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{"created":"2022-01-31T13:39:39.675794+00:00","id":"lit29437","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, W.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 10: 1-124","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus.\nVon\nW. Wundt.\nI. Allgemeine Vorbemerkungen \u00fcber den Causalbegriff der Naturwissenschaft.\nTn den beachtenswerthen Er\u00f6rterungen \u00fcber den \u00bbBegriff des Wirkens\u00ab, die Sigwart in seiner Methodenlehre gegeben und in der j\u00fcngst erschienenen zweiten Auflage derselben mit manchen Erweiterungen versehen hat, wird zweifellos mit Recht bemerkt, dass das so genannte Causalprincip vieldeutig sei1). Aber es ist, wie mich d\u00fcnkt, eine eigenth\u00fcmliche Art der Vieldeutigkeit, die uns in diesem wie in manchem anderen Fall wissenschaftlicher Begriffsbildung begegnet. Das Causalprincip ist nicht etwa in dem Sinne vieldeutig, in dem der Mathematiker von vieldeutigen Functionen redet: es ist nicht ein formell feststehender Begriff, der auf verschiedene reale Werthe anwendbar ist, sondern seine Vieldeutigkeit besteht umgekehrt darin, dass der n\u00e4mliche Zusammenhang von Thatsachen zu Begriffsbildungen abweichender Art Veranlassung geben kann. Eine solche Vieldeutigkeit setzt voraus, dass die zur Gewinnung der Begriffe erforderliche Abstractionsth\u00e4tigkeit in verschiedener Weise ausge\u00fcbt wird, dass man also hier Merkmale in den Vordergrund stellt, die dort als entbehrlich gelten, oder dass die Gesichtspunkte, welche die Abstraction lejten, wesentlich abweichen. Nat\u00fcrlich ist eine derartige Divergenz der Entwickelungen\n1) Sigwart, Logik. Bd. II. 2. Aufl. Freiburg i. Bd. 1893. S. 134.\nWundt, Philos. Studien. X.\t1","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nW. Wundt.\n\u00fcberhaupt nur m\u00f6glich, weil die Bildung der Begriffe innerhalb der durch die Erfahrung gezogenen Grenzen schliesslich eine Sache der Willk\u00fcr bleibt. M\u00f6gen darum zwei Begriffe, die durch ein abweichendes Abstractionsverfahren aus einem und demselben That-bestande gewonnen sind, im Kampf der Meinungen noch so hart auf einander sto\u00dfen, Niemand w\u00fcrde doch berechtigt sein, den einen wahr und den andern falsch zu nennen. Vielmehr wird man auf Grund der sorgf\u00e4ltigsten Kritik immer nur sagen k\u00f6nnen, dass der eine zweckm\u00e4\u00dfiger gebildet sei als der andere. Das einzige Kriterium der Zweckm\u00e4\u00dfigkeit besteht aber darin, dass die Begriffe den wissenschaftlichen Anwendungen, die von ihnen auf der erreichten Stufe methodischer Bearbeitung der Probleme gemacht werden, m\u00f6glichst vollst\u00e4ndig und allseitig entsprechen. Dabei liegt es jedoch in der Natur dieses Kriteriums, dass man \u00fcber seinen Inhalt verschiedener Meinung sein kann, und dass auf den Versuch dasselbe festzustellen die Momente, die der Abstractionsth\u00e4tig-keit von vornherein verschiedene Richtungen geben, stets ihre Wirkungen aus\u00fcben.\nWenn nun die gr\u00fcndliche und sorgf\u00e4ltige Untersuchung, der Si g wart in seiner Methodenlehre das Causalproblem unterwirft, zu Ergebnissen gelangt, die von denen wesentlich abweichen, die ich theils in den hierher geh\u00f6rigen Er\u00f6rterungen meiner Logik, theils in der k\u00fcrzeren, aber in einigen Beziehungen zugleich vollst\u00e4ndigeren Darstellung des \u00bbSystems der Philosophie\u00ab gewonnen habe1), so m\u00f6chte ich in erster Linie betonen, dass, wie ich meine, auch hier nicht von einem wahr oder falsch in absolutem Sinne die Rede sein kann. Zugleich aber scheint es mir, dass sich in diesem Fall die Divergenz der Ansichten mit innerer Consequenz aus den zwei oben erw\u00e4hnten Bedingungen, aus der abweichenden Beschaffenheit der leitenden Gesichtspunkte und aus der abweichenden Bevorzugung gewisser Elemente der Begriffe, ergibt, wobei \u00fcberdies die erste dieser Bedingungen auf die zweite einwirken musste.\nSigwart geht von dem richtigen Gedanken aus, dass der urspr\u00fcnglichen Auffassung stets Dinge als wirkende Ursachen\n1) Logik, II. 2. Aufl. S. 583 ff. System der Philosophie. S. 292 ff.","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 3\ngelten, und sein Bem\u00fchen ist darauf gerichtet, diesem urspr\u00fcnglichen Causalbegriff alles unterzuordnen, was eine sp\u00e4tere Reflexion auf das gleiche Yerh\u00e4ltniss von Ursache und Wirkung zur\u00fcckf\u00fchrt. Die fortschreitende Anpassung jenes urspr\u00fcnglichen Begriffs an die Forderungen der wissenschaftlichen Erfahrung hat aber, wie Si g wart hervorhebt, allm\u00e4hlich dazu gef\u00fchrt, den Begriff der Ursache namentlich insofern \u00fcber seine anf\u00e4ngliche Bedeutung hinauszuf\u00fchren, als in erster Linie nicht mehr die Dinge, sondern die wechselnden Relationen derselben als Gr\u00fcnde des Geschehens gedacht werden. In Folge dieser Erweiterung wird nun nicht das Ding, das eine einzelne Wirkung hervorbringt, sondern die Summe der Bedingungen, auf die jene Wirkung zur\u00fcckgef\u00fchrt werden kannp\u00e4krUrsache angesehen. Eine derartige Erweiterung, durch die sich der urspr\u00fcnglich einheitliche Begriff der Ursache in eine unendliche Summe von Theilursachen aufzul\u00f6sen droht, fordert jedoch wieder eine Reduction, die in einer Trennung der eigentlichen Ursache von den die Wirkung derselben erm\u00f6glichenden Bedingungen bestehen muss. Im Sinne des urspr\u00fcnglichen Causalbegriffs und zugleich in m\u00f6glichstem Anschl\u00fcsse an die vielgestaltigen Anwendungen im gew\u00f6hnlichen Leben wie in der Wissenschaft soll nun diese Trennung der Begriffe Ursache und Bedingung nach Sigwart\u2019s Meinung so ausgef\u00fchrt werden, dass man fortan die Dinge, die sich als Tr\u00e4ger bestimmter unver\u00e4nderlicher Wirkungen darbieten, als Ursachen, die ver\u00e4nderlichen Relationen dieser Dinge aber, durch welche jene wahren Ursachen zur Wirkung gelangen und bestimmte Effecte hervorbringen, als hinzutretende Bedingungen bezeichnet. In diesem Sinne w\u00fcrde also z. B. der Fall eines in die H\u00f6he geworfenen K\u00f6rpers durch die Schwerkraft der Erde verursacht, das Empor werfen in eine bestimmte H\u00f6he aber w\u00fcrde die n\u00e4chste Bedingung sein, unter welcher diese Ursache zur Wirkung gelangt.\n' Indem ich hiermit den Grundgedanken Sigwart\u2019s richtig vvje-derzugeben glaube, muss ich \u00fcbrigens darauf verzichten, den scharfsinnigen Ausf\u00fchrungen zu folgen, in denen dieser Forscher den so von ihm fixirten Begriff der Ursache auf die einzelnen Specialf\u00e4lle des Causalproblems anwendet. Bleibt doch der entscheidende Punkt, von dem alles \u00fcbrige abh\u00e4ngt, eben die in der angedeuteten Weise\n1*","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nW. Wundt.\nversuchte Trennung der Begriffe Ursache und Bedingung. Dass eine solche Trennung erforderlich, dass eine Aufl\u00f6sung\u201dles Causal-hegriffs in die Totalsumme der Bedingungen eines Ph\u00e4nomens, wie sie noch Mill vorgeschlagen hatte, undurchf\u00fchrbar ist, weil sie die Anwendung dieses Begriffs \u00fcberhaupt unm\u00f6glich machen w\u00fcrde, ist jetzt wohl allgemein anerkannt. Dies vorausgesetzt wird man aber zugestehen, dass es nur zwei Wege gibt, auf denen sich eine Trennung von Ursache und Bedingung vornehmen l\u00e4sst: entweder man nimmt den Begriff der Ursache vollst\u00e4ndig in die dauernden Objecte her\u00fcber, an deren Relationen alle Wirkungen gebunden sind, um diese Relationen ihrerseits als die Bedingungen zu betrachten, unter denen jene Ursachen wirken, \u2014 das ist der Weg, den Sigwart einschl\u00e4gt. Oder man fasst umgekehrt die Objecte mit den ihnen innewohnenden permanenten Kr\u00e4ften als die Bedingungen auf, unter denen alle Causalit\u00e4t steht, und betrachtet nun als einzelne Ursache die jedesmalige ver\u00e4nderte Relation dieser Objecte, durch die eine einzelne Wirkung zu Stande kommt, \u2014 das ist der Weg, den, wie ich glaube, thats\u00e4chlich die neuere Naturwissenschaft eingeschlagen hat, und den ich um deswillen f\u00fcr den zweckm\u00e4\u00dfigeren halte, weil mir die logischen Motive, die dabei eingewirkt haben, von entscheidendem Werthe zu sein scheinen.\nIn der That ist Sigwart zu seinem Versuch einer Wiederherstellung der urspr\u00fcnglichen Gestalt des Causalbegriffs zun\u00e4chst nicht sowohl durch eine Untersuchung der Entwicklung, die der Begriff wirklich in der Wissenschaft zur\u00fccklegte, und der logischen Motive, die diese Entwicklung bestimmt haben, als vielmehr durch eine psychologische Reconstruction seiner Entstehung und seiner allm\u00e4hlichen Erweiterungen gelangt. Naturgem\u00e4\u00df ist aber eine solche Reconstruction bem\u00fcht, alle sp\u00e4teren Entwicklungen an diesen Anfang anzukn\u00fcpfen, und sie sucht so der Aufgabe gerecht zu werden, alle Entwicklungsstufen unter eine unver\u00e4ndert bleibende Vorstellungsform zu bringen. Ich will damit nicht sagen, dass in der Darstellung Sigwart\u2019s die von der Wissenschaft erhobenen logischen Forderungen'unber\u00fccksichtigt geblieben seien. Aber es scheint mir doch, dass sie sich im Ganzen genommen der psychologischen Entwicklung des Begriffs unterordnen. Diese psycho-","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Caiisalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 5\nlogische Grundtendenz d\u00fcrfte sich namentlich darin verrathen, dass ein Motiv fast gar nicht zum Ausdruck kommt, das thats\u00e4chlich \u00fcberall hei der Entwicklung der Begriffe eine hervorragende Rolle spielt, das aber allerdings wesentlich nur ein logisches und kein psychologisches ist, daher es den popul\u00e4ren Begriff der Ursache noch heute ziemlich