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{"created":"2022-01-31T13:28:52.884114+00:00","id":"lit29424","links":{},"metadata":{"alternative":"Archiv f\u00fcr Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin","contributors":[{"name":"Weber, Ernst Heinrich","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Archiv f\u00fcr Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin: 152-159","fulltext":[{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152\nlieber den Tastsinn. Von Ernst Heinrich TVeber, Prof, der Anatomie in Leipzig.\n-Meine Schrift: De pulsu, resorptione, auditu et tactu anno-tationes anatomicae et physiologicae. Lipsiae apud K\u00f6hler. 1834. 4., besteht aus 23 zu einem fortlaufenden Texte zusammengearbeiteten Programmen. Ausser den Abhandlungen, die den Puls, den Nutzen der elastischen Haut der Arterien, die Verschiedenheit, welche zwischen dem Einsaugungsverm\u00f6gen der Lymphgef\u00e4sse und der Blutgef\u00e4sse Statt hndet, ltnd das Geh\u00f6r betreffen, ist darin eine Untersuchung \u00fcber den Tastsinn enthalten, die mich mehrere Jahre hindurch besch\u00e4ftigt hat.\nDie Lehre von den Sinnen ist ein Punkt, in welchem einmal in Zukunft die Forschungen der Physiologen, der Psychologen und der Physiker zusammenstossen m\u00fcssen. Denn es ist vorauszusehen, dass wenn man die Naturkr\u00e4fte geh\u00f6rig definirt und die Gesetze, nach welchen sie wirken, aufgefunden haben wird, es ein sehr dringendes Bed\u00fcrfnis? werden wird einzusehen, wie nun die in der Natur Statt findenden Bewegungen auf unsere Sinnorgane einwirken und die Vorstellungen von den Erscheinungen in der Welt in uns erzeugen.\nDer Tastsinn eignet sich aber ganz vorz\u00fcglich dazu, um durch eine Reihe von Versuchen auszumitteln, auf welche Weise wir zu den Vorstellungen gelangen, die wir ihm verdanken. Denn das Organ desselben hat eine so grosse Ausdehnung auf der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers, und die Versuche sind so unsch\u00e4dlich, dass man viele Experimente machen kann, welche sich an anderen Sinnorganen nicht anstellen lassen. Hehreres was man auf diese Weise beim Tastsinn findet, l\u00e4sst sich mit einiger Wahrscheinlichkeit auf andere Sinne anwenden.\nZu dieser Untersuchung gab mir folgende Beobachtung den ersten Anstoss : Wenn man einen Menschen auf dem R\u00fccken an zwei Stellen zugleich ber\u00fchrt, z. B. mit den bei-","page":152},{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"153\nden abgerundeten Spitzen der von einander entfernten Schenkel eines Cirkels, so scheinen ihm die Spitzen, auch wenn sie 1 bis 1^ Zoll von einander abstehen, sehr nahe an einander zu liegen. An manchen Stellen der Haut scheinen beide so weit von einander abstehende Cirkelspitzen sogar nur die Empfindung einer einzigen Ber\u00fchrung hervorzubringen, z. B. an der Mitte des Oberschenkels oder des Oberarms, wenn der Cirkel so gehalten wird, dass eine Linie, durch die man sich beide Spitzen verbunden denken kann, nach der L\u00e4nge des Schenkels oder des Arms liegt. Dieses ist nicht nur an solchen Stellen der Haut der Fall, die man nicht sehen kann, sondern auch an solchen, die wir