind eine gewisse Anzahl wirklich existierender Exemplare der Gattung; dieses Gef\u00fchl ist aber allm\u00e4hlich anscheinend auf das Wort Hund verschoben, mit demselben verbunden worden, so dafs dieses nicht genannt werden kann, ohne eine st\u00e4rkere oder schw\u00e4chere Lust zu erregen. Ebenso verh\u00e4lt es sich mit der Liebe zur Wissenschaft, zum Vaterland u. s. w. Die Wissenschaft als Totalit\u00e4t hat nie einem Menschen Freude verschafft, das k\u00f6nnen nur die einzelnen wissenschaftlichen Probleme, und das Vaterland als Inbegriff der Sprache, Geschichte, der Menschen, der Natur und Kultur existiert gewissermafsen ja gar nicht als Objekt menschlicher Gef\u00fchle. Wenn das Wort nichtsdestoweniger schon durch das Genanntwerden allein lebhafte Begeisterung zu erwecken vermag, so mufs also eine Art Verschiebung des Gef\u00fchlstones von den vielen konkreten, lustbetonten Vorstellungen, welche dieses Wort umfafst, auf den Namen selbst vorgegangen sein. Die Frage wird also die: wie kann eine solche scheinbare Verschiebung der Gef\u00fchlst\u00f6ne von einzelnen, konkreten, lust- oder unlustbetonten Vorstellungen auf eine Gemeinvorstellung stattfinden?\nSoweit ich zu sehen vermag, l\u00e4fst auch diese Erscheinung sich, ohne dafs man eine neue Annahme aufzustellen brauchte, aus bekannten Gesetzen der Vorstellungsassociation in Verbindung mit den Gesetzen des Zusammenwirkens der Gef\u00fchle erkl\u00e4ren.\nLehmann, Die Gef\u00fchle.\t18","page":273},{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"274\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nDurch best\u00e4ndige Wiederholung karln sich, wie wir wissen, zwischen einem Namen und allen einzelnen, vom Namen um-fafsten Vorstellungen eine feste Association bilden. Wenn das Kind die Geschichte des Vaterlandes lernt, und der Unterricht \u00fcbrigens auf geeignete Weise getrieben wird, so werden sich nach und nach mit dem Namen \u201eVaterland\u201c ein Gew\u00fchl erfreulicher und trauriger Vorstellungen verbinden, die beim Nennen des Wortes reproduziert werden. Einige werden klar, andere ziemlich dunkel hervortreten, je nachdem sie sich dem Bewufst-sein mehr oder weniger fest eingepr\u00e4gt haben, jede wird aber von ihrem Gef\u00fchlston begleitet sein. Diese Gef\u00fchlst\u00f6ne k\u00f6nnen allerdings, bis auf einzelne Ausnahmen, von nur geringer St\u00e4rke sein, weil die Vorstellungen, an welche sie gebunden sind, durchweg undeutlich sind, und zufolge des Gesetzes von der Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchlstones von der St\u00e4rke der Vorstellungen [240] k\u00f6nnen\nmit undeutlichen und schwachen Vorstellungen nur schwache Gef\u00fchle verbunden sein. Indem diese aber miteinander verschmelzen [331], wird ihre grofse Anzahl bewirken, dafs ein sehr intensives Gef\u00fchl entsteht [333], und da die einzelnen Elemente dieses Gef\u00fchls in sehr verschiedenen Beziehungen zu einander stehen, so dafs sie teils Gef\u00fchlsmischungen, teils zusammengesetzte Gef\u00fchle bilden k\u00f6nnen [327], verstehen wir, dafs das gesamte resultierende Gef\u00fchl eben den eigent\u00fcmlichen komplexen, nicht zu beschreibenden Charakter erhalten mufs, welcher der Vaterlandsliebe und den anderen Gef\u00fchls \u201emass en\u201c, die gew\u00f6hnlich Liebe genannt werden, gemeinsam ist. \u2014 So wie es hier an einem einzelnen Beispiele nachgewiesen wurde, mufs es sich auch mit der Liebe zur Wissenschaft und \u00fcberhaupt mit allen denjenigen Gef\u00fchlen verhalten k\u00f6nnen, deren Objekte keine einzelne Grofse, sondern eine Mehrheit, ein Inbegriff konkreter und abstrakter Gr\u00f6fsen sind. In allen F\u00e4llen ist es der die Mehrheit repr\u00e4sentierende Name, der eine Reihe betonter Vorstellungen von gr\u00f6sserer oder geringerer Klarheit reproduziert, und durch Verschmelzung aller dieser Gef\u00fchle, den bekannten\nGesetzen gern\u00e4fs, wird dann die bez\u00fcgliche Gef\u00fchlsmasse gebildet.\n356. In dem zuletzt erw\u00e4hnten Falle k\u00f6nnen wir schon mit einigem Recht von einer Verschiebung der Gef\u00fchle reden, insofern ein gewisser Name oder ein gewisses Verh\u00e4ltnis dadurch einen Gef\u00fchlsinhalt erhalten kann, dafs er sich mit schon","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"N\u00e4here Formulierung des Problems.\n275\nbestehenden Gef\u00fchlen associiert. Deutlicher tritt die Verschiebung indes in konkreteren F\u00e4llen auf. Im Vorhergehenden wurde schon ein Beispiel in dieser Richtung gelegentlich angef\u00fchrt [320]. Das Gef\u00fchl der Sympathie oder der Antipathie, das man urspr\u00fcnglich f\u00fcr eine bestimmte Person gehegt hat, kann, ohne dafs das Individuum sich der Ursache bewufst w\u00e4re, auf eine andere Person, die mit ersterer nur eine gewisse \u00e4ufsere \u00c4hnlichkeit hat, \u00fcbertragen werden. Dergleichen \u00dcbertragungen bieten uns viele Gegenst\u00e4nde dar, die Affektions wert f\u00fcr uns besitzen. Andere Beispiele findet man in solchen F\u00e4llen eines perversen Geschlechtstriebes, die nicht eigentlich krankhaft zu nennen sind. W\u00e4hrend der Sexualaffekt eines normalen Menschen nur unter gewissen Verh\u00e4ltnissen durch Betrachtung eines Individuums anderen Geschlechts hervorgerufen wird, f\u00fchrt Hammond mehrere F\u00e4lle an, in welchen der Affekt nicht auf normale W eise ausgel\u00f6st wurde, sondern durch die Betrachtung gewisser weiblichen Kleidungsst\u00fccke, mit denen derselbe sonst nichts zu thun hat1)- Hier liegt offenbar eine wirkliche Verschiebung eines Gef\u00fchlszustandes von der einen Vorstellung auf eine andere vor, was ferner daraus hervorgeht, dafs es, wenigstens in zwei F\u00e4llen, den betreffenden Individuen gelang, die abnormen Associationen im Laufe der Zeit aufzul\u00f6sen. Als Resultat dieser Betrachtungen k\u00f6nnen wir also festhalten:\n357.\tEine Verschiebung eines Gef\u00fchlstones findet nie statt. Dagegen kann von der wirklichen Verschiebung eines Gef\u00fchls die Bede sein, insofern ein zusammengesetzter Gef\u00fchlszustand, der urspr\u00fcnglich nur durch eine gewisse Vorstellung hervorgerufen wurde, auf verschiedene Weisen in entsprechende Beziehung zu anderen Vorstellungen gebracht werden kann.\n\u2022 \u2022\nDer Ursprung der k\u00f6rperlichen Aufserungen der Affekte.\n358.\tBevor wir diese Untersuchungen \u00fcber die speziellen Gesetze der Gef\u00fchle abschliefsen, m\u00fcssen wir noch bei einem einzelnen Punkte von grofser Bedeutung und grofsem Interesse verweilen. In der gesamten vorhergehenden Entwickelung ber\u00fccksichtigten wir n\u00e4mlich fast ausschliefslich diejenigen Zust\u00e4nde,\ni) Hammond: Sexuelle Impotenz. Deutsche Ausgabe von Salinger. Berlin 1889. S. 23\u201428, 46 u. f.\n18*","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\ndie man im t\u00e4glichen Leben die \u201eeigentlichen\u201c Gef\u00fchle nennen w\u00fcrde, d. h. solche emotionellen Erscheinungen, die nicht den Charakter des Affekts tragen. Und nannten wir .ausnahmsweise Freude, Kummer, Zorn oder dergl. als Beispiele in irgend einer Richtung, so geschah dies, indem wir stets von dem abstrahierten, was diesen Zust\u00e4nden ihr besonderes Gepr\u00e4ge als Gem\u00fctsbewegungen verleiht. Mit anderen Worten, wir ber\u00fccksichtigten vorz\u00fcglich das prim\u00e4re Gef\u00fchl der Gem\u00fctsbewegung, die urspr\u00fcngliche Vorstellung mit der an dieselbe gebundenen Lust oder Unlust, w\u00e4hrend der Hauptpunkt, die \u00c4nderungen des Lebensgef\u00fchls aufser Betracht blieb. Nun stellt sich jedoch\nganz nat\u00fcrlich die Frage ein: wie sind alle diese eigent\u00fcmlichen \u2022 \u2022\n\u00c4nderungen des Lebensgef\u00fchls aufzufassen? Haben wir hier mit etwas ganz Neuem zu schaffen, das sich den bisher bekannten psychologischen oder psychophysischen Gesetzen nicht unterstellen l\u00e4fst, und dem wir deshalb vorl\u00e4ufig machtlos gegen\u00fcberstehen, oder sollten nicht innerhalb der bislang untersuchten Seiten des Seelenlebens Gesetze gefunden sein, die ausdehnbar genug w\u00e4ren, um auch diese eigent\u00fcmlichen Erscheinungen umfassen und erkl\u00e4ren zu k\u00f6nnen? Dafs dies innerhalb der Grenzen der M\u00f6glichkeiten liegen mufs, scheint daraus hervorzugehen, dafs die Affekte den Gef\u00fchlen in psychologischer Beziehung \u00e4ufserst nahe stehen, obschon sie in allerh\u00f6chstem Grade kompliziert sind. Und ist es uns wirklich gelungen, durch unsere vorhergehenden Untersuchungen allenfalls die Hauptgesetze f\u00fcr die gegenseitige Einwirkung der intellektuellen und emotionellen Elemente aufeinander und f\u00fcr die Verbindungen , die sie miteinander schliefsen k\u00f6nnen, nachzuweisen, so m\u00fcssen diese Gesetze uns bef\u00e4higen, die komplizierten Erscheinungen zu erkl\u00e4ren. Es kann also als eine Art Probe der Richtigkeit und Vollst\u00e4ndigkeit des vorher Entwickelten betrachtet werden, ob wir mittels desselben eine befriedigende Erkl\u00e4rung der Gem\u00fctsbewegungen zu geben verm\u00f6gen.\n359. Es m\u00f6chte nun am geeignetsten sein, bevor wir uns im Labyrinth der Gem\u00fctsbewegungen einen Weg zu entwirren suchen, den Punkt kurz zu pr\u00e4cisieren, an welchen unsere fr\u00fcheren kritischen und experimentellen Untersuchungen uns gef\u00fchrt haben. Wir fanden, dafs die Physiologen w\u00e4hrend der j\u00fcngsten Zeit geneigt sind, eine Kopernikanische Revolution in der Lehre von den Affekten zu bewerkstelligen. W\u00e4hrend man","page":276},{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"N\u00e4here Formulierung des Problems.\n277\nbisher das Verh\u00e4ltnis zwischen dem Affekt und den begleitenden k\u00f6rperlichen \u00c4ufserungen so auffafste, als sei der Seelenzustand die Ursache, die k\u00f6rperlichen Aufserungen die Wirkungen, wollen die Physiologen die Sache umkehren: die k\u00f6rperlichen Aufserungen sollen das Urspr\u00fcngliche, die Gem\u00fctsbewegung, der Seelenzustand, nur von den organischen St\u00f6rungen herr\u00fchrende Empfindungen und Gef\u00fchle sein. In dieser Auffassung m\u00fcssen wir den Physiologen insofern beistimmen, als es gar nicht denkbar ist, dafs starke organische St\u00f6rungen verlaufen sollten, ohne zum Bewufstsein zu \u2022kommen; sie m\u00fcssen sich notwendigerweise als \u00c4nderungen des Lebensgef\u00fchls melden, und da nun \u00fcberdies viele der psychischen Eigent\u00fcmlichkeiten der Affekte sich als betonte Empfindungen der thats\u00e4chlich stattfindenden organischen \u00c4nderungen erkl\u00e4ren lassen, so ist wohl kaum zu bezweifeln, dafs es wirklich die motorischen \u00c4nderungen sind, die den Gem\u00fctsbewegungen den Charakter verleihen. Wir k\u00f6nnen uns den Physiologen indes doch nicht v\u00f6llig anschliefsen, wenn sie \u00fcbersehen, dafs zwischen den Affekten ein nicht unwesentlicher Unterschied hinsichtlich ihres Ursprungs besteht. Allerdings k\u00f6nnen Affekte auf rein physischem Wege, durch Krankheiten des Nervensystems, Vergiftungen u. dergl. hervorgerufen werden, am h\u00e4ufigsten entstehen sie aber doch auf psychischem V ege, indem ein prim\u00e4res, durch sinnliche Wahrnehmung oder durch die Erinnerung erregtes Gef\u00fchl auf die motorischen Zentren wirkt. Die Kopernikanische Revolution l\u00e4fst sich also nicht vollst\u00e4ndig durchf\u00fchren. Die k\u00f6rperlichen Aufserungen sind f\u00fcr uns zwar keine zuf\u00e4lligen Erscheinungen, die mit dem Seelenzustande nichts Wesentliches zu thun h\u00e4tten, sie sind aber in allen normalen Affekten dennoch als durch einen psychophysischen Zustand, durch das Gef\u00fchl verursacht zu betrachten. Und die Frage wird dann die: weshalb erzeugt die eine unangenehme Vorstellung solche motorischen \u00c4nderungen, die dem Seelenzustande den Charakter des Zornes geben, w\u00e4hrend eine andere dagegen St\u00f6rungen verursacht, die uns Kummer f\u00fchlen lassen, eine dritte den Zustand bewirkt, den wir T\u00e4uschung nennen u. s. w.? Oder mit anderen Worten: weshalb rufen die verschiedenen angenehmen oder unangenehmen Vorstellungen, die uns im Leben begegnen, so verschiedene motorische St\u00f6rungen hervor? Diese Frage ist noch nicht beantwortet, und bevor","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"278\tDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\ndies geschehen istr k\u00f6nnen wir nicht mit Recht sagen, wir h\u00e4tten die Gem\u00fctsbewegungen erkl\u00e4rt.\n360. Wie man sieht, stehen wir noch auf demselben Standpunkte wie Darwin, als er die Frage aufwarf, weshalb die\neinzelnen Gem\u00fctsbewegungen gerade die bestimmten, erfahrungs-\n\u2022 \u2022\nm\u00e4fsig gegebenen k\u00f6rperlichen Aufserungen bewirkten; nur sehen wir die Erscheinungen ein wenig klarer als Darwin. Es ist nicht der gesamte Seelenzustand, den wir als die Ursache der k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen betrachten k\u00f6nnen, sondern nur ein gewisser Teil desselben, das prim\u00e4re Gef\u00fchl n\u00e4mlich. Weil man aber eingesehen hat, dafs die wirkliche Ursache nur ein Bruchteil dessen ist, was man fr\u00fcher als die Ursache betrachtete, f\u00e4llt die Frage doch nicht weg: weshalb eben diese Wirkungen? Hier gibt es noch ein Problem, und das haben die Physiologen denn auch zugegeben, obschon ziemlich Vorbehalten. In dem oben citierten und kritisierten Werke von Lange, der gegenw\u00e4rtig wohl der Hauptvertreter der physiologischen Auffassung der Affekte ist, sahen wir gerade, wie der Verfasser damit abschlofs, dafs er einen kleinen Anlauf zu einer Erkl\u00e4rung machte, wie eine Vorstellung eine Gem\u00fctsbewegung hervorrufen k\u00f6nne [90]. Dieser Versuch konnte indes der Natur der Sache zufolge nur ein zweifelhaftes Resultat geben, weil der Verfasser die Durchf\u00fchrung einer rein physiologischen Erkl\u00e4rung bezweckte, und da die Nervenphysiologie nicht die geringste Ahnung davon hat, welche Verschiedenheit zwischen den verschiedene Vorstellungen erregenden Nervenbewegungen im Gehirn existiert, vermochte der Verfasser die Erkl\u00e4rung nur an einem ganz speziellen und sehr alleinstehenden Beispiel durchzuf\u00fchren. Nehmen wir die Sache dagegen psychologisch, so stellt sich das Verh\u00e4ltnis bedeutend g\u00fcnstiger. Die Selbstbeobachtung lehrt uns, dafs die Vorstellungen, die z. B. Zorn erwecken, anderer Art sind als diejenigen, welche Abscheu erregen, und diese weichen wieder bedeutend von denen ab, die Kummer verursachen u. s. f. Wir kennen also die psychische Verschiedenheit der prim\u00e4ren Gef\u00fchle der verschiedenen Affekte, und da wir zugleich zum Teil die k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen kennen, welche die einzelnen Gem\u00fctsbewegungen charakterisieren, mufs es m\u00f6glich sein, f\u00fcr das Verh\u00e4ltnis zwischen den prim\u00e4ren Gef\u00fchlen und den dieselben begleitenden motorischen \u00c4nderungen Gesetze zu finden.","page":278},{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"Ansichten Darwins.\n279\n361. Unsere erste Aufgabe wird es also, nachzuweisen, wrelchen Gesetzen gem\u00e4fs das prim\u00e4re Gef\u00fchl die k\u00f6rperlichen \u00c4ufserungen hervorruft, die den einzelnen Gem\u00fctsbewegungen ihren Charakter verleihen. Der bedeutendste und wohl der einzige vollst\u00e4ndig durchgef\u00fchrte Versuch in dieser Richtung ist Darwins bekanntes Werk. Trotzdem, dafs unsere Auffassung der Sache etwas von der seinigen abweicht, haben wir doch zweifelsohne viel von diesem genialen Forscher zu lernen, und wir wollen deshalb sein Werk zum Ausgangspunkt nehmen und durch eine Kritik der von ihm aufgestellten Gesetze eine richtigere, unserer Grundauffassung mehr angemessene Erkl\u00e4rung zu er-\nreichen suchen.\n362. Im ersten Kapitel des genannten Werkes1) stellt Darwin drei Prinzipien oder Gesetze auf, die er \u00fcberall zur Erkl\u00e4rung der k\u00f6rperlichen \u00c4ufserungen der einzelnen Affekte verwertet. Diese Gesetze werden folgendermafsen formuliert und n\u00e4her entwickelt :\n\u201eI. Das Prinzip zweckm\u00e4fsiger associierter Gewohnheiten. \u2014 Gewisse komplizierte Handlungen sind unter gewissen Seelenzust\u00e4nden von direktem oder indirektem Nutzen, um gewisse Empfindungen, W\u00fcnsche u. s. w. zu erleichtern oder zu befriedigen; und sobald nur immer derselbe Seelenzustand herbeigef\u00fchrt wird, so schwach dies auch geschehen mag, so ist infolge der Macht der Gewohnheit und der Association eine Neigung vorhanden, dieselben Bewegungen auszuf\u00fchren, wenn sie auch in dem gegebenen Falle nicht von dem geringsten Nutzen sind. Einige in der Regel durch Gewohnheiten mit gewissen Seelenzust\u00e4nden associierte Handlungen k\u00f6nnen teilweise durch den Willen unterdr\u00fcckt werden, und in derartigen F\u00e4llen sind die Muskeln, welche am wenigsten unter der besondern Kontrolle des Willens stehen, diejenigen, welche am meisten geneigt sind, doch noch th\u00e4tig zu werden und damit Bewegungen zu veranlassen , welche wir als expressive anerkennen. In gewissen andern F\u00e4llen erfordert das Unterdr\u00fccken einer gewohnheits-gem\u00e4fsen Bewegung andere unbedeutende Bewegungen, und diese sind gleicherweise ausdrucksvoll.\u201c\n\u201eII. Das Prinzip des Gegensatzes. \u2014 Gewisse Seelenzust\u00e4nde f\u00fchren zu bestimmten gewohnheitsgem\u00e4fsen Handlungen, welche\nj) Ausdruck der Gem\u00fctsbewegungen. 1884. S. 24\u201425.","page":279},{"file":"p0280.txt","language":"de","ocr_de":"280\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nnach unserem ersten Prinzip, zweckm\u00e4fsig sind. Wenn nun ein direkt entgegengesetzter Seelenzustand herbeigef\u00fchrt wird, so tritt eine sehr starke und unwillk\u00fcrliche Neigung zur Ausf\u00fchrung von Bewegungen einer direkt entgegengesetzten Natur ein, wenn , auch dieselben von keinem Nutzen sind, und derartige Bewegungen sind in manchen F\u00e4llen \u00e4ufserst ausdrucksvoll.\u201c\n\u201eIII. Das Prinzip, dafs Handlungen durch die Konstitution des Nervensystems verursacht werden, vom Anfang unabh\u00e4ngig vom Willen und in einer gewissen Ausdehnung unabh\u00e4ngig von der Gewohnheit. \u2014 Wenn das Sensorium stark erregt wird, so wird Nervenkraft im \u00dcbersch\u00fcsse erzeugt und in gewissen bestimmten Richtungen weitergeleitet, welche zum Teil von dem Zusammenh\u00e4nge der Nervenzellen, zum Teil von der Gewohnheit abh\u00e4ngen, oder die Zufuhr der Nervenkraft kann allem Anscheine nach unterbrochen werden. Es werden hierdurch Wirkungen hervorgebracht, welche wir als ausdrucksvoll anerkennen. Dies dritte Prinzip kann der K\u00fcrze wegen das der direkten Th\u00e4tigkeit des Nervensystems genannt werden.\u201c\n363. Diese Gesetze gehen wir nun jedes f\u00fcr sich kritisch ! durch und machen den Anfang mit dem \u201ePrinzip des Gegensatzes\u201c, das gleich beim ersten Anblick gewisses Mifstrauen erregen mufs. Dumont hat bereits eine so scharfe und treffende Kritik dieses Prinzips gegeben, dafs sich wohl nichts Besseres sagen l\u00e4fst, und ich werde mich daher auf die Wiedergabe seiner Worte beschr\u00e4nken: \u201eWir r\u00e4umen das erste und letzte dieser Prinzipien ein, aber das Prinzip der Antithese erscheint uns eine rein \u00fcberfl\u00fcssige Hypothese zu sein in Anbetracht, dafs alle von Da rAvin auf das Prinzip zur\u00fcckgef\u00fchrten Erscheinungen des Ausdrucks viel nat\u00fcrlicher durch die beiden andern Prinzipien erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnen.\u201c\n\u201eUnd zun\u00e4chst, \\\\ras versteht Darwin unter Antithese? Diese Bezeichnung bedeutet sicherlich nicht, dafs Affekte entgegengesetzter Art, begleitet \\ron ihnen entsprechenden W\u00fcnschen, durch entgegengesetzte Geb\u00e4rden ausgedr\u00fcckt Averden m\u00fcssen, weil sie gerade entgegengesetzten Zielen zustreben. Wenn es sich blofs darum handelte, so w\u00fcrden diese Vorg\u00e4nge zu der Gruppe der n\u00fctzlichen Ph\u00e4nomene z\u00e4hlen. Die beiden entgegengesetzten BeAvegungen w\u00fcrden sich genau auf dieselbe Weise erkl\u00e4ren. Auf beiden Seiten w\u00e4ren gleichm\u00e4fsig Geb\u00e4rden vorhanden, Avelche zur Befriedigung der W\u00fcnsche des Individuums","page":280},{"file":"p0281.txt","language":"de","ocr_de":"Kritik der Darwinschen Ansichten.\n281\ndienten, und die sich nur insofern voneinander unterschieden, als die Bed\u00fcrfnisse verschiedener Art w\u00e4ren. Ebensowenig hat Darwin sagen wollen, dafs Lust und Schmerz, indem sie auf eine entgegengesetzte Weise auf das Nervensystem einwirken, sich auch durch diametral entgegengesetzte Bewegungen \u00e4ufsern m\u00fcssen, denn er erkl\u00e4rt die Thatsachen dieser Beschaffenheit durch sein drittes Prinzip. Aber er hat sich gedacht, dafs gewisse Thatsachen in der Geb\u00e4rdensprache oder Physiognomie, die einerseits zwecklos f\u00fcr die Befriedigung eines Wunsches und anderseits v\u00f6llig unabh\u00e4ngig von dem Einfl\u00fcsse der Lust und des Schmerzes sind, keinen andern Entstehungsgrund h\u00e4tten als eine urspr\u00fcngliche allgemeine Disposition, eine Gem\u00fctsbewegung mit Geb\u00e4rden zu begleiten, die denen gerade entgegengesetzt sind, welche dem umgekehrten Affekte zum Ausdruck dienen. Gewisse Bewegungen, meint er, w\u00e4ren instinktiv und gewohnheits-m\u00e4fsig geworden, nicht weil sie urspr\u00fcnglich n\u00fctzlich und durch Auswahl bestimmt worden w\u00e4ren, nicht weil sie aus einem 1 \u00dcbermafse von Nervenerregung hervorgingen, das sich durchaus \u00e4ufsern mufs, nicht weil sie, wie bei der Ersch\u00f6pfung oder der Erm\u00fcdung, von einer Erschlaffung der Muskeln und einer ungen\u00fcgenden Erregung abzuleiten seien, sondern einzig weil sie die Gegens\u00e4tze zu andern Bewegungen bildeten. Ein solches Prinzip kann, wie uns scheint, in physiologischer Beziehung nicht gut zugelassen werden. Es hiefse dies den Ursprung positiver Gewohnheiten auf rein negative Ursachen zur\u00fcckf\u00fchren. Anderseits, wenn es auch leicht ist, zu bestimmen, was der Gegensatz irgend eines Urteiles oder irgend einer Idee ist, so l\u00e4fst sich durchaus nicht so leicht sagen, was der Gegensatz irgend eines bestimmten Affekts ist, in Anbetracht, dafs die Affekte nur allgemein h\u00f6chst zusammengesetzte Zust\u00e4nde sind. Was ist beispielsweise das Gegenteil der Hoffnung, d. h. des Affekts, der die Vorstellung eines m\u00f6glichen Gutes begleitet? Ist es das Gef\u00fchl der Befriedigung, welches der Verwirklichung dieser Vorstellung folgt? Ist es die Verzweiflung, d. h. der Wunsch eines unm\u00f6glichen Gutes? Ist es der Kummer, d. h. der\nWunsch nach einem vergangenen Gute? Ist es die Furcht,\n* \u2022\nd. h. die Besorgnis vor einem m\u00f6glichen \u00dcbel? Alle diese Affekte sind je nach dem Gesichtspunkte Gegens\u00e4tze des Verlangens nach einem m\u00f6glichen Gute. Welches ist derjenige von ihnen, dem es beschieden ist, durch Geb\u00e4rden ausgedr\u00fcckt zu","page":281},{"file":"p0282.txt","language":"de","ocr_de":"282\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nwerden, welche denjenigen diametral entgegenstehen, welche die Zeichen der Hoffnung sind ? \u2014 Aber das ernsthafteste Argument,, das wir gegen Darwin geltend zu machen haben, ist, dafs die von ihm zur Begr\u00fcndung seiner Theorie der Antithese angef\u00fchrten F\u00e4lle (die wenig zahlreich sind) eine ganz andere Erkl\u00e4rung zulassen\u201c 1). Dumont zeigt ferner, wie die wenigen Erscheinungen, die Darwin durch das Prinzip des Gegensatzes erkl\u00e4rt, sich auf das erste Prinzip zur\u00fcckf\u00fchren lassen, und es scheint daher kein Grund zu sein, dieses an und f\u00fcr sich r\u00e4tselhafte Gesetz, aufrecht zu halten. Es stehen also nur die beiden andern zur\u00fcck.\n864. Was nun das Gesetz der zweckm\u00e4fsigen associierten Gewohnheiten betrifft, so erkl\u00e4rt dieses offenbar gar nicht das, worauf es unserer Grundauffassung zufolge ankommt. Darwin erblickte das Charakteristische der Gem\u00fctsbewegungen noch durchweg in den \u00e4ufseren k\u00f6rperlichen Bewegungen* wie oben nach-gewiesen [187], sind diese indes gew\u00f6hnlich als ein Sekund\u00e4res zu betrachten. Sind die inneren organischen St\u00f6rungen, oder vielmehr alle diejenigen Ver\u00e4nderungen gegeben, welche wir eigentliche Gef\u00fchls\u00e4ufserungen nannten [184], so m\u00fcssen die \u00e4ufseren, bestimmt gerichteten Bewegungen der willk\u00fcrlichen Muskeln sich als triebm\u00e4fsige oder instinktive \u00c4ufserungen, als zweckm\u00e4fsige Bewegungen erkl\u00e4ren lassen, die auf das Ziel gerichtet sind, die durch die inneren organischen St\u00f6rungen hervorgerufenen Gef\u00fchle zu erhalten oder zu entfernen. Wie kommt aber dann das zu Grunde Liegende, die inneren organischen Ver\u00e4nderungen, zu st\u00e4nde ? Dies mufs Darwins drittes Gesetz beantworten k\u00f6nnen,, da dasselbe ja gerade von den Ver\u00e4nderungen handelt, die aus der Konstitution des Nervensystems entstehen. Hier l\u00e4fst Darwin uns aber im Stiche. Der Naturforscher des Evolutionismus bleibt,, so sonderbar es auch lautet, bei der Konstitution des Nervensystems als dem einmal Gegebenen stehen und gibt nur dann und wann Andeutungen, weshalb anzunehmen sei, dafs die verschiedenen Gem\u00fctsbewegungen das Nervensystem auf die erfahrungsm\u00e4fsig gefundene Weise angriffen. Nun haben diese Erkl\u00e4rungen f\u00fcr Darwin allerdings keine so grofse Bedeutung als f\u00fcr uns, da er die meisten und wesentlichsten Ph\u00e4nomene auf die beiden ersten Prinzipien zur\u00fcckf\u00fchrt, w\u00e4hrend nur einige\n1) Vergn\u00fcgen und Schmerz. S. 284\u201485.","page":282},{"file":"p0283.txt","language":"de","ocr_de":"Zweifache Erkl\u00e4rung m\u00f6glich.\n288\nisolierte F\u00e4lle, wie die Schamr\u00f6te, das Zittern und Schwitzen vor Angst, konvulsivische Bewegungen bei grofsen Schmerzen und einzelne andere auf die Konstitution des Nervensystems zur\u00fcckgef\u00fchrt werden. Dies ist f\u00fcr uns aber um so unangenehmer, weil Darwin mit anderen Worten gerade da Halt macht, wo das Problem unserer Ansicht nach beginnt. Weshalb rufen bestimmte Arten prim\u00e4rer Gef\u00fchle eben bestimmte innere organische St\u00f6rungen hervor? Weshalb wird z. B. die Vorstellung, ich habe durch das unfreiwillige Benehmen einer Person unter gewissen Verh\u00e4ltnissen unersetzlichen Schaden erlitten, nebst einer Gef\u00e4fsverengerung die Erschlaffung aller willk\u00fcrlichen Muskeln, hervorrufen, so dafs ich vor Kummer und Mutlosigkeit zusammensinke, w\u00e4hrend schon die Vermutung, die Person h\u00e4tte gerade, um mir zu schaden, so gehandelt, nebst dem Spasmus der Gef\u00e4fse augenblicklich eine Innervation einiger willk\u00fcrlichen Muskeln bewirkt, so dafs ich mit allen Anzeichen des heftigsten Zorns auffahre? Antwortet man hierauf, dies habe seinen Grund in der Konstitution des Nervensystems, so ist die Nichtigkeit dieser Antwort durchaus unbestreitbar, eine Erkl\u00e4rung ist aber doch keineswegs gegeben, ehe wir einzusehen verm\u00f6gen, wie die Konstitution des Nervensystems eine solche geworden ist, dafs die verschiedenen Vorstellungen'notwendigerweise diese verschiedenen Wirkungen hervorrufen m\u00fcssen.