unber\u00fchrt l\u00e4sst, w\u00e4hrend es dessen wissenschaftliche Gestaltung von Grund aus ver\u00e4ndert hat. Dieses Motiv, dem auch anderw\u00e4rts eine \u00fcberaus wichtige Rolle zukommt, besteht in der Entdeckung, dass Begriffe, die bis dahin in einer bestimmten Bedeutung g\u00fcltig gewesen sind, einer fundamentalen Reform bed\u00fcrfen, um fernerhin wissenschaftlich brauchbar zu sein. Solche Entdeckungen, die sich theils aus Widerspr\u00fcchen, auf die man bei der Durchf\u00fchrung der Begriffe gef\u00fchrt wird, theils aus ihrer Unzul\u00e4nglichkeit gegen\u00fcber neu sich darbietenden Erfahrungen ergeben, liegen au\u00dferhalb ihrer psychologischen Entwicklungsgeschichte, und die vulg\u00e4re Anwendung l\u00e4sst sich daher auch nur langsam in dem nun einmal gewohnten Gebrauch irre machen, oder, wenn sie es thut, liebt sie es die neue Anwendung einfach der alten hinzuzuf\u00fcgen. Eine ausschlie\u00dflich von logischen Motiven geleitete Betrachtung wird dagegen alle die Merkmale zu beseitigen suchen, die sich im Laufe der fortgesetzten Correctur der Begriffe als unhaltbar oder als unwesentlich herausgestellt haben. Dass daneben die psychologische Betrachtung der Begriffsentwicklung einen hohen Werth auch f\u00fcr die logische Untersuchung beh\u00e4lt, ist damit nicht ausgeschlossen. Kann sie doch schon um deswillen forderlich sein, weil sie unrichtigen oder unzul\u00e4nglichen Theorien, die angeblich selbst auf psychologischem Boden stehen, am wirksamsten diesen Boden entzieht. So ist es gewiss eine zutreffende Bemerkung Sigwart\u2019s, dass die Causal-theorie Hume\u2019s, wonach Causalit\u00e4t schlechthin nur regelm\u00e4\u00dfige Succession zweier Erscheinungen sei, schon den psychologischen Thatbestand, der der Bildung des Causalbegriffs zu Grunde liegt, unzureichend wiedergebe, da die beiden Erscheinungen, die wir causal verkn\u00fcpfen, immer zugleich die Bestandtheile eines einheitlichen Vorganges bilden m\u00fcssen1).\n1) Sigwart, a. a. O. S. 140ff.","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nW. Wundt.\nWohl wei\u00df ich, dass die Behauptung, die logische und die psychologische Entwicklungsgeschichte eines Begriffs seien zwei verschiedene Dinge, trotz der Warnung Kant\u2019s noch immer keiner allseitigen Zustimmung sicher ist. Niemals ist vielleicht so sehr wie heute die Neigung verbreitet gewesen, einerseits logische Reflexionen umzusetzen in psychologische Vorg\u00e4nge, und anderseits hinwiederum aus psychologischen Entwicklungen logische Erkennt-nissprocesse zu construiren. Aber so gewiss es ist, dass alle unsere logischen Denkacte in psychologischen Processen ihre Grundlage haben, und dass die letzteren fortan auf jene heriiberwirken, und so nahe daher im einzelnen Fall die Grenzen des Psychologischen und des Logischen an einander sto\u00dfen m\u00f6gen, so gibt es doch, wie ich meine, zwei Gesichtspunkte, die hier \u00fcberall entscheidend sind: erstens geh\u00f6rt alles, was Ergebniss planm\u00e4\u00dfiger Reflexion ist, nicht mehr der psychologischen Vorstellungsbildung, sondern der logischen, d. h. zum Behuf zusammenh\u00e4ngender Erkenntnisszwecke, geschehenden Beth\u00e4tigung des Denkens an; und zweitens sind die entscheidenden Fortschritte der wissenschaftlichen Erkenntniss, wie sie die Geschichte der Wissenschaft aufzeigt, \u00fcberall aus solchen logischen Motiven hervorgegangen. Wo das erstere Merkmal einen Zweifel l\u00e4sst, da wird man an dem zweiten, geschichtlichen im allgemeinen einen zuverl\u00e4ssigen F\u00fchrer haben. Als die eigentliche Aufgabe der Erkenntnistheorie wird es daher unter diesem Gesichtspunkte angesehen werden k\u00f6nnen, die Bildung der Begriffe nach den logischen Motiven, die bei ihrer thats\u00e4chlichen Entwickelung innerhalb der Wissenschaft stattgefunden haben, nach Elimination aller Irrungen und Umwege, zur Darstellung zu bringen.\nGesteht man dieser Maxime eine Berechtigung zu, so kann es sich bei der logischen Feststellung des Causalbegriffs nicht darum handeln, einen Begriff zu finden, der alle geschichtlichen und sogar vorgeschichtlichen Stufen, die der Begriff der Ursache durchgemacht hat, gleichm\u00e4\u00dfig deckt; sondern es wird genau das, was die allm\u00e4hliche Entwickelung aus dem urspr\u00fcnglichen Begriff eliminirt hat, auch logisch definitiv aus ihm zu eliminiren sein, es sei denn, dass sich herausstellen sollte, diese ganze Entwickelung, wie sie sich von den Tagen Galilei\u2019s an bis auf unsere Zeit vollzogen, h\u00e4tte sich als ein Irrweg erwiesen.","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 7\nVergleicht man nun die auf diese Weise durch die logischen Motive der Naturerkenntniss erzeugte Form des Causalbegriffs mit der urspr\u00fcnglichen, auf psychologischem Wege entstandenen, so ist f\u00fcr jene wie f\u00fcr diese zun\u00e4chst das Streben nach klarer Sonderung dessen, was als Ursache zu denken sei, von allen sonstigen, wenn \u00c0 auch noch so wesentlichen begleitenden Bestandtheilen des Gedankens wirksam. Die Ursache soll ein fest abgegrenzter Vor-stellungs- oder Begriffsinhalt sein. Darum wird sie in beiden F\u00e4llen den Bedingungen als dem weiteren Begriff gegen\u00fcbergestellt, der alle die f\u00fcr den Eintritt einer causal zu interpretiren-den Erscheinung ma\u00dfgebenden Thatsachen enth\u00e4lt. Von hier an trennen sich aber die Wege. Die psychologische Auffassung bedarf zur festen Abgrenzung gegebener Erscheinungen von einander der DingvorStellung. Ihr bleibt daher fortan die Ursache eine Sache, Der Fortschritt, der auf diesem Standpunkte m\u00f6glich ist, besteht allenfalls darin, dass der Ursachebegriff von dem bewegten oder ver\u00e4nderten Ding auf ein anderes hin\u00fcberwandert, dem eine bewegende oder ver\u00e4ndernde Kraft beigelegt wird: alles aber, was au\u00dferhalb der so in Wechselwirkung gedachten Dinge liegt, das r\u00e4umliche und zeitliche Verh\u00e4ltniss, in dem sie seihst zu einander stehen, sowie die Wirkungen anderer Dinge, die ihre Causalit\u00e4t in ihrer besonderen Wirkungsweise bestimmen, r\u00fcckt in die Reihe der entfernteren Bedingungen zur\u00fcck, welche, insofern in ihnen wiederum Dinge als Tr\u00e4ger von Wirkungen Vorkommen, weitere Causalbegriffe veranlassen k\u00f6nnen. Es liegt in ihrer Natur, dass diese Betrachtungsweise fortan eine qualitative bleibt, und dass daher f\u00fcr sie ein Kriterium f\u00fcr die richtige Aussonderung der Ursache aus der Reihe, der Bedingungen immer nur einerseits in der dinglichen Natur der Ursache, anderseits in ihrer im allgemeinen regelm\u00e4\u00dfigen Beziehung zur Wirkung bestehen kann. Dabei wird aber diese Regelm\u00e4\u00dfigkeit, abgesehen von der Unbestimmtheit, in der sie verm\u00f6ge des blo\u00df qualitativen Charakters der Betrachtung verbleibt, wesentlich dadurch beeintr\u00e4chtigt, dass der thats\u00e4chliche Eintritt der Wirkung nicht von der Ursache selbst, sondern von den begleitenden Bedingungen abh\u00e4ngt, so dass, wenn die Wirkung irgend eine Ver\u00e4nderung ist, die eine causale Interpretation heraus fordert, diese letztere weniger durch die Angabe der","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nW. Wundt.\nUrsache als durch die der Bedingungen zu Stande kommt, welche das Wirksamwerden der Ursache erm\u00f6glicht haben.\nDieser eigenth\u00fcmliche Widerspruch, in den sich der streng festgehaltene dingliche Causalbegriff mit dem logischen Erkl\u00e4rungs-bed\u00fcrfniss des Geschehens verwickelt, ist wohl der tiefere Grund gewesen, aus dem in den exacten Wissenschaften die Sonderung der Ursache von den Bedingungen genau in entgegengesetztem Sinne ausgefiihrt wurde. Da alle Ver\u00e4nderungen aus andern Ver\u00e4nderungen hervorgehen, so konnte hier als Ursache eines bestimmten Geschehens nur diejenige Ver\u00e4nderung in der gegebenen Relation der Objecte stehen bleiben, die das zu erkl\u00e4rende Geschehen herbeifuhrt. Die Objecte selbst mit ihren unver\u00e4nderlichen Kr\u00e4ften aber wandelten sich dann unvermeidlich in die Bedingungen um, unter denen der als Ursache aufgefasste Vorgang seine Wirkung aus\u00fcbt. Hatte die psychologische Betrachtung im allgemeinen die Ursachen als constante Dinge und die Bedingungen als ver\u00e4nderliche Relationen angesehen, so wurden also umgekehrt der naturwissenschaftlichen die ver\u00e4nderlichen Relationen oder Ver\u00e4nderungen die Ursachen und die beharrenden Objecte die Bedingungen des Geschehens. Doch ist dieser vorherrschende Gesichtspunkt nicht in absolutem Sinne zu nehmen. Denn einerseits finden sich auf dem psychologischen Standpunkt immer mannigfache Accommodationen an die wissenschaftliche Bedeutung des Causalbegrifls durch die Annahme von Zwischenformen zwischen einer rein dinglichen und einer in dem Geschehen selbst th\u00e4tigen Causalit\u00e4t. Anderseits f\u00fchrt die exacte Formulirung der causalen Relationen zu einer Mitber\u00fccksichtigung der f\u00fcr dieselben unmittelbar ma\u00dfgebenden constanten und an gewisse dingliche Substrate gebundenen Factoren. Dies ist insbesondere der wesentliche Unterschied, der die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise von jener rein erkenntnisstheoretischen trennt, die ebenfalls die dingliche Form des Causalbegrifls beseitigt, um in der regelm\u00e4\u00dfigen oder nothwendigen Aufeinanderfolge bestimmter Ereignisse das Substrat aller Causalit\u00e4t zu erblicken. Diese letztere Gestaltung des Causalbegrifls ist dann geneigt zwischen einer zu engen und einer zu weiten Fassung der Begriffe zu schwanken, wo jene dem Anspruch an eine logisch zureichende Verkn\u00fcpfung von Ursache und Effect nicht gen\u00fcgt, diese aber die Causalit\u00e4t durch","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 9\nAusdehnung \u00fcber die unendliche Summe der Bedingungen zu einem praktisch unbrauchbaren Princip macht.