recht gut besehen k\u00f6nnen und wo wir uns also eine Kenntniss \u00fcber die Lage aller Punkte durch das Auge verschafft haben, wenn wir nur w\u00e4hrend wir ber\u00fchrt werden nicht hinsehen. Ich fand nun, dass je nervenreicher und daher sch\u00e4rfer f\u00fchlend ein Theil der Haut ist, man desto deutlicher und richtiger die Entfernung der beiden ber\u00fchrten Stellen wahrnimmt. Je weniger dagegen die Zahl und Gr\u00f6sse der Nerven ist, die ein Theil der Haut besitzt, desto kleiner scheint der Zwischenraum zwischen ihnen, desto mehr scheinen beide Eindr\u00fccke in einen Punkt zusammen zu fliessen. Aber sogar dann, wenn wirklich beide Eindr\u00fccke in einen Punkt zusammenzufliessen anfangen und als ein einziger Eindruck wahrgenommen werden, nimmt man, wenn das Zusammenfliessen noch nicht vollst\u00e4ndig ist, noch eine Verschiedenheit wahr, aus welcher man allenfalls die Lage der Cirkelspitzen gegen den K\u00f6rper vermuthen kann: der Punkt erscheint uns n\u00e4mlich, wenn beide Eindr\u00fccke nicht v\u00f6llig zusammenfliessen, l\u00e4nglich, so dass sein l\u00e4ngerer Durchmesser die Richtung der Linie hat, durch die man sich beide Cirkelspitzen verbunden denken kann. Dadurch nun, dass man einen Menschen, ohne dass er es sieht, mit den abgerundeten Spitzen eines Cirkels gleichzeitig ber\u00fchrt und den Abstand der Cirkelspitzen so lange \u00e4ndert, bis er beide Ber\u00fchrungen als eine einzige empfindet und nicht mehr zu bestimmen im Stande ist, ob die Linie durch die man sich die Cirkelspitzen verbunden denken kann, in der Richtung der L\u00e4nge oder der Quere des Gliedes sich befinde, mit welchem der Cirkel in Ber\u00fchrung gebracht wird, hat man ein Mittel, durch Versuche zu finden, wie fein der Tastsinn an verschiedenen Stellen des K\u00f6rpers ist und ob die n\u00e4mlichen Verh\u00e4ltnisse der Feinheit des Tastsinnes auch bei verschiedenen Menschen Statt finden. Ich habe eine Masse solcher Versuche bei mir und Anderen gemacht und gefunden, dass ich die Eindr\u00fccke als zwei zu unterscheiden anfange bei folgendem Abstande der Cirkelspitzen:","page":153},{"file":"p0154.txt","language":"de","ocr_de":"154\nan der Zungenspitze......................Lei ^-Lin. Par.\n\u2014\tden Fingerspitzen....................\u2014\t1\t\u2014\t\u2014\n\u2014\tdem rothen Theile der Lippen ...\t\u2014\t2\t\u2014\t\u2014\n\u2014\u201c der Hohihandseite des 2ten Fingergliedes\t\u2014\t2\t\u2014\t\u2014\n\u2014\tder R\u00fcckenseite des 3ten Fingergliedes\t\u2014\t3\t\u2014\t\u2014\n\u2014\tdem Ballen der Finger................\u2014\t3\t\u2014\t\u2014\n\u2014\tder Nasenspitze....................... \u2014\t3\t\u2014\t\u2014\n\u2014\tdem R\u00fccken der Zunge ......\t\u2014\t4\t\u2014\t\u2014\n\u2014\tdem nicht rotlien Theile der Lippen .\t\u2014\t4\t\u2014\t\u2014\n\u2014\tder Spitze der grossen Zehen ....\t\u2014\t5\t\u2014\t\u2014\n\u2014\tden Backen..........................\u2014\t5\t\u2014\t\u2014\n\u2014\tdem R\u00fccken des 2ten Gliedes der Finger\t\u2014\t5\t\u2014\t\u2014\n\u2014\tder Mitte der Hohlhand ......\t\u2014\t5\t\u2014\t\u2014\n\u2014\tdem harten Gaumen ..................