\n365. Indem wir nun versuchen sollen, zu verstehen, wie im Laufe der Zeit zwischen gewissen Gef\u00fchlen und gewissen organischen Ver\u00e4nderungen eine so enge Beziehung zu st\u00e4nde gebracht ist, dafs erstere nicht mit einigermafsen bedeutender St\u00e4rke eintreten k\u00f6nnen, ohne letztere nach sich zu ziehen, erhebt sich sogleich ein neues Problem. Man kann n\u00e4mlich annehmen, entweder die erw\u00e4hnte Verbindung gehe in jedem einzelnen Individuum vor, oder auch, dieselbe habe sich in fr\u00fcheren Generationen gebildet, so dafs heutzutage ein Individuum mit einem Organismus zur Welt komme, der auf gegebenen Anlafs alle k\u00f6rperlichen \u00c4ufserungen^ einer Gem\u00fctsbewegung darzubieten geeignet sei. Der Mechanismus w\u00e4re im letzteren Falle als angeboren zu betrachten, so dafs es ganz auf dem Verlauf der psychischen Entwickelung beruhen w\u00fcrde, wann ein Affekt zum erstenmal mit allen seinen inneren und \u00e4ufseren Erscheinungen auftreten wird. Von welcher dieser beiden Ansichten man ausgehen will, wird insofern keinen Einflufs auf die","page":283},{"file":"p0284.txt","language":"de","ocr_de":"284\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nUntersuchung \u00fcben, als man in beiden F\u00e4llen nachzuweisen hat, wie die Verbindung zwischen dem Gef\u00fchl und den organischen \u00c4nderungen im einzelnen Individuum bewerkstelligt werden kann. In dem einen Falle nimmt man dann nur an, dieser Prozefs wiederhole sich und verlaufe vollst\u00e4ndig in jedem einzelnen Individuum; in dem anderen Falle wird dagegen angenommen, der Prozefs verlaufe im ersten Individuum nur unvollst\u00e4ndig, trete aber in den folgenden Generationen deutlicher hervor, um endlich zuletzt angeborene nerv\u00f6se Dispositionen zu erzeugen. Ganz ohne Bedeutung f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der Ph\u00e4nomene wird es jedoch nicht, von welcher der genannten Ansichten man ausgeht; denn soll angenommen werden, dafs die Verbindung in jedem einzelnen Individuum aufs neue zu st\u00e4nde komme, so ist deren Ursache in weit allgemeineren, zu allen Zeiten g\u00fcltigen und vorhandenen Verh\u00e4ltnissen zu suchen, als wenn man sie als ein f\u00fcr allemal erzielt und darauf auf sp\u00e4tere Generationen vererbt betrachtet. Die Frage, von welcher dieser Ansichten man ausgehen soll, bedarf daher n\u00e4herer Er\u00f6rterung.\n366. Was nun erstens die M\u00f6glichkeit betrifft, die Verbindung zwischen den einzelnen Gef\u00fchlen und deren affekt-\nI\n\u25a0\nm\u00e4fsigen k\u00f6rperlichen Aufserungen sei ein f\u00fcr allemal hergestellt, so dafs wir mit v\u00f6lliger Disposition zum \u00c4ufsern der verschiedensten Affekte zur Welt kommen sollten, ist es sehr zweifelhaft, ob wir der Erblichkeit so grofse Bedeutung beilegen d\u00fcrfen. In dieser Beziehung pflegen die modernen Psychologen sich nun freilich die Sache ziemlich leicht zu machen, denn da uns die Gesetze der Erblichkeit nicht bekannt sind, kann man derselben ganz dem augenblicklichen Bedarf gem\u00e4fs eben die Gesetze vorschreiben, f\u00fcr die man Gebrauch hat. Diese Methode ist aber nicht gerade nachahmenswert, und r\u00fccksichtlich der Affekte w\u00fcrde man sicherlich zu sonderbaren Annahmen gezwungen werden. Dafs willk\u00fcrliche Bewegungen, die mehrere Generationen hindurch von grofsem Nutzen waren, in sp\u00e4teren Geschlechtern als erbliche Dispositionen niedergelegt werden k\u00f6nnen, l\u00e4fst sich kaum bezweifeln. Und zugleich scheint die Erfahrung zu lehren, dafs diese Dispositionen allm\u00e4hlich verschwinden, wenn sie ver\u00e4nderter Lebensbedingungen wegen f\u00fcr die folgenden Generationen \u00fcberfl\u00fcssig werden und nicht zur Verwendung kommen. Sollen die emotionellen Bewegungen aber, nach Darwin, als angeerbte instinktive Bewegungen\ni","page":284},{"file":"p0285.txt","language":"de","ocr_de":"Zweifache Erkl\u00e4rung m\u00f6glich.\n285\nerkl\u00e4rt werden, die seiner Zeit willk\u00fcrlich ausgef\u00fchrt wurden, so gibt es deren nicht wenige, von denen anzunehmen ist, dafs sie noch fortw\u00e4hrend vererbt werden, obschon sie jetzt ohne alle Bedeutung sind. Und noch \u00fcbler stellt sich die Sache, wenn man solche inneren und \u00e4ufseren Ver\u00e4nderungen als erblich annehmen will, die dem Individuum nicht nur nicht n\u00fctzlich, sondern sogar direkt sch\u00e4dlich sind, z. B. die Inkoordination der Muskeln beim Zorn, die Erschlaffung der Muskeln bei Kummer und Schrecken, die St\u00f6rungen des Vorstellungslaufes bei allen Unlustaffekten, die Schamr\u00f6te u. dergl. Hierzu kommt dann noch, dafs es ganz r\u00e4tselhaft bleibt, wie die inneren, ung\u00fcnstigen organischen St\u00f6rungen, die doch von keinem Menschen jemals willk\u00fcrlich hervorgebracht wurden, weil sie sich \u00fcberhaupt nicht willk\u00fcrlich hervorbringen lassen, im Laufe der Zeit so grofse Bedeutung erhalten haben, dafs es jetzt wohl kaum einen Menschen gibt, bei dem sie unter gegebenen Verh\u00e4ltnissen nicht Vorkommen sollten. Die Erkl\u00e4rung, die man von diesen Erscheinungen zu geben vermag, wenn man die k\u00f6rperlichen \u00c4ufserungen der Affekte als den jetzigen Generationen angeboren betrachtet, scheint also ziemlich problematisch zu sein, es sei denn, dafs man es gar zu leicht damit nimmt, was als erblich zu betrachten sei1). Es ist deshalb gewifs vorzuziehen, von der Annahme auszugehen, dafs die Affekte in jedem einzelnen Individuum entwickelt werden; sollten sich dann Erscheinungen zeigen, deren Entstehen im Leben des einzelnen Individuums ganz undenkbar ist, wird es ja immer fr\u00fch genug sein, f\u00fcr einen solchen Fall die Erblichkeit zu Hilfe zu nehmen. Mit dieser Voraussetzung, dafs die Affekte sich in allem Wesentlichen im einzelnen Individuum entwickeln, ist aber auch der Weg gegeben, den man betreten mufs, um wom\u00f6glich dem Gesetze, das die Verbindung der Gef\u00fchle mit ihren affektm\u00e4fsigen \u00c4ufserungen beherrscht, auf die Spur zu kommen. Man mufs dann das successive Auftreten der Affekt\u00e4ufserungen verfolgen von der Geburt des Individuums an bis zu dem Moment, da das Kind auf seine Weise alle diejenigen Erscheinungen darbietet, welche auch auf einer sp\u00e4teren Entwickelungsstufe die einzelnen Affekte\n!) Es freut mich h\u00f6chlichst, hier den Herrn Professor Lange als Meinungsgenossen nennen zu k\u00f6nnen. Vgl.: \u00dcber Gem\u00fctsbewegungen. S. 86. Anm. 16.","page":285},{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"286\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\ncharakterisieren. Darauf ist zu untersuchen , ob sich in dem dergestalt beobachteten Entwickelungsprozefs ein bestimmtes Gesetz sp\u00fcren l\u00e4fst.\n367. Schlagen wir nun diesen Weg ein, um wom\u00f6glich eine Erkl\u00e4rung der Gem\u00fctsbewegungen zu finden, so zeigt sich schon bei einer rein oberfl\u00e4chlichen Betrachtung des Auftretens der Affekt\u00e4ufserungen im Leben des einzelnen Individuums ein Gesetz, das die ganze Entwickelung zu beherrschen scheint. Bekanntlich bietet das neugeborene Kind nur solche emotionellen Erscheinungen dar, die im Vergleich mit den sp\u00e4teren, v\u00f6llig entwickelten Affekten als \u00e4ufserst einfache zu bezeichnen sind. Und hierin liegt denn auch nichts Merkw\u00fcrdiges, da es dem Kinde durchaus an dem ganzen Vorstellungsleben gebricht, das f\u00fcr das Auftreten eines normalen Affekts die notwendige Bedingung ist. Mit der allm\u00e4hlichen Entwickelung des Vorstellungslebens des Kindes nehmen auch die Affekte einen entschiedeneren Charakter an, bis sie, ungef\u00e4hr im f\u00fcnften Jahre, ihre v\u00f6llige Entwickelung erreicht haben m\u00f6chten. In diesem Stadium erscheint jeder Affekt in seinen inneren und \u00e4ufseren k\u00f6rperlichen \u00c4ufserungen als die ganze Summe aller fr\u00fcheren unvollst\u00e4ndigen Anl\u00e4ufe zu einer bestimmten Gem\u00fctsbewegung. Beim Kummer z. B., wie dieser in seiner h\u00f6chsten Entwickelung erscheint, wenn er durch psychische Einwirkung entsteht, findet man die wesentlichsten der k\u00f6rperlichen Zust\u00e4nde wieder, die im Laufe der Jahre Unlust herbeif\u00fchrten. Mit jedem durch \u00e4ufsere Eingriffe in den Organismus erzeugten Schmerz folgt stets eine Gef\u00e4fsverengerung nebst einer Erschlaffung des willk\u00fcrlichen Bewegungsapparats, und dasselbe kann h\u00e4ufig ebenfalls da stattfinden, wo der Schmerz von inneren Funktionsst\u00f6rungen herr\u00fchrt1). Starke Beizung der Netzhaut des Auges ruft reflex-m\u00e4fsig eine starke Thr\u00e4nenabsonderung hervor ; ein bitterer oder sonstiger unangenehmer Geschmack l\u00f6st ebenfalls reflexm\u00e4fsig vasomotorische \u00c4nderungen bestimmter Art aus, und endlich wird starke Abk\u00fchlung die eigent\u00fcmliche Muskelbewegung hervorrufen,\nb Vorl\u00e4ufig gehen wir ganz oberfl\u00e4chlich zu Werke. Unsere fr\u00fcheren Versuche haben gezeigt, dafs die gewaltsame heftige Reizung des Gehirns w\u00e4hrend des Schmerzes sogleich eine vermehrte Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln hervorruft, die Erschlaffung folgt erst hinterdrein. Dieses Verh\u00e4ltnis bedingt einen Unterschied des Affekts, wor\u00fcber unten mehr.","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"Die Associationstheorie.\n287\nwelche wir K\u00e4lteschauer nennen. Aber gerade alle diese k\u00f6rperlichen \u00c4ufserungen treffen wir mehr oder weniger entschieden als fortw\u00e4hrende Begleiter des Kummers an. Bei einer losen Betrachtung sieht es daher fast aus, als h\u00e4tte man mit einer Associationserscheinung zu thun. D\u00fcrfte man annehmen, ein Seelenzustand, eine unangenehme Mitteilung, eine traurige Erinnerung oder dergleichen k\u00f6nnte Zust\u00e4nde reproduzieren, die der Organismus fr\u00fcher erlitten h\u00e4tte, und mit welchen stets Unlust verbunden gewesen w\u00e4re, so w\u00e4ren alle \u00c4ufserungen des Kummers hierdurch erkl\u00e4rt.\nEine wesentliche St\u00fctze der Auffassung, dafs die zusammengesetzten Affekte durch einen Associationsvorgang zu st\u00e4nde kommen, haben wir an den Beobachtungen \u00fcber das Auftreten der Affekte bei Hypnotisierten. Erstens sieht man hier, dafs solche Gef\u00fchlszust\u00e4nde, die sich bei einem normalen Menschen kaum einen merkbaren k\u00f6rperlichen Ausdruck geben w\u00fcrden, oft als entschiedene Affekte hervortreten. Und ferner vermag man im Hypnotisierten einen Affekt zu erregen, indem man nur eine einzige der charakteristischen \u00c4ufserungen desselben hervorbringt. Zieht man dem Individuum die Mundwinkel herab, so kann man sehen, wie die Arme erschlaffen, der Kopf sich senkt, Thr\u00e4nen die Wangen hinabfliefsen. Das Verh\u00e4ltnis zwischen den einzelnen \u00c4ufserungen der Gem\u00fctsbewegung erweist sich also als ganz analog dem Verh\u00e4ltnisse, das im Bewufstsein eines normalen Menschen unter einer Gruppe fest associierter Vorstellungen besteht: kommt erst eine einzelne derselben zum Bewufstsein, so zieht sie sogleich die \u00fcbrigen nach sich. Dem Umstand, dafs nur w\u00e4hrend der Hypnose das einzelne Glied \u25a0einer Gem\u00fctsbewegung alle \u00fcbrigen reproduzieren kann, ist kein wesentliches Gewicht beizulegen, denn durch die Hypnotisierung wird der Mensch nicht ein neues Wesen mit neuen Eigenschaften, sondern die normalen Erscheinungen treten nur etwas anders hervor. Und durchweg ist das Verh\u00e4ltnis so, dafs die einzelnen Bewufstseinszust\u00e4nde mehr exklusiv sind, das Bewufstsein vollst\u00e4ndiger beherrschen, als unter normalen Verh\u00e4ltnissen. Dies zeigt sich unter anderem auch darin, dals reine Vorstellungsassociationen ein weit festeres Gepr\u00e4ge tragen als unter gew\u00f6hnlichen Verh\u00e4ltnissen; der Hypnotisierte beh\u00e4lt viel im Ged\u00e4chtnis, das er im normalen Zustande durchaus vergessen hat. Es liegt somit auch nichts Merkw\u00fcrdiges darin, dafs die verschiedenen","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nGlieder oder Momente der Affekte einander gerade w\u00e4hrend der Hypnose auf eine Weise reproduzieren k\u00f6nnen, die unter normalen Verh\u00e4ltnissen nur schwach angedeutet wird, und wodurch sie sich eben als associierte Ph\u00e4nomene charakterisieren. Ohne von der Hauptsache zu weit abzulenken, k\u00f6nnen wir uns hier nicht wohl n\u00e4her auf diese Verh\u00e4ltnisse einlassen, die ich anderswo weit ausf\u00fchrlicher behandelt habe1) ; als Resultat dieses kurzen \u00dcberblicks k\u00f6nnen wir indes statuieren, dafs die Art und Weise, wie sich die Affekte w\u00e4hrend der Hypnose \u00e4ufsern, in hohem Mafse daf\u00fcr spricht, dafs die Affekt\u00e4ufserungen associierte Erscheinungen sind.\n368. Diese Betrachtung m\u00f6chte beim ersten Anblick sonderbar erscheinen. Das Wort Association wird gew\u00f6hnlich zun\u00e4chst zur Bezeichnung der gegenseitigen Verbindung der Vorstellungen miteinander gebraucht, und man k\u00f6nnte deshalb vielleicht Bedenken tragen, demselben so weitgedehnte Bedeutung zu geben, dafs es auch die Verbindung zwischen den prim\u00e4ren Gef\u00fchlen und deren k\u00f6rperlichen \u00c4ufserungen umfassen w\u00fcrde. Nichtsdestoweniger ist eine solche Erweiterung des Begriffes in v\u00f6lliger \u00dcbereinstimmung mit der modernen Auffassung der Vorstellungsverbindung. Es ist Thatsache, dafs zwei h\u00e4ufig gleichzeitig oder unmittelbar nacheinander im Bewufstsein gegebene Vorstellungen sich dergestalt miteinander verbinden k\u00f6nnen, dafs die eine, wenn sie sp\u00e4ter wieder im Bewufstsein auftaucht, die andere mit sich hervorzieht. Und physiologisch erkl\u00e4rt man diese Erscheinung, indem man annehmen darf, dafs jede Vorstellung an eine gewisse Bewegung im Gehirn gebunden ist. Wenn also zwei Vorstellungen gleichzeitig im Bewufstsein existiert haben, m\u00fcssen auch gleichzeitig zwei verschiedene Bewegungen im Gehirn verlaufen sein. Da wir es nun faktisch durch \u00dcbung dahin bringen k\u00f6nnen, dafs eine durch einen Sinnesreiz hervorgerufene Bewegung im Gehirn fast augenblicklich eine bestimmte Muskelbewegung ausl\u00f6st, so scheint die Erfahrung ebenfalls zu lehren, dafs eine solche Fortpflanzung und Umsetzung der Bewegungen im Gehirn Vorgehen kann, dafs eine Bewegung A, die fr\u00fcher gleichzeitig mit einer anderen, B, stattgefunden hat, durch ihr Wiedererscheinen auch B hervorzurufen vermag. So k\u00f6nnen wir nun auf ganz\n1) Alfr. Lehmann : Die Hypnose und die damit verwandten normalen Zust\u00e4nde. Leipzig 1890. S. 123 u. f.","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"Die Associationstheorie.\n289\nnat\u00fcrliche Weise das Ph\u00e4nomen erkl\u00e4ren, das psychologisch betrachtet darin besteht, dafs eine Vorstellung eine andere reproduziert. Denn die beiden gleichzeitigen Vorstellungen waren ja an zwei gleichzeitige Bewegungen im Gehirn, A und B, gebunden; vermag A nun durch sein Wiedereintreffen B auszul\u00f6sen, so wird ja auch auf die an A gebundene Vorstellung die mit B verkn\u00fcpfte folgen. Mithin ist das Ph\u00e4nomen gegeben, so wie es der Selbstbeobachtung erscheint. Es m\u00f6chte nun einleuchten, dafs nichts uns verwehren kann, die organischen \u00c4nderungen w\u00e4hrend der Affekte als Associationserscheinungen aufzufassen, denn wenn das der Association zu Grunde Liegende nur die Fortpflanzung und der Umsatz der einen Bewegung im Gehirn in eine andere solche ist, so mufs die Irradiation der Bewegung aus dem Sensorium in die verschiedenen motorischen Zentren, durch welche die Ver\u00e4nderungen des Organismus bewirkt werden, ebenfalls eine Associationserscheinung genannt werden k\u00f6nnen, sofern die \u00dcbertragung nur dadurch begr\u00fcndet ist, dafs die beiden Bewegungen h\u00e4ufig zugleich stattfanden. Gel\u00e4nge uns daher der Nachweis, dafs die organischen \u00c4nderungen, die durch eine bestimmte Gruppe betonter Vorstellungen hervorgerufen werden, gerade solche sind, die auf \u00e4ufseren Anlafs gleichzeitig mit Vorstellungen der bestimmten Art vorhanden gewesen sind, so w\u00fcrde es hierdurch im h\u00f6chsten Grade wahrscheinlich gemacht sein, dafs die Verbindung zwischen den prim\u00e4ren Gef\u00fchlen und den organischen St\u00f6rungen als eine Association zu betrachten ist, derjenigen analog, die der Annahme nach mit Vorstellungen vorgehen kann. Im Associationsgesetze w\u00fcrden wir dann das psychologische Gesetz gefunden haben, das die R\u00e4tsel der Gem\u00fctsbewegungen zu erkl\u00e4ren vermag, und alle anderen Erkl\u00e4rungsprinzipien w\u00fcrden mithin \u00fcberfl\u00fcssig werden. Und noch mehr: nicht nur w\u00fcrden wir im st\u00e4nde sein, zu erkl\u00e4ren, weshalb ein prim\u00e4res Gef\u00fchl eben diese bestimmten k\u00f6rperlichen \u00c4ufserungen hat, sondern zugleich w\u00fcrden wir hierdurch auch erkl\u00e4rt haben, wie ein prim\u00e4res Gef\u00fchl \u00fcberhaupt Ver\u00e4nderungen des Organismus zu bewirken vermag. Denn was wir in der Gem\u00fctsbewegung das prim\u00e4re Gef\u00fchl nennen, ist, wie jedes andere Gef\u00fchl, ein Komplex von Vorstellungen, mit welchen Lust oder Unlust verbunden ist. Sagt man nun von einem . psychologischen Standpunkte aus, ein prim\u00e4res Gef\u00fchl reproduziere gewisse Ver\u00e4nderungen des Lebensgeffthls, so ist das Lehmann, Die Gef\u00fchle.\t19","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"290\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nphysiologisch dadurch zu erkl\u00e4ren, dafs eine gewisse Bewegung im Sensorium nach den motorischen Zentren irradiiert und hier solche Innervations\u00e4nderungen hervorruft, die fr\u00fcher oft gleichzeitig mit der betreffenden Bewegung im Sensorium stattgefunden haben. Physiologen und Psychologen k\u00f6nnen \u00fcber diese Auffassung also leicht einig werden, indem sie die Sache je von ihrem Standpunkte aus betrachten.\n369. Einen nahe liegenden Einwurf gegen diese ganze Associationshypothese k\u00f6nnen wir sogleich abweisen. Geht man davon aus, dafs eine Association nur zwischen Erscheinungen stattfinden kann, die gleichzeitig miteinander waren oder unmittelbar aufeinander folgten, so liefse sich gegen die Hypothese ein wenden, dafs in vielen F\u00e4llen keine Rede davon sein k\u00f6nne, dafs eine betonte Vorstellungsreihe schon fr\u00fcher gleichzeitig mit bestimmten k\u00f6rperlichen Zust\u00e4nden, die ebenfalls Lust oder Unlust herbeif\u00fchrten, eingetroffen sein sollte. Und wenigstens das erste Mal, wenn im Bewufstsein des Kindes Kummer oder Freude rein psychischen Ursprungs entstehe, k\u00f6nne die betonte Vorstellung, das prim\u00e4re Gef\u00fchl, doch keine organischen Zust\u00e4nde und Ver\u00e4nderungen reproduzieren, da die Vorstellung der Voraussetzung zufolge ja noch niemals im Bewufstsein gewesen sei und also auch nicht gleichzeitig mit irgend einem anderen Zustand existiert haben k\u00f6nne. Da nun nichtsdestoweniger zu einem gewissen Zeitpunkte im Leben des Kindes normale Affekte entst\u00fcnden, scheine diese Thatsache sich nicht leicht mittels der Associationshypothese erkl\u00e4ren zu lassen. Dieser Einwurf ist indes leicht zu beseitigen, da wir wissen, dafs es keineswegs notwendig ist, zwei Zust\u00e4nde A und K seien selbst gleichzeitig gewesen, damit A das K zu reproduzieren verm\u00f6ge. Wenn nur A mit B, B mit C, C mit D u. s. w. bis N gleichzeitig gewesen sind, kann A mittels der Glieder B, C, D . . . N das N reproduzieren, und im entwickelten menschlichen Bewufstsein k\u00f6nnen alle diese Mittelglieder fast momentan durchlaufen werden, so dafs man sich deren Existenz nicht bewufst wird. Es stellt sich also nichts der Annahme entgegen, dafs eine betonte Vorstellung gewisse organische Zust\u00e4nde zu reproduzieren vermag, auch wenn sie noch nie gleichzeitig mit oder vor diesen voraus existiert hat ; wenn nur die notwendigen Mittelglieder sich finden, kann die Reproduktion dennoch zu st\u00e4nde kommen.","page":290},{"file":"p0291.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung des Schrecks.\n291\n370. Nachdem nun der zun\u00e4chst liegende Einwurf gegen die Hypothese beseitigt ist ? er\u00fcbrigt nur die Untersuchung, ob dieselbe auch wirklich mit der Erfahrung \u00fcbereinstimmt. Eine solche Probe ist auf dem gegenw\u00e4rtigen Standpunkte der Wissenschaft nicht eben eine ansprechende Arbeit, weil wir einerseits nur verh\u00e4ltnism\u00e4fsig wenig \u00fcber die bei den einzelnen Gem\u00fctsbewegungen stattfindenden inneren organischen St\u00f6rungen wissen, und anderseits nur einzelne Beobachtungen \u00fcber die Entwickelung\nder Affekte von der Geburt des Individuums an bis zu dem Zeitpunkte, da sie v\u00f6llig entwickelt auftreten, besitzen. Verh\u00e4ltnism\u00e4fsig am sichersten m\u00f6chte unser Wissen mit Bezug auf die Entwickelung der Affekte sein, was wir Prey er s unerm\u00fcdlichen Bestrebungen, eine Psychologie des Kindes herzustellen, zu verdanken haben. Die Thatsachen, die mir in dieser Beziehung im Folgenden zur St\u00fctze dienen, sind fast ausschliefslich seinem vorz\u00fcglichen Werke: \u201eDie Seele des Kindes\u201c, entnommen, das eine wahre Goldgrube f\u00fcr denjenigen ist, der sich auf genetische Untersuchungen \u00fcber psychische Erscheinungen hineingedr\u00e4ngt sieht. Von der Richtigkeit der wesentlichsten von Prey er angef\u00fchrten Thatsachen habe ich mich durch eigne Beobachtungen \u00fcberzeugt, dem von ihm Gegebenen habe ich aber nur sehr wenig Neues hinzuzusetzen. Mit diesen, im ganzen genommen nicht gar zu reichhaltigen Hilfsmitteln, werden wir nun im Folgenden die Entwickelung der Affekte: Schreck, Freude, Kummer, Erwartung, Furcht, Hoffnung und Zorn untersuchen, um zu zeigen, dafs die Associationshypothese wirklich zur Erkl\u00e4rung dieser Zust\u00e4nde brauchbar ist. Zu erinnern ist indes stets, dafs die folgenden Betrachtungen' nur Andeutungen sind und der Natur der Sache zufolge auch weiter nichts sein k\u00f6nnen. Von einem eigentlichen Beweis der Hypothese kann keine Rede sein ; weiter als bis zu einem gewissen, geringen Grad der Wahrscheinlichkeit gelangen wir nicht.\nDie Entwickelung der Affekte im Lebenslaufe des Individuums.\n371. Schreck. Unter Schreck verstehen wir einen Zustand , der im entwickelten menschlichen Bewufstsein durch einen pl\u00f6tzlichen, unerwarteten Eindruck hervorgerufen wird, welcher entweder das Normale an St\u00e4rke \u00fcberschreitet oder die\nVorstellung von einer sich n\u00e4hernden Gefahr unbekannter Natur\n19 *","page":291},{"file":"p0292.txt","language":"de","ocr_de":"292\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nerweckt. Charakterisiert ist dieser Zustand durch pl\u00f6tzliche, krampfhafte Zusammenziehung der meisten willk\u00fcrlichen und unwillk\u00fcrlichen Muskeln im Reizungsmomente (das Erschrecken) ; unmittelbar hierauf folgt Erschlaffung der willk\u00fcrlichen Muskeln, w\u00e4hrend der Spasmus der organischen Muskulatur, besonders der Vasokonstriktoren und der Darmmuskulatur einige Zeit andauert [127]. \u2014 Die wesentlichsten Ph\u00e4nomene dieses Zustandes lassen sich am neugeborenen Kinde beobachten, soweit dessen k\u00f6rperlich - seelische Entwickelung dies gestattet. Schon am zweiten Tage fahren Kinder bei pl\u00f6tzlichen intensiven Lichtreizen zusammen und kneifen die Augen stark zu [P.o]1); bei einem kalten Luftstrom schon in der 21. Stunde [P. 54]. Erschrecken bei Schallreizen wird wohl kaum vor dem 23. Tage wahrgenommen, weil die angeborene Taubheit des kleinen Kindes erst nach Verlauf dieser Zeit so sehr abgenommen hat, dafs es \u00fcberhaupt im st\u00e4nde ist, auf diesem Wege stark erregt zu werden [P. 59]. Inwiefern die eigent\u00fcmlicheren Erscheinungen, die pl\u00f6tzlichen Ausleerungen, auch beim kleinen Kinde Vorkommen k\u00f6nnen, ist wohl schwer zu entscheiden, da diese Reflexe sich erstens gar nicht fr\u00fcher als im Alter von 7\u201410 Monaten hemmen lassen [P. 169], und folglich jeden Augenblick Vorkommen k\u00f6nnen, ob das Kind erschrickt oder nicht, und zweitens nur bei einem sehr intensiven Erschrecken einzutreten pflegen, dem man kein Kind nur um eines Experimentes willen aussetzen darf. Dagegen ist Stummheit als Folge des Erschreckens schon in einem fr\u00fchen Stadium auff\u00e4llig [P. 107]; erst einige Zeit, nachdem es erschrak, f\u00e4ngt das Kind zu weinen an. \u2014 Die physiologischen \u00c4ufserungen des Schrecks scheinen also angeboren zu sein, indem sie sich zeigen, sobald der Organismus so weit zur Entwickelung gekommen ist, dafs ihr Entstehen \u00fcberhaupt m\u00f6glich wird, und somit ist ihr Auftreten in allen sp\u00e4teren Stadien gegeben.\n372. Zu erkl\u00e4ren, wie die genannten physiologischen Erscheinungen urspr\u00fcnglich entstanden sind, wird kaum schwer fallen. Es liegt nun einmal in der Beschaffenheit der Nerven-substanz selbst, dafs jede hinl\u00e4nglich starke Reizung eines Sinnesnerven eine Bewegung hervorruft, die sich nach dem \u00fcbrigen Teile des Nervensystems fortpflanzt. Diese Fortpflanzung,\n0 Hier und im Folgenden bezeichnet [P. ...] die Verweisung auf Preyers: \u201eDie Seele des Kindes\u201c. 2. Aufl. Leipzig 1884.","page":292},{"file":"p0293.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung des Schrecks.\n293\nIrradiation, kann im entwickelten Bewufstsein durch willk\u00fcrliche Hinrichtung der Aufmerksamkeit gew\u00f6hnlich in bestimmter Richtung geleitet werden [180]; ist der Reiz aber zu stark oder tritt er so pl\u00f6tzlich ein, dafs die Aufmerksamkeit nicht sogleich die richtige Richtung einschlagen kann, so wird die Irradiation wahrscheinlich nach allen Seiten Vorgehen. Trifft die Bewegung dann die motorischen Zentren, so ruft sie eine vermehrte Innervation, mithin eine Kontraktion der mit dem betreffenden Zentrum verbundenen Muskulatur hervor. Somit sind die verschiedenen physiologischen \u00c4ufserungen des Erschreckens gegeben. Die kurz nach der Kontraktion eintretende Erschlaffung der willk\u00fcrlichen Muskeln r\u00fchrt gewifs daher, dafs die Innervation der letzteren wegen des heftigen Stofses unsicher wird, so dafs das Individuum, das sich seiner Bewegungen wieder zu bemeistern sucht, diese nicht v\u00f6llig in der Gewalt hat \u2014 der K\u00f6rper sinkt zusammen. Die Kontraktion der organischen Muskeln wird dagegen fortdauern, weil das Individuum keinen Einflufs auf deren Innervation \u00fcbt. \u2014 Die Richtigkeit dieser Erkl\u00e4rung wird dadurch best\u00e4tigt, dafs sich ein Schreck, wie angef\u00fchrt, durch pl\u00f6tzliche, obschon nicht ungew\u00f6hnlich starke Reize hervorrufen l\u00e4fst, welche dunkle, unbestimmte Vorstellungen erwecken, die keinen Ankn\u00fcpfungspunkt mit dem \u00fcbrigen Bewufstseinsinhalt des Individuums gemeinsam haben. Es entsteht dann eine Spannung, eine Erwartung, dafs etwas Unangenehmes, Drohendes ganz unbestimmter Art eintreten werde ; der Umstand aber, dafs man sich gar nicht erkl\u00e4ren kann, was eigentlich wahrgenommen wurde, scheint darauf hinzudeuten, dafs die durch den Reiz im Gehirn hervorgerufene Bewegung keine anderen Bewegungen im Sensorium auszul\u00f6sen vermag. Die Bewegung verlangt jedoch Abflufs, sie irradiiert deshalb nach anderen Seiten und ruft in den motorischen Zentren eine erh\u00f6hte Innervation der betreffenden Muskeln hervor. Es entsteht dann ganz derselbe Zustand wie durch starke pl\u00f6tzliche Reize.\n373. Der Schreck ist, wie man sieht, ein \u00e4ufserst einfacher, primitiver Affekt; er l\u00e4fst sich daher gewifs mit vollem Fuge als der Urtypus aller Gem\u00fctsbewegung bezeichnen. Geht man von der Associationshypothese aus, so beruht jeder Affekt auf einer Ausl\u00f6sung bestimmter motorischer Ver\u00e4nderungen durch Irradiation einer urspr\u00fcnglichen Bewegung im Gehirn. Die meisten der Bewegungen, die sich ausl\u00f6sen lassen, sind in allen","page":293},{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"294\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nanderen Affekten aber durch ein bestimmtes Band, n\u00e4mlich das fr\u00fchere h\u00e4ufige Zusammentreffen der Bewegungen, miteinander verbunden. Im Schreck dagegen werden in allen motorischen Zentren Bewegungen ausgel\u00f6st. Ist der Reiz, und somit auch die urspr\u00fcngliche Bewegung im Gehirn, ungew\u00f6hnlich stark, so irradiiert die Bewegung sogleich aus den niederen sensorischen Zentren in die motorischen, was deutlich in allen den F\u00e4llen zu sehen ist, in welchen ein Individuum alle sichtbaren Anzeichen des Erschreckens darbietet, ohne sich jedoch bewufst zu sein, welcher Art der Sinnesreiz gewesen sei. R\u00fchrt das Erschrecken dagegen von gewissen Vorstellungen her, so mufs die Bewegung offenbar die h\u00f6heren sensorischen Zentren erreicht haben, kann hier aber ihrer vagen Natur wegen nicht weiter schreiten (psychologisch gesagt : die erweckten dunklen Vorstellungen k\u00f6nnen keine anderen reproduzieren), und die Bewegung irradiiert deshalb nach anderen Zentren. In beiden F\u00e4llen scheinen aber die ausgel\u00f6sten Affekt\u00e4ufserungen allein durch das Verm\u00f6gen des Nervensystems bestimmt zu sein, eine einmal entstandene Bewegung fortzupflanzen, so dafs der Einflufs des Reizes auf den Organismus um so st\u00e4rker wird, je gr\u00f6fser die Energie der urspr\u00fcnglichen Bewegung ist.