\nVon diesen Schwankungen der Begriffsbestimmung hat sich nun die in den exacten Wissenschaften ausgebildete Form des Begriffs dadurch frei zu halten gewusst, dass sie die in der gew\u00f6hnlichen psychologischen oder logischen Behandlung alleinherrschende qualitative Betrachtung durch ein quantitatives Kriterium erg\u00e4nzte. Man pflegt diesem Kriterium den einfachen Ausdruck zu geben: \u00bbCausa aequat effectum\u00ab. Es ist gewiss nicht zutreffend, wenn man in diesem Satze ein a priori g\u00fcltiges Naturgesetz erblickt, wie dies Robert Mayer gethan hat, der aus ihm das Princip der Erhaltung der Energie ableiten wollte. Der Satz \u00bbCausa aequat effectum\u00ab ist vielmehr die Maxime, nach welcher \u00fcberall bei der mechanisch-* physikalischen Betrachtung der ErscheinungeT\u00fctaug Jer Summe der f\u00fcr ein bestimmtes Geschehen vorhandenen, schlie\u00dflich ..ins unbegrenzte zur\u00fccklaufenden Bedingungen diejenigen aqsgew\u00e4hlt werden, die in dem engeren Begriff^sac^e zugflsaamfinzufassen sind. Mit andern Worten: das einzig^ichere^und,-darum auch das-ein\u00fcig zul\u00e4ssige Kriterium zur Entscheidung \u2022.d'eri.Frag\u00dfi ..yvelclig\u00bb. unter der Gesammtheit der Bed\u00fcsungen; eines -Ph\u00e4momens als <|essenf Ursachen zu betrachten seien, liegt in der Aufstellung einer Caus\u00e0l-gleichung. Indem diese auf ihrer einen Seite den Effect quantitativ bestimmt, enth\u00e4lt sie auf ihrer anderen Seite diejenigen bedingenden Elemente, zugleich in der f\u00fcr sie g\u00fcltigen gesetzm\u00e4\u00dfigen Relation, welche zur Erzeugung des Effectes vollst\u00e4ndig ausreichen, so dass zur qualitativen wie quantitativen Ableitung jener Wirkung auf andere Bedingungen nicht zur\u00fcckgegangen zu werden braucht. Damit ist nat\u00fcrlich nicht gesagt, dass die Frage nach weiter zur\u00fcckliegenden Ursachen \u00fcberhaupt nicht entstehen k\u00f6nne. Aber diese werden im allgemeinen stets entweder abermals in Causalgleichungen, auf welche die n\u00e4mliche Interpretation anwendbar ist, ihren Ausdruck finden, oder man wird schlie\u00dflich bei letzten Causalbeziehungen stehen bleiben, d. h. bei gewissen Fundamentalgesetzen, die nicht weiter abgeleitet werden k\u00f6nnen. In der Regel ist freilich eine Zur\u00fcckverfolgung bis zu dieser Grenze nicht ausf\u00fchrbar, sondern es bleibt bei gewissen thats\u00e4chlichen Ausgangspunkten, die blo\u00df deshalb nicht zu \u00fcberschreiten sind,","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nW. Wundt.\nweil die vorausgegangene Contellation der Bedingungen unbekannt ist.\nSobald man nun die Berechtigung einer ausschlie\u00dflich den logischen, nicht den psychologischen Motiven nachgehenden Bildung des Begriffs zugibt, so scheint es mir in der That kaum m\u00f6glich, \u00fcberhaupt ein anderes Kriterium f\u00fcr die Auswahl der \u00bbCausa\u00ab aus der Summe der Bedingungen zu finden, als eben dieses, das von der Wissenschaft wirklich gew\u00e4hlt wird, und das allein einer vollkommen pr\u00e4cisen, niemals zweifelhaften oder irref\u00fchrenden Feststellung f\u00e4hig ist. Dies vorausgesetzt muss dann aber als eine un-abweisliche Forderung anerkannt werden, dass auch in solchen F\u00e4llen, wo die Aufstellung exacter Causalgleichungen unausf\u00fchrbar ist \u2014 und sie bilden ja, selbst wenn man von den sp\u00e4ter besonders zu behandelnden Thatsachen der geistigen Causalit\u00e4t absieht, die gro\u00dfe Mehrheit \u2014 immerhin die Unterscheidung zwischen Ursache und Bedingungen nicht in einem v\u00f6llig abweichenden Sinne,, sondern mindestens in der n\u00e4mlichen Richtung auszuf\u00fchren sei. Dazu kommt, dass auch diese logische Entwicklung bei n\u00e4herer Betrachtung keineswegs au\u00dferhalb der bereits von der psychologischen Entwicklung eingeschlagenen Bahnen liegt. So sehr sich n\u00e4mlich in Folge der oben angedeuteten psychologischen Bedingungen die Vorstellung fixirt hat, dass die Ursache ein Gegenstand sei, von welchem Wirkungen ausgehen, so verbindet sich doch damit nicht minder die andere, dass die Th\u00e4tigkeit des wirkenden Dings durch irgend eine mit ihm selbst oder mit dem Object, auf das die Wirkung geht, vorgegangene und darum seine Wirksamkeit als Ursache erst vermittelnde Ver\u00e4nderung veranlasst worden sei. So ist der sto\u00dfende K\u00f6rper Ursache der von ihm bewirkten Bewegung nur, insofern er selbst in Bewegung begriffen; so die Erde Ursache des Falls eines in die H\u00f6he geschleuderten K\u00f6rpers nur, insofern der letztere durch diese an ihm vorgenommene Ver\u00e4nderung der bewegenden Wirkung der Erde ausgesetzt ist. Psychologisch betrachtet stellt sich daher das Verh\u00e4ltniss so dar, dass von den beiden in den urspr\u00fcnglichen Grundlagen der Causalvorstellung gelegenen Bestandtheilen, dem wirkenden Ding und dem die Wirkung des Dings vermittelnden Vorgang, die eine Auffassung den ersten, die andere den zweiten herausgreift, um auf diesem Wege die Trennung der Ursache von","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 11\ndem weiteren Umkreis der Bedingungen zu Stande zu bringen. Im ersten Fall kann man sich dann darauf berufen, dass die constant en Bedingungen des causalen Geschehens die wirkenden Dinge und nicht deren ver\u00e4nderliche Relationen seien; im zweiten Fall aber darauf, dass jedes causale Geschehen irgend eine vorausgehende Ver\u00e4nderung als seinen Grund voraussetze, und dass daher schon psychologisch der Begriff der Ursache ohne den der Ver\u00e4nderung nicht existiren w\u00fcrde, weshalb man denn auch diesen als den wesentlichen ansehen m\u00fcsse. \"Wird nun der aus diesen sich erg\u00e4nzenden psychologischen Bestimmungen erwachsene Streit mit logischer Einseitigkeit, ohne R\u00fccksicht auf die in der wissenschaftlichen Anwendung hinzugekommenen weiteren Kriterien, durchgef\u00fchrt, so entstehen dann aus diesen einseitigen Betrachtungsweisen zwei gleich undurchf\u00fchrbare Begriffsbildungen. Die eine derselben substantialisirt vollst\u00e4ndig die Ursache und schreibt ihr daher eine fortwirkende latente Th\u00e4tigkeit auch da zu, wo von einer durch sie bewirkten Ver\u00e4nderung gar nicht die Rede ist; die andere verlegt mit Hume die Ursache nur in die ver\u00e4nderte Relation der Dinge und vernachl\u00e4ssigt daher die in den Dingen selbst gelegenen permanenten Bedingungen, die doch dem Wirken der Ursachen erst den Charakter der Constanz oder Nothwendigkeit verleihen, so dass die zuf\u00e4llige Folge der Erscheinungen als einziges Kriterium \u00fcbrig bleibt.\nDer in den exacten Wissenschaften zur Entwicklung gelangte Causalbegriff geht zwischen diesen beiden aus einseitigen Ab-stractionen entsprungenen Auffassungen mitten hindurch. Jede Causalgleichung enth\u00e4lt n\u00e4mlich zun\u00e4chst allerdings die Beziehung zweier einander folgender und quantitativ identisch gesetzter Naturvorg\u00e4nge : insofern ist also die zweite der obigen Betrachtungsweisen hier die vorherrschende. Aber in die Factoren, welche die beiden Glieder des Causalverh\u00e4ltnisses zusammensetzen, gehen regelm\u00e4\u00dfig auch Gr\u00f6\u00dfen von substantieller Bedeutung ein, \u2014 nur freilich wird ihnen niemals an und f\u00fcr sich, sondern immer nur in ihrer Verbindung mit irgend einem zeitlichen Vorgang causale Wirksamkeit zugeschrieben.\nDie heststellungen der Mechanik und mechanischen Physik","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nW. Wundt.\nsind \u00fcberreich an Causalgleichungen, die diese Merkmale aufzeigen1). Im allgemeinen sind n\u00e4mlich die Gleichungen, welche in die mathematischen Entwicklungen dieser Disciplinen eingehen, von doppelter Art: die einen sind Definitionsgleichungen, die andern Causalgleichungen. So ist z. B. der Ausdruck V = \u2014 f\u00fcr das\nPotential zweier in der Entfernung r von einander befindlichen Massen m und ni eine Definitionsgleichung: die rechte Seite derselben analysirt lediglich den auf der linken stehenden Begriff V. Ebenso ist der Ausdruck s \u2014 c \u25a0 t f\u00fcr die hei gleichf\u00f6rmiger Geschwindigkeit c von einem K\u00f6rper in der Zeit t zur\u00fcckgelegte Raumstrecke s eine Definitionsgleichung. Denn die beiden Seiten der Gleichung enthalten auch hier Gr\u00f6\u00dfen, die nicht verschiedene Ph\u00e4nomene, sondern ein und dasselbe Ph\u00e4nomen^ nur in verschiedener Form ausdr\u00fccken, indem die linke Seite den Raum als Ganzes gemessen enth\u00e4lt, den die rechte Seite in deu w\u00e4hrend der Zeiteinheit zur\u00fcckgelegten Raum c, welcher als Ges hwindigkeit definirt wird, und in die Anzahl t der zum Durchlaufen des ganzen Raumes s erforderlichen Zeiteinheiten zerlegt. Auf diese Weise ist es das Wesen aller physikalischen Definitionsgleichungen, dass sie die n\u00e4mliche physische Thatsache in zwei verschiedenen Formen zum Ausdruck bringen, wobei theils das Bed\u00fcrfniss zusammengesetzte Gr\u00f6\u00dfen zu analysiren, theils das andere f\u00fcr bestimmte complexe Begriffe einfache Ausdr\u00fccke anzuwenden zur Aufstellung solcher Gleichungen f\u00fchrt.