\u2014\t6\t\u2014\t\u2014\n\u2014\tden Jochbeinen......................\u2014\t7\t\u2014\t\u2014\n\u2014\tdem R\u00fccken der Kn\u00f6chel an der Hand\t\u2014\t8\t\u2014\t\u2014\n\u2014\tder innern Oberfl\u00e4che der Lippen . .\t\u2014\t9\t\u2014\t'\u2014\n\u2014\tder Stirn . . \u25a0.....................\u2014\t10\t\u2014\t\u2014\n\u2014\tdem behaarten Hinterhaupte ....\t\u2014\t12\t\u2014\t\u2014\n\u2014\tdem R\u00fccken der Hand ......\t\u2014\t14\t\u2014\t\u2014\n\u2014\tdem Halse unter dem Kinn............\u2014\t15\t\u2014\t\u2014\n\u2014\tden Kniescheiben und in ihrer N\u00e4he .\t\u2014\t16\t\u2014\t\u2014\n\u2014\tdem Kreuzbein.......................\u2014\t18\t\u2014\t\u2014\n\u2014\tdem Brustbein .\t...................-\u2018\u201418 \u2014 \u2014\n\u2014\tden Lendenwirbeln...................\u2014\t24\t\u2014\t\u2014\n\u2014\tder Mitte des Oberarms..............\u2014\t30\t\u2014\t\u2014\n\u2014\tder Mitte des Oberschenkels .... \u2014*30 \u2014 \u2014\nIch glaube diese hier aus mehreren ausgehobenen Bestimmungen reichen hin um einen Begriff zu geben, wie sehr verschieden die Feinheit des Tastsinnes an verschiedenen Stellen des K\u00f6rpers ist. Diese Messungen sind neuerlich in England wiederholt und die Resultate im Wesentlichen \u00fcbereinkommend gefunden worden *). Wenn man jene angegebenen Entfernungen der Cirkelspitzen durch Linien bildlich ausdr\u00fcckt, welche dem Abstande beider Spitzen von einander gleichkommen, so erh\u00e4lt man die anschauliche Uebersicht \u00dcber die Feinheit des Tastsinnes, die ich S. 58 gegeben habe.\nOeffnet man den Cirkel ly Zoll weit und ber\u00fchrt, damit das Gesicht nahe vor dem Ohre so, dass beide Cirkelspitzen in einer senkrechten Linie liegen, und bewegt dann den Cirkel in steter Ber\u00fchrung mit der Haut, aber ohne dieselbe zu verletzen, bis zu den Lippen und von da bis zum andern Ohre, so scheinen sie anfangs, weil die Haut nahe dem Ohre\nAccount of some new experiments on the sensibility of the skin by Dr. Weber by Allen Thomson. Edinburgh m\u00e9d, and surg. Journal No. 116.","page":154},{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"155\nf\u00fchlloser ist, eng an einander zu liegen, je mehr sie sich aber der feinf\u00fchlenden Unter- und Oberlippe n\u00e4hern, desto mehr scheinen sie sich von einander zu entfernen\u2019, und auf gleiche Weise scheinen sie sich wieder, w\u00e4hrend sie auf der andern Seite des Gesichts nach dem Ohre hin bewegt werden, einander n\u00e4her zu kommen. Man glaubt w\u00e4hrend der Bewegung des Cirkels sogar die Gestalt der krummen Linie, in der sich jeder Schenkel des Cirkels zu bewe-\nfen scheint, wahrzunehmen. Um diese Erscheinung zu er-l\u00e4ren nehme ich an, dass wir ein dunkles Bewusstseyn von der Existenz aller f\u00fchlenden Punkte in der Haut durch oftmaliges Tasten erworben haben. 'Wenn zwischen zwei ber\u00fchrten Stellen viel f\u00fchlende Punkte liegen, so scheint uns der Zwischenraum gr\u00f6sser, liegen aber weniger dazwischen, so scheint er uns kleiner. Es kommt hierbei also auf die Zahl der Nervenenden in einem bestimmten Raume an. Eine f\u00fcr die Anatomie und Physiologie nicht uninteressante Bemerkung ist die, dass an solchen Stellen, wo die Nerven, wie an den Armen und Beinen, der L\u00e4nge nach laufen, die Cirkelspitzen deutlicher und leichter zwei zu unterscheidende Eindr\u00fccke machen, wenn man die Glieder so ber\u00fchrt, dass eine die Cirkelspitzen verbindende Linie am Gliede quer liegt, als wenn sie der L\u00e4nge nach liegt.