Open Access
{"created":"2022-01-31T15:22:20.362517+00:00","id":"lit21868","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Stern, L. William","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 30: 422-432","fulltext":[{"file":"p0422.txt","language":"de","ocr_de":"422\nDer Tonvariator.\nVon\nL. William Stehn.\n(Mit 2 Fig.)\nDer \u201eTonvariator\u201c ist ein Apparat, der, aus ganz speciellen psychologischen Versuchsabsichten hervorgegangen, in seiner nunmehrigen vervollkommneten Form geeignet ist, als akustischer Demonstrations- und Experimentalapparat sehr verschiedenen Zwecken zu dienen.\nDer Apparat stellt vermittels angeblasener Flaschen eine \u201econtinuirliche Tonreihe\u201c dar, die (im Gegensatz zu den Stimmgabelreihen) in wirklicher Continuit\u00e4t durchlaufen werden kann ; d. h. man kann den Ton w\u00e4hrend des T\u00f6nens in beliebigem Tempo mit gleichm\u00e4fsiger Geschwindigkeit erh\u00f6hen oder vertiefen und kann in jedem Augenblick ablesen, bei welcher Schwingungszahl man sich befindet; hierbei sind kleinste Tondifferenzen, Einzelschwingungen und ev. auch Bruchtheile von Schwingungen ohne Schwierigkeit einzustellen und zu controliren. Ferner hat der Ton (ebenfalls im Gegensatz zu den Stimmgabeln), solange er \u00fcberhaupt t\u00f6nt, constante Intensit\u00e4t. Endlich erm\u00f6glicht der Apparat, zwei (oder mehrere) T\u00f6ne gleichzeitig zu erzeugen und den einen allm\u00e4hlich gegen den anderen zu verschieben.\nDer erste Anfang des Apparats liegt schon ziemlich weit zur\u00fcck; diese fr\u00fcheste Form ist im Jahre 1895 beschrieben worden.1\nSeitdem habe ich mit wenigen Unterbrechungen an seiner Vervollkommnung gearbeitet, zuerst mit Herrn Mechaniker\n1 Die Wahrnehmung von Tonver\u00e4nderungen. I. Mittheilung. Zeitsehr. f. Psychol. 11, S. 4.","page":422},{"file":"p0423.txt","language":"de","ocr_de":"Der Tonvariator.\n423\nFig. 1.\nTonvariator mit 4 Flaschen, deren jede 1 Octave Umfang hat.\n(Bei der zweiten ist der eigentliche Flaschenk\u00f6rper und das Ziffernblatt abgenommen, um die Construction sichtbar zu machen.)","page":423},{"file":"p0424.txt","language":"de","ocr_de":"424\nL. William Stern.\nOehmke in Berlin, in den letzten vier Jahren mit Herrn Mechaniker Tiessen in Breslau. Zwei Zwischenstadien sind ebenfalls bereits beschrieben worden1 ; sie m\u00fcssen nunmehr als veraltet gelten. \u2014\nDas Princip des Apparats besteht in K\u00fcrze darin, dafs eine Flasche von oben her gleichm\u00e4fsig angeblasen wird, indes der bewegliche Boden durch Kurbelung allm\u00e4hlich nach oben und unten bewegt werden kann.\nSendet man gegen die obere Oeffnung einer Flasche von einem Gebl\u00e4se her durch einen schmalen Spalt einen gleich-m\u00e4fsigen Luftstrom, so wird die in der Flasche enthaltene Luft bekanntlich in stehende Schwingungen versetzt, die einen sanften, aber nicht unkr\u00e4ftigen, beinahe obertonfreien Klang bewirken.2 3\nWird die Lufts\u00e4ule in der Flasche verkleinert, so werden die Wellen k\u00fcrzer, der Ton h\u00f6her, und umgekehrt. Man hatte bisher diese Thatsache benutzt, indem man durch Hineintr\u00e4ufeln von Wachs feste Flaschen abstimmte; aber hierdurch erh\u00e4lt man nur einen anderen, wiederum stabilen Ton. Dagegen werden beliebige Tonver\u00e4nderungen sofort m\u00f6glich, sobald man durch besondere Vorrichtungen die Lufts\u00e4ule in ihrer L\u00e4nge variabel macht.