\n1) Ich darf wohl hier darauf hinweisen, dass ich schon in meiner ersten Arbeit \u00fcber das Causalproblem {Die physikalischen Axiome und ihre Beziehung zum Causalprincip. Erlangen 1866. S. 103 ff.) von den Causalgleichungen der Mechanik ausgegangen hin, um die Kriterien festzustellen, nach denen der engere Begriff der Ursache von dem weiteren der Bedingungen zu scheiden sei. In sp\u00e4teren Darstellungen ist der Gedankengang der n\u00e4mliche, doch sind die spe-ciellen Beispiele, deren ich mich in jener ersten bedient hatte, hinweggeblieben. Es mag sein, dass dieser Umstand die Veranlassung gewesen ist, dass man da und dort in der kritischen Besprechung dieser sp\u00e4teren Ausf\u00fchrungen auf die wesentlichen Unterschiede meines Standpunktes von demjenigen Hume\u2019s und Kant\u2019s nicht besonders aufmerksam geworden ist. Selbst Edm. Koenig hat in seinem vortrefflichen Buch \u00fcber die Geschichte des Causalproblems diesen Punkt, wie mir scheint, nicht zureichend beachtet. (Edm. Koenig, Die Entwickelung des Causalproblems in der Philosophie seit Kant. Bd. II. Leipzig 1890. S. 408 ff.)","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parall\u00e9lismes.\t13\nIm Unterschiede von den Definitionsgleichungen setzen nun die Causalgleichungen der Physik regelm\u00e4\u00dfig verschiedene und demnach qualitativ durchaus nicht mit einander \u00fcbereinstimmende That-sachen quantitativ einander gleich: der einen dieser Thatsachen kommt die Bedeutung der Ursache, der andern die der Wirkung zu. So wird z. B. die Geschwindigkeit v eines K\u00f6rpers als die Wirkung betrachtet, die eine constant auf dessen Masse M w\u00e4hrend der Zeit t einwirkende Kraft K hervorbringt. Dabei ist aber K selbst nur ein Factor der Ursache, welche letztere ihrem vollen\nInhalte nach durch das Product ^ \u25a0 t ausgedr\u00fcckt wird, gem\u00e4\u00df der K\nCausalgleichung v \u2014 \u2014 \u2022 t. Hiernach ist selbstverst\u00e4ndlich die Feststellung der Relationsbegriffe Ursache und Wirkung in jedem einzelnen Fall nicht blo\u00df von dem thats\u00e4chlichen Zusammenhang der Erscheinungen, sondern auch von dem Gesichtspunkte abh\u00e4ngig, unter dem man dieselben betrachtet, und der zun\u00e4chst in der Fixirung des Begriffs der Wirkung seinen Ausdruck findet. Fragt man z. B. nicht nach der Geschwindigkeit, die ein K\u00f6rper annehmen kann, sondern nach der Energie der Bewegung, die er durch die Erhebung seines Gewichts P in eine bestimmte H\u00f6he h\ngewinnen kann, so nimmt die Causalgleichung die Form ~ = P-h\nan. Die Erhebung des Gewichtes und die durch den Fall desselben erzeugte lebendige Kraft sind qualitativ verschiedene, aber quantitativ \u00e4quivalente Vorg\u00e4nge, was die Causalgleichung durch das Gleichheitszeichen ausdr\u00fcckt, welches Zeichen demnach hier eine andere Bedeutung besitzt als in der Definitionsgleichung, in der es einer vollst\u00e4ndigen qualitativen wie quantitativen Gleichheit entspricht. Zugleich ist ersichtlich, dass die exacte Betrachtungsweise weit davon entfernt ist, diejenigen constanten Bedingungen zu vernachl\u00e4ssigen, die zur Hervorbringung der Wirkung unerl\u00e4sslich sind. Aber sie betrachtet dieselben nicht, wie es die einseitig dingliche Abstraction thut, an und f\u00fcr sich als Ursachen oder auch nur als causale Momente, sondern dies immer nur insofern, als sie an dem caus\u00e4len Vorgang, der stets ein zeitliches Geschehen ist, betheiligt sind. In der Gr\u00f6\u00dfe P der obigen Causalgleichung steckt die Anziehungskraft der Erde; aber indem das Gewicht als Product P \u2022 h","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nW. Wundt.\nin die Gleichung eingeht, ist zugleich ausgedr\u00fcckt, dass diese Anziehungskraft nur in Folge eines zeitlich-r\u00e4umlichen Geschehens, n\u00e4mlich der Erhebung des Gewichts in die H\u00f6he h, causal wirksam wird.\nDie zwei oben angef\u00fchrten Causalgleichungen g\u00f6nnen nun als typische Beispiele der beiden Hauptf\u00e4lle gelten, die in der Mechanik und Physik Vorkommen. Die eine Gattung betrachtet gegebene Geschwindigkeiten oder Geschwindigkeits\u00e4nderungen als Wirkungen bestimmter ihnen gleich gesetzter Ursachen, welche letztere gew\u00f6hnlich als Kr\u00e4fte bezeichnet werden. Die andere Gattung betrachtet irgend eine Energiegr\u00f6\u00dfe als Wirkung anderer Energiegr\u00f6\u00dfen, denen jene gleich gesetzt wird. Hiernach kann man die erste Gattung als die der Kraftgleichungen, die zweite als die der Energiegleichungen bezeichnen. Die Kraftgleichungen setzen mechanische Vorg\u00e4nge voraus : sie sind daher nur in der Mechanik und in der mechanischen, d. h. in der vermittelst gewisser hypothetischer Voraussetzungen auf Mechanik reducirten Physik anwendbar. Die Energiegleichungen setzen nur Aequivalenz im allgemeinen voraus, wobei es gleichg\u00fcltig bleibt, ob die einander \u00e4quivalenten Gr\u00f6\u00dfen auf gleichartige Begriffe zur\u00fcckgef\u00fchrt werden k\u00f6nnen oder nicht. Nur im Gebiet der reinen Mechanik stehen beide Arten der Causalgleichungen in enger Beziehung zu einander, insofern hier die Energiegleichungen aus Kraftgleichungen abgeleitet werden k\u00f6nnen, weshalb denn auch die Mechanik die letzteren als die fundamentaleren betrachtet. Die Kraftgleichungen der Mechanik bieten \u00fcbrigens auch deshalb ein besonderes Interesse dar, weil sich bei ihnen der Unterschied der Definitionsgleichungen von den Causalgleichungen gewisserma\u00dfen in seinem Entstehungsmomente be-\nobachten l\u00e4sst. Die Gleichung -j-^ = X f\u00fcr eine in der Richtung\nder x - Achse des gew\u00e4hlten Coordinatensystems auf einen materiellen Punkt wirkende Kraft X ist eine reine Definitionsgleichung. Die Beschleunigung des Punktes ist der thats\u00e4chliche Inhalt des Kraft-begriffs selbst, der lediglich durch dieselbe definirt wird. Sobald nun aber auf einen Punkt mehr als zwei Kr\u00e4fte einwirken, d. h. sobald demselben verschiedene Beschleunigungen in verschiedenen Richtungen ertheilt werden, sind die so entstehenden Gleichungen","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 15\n^2 =\t+ X2 + -X3 + . .\t\u2014 ^1 + ^2+\t+ \u2022 \u2022 \u2022 u. s. w.\nkeine blo\u00dfen Definitionsgleichungen mehr, sondern Causalgleichun-gen, da sie die Voraussetzung einschlie\u00dfen, dass sich mehrere in der n\u00e4mlichen Richtung wirkende Beschleunigungen additiv verbinden, eine Voraussetzung, welche auch in Gleichungen von der Form X = Xy -f- X2 -|- X3 -|\u2014 . .V = Yy \u2014f- Y2 -1\u2014 Y3 \u2014j\u2014 \u2022 \u2022 \u2022 u. s. w. ausgedr\u00fcckt werden kann. Hierin ist aber das causale Gesetz ausgesprochen, dass mehrere Kr\u00e4fte oder Beschleunigungen in einer Richtung wirkend einen Effect hervorbringen, der ihrer Summe gleich ist, und dass sie in verschiedenen Richtungen wirkend sich nach dem Satz des so genannten Kr\u00e4fteparallelogramms zusammensetzen. Die eine Seite der Gleichung ist also in diesem Fall nicht blo\u00df eine Definition der andern, sondern sie enth\u00e4lt eine neue durchaus nicht selbstverst\u00e4ndliche Thatsache, die zugleich einen der gegen\u00fcberstehenden Ursache entsprechenden Effect ausdr\u00fcckt. Die so entstehenden Causalgleichungen nehmen nun eine immer ver-wickeltere Gestalt an, je mehr die Bedingungen wachsen, unter denen ein bestimmter Bewegungsvorgang untersucht wird. In der Regel sieht man sich dabei gen\u00f6thigt, gewisse Nebenbedingungen in besonderen Gleichungen zu entwickeln, aus denen dann abgeleitete Functionen in die urspr\u00fcngliche Causalgleichung eingehen. So besitzen z. B. die allgemeinen Bewegungsgleichungen Lagrange\u2019s f\u00fcr ein System von Massen mx, m2, m3, . . , auf welche die Kraft-componenten X1; Yj, Zlt X2, Y2, Z2 u. s. w. wirken,\nrriy (P- Xi\ndfi\n= Xl +A + ,\u00c4 +\nbxi oxy\nu. s. w.\ndurchaus den Charakter von Causalgleichungen: die Producte der Massen in die Beschleunigungen werden als die Wirkungen betrachtet, welche durch die Kraftcomponenten Xt, Yy, Zy, u. s. w. unter den\ndurch die Functionen X , [i ^ . . . ausgedr\u00fcckten Bedingungen\nhervorgebracht werden, wobei sich die letzteren wieder aus gewissen Definitionsgleichungen cp = c, ip = e u. s. w. ergeben, die gew\u00f6hnlich Bedingungsgleichungen genannt werden. Denn unter c, e u.s.w. sind Functionen der Coordinaten zu verstehen, welche sich nach den speciellen Bedingungen des einzelnen Falls richten.","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nW. Wundt.\nDie von den Kraftgleichungen wesentlich verschiedenen Energiegleichungen k\u00f6nnen in einer doppelten Form auftreten: entweder k\u00f6nnen sie successive Zust\u00e4nde verbinden, die zeitlich von einander entfernt sind, und von denen der zweite als Wirkung des ersten, der Zeit nach vorausgehenden anzusehen ist. Es ent-\n\u2022\t.\t#\t\u2022 TYIV)^\u201c\nstehen dann Gleichungen wie die obige -= P . h ? wo die durch\ndie beiden Producte und P \u2022 h ausgedr\u00fcckten Zust\u00e4nde beliebig\nzeitlich getrennt sein k\u00f6nnen, immer aber so betrachtet werden, dass der zweite Zustand den ersten voraussetzt und ihm \u00e4quivalent ist. Wir wollen diese Art der Energiegleichungen die Zustandsgleichungen nennen. Bei einer zweiten Form dagegen wird der unmittelbare Uebergang bestimmter Energieformen in andere in der Form einer Gleichung ausgedr\u00fcckt, welche demnach die Bedeutung einer Transformationsgleichung besitzt. So z. B. wenn man den Uebergang einer unendlich kleinen W\u00e4rmemenge dW in Molecularbewegung dM, bleibende Lage\u00e4nderung der Molec\u00fcle dG und Volum\u00e4nderung d V des K\u00f6rpers, dem die W\u00e4rme zugef\u00fchrt wird, ausdr\u00fcckt durch die Gleichung dW= A [dM + dG + dV) .