\nAehnliche Untersuchungen \u00fcber die Feinheit des Tastsinnes wie diese, habe ich nun auch \u00fcber die Wahrnehmung und Vergleichung des Drucks zweier Gewichte, und der Temperatur zweier mit unserer Haut in Ber\u00fchrung kommenden K\u00f6rper gemacht, und habe mich \u00fcberzeugt, dass man an den n\u00e4mlichen Theilen, wo man den Abstand jener Cirkelspitzen am genauesten wahrnimmt, auch den Druck der Gewichte und den Unterschied der Temperatur der uns ber\u00fchrenden K\u00f6rper am feinsten empfindet.\nWas zuerst den Druck der Gewichte betrifft, so hat man zur Wahrnehmung desselben zwei ganz verschiedene Organe, die Haut, die ihn verm\u00f6ge ihres Tastsinnes empfinden l\u00e4sst und die Muskeln, in welchen wir verm\u00f6ge des Gemeingef\u00fchls die Anstrengung wahrnehmen, welche wir anwenden m\u00fcssen um einen AViderstand zu \u00fcberwinden. Um zu bestimmen, ob wir der Haut oder den Muskeln mehr das feine Unterscheidungsverm\u00f6gen der Gewichte verdanken, ex-perimentirte ich unter Umst\u00e4nden, wo die Hand, auf welche ich Gewichte stellen liess, v\u00f6llig durch ein Kissen auf welchem sie ruhte unterst\u00fctzt war. Unter diesen Verh\u00e4ltnissen, wo die Muskeln unth\u00e4tig waren, war das Unterscheidungsverm\u00f6gen viel geringer, als wenn man auch das Gemeingef\u00fchl der Muskeln zu H\u00fclfe nahm, indem man die Gewichte mit der Hand in die H\u00f6he hob.","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"156\nInteressant ist es, dass dasselbe Gewicht, wenn es auf eine weniger fein empfindende Stelle der Haut dr\u00fcckt, die Empfindung von einem geringem Drucke verursacht, und dass zwei in gewissem Grade ungleiche Gewichte di\u00ab Empfindung eines gleich grossen Drucks verursachen k\u00f6nnen, wenn das gr\u00f6ssere auf eine weniger fein f\u00fchlende, das kleinere auf eine feiner f\u00fchlende Stelle der Haut dr\u00fcckt. Wenn man sich z. B. horizontal hinlegt und ein Anderer ein Gewicht auf die Hohlhandseite der letzten Fingerglieder und ein gleich grosses auf die Stirn legt, so scheint uns das auf den Fingerspitzen liegende gr\u00f6sser, denn die Fingerspitzen sind mit einem feinem Gef\u00fchle versehen, und das auf der Stirn liegende Gewicht muss um -j oder um -\u00ff gr\u00f6sser seyn, damit es die Empfindung eines gleich grossen Druckes her-vorrufe. Es scheint hierbei darauf nichts anzukommen, ob zuf\u00e4lliger Weise ein in der Haut der Stirn liegender Nerv gedr\u00fcckt wird oder nicht, und man muss daher wohl annehmen , dass nur die Nervenenden, nicht die St\u00e4mme, den Druck zum Bewusstseyn zu bringen verm\u00f6gen.