\nUm dies zu k\u00f6nnen, benutzte ich von Anfang an Flaschen von cylindrischer Form mit ebenem Boden. Bei den alten Apparaten war dieser Boden mit einer Fl\u00fcssigkeit (Wasser oder Quecksilber) bedeckt, welche von unten her durch Communication mit anderen Gef\u00e4fsen in ihrem Niveau gehoben und gesenkt werden konnte. An der Benutzung der Fl\u00fcssigkeit hielt ich aus bald zu erw\u00e4hnenden Gr\u00fcnden lange fest; dies f\u00fchrte zu endlosen Schwierigkeiten, da sie nicht nur die -Bedienung des Apparats sehr unbequem machte, sondern auch durch Undichtig-\n1 Das erste von ihnen, das sich schon bei verschiedenen Versuchen bew\u00e4hrt hat: Verhandlg. d. physik. Gesellsch. zu Berlin, 16. Jahrg. (4), S. 42. Zeitschr. f. Psychol. 21, S. 361. Psychol, der Ver\u00e4nderungsauffassung, S. 82.\n\u2014 Das andere : Verhandl. d. deutschen otolog. Gesellsch. z. Breslau 1901, S. 135.\n3 Die Benutzung angebla.sener Flaschen zu akustischen Versuchen finden wir zum ersten Mal bei Helmholtz erw\u00e4hnt (Lehre von den Tonempfind., 4. Aufl., S. 103). In neuerer Zeit hat namentlich das Berliner Institut von Stumpf angeblasene Flaschen in weitem Umfang verwerthet. Herrn Prof. Stumpf hatte ich auch seinerzeit die erste Anregung zu verdanken, mich f\u00fcr die Zwecke der allm\u00e4hlichen Tonver\u00e4nderung der Flaschen zu bedienen.","page":424},{"file":"p0425.txt","language":"de","ocr_de":"Der Tonvariator.\n425\nkeit und durch Verdunsten eine dauernde Correctheit der Einstellungen und Ablesungen vereitelte. Der entscheidende Fortschritt bestand daher in dem Uebergang zu einem beweglichen Boden aus festem Material, der dem Apparat ein g\u00e4nzlich anderes Gepr\u00e4ge gab.\nWie die Abbildungen zeigen, besteht nunmehr jede Flasche aus einem Messingcylinder C, dem eine aus Zinkgufs gedrehte, mit einem offenen Halse versehene Kappe K aufgel\u00f6tet ist; die Kappe hat den Zweck, dem schwachwandigen Cylinder einen festen Halt zu geben, so dafs die W\u00e4nde nicht mitschwingen k\u00f6nnen. Der Boden wird durch einen metallenen Kolben Kb gebildet, der sich vermittelst einer ge\u00f6lten Filzumh\u00fcllung F durchaus luftdicht dem Innern des Cylinders anschmiegt und leicht in ihm gleiten kann. Denken wir uns diesen Kolben an einem Gest\u00e4nge befestigt, welches durch Kurbe-lung bewegt wird, so ist es klar, dafs man Hebung und Senkung des Kolbens in beliebiger Langsamkeit und damit Tonh\u00f6he\u00e4nderungen von beliebiger Allm\u00e4hlichkeit und Feinheit zu erzeugen vermag.