\n374. Freude ist derjenige Zustand, der im entwickelten Bewufstsein durch einen mit starker Lust verbundenen Vorstellungskomplex sehr verschiedenen Inhalts und Umfangs hervorgerufen wird. Die physiologischen \u00c4ufserungen bestehen in einer Gef\u00e4fs-erweiterung an der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers, wahrscheinlich in Verbindung mit einer Vergr\u00f6fserung des Umfanges der Herzbewegungen und einer verst\u00e4rkten Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln [111 u. 124]. Es liegt schon in der Natur der Sache, dafs bei dem kleinen Kinde von der Freude in demselben Sinne wie bei dem Erwachsenen keine Rede sein kann, weil es noch v\u00f6llig an einem mehr zusammengesetzten Vorstellungsinhalt gebricht. Das Neugeborene ist indes im st\u00e4nde, Lust und Unlust zu f\u00fchlen, was \u2014 wenn man es nicht als selbstverst\u00e4ndlich betrachtet \u2014 daraus zu schliefsen ist, dafs dasselbe sich unter solchen Verh\u00e4ltnissen, die im Erwachsenen verschiedene Gef\u00fchle hervorrufen w\u00fcrden, auf verschiedene Weise benimmt. Wenn das Kind saugt, sich im Bade von angemessener Temperatur befindet, oder warm, trocken und ges\u00e4ttigt daliegt, so sperrt es die Augen auf; sobald eine Quelle der Unlust vorliegt, kneift es die Augen","page":294},{"file":"p0295.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der Freude.\n295\nzu. Es scheint also unzweifelhaft zu sein, dafs das Kind Lust und Unlust f\u00fchlen kann, und dafs Lust von einem Aufsperren, Unlust dagegen von einem Zukneifen der Augen begleitet ist, auch wenn es kein Geschrei h\u00f6ren l\u00e4fst [P. 22\u201423]. Mit diesen primitiven Erscheinungen beginnen die Zust\u00e4nde, die sich sp\u00e4ter zu Freude und Kummer entwickeln, und indem wir uns nun vorl\u00e4ufig mit der Freude besch\u00e4ftigen, wollen wir deren Entwickelung verfolgen und nach weisen, wie allm\u00e4hlich eine immer\n\u2022 \u2022\ngr\u00f6fsere Anzahl der charakteristischen Aufserungen derselben auftauchen.\n375. Vorerst wird es indes von Interesse sein, zu untersuchen, wie die genannte mimische Bewegung entstanden ist. Dafs sie angeboren ist, steht aufser allem Zweifel, da das Kind schon, bevor es den m\u00fctterlichen Organismus vollst\u00e4ndig verlassen hat, zu schreien auf h\u00f6rt, zu saugen an fangt und mit einem wohlzufriedenen Ausdruck die Augen aufsperrt, wenn man ihm ein warmes, glattes Ding, z. B. einen Finger, in den Mund steckt. Wir haben hier also eine angeborne Ausdrucksbewegung, die durch angenehme Empfindungen allein ausgel\u00f6st wird. Der Ursprung derselben ist folglich in fr\u00fcheren Generationen zu suchen, und die Annahme liegt dann nahe, dafs sie eine Associationserscheinung im [3681 erw\u00e4hnten Sinne ist. Da das Sehverm\u00f6gen eine der wesentlichsten Quellen unserer Lustgef\u00fchle ist und f\u00fcr den entwickelten Menschen so grofse Bedeutung hat, dafs wir nur mit ganz einzelnen Ausnahmen (z. B. der Musik) Lust an etwas zu f\u00fchlen verm\u00f6gen, wenn das Auge nicht an der Sache beteiligt ist (man bedenke die Unsicherheit des Geschmacks in der Dunkelheit), so mufs sich im Laufe der Zeit zwischen angenehmen Zust\u00e4nden jedweder Art und den Muskelbewegungen, mittels deren das Auge ge\u00f6ffnet wird, eine feste Association gebildet haben. Deshalb tritt beim soeben gebornen Kinde die \u00d6ffnung des Auges als instinktive Bewegung auf. \u2014 Ebenso k\u00f6nnen wir eine andere Ausdrucksbewegung erkl\u00e4ren, die sich ebenfalls am ersten Tage des Kindes wahrnehmen l\u00e4fst, die aber um diesen Zeitpunkt nur beim Saugen eintritt [P. 72J, der Gesichtsausdruck n\u00e4mlich, der die Empfindung des S\u00fcfsen zu begleiten pflegt. Auch diese ist zweifelsohne urspr\u00fcnglich eine Triebbewegung, denn wenn man dem Munde die wohlbekannte Form gibt, n\u00e4hert man die Zungenwurzel dem Gaumen, wodurch die Ber\u00fchrung des s\u00fcfsen Objekts mit der Zungenwurzel, wo die","page":295},{"file":"p0296.txt","language":"de","ocr_de":"296\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nVerzweigungen des Geschmacksnerven besonders verbreitet sind, eine innigere wird. Die Bewegung ist von den Menschen so oft willk\u00fcrlich ausgef\u00fchrt worden, dafs sie zuletzt erblich, instinktiv wurde, und dafs sie vorz\u00fcglich mit dem Saugen verbunden ist, wird ganz nat\u00fcrlich, da das Kind hierdurch gerade die Empfindung \u201es\u00fcfs\u201c erh\u00e4lt. Schon nach Verlauf weniger Wochen ist diese mimische Bewegung, die sich anfangs nur als eine geringe Hebung der Mundwinkel, aber bald als ein deutliches L\u00e4cheln zeigt, zum Ausdruck des allgemeinen Wohlbefindens geworden [P. 217]. Wir haben hier eine der ersten erworbenen Associationen, denn die Empfindung der S\u00e4ttigung und W\u00e4rme wird in den ersten Tagen des Kindes so h\u00e4ufig zugleich mit der Empfindung s\u00fcfs eingetreten sein, dafs sp\u00e4ter keine der erstgenannten Empfindungen sich einstellen kann, ohne die zugeh\u00f6rige mimische Bewegung zu reproduzieren.\n376. Mittels eines \u00e4hnlichen Associationsvorgangs wird die erw\u00e4hnte Mimik nun auch mit den Lichtempfindungen und sp\u00e4terhin ebenfalls mit den Schallempfindungen verbunden. Denn sobald dem Kinde wohl ist, sperrt es die Augen auf und erh\u00e4lt infolge dessen Lichtempfindungen. Dafs mit diesen, wenn sie nicht gar zu stark sind, Lust verbunden ist, geht aus der bekannten Thatsache hervor, dafs das Kind dem Lichte den Kopf zukehrt. Angenehme Lichtempfindungen und allgemeines Wohlsein werden also konstant Zusammengehen, und w\u00e4hrend der ersten Lebensperiode wird es sozusagen niemals geschehen, dafs unangenehme Lichtempfindungen gleichzeitig mit Wohlsein oder angenehme Lichtempfindungen zugleich mit \u00dcbelsein stattfinden k\u00f6nnen. Denn die konstante Reaktion auf jede unangenehme Empfindung ist ein Zukneifen der Augen, das Unbehagen m\u00f6ge von \u00e4ufseren Reizen oder von inneren organischen Zust\u00e4nden herr\u00fchren. Zwischen angenehmen Lichtempfindungen und allgemeinem Wohlsein besteht also ausschliefslich Gleichzeitigkeit, und die an das letztere gebundenen mimischen Bewegungen werden sich deshalb allm\u00e4hlich mit den verschiedenen, mehr oder weniger komplizierten, angenehmen Gesichtsempfindungen und Vorstellungen associieren. \u2014 \u00c4hnlicherweise, wenn auch lang-sanier, werden die mimischen Aufserungen des Wohlseins mit den Schallempfindungen verbunden. Kur, wenn das Kind sich wohl befindet, wird es in der Regel m\u00f6glich sein, dessen Aufmerksamkeit durch Schalleindr\u00fccke zu fesseln [vgl. indes 377],","page":296},{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der Freude.\n297\nund diese m\u00fcssen, wenn sie die Aufmerksamkeit fortw\u00e4hrend in Anspruch nehmen sollen, notwendigerweise angenehm sein, denn widrigenfalls beginnt das Kind zu schreien und \u00fcbert\u00e4ubt also durch seine eigne Stimme alle \u00e4ufseren Reize. Auch hier erhalten wir folglich ausschliefslich Gleichzeitigkeit des Wohlseins und der angenehmen Eindr\u00fccke, so dafs die Mimik sich vom einen mit dem anderen associiert.\n377. Bisher ber\u00fccksichtigten wir einzig und allein die rein \u00e4ufseren, sichtbaren Bewegungen, von denen anzunehmen ist, dafs sie als angeborne Instinkte mit der Empfindung der W\u00e4rme, der S\u00e4ttigung und des S\u00fcfsen verbunden sind, und deshalb wahrscheinlich ohne irgend ein Mittelglied sogleich durch jede beliebige dieser Empfindungen ausgel\u00f6st werden, worauf sie sich nach und nach mit anderen Sinnesmodalit\u00e4ten associieren. Neben diesen treten aber innere organische Ver\u00e4nderungen auf, die wenigstens ebenso charakteristisch sind und bei der Entwickelung des Affekts der Freude zweifelsohne die Hauptrolle spielen. Im gesunden kleinen Kinde, bei welchem alle Organe normal funktionieren, m\u00fcssen S\u00e4ttigung und W\u00e4rme, die ersten lusterregenden Empfindungen, ebensowie im Erwachsenen eine erh\u00f6hte vasomotorische Th\u00e4tigkeit hervorrufen. Hiermit stellen sich ein schnellerer Stoffwechsel, Vermehrung der inneren W\u00e4rme des K\u00f6rpers, gr\u00f6fseres Arbeitsverm\u00f6gen der Muskeln und der Nerven ein. Schon hierdurch ist der erste Stofs zu der Erscheinung gegeben, die sp\u00e4terhin der Freude so charakteristisch ist, zu den lebhaften Bewegungen [P. 103J. Her vermehrte Zuflufs nach dem Gehirn f\u00fchrt n\u00e4mlich wahrscheinlich eine innere Reizung der motorischen Zentren mit sich, die sich ebensowie im f\u00f6talen Zustande durch impulsive Bewegungen kundgibt. Da nun, der allgemeinen Konstitution des Organismus zufolge, die vasomotorischen \u00c4nderungen jedesmal entstehen werden, wenn das neugeborne Kind einen lusterregenden Eindruck der S\u00e4ttigung oder der W\u00e4rme erh\u00e4lt, so wird die erh\u00f6hte vasomotorische Innervation sich ebensowie die mimischen Bewegungen allm\u00e4hlich mit den anderen angenehmen Empfindungen und Vorstellungen associieren, und es dauert deshalb auch nicht lange, bis das Kind jeden angenehmen Reiz durch lebhafte Bewegungen in Verbindung mit dem schon erw\u00e4hnten Mienenspiel erwidert. So beobachtete Prey er im 2. Monat lebhafte \u00c4ufserungen der Freude an Gesang, Klavierspiel u. s. w., und das Ausschlagen mit den","page":297},{"file":"p0298.txt","language":"de","ocr_de":"298\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nBeinen ist bekanntlich eins der augenf\u00e4lligsten und gew\u00f6hnlichsten Anzeichen, dafs das Kind \u00fcber irgend etwas vergn\u00fcgt ist. Auch auf das unzufriedene Kind k\u00f6nnen nun lusterregende Reize beschwichtigenden Einflufs \u00fcben ; indem die angenehmen Empfindungen n\u00e4mlich mittels Association die Th\u00e4tigkeit des Herzens und der Vasomotoren f\u00f6rdern, wird dem krankhaften oder auf andere Weise verursachten abnormen Zustand entgegengearbeitet. Das wohlbekannte Verm\u00f6gen der Freude, krankhafte Zust\u00e4nde aufzuheben, m\u00f6chte also zuguterletzt durch die feste Association zwischen lusterregenden Vorstellungen und der erh\u00f6hten Th\u00e4tigkeit der Vasomotoren und des Herzens begr\u00fcndet sein, die sich w\u00e4hrend des ersten Lebensjahres des Kindes bildet.\n378. Wir hielten uns bisher zun\u00e4chst an das primitive Vorstellungsleben w\u00e4hrend der ersten Monate des Kindes und suchten nachzuweisen, wie die Verbindung zwischen demselben und den emotionellen Bewegungen zu st\u00e4nde kommt. Es ist indes nicht schwer, zu zeigen, dafs derselbe Associationsvorgang, ! der sich hier geltend zu machen scheint, auch auf jeder sp\u00e4teren Stufe der Entwickelung verl\u00e4uft, so dafs sich allm\u00e4hlich eine | feste Verbindung zwischen der gesamten lustbetonten Vorstellungsmasse des Individuums und den affektm\u00e4fsigen \u00c4ufserungen bildet, die es zuletzt erm\u00f6glicht, dafs jede beliebige lustbetonte Vorstellung, sie sei durch Beobachtung gegeben oder auch reproduziert, einen Affekt hervorrufen kann. Eine ganz kurze ! Andeutung des Fortschreitens dieses Prozesses m\u00f6chte hier vielleicht am rechten Orte sein. \u2014 Im vierten Monat ist die k\u00f6rperlich - seelische Entwickelung des Kindes so weit gediehen, dafs es einigermafsen die Herrschaft \u00fcber seine Muskeln erlangt hat und seine Empfindungen zu unterscheiden vermag. Es beginnt nun die schwierige Arbeit, sich die eigentlichen Vorstellungen von den Dingen als getrennten r\u00e4umlichen Gr\u00f6fsen zu bilden, was vorz\u00fcglich mittels der Greifbewegungen geschieht [P. 104 u. 182]. Hierdurch ist eine neue Quelle der Lust gegeben. Indem das Kind nach allem greift, alles bef\u00fchlt, besieht (und beleckt), was innerhalb seines Bereichs gelangt, associieren sich die Ber\u00fchrungsempfindungen mit den Gesichtsbildern, und somit bilden sich allm\u00e4hlich mittels bekannter Vorg\u00e4nge die Vorstellungen von den Objekten als r\u00e4umlich ausgedehnt und im Raum existierend. Ist das Kind gegen Ende des ersten Jahres so weit gekommen, dafs es anfangen kann, sich selbst\u00e4ndig zu bewegen, so dehnt es seine","page":298},{"file":"p0299.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der Freude,\n299\nuntersuchende Th\u00e4tigkeit auf jedes Ding aus, das es irgendwie zu erfassen vermag, und seine Vorstellungsmenge macht auf\ndiese Weise reifsende Fortschritte. Und da nun die Lust, die\n/\nDinge zu betasten und zu besehen, vorz\u00fcglich dann vorhanden sein wird, wenn das Kind sich wohl befindet, weil jede sogar ziemlich unbedeutende Ursache der Unlust und des Schmerzes seine Aufmerksamkeit gew\u00f6hnlich von der Aufsenwelt ablenkt, leuchtet es ein, dafs sich ebensowie unter allen fr\u00fcher besprochenen Verh\u00e4ltnissen zwischen den ihrer Neuheit wegen lusterregenden Vorstellungen und dem gesamten k\u00f6rperlichen Zustand, der erh\u00f6hten vasomotorischen Th\u00e4tigkeit nebst dem aus derselben resultierenden Drang nach Bewegung und den mimischen \u00c4ufserungen, feste Associationen bilden m\u00fcssen.\n379.\tUngef\u00e4hr zu demselben Zeitpunkt, da der oben geschilderte Vorgang seinen Anfang nimmt, kann man die Entwickelung zu sp\u00fcren beginnen, durch welche die \u201eFreude\u201c sich von einer Lust an Sinnesreizen allein zu der Freude im eigentlichen Sinne erhebt. Wenn das Kind n\u00e4mlich im vierten Monat beim Erblicken der Mutter alle Anzeichen gibt, dafs dieser Anblick ihm Lust verursacht, so l\u00e4fst sich schwerlich annehmen, dafs die Vorstellung nur als Sinnesresultat, als Komplex der Gesichtsempfindungen, seine Gef\u00fchle in so starke Bewegung sollte setzen k\u00f6nnen. Der Anblick der Mutter ist aber so oft mit einer Reihe sinnlicher Lustgef\u00fchle verbunden gewesen, dafs derselbe sich mit diesen und mit allen deren affektm\u00e4fsigen \u00c4ufserungen associiert hat ; sp\u00e4ter kann er deshalb diesen ganzen organischen Zustand reproduzieren, d. h. es wird im Kinde Freude erregt. Das fernere Fortschreiten der Entwickelung mufs nun wohl zun\u00e4chst als auf diesem Wege stattfindend gedacht werden. Alle solchen Vorstellungen, die, ohne gerade selbst urspr\u00fcnglich lustbetont zu sein, h\u00e4ufig gleichzeitig mit bestimmten Lustgef\u00fchlen zusammenexistiert haben, werden sich unit, diesen und mit deren k\u00f6rperlichen \u00c4ufserungen associieren. Hierdurch wird es m\u00f6glich, dafs ein Vorstellungsinhalt, wie kompliziert und abstrakt er auch sei, mit Hilfe verschiedener Mittelglieder im entwickelten Bewufstsein den ganzen physiologischen Apparat der Freude in Bewegung zu setzen und also Freude zu erregen vermag.\n380.\tEs liegt schon in der Natur der Sache, dafs wir uns hier, wo es nur darauf ankommt, den Entwickelungsvorgang,","page":299},{"file":"p0300.txt","language":"de","ocr_de":"300\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\n\u2666 \u2022\nmittels dessen die verschiedenen physiologischen Aufserungen annehmbar an Vorstellungen mit bestimmter Betonung gebunden werden, in seinen Grundz\u00fcgen nachzuweisen, nicht auf alle Einzelheiten der Entwickelung der Affekte einlassen k\u00f6nnen. Wir m\u00fcssen uns mit Andeutungen begn\u00fcgen, da eine ersch\u00f6pfende Behandlung dieses Stoffes rasch zu einem selbst\u00e4ndigen Werke anschwellen w\u00fcrde. Ich nehme deshalb nur die konstantesten und charakteristischsten Erscheinungen vor und beschr\u00e4nke mich auf das Widerlegen naheliegender Einw\u00fcrfe. Dafs sich wahrscheinlich an manchen Punkten Einw\u00fcrfe erheben und Thatsachen nachweisen lassen, welche sp\u00e4tere Forscher auf diesem h\u00f6chst interessanten Gebiete zwingen werden, die hier gegebene Darstellung sogar in ihren wesentlichsten Z\u00fcgen zu modifizieren, wird niemand williger gestehen als ich selbst. Soweit mir bekannt, ist noch nie ein Versuch gemacht worden, die Entwickelung der Affekte w\u00e4hrend des Lebenslaufes des Individuums darzustellen, und es leuchtet ein, dafs der Mangel an Beobachtungen bei einem derartigen ersten Versuch ein Tappen und Unsichersein herbeif\u00fchren mufs, dessen erste Konsequenz es wird, dafs man weiter | nichts als einen gewissen geringen Grad der Wahrscheinlichkeit erreicht. Ein Versuch mufs aber doch einmal der erste sein, und dieser ist dann wesentlich auf das Ziel zu richten, nachzuweisen, dafs die zum Ausgangspunkte genommene Hypothese sich \u00fcberhaupt durchf\u00fchren l\u00e4fst.\t!\n381. Gegen die hier aufgestellte Hypothese von der Association zwischen den verschiedenen lustbetonten Empfindungen und Vorstellungen und den gleichzeitigen vasomotorischen \u00c4nderungen und mimischen Bewegungen l\u00e4fst sich nun ein, wie es scheint, sehr ernstlicher Einwurf erheben. Wenn das Kind alles, was in seinen Bereich gelangt, in die H\u00e4nde zu bekommen und in den Mund zu stecken sucht, mufs es sich aufser lustbetonten auch eine ganze Leihe unlustbetonter Empfindungen und Vorstellungen zuziehen, denn es ist ja nicht jeder Gegenstand, dessen ein Kind sich in einem unbewachten Augenblicke bem\u00e4chtigen kann \u2014 und unzweifelhaft haben viele Kinder manche unbewachte Augenblicke \u2014 der sich unbedingt zum Betasten und Belecken eignet.\nEs sieht deshalb wirklich aus, als ob es die M\u00f6glichkeit g\u00e4be, dafs sich ebensowohl zwischen den unlustbetonten Empfindungen und dem f\u00fcr erh\u00f6htes physisches Wohlsein charakteristischen vasomotorischen Zustand, als zwischen diesem und den lustbetonten","page":300},{"file":"p0301.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der Freude.\n301\nVorstellungen feste Associationen bilden k\u00f6nnten. Wenn dies aber stattfinden k\u00f6nnte, so m\u00fcfste unser Versuch, die physio-logischen Aufserungen der Freude zu erkl\u00e4ren, offenbar aufgegeben werden, weil alsdann sowohl Lust- als Unlustgef\u00fchle die der Freude charakteristischen Aufserungen hervorzurufen verm\u00f6chten, oder mit anderen Worten, weil Kummer und Freude sich dann auf dieselbe Weise \u00e4ufsern m\u00fcfsten, was thats\u00e4chlich nicht geschieht. Die Frage wird also die, wie man von unserer Associationshypothese aus wird erkl\u00e4ren k\u00f6nnen, dafs sich zwischen den unlustbetonten Vorstellungen und dem ganzen organischen Zustande, der ein entschiedenes Wohlsein bedingt, keine Associationen bilden. Eine solche Erkl\u00e4rung wird indes leicht zu geben sein, indem man sich auf eine Thatsache st\u00fctzt, die alle Beobachtungen zu best\u00e4tigen scheinen, darauf n\u00e4mlich, dafs das Kind ein besonders deutliches Ged\u00e4chtnis f\u00fcr die Ursache des Schmerzes hat. Ein d\u00e4nisches Sprichwort sagt: das Kind, das sich gebrannt hat, scheut das Feuer, und sowohl Prey er als andere Forscher haben konstatiert, dafs ein Kind, das sich gebrannt hat, sich lange Zeit hindurch nicht bewegen l\u00e4fst, in die N\u00e4he einer Flamme zu kommen [P. 271]. Zweifelsohne w\u00fcrde sich dies als auch f\u00fcr andere schmerzhafte Reize g\u00fcltig erweisen, d\u00fcrfte man es wagen, ein Kind solchen Versuchen auszusetzen. Dafs unangenehm schmeckende Gegenst\u00e4nde nur ein oder wenige Male in den Mund gef\u00fchrt werden, ist wohlbekannt. W\u00e4hrend also die unlustbetonten Empfindungen, die durch das Experimentieren des Kindes mit der Aufsenwelt verursacht werden, nur selten wiedererscheinen, kann das Kind dagegen immer wieder eine Besch\u00e4ftigung wiederholen, die ihm Lust bringt. Und da nun stets ziemlich viele Wiederholungen erforderlich sind, damit eine einigermafsen feste Association zu st\u00e4nde komme, ist somit die M\u00f6glichkeit gegeben, dafs Lustgef\u00fchle sich mit dem organischen Zustande associieren k\u00f6nnen, der w\u00e4hrend der Kindheit eine notwendige Bedingung ist, um das Kind willk\u00fcrlich zu der Aufsenwelt in Beziehung treten zu lassen, w\u00e4hrend Unlustgef\u00fchle keine solche Verbindung zu sehliefsen verm\u00f6gen.\n382. Es gibt noch ein paar der Freude charakteristische Aufserungen, deren Ursache aufzusp\u00fcren der M\u00fche lohnen wird, n\u00e4mlickfdas eigent\u00fcmliche Strahlen des Auges und das Lachen. Die physiologischen Verh\u00e4ltnisse, die diesen Erscheinungen zu","page":301},{"file":"p0302.txt","language":"de","ocr_de":"302\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nGrunde liegen, sind noch ziemlich unbekannt, so dafs man sich mit Bezug auf deren Ursprung als emotionelle Bewegungen zun\u00e4chst auf Mutmafsungen beschr\u00e4nken mufs ; das Wenige, das wir wissen, scheint sich indes zu einer recht nat\u00fcrlichen Erkl\u00e4rung zusammenzuf\u00fcgen. \u2014 Wann das Strahlen des Auges zum erstenmal ein tritt, findet sich nicht bei Preyer angegeben, dagegen wird es als ein am 23. Tage deutlich zum Vorschein kommendes Ph\u00e4nomen erw\u00e4hnt [P. 220] ; bei dem kleinen M\u00e4dchen, das ich fortw\u00e4hrend beobachtete, wurde es zuerst am 18. Tage versp\u00fcrt, und angeboren ist die Erscheinung also sicherlich nicht. Prey er erkl\u00e4rt nun die Sache, indem er eine auf psychischem Wege erzeugte Reizung des Absonderungsnerven der Thr\u00e4nendr\u00fcse, des ramus lacrymalis nervi trigemini annimmt [P. 22], wodurch die Thr\u00e4nenabsonderung vermehrt werde. Diese Erkl\u00e4rung ist um so wahrscheinlicher, als nicht zu bezweifeln ist, dafs eine gr\u00f6fsere Menge Feuchtigkeit dem Auge ein gl\u00e4nzendes Aussehen zu geben vermag, wenn die Menge der Fl\u00fcssigkeit nur nicht bis zur eigentlichen Thr\u00e4nenbildung ansteigt, durch welche das Auge getr\u00fcbt wird. Dann wird es aber die Frage, weshalb gerade die Freude eine Reizung des R. lacrymalis hervorrufe, und wie die Erscheinung im Laufe der ersten paar Lebenswochen im einzelnen Individuum zu st\u00e4nde kommen k\u00f6nne. Beide Probleme scheinen sich von unserer Ansicht \u00fcber die Bedeutung aus, welche die erh\u00f6hte vasomotorische Th\u00e4tigkeit in der Freude hat, leicht beantworten zu lassen. Wir wissen, dafs eine mechanische Reizung der Hornhaut reflexm\u00e4fsig eine vermehrte Thr\u00e4nenabsonderung hervorruft, was also konstant auch w\u00e4hrend des normalen Gebrauchs des Auges stattfindet, indem Staubpartikeln und dergleichen fortw\u00e4hrend von der Hornhaut abzuwaschen sind. Bedenkt man nun zugleich, dafs ein Aufsperren des Auges das allererste Anzeichen der Lust ist, so wird also jedes Lustgef\u00fchl gleich von Anfang an von einer normalen Reizung des R. lacrymalis begleitet gewesen sein. Da nun das Lustgef\u00fchl zugleich\nr\t_\nkonstant von einer allgemeinen Erh\u00f6hung der vasomotorischen Th\u00e4tigkeit begleitet ist, und da der R. lacrymalis vasomotorische Fasern enth\u00e4lt, mufs die Folge hiervon werden, dafs in den Lustgef\u00fchlen eine etwas gr\u00f6fsere Thr\u00e4nenabsonderung stattfindet als die zum Ersatz des fortw\u00e4hrenden Verbrauchs erforderliche, und das Auge erh\u00e4lt also besonderen Glanz. Dafs die Erscheinung nicht sogleich nach der Geburt beobachtet wird, ist leicht als\n","page":302},{"file":"p0303.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung des Kummers.\n303\nFolg\u00a9 davon zu ei kl\u00e4ren, da Fs di\u00a9 Reflexbahn von der Hornhaut zur Thr\u00e4nendr\u00fcse erst durch den Gebrauch des Auges zu st\u00e4nde kommt, und bevor dies geschehen ist, wird der besprochene Vorgang offenbar nicht stattfinden k\u00f6nnen.\n383. Das Lachen ist als eine Folge einer erh\u00f6hten Innervation der Atmungsmuskeln zu betrachten, wodurch die normale ruhige Atmung von einer Reihe kurzer, kr\u00e4ftiger Exspirationen abgel\u00f6st wird, die wiederum eine tiefere Inspiration erheischen. Die Art und Weise, wie das Lachen sich w\u00e4hrend der 4. bis zur 7. Woche aus einer fast unmerkbaren Andeutung entwickelt I k* 219\u2014222], scheint anzuzeig\u2019en, dafs es eine durch zahlreiche lustbetonte Vorstellungen hervorgerufene Erh\u00f6hung der w\u00e4hrend ues 1 ein physischen Wohlseins vorhandenen Lust erfordert. Hierf\u00fcr spricht auch der Umstand, dafs beim Erwachsenen das Lachen nur stark lustbetonte Zust\u00e4nde begleitet. Somit entsteht es gew\u00f6hnlich nur dann, wenn ein Zustand der Unlust durch eine pl\u00f6tzliche starke Lust abgel\u00f6st wird (vgl das Frohlocken des Wilden \u00fcber den gefallenen Feind, das Lachen \u00fcber das Komische u. s. w.). Es ist daher nat\u00fcrlich, dafs das Lachen erst nach und nach immer bestimmter hervortreten kann, indem sich\n1 \u00ab\tit\t'\ndie Vorstellungsmasse des Kindes vermehrt und mithin die\nM\u00f6glichkeit einer gr\u00f6fseren Lust, als das physische Wohlbefinden allein zu geben vermag, herbeigeschafft ist.\n384. Kummer. Unter Kummer ist ein Zustand zu verstehen, der im entwickelten Bewufstsein durch einen mit starker Unlust '\\eibundenen \\ 0 r s t e 11 ungskomplex hervorgerufen wird, welcher sehr verschiedenen Inhalts und Umfangs sein kann. Als dessen physiologische \u00c4ufserungen sind zun\u00e4chst eine Erh\u00f6hung der Innervation der gef\u00e4fsverengernden Muskeln und eine Schw\u00e4chung der Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln anzunehmen [133]. \u2014 Ebensowenig wie Freude im eigentlichen Sinne w\u00e4hrend der zarten Kindheit Vorkommen kann, ebensowenig kann w\u00e4hrend dieser Periode von eigentlichem Kummer die Rede sein. Das Neugeborne ist f\u00fcr schmerzhafte Reize empf\u00e4nglich, diese m\u00f6gen nun \u00e4ufserer Natur sein (K\u00e4lte, unsanfte Ber\u00fchrung) oder innerer (Hunger, krankhafte Zust\u00e4nde), und jedes derartige Unlustgef\u00fchl wird von einem Zukneifen der Augen begleitet*, Unlustgef\u00fchle aus anderen als aus physischen Ursachen kommen aber sicherlich nicht vor. Die erw\u00e4hnte mimische Bewegung, das Zukneifen des Auges, ist eine Instinktbewegung [P. 22\u201423]","page":303},{"file":"p0304.txt","language":"de","ocr_de":"304\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nebensowie die entsprechende Mimik beim Wohlbefinden, und l\u00e4fst sich zweifelsohne ebenso wie diese als eine urspr\u00fcngliche Triebbewegung erkl\u00e4ren. Das Schliefsen des Auges, teils um dasselbe unter drohenden Verh\u00e4ltnissen zu sch\u00fctzen, teils um unangenehme Eindr\u00fccke fernzuhalten, mufs von fr\u00fcheren Generationen unz\u00e4hlige Male willk\u00fcrlich ausgefuhrt sein, so dafs die Bewegung zuletzt erblich geworden ist und durch jeden schmerzhaften oder auch nur unangenehmen Reiz ausgel\u00f6st wird. Auch die ebenfalls an-geborne Mimik f\u00fcr die Geschmacksempfindung bitter [P. 88-89] l\u00e4fst sich als urspr\u00fcngliche Triebbewegung erkl\u00e4ren. Bei Senkung der Zungenwurzel, wodurch ein Zusammenpressen des bittern Objekts zwischen der Zungenwurzel und dem Gaumen vermieden wird, ist die Reizung des nervus glossopharyngeus weniger stark, mithin die Empfindung des Bitteren weniger intensiv. Eine solche Senkung kann aber nicht unternommen werden, ohne den Mund ein wenig zu \u00f6ffnen und die Mundwinkel zu senken, und diese bekannte Bewegung ist wahrscheinlich gleichfalls so h\u00e4ufig willk\u00fcrlich ausgef\u00fchrt worden, dafs sie zuletzt als mimischer Ausdruck aller Unlust erblich ward. Gleich von der Geburt an wird der Instinkt nicht nur durch die Geschmacksempfindung, sondern auch durch jede andere mit Unlust verbundene Empfindung ausgel\u00f6st*, so kann schon die Ber\u00fchrung der Zungenwurzel mit einem Gegenstand ohne allen Geschmack diese Mimik sogleich hervorrufen, die im sp\u00e4teren Leben der allersicherste und feinste Indikator einer kummervollen Stimmung ist1).