\nUnter den g\u00fcnstigsten Umst\u00e4nden nimmt man eine zwischen zwei Gewichten Statt findende Gewichtsverschiedenheit noch dann wahr, wenn der Unterschied auch nur oder jj des einen Gewichts betr\u00e4gt, d. h. wenn das eine Gewicht 15, das andere 14 Unzen oder Lothe oder Quentchen schwer ist, denn es kommt hierbei nicht auf die absolute, sondern auf die relative Gr\u00f6sse des Gewichtsunterschiedes an. Diese letztere Bemerkung verdient die Aufmerksamkeit des Psychologen und Physiologen, denn sie gilt auch von anderen Sinnen. Ich habe in meiner Schrift gezeigt, dass man allenfalls noch einen Unterschied wahrnimmt zwischen zwei Linien, von denen die eine 100, die andere 101 Millimeter lang ist, wo denn der Unterschied = der L\u00e4nge der constanten Linie ist, dass uns aber die Linien gleich lang zu seyn scheinen, wenn die Verschiedenheit der L\u00e4nge noch geringer ist, z. B. wenn die eine Linie 100, die andere 100 -f- 4 Millimeter lang ist. Unter diesen Umst\u00e4nden nimmt man \u2022i Millimeter, um welches die eine Linie l\u00e4nger ist, nicht wahr. Aber unter anderen Verh\u00e4ltnissen nimmt man den Unterschied von Millimeter sehr deutlich wahr, z. B. wenn die eine Linie 4, die andere 4\u00ff Millimeter lang ist. Es erhellet hieraus, dass wir auch bei Linien ebenso, wie bei Gewichten bei der Vergleichung nicht den absoluten Unterschied, sondern den relativen wahrnehmen, ein Factum, welches sich auch beim Geh\u00f6r best\u00e4tigt und aus welchem man mehrere Schl\u00fcsse machen kann, wie wir es anfangen, um zwei Gr\u00f6ssen mittelst unserer Sinne zu vergleichen.\nAndere Untersuchungen beziehen sich auf die Wahr-","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"nehmung der Temperatur durch den Tastsinn. Diese 'Wahrnehmung geht sehr ins Feine. Da nun die n\u00e4mlichen Theile des Tastorgans, mittelst deren wir den Druck der aufgelegten Gewichte am genauesten empfinden und die ber\u00fchrenden Cirkelspitzen bei dem kleinsten Abstande von einander unterscheiden, auch f\u00fcr die feinste Unterscheidung der Temperaturverschiedenheiten am geeignetesten sind, so kann man wohl nicht daran zweifeln, dass alle diese Empfindungen in dem n\u00e4mlichen Sinnorgane und in den n\u00e4mlichen Nerven ihren Sitz haben. Ich habe die Feinheit dieses Verm\u00f6gens durch Versuche bestimmt und Experimente auch dar\u00fcber angestellt, bei welchem Grade der W\u00e4rme sich die objective Empfindung der Temperatur in eine subjective des W\u00e4rmeschmerzes verwandle und dabei gefunden, dass es nicht bloss auf den hohen Grad der W\u00e4rme ankomme, damit das Gef\u00fchl des Verbrennens entstehe, sondern auch auf die Zeit, w\u00e4hrend welcher die W\u00e4rmemittheilung Statt findet und auf die Gr\u00f6sse der Oberfl\u00e4che, welche mit dem uns W\u00e4rme mitlheilenden K\u00f6rper in Ber\u00fchruug kommt.. Ueber-haupt verdient es bemerkt zu werden, dass wenn wir einen Finger der einen Hand in ein Gef\u00e4ss mit warmem Wasser und gleichzeitig die ganze andere Hand in ein Gef\u00e4ss mit VVasser, das ein wenig k\u00fchler ist, tauchen, dieses letztere uns w\u00e4rmer zu seyn scheint. Die Eindr\u00fccke, welche die W\u00e4rme auf die vielen Punkte der grossem Oberfl\u00e4che der ganzen Hand macht, summiren sich n\u00e4mlich und bringen einen einzigen heftigem Eindruck hervor. Wegen dieses Zu-sammenfliessens der Empfindungen gleichzeitiger Eindr\u00fccke k\u00f6nnen