\nSo k\u00f6nnte denn der ganze Apparat recht einfach sein, wenn nicht die Flaschen eine sehr peinliche physikalische Eigenschaft h\u00e4tten: die Geschwindigkeit n\u00e4mlich, mit der sich der Ton in ihnen \u00e4ndert, ist eine ungleichf\u00f6rmige. Steht der Boden der Flasche tief, so dafs die t\u00f6nende Lufts\u00e4ule lang ist, so \u00e4ndert sich der Ton langsam ; steht der verschiebbare Boden sehr hoch und ist die Lufts\u00e4ule kurz, so \u00e4ndert sich der Ton aufserordentlich schnell.1 Bedeutet eine Hebung des Bodens um einen Millimeter\n1 Zahlreiche Messungen zeigten, dafs die Beziehung zwischen Schwingungszahl n und H\u00f6he der t\u00f6nenden Lufts\u00e4ule h auf die Formel gebracht\nwerden kann n \u2014 \\ 4- , wo c eine Constante ist, die f\u00fcr jede Flasche em-' h\npirisch bestimmt werden mufs; d. h. die Tonh\u00f6he ist umgekehrt proportional der Quadratwurzel aus der Luft h\u00f6he. Auf mathe-\nFig. 2.\nSchema der Construction des Tonvariators.","page":425},{"file":"p0426.txt","language":"de","ocr_de":"426\nL. William Stern.\nin den unteren Regionen einer Flasche etwa 1 Schwingung Tonerh\u00f6hung, so kann die gleiche Hebung in einer oberen Region derselben Flasche 20 Schwingungen bedeuten. W\u00fcrden wir also den Boden mittelst Gest\u00e4nges bewegen, so w\u00fcrde bei gleichm\u00e4fsiger Kurbelung die Tonerh\u00f6hung mit immer zunehmender Geschwindigkeit vor sich gehen, was eine ungeheure St\u00f6rung, ja f\u00fcr viele Probleme geradezu eine Zerst\u00f6rung der Versuche zur Folge haben w\u00fcrde.\nSo erhob sich die Aufgabe \u2014 es war die schwierigste, welche die Construction des Apparats \u00fcberhaupt stellte \u2014 die Ver\u00e4nderungsgeschwindigkeit der Tonh\u00f6he gleichm\u00e4fsig zu machen ; dies war nur dadurch zu erm\u00f6glichen, dafs die Aufw\u00e4rtsbewegung des Flaschenbodens mit stetig abnehmender Geschwindigkeit geschah, derart, dafs die Beschleunigung der Tonh\u00f6henzunahme dadurch gerade compensirt wurde. Es galt also, eine gleich-m\u00e4fsige Bewegung, z. B. eine Kurbelung, in eine ungleichf\u00f6rmige Bewegung von ganz bestimmter mathematischer Beschaffenheit zu verwandeln. Dies Problem war der Grund, dafs ich solange an Fl\u00fcssigkeit zur Bildung der unteren Abgrenzung festhielt, da deren Steigungsgeschwindigkeit durch die Form des communi-cirenden Gef\u00e4fses beeinflufst werden konnte.\nEndlich gelang es, dieser Aufgabe auch ohne Fl\u00fcssigkeit Herr zu werden; durch Benutzung einer \u201eSteigcurve\u201c wurde es m\u00f6glich, einem Boden aus festem Material die geforderte ungleichf\u00f6rmige Bewegung zu verleihen.\nDie Vorrichtung ist jetzt die folgende; an der Stange St, welche den verschiebbaren Kolben tr\u00e4gt, ist unten ein kleines R\u00f6llchen ll angebracht, das mit einer Rinne auf dem Rand einer senkrecht stehenden massiven Metallscheibe l\u00e4uft. Diese Scheibe hat die Gestalt einer Spirale, d. h. die Entfernung des Randes vom Drehpunkt nimmt stetig zu; in Folge dessen muis das auf ihm laufende R\u00f6llchen, welches den Kolben tr\u00e4gt, je nach der Drehungsrichtung der Scheibe steigen oder sinken; es mufs schnell sinken, wenn der Curvenrand steil ansteigt, langsam, wenn er m\u00e4fsig ansteigt \u2014 kurz, durch eine zweckm\u00e4fsig gew\u00e4hlte Form der Spirale l\u00e4fst sich jede gew\u00fcnschte Geschwindig-\nmathisehem Wege hatte Helmholtz eine gleiche Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit f\u00fcr die Luftschwingungen in \u201eR\u00f6hren mit offenen Enden\u201c festgestellt. (Crelle\u2019s Journal 57.)","page":426},{"file":"p0427.txt","language":"de","ocr_de":"Der Tonvariator.