\n385. Von gr\u00f6fserem Interesse als diese \u00e4ufseren Bewegungen sind indes die vasomotorischen Ver\u00e4nderungen. Jede beliebige starke Reizung des Gehirns wird, wie oben erw\u00e4hnt, in dem nicht differenzierten Gehirn des Kindes nach allen Seiten irradiieren und hierdurch, wenn sie ein motorisches Zentrum trifft, eine erh\u00f6hte Innervation der betreffenden Muskeln hervorrufen. Und da ferner jeder Reiz, dessen St\u00e4rke das Normale \u00fcberschreitet, mit Unlust verbunden ist, so ist es leicht zu verstehen, dafs alle Unlust des kleinen Kindes, dessen Vorstellungsleben noch durchaus unentwickelt ist, von einer erh\u00f6hten Innervation u. a. der vasomotorischen Muskeln begleitet sein mufs. Weshalb es nun gerade die Vasokonstriktoren und nicht ebensowohl die Dilatatoren sind, deren Innervation erh\u00f6ht wird, l\u00e4fst sich zwar nicht mit\nb Darwin: Ausdruck der Gem\u00fctsbewegungen. S. 169\u201470.","page":304},{"file":"p0305.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung des Kummers.\n305\nSicherheit sagen, dieses Verh\u00e4ltnis steht aber zweifelsohne in noch unbekannter Verbindung mit der Thatsache, dafs die Konstriktoren sich \u00fcberhaupt anders als die Dilatatoren verhalten, sowohl mit Bezug auf ihre Wirkungen als auf die Leichtigkeit, mit welcher sie sich reizen lassen1). M\u00fcssen wir nun auch vorl\u00e4ufig auf das v\u00f6llige Verst\u00e4ndnis verzichten, weshalb eine Reizung der vasomotorischen Zentren eine Gef\u00e4fs-verengerung hervorruft, so sind die eigent\u00fcmlichen Aufserungen des Kummers doch leicht als eine Folge derselben zu verstehen. Denn durch die St\u00f6rung des Stoffwechsels, welche die Gef\u00e4fs-verengerung herbeif\u00fchrt, wird eine sp\u00e4rlichere Ern\u00e4hrung des Gehirns und der \u00fcbrigen Gewebe des K\u00f6rpers hervorgerufen, woraus wieder ein Sinken der Temperatur des K\u00f6rpers entsteht. Die psychischen Wirkungen hiervon werden teils Hemmung des | Vorstellungslaufes, teils Empfindungen der Mattigkeit, der Erschlaffung und der K\u00e4lte, die dem Kummer gerade charakteristisch i sind. Wie nun die Gef\u00e4fsverengerung mit allen ihren Wirkungen, die mit den unlustbetonten Empfindungen des Kindes konstant verbunden sein m\u00fcssen, mittels eines der Entwickelung der Freude analogen Prozesses allm\u00e4hlich mit den komplizierteren Vorstellungen associiert werden, wollen wir unten nachzuweisen suchen; bevor wir aber hierzu \u00fcbergehen, m\u00fcssen wir vorerst ' einige andere Erscheinungen betrachten.\n386. Die Sache ist n\u00e4mlich gar nicht so einfach, wie sie hier dargestellt wurde. Es sind ja n\u00e4mlich nicht nur die vasomotorischen Zentren, die von der im Gehirn irradiierenden Bewegung betroffen werden, sondern auch die anderen motorischen Zentren, sowohl die der willk\u00fcrlichen als die der unwillk\u00fcrlichen Muskeln, m\u00fcssen ihren Anteil erhalten. Hieraus scheint nun zu folgen, dafs die unmittelbare Wirkung eines schmerzhaften Reizes erh\u00f6hte Lebhaftigkeit, kr\u00e4ftigere Muskelbewegungen u. dergl. sein m\u00fcfsten, die eine erh\u00f6hte Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln zu begleiten pflegen. Dies ist nun auch bis zu einem gewissen Grade der Fall. Dafs das kleine Kind jeden schmerzhaften oder auch nur unangenehmen Reiz durch ein Vokalkonzert erwidert, ist eine wohlbekannte Sache und scheint eine erh\u00f6hte Innervation der Stimmb\u00e4nder und der Respirationsmuskeln anzudeuten. Auch Bewegungen anderer willk\u00fcrlichen Muskeln werden\n!) Vgl. Gruenhagen : Lehrbuch der Physiologie. Bd. III. S. 308. Lehmann, Die Gef\u00fchle.\t20","page":305},{"file":"p0306.txt","language":"de","ocr_de":"306\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\ndurch schmerzhafte Reize wahrscheinlich direkt ausgel\u00f6st, z. B. das Runzeln der Stirnhaut, gewaltiges Zappeln mit den Beinen, heftiges Ausschlagen mit den Armen, Zusammenziehen des ganzen K\u00f6rpers. Diese Erscheinungen sind also nicht wenig von den beim Schreck beobachteten verschieden, trotzdem anzunehmen ist, dafs sie von ungef\u00e4hr denselben Ursachen, n\u00e4mlich von der Irradiation einer urspr\u00fcnglichen Bewegung im Gehirn, herr\u00fchren. Die Verschiedenheit l\u00e4fst sich indes gewifs ohne Schwierigkeit erkl\u00e4ren. Der pl\u00f6tzliche Stofs, der den Schreck hervorruft, mufs eine schnelle und regelm\u00e4fsige Irradiation nach allen Seiten erzeugen, weswegen die Bewegung alle Zentren mehr gleichm\u00e4fsig trifft, und seiner Gewaltigkeit wegen bewirkt er zugleich ein krampfhaftes Zusammen ziehen der Muskeln, so dafs das Individuum, momentan wenigstens, die Herrschaft \u00fcber den K\u00f6rper verliert. Ein l\u00e4nger andauernder, gew\u00f6hnlich aber auch weniger intensiver Reiz erh\u00f6ht zwar die Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln, aber nicht dermafsen, dafs der eintretende Spasmus Bewegungen unm\u00f6glich machte. Indem die Bewegung nun zugleich, weil sie nicht so pl\u00f6tzlich entsteht, Zeit bekommt, sich durch die h\u00e4utigst betretenen Bahnen zu verbreiten, wird ihre Wirkung auf gewisse bestimmte Gebiete begrenzt, und solange das Kind nicht im st\u00e4nde ist, einen Reflex zu hemmen, findet man deshalb das Geschrei und Muskelkontraktionen verschiedener Art als die konstante Reaktion auf jeden unangenehmen Reiz. Im sp\u00e4teren Alter fallen diese allerdings weg, wenn die Unlust nicht eben durch k\u00f6rperliche Schmerzen hervorgerufen wird ; unter grofsen k\u00f6rperlichen Schmerzen m\u00f6chten aber gewifs wohl die wenigsten im st\u00e4nde sein, das Wehklagen zu unterlassen und eine Reihe mehr oder weniger unzweckm\u00e4fsiger Bewegungen auszuf\u00fchren. Hier besteht also noch ganz dieselbe Reaktion, mit welcher wir das kleine Kind jeden beliebigen unangenehmen Reiz erwidern sehen ; indem aber der kindliche Ausdruck des \u201eKummers\u201c f\u00fcr einen ganz speziellen Fall beibehalten wird, geht daneben eine Entwickelung vor, durch welche der primitive Zustand nach und nach den Charakter des eigentlichen Kummers annimmt.\n387. Hinsichtlich der Freude war es nicht schwer, nachzuweisen, wie der durch jeden angenehmen Sinnesreiz hervorgerufene organische Zustand sich allm\u00e4hlich mit den verschiedenen lustbetonten Vorstellungen associiert [378]. Denn da das Vorstellungs-","page":306},{"file":"p0307.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung des Kummers.\n307\nleben des Kindes sich wesentlich durch dessen eignes Experimentieren mit der Aufsenwelt entwickelt, und da eine solche Th\u00e4tigkeit voraussetzt, dafs das Kind sich wohl befindet, und dieses Wohlbefinden ferner durch die Th\u00e4tigkeit vermehrt wird, so wird also jede neuauftauchende Vorstellung, die ihrer Neuheit wegen an und f\u00fcr sich lustbetont ist, gleich beim ersten Auftauchen von einem gewissen potenzierten Wohlbefinden begleitet sein. Es entsteht also die M\u00f6glichkeit, dafs jede nur einigemale unter wesentlich denselben Verh\u00e4ltnissen wiederholte Vorstellung sich mit dem gleichzeitigen organischen Zustande oder vielmehr mit den zentralen Innervationen, durch welche der Zustand hervorgerufen wird, associieren kann. Sollte nun die Entwickelung des Kummers auf ganz analoge Weise Vorgehen, so m\u00fcfste also jede unlustbetonte Vorstellung w\u00e4hrend des organischen Zustandes erscheinen, der dem Kummer charakteristisch ist, dies ist aber nat\u00fcrlich keineswegs der Fall. Das Kind erntet seine traurigen Erfahrungen unter ganz denselben Verh\u00e4ltnissen wie die erfreulichen. Dafs dies nun nicht notwendigerweise herbeif\u00fchrt, dafs auch die uniustbetonten Vorstellungen sich mit dem organischen Zustand associieren, welcher der Begleiter und die Ursache der Freude ist, wurde bereits nachgewiesen [381]. Damit sind wir aber dem Verst\u00e4ndnis der Entwickelung des Kummers ja um keinen einzigen Schritt n\u00e4her gekommen. Es ist leicht genug zu verstehen, dafs ein gar zu starker Sinnesreiz modifizierend in den organischen Zustand einzugreifen vermag,\nund wir suchten oben nachzuweisen, weshalb derselbe eben die \u2022 \u2022\nAufserungen hervorrufen m\u00fcsse, welche erfahrungsgem\u00e4fs zum Vorschein kommen. Weshalb ruft aber ein Beiz von ganz normaler St\u00e4rke im Kinde auf einmal alle k\u00f6rperlichen Aufserungen des Kummers hervor? Beim ersten Anblick sieht dies ganz r\u00e4tselhaft aus. Wenn ein vier Monate altes Kind anf\u00e4ngt zu schreien und alle Symptome des heftigsten Kummers zu zeigen, weil die mit ihm spielende Mutter sich einen Augenblick entfernt, kann doch das Gesichtsbild der fortgehenden Mutter nicht ohne weiteres den ganzen physiologischen Apparat in Bewegung setzen. D\u00fcrfte man nun noch annehmen, das Kind h\u00e4tte erfahren, dafs auf den Fortgang der Mutter h\u00e4ufig gewisse schmerzliche Empfindungen folgen (weil die Wartung weniger sorgf\u00e4ltig wird), so w\u00e4re dessen \u201eKummer\u201c leicht als eine Reproduktion dieser fr\u00fcheren Zust\u00e4nde\nzu verstehen. Hat das Kind aber keine solchen Erfahrungen\n20*","page":307},{"file":"p0308.txt","language":"de","ocr_de":"308\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\ngemacht, entweder weil es nie von der Mutter, sondern von einer anderen Person gepflegt wurde, oder weil die Mutter niemals so lange abwesend war, dafs Unannehmlichkeiten f\u00fcr das Kind daraus entstanden, wie soll man sich dann dessen \u201eKummer\u201c \u00fcber das Fortgehen der Mutter erkl\u00e4ren? Wie schwer, um nicht zu sagen unm\u00f6glich, es auch sein mag, sich in das Bewufstsein eines viermonatlichen Kindes zu versetzen, m\u00fcssen wir dennoch diesen Versuch wagen, um eine wahrscheinliche Erkl\u00e4rung zu finden.\n388. Die Mutter hat mit dem Kinde gespielt und entfernt sich nun pl\u00f6tzlich, wodurch demselben die fr\u00fcheren, lusterregenden Reize entzogen werden. Durch das Spiel und die aus demselben resultierende vergn\u00fcgte Stimmung ist sein ganzes Nervensystem in eine gewisse Bewegung gesetzt, die fortw\u00e4hrenden Abflufs verlangt. Von selbst kann das Kind keine neue Besch\u00e4ftigung ersinnen; denn da sein Wollen noch erst so unentwickelt ist, dafs es nicht einmal einen Reflex zu hemmen vermag, ist es noch weniger f\u00e4hig, eine so komplizierte Operation des Willens wie das Fassen eines Entschlusses auszuf\u00fchren. Erzwingt sich ein \u00e4ufserer, angenehmer Reiz, z. B. Musik oder ein gl\u00e4nzender Gegenstand, zuf\u00e4llig dessen Aufmerksamkeit, so findet die Th\u00e4tigkeit einen Abflufs und das Kind vergifst das Schreien ; stellt sich aber kein derartiger Blitzableiter im rechten Augenblick ein, so bricht das Unwetter aus. Und weshalb? Sehen wir einmal, wie ein Erwachsener sich unter analogen Verh\u00e4ltnissen betragen w\u00fcrde. Wir denken uns also einen gesunden, arbeitskr\u00e4ftigen Menschen in einer Situation, in welcher er auf unbegrenzte Zeit, ohne irgend ein Mittel zur Unterhaltung und Besch\u00e4ftigung, sich selbst \u00fcberlassen ist. Es mag wohl als gegeben zu betrachten sein, dafs die meisten Menschen im Laufe weniger Stunden, und selbst diejenigen, welche es gewohnt sind, sich mit ihren eignen Gedanken zu besch\u00e4ftigen, im Laufe weniger Tage in die hoffnungsloseste Langeweile versinken w\u00fcrden. S\u00e4mtliche 24 Stunden des Tages veressen und verschlafen kann wohl niemand, die Zeit soll jedoch vertrieben sein, d. h. das Bed\u00fcrfnis der Th\u00e4tigkeit mufs Abflufs haben. Das Individuum f\u00e4hrt deshalb auf die unsinnigste Weise hin und her, setzt sich, legt sich bald auf die eine, bald auf die andere Seite, alles nur, um Abwechselung zu verschaffen und die \u00fcberstr\u00f6mende Energie zu entladen. Ganz dasselbe erreicht das Kind aber durch Schreien, Zappeln, Umsichschlagen, nur ist es bei ihm nat\u00fcrlich","page":308},{"file":"p0309.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung des Kummers.\n309\neine durchaus unbewufste Reaktion. Soweit ich zu sehen vermag,\nkann man deshalb den Zustand, der beim pl\u00f6tzlichen Aufh\u00f6ren\neiner Quelle der Lust, f\u00fcr die sich kein Ersatz einstellt, im\nKinde entsteht, am besten auf folgende Weise erkl\u00e4ren. Diejenige\nBewegung im Gehirn, die durch \u00e4ufsere, lusterregende Reize\nhervorgerufen und durch die dieselben begleitenden vasomotorischen \u2022 \u2022\n\u00c4nderungen ferner vermehrt wurde, mufs Abflufs haben. Kann dieser Abflufs nicht innerhalb des Sensoriums stattfinden, indem neue Reize die Aufmerksamkeit anziehen, so irradiiert die Bewegung und wirkt nun ganz wie die durch einen gar zu starken Reiz hervorgerufene Bewegung, d. h. derselbe physiologische Apparat wird erregt. Dann haben wir aber die dem Kummer charakteristischen Erscheinungen. Man nenne diesen Zustand des kleinen Kindes, wie man will, Langeweile, Entt\u00e4uschung, \u201eSchl\u00e4frigkeit\u201c, \u201eUnart\u201c, Kummer u. s. w. ; der Name macht nichts zur Sache. In der That ist der Zustand keiner dieser Affekte in dem Sinne, wie man dieselben beim Erwachsenen findet, weil er aus allen zugleich besteht. Es f\u00e4llt aber nicht schwer, nachzuweisen, wie sich aus diesem Keim eben der Affekt entwickelt, den wir sp\u00e4ter Kummer nennen.\n389.\tDer oben. beschriebene Fall, in welchem das Kind \u00fcber das Fortgehen der Mutter \u201eKummer\u201c \u00e4ufsert, ist nat\u00fcrlich ein rein spezielles Beispiel. Jedesmal, wenn ein lusterregender Reiz auf h\u00f6rt, ohne dafs sich ein Ersatz darb\u00f6te, wird die aus dem Sinnesorgan irradiierende Bewegung verschiedene motorische Zentren auf bestimmte Weise in Th\u00e4tigkeit setzen. Und da man nun weifs, dafs reproduzierte Vorstellungen sich ebenso wie die durch \u00e4ufseren Reiz gegebenen zu den Gef\u00fchlen verhalten, wird es leicht verst\u00e4ndlich, dafs die Vorstellung, eine jedenfalls im Augenblick unersetzliche Quelle materieller oder ideeller Lust sei versiegt, auf einer sp\u00e4teren Entwickelungsstufe denselben physiologischen Apparat in Bewegung setzen mufs. Somit ist der autopathische (selbstische) Kummer \u2014 von dem sympathischen zu reden, w\u00fcrde uns hier gar zu weit f\u00fchren \u2014 in allem wesentlichen gegeben.\n390.\tEs er\u00fcbrigt indes noch, die f\u00fcr den Kummer so charakteristische Erscheinung des Weinens zu besprechen. Lange f\u00fchrt triftige Gr\u00fcnde f\u00fcr die Auffassung an, diese Erscheinung sei eine Folge der auf den Gef\u00e4fsspasmus eintretenden Dilatation, die vermehrten Blutzuflufs nach der Thr\u00e4nendr\u00fcse","page":309},{"file":"p0310.txt","language":"de","ocr_de":"310\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nund mithin deren erh\u00f6hte Th\u00e4tigkeit herbeif\u00fchre1). Es lassen sich indes doch auch wesentliche Einw\u00fcrfe gegen diese Erkl\u00e4rung anf\u00fchren. Erstens weifs man, dafs das kleine Kind bei dem Gef\u00fchl der Unlust gar nicht weint, sondern nur schreit. Ferner weint der Erwachsene bekanntlich nicht leicht unter dem Einflufs k\u00f6rperlicher Schmerzen, sondern gew\u00f6hnlich nur bei Kummer. Und wenn der Erwachsene endlich vor sehr intensiven k\u00f6rperlichen Schmerzen weint, so geschieht dies nicht beim Eintreten der Dilatation, wenn die Schmerzen abnehmen, sondern vielmehr w\u00e4hrend dieselben kulminieren. Die letzte Thatsache zeigt direkt, dafs das Weinen nicht von einer Dilatation nach dem Gef\u00e4fsspasmus herr\u00fchrt, und die beiden ersten legen ebenfalls dar, dafs sogar starke Spasmen auf h\u00f6ren k\u00f6nnen, ohne dafs das Weinen eintritt, und zwar sowohl beim kleinen Kinde als beim Erwachsenen. Und dafs das Fehlen des Weinens sich nicht dadurch erkl\u00e4ren l\u00e4fst, dafs die Thr\u00e4nendr\u00fcse noch nicht funktionieren k\u00f6nne, geht daraus hervor, dafs Keizung der Schleimhaut der Nase reichliche Thr\u00e4nenabsonderung hervorruft, lange vor dem Zeitpunkte, da das Kind weint [P. 73]. Langes Erkl\u00e4rung scheint also nicht stichhaltig zu sein, und dasselbe gilt unzweifelhaft auch dem anderen von ihm versuchten Auswege2), der, streng genommen, gar nichts erkl\u00e4rt. Als Associationserscheinung l\u00e4fst die Sache sich dagegen zum Teil verstehen.\n391. Zahlreiche Beobachtungen von Darwin, Prey er und anderen haben gezeigt, dafs es im h\u00f6chsten Grade individuell verschieden ist, wann ein Kind zum erstenmal weint. W\u00e4hrend die \u00fcbrigen in der zarten Kindheit beobachteten Ausdrucksbewegungen bei allen normal entwickelten Kindern fast um denselben Zeitpunkt eintreten, zeigt das Weinen in dieser Beziehung auff\u00e4llig grofse Verschiedenheiten auf. Die Angaben f\u00fcr das Eintreten des ersten Weinens variieren von Ende der 3. bis Anfang der 20. Woche [P. 22e]. Dies scheint anzudeuten, dafs zuf\u00e4llige Umst\u00e4nde hier mitbeth\u00e4tigt sind, und die Annahme liegt dann nahe, dafs diese wesentlich in gelegentlichen mechanischen Reizungen der Hornhaut bestehen. Wenn das kleine Kind mit offenen Augen daliegt, ohne zu zwinkern, mufs es der Gefahr sehr ausgesetzt sein, etwas \u201eins Auge zu bekommen\u201c},\n9 Angef. Werk. S. 16.\n2) Angef. Werk. S. 84. Anm. 8.","page":310},{"file":"p0311.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung des Kummers.\n311\nnicht nur gr\u00f6fsere Staubpartikeln, sondern auch seine eignen H\u00e4nde kommen w\u00e4hrend der zwecklosen Bewegungen h\u00e4ufig in unsanfte Ber\u00fchrung mit dem Auge. Jeder derartige Beiz ruft bekanntlich eine vermehrte Thr\u00e4nenabsonderung hervor, die jedoch selten so stark wird, dafs die Thr\u00e4nen die Wangen hinablaufen1). Diese Ber\u00fchrungen sind indes sehr schmerzlich, und\n\u2022 \u2022\nsie werden deshalb alle die gew\u00f6hnlichen Aufserungen des k\u00f6rperlichen Schmerzes erzeugen. Ist dies einigemale geschehen, so wird sich zwischen den Aufserungen des k\u00f6rperlichen Schmerzes und der vermehrten Thr\u00e4nenabsonderung eine Association gebildet haben, und so wie diese allm\u00e4hlich immer fester wird, mufs das Vergiefsen der Thr\u00e4nen ebenfalls sowohl h\u00e4ufiger als reichlicher werden. Es ist deshalb ganz nat\u00fcrlich, \u201edafs kleine Kinder im zweiten und dritten Jahre \u00fcber Unlust erregende Eindr\u00fccke viel leichter weinen und mehr Thr\u00e4nen vergiefsen, als halbj\u00e4hrige und einj\u00e4hrige\u201c [P. 227]. Es besteht jedoch stets ein gewisses antagonistisches Verh\u00e4ltnis zwischen dem Gef\u00e4fs-spasmus beim Schmerze und der vermehrten Thr\u00e4nenabsonderung, weil letztere wahrscheinlich dadurch von ersterem gehemmt wird, dafs der Stoffwechsel, somit also auch die Absonderungen der Thr\u00e4nendr\u00fcse, langsamer Vorgehen. Es ist daher leicht zu verstehen, weshalb das Weinen gew\u00f6hnlich erst dann eintritt, wenn der Kummer sich bes\u00e4nftigt, denn die an diesem Punkte erscheinende Dilatation bietet g\u00fcnstigere Bedingungen f\u00fcr den Ausbruch des Weinens dar, als der starke Gef\u00e4fsspasmus. Wie nun aber das Weinen w\u00e4hrend der Kulmination der intensiven k\u00f6rperlichen Schmerzen eintreten kann, ist nicht ganz einleuchtend; es gibt indes ja etwas dem Analoges auf anderen Gebieten, indem z. B. starker Schreck trotz des Gef\u00e4fsspasmus eine vermehrte Sekretion des Schweifses bewirken kann. Und was nun schliefslich den Umstand betrifft, dafs der Erwachsene freilich bei Kummer, gew\u00f6hnlich aber nicht unter k\u00f6rperlichen Schmerzen weint, so ist das wahrscheinlich als ein Kunsterzeugnis aufzufassen. Hat das Kind ein gewisses Alter erreicht, so wird es darauf dressiert, seine Thr\u00e4nen beim Schmerze zur\u00fcckzudr\u00e4ngen,\nKalte Luft kann dasselbe bewirken. Als Kuriosum mag angef\u00fchrt werden, dafs mein T\u00f6chterehen am 40. Tage zum erstenmal in der freien Luft war; am 43. Tage weinte sie zum erstenmal so, dafs ihr die Thr\u00e4nen die Wangen hinabflossen.","page":311},{"file":"p0312.txt","language":"de","ocr_de":"312\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nwas sich auch zum Teil thun l\u00e4fst, obgleich die Thr\u00e4nen-absonderung der Herrschaft des Willens nicht unterworfen ist. indem man an das Ehrgef\u00fchl appelliert oder auf andere Weise Gef\u00fchle hervorruft, welche hemmend auf die Thr\u00e4nenbildung wirken. Im Laufe der Zeit wird also die Verbindung zwischen dem k\u00f6rperlichen Schmerz und den das Weinen hervorrufenden Innervationen aufgel\u00f6st; werden die Schmerzen aber zu stark, so geht die Natur \u00fcber die Erziehung. Im ganzen genommen scheint also die hier dargestellte Auffassung besser als irgend eine der fr\u00fcheren die verschiedenen Thatsachen erkl\u00e4ren zu k\u00f6nnen. Ob dieselbe sich behaupten l\u00e4fst, wird jedoch besonders davon abh\u00e4ngig sein, ob unsere physiologischen Voraussetzungen vor dem Gerichte der Erfahrung bestehen k\u00f6nnen.\n392. Erwartung, Hoffnung, Furcht sind sehr nahe verwandte Zust\u00e4nde. Ihnen allen gemeinsam ist eine Reihe meistens ungew\u00f6hnlich klarer und deutlicher, reproduzierter Vorstellungen, auf welche die Aufmerksamkeit mit dem Be-wufstsein gerichtet ist ; es sei mit gr\u00f6fserem oder geringerem Grade der Sicherheit anzunehmen, dafs ihr Inhalt Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung werden werde. Hiermit wird dann gew\u00f6hnlich die Vorstellung von einer Handlung verbunden sein, welche auszuf\u00fchren sei, wenn das von der Phantasie Vorausgestaltete Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung werde. Die Verschiedenheit der drei Zust\u00e4nde besteht nun blofs darin, dafs in der Erwartung der Vorstellungsinhalt ohne hervortretenden Gef\u00fchlston ist; in der Hoffnung ist das Erwartete mit Lust, in\nder Furcht dagegen mit Unlust verbunden. Die physiologischen \u2022 \u2022\nAufserungen haben demnach einen etwas verschiedenen Charakter. Bei der Erwartung, besonders wenn diese als \u201egespannte\u201c Erwartung stark hervortretend ist, wird eine Erh\u00f6hung der willk\u00fcrlichen Innervation nebst einem Spasmus der organischen Muskeln wahrgenommen; bei der Hoffnung f\u00e4llt dieser Spasmus weg, und der Zustand erh\u00e4lt zun\u00e4chst den Charakter der Freude in Verbindung mit einer vielleicht etwas st\u00e4rkeren Unruhe und einem gr\u00f6fseren Bed\u00fcrfnis der Bewegung, als sonst diesem Affekt eigen sind. Die Furcht endlich bietet einen den Umst\u00e4nden gem\u00e4fs verschiedenen Anblick dar, indem sie, wenn die Spannung vorwiegt, zun\u00e4chst deren Charakter tr\u00e4gt, unter Hinzutritt eines leichten Gef\u00e4fsspasmus ; erregt das Erwartete dagegen starke Unlust, so erh\u00e4lt sie zun\u00e4chst das Gepr\u00e4ge des Kummers und zeigt sich","page":312},{"file":"p0313.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der Erwartung und der Furcht.\t313\nals eine Schw\u00e4chung der willk\u00fcrlichen Innervation nebst Gef\u00e4fs-verengerung, wozu dann gewifs stets ein Spasmus der organischen Muskeln hinzukommt.\n393. Mit Bezug auf die Entwickelung dieser Affekte ist nicht viel zu bemerken. Der Natur der Sache zufolge k\u00f6nnen sie nicht beim kleinen Kinde Vorkommen, da sie eine Entwickelung der Phantasie, also eine Vorstellungsreproduktion erfordern, die w\u00e4hrend der ersten Lebenszeit nicht m\u00f6glich ist. Wann sich zum erstenmal eine Erwartung beim Kinde verr\u00e4t, wird nicht von Prey er angegeben, und ich habe deshalb selbst einige Beobachtungen hier\u00fcber angestellt. In der 12. Woche begann das Kind Saugbewegungen zu machen und gleichsam vor Ungeduld mit den Armen auszuschlagen, wenn ich die Saugflasche innerhalb seines Gesichtskreises brachte. Sobald ich die Flasche entfernte, fing es zu schreien an. Ein paar Tage sp\u00e4ter l\u00e4chelte das Kind zum erstenmal beim Anblick der Mutter und verriet somit zweifelsohne ein Wiedererkennen. Da das Wiedererkennen nun selbst eine primitive Erwartung voraussetzt [308\u2014309], so scheinen die beiden genannten Beobachtungen im Verein darauf hinzudeuten, dafs das Vorstellungsleben des Kindes zu dem angegebenen Zeitpunkte so entwickelt war, dafs sowohl die primitive Erwartung als die mehr bewufste zu st\u00e4nde kommen konnte, und ich kann als ziemlich gewifs verb\u00fcrgen, dafs vor der genannten Zeit keine Spur von diesen Erscheinungen zu entdecken war. Von Furcht, von der Erwartung einer Unannehmlichkeit, wird also ebenfalls kaum vor ungef\u00e4hr der 13. Woche die Rede sein k\u00f6nnen; wird das Kind aber keinen schmerzhaften Reizen ausgesetzt, so mufs lange Zeit verstreichen k\u00f6nnen, bis es Furcht f\u00fchlt. Dies sagt denn auch Preyer: \u201eWann ein S\u00e4ugling zum erstenmal Furcht verr\u00e4t, h\u00e4ngt wesentlich von seiner Behandlung ab, sofern die Vermeidung schmerzerregender Eingriffe die durch Unkenntnis der Furcht ausgezeichnete Periode der ersten Zeit verl\u00e4ngert, dagegen die H\u00e4ufung derselben sie abk\u00fcrzt\u201c [P. 120]. Wenn Prey er aber hinzusetzt: \u201eEs gibt aber eine erbliche Furchtsamkeit, welche sich \u00e4ufsert, sowie sich die Gelegenheit bietet,\u201c so macht er sich unzweifelhaft der obenerw\u00e4hnten Verwechselung der Furcht mit dem Schreck schuldig. Dafs das Kind sogar w\u00e4hrend der ersten Lebenstage bei pl\u00f6tzlichen starken Reizen erschrickt, wurde schon erw\u00e4hnt [371], ebenfalls, dafs derselbe Zustand im h\u00f6her","page":313},{"file":"p0314.txt","language":"de","ocr_de":"314\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nentwickelten Bewufstsein durch neue, unbekannte Vorstellungen erzeugt werden kann. Fast alle von Prey er [P. 120-125] angef\u00fchrten Beispiele der Furcht w\u00e4hrend der ersten Kindheit beziehen sich nun gerade auf neue, dem Kinde unverst\u00e4ndliche Eindr\u00fccke, und es wird sicher berechtigt sein, den durch dieselben hervorgerufenen Affekt als Schreck zu bezeichnen. Durch ihre physiologischen \u00c4ufserungen allein wird man die Furcht kaum vom Schreck unterscheiden k\u00f6nnen, teils weil die beiden Affekte einander sehr \u00e4hnlich sind, teils weil die Furcht selbst ein wechselndes Aussehen haben kann. Die Sonderung der beiden Zust\u00e4nde ist zun\u00e4chst durch deren psychische Verschiedenheit\nzu begr\u00fcnden, sowie auch durch die Art und Weise, wie die\n\u2022 \u2022\nphysiologischen \u00c4ufserungen zu st\u00e4nde kommen. Dafs dies beim Schreck mittels einer Irradiation der durch den Sinnesreiz im Gehirn hervorgerufenen Bewegung geschieht, wurde bereits nachgewiesen; wie sich das Verh\u00e4ltnis bei der Furcht gestaltet, wird unten besprochen werden.\n394. Wenn wir etwas erwarten, wird die Aufmerksamkeit, wie schon gesagt, nicht nur auf einen gewissen Vorstellungsinhalt konzentriert sein, sondern auch auf eine gewisse Handlung oder Bewegung, die ausgef\u00fchrt werden soll, wenn das von der Phantasie Vorausgestaltete Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung wird. Wie man weifs, kann eine solche Bewegungsvorstellung aber nicht existieren, ohne die erh\u00f6hte Innervation der betreffenden Muskeln herbeizuf\u00fchren. Dauert es nun einige Zeit, bis das Erwartete eintritt, so wird die erh\u00f6hte Innervation ein Bed\u00fcrfnis der Bewegung erzeugen, das sich durch ein mehr oder weniger sinnloses Umherfahren \u00e4ufsert, welches die Unruhe des Individuums deutlich verr\u00e4t. Bleibt das Erwartete noch immer aus, so w\u00e4chst die M\u00f6glichkeit von dessen baldigem Eintreten und somit unwillk\u00fcrlich die von dem motorischen Zentrum ausgehende Innervation; schliefslich mufs die Bewegung im Zentralorgane so stark werden, dafs sie nicht nur nach den willk\u00fcrlichen Muskeln Abflufs findet, sondern auch nach anderen motorischen Zentren irradiiert. Und die Erfahrung scheint zu lehren, dafs diejenigen Zentren, von welchen aus die Bewegungen der Blasen- und Darmmuskulatur reguliert werden, am ersten oder leichtesten Angriffe erleiden, da es namentlich diese vegetativen Organe sind, die w\u00e4hrend der Erwartung affiziert werden. \u2014 Dafs dieser ganze Zustand von Unlust begleitet ist, bedarf kaum n\u00e4herer Erw\u00e4hnung.","page":314},{"file":"p0315.