wir auch ungleichzeitige, schnell aut einander folgende Eindr\u00fccke besser unter einander vergleichen, als gleichzeitige. Man unterscheidet die Gewichtsunterschiede genauer, wenn man erst das eine Gewicht und dann nach Wegnahme desselben das andere auf die Hand legt, als wenn man gleichzeitig die Gewichte auf beide H\u00e4nde oder auf die eine Hand setzt. Ebenso unterscheidet man die Temperaturunterschiede der mit unserer Haut in Ber\u00fchrung kommenden Materien genauer, wenn erst die eine und schnell darauf die andere untersucht wird, als wenn beide gleichzeitig empfunden werden, und dadurch, dass man sich bem\u00fchet seine Aufmerksamkeit erst nur auf die eine und dann auf die andere Materie zu richten, verh\u00fctet man es nicht ganz, dass nicht die Eindr\u00fccke doch einigermaassen zusammenfliessen, und dass dadurch die Vergleichung gest\u00f6rt wird, wenn die Temperatur zweier Materien zu gleicher Zeit wahrgenommen wird.\nAllerdings ist es \u00fcberraschend, dass man einen noch fortdauernden Eindruck besser mit einem so eben yergange-","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nnen Eindr\u00fccke solle vergleichen k\u00f6nnen, als zwei gegenw\u00e4rtige Eindr\u00fccke unter einander, auf die man abwechselnd seine Aufmerksamkeit richten kann. Denn im ersten Falle ist man gen\u00f6thigt, einen noch fortdauernden Eindruck mit einer Phantasievorstellung, mit einem durch die Erinnerung wiederholten Eindr\u00fccke zu vergleichen, was sehr schwierig zu seyn scheint; und doch verh\u00e4lt es sich wirklich so. Am vollkommensten ist die Vergleichung, wenn der eine Eindruck so eben vor\u00fcber ist und der zweite Eindruck sogleich auf den ersten folgt. Vergeht ein in Betracht kommender Zeitraum Zwischen der Wahrnehmung des ersten und des zweiten Eindrucks, so wird die genaue Vergleichung erschwert und zwar desto mehr, je mehr Zeit vergeht, ehe der zweite Eindruck dem ersten folgt. Man kann durch Experimente finden, wie die Deutlichkeit der Vorstellung des Eindrucks abnimmt, w\u00e4hrend 3, 4, 5, 6, 8, 10, 20 und mehr Secunden vergehen, z. B. wenn man Jemanden, der in der Unterscheidung der Gewichte ge\u00fcbt ist, erst 15 Unzen auf die Hand legt und 3, 4, 6, 8, 10, 20 und mehr Secunden, nachdem dieses Gewicht wieder weggenommen worden, 14 Unzen auf die n\u00e4mliche Stelle der Hand legt, damit er sage, welches Gewicht das schwerere sey. Man findet auf diese Weise den Zeitraum, in welchem die Vorstellung von dem gehabten Eindr\u00fccke so undeutlich wird, dass keine genaue Vergleichung mehr m\u00f6glich ist. Dasselbe kann man mit mehreren gleich schwarzen und gleich dicken Linien ausf\u00fch-reil, von welchen man Jemanden erst die eine und dann, nachdem eine k\u00fcrzere oder l\u00e4ngere Zeit vergangen, die andere vorh\u00e4lt und ihn bestimmen l\u00e4sst, ob die Linien gleich oder ungleich lang w\u00e4ren. Es lassen sich auf diese Weise wirklich Messungen \u00fcber die Abnahme der St\u00e4rke der Vorstellungen gehabter Eindr\u00fccke machen.