\n427\nkeits\u00e4nderung in der Hebung und Senkung des Kolbens bewerkstelligen. 1\nF\u00fcr unseren Zweck ist es klar, dafs die Spirale in ihrem Anfang (dort, wo sie die k\u00fcrzesten Radien hat) steil sein mufs, am Ende dagegen sehr flach. Denn der Anfang entspricht den tiefsten Stellungen des Kolbens, also der Gegend langsamster Ton\u00e4nderung ; diese mufs durch schnellere Bewegung compensirt werden; oben dagegen mufs der schnelleren Tonh\u00f6he\u00e4nderung die langsamere Bewegung entsprechen.\nBestimmt man nun f\u00fcr eine Reihe von Kolbenh\u00f6hen die Tonh\u00f6he empirisch und berechnet hieraus nach obiger Formel die Constante der Flasche, so ergiebt sich, dafs man f\u00fcr jede in der Flasche enthaltene Tonh\u00f6he die dazu geh\u00f6rige Kolbenstellung, d. h. den dazu geh\u00f6rigen Radius der Spirale berechnen kann.\nNehmen wir einmal an, eine Flasche beginne bei tiefster Stellung des Kolbens mit dem Tone von 600 Schwingungen und die Kolbenstange sei so lang gemacht, dafs sie in diesem Moment auf dem tiefsten Punkt der Spirale steht; dieser tiefste Punkt habe den Radius 5 mm. Jetzt sei bestimmt worden: bis zum Tone 610 mufs der Kolben um 4 mm steigen, bis zum Tone 620 um weitere 3 V\u00ab mm ; es geh\u00f6ren also zu diesen beiden T\u00f6nen die Radien 5 + 4 \u2014 9 mm und 5 + 4 + 3= 12 y2 mm. Wird nun die Spirale so angefertigt, dafs zwischen den Radien 5, 9 und 12 ya jedesmal gleiche Winkel liegen (z. B. je 5\u00b0), so bedeutet dies, dafs bei gleichm\u00e4fsiger Drehung der Spirale der Kolben in gleichen Zeitdifferenzen die drei Stellungen durchl\u00e4uft, d. h. mit derselben Geschwindigkeit von Ton 600 zu 610 wie von 610 zu 620 f\u00fchrt. Mit anderen Worten; die geschilderte Construction der Spirale bewirkt gleichm\u00e4fsige Geschwindigkeit der Tonh\u00f6hen\u00e4nderung.\nNun entspricht allerdings die mathematische Berechnung der Tonh\u00f6hen\u00e4nderung in der Flasche nicht genau der wirklichen; die Flaschen sind ja eben (in Folge der Kappenw\u00f6lbung und des Halsansatzes) keine reinen Cylinder. Die hierdurch gesetzten kleinen Abweichungen lassen sich aber auf empirischem Wege leicht constatiren und auf technischem (z. B. durch Feilen am Rande der Spirale) auf ein sehr geringes Maafs herabdr\u00fccken, sodafs im Grofsen und Ganzen das angestrebte Ziel \u2014 gleich-\n1 Hiermit scheint ein technisches Princip gegeben zu sein, das eine \u00fcber unseren speciellen Zweck gehende Anwendungsm\u00f6glichkeit besitzt ; es ist, ganz allgemein gefafst, eine Vorrichtung, durch wTelche eine beliebige geforderte ungleichf\u00f6rmige Geschwindigkeit vermittels einer gleichf\u00f6rmigen Drehungsgeschwindigkeit herbeigef\u00fchrt werden kann.","page":427},{"file":"p0428.txt","language":"de","ocr_de":"428\nL. William, Stern.