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung der Hoffnung.\n315\n395.\tDie Hoffnung, die Erwartung von etwas Erfreulichem, kann ebenso wie die Furcht, die Erwartung von etwas Traurigem, ein den Umst\u00e4nden gem\u00e4fs verschiedenes Gepr\u00e4ge annehmen, obschon diese Verschiedenheiten nicht so grofs werden wie die bei der Furcht wahrgenommenen. Denn da das Bed\u00fcrfnis der Bewegung eine der hervortretendsten Erscheinungen sowohl der Freude als der Erwartung ist, so wird die Verschiedenheit der verschiedenen Zust\u00e4nde nicht besonders grofs, wenngleich bald die Freude, bald die Spannung vorherrscht. Als fast reine Lust tritt die \u201efrohe Erwartung\u201c eigentlich nur w\u00e4hrend der Periode auf, in welcher das Kind sich v\u00f6llig der Phantasie anheimzugeben und sich auf das K\u00fcnftige als \u00fcber ein Gegenw\u00e4rtiges zu freuen vermag. Der \u00c4ltere, der aus Erfahrung gelernt hat, wie viele Hindernisse sich einstellen k\u00f6nnen, selbst wenn ein g\u00fcnstiger Erfolg durchaus gesichert zu sein scheint, wird stets einige Spannung und Unruhe f\u00fchlen, so dafs die Freude keine ungetr\u00fcbte wird. Auch das Kind kennt diesen Zustand, wenn das erfreuliche Ereignis von gewissen Bedingungen abh\u00e4ngig ist. Wer hat nicht als Kind die ganze Nacht hindurch halb wach gelegen und sich jeden Augenblick ans Fenster geschlichen, um zu sehen, ob das gute Wetter anhielte, so dafs ein versprochener Ausflug stattfinden k\u00f6nnte? In diesem Zustande verr\u00e4t sich trotz der Freude eine Unruhe, die das nat\u00fcrliche Bed\u00fcrfnis des Schlafes im Kinde \u00fcberwindet und dasselbe in fortw\u00e4hrender Th\u00e4tigkeit erh\u00e4lt.\n396.\t\u00c4hnliche, nur noch mehr hervortretende Verschiedenheiten kennen wir zwischen der blofsen Erwartung von etwas Unangenehmem und der h\u00f6chsten Furcht, der Todesangst; aber\nauch die Symptome dieser Zust\u00e4nde lassen sich als eine Ver-\n\u2022 \u2022\neinigung der k\u00f6rperlichen Aufserungen des Kummers und der\nErwartung auffassen. In der Erwartung des Unangenehmen, im\nExamen-, Lampen- und anderweitigen \u201eFieber\u201c, kommt zu den\n\u2022 \u2022\nbekannten Aufserungen der Erwartung noch der Gef\u00e4fsspasmus hinzu, daher die gew\u00f6hnlichen Symptome: Unruhe, Leib weh, Mattigkeit und K\u00e4lteempfindungen. Tritt das Bewufstsein von dem Unangenehmen oder Traurigen mehr in den Vordergrund, so werden auch die Symptome des Kummers vorherrschender; die starken Affektionen der Darmmuskulatur werden von Mattigkeit abgel\u00f6st, und das Individuum sinkt zusammen. Aber sogar in der \u00e4ufsersten Furcht, wenn alle Hoffnung aufgegeben zu sein","page":315},{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nscheint, verr\u00e4t sich noch die Spannung durch konvulsivische\nBewegungen; der Ertrinkende greift nach dem Strohhalm. \u2014\n\u2022 \u2022\nEbenso wie Hoffnung und Furcht in dem mehr neutralen Ubergangs-gliede, in der Erwartung, Zusammentreffen, ebenso k\u00f6nnen sie auch in einem Zustande labilen Gleichgewichts, dem Zweifel, Zusammentreffen, in welchem die beiden Affekte fortw\u00e4hrend abwechseln. Von den verschiedenen Symptomen bleibt hier eigentlich weiter nichts Konstantes zur\u00fcck als die Spannung, das Bed\u00fcrfnis der Bewegung, die verzehrende Unruhe des Zweifels.\n397. Zorn entsteht, wenn ein Streben ein Hindernis antrifft, das dem Individuum als ein nicht-naturnotwendiges erscheint und deshalb als gerade um dessen Streben zu hemmen vors\u00e4tzlich aufgestellt betrachtet wird. Als spezieller Fall kann die Beleidigung aufgefafst werden, die allerdings keine einzelne bestimmte Bestrebung hemmt, jedoch das Selbstgef\u00fchl oder Selbstvertrauen, auf welches alles bewufste Streben sich gr\u00fcndet, anzugreifen und niederzudr\u00fccken sucht. Die physiologischen \u00c4ufserungen des Zornes lassen sich [138\u2014139] auf eine erh\u00f6hte und inkoordinierte Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln nebst einer Gef\u00e4fsverengerung an der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers und m\u00f6glicherweise auch im Inneren zur\u00fcckf\u00fchren. W\u00e4hrend der ersten Lebenszeit des Kindes kann man nicht erwarten, Zorn bei demselben wahrzunehmen, weil sein Vorstellungs- und Gef\u00fchlsleben noch erst so schwach entwickelt sind, dafs es keinem bestimmten Ziel bewufst zustreben kann. Erst wenn eine gr\u00f6fsere Vorstellungsmasse und gewisse Beherrschung der Muskeln erlangt sind, wird eigentliches Wollen und mithin auch Zorn m\u00f6glich. Und f\u00fcr die Entwickelung des Affekts bezeichnend ist es, dafs die ersten Zornes\u00e4ufserungen des Kindes sich zeigen, nicht wenn man es an etwas Gewolltem verhindert, sondern wenn man es zu etwas Nichtgewolltem zwingt. Entfernt man einen Gegenstand, den das Kind zu ergreifen w\u00fcnscht, kann es zwar zu weinen anfangen und alle Zeichen der Unlust kundgeben, zu einem Zornesausbruch kommt es jedoch nicht. Will man dagegen z. B. das Kind wider seinen Willen zu Bette legen, so schreit es laut, str\u00e4ubt sich und streckt sich starr aus (von Prey er zum erstenmal im 10. Monate beobachtet) [P. 238]. In dieser seiner primitivsten Form ist der Zorn offenbar nur bewufster Widerstand gegen \u00e4ufseren Zwang; dieses Verh\u00e4ltnis","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"Entwickelung des Zornes.\n317\ngibt uns indes den Faden zum Verst\u00e4ndnisse der Zorneserscheinungen, indem es anzuzeigen scheint, dafs die willk\u00fcrlichen Bewegungen die prim\u00e4re physiologische \u00c4ufserung des Zornes sind. Unter dieser Voraussetzung wird es jedenfalls nicht schwer zu verstehen, wie alle die dem Zorne charakteristischen Erscheinungen sich durch eine scheinbar vors\u00e4tzliche Hemmung eines bewufsten Strebens hervorrufen lassen.\n398. W\u00e4hrend der fortgesetzten Entwickelung wird es h\u00e4ufig geschehen, dafs das Kind zu gewissen Zeiten ein lebhaft erw\u00fcnschtes Ding erreichen kann, das es zu anderen Zeiten nicht zu erlangen vermag. Selbst das umsichtigste Erziehungssystem wird solche anscheinende Inkonsequenz nicht vermeiden k\u00f6nnen, da das, was dem Kinde in gewissen F\u00e4llen eine ganz unschuldige Freude zu bereiten vermag, ihm bei anderen Gelegenheiten sch\u00e4dlich sein kann. Anderseits bleibt nat\u00fcrlich vieles \u00fcbrig, das aus guten Gr\u00fcnden trotz der innigsten Bitten nie in den Besitz des Kindes gelangt, und dieses lernt also schon ziemlich fr\u00fchzeitig, dafs in gewissen F\u00e4llen das Bitten gar nichts hilft. Hat das Kind nun aber einst den vergeblichen Wunsch nach etwas ge\u00e4ufsert, das es, wie es weifs, fr\u00fcher erreicht hat, so wird die erste Folge der Verweigerung nat\u00fcrlich Unlust nebst allen deren physiologischen Wirkungen, besonders dem Gef\u00e4fsspasmus werden; hierzu kommt dann aber, da das Kind aus fr\u00fcheren Erfahrungen weifs, das Begehrte sei zu erreichen, fortgesetzte Bem\u00fchung, das Ziel zu erstreben. Erh\u00e4lt das Kind nun nicht eine gute Idee, die das erw\u00fcnschte Resultat herbeif\u00fchrt [man sehe das lehrreiche Beispiel P. 237], so werden die vergeblichen Bem\u00fchungen noch st\u00e4rkere Unlust erwecken, die dann wieder eine erneuerte Anspannung des ganzen Organismus in der bestimmten Richtung herbeif\u00fchrt. Die immer mehr anwachsende Innervation der gef\u00e4fsverengernden Muskeln bewirkt aber, wie wir wissen, eine St\u00f6rung des Vorstellungslaufes. Ohne klare Bewegungsvorstellungen ist es indes nicht m\u00f6glich, zweckm\u00e4fsige Bewegungen auszuf\u00fchren, diese werden deshalb inkoordiniert und verm\u00f6gen also noch weniger, die Erreichung des Beabsichtigten zu erzielen. Die ganze Geschichte endigt dann damit, dafs das Kind sich in \u00e4ufserster Wut zur Erde wirft, schreit, um sich schl\u00e4gt und beifst (zum erstenmal im 17. Monate von Prey er beobachtet). Erbliche Anlagen k\u00f6nnen vielleicht etwas zur Entwickelung dieses Affekts beitragen, indem das Kind durch","page":317},{"file":"p0318.txt","language":"de","ocr_de":"318\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\ndieselben zu solchen Anf\u00e4llen disponiert wird; \u00fcbrigens leuchtet es jedoch, ein, dafs Anf\u00e4lle wie der geschilderte um so h\u00e4ufiger werden k\u00f6nnen, je weniger rationell die Erziehung geleitet wird, und je mehr es von den Launen und dem Gutd\u00fcnken der Umgebungen abh\u00e4ngt, was das Kind darf, und was es nicht darf. Und da nun alles Menschenwerk und ganz besonders die Kindererziehung unvollkommen ist, so ist kaum zu vermeiden, dafs jedes Kind, mehr oder weniger h\u00e4ufig nat\u00fcrlich, Hindernisse seines Strebens antrifft, von denen es aus Erfahrung weifs, dafs sie sich entfernen lassen, und die deshalb leicht Zornesausbr\u00fcche veranlassen. Es bildet sich also im Laufe der Zeit eine mehr oder weniger feste Association zwischen unn\u00f6tigen, dem Anscheine nach absichtlich aufgestellten Hindernissen und dem gesamten organischen Zustande, den diese h\u00e4ufig herbeif\u00fchrten. Somit ist der Zorn in seinen wesentlichsten Z\u00fcgen gegeben, so wie er sich beim Erwachsenen \u00e4ufsert.\n399. Beachtenswert ist es, dafs man auch auf einer sp\u00e4teren Entwickelungsstufe ganz dieselben Ursachen des Zornes wahrnehmen kann, die man beim Kinde erblickt. Jedes zuf\u00e4llige Hindernis einer Handlung kann den Zorn entflammen, stets aber nur unter der Bedingung, dafs der Handelnde sich bewufst ist, eine \u00e4hnliche That schon fr\u00fcher ausgef\u00fchrt zu haben, so dafs das Hindernis also kein notwendiges, durch die Natur der Sache selbst begr\u00fcndetes ist, sondern seiner Zuf\u00e4lligkeit wegen das Aussehen hat, es sei absichtlich aufgestellt. So kann bekanntlich eine mechanische Arbeit, die wegen der eignen Ungeschicklichkeit des Individuums ein seltenes Mal nicht recht von der Hand gehen will, leicht einen Paroxysmus verursachen, w\u00e4hrend dessen das Individuum in seinem Ingrimm \u00fcber die Widerspenstigkeit des Stoffes alles vernichtet, was bereits ausgef\u00fchrt war. In einem derartigen Falle kann man bei einiger Aufmerksamkeit an sich selbst den ganzen Prozefs beobachten, mittels dessen die erste Unlust wegen des erfolglosen Strebens bis zu einem Zornesausbruch an w\u00e4chst. F\u00e4ngt die Sache an, schief zu gehen, so wird jeder Muskel und jeder Nerv angespannt, um trotz aller Hindernisse das Ding dennoch zurechtzubringen ; da aber die Unlust die Koordination der Bewegungen schon weniger sicher gemacht hat \u2014 nur wenn mit Lust gearbeitet wird, gibt es gute Arbeit \u2014 wird der Versuch fast immer mifslingen. Die hierdurch anwachsende Unlust macht die Bewegungen noch ungeschickter , und alsdann","page":318},{"file":"p0319.txt","language":"de","ocr_de":"Res\u00fcmee.\n319\nm\u00f6chte ein Paroxysmus wohl fast unvermeidlich sein. Bei der Beleidigung l\u00e4fst sich das allm\u00e4hliche Anwachsen des Zornes nicht auf diese Weise beobachten, weil die verletzenden Worte oder Handlungen des Beleidigers das Selbstgef\u00fchl des Individuums gleichsam auf einen Schlag niederdr\u00fccken oder d\u00e4mpfen, wodurch der freien Entfaltung von dessen Kr\u00e4ften ein Hindernis entgegengestellt wird. Aber auch in diesem Falle wird die Unlust von einem Streben nach Entfernung des Hindernisses begleitet sein; diese wird indes am leichtesten dadurch erreicht, dafs das Selbstgef\u00fchl durch Erteilung einer k\u00f6rperlichen Z\u00fcchtigung auf Kosten des Beleidigers gehoben wird, und die geballten F\u00e4uste und andere pantomimische Bewegungen sind also als nat\u00fcrliche Trieb-\u00e4ufserungen verst\u00e4ndlich. \u2014 Auch der starke Blutandrang nach dem Kopfe nebst allen hieraus folgenden Erscheinungen, die dem Zorn so charakteristisch sind, lassen sich, wie oben bereits angedeutet [139], mit den hier als Grundlage verwerteten Ansichten\n\u2022 \u2022\nvon den prim\u00e4ren physiologischen Aufserungen des Zornes in \u00dcbereinstimmung bringen. Da in dieser Beziehung aber noch vieles der n\u00e4heren Erhellung von rein physiologischer Seite ben\u00f6tigt ist, werden wir uns nicht tiefer darauf einlassen.\nRes\u00fcme e.\n400. Wie unvollst\u00e4ndig und oberfl\u00e4chlich diese ganze Untersuchung \u00fcber die Genesis der Affekte auch ist und wegen unseres geringen Wissens auf diesem Gebiete werden mufste, scheint sie doch die Hoffnung zu geben, dafs man einst zu einem wirklichen Verst\u00e4ndnisse des Ursprungs und der Entwickelung der Affekte wird gelangen k\u00f6nnen. Denn wir sahen, dafs die wesentlichsten physiologischen \u00c4ufserungen der Affekte, soweit wir sie kennen, sich als Associationserscheinungen auffassen lassen. Motorische Innervationen, die bei \u00e4ufserer Beizung h\u00e4ufig gleichzeitig mit gewissen Empfindungen und Vorstellungen eintraten, werden sich mit diesen associieren, und sp\u00e4ter k\u00f6nnen sie deshalb entweder direkt durch dieselben Vorstellungen oder indirekt durch andere Vorstellungen mittels der urspr\u00fcnglichen als Mittelglieder reproduziert werden. Auf diese Weise lassen sich die meisten der \u00c4ufserungen der Affekte als w\u00e4hrend des Lebenslaufes des einzelnen Individuums entstanden erkl\u00e4ren, ohne dafs man n\u00f6tig h\u00e4tte, der Erblichkeit besondere Bedeutung","page":319},{"file":"p0320.txt","language":"de","ocr_de":"320\nDie speziellen Gesetze der Gef\u00fchle.\nbeizulegen. Nur einige einzelne Ausdrucksbewegungen mufsten wir notgedrungen als angeboren betrachten, diese waren aber auch derartiger Beschaffenheit, dafs ihre Vererbung an und f\u00fcr sich wahrscheinlich war. Endlich trafen wir auch einige emotionelle Bewegungen an, die als Irradiationserscheinungen zu erkl\u00e4ren waren ; hiermit hat aber keine \u00dcbertretung der Associationshypothese stattgefunden. Denn die Irradiation einer Nervenbewegung ist der physiologischen Natur der Association zufolge nur als eine unbestimmte oder unbegrenzte Association zu betrachten, w\u00e4hrend sich anderseits die Association als eine wegen des h\u00e4ufigen Zusammentreffens der Bewegungen auf bestimmten Bahnen geleitete Irradiation auffassen l\u00e4fst. Es scheint also eine gewisse Wahrscheinlichkeit zu st\u00e4nde gebracht zu sein, dafs die physiologischen \u00c4ufserungen der Affekte ein Ergebnis der so wohlbekannten Associationsth\u00e4tigkeit sind. Will man also diesen hypothetischen Andeutungen \u00fcberhaupt einiges Gewicht beilegen, so k\u00f6nnen die Ergebnisse unserer Betrachtungen in folgenden S\u00e4tzen zusammengefafst werden:\n401.\tDie emotionellen Bewegungen lassen sich, bis auf wenige Ausnahmen, als w\u00e4hrend des Lebenslaufes des einzelnen Individuums entwickelt erkl\u00e4ren, so dafs die Erblichkeit hier wohl keine andere Bedeutung hat, als dafs das Individuum durch dieselbe disponiert ivircl, seinen Affekten in gewissen Bichtungen verh\u00e4ltnism\u00e4fsig kr\u00e4ftigen Ausdruck zu gehen.\n402.\tDie Entwickelung, durch welche die einzelnen Affekte nebst ihren k\u00f6rperlichen \u00c4ufserungen entstehen, ist als ein Associationsprozefs aufzufassen, denjenigen analog, welche aus dem Vorstellungsleben bekannt sind. Motorische Innervations\u00e4nderungen , die h\u00e4ufig gleichzeitig mit gewissen Vorstellungen stattfanden, werden sich mit diesen assortieren, so dafs sie sp\u00e4ter entweder direkt durch die urspr\u00fcnglichen Vorstellungen oder indirekt mittels derselben reproduziert werden k\u00f6nnen.\n403.\tDie motorischen Innervations\u00e4nderungen scheinen sich bei den verschiedenen Affekten nicht auf dieselbe Weise zu verhalten. Im Schreck sind die Innervationserh\u00f6hung der Vasomotoren und ehe der willk\u00fcrlichen Muskeln nebengeordnet, indem sie aus derselben Ursache, dem urspr\u00fcnglichen Beiz, entspringen, ln der Freude und dem Kummer scheinen die St\u00f6rungen der Vasomotoren die Ursache der anderen motorischen Ver\u00e4nderungen zu,sein. Im Zorn r\u00fchren die vasomotorischen St\u00f6rungen wahrscheinlich von","page":320},{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"Res\u00fcmee.\t321\ndem Reize selbst her, w\u00e4hrend die erh\u00f6hte Innervation der willk\u00fcrlichen Muskeln als eine willk\u00fcrliche Innervations ander ung zu betrachten ist; die Inkoordination der Muskelbewegungen ist icohl zun\u00e4chst der gleichzeitigen Gef\u00e4fsverengerung und der damit folgenden Hemmung des Vor Stellung slaufes, besonders der Bewegungsvorstellungen, zuzuschreiben. Und in der Erwartung, Hoffnung und Furcht scheinen beide letztgenannten Ursachen der Innervations\u00e4nderungen der willk\u00fcrlichen Muskeln sich im Verein geltend zu machen.\nLehmann, Die Gef\u00fchle.\n21","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"Beitrag zur Systematik der Gef\u00fchle.\nDie systematische Ordnung der Gef\u00fchle.\nPrinzipien der Systematik.\n404. Die systematische Ordnung einer gegebenen Mannigfaltigkeit verwandter Erscheinungen oder Gr\u00f6fsen erheischt die Ausf\u00fchrung von zwei verschiedenen Arbeiten, n\u00e4mlich teils die Aufstellung des Systems selbst, teils das Anbringen der einzelnen Gr\u00f6fsen an ihrem Platze im Systeme. Diese Arbeiten sind indes nicht v\u00f6llig unabh\u00e4ngig voneinander, denn das System wird erst dann seine, endliche, abgeschlossene Form erhalten k\u00f6nnen, wenn s\u00e4mtliche Gr\u00f6fsen ihren Platz in demselben gefunden haben, weil die M\u00f6glichkeit stets existiert, dafs kleine Ver\u00e4nderungen des Systems notwendig werden, wenn neue Gr\u00f6fsen mit dem Anspruch, angebracht zu werden, auftauchen. Anf\u00e4nglich, wenn es sich nur um die Feststellung der Grundz\u00fcge des Systems handelt, mufs diese Arbeit nat\u00fcrlich der sp\u00e4teren Rubrizierung der einzelnen Glieder vorausgehen und deshalb von derselben unabh\u00e4ngig sein. Die Geschichte der Fachwissenschaften best\u00e4tigt dies an jedem Punkte. So ist, um ein schon fr\u00fcher benutztes Beispiel zu nehmen, das chemische System der organischen Stoffe in den Hauptz\u00fcgen festgestellt, indem der Chemiker, wenn die Konstitution eines vorgelegten Stoffes bekannt ist, denselben an dessen Platze im Systeme anzubringen vermag. Wenn gewisse Teile der organischen Chemie nichtsdestoweniger einen ziemlich chaotischen Anblick darbieten, r\u00fchrt das von dem Umstande her, dafs es viele Stoffe gibt, deren Konstitution sich nicht dergestalt bestimmen l\u00e4fst, dafs sie hiernach geordnet werden","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"Unabh\u00e4ngig variable Gr\u00f6fsen.\n323\nk\u00f6nnten. Das System kann also vorliegen, ohne dafs die Anordnung der einzelnen Glieder deswegen ausgef\u00fchrt zu sein brauchte.\n405. Hinsichtlich der Gef\u00fchle stellt sich die Sache ebenso. Die Aufstellung des Systems und die Anordnung der einzelnen Erscheinungen sind anfangs zwei voneinander unabh\u00e4ngige Aufgaben, die deshalb auch auseinander zu halten sind. Es ist denn auch wesentlich nur die erstere derselben, die das vorliegende Werk stets vor Augen hatte. Nur ausnahmsweise suchten wir n\u00e4mlich im Vorhergehenden das den einzelnen Gef\u00fchlszust\u00e4nden Charakteristische zu bestimmen ; derartige Analysen zur Bestimmung der Konstitution einzelner Gef\u00fchle wurden jedenfalls nur als untergeordnete, obschon nicht weniger erforderliche Glieder der Untersuchung angestellt. Unsere Bestrebungen bezweckten vorz\u00fcglich das Auffinden der Faktoren, von welchen die Gef\u00fchle im allgemeinen abh\u00e4ngig sind, und der Gesetze f\u00fcr die Variationen der Gef\u00fchle nach den einzelnen Faktoren. Hierdurch sollte die Aufstellung eines Systems der Gef\u00fchle indes erm\u00f6glicht sein, soweit die Aufgabe sich \u00fcberhaupt l\u00f6sen l\u00e4fst. Denn hat man diejenigen Gr\u00f6fsen bestimmt, von welchen die einzelnen Glieder einer gegebenen Mannigfaltigkeit verwandter Erscheinungen der Erfahrung gem\u00e4fs abh\u00e4ngig sind, so ist mithin das System bereits in seinen Hauptz\u00fcgen gegeben. Es seien\nn\u00e4mlich a, b, c,........n alle diejenigen Gr\u00f6fsen, von welchen\neine gegebene Mannigfaltigkeit von Gliedern abh\u00e4ngig ist, so wird also ein einzelnes Glied G sich ausdr\u00fccken lassen durch :\nG = F (a, b, c,.........n),\nindem die Funktion F das Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltnis bezeichnet. L\u00e4fst man nun eine dieser Gr\u00f6fsen, z. B. a, alle ihre Verte durchlaufen, w\u00e4hrend die \u00fcbrigen Gr\u00f6fsen konstant bleiben, so erh\u00e4lt man hierdurch eine Gruppe verh\u00e4ltnism\u00e4fsig nahe verwandter Glieder, indem deren Verschiedenheit nur durch die Variationen des a bestimmt wird. Auf diese Weise kann man fortsetzen: jedesmal, wenn man den n -P 1 Gr\u00f6fsen einen konstanten Wert beilegt, erh\u00e4lt man eine Gruppe verwandter Erscheinungen, indem man die nte Variable alle ihre Verte durchlaufen l\u00e4fst. Und die ganze Mannigfaltigkeit m\u00fcfste dann innerhalb eines Raumes von n Dimensionen geordnet gedacht werden. Hierbei ist nat\u00fcrlich stets vorauszusetzen, dafs die\nn Gr\u00f6fsen voneinander unabh\u00e4ngig variabel sind, denn es liegt\n21*","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"324\nBeitrag zur Systematik der Gef\u00fchle.\nschon in der Natur der Sache, dafs, wenn z. B. b von c abh\u00e4ngig ist, c nicht variieren kann, ohne dafs b ebenfalls Ver\u00e4nderungen erlitte, und alsdann w\u00e4re G nicht durch n, sondern nur durch n -7-1 Gr\u00f6fsen bestimmt.\n406. Soll ein System aufgestellt werden, so gilt es also nur, die voneinander unabh\u00e4ngig variablen Gr\u00f6fsen zu bestimmen, und wir m\u00fcssen deshalb ein wenig n\u00e4her er\u00f6rtern, was in diesem Ausdruck liegt. Zuv\u00f6rderst wird hiermit nat\u00fcrlich nur gemeint, dafs die betreffenden Gr\u00f6fsen voneinander unabh\u00e4ngig sind, unabh\u00e4ngig voneinander variieren k\u00f6nnen ; es kann dagegen nicht davon die Rede sein, dafs sie von allen anderen Gr\u00f6fsen \u00fcberhaupt unabh\u00e4ngig w\u00e4ren. Eine derartige Unabh\u00e4ngigkeit w\u00fcrde dem Kausalgesetze direkt widerstreiten. Denken wir uns, um das Verh\u00e4ltnis durch ein einzelnes Beispiel aufzukl\u00e4ren, eine Mannigfaltigkeit durch zwei voneinander unabh\u00e4ngige Variablen bestimmt, also G = F (a, b). Dafs a und b voneinander unabh\u00e4ngige Variablen sind, bedeutet also nur, dafs mit dem Werte sl1 des a jeder beliebige Wert des b verbunden sein kann u. s. w.; es wird selbstverst\u00e4ndlich aber von einer Reihe \u00e4ufserer und innerer Ursachen abh\u00e4ngig sein, wann ein einzelner bestimmter Zustand Gr = F (ap, bq) entstehen wird. Zwei Gr\u00f6fsen werden mit anderen Worten voneinander unabh\u00e4ngig variabel sein, wenn gewisse Bedingungen die Ver\u00e4nderung der einen herbeif\u00fchren k\u00f6nnen, ohne dafs die andere ebenfalls variierte. Diese Bestimmung ist indes noch zu wenig begrenzt. Es wird h\u00e4ufig eintreten k\u00f6nnen, dafs mehrere Gr\u00f6fsen innerhalb gewisser Grenzen durchaus voneinander unabh\u00e4ngig sind, jedoch in solcher Beziehung zu einander stehen, dafs ein gewisser Wert der einen den Variationen der anderen eine Grenze aufstellt. Dies ist z. B. mit der Helligkeit und der S\u00e4ttigung der Farben der Fall. Diese beiden Faktoren k\u00f6nnen gew\u00f6hnlich voneinander unabh\u00e4ngig variieren, f\u00fcr eine gegebene S\u00e4ttigung gibt es jedoch ein Maximum der Helligkeit, das sich nicht \u00fcbersteigen l\u00e4fst, und umgekehrt. Es ist leicht, dies nachzuweisen, wenn man sich die Farben, wie es gew\u00f6hnlich geschieht, auf einem geraden zirkul\u00e4ren Doppelkegel geordnet denkt, dessen halbe H\u00f6he gleich dem Halbmesser der Grundfl\u00e4che sein mag. Nachstehende Figur wird dann einen ebenen, die Achse SH enthaltenden Schnitt des Doppelkegels vorstellen. Ein willk\u00fcrlicher Punkt N des Radius OR hat nun die Farbens\u00e4ttigung ON = f, und die Helligkeit","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"Systematisierung der psychischen oder der physischen Zust\u00e4nde. 325\nkann unabh\u00e4ngig von dieser zwischen den Grenzen P, M = \u00b1 y variiert werden. Da aber MN : NR = HO : OR = r : r \u2014 1 ist, so ist mithin MN = NR = r-!-f. Folglich hat man : max. y = MN = r -f- f. Die drei voneinander unabh\u00e4ngigen Variablen, durch welche jede Farbenn\u00fcance bestimmt ist, n\u00e4mlich der Ton, die S\u00e4ttigung und die Helligkeit stehen also in solcher Beziehung zu einander, dafs einem gegebenen Tone und einer gegebenen S\u00e4ttigung ein Maximum der Helligkeit entspricht, das sich nicht \u00fcberschreiten l\u00e4fst. Da die Gr\u00f6fsen nun nichtsdestoweniger als voneinander unabh\u00e4ngig zu bezeichnen sind, k\u00f6nnen wir also voneinander unabh\u00e4ngig variable Gr\u00f6fsen im allgemeinen als solche bestimmen, die innerhalb gewisser gegebenen Grenzen voneinander unabh\u00e4ngig variieren k\u00f6nnen.\n407. Bevor wir nun zur Anwendung dieser allgemeinen Prinzipien auf die Systematik der Gef\u00fchle schreiten, m\u00fcssen wir erst ins reine zu bringen suchen, was denn eigentlich geordnet werden soll. Die Erfahrung hat n\u00e4mlich gelehrt, dafs zwischen den Seelenerscheinungen und deren physischen und physiologischen Ursachen gew\u00f6hnlich nur geringe \u00dcbereinstimmung herrscht. Was als Bewufstseinserscheinung einfach und nichtzusammengesetzt ist, kann h\u00e4ufig aus mehreren zusammen wirkenden physischen Ursachen entstanden sein, und umgekehrt kann ein Bewufstseinszustand, der sich durch psychologische Analyse in mehrere Elemente aufl\u00f6sen l\u00e4fst, oft aus einer einzelnen physischen Ursache entspringen. An unseren Farbenempfindungen haben wir ein gutes Beispiel hiervon. Die Empfindung des ges\u00e4ttigten Violett l\u00e4fst sich psychologisch in die beiden Empfindungen rot und blau aufl\u00f6sen, w\u00e4hrend die physische Ursache stets nichtzusammengesetzt ist, indem die Empfindung nur durch die spektralen violetten Farbenstrahlen, nicht aber durch eine Mischung mehrerer Farbenstrahlen verschiedener Art hervorzurufen ist. Umgekehrt stehen die Empfindungen des ges\u00e4ttigten Gelb und Blau f\u00fcr unser Bewufstsein als nichtzusammengesetzt da, und diese Farben werden zu den psychologischen Hauptfarben gez\u00e4hlt, obschon sie sich durch Mischungen physischer Farbenstrahlen hervorrufen lassen. Die systematische Ordnung\nf jv\nFig. 3.","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"320\nBeitrag zur Systematik der Gef\u00fchle.