\nIn Bezug auf die zeitliche Form der in der Causalgleichung dargestellten Erscheinungen entspricht die Transformationsgleichung den allgemeinen Bewegungsgleichungen, da der Gesammtvorgang sowohl auf Seite der Ursachen wie auf Seite der Wirkungen in elementare Vorg\u00e4nge zerlegt wird, bei deren jedem das Intervall zwischen Ursache und Wirkung unendlich klein ist, so dass die Wirkungen aus den vorausgesetzten Ursachen in einem stetigen Verlaufe hervorgehen. Die Form der Succession tritt daher in diesem Fall erst dann als eine wesentliche Bestimmung der Causalverkn\u00fcpfung hervor, wenn der nach dem Ablauf aller elementaren Wirkungen entstandene Endeffect zusammengefasst wird. Nun geschieht letzteres stets bei der Feststellung der endg\u00fcltigen quantitativen Beziehungen. Dann wird n\u00e4mlich der Endeffect durch eine Gr\u00f6\u00dfe ausgedr\u00fcckt, die der Zeit nach den Endpunkt des Causalverlaufs bezeichnet, w\u00e4hrend die die urs\u00e4chlichen Momente darstellenden Glieder einem fr\u00fcher beginnenden, bis zu jenem Endpunkte sich continuirlich erstreckenden Zeit-","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 17\nverlaufe angeh\u00f6ren. Demnach kann auch diese zeitliche Beziehung nicht in den allgemeinen Differentialgleichungen der Bewegung, welche eben nur momentane Zust\u00e4nde ber\u00fccksichtigen, sondern nur in den die Endzust\u00e4nde eines Bewegungsvorganges in endlichen Gr\u00f6\u00dfen darstellenden Causalgleichungen ihren Ausdruck finden.\nTT\nSo ist in der einfachen Gleichung v =\t\u2022 t die Endgeschwindig-\nkeit v der Effect, welcher durch den in dem Ausdruck ^ \u2022 t angegebenen, unmittelbar vorangehenden zeitlichen Vorgang hervorgebracht wird. Sobald die Zeit t abgelaufen ist, ist die Geschwindigkeit v vorhanden: Ursache und Wirkung folgen also hier zeitlich auf einander, gehen aber zugleich unmittelbar in einander \u00fcber.\nDies ist nun wesentlich anders bei jenen Causalverh\u00e4ltnissen, die in Zustandsgleichungen ihren Ausdruck finden. Hier stehen sich Zust\u00e4nde gegen\u00fcber, deren jeder ein irgendwie aus zeitlichen Vorg\u00e4ngen hervorgegangener Effect ist, wobei aber zugleich der eine dieser Effecte mit dem andern durch irgend welche Zwischenvorg\u00e4nge, die in der Causalgleichung selbst unber\u00fccksichtigt bleiben, causal verkn\u00fcpft ist. So kann bei dem Ausdruck der durch den Fall eines gehobenen K\u00f6rpers erzeugten Energie in der Gleichung Ph = zwischen der Erhebung des Gewichtes P auf die\nH\u00f6he h und dem die Energie erzeugenden Fall eine beliebig gro\u00dfe Zwischenzeit vergehen, oder es kann auch jener Fall unmittelbar nach der Erhebung erfolgen, \u2014 jedenfalls aber liegt zwischen dem durch Ph gemessenen Zustand der Lageenergie und dem durch\nmv2\n~2~ Semessenen der Bewegungsenergie die Zeit, welche die Ueber-f\u00fchrung des K\u00f6rpers aus dem einen Zustand in den andern braucht.\nEine vollst\u00e4ndige causale Analyse der Naturvorg\u00e4nge setzt streng genommen stets die fortw\u00e4hrende Anwendung aller dieser in den verschiedenen Causalgleichungen ihren Ausdruck findenden Formen der Causalbetrachtung neben einander voraus. Namentlich m\u00fcssen die in den Zustandsgleichungen causal verbundenen Zust\u00e4nde selbst durch irgend welche Bedingungen hervorgebracht sein, und in allen F\u00e4llen, in denen irgend eine Zwischenzeit zwischen\nWundt, Philos. Studien. X.\t\u00ab","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nW. Wundt.\nder Herstellung des einen und dem Beginn des Uebergangs in den andern Zustand liegt, m\u00fcssen f\u00fcr diesen Uebergang besondere Causal-bedingungen vorhanden sein, die im allgemeinen in dem Zusammenhang der Naturerkl\u00e4rung bald in Kraftgleichungen bald in Transformationsgleichungen ihren Ausdruck finden oder doch finden w\u00fcrden, wenn sie exact festzustellen w\u00e4ren. Gerade der Aufstellung von causalen Zustandsgleichungen liegen aber meist Erfahrungen zu Grunde, bei denen zwar ein Herausheben einzelner causal zu verbindender Zust\u00e4nde ausf\u00fchrbar, die Verfolgung der zwischenliegenden Pro-cesse jedoch nur in qualitativer Weise m\u00f6glich ist. Wenn Jemand ein Gewicht P in die H\u00f6he h hebt und an einem Faden aufh\u00e4ngt, so entzieht sich die Entwickelung der dabei erzeugten Muskelkraft und der durch diese entstehenden Gelenkbewegungen einer n\u00e4heren Analyse, oder sie kann mindestens als eine nicht n\u00e4her zu untersuchende Bedingung zur Erzeugung des ersten Zustandes hingenommen werden. Wenn er den Faden durchschneidet und dadurch das Gewicht zu Fall bringt, so wird auch dieser Vorgang wiederum, wo es sich nur um die quantitative Herleitung gewisser Zust\u00e4nde aus einander handelt, einer besonderen causalen Untersuchung nicht unterworfen werden. Nat\u00fcrlich aber w\u00fcrde letzteres an und f\u00fcr sich immer denkbar und zu einer vollst\u00e4ndigen Zerlegung aller Vorg\u00e4nge in Causalgleichungen sogar unerl\u00e4sslich sein. Doch da die Aussonderungen causaler Delationen aus der unendlichen Summe der Bedingungen eines Ph\u00e4nomens immer eine von logischen Zweckm\u00e4\u00dfigkeitsgr\u00fcnden bestimmte Sache freier Wahl bleibt, so wird gegen die hier getroffene Wahl an und f\u00fcr sich nichts einzuwenden sein: jedenfalls ist sie diejenige, deren sich die wissenschaftliche Untersuchung thats\u00e4chlich bedient, und zu der sie offenbar zwei schwerwiegende Gr\u00fcnde hat. Der erste besteht darin, dass der exacten causalen Betrachtung \u00fcberall diejenigen Elemente eines Thatbestandes unterworfen werden, auf die es f\u00fcr den speciellen Zweck der Untersuchung ankommt; der andere besteht in dem Kriterium der quantitativen Gleichheit oder Aequivalenz bei allen in der Natur gegebenen Causalbeziehungen. Hierbei bringt es die Wandelbarkeit des ersten dieser Motive mit sich, dass in einer gegebenen Untersuchung Causalbeziehungen Ber\u00fccksichtigung finden, die in einer andern au\u00dfer Betracht bleiben. So k\u00fcmmert sich der Physiker,","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"lieber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 19\nder das Yerh\u00e4ltniss einer gewissen durch Erhebung eines Gewichtes entstandenen Lageenergie zu der aus ihr entstehenden Bewegungsenergie untersuchen will, durchaus nicht darum, wie das Gewicht P auf die H\u00f6he h gekommen ist; der Physiologe, der die zur Kraftleistung Ph erforderliche Muskelleistung untersucht, l\u00e4sst umgekehrt die Art, wie das gehobene Gewicht wieder in seine urspr\u00fcngliche Lage gebracht wird, um zu einem neuen Hebungsversuch verwendet zu werden, au\u00dfer Betracht. Zu den Fallen, in denen bald die eine bald die andere Gattung von Causalgleichungen je nach den ma\u00dfgebenden Gesichtspunkten angewandt wird, geh\u00f6ren insbesondere auch alle diejenigen Zusammenh\u00e4nge, in denen der Uebergang aus einer Form der Energie in eine andere durch Ausl\u00f6sungspro-cesse vermittelt wird. Der Ausl\u00f6sungsvorgang seihst ist hierbei im allgemeinen durch eine Causalbeziehung darzustellen, die, wenn sie eine exacte Fassung zul\u00e4sst, die Form einer Kraft- oder Transformationsgleichung annimmt. Der Uebergang des Systems aus einem Zustand in einen andern wird dagegen durch eine Zustandsgleichung dargestellt werden k\u00f6nnen. So l\u00f6st der Sto\u00df, der einen auf einer schiefen Ebene ruhenden Stein trifft, zun\u00e4chst eine momentane Bewegung aus, deren Geschwindigkeit sich nach dem Sto\u00dfgesetze bestimmt; die Energie aber, die der Stein beim Herabrollen gewinnt, h\u00e4ngt theils von der beim Sto\u00df gewonnenen Anfangsgeschwindigkeit theils von der zuvor schon vorhandenen Energie der Lage ab. Hier wird daher die causale Beziehung nur noch dann in der Form einer reinen Zustandsgleichung darzustellen sein, wenn die durch den Sto\u00df erzeugte Anfangsgeschwindigkeit gegen\u00fcber der ganzen vorhandenen Energiegr\u00f6\u00dfe verschwindend klein sein sollte, wenn also z. B. der Sto\u00df nur eben zureicht, den durch die Reibung gesetzten Widerstand gegen die Bewegung zu \u00fcberwinden. Verwickelter werden diese F\u00e4lle, wenn es sich um eine fortlaufende Kette von Ausl\u00f6sungsvorg\u00e4ngen handelt. Eine schwache Ersch\u00fctterung kann zureichen, um eine gro\u00dfe Menge von Chlorstickstoff zur Explosion zu bringen. Die Ersch\u00fctterung wirkt dabei zun\u00e4chst als ausl\u00f6sende Kraft auf einen kleinen Bruchtheil der Masse, dieser wieder auf weitere Mengen u. s. f., so dass der Gesammt-vorgang in Wahrheit eine Reihe unter einander verbundener Ausl\u00f6sungen ist. Hier sind je nach dem Interesse, das die einzelnen\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nW. Wundt.\nBestandteile des Vorgangs in Anspruch nehmen, wiederum verschiedene Formen causaler Verkn\u00fcpfung m\u00f6glich. Entweder kann man die Ausl\u00f6sungsVorg\u00e4nge f\u00fcr sich betrachten. Dann wird jeder einzelne durch eine Transformationsgleichung dargestellt werden, hei welchem sich auf der Seite der Ursachen der ersch\u00fctternde Sto\u00df nebst den chemischen Energien der Molec\u00fcle, die von der Zersetzung ergriffen werden, befinden. Im allgemeinen wird aber auch hier wieder die ausl\u00f6sende Kraft als verschwindend klein im Verh\u00e4ltniss zu den \u00fcbrigen in die Gleichung eingehenden Gr\u00f6\u00dfen angesehen werden k\u00f6nnen, und es wird \u00fcberdies nicht sowohl die Kenntniss der s\u00e4mmtlichen Partialvorg\u00e4nge als vielmehr die des Anfangs- und Endzustandes von Interesse sein. Unter diesem Gesichtspunkt wird man sich daher auf eine Zustandsgleichung beschr\u00e4nken, in welcher Anfangs- und Endenergie, unter Ber\u00fccksichtigung der verschiedenen Form, in der sie auftreten, einander gleich gesetzt werden, w\u00e4hrend man die ausl\u00f6senden Kr\u00e4fte der Ersch\u00fctterung wegen ihrer verschwindenden Gr\u00f6\u00dfe nur als einen nebenhergehenden qualitativen Factor beachtet. Ist es auch an und f\u00fcr sich klar, dass eine absolut vollkommene causale Analyse eines bestimmten Naturvorgangs nur unter Mitber\u00fccksichtigung aller auch der kleinsten Nebenursachen m\u00f6glich sein w\u00fcrde, was ja immerhin durch die Aufstellung h\u00f6chst zusammengesetzter Verbindungen von Causalgleichungen geschehen k\u00f6nnte, so ist es doch ebenso gewiss, dass eine solche Aufstellung in der Regel praktisch undurchf\u00fchrbar ist, und dass sie nicht einmal mit unserem wirklichen Interesse, das sich auf gewisse durch Abstraction gewonnene Bestandtheile des Gesammtverlaufs concentrirt, \u00fcbereinstimmt. Insbesondere die in Zustandsgleichungen aufgestellten Causalverkn\u00fc-pfungen gehen sehr weit in dieser Abstraction, indem sie sich einerseits von dem Princip der quantitativen Aequivalenz, anderseits von der Voraussetzung der continuirlichen Verbindung der betrachteten Endzust\u00e4nde durch unber\u00fccksichtigt bleibende Zwischenvorg\u00e4nge leiten lassen. Denn nur unter diesem Gesichtspunkte k\u00f6nnen beliebige noch so weit entfernte Glieder einer Causalreihe auf einander bezogen werden.