\nm\u00e4fsige Geschwindigkeit der Tonver\u00e4nderung bei gleichm\u00e4fsiger Drehung der Scheibe \u2014 erreicht wird. \u2014\nDer Tonumfang der einzelnen Flasche betr\u00e4gt gew\u00f6hnlich eine Octave; nur bei ganz grofsen Flaschen ist es bisher noch nicht gelungen, diese Tonbreite zu gewinnen. Die Schwierigkeit bei der Herstellung eines grofsen Umfanges liegt haupts\u00e4chlich darin, dafs die Stellung des Anblaserohres A in gewissem Maafse abh\u00e4ngig ist von der L\u00e4nge der t\u00f6nenden Lufts\u00e4ule; ist diese sehr kurz, so mufs das R\u00f6hrchen, damit der Ton gut und laut und ohne Blaseger\u00e4usch anspreche, zum Hals der Flasche eine viel n\u00e4here Stellung haben als wenn die Lufts\u00e4ule sehr lang ist. Da nun das R\u00f6hrchen der einzelnen Flasche nicht beweglich sein darf, weil sonst alle Einstellungen illusorisch w\u00e4ren, so mufste durch Probiren f\u00fcr jede Flasche die optimale Stellung gefunden werden, d. h. diejenige, bei welcher die Flasche den gr\u00f6fsten Umfang klaren und lauten T\u00f6nens hat; diesem Zweck dienen die Charni\u00e8re, in denen die Anblaser\u00f6hrchen sitzen, die aber nach erfolgter Einstellung durch L\u00f6tung fixirt werden.\nIn \u00e4hnlicher Weise mufste durch Ausprobiren f\u00fcr jede Flasche die optimale Weite des Halses, W\u00f6lbung der Kappe und Form des Blasespalts ausfindig gemacht werden.\nDie obere und untere Grenze, an die man \u00fcberhaupt mit t\u00f6nenden Flaschen heranreichen kann, ist bisher noch nicht festgestellt; die Versuche dauern noch fort. F\u00fcr psychologische Zwecke sind ja diese Grenzen weniger wichtig als eine breite mittlere Sph\u00e4re; so kann man z. B. die Reihe von 100 Schwingungen (etwa G der grofsen Octave) bis 1600 Schwingungen (etwa ff) mit H\u00fclfe von vier Flaschen beherrschen. Sehr w\u00fcnschenswerth ist es allerdings, die Flaschen sich theilweise \u00fcberdecken zu lassen, damit zwei gleiche oder sehr nahe T\u00f6ne gleichzeitig erzeugt werden k\u00f6nnen; so enth\u00e4lt der in der Abbildung 1 dargestellte Apparat die vier Flaschen 300\u2014600, 400\u2014800, 500\u20141000, 600\u20141200; er wird demn\u00e4chst nach unten zu bis zu einer Tiefe von 100 Schwingungen, nach oben bis zu einer H\u00f6he von 1600 erg\u00e4nzt werden.\nSelbstverst\u00e4ndlich lassen sich je nach Wunsch innerhalb des \u00fcberhaupt von Flaschen beherrschbaren Gebietes durch Auswahl der Flaschenweiten die Octaven beliebig abgrenzen. \u2014\nDie Ablesung und Einstellung der Tonh\u00f6he. Auf derselben Axe, welche die spiralige Scheibe tr\u00e4gt, ist vor dieser","page":428},{"file":"p0429.txt","language":"de","ocr_de":"Der Tonvariator.\n429\neine kreisrunde Papierscheibe angebracht, der ein metallener Theilkreis aufgesetzt ist, und die bei der Drehung an einem festen von oben her \u00fcberragenden Zeiger vorbeistreift. Auf dieser Scheibe sind nun wie auf einem Zifferblatt die Schwingungszahlen und musikalischen Tonzeichen angebracht, und das Ganze ist so zur Spirale justirt, dafs in der Flasche immer der Ton erklingt, auf den der Zeiger zeigt.