\neiner Mannigfaltigkeit von Seelenerscheinungen wird deshalb gew\u00f6hnlich ein ganz anderes Resultat ergeben als eine Ordnung der physischen Ursachen der betreffenden Erscheinungen; ein System, das sich auf die wesentlichsten \u00c4hnlichkeiten und Verschiedenheiten der Bewufstseinszust\u00e4nde st\u00fctzt, wird gew\u00f6hnlich ein ganz anderes Aussehen erhalten, als eines, das sich auf das gegenseitige Verh\u00e4ltnis der physischen Ursachen untereinander st\u00fctzt. Dies tritt auch deutlich in den Farbensystemen hervor. W\u00e4hrend die Empfindungen selbst sich auf nat\u00fcrliche Weise auf einem geraden zirkul\u00e4ren Doppelkegel ordnen lassen, kann das gegenseitige Verh\u00e4ltnis der physischen und physiologischen Ursachen nur durch einen kegelf\u00f6rmigen K\u00f6rper ausgedr\u00fcckt werden, dessen Grundfl\u00e4che ein Dreieck mit einer abgerundeten Winkelspitze ist, w\u00e4hrend die Kegelachse sich wahrscheinlich einem nicht n\u00e4her bestimmten Radius vector der Grundfl\u00e4che zuneigen mufs. In einzelnen F\u00e4llen k\u00f6nnen allerdings Ausnahmen von der allgemeinen Regel Vorkommen, dafs die Bewufstseinserscheinungen und deren physische Ursachen einander nicht genau entsprechen. So ist es in betreff der obertonlosen T\u00f6ne gleichg\u00fcltig, ob man sie nach den psychischen Verschiedenheiten, der H\u00f6he und St\u00e4rke des Tones, oder nach den physischen Differenzen der Wellenl\u00e4nge und der Amplitude ordnet. Aber auch wenn solche Ausnahmen Vorkommen k\u00f6nnen, ist es doch erst die Erfahrung, die n\u00e4here Untersuchung, die anzeigt, dafs zwischen dem Psychischen und dem Physischen \u00dcbereinstimmung vorhanden sei ; a priori wissen wir dies nicht. Hieraus folgt nun geradezu, dafs man bei jeder systematischen Ordnung einer Gruppe von Seelenerscheinungen dar\u00fcber im reinen sein mufs, ob diese oder deren physische Ursachen klassifiziert werden sollen. Denn wenn man die Ordnung der Bewufstseinszust\u00e4nde selbst bezweckt, aber die physischen Ursachen als Grundlage der Ordnung gebraucht, so wird die Wahrscheinlichkeit jedenfalls die gr\u00f6fsere sein, dafs man zu einem vollst\u00e4ndig falschen Resultate kommt. Man legt dann \u00c4hnlichkeiten und Verschiedenheiten in die Seelenerscheinungen hinein, die wahrscheinlich gar nicht f\u00fcr diese, sondern nur f\u00fcr deren physische Ursachen existieren.\n408. Dieses Fehlers hat sich Dumont bei seinem Versuche einer systematischen Ordnung der Gef\u00fchle schuldig gemacht. Er macht fr\u00fcheren Systematikern den Vorwurf, ihre Einteilungen","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"Systematisierung der psychischen oder der physischen Zust\u00e4nde. 327\ngr\u00fcndeten sich nicht \u201eauf eine wahrhaft philosophische Grundlage \u201c, weil sie nicht die Verschiedenheiten der Natur der Lust und der Unlust selbst ber\u00fccksichtigten, sondern die Gef\u00fchle nur nach den die Gef\u00fchlst\u00f6ne begleitenden Erscheinungen einteilten. Diese Bemerkung ist insofern ganz richtig, als wohl kein anderer Systematiker als Dumont allein die Gef\u00fchle nach irgend etwas anderem eingeteilt hat als nach dem Vorstellungsinhalt oder dem Verh\u00e4ltnis, an welches Lust und Unlust gebunden sind. Der Grund hierf\u00fcr ist ganz einfach der, dafs nicht einmal die sorgf\u00e4ltigste Analyse unserer Gef\u00fchle einen anderen Unterschied zwischen den verschiedenen Zust\u00e4nden der Lust und der Unlust als eben die begleitenden Vorstellungen und deren gegenseitige Beziehung zu finden vermag. Man kann deshalb wirklich nicht mit Recht den Systematikern, welche die Gef\u00fchle, die Seelenzust\u00e4nde selbst, in nat\u00fcrliche Gruppen einteilen wollten, den Vorwurf machen, sie h\u00e4tten keine anderen Verschiedenheiten der Gef\u00fchle ber\u00fccksichtigt, als nur diejenigen, die sich \u00fcberhaupt nachweisen lassen. Der Fehler liegt also zweifelsohne an Du-m o n t. Ganz davon abgesehen, dafs die Hypothese von dem physiologischen Ursprung der Gef\u00fchle, die er zu Grunde legt, so unzweckm\u00e4fsig ist, wie nur irgend m\u00f6glich, da sie v\u00f6lliges Mifsverst\u00e4ndnis der Natur des Nervensystems zu verraten scheint [206], ist auch die Einteilung nach den physiologischen Ursachen der Lust und Unlust unberechtigt, wie oben nachgewiesen. Es w\u00e4re alsdann jedenfalls erst darzulegen, dafs die Verschiedenheit der physiologischen Vorg\u00e4nge \u00e4hnliche Verschiedenheiten der Bewufstseinszust\u00e4nde selbst bedingte; es findet sich aber bei Dumont nicht die mindeste Andeutung eines solchen Nachweises. Und die erreichten Resultate erweisen denn auch mit aller erw\u00fcnschlichen Deutlichkeit die Unrichtigkeit des Verfahrens. Innerhalb jeder der vier Hauptgruppen: positiver und negativer Lust, positiver und negativer Unlust, die der Hypothese Dumonts zufolge m\u00f6glich sind, werden eine Menge verschiedener Gef\u00fchle zusammengefafst, die ganz willk\u00fcrlich und unsystematisch aufgez\u00e4hlt werden, ohne dafs der Verfasser von seiner Auffassung aus im st\u00e4nde w\u00e4re, deren Verschiedenheiten zu erkl\u00e4ren. Und die Gef\u00fchle, die in den einzelnen Gruppen angebracht werden, bieten an und f\u00fcr sich keine so grofsen Verschiedenheiten dar, dafs man hierdurch berechtigt w\u00fcrde, sie auf ganz verschiedene Gruppen zur\u00fcckzuf\u00fchren. Weshalb","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nBeitrag zur Systematik der Gef\u00fchle.\nz. B. die Erm\u00fcdung ein positiver, die Ersch\u00f6pfung dagegen ein negativer Schmerz sein sollte, ist nicht leicht zu begreifen, und so geht es in einem fort. Psychisch verwandte Zust\u00e4nde werden getrennt und durchaus verschiedenartige Erscheinungen als zusammengeh\u00f6rend aufgestellt. Hier wie in so vielen anderen F\u00e4llen scheint es sich zu erweisen, dafs das \u201ewahrhaft Philosophische\u201c in die Kategorie des wissenschaftlich Wertlosen f\u00e4llt.\n409. Die \u00fcbrigen Systematiker haben zwar fast alle das Riff vermieden, an welchem Dumont scheiterte, eine ersch\u00f6pfende Darstellung hat jedoch noch keiner gegeben. Bain, der in seinem umfangreichen Werke durchweg vorz\u00fcgliche Analysen der einzelnen Gef\u00fchle leistet, hat anderseits ein wahres Monstrum einer Klassifikation geliefert, in welcher ganze Gruppen, z. B. die sanften, die \u00e4sthetischen und die ethischen Gef\u00fchle als einzelnen Zust\u00e4nden wie der Furcht, dem Zorn, dem Machtgef\u00fchl u. s. w. nebengeordnet aufgestellt werden. Ein so willk\u00fcrliches Herz\u00e4hlen ist nicht nur kein System, sondern ganz einfach logisch unzul\u00e4ssig. In systematischer Beziehung stehen Nahlowsky und Sibbern weit h\u00f6her, und besonders hat letzterer einen vorz\u00fcglichen Beitrag zur rationellen Einteilung s\u00e4mtlicher m\u00f6glichen Gef\u00fchlszust\u00e4nde gegeben. Da dieser Versuch zugleich einer der \u00e4ltesten ist, die die neuere psychologische Litteratur aufzuweisen hat, verdiente er, weit \u00fcber die Grenzen hinaus bekannt zu werden, welche die Sprache des Verfassers seinem Leserkreise abgesteckt hat. Jedenfalls ist es mir nicht m\u00f6glich gewesen, bei einem anderen Verfasser eine so gute Grundlage f\u00fcrs Weiterbauen zu finden, als die von Sibber n gegebene. Der unten dargestellte Entwurf einer systematischen Einteilung und Ordnung der Gef\u00fchle ist wesentlich nur eine rationelle Entwickelung und Erg\u00e4nzung der Grundgedanken Sibberns. \u2014 Da es wohl kaum besonders fruchtbringend sein w\u00fcrde, noch ferner bei diesen kritischen Betrachtungen zu verweilen, gehen wir nun zur Untersuchung \u00fcber, was wir aus unseren bis jetzt erworbenen Ergebnissen mit Bezug auf die Systematik der Gef\u00fchle lernen k\u00f6nnen. Das Wort Gef\u00fchl nehmen wir hier im weitesten Sinne als alle emotionellen Erscheinungen umfassend.","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"Bestimmung der unabh\u00e4ngig Variablen.\n329\nEntwickelung eines rationellen Systems.\n410.\tVor allen Dingen gehen wir davon aus, dafs es die\nBewufstseinszust\u00e4nde selbst sind, die wir einzuteilen haben, und\n\u2022 \u2022\ndafs wir also [407}\u201c zufolgej nur die psychischen \u00c4hnlichkeiten und Verschiedenheiten der Gef\u00fchle ber\u00fccksichtigen d\u00fcrfen. Unsere vorhergehenden Untersuchungen f\u00fchrten nun zu dem Ergebnis, dafs ein Gef\u00fchlszustand v\u00f6llig bestimmt sei, wenn wir: 1) die Gattung der mitbeth\u00e4tigten Gef\u00fchlst\u00f6ne, Lust oder Unlust, 2) die St\u00e4rke der Gef\u00fchlst\u00f6ne, 3) die Art und St\u00e4rke der Vorstellungen, an welche die Gef\u00fchlst\u00f6ne gebunden sind, 4) das gegenseitige Verh\u00e4ltnis der betonten Vorstellungen und deren Verh\u00e4ltnis zu anderen, gleichzeitigen oder unmittelbar vorausgehenden Vorstellungen kennen. Die Frage ist deshalb nur die: welche dieser Gr\u00f6fsen sind unabh\u00e4ngig variabel, da bei einer systematischen Ordnung, wie wir [405] sahen, nur die unabh\u00e4ngig variablen zu ber\u00fccksichtigen sind.\n411.\tBevor wir zu dieser Untersuchung \u00fcbergehen, wird es indes notwendig sein, vorerst eine einzelne Unklarheit zu entfernen, die sonst an einem sp\u00e4teren Punkte leicht Verwirrung anstiften k\u00f6nnte. Es ist n\u00e4mlich mit einer gewissen Schwierigkeit verbunden, zwischen Vorstellungsinhalt und Vorstellungsverh\u00e4ltnis eine bestimmte Grenze zu ziehen. Gelegentlich wurde ber\u00fchrt [305], dafs im entwickelten menschlichen Bewufstsein von einer zusammengesetzten Vorstellung bis zu einem Gedanken nur ein sehr kurzer Schritt sei, so dafs man mit gewissem Recht die zusammengesetzte Vorstellung sogar einen nichtformulierten Gedanken nennen k\u00f6nnte. Jeder Gedanke ist aber ein Verh\u00e4ltnis zwischen zwei Vorstellungen, dem Subjekt und dem Pr\u00e4dikat. In dem Moment, da sich eine zusammengesetzte Vorstellung in ihre einzelnen Glieder aufl\u00f6st und die Form des Gedankens annimmt, geht also ein Vorstellungsinhalt in ein Vorstellungsverh\u00e4ltnis \u00fcber. So betrachtet, werden also eine Menge Vorstellungsverh\u00e4ltnisse in der That Vorstellungs- oder vielmehr Gedankeninhalte, und mithin scheint die Grenze zwischen diesen beiden Bestimmungen durchaus zu verfliefsen. Die Schwierigkeit einer Sonderung ist jedoch nicht so grofs, wenn man nur den logischen und den psychologischen Gesichtspunkt auseinander h\u00e4lt. In logischer Beziehung ist ein Gedanke nat\u00fcrlich ein Vorstellungsverh\u00e4ltnis , in psychologischer repr\u00e4sentiert er nur einen Inhalt","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330\nBeitrag zur Systematik der Gef\u00fchle.\nund ist deswegen als Vorstellungsinhalt zu behandeln. Zwischen dem einzelnen Gedanken, der nur die spezielle Form einer zusammengesetzten Vorstellung ist, und dem Verh\u00e4ltnis zwischen zwei zusammengesetzten Vorstellungen, zwei nicht-formulierten Gedanken , besteht doch immer der wesentliche Unterschied, dafs, wie ber\u00fchrt [305], im letzteren Falle von einem Streit oder einer \u00dcbereinstimmung die Rede sein kann, im ersteren dagegen nicht. Bei den Untersuchungen \u00fcber die speziellen Gesetze der Gef\u00fchle sahen wir, welche aufserordentliche Bedeutung die zeitlichen, die Kontrast- und die Identit\u00e4tsbeziehungen f\u00fcr unser Gef\u00fchlsleben haben, und es m\u00f6chte deshalb triftiger Grund vorliegen, zwischen diesen bedeutungsvollen Vorstellungsverh\u00e4ltnissen und dem allenfalls f\u00fcr unsere Gef\u00fchle ziemlich bedeutungslosen Vorstellungsverh\u00e4ltnisse, das durch Zerspaltung einer zusammengesetzten Vorstellung entsteht, scharf zu sondern. Da letzteres nur die spezielle Form ist, die ein Vorstellungsinhalt anzunehmen vermag, ist es als ein Vorstellungsinhalt zu betrachten, und im Folgenden nehmen wir deshalb wie bisher das Wort Vorstellungsinhalt in diesem weiteren Sinne, infolge dessen der \u201eGedanke\u201c gleich der \u201ezusammengesetzten Vorstellung\u201c und somit als entschiedener Gegensatz aller anderen VorstellungsVerh\u00e4ltnisse gesetzt wird. \u2014 Nachdem wir nun unsere Auffassung pr\u00e4zisiert haben, k\u00f6nnen wir zur Untersuchung der unabh\u00e4ngig variablen Gr\u00f6fsen \u00fcbergehen, durch welche ein Gef\u00fchlszustand bestimmt wird.\n412. Was nun erstens den Vorstellungsinhalt betrifft, so leuchtet ein, dafs dieser von den anderen am Gef\u00fchlszustande mitbeteiligten Gr\u00f6fsen durchaus unabh\u00e4ngig ist. Ein Gef\u00fchlston bestimmter Art und St\u00e4rke kann mit vielen verschiedenen Vorstellungen verbunden sein, und dasselbe Verh\u00e4ltnis kann zwischen den verschiedensten Vorstellungen angetroffen werden, indem das Verh\u00e4ltnis a/b f\u00fcr die unendlich vielen Werte des a und des b denselben Wert behalten kann. Also sind die betonten Vorstellungen selbst noch unbestimmt, auch wenn die Art und St\u00e4rke der Gef\u00fchlst\u00f6ne und das gegenseitige Verh\u00e4ltnis der Vorstellungen gegeben sind, oder mit anderen Worten: der Vorstellungsinhalt eines Gef\u00fchls ist unabh\u00e4ngig variabel. Ebenso gilt es von dem Vorstellungsverh\u00e4ltnisse, dafs derselbe von den anderen drei das Gef\u00fchl bestimmenden Gr\u00f6fsen unabh\u00e4ngig ist. Die Unabh\u00e4ngigkeit von der Art und der St\u00e4rke der Gef\u00fchlst\u00f6ne springt in die","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"Bestimmung der unabh\u00e4ngig Variablen.\n331\nAugen; weil diese Gr\u00f6fsen gegeben sind, mag darum doch das Verh\u00e4ltnis zwischen den Vorstellungen, an welche die Gef\u00fchlst\u00f6ne gebunden sind, noch durchaus unbestimmt sein. Mit Bezug auf den Vorstellungsinhalt scheint sich die Sache indes anders zu stellen, da das gegenseitige Verh\u00e4ltnis der Vorstellungen dem Anschein nach bestimmt ist, wenn die Vorstellungen selbst gegeben sind. Streng genommen ist das nat\u00fcrlich auch der Fall; das Verh\u00e4ltnis a/b ist bestimmt, sobald a und b gegebene Gr\u00f6fsen sind, darum ist aber nicht gesagt, dafs dieses Verh\u00e4ltnis am Gef\u00fchlszustande mitbeteiligt sei. Zwischen verschiedenen, dasselbe Objekt betreffenden Vorstellungen kann sehr wohl Nicht\u00fcbereinstimmung stattfinden, ohne dafs dies notwendigerweise auf das Gef\u00fchl influierte, denn das Individuum mufs sich wenigstens bis zu einem gewissen Grade erst der Nicht-\u00dcbereinstimmung bewufst geworden sein, bevor die aus derselben entspringende Unlust sich mit solcher St\u00e4rke einstellt, dafs deren Einflufs auf den Gesamtzustand merkbar wird | vgl. 264]. Also ist auch das gegenseitige Verh\u00e4ltnis der Vorstellungen als integrierendes Glied des Gef\u00fchlszustandes von der Gattung der Vorstellungen unabh\u00e4ngig. Und was endlich das Verh\u00e4ltnis der betonten Vorstellungen zu anderen, gleichzeitigen oder unmittelbar vorangehenden Vorstellungen betrifft, so ist dieses Verh\u00e4ltnis ja zum wesentlichen Teil durch diese anderen Vorstellungen bestimmt, welche wieder ins unendliche variieren k\u00f6nnen, weshalb das Verh\u00e4ltnis auch ganz unbestimmt bleibt, selbst wenn die betonten Vorstellungen gegeben sind.\n413. Wenden wir uns nun zu den emotionellen Elementen selbst, so zeigt es sich, dafs deren Gattung entweder durch den Vorstellungsinhalt oder durch das Vorstellungsverh\u00e4ltnis oder durch beide Gr\u00f6fsen im Verein v\u00f6llig bestimmt ist. Ist eine Vorstellung bestimmter St\u00e4rke gegeben, so wird normal im einzelnen Individuum ein bestimmter Gef\u00fchlston mit derselben verbunden sein. Bei allen unseren Betrachtungen \u00fcber die speziellen Gesetze der Gef\u00fchle gingen wir gerade davon aus, dafs jede Vorstellung sich mit einem gewissen Gef\u00fchlston im Bewufstsein meldet, und wir untersuchten darauf, wie dieses emotionelle Element unter verschiedenen Verh\u00e4ltnissen zu variieren vermag. Hier zeigte es sich nun, dafs gew\u00f6hnlich nur die St\u00e4rke des Gef\u00fchlstones variierte, dafs unter zwei besonderen Verh\u00e4ltnissen aber auch seine Qualit\u00e4t sich ver\u00e4ndern konnte. Erstens","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332\nBeitrag zur Systematik der Gef\u00fchle.\nkonnte ein Gef\u00fchlston, dessen Vorstellung urspr\u00fcnglich lustbetont war, in Unlust \u00fcberschlagen, wenn die Vorstellung sich hinl\u00e4ngliche Zeit hindurch andauernd im Bewufstsein geltend machte. Und ferner kann jede schwache Lust oder Unlust wegen eines Kontrastes zwischen der Vorstellung, an welche der Gef\u00fchlston gebunden ist, und anderen Vorstellungen, die von einem Gef\u00fchls-tone derselben Art, aber gr\u00f6fserer St\u00e4rke, begleitet sind, in ihr Gegenteil \u00fcberschlagen. In beiden diesen F\u00e4llen wird also die Art des Gef\u00fchlstones bestimmt sein, wenn man aufser dem Vorstellungsinhalt zugleich dessen Verhalten zu anderen vorhandenen Vorstellungen kennt; hierunter wird ja auch der Fall einbegriffen sein, dafs einige Zeit hindurch keine anderen Vorstellungen vorhanden sind oder gewesen sind, so dafs also w\u00e4hrend eines gewissen Zeitraums die betonte Vorstellung allein zur Geltung kam. Das Resultat wird also, dafs die Art des Gef\u00fchlstones eine Funktion des Vorstellungsinhalts und des Vorstellungsverh\u00e4ltnisses ist.\n414. Mit Bezug auf die St\u00e4rke der Gef\u00fchlst\u00f6ne ist die Sache etwas verwickelter. Ist eine Vorstellung bestimmter Art und St\u00e4rke gegeben, so darf man annehmen, dafs die St\u00e4rke des mit derselben verbundenen Gef\u00fchlstones, ceteris paribus, konstant ist [240]. Unter den verschiedenen Beziehungen, in welche die betonte Vorstellung zu anderen gleichzeitigen und unmittelbar vorausgehenden Vorstellungen treten kann, wird die St\u00e4rke des Gef\u00fchlstones indes auf gesetzm\u00e4fsige Weise variieren, wie bei den Untersuchungen \u00fcber die speziellen Gesetze der Gef\u00fchle nachgewiesen ward. Also wird die St\u00e4rke des Gef\u00fchlstones stets bekannt sein, wenn man aufser der Art und St\u00e4rke der betonten Vorstellung zugleich deren Verh\u00e4ltnis zu anderen Vorstellungen kennt. Nun kommt aber zu diesen Faktoren noch eine Gr\u00f6fse hinzu, die in hohem Mafse die Intensit\u00e4t der Gef\u00fchlszust\u00e4nde beeinflufst und dieselbe durchaus unberechenbar macht, n\u00e4mlich die zuf\u00e4lligen Associationen. Bei demselben Individuum k\u00f6nnen diese unter sonst gleichartigen Verh\u00e4ltnissen von sehr verschiedener Bedeutung sein, und da sie wesentlich nur eine Verst\u00e4rkung des vorhandenen Gef\u00fchls bewirken, wird dessen St\u00e4rke also bedeutend variieren k\u00f6nnen, auch wenn der urspr\u00fcngliche Vorstellungsinhalt und dessen Verh\u00e4ltnis zu anderen Vorstellungen gegeben sind. Die St\u00e4rke des Gef\u00fchlstones ist daher erst dann bestimmt, wenn man aufser den beiden genannten","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"Bestimmung der unabh\u00e4ngig Variablen.\t333\nGr\u00f6fsen zugleich die Art und St\u00e4rke s\u00e4mtlicher anderen vorhandenen Vorstellungen kennt. Es gen\u00fcgt also nicht, dafs man aufser dem Inhalt der betonten Vorstellungen zugleich deren gegenseitige Beziehungen und Beziehungen zu den \u00fcbrigen gleichzeitigen Vorstellungen kennt; auch diese anderen Vorstellungen selbst m\u00fcssen gegeben sein, wenn die St\u00e4rke des Gef\u00fchlstones bestimmt werden soll. Und hierin liegt auch insofern nichts Merkw\u00fcrdiges, als dieses Resultat ja nur mit anderen Worten aussagt, dafs der in einem gegebenenMoment im Bewufstsein vorhandene Gef\u00fchlszustand von dem Inhalt und dem Verhalten der gesamten gleichzeitigen oder unmittelbar vorausgehenden Vorstellungsmasse abh\u00e4ngig ist.\n415. Ein Gef\u00fchlszustand F ist also bestimmt durch drei unabh\u00e4ngig variable Gr\u00f6fsen: den Vorstellungsinhalt i, dessen Verh\u00e4ltnis f zu anderen gleichzeitigen oder unmittelbar vorausgehenden Vorstellungen und diese Vorstellungen selbst s; mit anderen Worten F = cp (i, f, s). S\u00e4mtliche Gef\u00fchle werden also erscheinen, wenn wir diese drei Gr\u00f6fsen, i, f, s, alle ihre Werte successive durchlaufen lassen. Man kann sich also die Gef\u00fchle in einem tridimensionalen Systeme geordnet denken, ob es aber \u00fcberhaupt m\u00f6glich ist, diese Ordnung durchzuf\u00fchren und die nat\u00fcrliche Form des Systems zu bestimmen, so wie dies z. B. mit Bezug auf die Farben geschehen ist, m\u00f6chte die grofse Frage sein. Denn um nur eine einzige der Variablen in Betracht zu ziehen, so bildet der Vorstellungsinhalt, alle die m\u00f6glichen Vorstellungen, die sich unter den verschiedensten Verh\u00e4ltnissen im menschlichen Bewufstsein einstellen k\u00f6nnen, ja keine kontinuierliche Reihe, und jeder Versuch, die ganze menschliche Vorstellungsmasse linear zu ordnen, wird sicherlich, wie verst\u00e4ndig dies auch geschehe, im h\u00f6chsten Grade willk\u00fcrlich werden. Man bedenke nur, dafs ein so unendlich geringer Teil des Ganzen wie unsere Farben- und Tonempfindungen ein drei-, bezw. zweidimensionales System bilden, so dafs eine lineare Ordnung dieser Empfindungen sogleich zur reinen Willk\u00fcrlich-keit wird. Wir k\u00f6nnen uns deshalb freilich unsere ganze Vorstellungsmasse auf einer ebenen Kurve geordnet denken, die Ordnung aber auf nat\u00fcrliche Weise durchzuf\u00fchren, das verm\u00f6gen wir wohl schwerlich. Wenn wir uns nun also, nur um einen \u00dcberblick \u00fcber s\u00e4mtliche m\u00f6glichen Gef\u00fchle zu erhalten, die ganze Vorstellungsmasse l\u00e4ngs einer geraden Linie AB (Fig. 4) angebracht denken, so soll dieses Bild der Natur der Sache zufolge","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334\nBeitrag zur Systematik der Gef\u00fchle.\nnicht der Ausdruck eines faktischen Verh\u00e4ltnisses sein, sondern nur einzig und allein eine Phantasiekonstruktion, deren einziger Zweck vorl\u00e4ufig die Anschaulichkeit ist. \u2014 Was auf diese Weise von dem Vorstellungsinhalt der Gef\u00fchle gilt, l\u00e4fst sich ganz w\u00f6rtlich auch auf die Vorstellungsverh\u00e4ltnisse \u00fcbertragen. Die verschiedenen Verh\u00e4ltnisse, in welchen eine gegebene zu anderen Vorstellungen stehen kann, bilden ebensowenig eine kontinuierliche Reihe, und es ist daher noch mehr willk\u00fcrlich, sich die zeitlichen, die Kontrast- und die Identit\u00e4tsverh\u00e4ltnisse einer Vorstellung als successive Punkte einer geraden Linie angebracht zu denken, als wenn man die einzelnen algebraischen Funktionen, die Addition, Subtraktion u. s. w., auf diese Weise ordnete. Geradezu unrichtig wird dies nat\u00fcrlich doch nicht, wenn die Ordnung mit dem ausdr\u00fccklichen Vorbehalt geschieht , dafs man hier mit keiner kontinuierlich variierenden Funktion zu thun habe, und wir k\u00f6nnen uns deshalb denken, dafs diese verschiedenen Verh\u00e4ltnisse in geraden Linien, an jedem einzelnen Punkte senkrecht zu der urspr\u00fcnglichen Linie AB errichtet, angebracht seien. Innerhalb des hierdurch entstandenen Rechtecks ACDB werden nun s\u00e4mtliche Gef\u00fchlszust\u00e4nde, durch den Vorstellungsinhalt und die Verh\u00e4ltnisse der Vorstellungen bestimmt, gelegen sein.\n416. Es steht also nur die dritte variable Gr\u00f6fse zur\u00fcck, durch welche die Intensit\u00e4t des Gef\u00fchlstones besonders bestimmt ist, mit dieser hat es aber eine ziemlich eigent\u00fcmliche Bewandtnis,\nWir sahen n\u00e4mlich, dafs je gr\u00f6fser die St\u00e4rke eines prim\u00e4ren Gef\u00fchls ist, um so mehr wird der Zustand sich dem Affekte n\u00e4hern, indem Organempfindungen reproduziert werden, die durch ihre Gef\u00fchlst\u00f6ne das Gef\u00fchl verst\u00e4rken und demselben ein besonderes Gepr\u00e4ge verleihen. Es kann daher keine Vermehrung der St\u00e4rke eines gegebenen Gef\u00fchls stattfinden, ohne dafs zugleich infolge der vergr\u00f6fserten Intensit\u00e4t eine Variation des urspr\u00fcnglichen Vorstellungsinhalts vorginge, indem","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"335\nGraphische Darstellung des Systems.\nsich in gr\u00f6fserem oder geringerem Umfange Organ empfind ungen mit demselben associieren. Es wird deshalb unm\u00f6glich, eine vollst\u00e4ndige systematische Ordnung der Gef\u00fchle zu geben, es sei denn, dafs man den Organempfindungen einen besonderen Platz aufserhalb der Reihe des \u00fcbrigen Vorstellungsinhalts einr\u00e4umte. Diesem stellt sich aber auch nichts entgegen, um so weniger, da die Organempfindungen schon an und f\u00fcr sich unter allen unseren Vorstellungen eine exzeptionelle Stellung einnehmen. Da unser Wissen von den in den einzelnen Affekten eintretenden Ver\u00e4nderungen des Gemeingef\u00fchls sich noch gar zu sehr auf dem Standpunkte der Hypothese befindet, wird es vorl\u00e4ufig wohl kaum m\u00f6glich sein, eine nat\u00fcrliche Ordnung derselben zu geben. Wir denken uns deshalb das Gemeingef\u00fchl mit seinen verschiedenen Modifikationen nur an einem einzigen Punkte L aufserhalb der Ebene des Rechtecks angebracht. Denkt man sich nun von L nach jedem Punkte des Rechtecks AD gezogene Linien, so wird jede dieser Linien die verschiedenen St\u00e4rkegrade des betreffenden Gef\u00fchls nebst den Organempfindungen darstellen, welche das prim\u00e4re Gef\u00fchl seiner Art und St\u00e4rke wegen zu reproduzieren vermag. Die also entstandene Pyramide enth\u00e4lt nun s\u00e4mtliche emotionellen Zust\u00e4nde, die eigentlichen prim\u00e4ren Gef\u00fchle sowohl als alle deren\n\u2022 \u2022\n\u00dcberg\u00e4nge in Affekt und Stimmung [79].\n417. Wenn die Schwierigkeiten einer faktischen Ordnung der Gef\u00fchle in einem derartigen tridimensionalen System nun auch so grofs werden sollten, dafs dasselbe sich niemals durchf\u00fchren liefse, so ist es darum doch nicht ohne Bedeutung. Schon als blofses Denkexperiment hat es das Interesse, dafs es eine Vorstellung von dem aufserordentlichen Reichtum unseres Gef\u00fchlslebens gibt. Denn nicht nur wird jede Vorstellung oder jeder Gedanke, dessen Gef\u00fchlston \u00fcberhaupt merkbar wird, einen eigent\u00fcmlichen Gef\u00fchlszustand bedingen, sondern jeder derartige Vorstellungsinhalt wird aufserdem wegen der Beziehung, in welche er zu anderen Vorstellungen tritt, und wegen des Umfangs, in welchem er Organempfindungen reproduziert, als wesentlicher Faktor an einer fast unendlichen Reihe von Gef\u00fchlsmodifikationen mitbeteiligt sein, zu deren Bezeichnung die Sprache bei weitem den erforderlichen W\u00f6rtervorrat besitzt. Die Schwierigkeit, \u201eunsere Gef\u00fchle auszudr\u00fccken\u201c, die uns t\u00e4glich aufst\u00f6fst, r\u00fchrt wohl zum Teil daher, dafs zahllose Gef\u00fchle so nahe","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"336\nBeitrag zur Systematik der Gef\u00fchle.\nverwandt sind, dafs die Sprache nur ein einziges Wort f\u00fcr alle hat, w\u00e4hrend das Individuum ein lebhaftes Gef\u00fchl kleiner, aber unbestimmter Verschiedenheiten besitzt. Dieser grofse Reichtum wird wohl am augenf\u00e4lligsten bei der graphischen Darstellung des Gef\u00fchlslebens als tridimensionale Vielfachheit, in welcher die einzelne Linie AB den gesamten Vorstellungsinhalt des menschlichen Bewufstseins bezeichnet. \u2014 Hierzu kommt noch ein anderer Umstand. Sind die Betrachtungen, auf welche wir das tridimensionale System st\u00fctzten, in ihren Hauptz\u00fcgen richtig, so hat das System eine weit gr\u00f6fsere Bedeutung als nur die eines Anschauungsbildes. Dasselbe wird dann das Ideal, auf welches die k\u00fcnftige systematische Darstellung der Gef\u00fchle abzielen mufs, mithin also zugleich ein leitender Faden der Ordnung. Die Pyramidenform, die wir dem System gaben, ist nat\u00fcrlich rein einstweilig ; es werden sich sicherlich ohne grofse Schwierigkeit Formen finden lassen, die den thats\u00e4chlichen Verh\u00e4ltnissen mehr entsprechen. Auf eine Untersuchung dieser Sache wollen wir uns indes nicht einlassen, da es hier nur der Hauptpunkt ist, hervorzuheben, dafs die Gef\u00fchle wahrscheinlich eine tridimensionale Vielfachheit bilden. Der Zukunft mufs es Vorbehalten sein, die nat\u00fcrlichste Form des Systems zu bestimmen, was erst mit Sicherheit thunlich ist, wenn man alle anzubringenden Glieder kennt. Und gerade auf diesem Gebiete ist aufser-ordentlich viel zu thun \u00fcbrig. Die psychologische Analyse der einzelnen Gef\u00fchle ist trotz der zahlreichen vorz\u00fcglichen, bereits vorliegenden Werke bisher bei weitem durchgef\u00fchrt, so dafs wir kaum \u00fcber die Beschaffenheit der verh\u00e4ltnism\u00e4fsig wenigen Zust\u00e4nde, f\u00fcr welche die Sprache Bezeichnungen besitzt, im reinen sind, geschweige denn der grofsen Mannigfaltigkeit von \u00dcberg\u00e4ngen zwischen denselben. Bevor eine solche Analyse vorliegt, kann nicht die Rede davon sein, eine vollst\u00e4ndige und ab-schliefsende systematische Darstellung der Gef\u00fchle zu geben. Und da eine so umfassende Arbeit wahrscheinlich die Leistungsf\u00e4higkeit eines einzelnen Menschen weit \u00fcbersteigen wird und streng genommen nicht in einer Abhandlung am Platze ist, die nur einen allgemeinen \u00dcberblick bezweckt, werde ich hier keinen Anlauf zu einer solchen analytischen Arbeit versuchen. Wenn nun im Folgenden der Entwurf einer Ordnung der einzelnen Gef\u00fchle gemacht wird, st\u00fctzt dieser sich also ausschliefslich auf das analytische Material, das teils von der Hand fr\u00fcherer Forscher,","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"Simplifikation des Systems.