\nNun ist es selbstverst\u00e4ndlich, dass wegen der besonderen Bedingungen, denen die Aufstellung von Causalgleichungen unterworfen","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 21\nist, neben dieser quantitativen die qualitative Causalbetrachtung nicht ganz entbehrt werden kann, bei der von vornherein auf die besonderen Kriterien verzichtet werden muss, welche die quantitative Messung der Erscheinungen mit sich bringt. Aber auch bei ihr wird an den allgemeinen Kennzeichen, zu denen die Untersuchung der exacten Causalformen gef\u00fchrt hat, insoweit festzuhalten sein, als jene Kennzeichen von den Bedingungen quantitativer Bestimmung unabh\u00e4ngig sind. Ein Kennzeichen dieser Art ist die zeitliche Aufeinanderfolge der causal verbundenen Erscheinungen. Dasselbe will nat\u00fcrlich nicht sagen, dass Objecte, die vor dem Eintritt des Causal Vorgangs schon vorhanden sind und nach ihm Zur\u00fcckbleiben, nicht in jenen Vorgang mit eingehen k\u00f6nnen. Im Gegentheil, wie schon die Beispiele exacter Causalgleichungen lehren, gibt es wegen der Gebundenheit aller Naturvorg\u00e4nge an permanente Objecte absolut gar kein causales Geschehen, das nicht dem Princip der \u00bbsubstantiellen Causalit\u00e4t\u00ab eben in dem Sinne unterworfen w\u00e4re, dass an der Ursache wie an der Wirkung Objecte, die wir zugleich als Tr\u00e4ger bestimmter Kr\u00e4fte betrachten, betheiligt sind. Aber das entscheidende Kriterium der causalen Verkn\u00fcpfung liegt nicht in diesen permanenten Krafttr\u00e4gern, die sich immer nur als constante Factor en an dem zeitlichen Causalvorgang betheiligen. Nicht minder gibt es zahlreiche F\u00e4lle, wo durch die Verkn\u00fcpfung der elementaren Wirkungen die Ph\u00e4nomene so in einander greifen, dass Ursache und Wirkung als zeitlich getrennte Vorg\u00e4nge thats\u00e4chlich nicht nachweisbar sind. Wie oben bemerkt, findet eine vollst\u00e4ndige zeitliche Trennung nur bei jenen am meisten durch willk\u00fcrliche Abstraction ver\u00e4nderten Causalbeziehungen statt, die, wenn sie eine exacte Formulirung zulassen, in Zustandsgleichungen ihren Ausdruck finden. Dagegen ist es gerade die qualitative Betrachtung, die, wie ich an anderen Stellen schon ausgef\u00fchrt habe, die Aufl\u00f6sung in die zeitliche Succession herausfordert, verm\u00f6ge der f\u00fcr die Anschauung unvermeidlichen Erg\u00e4nzung des aus einem causalen Vorgang herausgegriffenen Momentes durch den unmittelbar vorausgegangenen Verlauf. Wenn daher auch'an sich die elementare Wirkung nicht von ihrer elementaren Ursache getrennt werden kann, so macht doch jeder Versuch, den einzelnen momentanen Zustand theils in seinem eigenen Entstehen, theils in","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nW. Wundt.\nseiner Wirkung auf die Folge zu begreifen, die Aufl\u00f6sung in eine Succession unerl\u00e4sslich, womit denn auch \u00fcbereinstimmt, dass, sobald eine Reihe momentaner Wirkungen in ihrer Summirung zu einem Endeffect zusammengefasst wird, dieser sich als ein zeitlich nachfolgender wenigstens insofern darstellt, als er erst gegeben sein kann, nachdem jene Reihe abgelaufen ist1).\nDie Einw\u00e4nde, die Si g wart gegen diese Auffassung des Causal-problems geltend macht2), finden, wie ich glaube, durch die obigen Er\u00f6rterungen im wesentlichen ihre Erledigung. In der That scheinen mir diese Einw\u00e4nde zum Theil darin begr\u00fcndet zu sein, dass Sig-wart durch die Betonung des Zeitverlaufs als einer unerl\u00e4sslichen Bedingung f\u00fcr die Bildung des Causalbegriffs zu der Meinung veranlasst wurde, es solle damit \u00fcberhaupt nur das sinnliche Ph\u00e4nomen eines Geschehens in der Zeit als das Substrat der Begriffe Ursache und Wirkung angesehen werden, ohne jede R\u00fccksicht auf die in der Untersuchung der Kriterien der Causalit\u00e4t niemals fehlenden constanten Bedingungen des Geschehens. Dazu mag er wohl durch die in \u00e4hnlicher Weise, wenn auch in ganz anderem Sinne, der rein psychologischen Auffassung Hume\u2019s eigen-th\u00fcmliche Betonung der Zeitfolge, sowie durch die in der allgemeinen logischen Entwickelungsgeschichte des Begriffs hervorgehobene Thatsache veranlasst worden sein, dass ohne zeitliche Vorg\u00e4nge, die ebensowohl der Ursache wie der Wirkung angeh\u00f6ren, die Entstehung des Causalbegriffs undenkbar w\u00e4re. Aber ich habe nachdr\u00fccklich betont, dass dieses Geschehen auf beiden Seiten des Causalverh\u00e4ltnisses nicht blo\u00df von dem unmittelbar in der sinnlichen Erscheinung gegebenen Thatbestand, sondern zugleich von den aus dem gesammten Zusammenhang unserer Natur er fahrung entnommenen Voraussetzungen \u00fcber die den Dingen inh\u00e4rirenden Bedingungen bestimmt werde3). Nur dass freilich diese Bedingungen immer erst unter\n1)\tVergl. in meiner Logik die Ausf\u00fchrungen \u00fcber die Erscheinungsform des Causalgesetzes, I. 2. Aufl. S. 596 und bes. 603 ff.\n2)\tSigwart, Methodenlehre. 2. Aufl. S. 173ff.\n3)\tEs scheint mir darum auch nicht zutreffend, wenn Horn (Causalit\u00e4ts-begriff in der Philosophie und im Strafrecht, Leipzig 1893, S. 12 ff.) Bedingungen und Ursache so zu trennen sucht, dass er alle permanenten zust\u00e4ndlichen Fac-toren \u00e4ls Bedingungen ansieht, als Ursache aber eine \u00bbVer\u00e4nderung, welche durch ihre Kraft und Th\u00e4tigkeit eine zweite Ver\u00e4nderung hervorbringt\u00ab. Hier ist eben","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 23\ndem Einfluss bestimmter actueller Vorg\u00e4nge wirksam werden k\u00f6nnen. Wenn darum Sigwart bervorhebt, der Begriff der Ver\u00e4nderung lasse sich ohne den des Dings \u00fcberhaupt nicht denken, und es lasse sich darum auch hei der Ursache niemals vollst\u00e4ndig von den Dingen abstrahiren, so kann ich dieser Bemerkung, soweit sie sich auf die F\u00e4lle der Naturcausalit\u00e4t bezieht, vollst\u00e4ndig beipflichten. Ich habe niemals behauptet, dass eine solche Abstraction stattfinden solle, vielmehr \u00fcberall auf die in das urs\u00e4chliche Geschehen eingehenden und auf den constanten Substraten der Ereignisse beruhenden Bedingungen hingewiesen. Ich w\u00fcrde den Bemerkungen Sigwart\u2019s nur hinzuzuf\u00fcgen haben, dass die Auswahl der permanenten Bedingungen, die bei dem Begriff Ursache mitber\u00fccksichtigt werden, nicht ein f\u00fcr allemal durch rein objective Verh\u00e4ltnisse fest bestimmt ist, sondern dass sie von dem gew\u00e4hlten Gesichtspunkt der Betrachtung abh\u00e4ngt. Eben deshalb aber sind bestimmte Kriterien erforderlich, nach denen sich jene Auswahl richten muss. So ist die Betrachtungsweise bei den verschiedenen Formen der oben unterschiedenen Causalgleichungen offenbar jedesmal eine andere; aber das entscheidende Kriterium in allen F\u00e4llen bleibt die quantitative Gleichheit oder Aequivalenz von Ursache und Wirkung. Einige andere Ein w\u00e4nde Sigwart\u2019s sind, wie ich glaube, lediglich daraus entsprungen, dass er Beispielen, die von mir f\u00fcr einzelne F\u00e4lle cau-saler Verkn\u00fcpfung gew\u00e4hlt wurden, eine dar\u00fcber hinausgehende allgemeine Bedeutung beilegt. Wenn ich als Ursache f\u00fcr die beim Fall eines in die H\u00f6he h gehobenen Gewichtes P erzeugte Energie nicht, wie es die rohe Verdinglichung des Causalbegriffs thut, einfach die Anziehungskraft der Erde, sondern die in dem Product P \u2022 h ausgedr\u00fcckte Erhebung des Gewichtes P in die H\u00f6he h ansehe, so will ich damit nat\u00fcrlich nicht behaupten, dass ein K\u00f6rper, der \u00fcberhaupt nicht in die H\u00f6he h gehoben worden ist, sondern irgendwie anders in die n\u00e4mliche Fallbewegung gerieth, z. B. ein in die Attractionsspb\u00e4re der Erde gekommener Meteorstein, nach dem n\u00e4mlichen Schema zu beurtheilen sei. Da Ursache immer nur ein wirkliches Geschehen sein kann, so muss selbstverst\u00e4ndlich auch in\nin den Begriff der \u00bbKraft\u00ab schon der wesentliche Theil jener permanenten Bedingungen mit eingeschlossen worden.","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nW. Wundt.\ndiesem Beispiel die Ursache der Fallbewegung in der vorangegangenen Bewegung des Meteorsteins, sowie in der vorangegangenen Bewegung der Erde gesucht werden. Zwischen den Energien der Lage und der Bewegung, die das Meteor durch jene beiden Bewegungen in einem gegebenen Augenblick empfangen hat, und der Energie, die es hei dem Auftreffen auf der Erde besitzt, besteht aber wieder eine causale Beziehung, die sich in einer Zustandsgleichung wird ausdr\u00fccken lassen. Nicht minder verschieden w\u00fcrden sich beide F\u00e4lle darstellen, wenn man sie unter dem Gesichtspunkte einer Kraftgleichung betrachten wollte. Wenn hiernach Si g wart seine kritische Besprechung zu der Bemerkung zusammenfasst: \u00bbDer Satz, dass die Causalit\u00e4t nur auf Ereignisse oder Vorg\u00e4nge, nicht auf Dinge sich beziehe, ist also in dieser abstracten Fassung nicht durchf\u00fchrbar\u00ab (S. 175), so m\u00f6chte ich glauben, dass diese Bemerkung im wesentlichen auf einem Missverst\u00e4ndnisse beruht. Ich halte weder in der Natur Vorg\u00e4nge f\u00fcr m\u00f6glich, die sich nicht an Dingen vollziehen, oder bei denen sich von den Dingen abstrahiren lie\u00dfe, noch habe ich in meinen Er\u00f6rterungen und in den dabei gebrauchten Beispielen thats\u00e4chlich eine solche Abstraction ausgef\u00fchrt1).