\nNehmen wir als Beispiel wieder die Flasche an, welche die Octave 600\u20141200, also 600 Schwingungen umfafst. Die Spiralscheibe sei so construirt, dafs sie, um den Kolben die noth-wendige Strecke emporzuheben, eine Rotation von 300\u00b0, also fast eine volle Umdrehung durchlaufen mufs. Es \u00e4ndert somit jeder Grad Winkeldrehung den Ton um zwei Schwingungen. Nun werden auf das Ziffernblatt von 5\u00b0 zu 5\u00b0 die Schwingungszahlen eingetragen: 600, 610, 620 u. s. w. ; die dazwischenliegenden Schwingungszahlen lassen sich dann mit H\u00fclfe der aufgetragenen Gradtheilung interpoliren. Man hat also hei dieser Flasche die F\u00e4higkeit, jede einzelne Schwingungszahl innerhalb der Octave am Ziffernblatt sofort einzustellen und abzulesen.\nIndes f\u00fcr viele psychologische Zwecke ist eine noch weit gr\u00f6fsere Genauigkeit erw\u00fcnscht; diese wird erreicht durch eine Uebertragung. Die Kurbel, vermittels derer die Steigscheibe gedreht wird, befindet sich n\u00e4mlich nicht direct an der Axe dieser Scheibe, sondern, wie Fig. 1 zeigt, seitlich. Sie ist an einer besonderen Axe befestigt, welche eine kleine (auf der Figur nicht sichtbare) gezahnte Walze tr\u00e4gt; diese greift in eine grofse, auf der Hauptaxe befindliche gezahnte Scheibe ein. Die Walze besteht, um Ger\u00e4usch zu vermeiden, aus Hartgummi. Die Uebertragung hat das Verh\u00e4ltnifs 1:8; es mufs also die Kurbel acht Drehungen machen, um eine Volldrehung der Hauptaxe zu bewirken. Nun tr\u00e4gt die Nebenaxe ebenfalls eine Gradtheilung, die sich an einem festen Zeiger vorbeibewegt; jede Gradverschiebung dieses Zifferblattes entspricht also einem achtel Grade des Hauptzifferblattes, die Feinheit der ablesbaren Abstufungen wird damit verachtfacht.\nEin Beispiel : Bei der Flasche 600\u20141200 bewirkte, wie wir oben sahen, eine Drehung der Hauptaxe um einen Grad eine Ver\u00e4nderung des Tones um zwei Schwingungen. Nehmen wir nun an, wir haben das Hauptzifferblatt auf den Ton 610 eingestellt. Drehen wir jetzt an der Kurbel, so dafs die daran befestigte seitliche Gradtheilung um 10 vorr\u00fcckt, so ist die Haupt-","page":429},{"file":"p0430.txt","language":"de","ocr_de":"430\nL. William Stern.\naxe um Vs0 weiter ger\u00fcckt, der Ton um 1/i Schwingungen erh\u00f6ht bezw. vertieft worden. Durch Verschiebung der Kurbel um je einen Grad w\u00fcrden also theoretisch innerhalb der Octave 600\u20141200 (etwa \u2014 d3) 2400 verschiedene Tonstufen, innerhalb des Halbtonintervalls e- \u2014 fa- 174 verschiedene Tonstufen erzeugbar und ablesbar sein.\nDiese Berechnung gilt allerdings nur f\u00fcr eine ideale technische Pr\u00e4cision, n\u00e4mlich nur dann, wenn der Spiralenrand ohne jegliche h\u00f6ckerige Unebenheit gleichm\u00e4fsig ansteigt, und wenn jede noch so kleine Bewegung der Kurbel schon vom Kolben mitgemacht wird, also kein toter Gang existirt. Der letztere Fehler ist durch bestimmte Belastung des Kolbens und besondere F\u00fchrung der Kolbenstange auf eine sehr geringe Gr\u00f6fse zu redu-ciren. Wie grofs die wirkliche technische Pr\u00e4cision und damit die thats\u00e4chlich erreichte Abstufbarkeit des Tones an den gegenw\u00e4rtig fertiggestellten Apparaten ist, vermochte ich nicht zu con-statiren, da die eben vollendeten Apparate sofort nach aufserhalb geliefert wurden.