\n3S7\nteils im vorhergehenden Teile unserer Arbeit vorliegt, wo dergleichen Analysen verschiedener Zwecke wegen in nicht geringem Umfange ausgef\u00fchrt wurden.\n418.\tWir m\u00fcssen also vorl\u00e4ufig teils wegen der Schwierigkeit der Sache selbst, teils wegen mangelhaften Materials darauf verzichten, die nat\u00fcrliche oder vielmehr die m\u00f6glichst nat\u00fcrliche Form eines Systems der Gef\u00fchle zu bestimmen. Wir bleiben deshalb bei der Pyramide stehen als einem Bilde, das mit einer f\u00fcr unseren Bedarf hinl\u00e4nglichen Deutlichkeit das Verh\u00e4ltnis zwischen den Faktoren, von welchen ein Gef\u00fchlszustand abh\u00e4ngig ist, veranschaulicht. Die Aufgabe des Folgenden w\u00e4re nun die, die einzelnen Gef\u00fchle an ihrem Platz in diesem Systeme anzubringen. Um diese vollst\u00e4ndig zu l\u00f6sen, w\u00e4re erstens eine nach einem bestimmten Plane durchgef\u00fchrte Ordnung derjenigen Gef\u00fchle erforderlich, deren Qualit\u00e4tseigent\u00fcmlichkeiten auf dem Vorstellungsinhalte allein beruhen, der sogenannten Inhaltsgef\u00fchle also, deren Platz auf der Linie AB ist. Mit Bezug auf jedes dieser Gef\u00fchle w\u00e4re darauf nachzuweisen, welche Formen sie dadurch annehmen, dafs ihr Vorstellungsinhalt in die verschiedenen m\u00f6glichen Beziehungen zu anderen Vorstellungen tritt. Hiermit w\u00e4ren dann alle in der Grundfl\u00e4che AD gelegenen Gef\u00fchle, also auch diejenigen, welche als prim\u00e4re Gef\u00fchle f\u00fcr die\nAffekte von Bedeutung sind, angegeben. Und schliefslich w\u00e4ren\n\u2022 \u2022\ndann die \u00dcberg\u00e4nge aller dieser Zust\u00e4nde in Stimmung und Affekt auf die Weise zu bestimmen, dafs nachgewiesen w\u00fcrde, welche Organempfindungen durch die verschiedenen St\u00e4rke-grade des prim\u00e4ren Gef\u00fchls, die den Gef\u00fchlszustand immer mehr affekt\u00e4hnlich machen, reproduziert w\u00fcrden.\n419.\tDiese Aufgabe verm\u00f6gen wir jedoch bei weitem nicht\n\u2022 \u2022\nim angegebenen Umfange zu l\u00f6sen. Was erstens die \u00dcberg\u00e4nge der prim\u00e4ren Gef\u00fchle in Affekt und Stimmung betrifft, so haben wir schon im Vorhergehenden das Wenige ziemlich ausf\u00fchrlich dargestellt, das die physiologischen Untersuchungen mit einiger Wahrscheinlichkeit auf diesem Gebiete haben feststellen k\u00f6nnen, und dies ist vorl\u00e4ufig so wenig, dafs an eine systematische Darstellung dieser Verh\u00e4ltnisse wohl noch gar nicht zu denken ist. Diesen ganzen Teil der Aufgabe m\u00fcssen wir daher aus guten Gr\u00fcnden liegen lassen. Was den \u00fcbrigen Teil, die Klassifikation der prim\u00e4ren Gef\u00fchle betrifft, so l\u00e4fst dieser sich bedeutend vereinfachen. Es zeigt sich n\u00e4mlich, dafs der\nLehmann, Die Gef\u00fchle.\t22","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nBeitrag zur Systematik der Gef\u00fchle.\nVorstellungsinhalt bei allen denjenigen Gef\u00fchlszust\u00e4nden, in welchen die emotionellen Elemente an gewisse Beziehungen der Vorstellungen gebunden sind, nur geringe Bedeutung hat. Wenn wir z. B. etwas erwarten, so entsteht, wie oben nachgewiesen, eine eigent\u00fcmliche, unangenehme Spannung durch das Verh\u00e4ltnis zwischen einem Phantasiebilde und dem im Momente sinnlich Wahrgenommenen. Was erwartet wird, welchen Inhalt mit anderen Worten das Phantasiebild und das sinnlich Wahrgenommene haben, das ist oft ziemlich gleichg\u00fcltig, wenngleich dieser Inhalt dem Zustande stets ein bestimmtes Kolorit mitteilt*, die Eigent\u00fcmlichkeit des Gef\u00fchls ist wonicht vollst\u00e4ndig, so doch fast ausschliefslich von dem Verh\u00e4ltnisse zwischen dem Phantasiebilde und dem sinnlich Wahrgenommenen abh\u00e4ngig. Und was nun von diesem einzelnen Beziehungsgef\u00fchle, der Erwartung, gilt, kann mit gr\u00f6fserer oder geringerer Ann\u00e4herung als auch f\u00fcr die anderen g\u00fcltig aufgestellt werden. Ist das Vorstellungsverh\u00e4ltnis gegeben, so braucht man in den meisten F\u00e4llen die spezielle Art der Vorstellungen selbst, deren Inhalt, nicht zu ber\u00fccksichtigen. Wollte man deshalb, nachdem man die Inhaltsgef\u00fchle auf der Linie AB geordnet h\u00e4tte, diejenigen Gef\u00fchle bestimmen, die dadurch entstehen, dafs alle einzelnen Vorstellungen in die verschiedenen m\u00f6glichen Beziehungen zu anderen Vorstellungen treten, so w\u00fcrde dies nur zu einer unglaublichen Menge Wiederholungen f\u00fchren. Alle auf einer Linie, z. B. ab parallel mit AB gelegenen Gef\u00fchle sind trotz ihres verschiedenen Vorstellungsinhaltes so nahe verwandt, dafs die Sprache gew\u00f6hnlich nur einige einzelne Namen zur Bezeichnung ihrer aller besitzt. Und es erweist sich nun erfahrungsm\u00e4fsig, dafs unter diesen Namen der eine stets einen Gef\u00fchlszustand bezeichnet, der von dem Vorstellungsverh\u00e4ltnisse allein abh\u00e4ngig ist, w\u00e4hrend die anderen f\u00fcr ganz spezielle F\u00e4lle desselben Bezeichnungen sind, in welchen der Inhalt neben der Beziehung mehr oder weniger hervortretende Bedeutung hat.\n420. Demnach stellt unsere Aufgabe sich folglich verh\u00e4ltnis-m\u00e4fsig einfach. Wir erhalten zwei Hauptgruppen der Gef\u00fchle : Inhalts- und Beziehungsgef\u00fchle, und jede derselben ist nach den verschiedenen Vorstellungsinhalten bezw. Vorstellungsbeziehungen zu ordnen. Aufser diesen Gef\u00fchlen haben wir dann noch diejenigen, in welchen sich neben der Beziehung der Inhalt geltend macht. Solange sich das System nicht in seiner vollst\u00e4ndigen","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"Einteilung der Beziehungsgef\u00fchle.\n339\nGestalt durchf\u00fchren l\u00e4fst [416], bleibt es nat\u00fcrlich dem Gutd\u00fcnken \u00fcberlassen, wo man diese Gef\u00fchle anbringen will; wir ziehen es vor, dieselben nach ihrem Inhalt unter Angabe der Vorstellungsbeziehung, die ein integrierendes Glied des Zustandes ist, zu den Inhaltsgef\u00fchlen zu z\u00e4hlen. Schliefslich wird mit Bezug auf jedes der gedachten Gef\u00fchle nur anzugeben sein, ob es charakteristische Affekte zu erzeugen vermag. \u2014 Eine solche systematische Darstellung des Gef\u00fchlslebens wird den Inhalt des folgenden Abschnittes bilden.\nAnordnung der einzelnen Gef\u00fchle im Systeme.\n421. Da wir unter den Inhaltsgef\u00fchlen diejenigen Zust\u00e4nde behandeln wollen, in welchen sich der Vorstellungsinhalt neben der Beziehung geltend macht, wird es zweckm\u00e4fsig sein, damit anzufangen, dafs wir die reinen Beziehungsgef\u00fchle betrachten, um dar\u00fcber ins klare zu kommen, von welchen Beziehungen \u00fcberhaupt die Rede sein kann. \u2014 Bei den Untersuchungen \u00fcber die speziellen Gesetze der Gef\u00fchle betrachteten wir alle diejenigen Verh\u00e4ltnisse, welche den Gef\u00fchlston einer gegebenen Vorstellung niodilizieren konnten, und wir fanden, dafs die St\u00e4rke- und Zeitverh\u00e4ltnisse der Vorstellung und deren Verh\u00e4ltnis zu anderen, gleichartigen, ein anderes oder dasselbe Objekt betreffenden Vorstellungen auf die Art des Gef\u00fchlstones Einflufs haben. Der f\u00fcnfte der betrachteten F\u00e4lle, das Verh\u00e4ltnis der betonten Vorstellung zu anderen, ungleichartigen, ein anderes Objekt betreffenden Vorstellungen, rief dagegen keine Ver\u00e4nderungen der Art des Gef\u00fchlstones, sondern nur mehr oder weniger komplizierte Gef\u00fchlszust\u00e4nde hervor. Da die genannten vier Verh\u00e4ltnisse also die einzigen sind, die die Art eines gegebenen Gef\u00fchlstones ver\u00e4ndern k\u00f6nnen, werden Gef\u00fchlst\u00f6ne, die von dem Inhalt unabh\u00e4ngig und durch die Vorstellungsbeziehung allein bestimmt sind, auch ausschliefslich unter diesen Verh\u00e4ltnissen entstehen. Das eine dieser vier wird jedoch ohne Bedeutung, denn wir sahen, dafs jede Empfindung oder Vorstellung von gen\u00fcgender St\u00e4rke allerdings Unlust, Schmerz, erregt, dafs die Art der Vorstellung indes noch bedeutenden Anteil an diesem Gef\u00fchlszustande hat [101]. Aus den St\u00e4rkeverh\u00e4ltnissen der Vorstellungen allein entspringen also , keine reinen Beziehungsgef\u00fchle ; dies wird\ndagegen der Fall werden, wenn man zugleich die Zeitverh\u00e4ltnisse\n22 *","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340\nBeitrag zur Systematik der Gef\u00fchle.\nmit in Betracht zieht. Wir k\u00f6nnen diese beiden Verh\u00e4ltnisse daher zusammen behandeln und ordnen die reinen Beziehungsgef\u00fchle in folgende drei Hauptgruppen:\nI.\tGef\u00fchle, die aus den Zeit- und St\u00e4rkeverh\u00e4ltnissen der Vorstellungen entspringen.\nII.\tGef\u00fchle, die aus dem Verh\u00e4ltnisse zwischen gleichartigen, verschiedene Objekte betreffenden Vorstellungen entspringen.\nIII.\tGef\u00fchle, die aus dem Verh\u00e4ltnisse zwischen dasselbe Objekt betreffenden Vorstellungen entspringen.\nUnter diesen drei Gruppen sollen wir nun die wesentlichsten hierher geh\u00f6rigen Gef\u00fchle anbringen.\n422.\tGef\u00fchle, die aus den Zeit- und St\u00e4rkeverh\u00e4ltnissen der Vorstellungen entspringen. \u2014 Wenn eine Vorstellung sich pl\u00f6tzlich mit bedeutender St\u00e4rke im Bewufstsein geltend macht, wird gew\u00f6hnlich, ganz ohne R\u00fccksicht auf die Art der Vorstellung, Unlust hervorgerufen werden*, den solchergestalt resultierenden eigent\u00fcmlichen Gef\u00fchlszustand bezeichnet der \u00fcbrigens etwas schwankende Sprachgebrauch durch\n\u2022 *\t* *\t* * _ .\nden Namen \u201e\u00dcberraschung\u201c. (Uber die \u201efr\u00f6hliche \u00dcberraschung siehe unten.) Steigt die \u00dcberraschung bis zuni Affekt an, so heifst sie \u201eErschrecken\u201c, der \u00dcberraschte simuliert, \u201eaffektiert\u201c aber oft das Erschrecken. \u201eSchreck\u201c ist chronisches Erschrecken [126]. \u2014 Aus den Zeitverh\u00e4ltnissen allein geht \u201eVerlangen\u201c hervor, wenn eine im Laufe der Zeit angew\u00f6hnte Vorstellung ausbleibt.\n423.\tGef\u00fchle, die aus dem Verh\u00e4ltnisse zwischen\ngleichartigen, verschiedene Objekte betreffenden\nVorstellungen entspringen (Kontrastgef\u00fchle). \u2014 Das\nNeue, bisher noch nie Wahrgenommene, erweckt \u201eVerwunderung\u201c,\n\u201eErstaunen\u201c, einen Zustand, dessen Gef\u00fchlsbetonung ziemlich vag\n\u2022 \u2022\nist. Bietet das Wahrgenommene durchaus keinen Ahnlichkeits-punkt mit allem fr\u00fcher Erblickten dar, so dafs das Neue gar kein Verst\u00e4ndnis im Bewufstsein findet, steigt das Gef\u00fchl bis zum Affekt des \u201esprachlosen Erstaunens\u201c, das gewifs nahe mit dem Schreck verwandt ist, welcher ja gerade ebenfalls entstehen wird, wenn eine solche Vorstellung die Aufmerksamkeit pl\u00f6tzlich auf sich zieht. Das nicht vollst\u00e4ndig Neue, das nur in seiner Art Ungew\u00f6hnliche erregt gew\u00f6hnlich der Abwechselung wegen Lust, es hat das \u201eInteresse der Neuheit\u201c. Der g\u00e4nzliche Mangel an","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"Die Beziehungsgef\u00fchle.\n341\nAbwechselung ruft die \u201eUnlust der Langeweile\u201c hervor, die, wie erw\u00e4hnt [246], zun\u00e4chst Unlust an Unth\u00e4tigkeit ist.\n424. Gef\u00fchle, die aus dem Verh\u00e4ltnisse zwischen dasselbe Objekt betreffenden Vorstellungen entspringen (intellektuelle Gef\u00fchle). \u2014 Diese Gef\u00fchle, die, wie schon oben nachgewiesen [314], auf der Identit\u00e4t oder der Kontradiktion der Vorstellungen beruhen, zerfallen in mehrere Gruppen, je nachdem das Identit\u00e4tsverh\u00e4ltnis in einer zusammenh\u00e4ngenden Gedankenentwickelung oder nur zwischen zwei Gedanken (Vorstellungen) zur Geltung kommt. Im letzteren Falle wird es wieder einen Unterschied machen, ob die Vorstellungen, zwischen denen die Beziehung sich geltend macht, entweder beide reproduziert oder beide sinnlich wahrgenommen sind, oder ob die eine eine Wahrnehmung, die andere ein Associationsprodukt ist. Es entstehen also drei Gruppen dieser Gef\u00fchle. 1) Auf dem Verlaufe einer Gedankenreihe beruht das \u201eKlarheits-\u201c und \u201eUnklarheitsgef\u00fchl\u201c [299]. Ob man hier auch das Gef\u00fchl der geistigen \u201eLeichtigkeit\u201c und \u201eAnstrengung\u201c aufstellen will, ist zun\u00e4chst dem Gutd\u00fcnken \u00fcberlassen; jedenfalls kann dasselbe mit gleich grofsem Recht zu den Th\u00e4tigkeitsgef\u00fchlen gez\u00e4hlt werden, wor\u00fcber unten mehr [427].\t2) Aus dem Verh\u00e4ltnisse\nzwischen zwei Wahrnehmungen oder zwei Gedanken entspringt das \u201eobjektive Wahrheitsgef\u00fchl\u201c, das man auch das \u201elogische Gef\u00fchl\u201c genannt hat [301\u2014302]. Da im subjektiven Wahrheitsgef\u00fchl ein gewisser Vorstellungsinhalt als wesentliches Element mitbeteiligt ist, wird es am angemessensten sein, dasselbe am\nentsprechenden Orte unter den Inhaltsgef\u00fchlen anzuf\u00fchren. 3) Auf \u2022 \u2022\t\u2022 \u00ab\t'\nder \u00dcbereinstimmung oder Nicht-\u00dcbereinstimmung eines Phantasiebildes mit dem Wahrgenommenen beruht eine ganze Reihe von\nGef\u00fchlen., \u201eErwartung\u201c ist diejenige Unlust, welche durch Nicht-\u2022 \u2022\n\u00dcbereinstimmung eines sinnlichen Bildes und eines Phantasiebildes entsteht, von dem eine baldige \u00dcbereinstimmung mit der Wirklichkeit angenommen wird. Die Erwartung steigt leicht bis zum Affekt der \u201eSpannung\u201c, der \u201egespannten Erwartung\u201c an. Zeigt sich \u00dcbereinstimmung zwischen dem Phantasiebilde und der Wirklichkeit, so entsteht die \u201eLust der Erf\u00fcllung\u201c. Von Erwartung redet man gew\u00f6hnlich nur dann, wenn das Erwartete keinen hervortretenden Gef\u00fchlston hat. Ist die Vorstellung von dem Erwarteten von Lust begleitet, so heifst der Zustand \u201eHoffnung\u201c; ist sie von Unlust begleitet, dagegen","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342\nBeitrag zur Systematik der Gef\u00fchle.\n\u201eBe\u00e4ngstigung\u201c, die bis zum Affekt der \u201eFurcht\u201c ansteigt1). Eine nichterf\u00fcllte Hoffnung f\u00fchrt die \u201eUnlust der T\u00e4uschung\u201c herbei; tritt das die Furcht Verursachende nicht ein, so entsteht eine \u201eFreude der Erleichterung\u201c. Wird die Hoffnung erf\u00fcllt oder tritt das Bef\u00fcrchtete ein, so entstehen Inhaltsgef\u00fchle verschiedener Art, je nach der Beschaffenheit des Inhalts. Wird eine Erwartung auf angenehme Weise get\u00e4uscht, so heifst der\nZustand eine \u201efr\u00f6hliche \u00dcberraschung\u201c. \u201eZweifel\u201c ist der zwischen Hoffnung und Furcht schwankende Zustand.\n425. Wenden wir uns nun zu den Inhaltsgef\u00fchlen, so wird deren systematische Ordnung verh\u00e4ltnism\u00e4fsig schwer, weil unsere gesamte Vorstellungsmasse, wie bereits erw\u00e4hnt, nicht auf nat\u00fcrliche Weise in bestimmt abgegrenzte Gruppen zerf\u00e4llt. Jede Einteilung wird daher bis zu einem gewissen Grade eine erk\u00fcnstelte, woraus wieder folgt, dafs die gezogenen Grenzen sich\n\u2022 \u00ab\nnicht behaupten lassen, indem man an allen Punkten Ubergangsformen zwischen den verschiedenen Gruppen zu finden erwarten\nmufs. \u00dcbrigens kann es wohl keinem Zweifel unterworfen sein, welcher unter den vielen m\u00f6glichen Einteilungsgr\u00fcnden der nat\u00fcrlichste sein wird. Denn da die Gef\u00fchlst\u00f6ne Lust und Unlust die psychischen Ausdr\u00fccke f\u00fcr das Verh\u00e4ltnis der Vorstellungen oder der Eindr\u00fccke zu dem psychophysischen Organismus sind, steht zu erwarten, dafs diejenigen Gef\u00fchle, deren Vorstellungsinhalt in wesentlich demselben Verh\u00e4ltnisse zuip Ich steht, am n\u00e4chsten verwandt sein werden. Oder mit anderen Worten: die Vorstellungsmasse l\u00e4fst sich nach den Verh\u00e4ltnissen, in welche das Individuum zu sich selbst und der Aufsenwelt treten kann, in Gruppen teilen. Bald greift das Individuum aktiv in die Aufsenwelt ein, bald beschr\u00e4nkt dessen ganze Aktivit\u00e4t sich darauf, Eindr\u00fccke der Aufsenwelt aufzunehmen. Diese k\u00f6nnen dem Individuum wieder bald als dessen Existenz direkt hemmend oder f\u00f6rdernd erscheinen, bald ist das Individuum sich eines solchen Verh\u00e4ltnisses nicht unmittelbar bewufst. In diesen und vielen anderen m\u00f6glichen F\u00e4llen entstehen gef\u00fchls-\n!) Der Sprachgebrauch ist hier wie an so vielen anderen Punkten zweideutig. Aufser dem hier genannten Sinne der W\u00f6rter \u201eErwartung\u201c und \u201eHoffnung\u201c haben dieselben noch einen anderen. Man \u201eerwartet\u201c etwas, wenn man sicher annimmt, dies werde eintreffen ; man \u201ehofft\u201c etwas, dessen Eintreten nur gewisse M\u00f6glichkeiten f\u00fcr sich hat.","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"Einteilung der Inhaltsgef\u00fchle.\n343\nbetonte Vorstellungen, und die w\u00e4hrend eines solchen bestimmten Verh\u00e4ltnisses entstehenden Gef\u00fchle werden verwandt sein, weil das Individuum, das Ich, hier auf gleichartige Weise afiiziert wird. Verm\u00f6gen wir also die verschiedenen m\u00f6glichen Verh\u00e4ltnisse zwischen dem Ich und der Aufsenwelt, unter welchen Vorstellungen entstehen k\u00f6nnen, rationell zu entwickeln, so werden wir mithin die Hauptgruppen bestimmt haben, in die sich die Inhaltsgef\u00fchle teilen lassen. Die Ordnung, in welcher diese Gruppen aufgestellt werden, m\u00f6chte vorl\u00e4ufig ziemlich gleichg\u00fcltig sein; um eine bestimmte Ordnung innezuhalten, werden wir indes von vorwiegender Aktivit\u00e4t zu vorwiegender Passivit\u00e4t fortschreiten, \u00fcbrigens wird es wohl kaum der Aufmerksamkeit entgehen, dafs diese Reihenfolge sich nicht konsequent durchf\u00fchren l\u00e4fst.\n426. Aus dem Verh\u00e4ltnis zwischen dem Ich und der Aufsenwelt entspringen alle unsere Vorstellungen. Die Aufsenwelt zerf\u00e4llt aber wieder in zwei Teile: in die Wesen, die ebenso\nwie das Ich Lust und Unlust zu f\u00fchlen\nverm\u00f6gen\ndie also\ngew\u00f6hnlich alle anderen Menschen umfassen werden, unter besonderen Verh\u00e4ltnissen jedoch auch in weiterem oder engerem Sinne zu nehmen sind \u2014 und alles andere. Demnach erhalten wir folgende Grundverh\u00e4ltnisse zwischen dem Ich und der Aufsenwelt, denen die hinzugef\u00fcgten Gruppen der Gef\u00fchle entsprechen :\nI.\tDas Ich greift aktiv in die Aufsenwelt ein : die Th\u00e4tigkeits-gef\u00fchle.\nII.\tDas Ich fafst sich selbst als wirksames Glied der Welt auf : die Selbstgef\u00fchle.\nIII.\tDas Ich ist Gegenstand solcher Eindr\u00fccke aus der Aufsenwelt, die unmittelbar als dessen Existenz hemmend oder f\u00f6rdernd aufgefafst werden : die autopathischen oder selbstischen Gef\u00fchle.\nIV.\tDas Ich steht der Aufsenwelt nur betrachtend gegen\u00fcber: die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle.\nV.\tDas Ich steht anderen Wesen, die als Lust und Unlust f\u00fchlend aufgefafst werden, betrachtend gegen\u00fcber: die sympathischen Gef\u00fchle.\nVI.\tDas Ich steht der Aufsenwelt idealisierend gegen\u00fcber : die religi\u00f6sen Gef\u00fchle.\nIn diese sechs Gruppen, oder als Mittelformen derselben, lassen sich fast alle Gef\u00fchle ordnen. \u00dcbrig bleiben wohl nur","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344\nBeitrag zur Systematik der Bef\u00fchle.\ndie \u00e4ufserst komplizierten Zust\u00e4nde, die wir oben als Gef\u00fchls-massen bezeichneten, und in denen Gef\u00fchle aller m\u00f6glichen Arten mitbeth\u00e4tigt sind, weshalb sie sich den weniger zusammengesetzten Gef\u00fchlen nat\u00fcrlich nicht nebenordnen lassen. Dieselben bilden also, wenn man so will, eine Gruppe f\u00fcr sich. \u2014 Es sei nur noch bemerkt, dafs die folgende Darstellung und Zur\u00fcckf\u00fchrung der einzelnen Gef\u00fchle auf ihren Platz im Systeme nicht den geringsten Anspruch auf Vollst\u00e4ndigkeit macht. Es ist nur die Aufgabe, nachzuweisen, dafs eine sehr grofse Anzahl emotioneller Zust\u00e4nde sich einigermafsen leicht und zwanglos in die gegebenen Rahmen einf\u00fcgen lassen.\n427. I. Die Th\u00e4tigkeitsgef\u00fchle. \u2014 Bei einem normalen , gesunden Menschen ist mit jeder k\u00f6rperlichen und seelischen Th\u00e4tigkeit, die die Kr\u00e4fte des Individuums nicht \u00fcbersteigt, Lust verbunden. Werden dagegen gr\u00f6fsere Anspr\u00fcche an die physisch-psychischen F\u00e4higkeiten des Individuums gestellt, als dieselben zu erf\u00fcllen im st\u00e4nde sind, so wird mit der Th\u00e4tigkeit Unlust verbunden sein. Ist die geleistete Arbeit physischer Art, so wird der Gef\u00fchlston haupts\u00e4chlich von den Muskelbewegungen herr\u00fchren; bei der sogenannten \u201egeistigen\u201c Arbeit, der Denkarbeit, ist das Gef\u00fchlselement wahrscheinlich formeller Natur, von der Identit\u00e4t oder der Kontradiktion der Vorstellungen herr\u00fchrend, weshalb diese Gef\u00fchle bei psychischer Th\u00e4tigkeit sich ebensowohl zu den Beziehungsgef\u00fchlen z\u00e4hlen lassen [424]. An einem Zustand gr\u00f6fserer oder geringerer Anspannung des Denkens sind jedoch stets gewisse Organempfindungen beteiligt, welche die Aufstellung dieser Gef\u00fchle neben den anderen Th\u00e4tigkeitsgef\u00fchlen zur nat\u00fcrlichsten machen. \u2014 Da jede Arbeit gew\u00f6hnlich auf ein gewisses Ziel gerichtet sein wird, das die Phantasie im voraus aufgesteckt haben mufs, wird bei dem allm\u00e4hlichen Fortschreiten der Arbeit Lust an dem erreichten Resultate entstehen, wenn das Ausgef\u00fchrte mit dem Vorgesetzten Zwecke \u00fcbereinstimmt, Unlust dagegen, wenn das Resultat nicht das Beabsichtigte ist. Diese Gef\u00fchle sind also vornehmlich formeller Natur, da sie von der\n\u2666 t\t# #\nUber eins tinnnung oder Niclit-Uberein Stimmung des Zweckes und des erreichten Ergebnisses herr\u00fchren, \u00fcbrigens sind sie nat\u00fcrlich in hohem Mafse von der speziellen Natur der Arbeit abh\u00e4ngig. W\u00e4hrend z. B. die Lust am Turnen, am Sport u. dergl. fast ausschliefslich aus Beziehungsgef\u00fchlen der genannten Art besteht,","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"Die Selbstgef\u00fchle.\n345\nwerden mit der f\u00fcr die Existenz des Individuums erforderlichen Arbeit gew\u00f6hnlich viele verschiedene Gef\u00fchle verbunden sein. \u2014 Durch fortw\u00e4hrendes Arbeiten in verschiedenen Eichtungen entsteht das \u201eMach!-\u201c und \u201eUnmachtgef\u00fchl\u201c, indem mit der Empfindung oder der Vorstellung des Individuums, es verm\u00f6ge etwas oder auch nicht, Lust oder Unlust verbunden ist.\n428. II. Die Selbstgef\u00fchle. \u2014 Diese Zust\u00e4nde sind mit den Th\u00e4tigkeitsgef\u00fchlen nahe verwandt, da ihr Vorstellungsinhalt wesentlich die Auffassung ist, die das Individuum sich w\u00e4hrend seiner Th\u00e4tigkeit von dem eignen Ich als aktivem Gliede des Daseins bildet. W\u00e4hrend zum Machtgef\u00fchl also nur eine mehr oder weniger klare Vorstellung von einem Verm\u00f6gen, entweder im allgemeinen oder in spezieller Richtung, mitwirkt, wird dieses Gef\u00fchl zum \u201eSelbstvertrauen\u201c, wenn das Individuum sich bewufst ist, sich klar macht, dafs es selbst der Tr\u00e4ger gewisser F\u00e4higkeiten ist, die es in die Lage setzen, etwas in bestimmter Richtung zu unternehmen. Das Selbstvertrauen kann bis zum Affekt des \u201e\u00fcberstr\u00f6menden Selbstvertrauens\u201c, des \u201e\u00dcbermuts\u201c steigen, in welchem Zustande das Individuum f\u00fcr die Begrenzung seiner eignen F\u00e4higkeiten blind ist. \u00c4hnlicherweise ist das Wissen, das Ich verm\u00f6ge nichts, mit der Unlust des \u201eMifstrauens zu sich selbst\u201c, zu seinen eignen Kr\u00e4ften verbunden. W\u00e4hrend das Selbstvertrauen nur da in bestimmten Richtungen geht, wo das Individuum sich im Besitz der erforderlichen F\u00e4higkeiten weifs, wird sich in jedem Individuum auch die allgemeine, unklare Vorstellung bilden, das Ich habe an und f\u00fcr sich, als aktiv verm\u00f6gendes Wesen, eine gewisse Bedeutung, die von den Menschen, mit denen es in fortw\u00e4hrender Ber\u00fchrung steht, anerkannt werde. Mit dieser Vorstellung ist allerdings Lust: \u201eSelbstgef\u00fchl\u201c, verbunden, aber dieses Gef\u00fchl wird unter gew\u00f6hnlichen Verh\u00e4ltnissen unmerkbar sein, ebensowie alle anderen konstanten Zust\u00e4nde, z. B. die k\u00f6rperliche Gesundheit. Wenn dagegen die Vorstellung entsteht, ein anderer lege dem Individuum nicht den Wert bei, den es selbst zu besitzen glaubt, so wird Unlust: \u201everletztes Selbstgef\u00fchl\u201c erregt. Ist mit diesem zugleich die Vorstellung verbunden, die Verletzung sei vors\u00e4tzlich gewesen, so \u201ef\u00fchlt man sich beleidigt\u201c, und der Zustand geht dann leicht in den Affekt \u201eZorn\u201c \u00fcber. Gehobenes Selbstgef\u00fchl ist das Gef\u00fchl des \u201eStolzes\u201c, wenn das Individuum weifs, dafs andere es um seiner F\u00e4higkeiten willen unwillk\u00fcrlich bewundern.","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"346\nBeitrag zur Systematik der Gef\u00fchle.\nKn\u00fcpft sich hieran das Streben, diese Bewunderung fortw\u00e4hrend ausgesprochen zu h\u00f6ren, so dafs das Individuum jede Gelegenheit benutzt, um sein Licht leuchten zu lassen, so heilst der Zustand \u201eEitelkeit\u201c, die also zun\u00e4chst ein Trieb ist, dessen Gef\u00fchlsinhalt die Lust ist, Gegenstand der Bewunderung zu sein. Wird das Selbstgef\u00fchl dadurch gehoben, dafs ein anderer bewufst, mit Absicht, Berechnung, seiner Bewunderung Luft gibt, so f\u00fchlt man sich \u201egeschmeichelt44. \u201eDem\u00fctigung\u201c, nicht zu verwechseln mit Demut, ist Unlust bei der Vorstellung, ich k\u00f6nne mich in einer gewissen Beziehung, in welcher ich unter den ersten zu sein glaubte, dennoch nicht mit einem anderen messen. \u201eScham\u201c ist Unlust bei der Vorstellung, ich habe etwas geleistet, das ich h\u00e4tte besser machen k\u00f6nnen; \u201e\u00c4rger\u201c dagegen ist Unlust beider Vorstellung, ich k\u00f6nne es nicht besser machen, als ich es gethan habe, weil meine F\u00e4higkeiten nicht gen\u00fcgten.\n429. III. Die autopathischen Gef\u00fchle. \u2014 W\u00e4hrend bei den Selbstgef\u00fchlen stets die Vorstellung vom eignen Ich als aktivem Element mitbeth\u00e4tigt ist (ich sch\u00e4me mich, \u00e4rgre mich, f\u00fchle mich stolz, gedem\u00fctigt u. s. w.), ist das Ich in den selbstischen Gef\u00fchlen passiv, Gegenstand \u00e4ufserer Eindr\u00fccke, die nur dem Individuum als dessen Existenz unmittelbar hemmend oder f\u00f6rdernd erscheinen. Aber eben weil das Individuum in den selbstischen Gef\u00fchlen sein eigenes Dasein unmittelbar bedroht f\u00fchlt, sind mit diesen Gef\u00fchlen stets starke Trieb\u00e4ufserungen verbunden. Diese Triebzust\u00e4nde heifsen \u201eegoistische\u201c. In erster Reihe treffen wir unter den autopathischen Gef\u00fchlen die primitiven Zust\u00e4nde an, die aus den Angriffen der Aufsenwelt auf den Organismus hervorgehen, Schmerz bei organischen St\u00f6rungen jeglicher Art, bei Hunger, Durst, Unlust bei gar zu starken Reizungen der Sinnesorgane, auch wenn diese nicht geradezu eine Destruktion herbeif\u00fchren, bei unbefriedigtem Geschlechtstrieb u. s. w. Mit allen diesen Unlustgef\u00fchlen ist ein Trieb, ein Bed\u00fcrfnis nach Ver\u00e4nderung des Zustandes verbunden; tritt diese ein, so entsteht Lust: beim Aufh\u00f6ren des Schmerzes, durch S\u00e4ttigung, Stillung des Durstes, Eintritt normaler Sinnesreize, geschlechtlichen Genufs u. s. w. Hierzu kommen nun alle die mannigfaltigen komplizierten Zust\u00e4nde, f\u00fcr welche die Sprache uns nur die Namen des (autopathischen) Kummers und der (autopathischen) Freude gibt. Bei diesen Gef\u00fchlen dreht es sich nicht nur um die Existenz des Organismus, sondern um das gesamte k\u00f6rperlich-","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"Die autopathischen Gef\u00fchle.