\n1) Da ich doch einmal an der Beseitigung von Missverst\u00e4ndnissen hip, so sei es mir gestattet, auch noch auf die folgenden aufmerksam zu machen. S; 175 wendet sich Sigwart gegen die Ausf\u00fchrungen auf S. 296ff. meines \u00bbSystems\u00ab und beanstandet, dass es nach meiner Ansicht nicht erforderlich sei, \u00bbin den Begriff der Kraft noch etwas anderes aufzunehmen als die Gr\u00f6\u00dfe der Beschleunigung, an der sie gemessen wird\u00ab. Diesem Satze gehen aber in meiner Darstellung auf der n\u00e4mlichen Seite die S\u00e4tze voraus: \u00bbKraft ist eine Beschleunigung, welche an einer Masse von bestimmter Gr\u00f6\u00dfe hervorgebracht wird; Masse ist der Widerstand, welchen ein K\u00f6rper einer Kraft von bestimmter Gr\u00f6\u00dfe entgegensetzt. Eine Kraft kann demnach nur gemessen werden, indem man sie mit andern auf die n\u00e4mliche Masse wirkenden Kr\u00e4ften, eine Masse, indem man sie mit andern Massen vergleicht, auf welche die n\u00e4mliche Kraft wirkt\u00ab. Jener erste Satz will also nur sagen, dass Beschleunigung das einzige Kriterium ist, an dem wir das Wirken einer Kraft erkennen, und das wir daher in den abstracten Begriff der Kraft aufnehmen. In der That dr\u00fcckt die Mechanik die auf einen masselosen Punkt wirkenden Kraftcomponenten blo\u00df durch die Differential-\nt?2 dC\tM\t(\u00df Z\nQuotienten der Beschleunigung \u2014rw-, ,, \u2014r-r- aus. (Vergl. Kirchhoff,\na t1\tatz\tdt1\nVorlesungen \u00fcber mathemat. Physik. Mechanik. S. 5.) Dass dagegen bei der quantitativen Bestimmung der concreten Naturkr\u00e4fte stets zugleich die Massfen in Betracht kommen, ist in jenen weiteren S\u00e4tzen ausdr\u00fccklich von mir hervorgehoben worden. \u2014 Auf S. 149 sagt Sigwart, die Bemerkung in meiner Logik,","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 25\nWohl aber ist, wie ich glaube, darauf Gewicht zu legen, dass erstens die dinglichen Substrate nur insofern, als an ihnen oder in ihren Relationen irgend welche Ver\u00e4nderungen vor sich gehen, zu Causal Verkn\u00fcpfungen Anlass bieten, und dass zweitens f\u00fcr die Art, wie die dinglichen Substrate der Naturvorg\u00e4nge in R\u00fccksicht zu ziehen sind, nur die Vorg\u00e4nge, die in zeitlichen Ver\u00e4nderungen bestehen, Aufschluss geben k\u00f6nnen.\nNach diesen Erl\u00e4uterungen glaube ich annehmen zu d\u00fcrfen, dass eine Meinungsverschiedenheit zwischen Sigwart und mir fast mehr r\u00fccksichtlich der Frage, wie der von der Wissenschaft benutzte Begriff gewonnen werden solle, ob durch psychologische Fortbildung seiner Urspr\u00fcnge oder durch logische Besinnung \u00fcber die wissenschaftlichen Motive seiner Berichtigung, als ip Bezug auf den Inhalt des Begriffs selbst besteht. Allerdings aber scheint mir in Folge dieser verschiedenen Ausgangspunkte hei Sigwart das Bestreben obzuwalten, den dinglichen oder substantiellen Fac-toren der Causalit\u00e4t einen gr\u00f6\u00dferen Werth zuzugestehen, als ihnen, wie ich glaube, nach den in den exacten Anwendungen nieder-\n\u00bbaus dem logischen Verh\u00e4ltnis\u00bb der Begriffe d\u00fcrfe auf das Zeitverh\u00e4ltniss der Erscheinungen, auf -welche sich die Begriffe beziehen, \u00fcberhaupt nicht geschlossen werden\u00ab (Logik, 2. Aufl. S. 601), treffe in dieser Allgemeinheit nicht zu, denn aus dem Verh\u00e4ltnisse der Begriffe Ding und Eigenschaft z. B. folge doch gewiss die Gleichzeitigkeit der Existenz des Dings und bestimmter Eigenschaften desselben. Ich muss anerkennen, dass der Wortlaut des betreffenden Satzes, abgesehen von dem Zusammenhang, in dem er sich befindet, dieses Missverst\u00e4ndniss zul\u00e4sst. Aber in jenem Zusammenhang ist lediglich von den beiden abstracten Begriffen Wechselbeziehung und Abh\u00e4ngigkeit die Rede, und in Bezug auf diese meine ich: der Begriff Wechselbeziehung schlie\u00dft ebenso wenig Gleichzeitigkeit wie der Begriff Abh\u00e4ngigkeit Zeitfolge ein. Denn abstracte Beziehungsbegriffe enthalten \u00fcberhaupt an sich keinerlei bestimmte Bedingungen der zeitlichen oder auch der r\u00e4umlichen Anschauung. Dass es sich mit concreten Begriffen oder auch mit abstracten Gattungsbegriffen, also etwa mit dem des Dings und seiner Eigenschaften, des Quadrats und seiner vier rechten Winkel, anders verh\u00e4lt, leugne ich gewiss nicht. Ein concreter Begriff oder ein Gattungsbegriff setzt im allgemeinen stets bestimmte zeitliche und r\u00e4umliche Bestimmungen seiner Gegenst\u00e4nde voraus, die dann nat\u00fcrlich auch in dem Begriff erhalten bleiben. Begriffe wie Verh\u00e4ltniss, Abh\u00e4ngigkeit, Ursache, Wirkung und andere abstracte Beziehungsbegriffe setzen aber gar keine zeitlichen und r\u00e4umlichen Bestimmungen voraus, und doch ist gerade bei ihnen, wie die a. a. O. von mir geschilderte Antinomie der Begriffe lehrt, der Versuch gemacht worden, bald die eine bald die andere Zeitbestimmung als ihnen a priori zukommend zu betrachten.","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nW. Wundt.\ngelegten Zeugnissen der Entwickelung zugestanden werden kann. Mehr als im Gebiet der Naturcausalit\u00e4t kommen jedoch diese Unterschiede des Ausgangspunktes und des Weges der Betrachtung hei den zwei andern Formen der Causalit\u00e4t zur Geltung, die den Gegenstand der folgenden Untersuchung bilden sollen: bei den psychophysischen Wechselwirkungeli und hei den causalen Beziehungen psychischer Vorg\u00e4nge zu einander.\nII. Das Princip des psychophysischen Parallelismus.\nDas Princip des psychophysischen Parallelismus ist in der Geschichte der Wissenschaft in einer doppelten Form aufgetreten: als eine metaphysische Annahme, die, dem allgemeinen Charakter speculativer Voraussetzungen gem\u00e4\u00df, \u00fcber alle Grenzen der Erfahrung hinausreicht, indem sie die \u00e4u\u00dfere Natur und das geistige Sein in der unendlichen Summe ihrer Entfaltungen als die einander parallel gehenden Erscheinungsformen einer einzigen absoluten Substanz betrachtet; und als ein empirisches Postulat, zu welchem die Physiologie auf der einen, die Psychologie auf der andern Seite gef\u00fchrt werden, sobald sie es versuchen, an der Hand des von der Naturwissenschaft ausgebildeten exacten Causalbegriffs \u00fcber die Wechselbeziehungen zwischen physischen und psychischen Vorg\u00e4ngen im lebenden Organismus Rechenschaft zu geben. Jene metaphysische Annahme, die in der Philosophie Spinoza\u2019s ihren classischen Ausdruck gefunden hat, soll hier au\u00dfer Betracht bleiben. Obgleich es zweifellos ist, dass die empirischen Thatsachen des psychophysischen Geschehens aus einem substantiellen Sein mit zwei Attributen, deren einzelne Zust\u00e4nde sich durchg\u00e4ngig auf einander beziehen, m\u00f6glicher Weise erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnen, so ist es doch keineswegs ausgemacht, dass sie daraus erkl\u00e4rt werden m\u00fcssen, oder dass sie darin auch nur eine philosophisch zureichende Erkl\u00e4rung finden. Ist doch die Metaphysik der Substanz mit den zwei Attributen nicht blo\u00df in der Form, wie sie Spinoza aufgestellt, sondern auch in derjenigen, in der sie in ihren sp\u00e4teren Erneuerungen aufgetreten ist, auf das engste an jene Vorstellung gekn\u00fcpft, welche die Seele als einen geistigen Spiegel f\u00fcr den ihr zug\u00e4nglichen Inhalt der objectiven Welt betrachtet, so dass sie eben","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 27\nin nichts als in der Wiederholung der objectiven Dinge und ihrer Zust\u00e4nde in der Form von Ideen besteht, \u2014 eine Betrachtungsweise, die freilich noch nicht einmal ganz aus der heutigen Psychologie verschwunden, aber doch offenbar nur aus der Vermengung des von der physiologischen Psychologie geforderten empirischen mit jenem metaphysischen Parallelismus entsprungen ist. In dem Folgenden soll wie gesagt nur von demjenigen Princip des Parallelismus die Rede sein, welches sich aus der Betrachtung der Natur-causalit\u00e4t als empirisches Postulat ergibt, und welches demnach die causale Verkn\u00fcpfung der Erscheinungen erg\u00e4nzt, ohne selbst auf die Bedeutung eines causal\u00e9n Princips Anspruch machen zu k\u00f6nnen.\nPsychophysische Wechselwirkungen sind erfahrungsgem\u00e4\u00df in zwei Richtungen m\u00f6glich: in der physisch-psychischen und in der psychisch-physischen. Die erstere ist da gegeben, wo wir hei der urspr\u00fcnglichen Auffassung des Vorgangs irgend eine physische Wirkung auf den Organismus als die Ursache betrachten, die eine psychische Folge, z. B. eine Empfindung, ausl\u00f6st. Die zweite Form ist dort verwirklicht, wo umgekehrt jene Auffassung irgend einen psychischen Vorgang, z. B. einen Willensimpuls mit den ihn begleitenden Motiven, als die Ursache betrachtet, *jer \u00e7ine physische Wirkung der \u00e4u\u00dferen Organe, z. B. eijje Bewegung, nachfolgt. Eine Analyse des Causalbegriffs, die von seiner popul\u00e4ren Bedeutung ausgeht, und die alle die Anwendungen, die er \u00fcberhaupt erfahren hat, auch definitiv zu bewahren sucht, wird nun kein Bedenken dagegen finden, beide Anwendungsweisen als echte und bleibende Formen der Causalit\u00e4t festzuhalten. Ist doch jene psychisch-physische Reihe von Vorg\u00e4ngen, bei der sich unsere Willensentschl\u00fcsse in \u00e4u\u00dfere Bewegungen unseres K\u00f6rpers umzusetzen scheinen, psychologisch betrachtet wahrscheinlich das Vorbild aller Causalit\u00e4t und jedenfalls f\u00fcr die gew\u00f6hnliche Auffassung fortan das klarste Beispiel causaler Verkn\u00fcpfung. Dass man sich bei dem Versuch einer psychologischen Reconstruction des Begriffs aus diesen seihen Anf\u00e4ngen heraus niemals dazu entschlie\u00dfen wird, jenen Ausgangspunkt aufzugeben, ist daher klar genug. St\u00fctzen sich vollends die dagegen vorgebrachten Bedenken ihrerseits nur auf eine metaphysische Annahme, wie der spinozistische Parallelismus eine solche ist, so kann man mit Fug und Recht sagen, die empirische Psychologie habe","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nW. Wundt.