\nVergleicht man den Gesichtssinn, den Geh\u00f6rsinn und den Tastsinn unter einander, so findet man, dass wer ein gutes Augenmaass hat, zwei ihm vorgehaltene Linien als verschieden lang erkennt, welche nur um den hundertsten Theil ihrer L\u00e4nge von einander verschieden sind, dass wer ein gutes Geh\u00f6r hat, noch zwei nach einander hervorgebrachte T\u00f6ne als verschieden hoch unterscheidet., wenn sie auch nur um den zweihundertsten Theil der Schwingung von einander unterschieden sind. Mit diesen beiden Sinnen verglichen ist freilich der Tastsinn-ziemlich unvollkommen, denn mit dem Tastsinne unterscheidet man zwei K\u00f6rper, die uns nach einander auf die n\u00e4mliche Stelle der Hand gesetzt worden, nicht mehr als verschieden schwer, wenn sie weniger von einander verschieden sind, als um A ihres Gewichts. Es mag diese geringere Feinheit des Tastsinnes von der gerin-","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"159\ngern Zahl der Nervenf\u00e4den abh\u00e4ngen, die sich auf einer gleich grossen Fl\u00e4che der Haut, der Nervenhaut des Auges und der Nervenausbreitung im Labyrinthe des Ohrs endigen. Die Nervenhaut des Auges besteht fast aus reiner Neyvensub-stanz, in der Haut dagegen ist bei weitem der gr\u00f6ssere Theil der Materie eine vom Nervenmarke verschiedene. An dev Fingerspitze, wo der Tastsinn vorz\u00fcglich fein und die Nerven vorz\u00fcglich zahlreich sind, fliessen zwei gleichzeitige Eindr\u00fccke schon zusammen und verursachen eine einzige Empfindung, wenn die ber\u00fchrten Stellen um ^ Linie von einander abstehen. In Smiths Optik dagegen findet man die Beobachtungen und Berechnungen, aus welchen hervorgeht, dass im Auge zwei gleichzeitige Eindr\u00fccke erst dann zusam-menfliessen und eine einzige Empfindung verursachen, wenn sie auf Theile der Nervenhaut geschehen, die nur um 5L0 Pariser Linie von einander abstehen. Es verh\u00e4lt sich aber \u2022j Linie zu 7J6 Linie wie 1:150, d. h. die beiden Eindr\u00fccke k\u00f6nnen im' Auge 150mal einander n\u00e4her gemacht werden, als auf der Haut der Fingerspitze, ohne zu einer einzigen Empfindung zusammenzufliessen. Man darf daher vermuthen, dass die Enden der Nerven 150 Mal dichter in der Nervenhaut, als in der Haut liegen und dass folglich auf einer kleinen quadratf\u00f6rmigen Stelle der Nervenhaut des Auges 150 Mal mehr Nervenenden vorhanden sind, als auf einem eben so grossen Theile der Haut der Fingerspitze *).\nBemerkung \u00fcber die Unabh\u00e4ngigkeit der Flimmer-bewegungen der Wirbelthiere von der Integrit\u00e4t des centralen Nervensystems. Von Prof. Dr. Purkinje und Dr. Valentin in Breslau.\nIn unserer Schrift: de phaenomeno generali motus vibra-torii continui p. 77., haben wir gezeigt, dass die heftigsten auf das gesammte Nervensystem einwirkenden Stoffe, wie Blaus\u00e4ure, Strychnin, Morphium etc., local applicirt durchaus keine Wirkung auf die Flnnmerbewegungen \u00e4ussern. Wiewohl nun viele andere von uns wahrgenommene Erscheinun-\n*') Ich bemerke hierbei, dass in meiner Schrift Seite 171 Zeile 21 statt der Zahlen 1 : 2100 zu lesen sey 1 :150.","page":159}],"identifier":"lit29424","issued":"1835","language":"de","pages":"152-159","startpages":"152","title":"Ueber den Tastsinn","type":"Journal Article"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:28:52.884119+00:00"}