\n847\nseelische Dasein des Individuums. Jede Vorstellung von etwas, das dem Individuum frommt, das mit anderen Worten dessen Dasein f\u00f6rdert, wird lustbetont sein, und dieses Gef\u00fchl heilst \u201eFreude\u201c. \u201eKummer\u201c ist dagegen der \u00fcnlustbetonte Gedanke an einen wenigstens f\u00fcr den Augenblick unersetzlichen Verlust einer Quelle der Lust, durch welchen also das Dasein des Individuums gehemmt wird. \u2014 Kummer und Freude k\u00f6nnen miteinander eine ganze Reihe gemischter Gef\u00fchle bilden. So entsteht \u201eWehmut\u201c, wenn die Vorstellung von einer genossenen Freude sich neben dem Kummer \u00fcber deren Aufh\u00f6ren geltend zu machen vermag. \u201eLust an \u00fcberstandenen Beschwerden\u201c ist die Freude dar\u00fcber, dafs etwas Trauriges oder Unangenehmes aufgeh\u00f6rt hat. Der Kummer, weil ein lebhaft gew\u00fcnschtes Erfreuliches noch nicht ein treten kann, heifst \u201eSehnsucht\u201c. Eine spezielle Form derselben ist das \u201eHeimweh\u201c. Schliefslich haben : wir als vierten m\u00f6glichen Fall: die Freude dar\u00fcber, dafs I etwas Trauriges noch nicht eintreffen kann : das Gef\u00fchl der \u201eSicherheit\u201c.\n480. An die schon genannten Formen schliefst sich noch eine Gruppe von Gef\u00fchlen an, die ihr Sondergepr\u00e4ge teils dadurch erh\u00e4lt, dafs die Existenz des Individuums durch dessen ! eigene Th\u00e4tigkeit gehemmt oder gef\u00f6rdert wird, teils dadurch,\n| dafs ein anderes Individuum als die willk\u00fcrliche Ursache der Hindernisse oder der Erleichterungen, die das Ich w\u00e4hrend seiner Th\u00e4tigkeit antrifft, betrachtet wird. \u2014 Wenn die Th\u00e4tigkeit durch Hindernisse gehemmt wird, die dem Individuum als nat\u00fcrliche, notwendige Konsequenzen der einstweilen vorliegenden Umst\u00e4nde erscheinen, so entsteht \u201eUngeduld\u201c, die wohl stets den Charakter des Affektes tr\u00e4gt. Wird die Th\u00e4tigkeit dagegen durch das, allenfalls anscheinend, vors\u00e4tzliche Eingreifen eines anderen Menschen gehemmt, so f\u00fchlen wir \u201eZorn\u201c. Da das Machtgef\u00fchl durch die ungeziemliche Einmischung direkt verletzt wird, so werden die triebm\u00e4fsigen \u00c4ufserungen des Zorns wesentlich darauf abzielen, das Machtgef\u00fchl zu heben; geschieht dies dadurch, dafs das Individuum selbst die Gewalt \u00fcber den anderen erh\u00e4lt, so entsteht Lust: das \u201eRachegef\u00fchl\u201c. F\u00fchlt dagegen das Individuum die Hebung seines Machtgef\u00fchls auf Kosten des anderen, indem dieser durch \u00e4ufsere Umst\u00e4nde unterdr\u00fcckt wird, so heifst der Zustand \u201eSchadenfreude\u201c. Wenn der Zorn nicht auflodert und sich sogleich Luft schafft, sondern","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348\nBeitrag zur Systematik der Gef\u00fchle.\nchronisch wird, so geht er in die Stimmung des \u201eGrolls\u201c \u00fcber. Ist hiermit ein fortw\u00e4hrendes Trachten nach Rache, ein Erlauern der Gelegenheit zu deren Aus\u00fcbung verbunden, so heilst der Zustand \u201eRachgier\u201c, diese ist aber wegen des mit derselben verkn\u00fcpften bewufsten Wollens zun\u00e4chst als eine Leidenschaft zu betrachten und geh\u00f6rt also nicht hierher. Wo die Existenz nicht direkt, wohl aber indirekt dadurch gehemmt wird, dafs ein anderer mehr erreicht und folglich mehr vermag als das Individuum selbst, entsteht die Unlust des \u201eNeides\u201c. \u2014 \u201eDankbarkeit\u201c ist die Freude \u00fcber das willk\u00fcrliche Eingreifen eines anderen zu Nutz und Frommen des Individuums. Wir hegen \u201eVertrauen\u201c zu demjenigen, von dem wir mit Sicherheit wissen, dafs er in irgend einer Beziehung unser Wohl f\u00f6rdern will.\n431. IV. Die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle. \u2014 Diese entspringen aus solchen Eindr\u00fccken aus der Aufsenwelt, die vom Individuum nicht als dessen Existenz unmittelbar f\u00f6rdernd oder hemmend aufgefafst werden. Da das Individuum im Momente der Reizung sich nicht unmittelbar bewufst ist, dafs es sich um sein eigenes Wohl handelt, so werden diese Gef\u00fchlszust\u00e4nde auch nur wenig hervortretende Trieb\u00e4ufserungen herbeif\u00fchren ; gew\u00f6hnlich werden die Gef\u00fchle nur von einer Hinrichtung oder Ablenkung der Aufmerksamkeit und solchen einfachen Bewegungen begleitet sein,- durch welche das sinnliche Wahrnehmen im Momente erleichtert oder aufgehoben wird. Man hat die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle deshalb im Gegensatz zu allen anderen als trieb- oder begehrlos charakterisiert, was indes, wie gesagt, nicht durchaus richtig ist. \u2014 Es gibt der \u00e4sthetischen Gef\u00fchle wohl ebenso viele, als es Gruppen von Objekten gibt, durch deren blofses Beschauen Lust oder Unlust entstehen kann, die Sprache hat aber keine Namen f\u00fcr diese verschiedenen Zust\u00e4nde. Alles, was bei der Betrachtung Lust erregt, lieifst \u201esch\u00f6n\u201c ; was bei der Betrachtung Unlust erweckt, heifst \u201eunsch\u00f6n\u201c, \u201eh\u00e4fslich\u201c. Aus praktischen Gr\u00fcnden hat man in der \u00c4sthetik, die eine ausf\u00fchrlichere Darstellung der \u00e4sthetischen Gef\u00fchle und der Verh\u00e4ltnisse gibt, unter welchen dieselben entstehen, als die allgemeine Gef\u00fchlslehre \u2014 oder die vielleicht vielmehr nur eine solche Darstellung geben sollte \u2014 die Gef\u00fchle in die elementaren und die h\u00f6heren eingeteilt. Zu den ersteren rechnet man diejenigen Lust- und Unlustgef\u00fchle, deren Vorstellungsinhalt Sinnesempfindungen und einfache Kombinationen derselben sind,","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"Die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle.\n349\ninsofern diese von dem betrachtenden Individuum nicht als die Existenz unmittelbar hemmend oder f\u00f6rdernd aufgefafst werden, denn alsdann m\u00fcssen die Gef\u00fchle zu den autopathischen gez\u00e4hlt werden. \u00dcbrigens sind gewifs alle elementaren \u00e4sthetischen Gef\u00fchle, die an Kombinationen sinnlicher Empfindungen und r\u00e4umlicher Bilder gebunden sind, wesentlich formeller Natur mit einem von dem speziellen Inhalt herr\u00fchrenden Sondergepr\u00e4ge. Zu den h\u00f6heren \u00e4sthetischen Gef\u00fchlen werden alle solchen Lust-und Unlustgef\u00fchle gerechnet, die durch blofse Betrachtung' zusammengesetzter Objekte entstehen. Auf der h\u00f6chsten Stufe, auf welcher lebendige Wesen, besonders der Mensch, als Glieder des sch\u00f6nen Objekts herangezogen werden, sind die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle indes in grofsem Umfange mit anderen, namentlich sympathischen und religi\u00f6sen (ethischen) Gef\u00fchlen vermischt. Solche Objekte und die aus denselben entspringenden Gef\u00fchle sind folglich nur unter der Voraussetzung \u00e4sthetische zu nennen, dafs das betrachtende Subjekt sich dem Objekt gegen\u00fcber wirklich rein betrachtend verh\u00e4lt, so dafs die tuistischen [435] Triebe nicht in Bewegung gesetzt werden. Dies wird aber nur in zwei F\u00e4llen m\u00f6glich sein. Entweder kann das Individuum, das anderen lebendigen Wesen gegen\u00fcber betrachtend dasteht, davon abstrahieren, dafs diese selbst Lust und Unlust zu f\u00fchlen verm\u00f6gen, so dafs sie mit anderen Worten nur als Glieder der Aufsenwelt aufgefafst werden. So k\u00f6nnen wir rein \u00e4sthetisch ein sch\u00f6nes Antlitz, vortreffliche Gymnastik u. s. w. geniefsen. Oder auch k\u00f6nnen die lebendigen Wesen in k\u00fcnstlerischer Wiedergabe am sch\u00f6nen Objekt Anteil haben. Dann mischen sich bei der Betrachtung den \u00e4sthetischen Gef\u00fchlen allerdings sympathische und ethische bei; solange das betrachtende Subjekt sich aber bewufst ist, nicht vor der Wirklichkeit zu stehen, entsteht kein Anlafs zu tuistischen Trieben, und der gesamte resultierende Zustand ist daher noch ein \u00e4sthetisches Gef\u00fchl zu nennen, ln K\u00fcrze kann man wohl sagen, dafs die sympathischen und ethischen Gef\u00fchle, wenn sie reproduziert wurden, Glieder der \u00e4sthetischen Gef\u00fchle werden k\u00f6nnen, entspringen sie aber aus der aktuellen Beziehung des Menschen zum Menschen oder zu anderen f\u00fchlenden Wesen, so befindet man sich aufserhalb des \u00e4sthetischen Gebietes.\n432. Zu den \u00e4sthetischen Gef\u00fchlen sind, unter gewissen Bedingungen allenfalls, noch die Gef\u00fchle f\u00fcr das Erhabene, das","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"350\nBeitrag zur Systematik der Gef\u00fchle.\nKomische und das Tragische zu rechnen. Das erste ist ein gemischtes Gef\u00fchl, in welchem aufser der durch die Betrachtung entstandenen Lust ein Unlustelement hinzutritt, das von der \u00fcberw\u00e4ltigenden Gr\u00f6fse des Betrachteten herr\u00fchrt, zu deren Auffassung besondere Anspannung von seiten des Subjekts erforderlich ist. Die Lust am \u201eKomischen\u201c entsteht, wenn eine logische oder sympathische Unlust pl\u00f6tzlich von einem \u00e4sthetischen Lustgef\u00fchl abgel\u00f6st wird, das wegen des Kontrastes zu der vorhergehenden Unlust bis zum Affekt steigt. Im Gef\u00fchl f\u00fcr das \u201eTragische\u201c kann nur ein f\u00fchlendes Wesen das Objekt sein. Das Leben wird tragisch, wenn eine sympathische Figur, zum Teil ohne eigne Schuld, durch die Gewalt der Umst\u00e4nde zu Boden gedr\u00fcckt wird. Die hierdurch im betrachtenden Subjekte erregten Gef\u00fchle sind ausschliefslich sympathischer und ethischer Natur, so dafs sie ganz aufserhalb des Gebietes der \u00e4sthetischen Gef\u00fchle fallen, sobald wir dem wirklichen, dem lebendigen Wesen gegen\u00fcberstehen.\n433.\tV. Die sympathischen Gef\u00fchle. \u2014 Wenn in dem Subjekte die Vorstellung entsteht, ein anderes Wesen f\u00fchle unter gegebenen Umst\u00e4nden Lust oder Unlust, so wird mit dieser Vorstellung zwar eine ganz unmittelbare Lust oder Unlust verbunden sein, \u00e4sthetisch k\u00f6nnen diese Gef\u00fchle jedoch nicht genannt werden. Sie sind n\u00e4mlich nicht trieblos wie die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle; das betrachtende Subjekt f\u00fchlt seine eigne Existenz auf eigent\u00fcmliche Weise bedroht, trotzdem dafs die betonten Vorstellungen einen Inhalt haben, der gar nicht das Subjekt, sondern ein anderes Wesen betrifft, und es wird daher ein auf die Aufsenwelt gerichtetes Trachten erweckt, das Gef\u00fchl mittels dessen Ursache zu entfernen oder festzuhalten. Es ist deshalb berechtigt, diese, die sympathischen, Gef\u00fchle als eine besondere Gruppe neben den \u00e4sthetischen aufzustellen, \u00fcbrigens herrscht unter den Psychologen noch so grofse Uneinigkeit \u00fcber die Natur und Entstehung derselben, dafs einige Bemerkungen erforderlich sein werden, bevor wir zur Bestimmung der einzelnen Zust\u00e4nde schreiten.\n434.\tDie meisten modernen Psychologen scheinen darin \u00fcbereinzustimmen, dafs sie den sympathischen Gef\u00fchlen die Urspr\u00fcnglichkeit der \u00fcbrigen Gef\u00fchle absprechen, und es sind mehrere Versuche angestellt worden, um zu zeigen, wie sich denken liefse, dafs dieselben sich im Laufe der Zeit aus den","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"Die sympathischen Gef\u00fchle.\n351\nautopathischen Gef\u00fchlen entwickelt h\u00e4tten. Eine solche Ansicht scheint indes dem von den n\u00e4mlichen. Psychologen angenommenen Satze direkt zu widerstreiten, ein Gef\u00fchl lasse sich dadurch reproduzieren, dafs die einst gef\u00fchlsbetonten Vorstellungen wiedererzeugt w\u00fcrden. Denn wenn die reproduzierte Vorstellung von dem, das einst Lust oder Unlust erregte, selbst betont ist, so wird die Vorstellung, ein Individuum f\u00fchle Lust oder Unlust, nicht unterlassen k\u00f6nnen, im Betrachtenden entsprechende Gef\u00fchlst\u00f6ne zu erwecken. Ist die blofse reproduzierte Vorstellung von einem Leiden von Unlust begleitet, so mufs dies doch ebenfalls mit der Vorstellung von dem Leiden eines anderen Individuums der Fall sein, unter anderem, weil dieselbe unvermeidlich unlustbetonte Vorstellungen von den fr\u00fcheren eignen Leiden des Individuums reproduziert. Meines Ermessens m\u00fcssen die sympathischen Gef\u00fchle deshalb ebenso urspr\u00fcnglich sein als die autopathischen. Sie k\u00f6nnen ausbleiben, wenn die Entwickelungsstufe des betrachtenden Subjekts so primitiver Beschaffenheit ist, dafs es demselben gar nicht klar wird, ein anderes Wesen, welches er leiden sieht, f\u00fchle \u00fcberhaupt Schmerz. Selbst bei zivilisierten Nationen befinden sich die unteren Klassen oft auf einer solchen Entwickelungsstufe den Tieren gegen\u00fcber; sie verstehen gar nicht, dafs die Tiere bei schonungsloser Behandlung leiden, d. h. Schmerz f\u00fchlen, und folglich werden auch keine sympathischen Gef\u00fchle erweckt. Was hier aber fehlt, ist offenbar zun\u00e4chst dieses Verst\u00e4ndnis; zugleich mit diesem stellen sich die Gef\u00fchle von selbst ein, wenigstens wenn im Beschauer Vorstellungen von eignen fr\u00fcheren Leiden derselben Art reproduziert werden. Dasselbe gilt wahrscheinlich auch von solchen wilden V\u00f6lkerschaften, die mit Erstaunen, aber ohne Spur von Sympathie, einen Stammgenossen krank, der Bewegung unf\u00e4hig liegen sehen. Sie verstehen nicht, dafs das, was sie sehen, Anzeichen des Leidens sind, und folglich wird auch kein Mitleid erweckt. Mit der Vorstellung von dem Leiden eines anderen kommt gewifs aber zugleich das Gef\u00fchl, und mithin ist es berechtigt, die sympathischen Gef\u00fchle ebensowohl als die selbstischen urspr\u00fcngliche zu nennen : deren Entstehen erheischt keine Gef\u00fchlsentwickelung.\n435. Ganz anders verh\u00e4lt es sich dagegen m\u00f6glicherweise mit den Trieben, die sich an die sympathischen Gef\u00fchle kn\u00fcpfen. Sehe ich einen Menschen leiden, so f\u00fchle ich sympathische Unlust,","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352\nBeitrag zur Systematik der Gef\u00fchle.\nund es entsteht ein Streben, diese Unlust zu entfernen. Dies ist aber auf zwei verschiedene Arten zu erreichen. Entweder kehre ich den R\u00fccken zu, um den Anblick zu vermeiden, und dann ist mein Streben \u201eegoistisch\u201c, oder auch komme ich dem N\u00e4chsten zu Hilfe, und mein Streben ist dann \u201etuistisch\u201c. Hier ist gewifs ein Punkt, \u00fcber den sich disputieren l\u00e4fst, indem man gewifs ebensowohl f\u00fcr die Ansicht triftige Gr\u00fcnde anf\u00fchren kann, die egoistischen und die tuistischen Triebe seien in gleichem Mafse urspr\u00fcnglich, als f\u00fcr die, das egoistische Handeln sei das nat\u00fcrliche und urspr\u00fcngliche, das tuistische aber erst durch gegenseitige Einwirkung der Individuen aufeinander in den menschlichen Gesellschaften entwickelt. Eine Untersuchung, welche dieser Ansichten die richige ist, liegt aufserhalb unserer Aufgabe, da wir nur mit den Gef\u00fchlen und nicht mit den an dieselben gekn\u00fcpften Trieben zu thun haben. Die Hauptsache ist hier nur die, dafs mit den sympathischen Gef\u00fchlen Triebe verbunden sind, diese m\u00f6gen nun urspr\u00fcnglich tuistischer Natur sein oder auch nicht.\n436. Die sympathischen Gef\u00fchle zerfallen auf nat\u00fcrliche Weise in zwei Hauptgruppen, je nachdem das im betrachtenden Subjekte entstehende Gef\u00fchl derselben oder anderer Art ist als dasjenige, welches sich im beobachteten Individuum regt. Sehen wir einen Menschen in Freude oder Kummer, so k\u00f6nnen wir nat\u00fcrlich meistens weder Freude noch Kummer \u00fcber das ihn Erfreuende oder Betr\u00fcbende f\u00fchlen, da dieses uns selbst gar nichts angeht. Nur beim Anblick der Freude oder des Kummers eines anderen entsteht Lust oder Unlust; der Vorstellungsinhalt dieser sympathischen Gef\u00fchle ist nicht das die Gef\u00fchle des anderen Erregende, sondern die Vorstellung allein, dafs ein anderes Wesen Lust oder Unlust f\u00fchlt. Zur ersteren Gruppe der sympathischen Gef\u00fchle k\u00f6nnen wir daher z\u00e4hlen: die Lust an der Lust anderer Menschen, die \u201eMitfreude\u201c, und die Unlust an dem Kummer oder Schmerz anderer, das \u201eMitgef\u00fchl\u201c. Ist mit diesem Gef\u00fchl das Streben verbunden, dem Leidenden zu helfen, so heifst der Zustand \u201eMitleid\u201c. Die lustbetonte Vorstellung von einem Individuum, das uns oft eine Quelle sympathischer Lust und Unlust gewesen ist, heifst \u201eErgebenheit\u201c. Ist mit der Ergebenheit zugleich das Gef\u00fchl \u00fcberlegener Gewalt verbunden, so dafs das Subjekt als Besch\u00fctzer eines anderen auftreten kann, so f\u00fchlen wir \u201eZ\u00e4rtlichkeit\u201c. Mit beiden diesen","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"Die religi\u00f6sen G-ef\u00fchle.\n353\nGef\u00fchlen wird gewifs stets ein tuistisches Streben verkn\u00fcpft sein ; Ergebenheit und Z\u00e4rtlichkeit sind zugleich \u201eHingebung\u201c. \u2014 Zur zweiten Gruppe geh\u00f6ren diejenigen Gef\u00fchle, die dadurch entstehen, dafs wir uns gewissermafsen mit einem anderen identifizieren, seine Sache unbewufst zur unsrigen machen. So kann ein Verwandter, ein Freund, ein Landsmann uns Stolz, Zorn, Scham, \u00c4rger, Furcht u. s. w. verursachen, wenn man sieht oder h\u00f6rt, dafs derselbe Gegenstand der Bewunderung, des Lobes oder des Tadels, einer drohenden Gefahr u. s. w. ist.\n437. VI. Die religi\u00f6sen Gef\u00fchle. \u2014 Mehr oder weniger bewufst formt das Individuum seine Lebensanschauung zu einem Totalbilde der Welt aus, nicht nur wie diese that-s\u00e4chlich ist, denn dar\u00fcber wissen wir nur sehr wenig, sondern wie sie den W\u00fcnschen und Neigungen des einzelnen Individuums gem\u00e4fs sein sollte. Das Werk des Einzelnen kann mehr oder weniger selbst\u00e4ndig sein; wo eine positive Religion zu Grunde gelegt wird, ist das Totalbild in der Hauptsache von anderen ausgeformt worden, und das Werk des Individuums beschr\u00e4nkt sich darauf, diejenigen Punkte hervorzuziehen, die ihm die wesentlichen sind, und die \u00fcbrigen in Harmonie hiermit auszulegen. Stellt das Individuum sich nicht auf den Grund und\n_ \u2022 \u2022 _ .. _ _\nBoden einer \u00dcberlieferung, so wird das Selbstdenken von gr\u00f6fserer Bedeutung, jedenfalls wird die \u201eReligion\u201c des Einzelnen aber das gesamte, bald klar durchdachte, bald dunkel gef\u00fchlte Idealbild des Daseins, das der Meinung des Individuums zufolge ein wahres Bild desselben ist. Auf jeder Stufe, sowohl wenn das Individuum sich seine Religion gestaltet und an eignet, als wenn diese in ihren Hauptz\u00fcgen festgestellt ist, treten hier zwei Beziehungsgef\u00fchle auf, die f\u00fcr die innere Einheit der religi\u00f6sen Anschauungen von der gr\u00f6fsten Bedeutung sind: \u201edas subjektive Wahrheits- und Unwahrheitsgef\u00fchl\u201c [303]. Alles, was mit dem Idealbilde \u00fcbereinstimmt, erweckt Lust und ist deshalb Wahrheit f\u00fcr mich, \u201eErbauung\u201c ; alles, was meiner Auffassung widerstreitet, erregt Unlust, \u201e\u00c4rgernis\u201c. \u2014 Aus den religi\u00f6sen Vorstellungen selbst entstehen ferner eine Reihe von Gef\u00fchlen, auf deren n\u00e4here Bestimmung wir uns hier nicht einlassen k\u00f6nnen, weil ihr Charakter so \u00e4ufserst wechselnd, von dem religi\u00f6sen Inhalt abh\u00e4ngig ist: die \u201eGottesfurcht\u201c, \u201eLiebe zu Gott\u201c, \u201eDemut\u201c, das \u201eSchuldgef\u00fchl\u201c, die \u201eFr\u00f6mmigkeit\u201c, die \u201eErgebung\u201c in sein Schicksal, in das Verh\u00e4ngte u. s. w.\nLehmann, Die Gef\u00fchle.\n23","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354\nBeitrag zur Systematik der Gef\u00fchle.\n438.\tEin sehr wesentliches Glied des individuellen Totalbildes von der Welt sind die Ansichten von dem menschlichen Dasein und dessen Zwecke. Hat das Individuum sich bestimmte Vorstellungen hiervon gebildet, so wird es notwendigerweise auch suchen, sich klar zu machen, wie sein eignes Betragen, Handeln, sein mufs, damit es f\u00fcr seine Person diesen Zweck soweit m\u00f6glich erreiche. Wie verschieden die religi\u00f6sen Anschauungen als Gesamtheit sein k\u00f6nnen, so verschieden werden nat\u00fcrlich auch die Anschauungen davon, was im einzelnen Falle das rechte, das ideale Handeln sein wird, aber trotz aller Verschiedenheiten hinsichtlich des Inhalts entspringen aus den Vorstellungen von dem idealen Handeln eine Gruppe von Gef\u00fchlen, die die gr\u00f6fste Bedeutung haben: die \u201eethischen\u201c Gef\u00fchle. Steht es f\u00fcr das Individuum fest, dafs die Gewalten des Daseins (die Gottheit, die Weltordnung, die menschliche Gesellschaft) bewufst oder unbewufst einem bestimmten Zwecke zustreben, so wird es ihm klar sein, dafs jede Unrechte, d. h. mit dem idealen Handeln nicht\u00fcbereinstimmende Handlung notwendigerweise Widerstand, Strafe linden wird : das Individuum f\u00fchlt sich f\u00fcr sein Handeln \u201everantwortlich\u201c. Anderseits wird auch mit der Vorstellung Lust und Unlust verbunden sein, dafs von den Gewalten des Daseins jedem Individuum die seinem Handeln geb\u00fchrende Strafe oder Belohnung erteilt oder auch nicht erteilt wird: das\n\u201eGerechtigkeitsgef\u00fchl\u201c. Endlich entstehen eine ganze Reihe von\n\u2022 \u2022\nBeziehungsgef\u00fchlen durch die \u00dcbereinstimmung oder Nicht\u00fcbereinstimmung zwischen dem einzelnen Individuum oder der einzelnen Handlung und dem ethischen Ideale. Diese Gef\u00fchle zerfallen in zwei Gruppen, je nachdem 1) das Individuum einen anderen oder 2) sich selbst nach dem ethischen Ideal als Mafs-stab sch\u00e4tzt; innerhalb jeder dieser beiden Gruppen l\u00e4fst sich wieder zwischen den Gef\u00fchlen sondern, die aus der Sch\u00e4tzung der einzelnen Handlung entspringen, und denen, die eine Sch\u00e4tzung des Charakters des Individuums enthalten.\n439.\t1. Das Subjekt sch\u00e4tzt ein anderes Ich. \u201eBilligung\u201c\n\u2022 #\t_\nist Lust an der \u00dcbereinstimmung, \u201eMifsbilligung\u201c Unlust an der Nicht-\u00dcbereinstimmung der einzelnen Handlung mit dem idealen Handeln. Die Mifsbilligung kann bis zum Affekt des \u201egerechten Zorns\u201c, der \u201eEntr\u00fcstung\u201c steigen. An die Vorstellung von der \u00dcbereinstimmung des Individuums, des Charakters mit dem Ideal ist Lust gekn\u00fcpft: \u201eAchtung\u201c bis zur \u201eBewunderung\u201c steigend.","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gef\u00fchlsmassen.\n355\nEin gemischtes Gef\u00fchl ist die \u201eEhrfurcht\u201c, in welcher Furcht\nneben der Bewunderung mitwirkt [326], Die Vorstellung von\nder Nicht-\u00dcbereinstimmung des Charakters mit dem Ideal ist\nvon Unlust begleitet: \u201eGeringsch\u00e4tzung\u201c, in h\u00f6herem Grade\n\u201eVerachtung\u201c. \u2014 2. Das Subjekt sch\u00e4tzt sich selbst. Die\n\u00dcbereinstimmung des einzelnen Entschlusses mit dem Ideal f\u00fchrt\nLust, \u201eein gutes Gewissen\u201c herbei; nach ausgef\u00fchrter Handlung\ntritt die \u201eFreude der Pflichterf\u00fcllung\u201c ein, die gew\u00f6hnlich indes\nverlangt, dafs die rechte Handlung ausgef\u00fchrt wurde, obgleich\nMotive f\u00fcr ein anderes Betragen Vorlagen. Das \u201eb\u00f6se Gewissen\u201c\n\u2022 \u2022\nist die Unlust, an der Vorstellung von der \u201eNicht-Ubereinstimmung eines Entschlusses oder einer Handlung mit dem Ideal; kommt hierzu der Entschlufs, k\u00fcnftig eine solche Handlung zu vermeiden, so heilst der Zustand \u201eReue\u201c. \u201eSelbstachtung\u201c und \u201eSelbstverachtung\u201c f\u00fchlt das Individuum im Bewufstsein des ethischen Wertes seines eignen Charakters.\n440. Es er\u00fcbrigt noch eine kurze Erw\u00e4hnung der \u00e4ufserst komplizierten Zust\u00e4nde, der Gef\u00fchlsmassen, die sich nicht im Systeme anbringen lassen, weil Gef\u00fchle sehr verschiedener Art in denselben zusammenfliefsen. Hierher geh\u00f6ren die Zust\u00e4nde, die in der t\u00e4glichen Rede \u201eSympathie\u201c und \u201eAntipathie\u201c heifsen [320], Namen, deren ersterer wenigstens sehr unpassend ist, insofern der mit demselben bezeichnete Zustand gar keine sympathischen Gef\u00fchle zu enthalten braucht. Gewinnt jemand gleich beim ersten Zusammentreffen unsere Sympathie, so verschmelzen eine Reihe von Lustgef\u00fchlen \u00e4sthetischer und ethischer Natur zu einer Stimmung, die wir durch das Urteil kundgeben : der Betreffende \u201egef\u00e4llt\u201c mir. Zu eigentlich sympathischen Gef\u00fchlen im oben angegebenen Sinne war aber vielleicht gar kein Anlafs, und der ebenfalls h\u00e4ufig gebrauchte Name \u201eAnziehung\u201c w\u00e4re deshalb wohl entschieden vorzuziehen. Zur Antipathie, \u201eAbstofsung\u201c, tragen analoge Unlustgef\u00fchle bei. Tritt bei engerem Zusammenleben mit denjenigen, von welchen wir uns angezogen f\u00fchlen, Ergebenheit oder Z\u00e4rtlichkeit hinzu, vielleicht in Verbindung mit Bewunderung, so wird das Gef\u00fchl zur \u201eFreundschaft\u201c. In der \u201eLiebe\u201c fliefst gew\u00f6hnlich ein noch gr\u00f6fserer Komplex von Gef\u00fchlen zusammen, die in deren verschiedenen Formen indes sehr variieren k\u00f6nnen. \u201eMutterliebe\u201c und \u00fcberhaupt die \u201eLiebe der Eltern zu den Kindern\u201c ist wohl wesentlich Z\u00e4rtlichkeit, oft in Verbindung mit Freude \u00fcber und Stolz auf die\n23*","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356\nBeitrag zur Systematik der Gef\u00fchle.\nEntwickelung der Kinder. Die \u201eLiebe der Kinder zu den Eltern\u201c mag wohl als vorherrschende Momente Ergebenheit und Ehrfurcht enthalten. Die \u201eerotische Liebe\u201c enth\u00e4lt Gef\u00fchle jeglicher Art, aber nach den Stadien variierend, in welchen sich das Gef\u00fchl befindet, von der ersten \u201eVerliebtheit\u201c an, in welcher der Zweifel, ob unsere Gef\u00fchle vom \u201eGegenst\u00e4nde\u201c geteilt werden, vorherrschend ist, bis zum sicheren Besitz, in welchem die Freude \u00fcber den erreichten Erfolg und der Stolz, von \u201eder Einzigen\u201c geliebt zu werden, hervortreten. \u00dcbrigens ist der Zustand ein unaufl\u00f6slicher Komplex autopathischer und sympathischer, \u00e4sthetischer und ethischer Gef\u00fchle, und nirgends anders zeigen sich die M\u00e4ngel der Methode der Selbstbeobachtung so sehr als hier, denn unter allen kann bekanntlich der Verliebte am wenigsten \u00fcber seinen Zustand ins reine kommen. H\u00e4ufig wird deswegen das Individuum sich erst dann des Charakters seines Gef\u00fchls bewufst, wenn die Geliebte sich einem anderen zuwendet. Es entsteht dann \u201eEifersucht\u201c, \u201eJalousie\u201c, in welchem Gef\u00fchle die Furcht, die Geliebte zu verlieren, und Neid gegen denjenigen, welcher scheint den Besitz erreichen zu sollen, integrierende Glieder sind. \u2014 Das Gegenteil der Liebe ist der \u201eHafs\u201c, in welchem Groll mit Verachtung gepaart ist.\nPierer\u2019sche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel & Co. in Altenburg.","page":356},{"file":"z0004.txt","language":"de","ocr_de":".?\u25a0- -'-U\n!","page":0}],"identifier":"lit21786","issued":"1892","language":"de","title":"Die Hauptgesetze des menschlichen Gef\u00fchlslebens: Eine experimentelle und analytische Untersuchung \u00fcber die Natur und das Auftreten der Gef\u00fchlszust\u00e4nde nebst einem Beitrage zu deren Systematik","type":"Book"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:14:39.152944+00:00"}