\nDiese aufserordentlich grofse Empfindlichkeit des Apparates hat nun allerdings auch die Folge, dafs seine absolute Stimmung auf die verschiedensten Einfl\u00fcsse reagirt. Hat man eine Flasche abgestimmt und die Schwingungszahlen ins Ziffernblatt eingetragen, so gelten diese nur f\u00fcr eine gewisse mittlere Temperatur, und vor allen Dingen f\u00fcr ganz bestimmte Verh\u00e4ltnisse der zugef\u00fchrten Luftmasse und des angewandten Luftdrucks. Selbst die ganz unberechenbare Individualit\u00e4t des Blasebalgs spricht mit, derart, dafs bei gleichem Manometerdruck und derselben Einstellung des Kolbens zwei verschiedene B\u00e4lge oft abweichende T\u00f6ne liefern. Es wird daher die absolute Abstimmung des Apparats, sofern es sich um Pr\u00e4cisionsmessungen handelt, am Besten an Ort und Stelle, wo er gebraucht wird, vorgenommen; auch mufs sie \u00f6fters controlirt werden. Um kleine Ver\u00e4nderungen zu corrigiren, ist der Kolben durch eine an der Stange angebrachte Schraubenvorrichtung nach oben und unten zu verstellen, ohne dafs Axe und Zeigerscheibe gedreht werden m\u00fcfsten.\nUebrigens ist die absolute Abstimmung ziemlich leicht, sobald man einige Stimmgabeln zur Verf\u00fcgung hat. W\u00e4hlen wir wieder Flasche 600\u20141200 als Beispiel, und nehmen wir an, dafs wir die Stimmgabel 600 besitzen. Diesen Ton legen wir zun\u00e4chst fest, indem wir die Flasche gleichzeitig mit der Gabel ert\u00f6nen lassen und die Kurbel solange drehen, bis die Schwebungen verschwinden. Eine solche Einstellung dauert '/* Minute;","page":430},{"file":"p0431.txt","language":"de","ocr_de":"Der Tonvariator.\n431\nder Ton wird ins Zifferblatt direct unterhalb des Zeigers eingetragen.1 Nun ist aber 600 auch in einer benachbarten Flasche enthalten (z. B. in Flasche 400\u2014800); wir stellen auch diese auf 600 ein und kurbeln an der ersten Flasche ein wenig, so dafs deutliche Schwebungen entstehen. Diese sind mittels einer F\u00fcnftelsecunden - Uhr leicht zu z\u00e4hlen; nach wenigen Einstellungen hat man denjenigen Ort gefunden, an welchem sich f\u00fcnf Schwebungen in der Secunde z\u00e4hlen lassen : wir haben also den Ton 605. Dieser wird ins Zifferblatt eingetragen, die zweite Flasche auf 605 gebracht, die erste wiederum um f\u00fcnf Schwebungen verschoben, d. i. 610 u. s. w.\nBei der Regulirung des Luftstromes am Blasebalg und der Regulirwindlade achte man darauf, dafs der Ton durchaus gleich-m\u00e4fsig ist und nicht, dem Rhythmus des Tretens entsprechend, kleine H\u00f6he- und St\u00e4rkeschwankungen zeigt. Ferner mufs der Ueberdruck stark genug sein, um die Einschaltung weiterer Flaschen zu erlauben, ohne dafs dabei der Luftdruck der ersten Flasche verringert und damit deren Tonh\u00f6he und St\u00e4rke variirt wird. Der Luftdruck ist an einem mitzuliefernden Manometer abzulesen.\nUebrigens hoffe ich in naher Zeit \u00fcber eine neue Blasevorrichtung berichten zu k\u00f6nnen, welche dem Blasebalg vorzuziehen sein wird. \u2014\nDie Anwendungsm\u00f6glichkeiten des Apparats.\nA. Zu Demonstrationszwecken. Der Tonvariator ist geeignet, zahlreiche Ph\u00e4nomene der physikalischen und psychologischen Akustik, deren Demonstration in Vorlesung, Unterricht und Uebungen erw\u00fcnscht erscheint, in bequemer und anschaulicher Weise vorzuf\u00fchren. Die einzelne Flasche erm\u00f6glicht Demonstration der Unterschiedsempfindlichkeit, da man beliebig kleine oder grofse Tonstufen in unmittelbarer Succession erzeugen kann. Benutzt man zwei Flaschen, so kann man alle Erscheinungen des Zusammenklingens dadurch besonders aufdringlich hersteilen, dafs man den einen Ton festh\u00e4lt, den anderen langsam verschiebt. Selbst Unge\u00fcbten werden auf diese Weise Schwebungen, Differenzt\u00f6ne, Verschmelzungsgrade, Consonanz und Dissonanz sofort klar.\n1 Zum Zweck dieser Eintragung ist dem Apparat ein kleines Lineal beigegeben, das vermittels einer Schraube an der Axe befestigt werden kann. (S. Abb. 1, Zifferblatt der kleinsten Flasche.)","page":431},{"file":"p0432.txt","language":"de","ocr_de":"432\nL. William Stern.\nB.\tZu Abstimmungszwecken. Will man die unbekannte Tonh\u00f6he irgend eines Instruments (z. B. einer Pfeife), bestimmen, so l\u00e4fst man es mit der entsprechenden Flasche des Tonvariators zusammen erklingen und dreht die Kurbel, bis die Schwebungen verschwinden; dann zeigt das Zifferblatt die gesuchte Tonh\u00f6he an.1\nC.\tZu psychologischen Forschungszwecken. Die beiden Haupteigenschaften des Apparats \u2014 beliebige Herstellbar-keit und beliebig feine Variabilit\u00e4t von T\u00f6nen und Tonverbindungen \u2014 erm\u00f6glichen seine Anwendung bei dem gr\u00f6fsten Theil derjenigen Untersuchungen, die sich auf Unterschieds- und Ver\u00e4nderungsempfindlichkeit, Tonged\u00e4chtnifs, Differenzt\u00f6ne, Verschmelzungsgrade, Klangverwandtschaft, Intervallsch\u00e4tzung u. s. w. beziehen.'2 3 * * \u2014\nDer Apparat wird in zwei Formen angefertigt, einer Pr\u00e4ci-sionsform f\u00fcr wissenschaftlich-theoretische Zwecke und einer einfacheren. Der Hauptunterschied wird darin liegen, dafs der einfachen Form die Zahnrad\u00fcbertragung und damit die Einsteilbarkeit der kleinsten und feinsten Differenzen fehlen wird. Es greift also die Kurbel direct an der Hauptachse an. Diese Form soll bestimmt sein f\u00fcr Demonstrationszwecke, nicht nur in der Psychologie, sondern auch in der Physik und Physiologie, ferner f\u00fcr practische Untersuchungen des Ohrenarztes (Feststellung von Toninseln und L\u00fccken, Untersuchungen .der Geh\u00f6rreste bei Taubstummen u. s. w.).8\n1\tOb auf diese Weise der Tonvariator vielleicht f\u00fcr den Instrumentenbau nutzbar zu machen ist, mufs der Zukunft \u00fcberlassen bleiben.\n2\tAufserdem sei noch darauf hingewiesen, dafs der Tonvariator in gewisser Beziehung vielleicht auch als \u201eZeitsinn\u201c-Apparat dienen kann. Da er n\u00e4mlich Schwrebungen zu erzeugen und zu variiren vermag, so haben wir in ihm das Mittel, Successionsgescliwindigkeiten von Beizen in beliebiger Weise abzustufen.\n3\tN\u00e4here Auskunft \u00fcber den Apparat ertheilt der Verfertiger, Herr\nMechaniker F. Tiessen, Breslau, Schmiedebr\u00fccke 30.\n(Eingegangen am 28. October 1902.)","page":432}],"identifier":"lit21868","issued":"1902","language":"de","pages":"422-432","startpages":"422","title":"Der Tonvariator","type":"Journal Article","volume":"30"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:22:20.362522+00:00"}