\nkeinen Grund, thats\u00e4chlich gegebene Zusammenh\u00e4nge unbeweisbaren metaphysischen Hypothesen zu opfern.\nAnders verh\u00e4lt sich aber die Sache, wenn man die logische Entwicklungsgeschichte des Causalbegriffs zu Grunde legt. Alle genau verfolgten physischen Causalverkn\u00fcpfungen f\u00fchren zu der Forderung, dass eine gegebene Ver\u00e4nderung causal nur abgeleitet werden kann aus einem Vorgang, der mit ihr nach festen Gesetzen verkn\u00fcpft ist, welche Gesetze theils von den unver\u00e4nderlichen Eigenschaften der materiellen Substrate theils von den vorausgegangenen Vorg\u00e4ngen abh\u00e4ngig sind. Auf diese Forderung gr\u00fcnden sich alle jene Causalverkn\u00fcpfungen, die in Kraft- und Transformationsgleichungen ausgedr\u00fcckt werden k\u00f6nnen. Dagegen stehen die Verbindungen verschiedener aus einander abgeleiteter Energiewerthe, die in der Form von Zustandsgleichungen darzustellen sind, nur theilweise mit jener Forderung in Verbindung, nur insofern n\u00e4mlich, als eben die quantitative Aequivalenz vorangegangener und folgender Zust\u00e4nde durch die Zustandsgleichung verb\u00fcrgt wird. Die Kraftgleichungen und die Transformationsgleichungen k\u00f6nnen aber als zureichende H\u00fclfsmittel f\u00fcr die causale Verkn\u00fcpfung aller Naturerscheinungen nur unter der Voraussetzung gelten, dass die physische Causalit\u00e4t ein v\u00f6llig in sich abgeschlossenes Gebiet von Processen bildet. Denn die Kraftgleichungen enthalten theils Beschleunigungen, die von Massen ausgehen, theils Massen, die den Beschleunigungen widerstehen, wobei die Massen constant, die Beschleunigungen aber nur insofern ver\u00e4nderlich angenommen werden, als sie Widerst\u00e4nde an den Massen erfahren. Die Transformationsgleichungen pflegt die mechanische Physik auf die n\u00e4mliche Voraussetzung zur\u00fcckzuf\u00fchren, indem sie sich auf die Thatsache st\u00fctzt, dass im allgemeinen, insoweit n\u00e4mlich nicht specielle Bedingungen, die in der Natur gewisser Processe liegen, in Frage kommen, eine Verwandlung s\u00e4mmtlicher Kraftformen in die den Kraftgleichungen zu Grunde liegenden mechanischen Kr\u00e4fte m\u00f6glich ist. Hieraus wird geschlossen, dass die Naturkr\u00e4fte \u00fcberhaupt, auch diejenigen, f\u00fcr welche empirische Causalbeziehungen unmittelbar nur durch Transformationsgleichungen ausgedr\u00fcckt werden k\u00f6nnen, in letzter Instanz beschleunigende, also mechanische Kr\u00e4fte seien. Da sich, sobald die verschiedenen Kr\u00e4fteformen auf solche mechanische","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 29\nKr\u00e4fte zuriickgefiihrt sind, die Transformationsgleichungen in Kraftgleichungen verwandeln, so l\u00e4sst sich die obige Voraussetzung auch so aussprechen: das Gebiet der s\u00e4mmtlichen Naturvorg\u00e4nge muss ein in sich geschlossenes sein, falls die Annahme richtig ist, dass sich alle Naturprocesse in Kraft- und in Transformationsgleichungen darstellen lassen, und sobald man zugleich die letzteren als empirische Ausdr\u00fccke f\u00fcr solche Kraftgleichungen ansieht, die nach unserer jeweiligen Kenntniss der molecularen Naturvorg\u00e4nge nur eine hypothetische Aufstellung gestatten. Diese beiden Annahmen sind es in der That, die der mechanischen Naturerkl\u00e4rung zu Grunde liegen. Deshalb pflegt man zu sagen, mit dem Postulat der mechanischen Naturerkl\u00e4rung sei zugleich das Postulat der in sich geschlossenen Naturcausalit\u00e4t gegeben.\nAber so richtig dieser Satz ist, so ist doch leicht zu sehen, dass derselbe nicht umgekehrt werden kann, sondern dass die Forderung der Geschlossenheit der Naturcausalit\u00e4t an die mechanische Naturerkl\u00e4rung, die an sich immer hypothetisch bleibt, nicht nothwendig gebunden ist. Diejenigen Ermittelungen der neueren Physik, welche in den Transformationsgleichungen ihren empirischen Ausdruck finden, lassen vielmehr jene Forderung auch dann noch bestehen, wenn man der Ansicht sein sollte, dass eine Ueberf\u00fchrung dieser Gleichungen in Kraftgleichungen nicht m\u00f6glich oder doch, als stets hypothetisch, nur von zweifelhaftem Wahrheitswerth sei. Insofern n\u00e4mlich die Transformationsgleichungen \u00fcberall nur Werthe enthalten, die sich auf Naturprocesse beziehen, enthalten sie stillschweigend auch die Voraussetzung, dass man Vorg\u00e4nge, die nicht zu den Naturprocessen geh\u00f6ren, nirgends als Ursachen oder als Wirkungen von Naturvorg\u00e4ngen betrachten d\u00fcrfe, wenigstens nicht in dem Sinne, dass durch solche etwa nebenhergehende Vorg\u00e4nge der Verlauf der Naturprocesse selbst irgendwie alterirt w\u00fcrde. Da sich nun aber sowohl die Kraft- wie die Transformationsgleichungen auf Vorg\u00e4nge beziehen, die continuirlich aus einander hervorgehen, so ergibt sich das Resultat: Ueberall wo ein stetiger Verlauf von Naturvorg\u00e4ngen eine exacte Feststellung zul\u00e4sst, da f\u00fchrt diese zu der Voraussetzung, dass die Naturcausalit\u00e4t ein in sich abgeschlossenes Gebiet bildet. Wo eine exacte Feststellung nicht m\u00f6glich ist, da handelt daher gleichwohl die Naturwissenschaft unter","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"BO\nW. Wundt.\ndieser Voraussetzung. Sie wird demnach niemals einen Naturvorgang f\u00fcr in ihrem Sinne causal erkl\u00e4rt ansehen, wenn versucht wird ihn aus andern als voraus gehenden Naturhedingungen abzuleiten.\nWesentlich anders als mit den Kraft- und Transformationsgleichungen verh\u00e4lt es sich nun, wie schon angedeutet, mit den Zustandsgleichungen. Da hei ihnen die beiden in causale Beziehung gebrachten Zust\u00e4nde nicht continuirlich aus einander abgeleitet, sondern im allgemeinen in beliebigem Abstande aus einer zusammengesetzten Causalreihe herausgegriffen werden, ohne dass \u00fcber die Art, wie der eine Zustand in den andern \u00fcberging, und welche Zwischenstadien dabei durchlaufen wurden, Rechenschaft gegeben w\u00fcrde, so ist durch die festgestellten Causalverh\u00e4ltnisse selbst ein Hereingreifen irgend einer andern, gar nicht zum Gebiet der Naturvorg\u00e4nge geh\u00f6renden Causalit\u00e4t durchaus nicht ausgeschlossen, sondern die in diesen Gleichungen vorausgesetzte Causalit\u00e4t ist zwar mit der Forderung, dass die Naturcausalit\u00e4t \u00fcberhaupt ein in sich abgeschlossenes Gebiet bilde, vereinbar, sie schlie\u00dft aber diese Forderung nicht ein. Am augenf\u00e4lligsten zeigt sich dies bei der Betrachtung der zur Herbeif\u00fchrung von Zustands\u00e4nderungen angewandten Ausl\u00f6sungsprocesse. Wo diese wegen ihres im Verh\u00e4ltniss zu den Gr\u00f6\u00dfen der Zustandsgleichung verschwindenden Werthes au\u00dfer Betracht bleiben, da stellt in Wahrheit die Zustandsgleichung eine causale Relation dar, bei der ein f\u00fcr sie wesentlicher Vorgang so behandelt wird, als wenn er gar nicht vorhanden w\u00e4re.\nTU 1)^\t\u00bb\t\u2022\nDie Zustandsgleichung P \u25a0 h \u2014 \u2014\u2014 z. B. w\u00fcrde ebenso gut wie\n*\tIt\nf\u00fcr einen gehobenen, und dann zur Erde fallenden K\u00f6rper auch f\u00fcr einen solchen ihre G\u00fcltigkeit bewahren, der, nachdem er gehoben ist, durch ein Wunder beliebig lange auf der H\u00f6he h erhalten w\u00fcrde. So wenig wie das Hereingreifen von Wundern w\u00fcrde aber nat\u00fcrlich das Hereingreifen irgend welcher psychischer Vorg\u00e4nge in die Naturcausalit\u00e4t die Aufstellung von Zustandsgleichungen unm\u00f6glich machen, sobald sich nur in beiden F\u00e4llen dieses Hereingreifen fremdartiger Kr\u00e4fte darauf beschr\u00e4nkte, irgend welche Transformationen vorhandener Energiewerthe hervorzubringen, nicht aber etwa neue Energiewerthe aus nichts zu schaffen. Diese letztere Bedingung","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Kausalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 31\nist nun, sobald man die eingreifenden fremden Ursachen als solche ansieht, die nach der Analogie ausl\u00f6sender Kr\u00e4fte wirken, erf\u00fcllt. Denn kein Mensch verlangt z. B., dass der Wille, wenn er einen Muskel bewegt, mehr leiste als wozu der in dem Muskel vorhandene Vorrath an potentieller Contractionsenergie ihn bef\u00e4higt.\nDa das Princip der Erhaltung der Energie wegen der Unm\u00f6glichkeit, alle Vorg\u00e4nge in der Natur in ihrer stetigen Verkn\u00fcpfung zu verfolgen,nur zu einem kleinen Theil in Transformationsgleichungen zum Ausdruck gebracht werden kann, bei seiner umfassenderen Durchf\u00fchrung aber sich auf Zustandsgleichungen st\u00fctzen muss, so war es ein sehr ungl\u00fccklicher Gedanke, das Postulat der Abgeschlossenheit der Naturcausalit\u00e4t auf das Princip der Erhaltung der Energie gr\u00fcnden zu wollen1). Alle gegen diese Art der Beweisf\u00fchrung beigebrachten Bedenken sind daher in ihrem vollen Rechte. Aber es wird dabei gew\u00f6hnlich \u00fcbersehen, dass durch die Aufstellung von Zustandsgleichungen, m\u00f6gen wir auch in vielen Gebieten allezeit auf sie beschr\u00e4nkt bleiben, doch keineswegs der Begriff der Naturcausalit\u00e4t irgendwie zureichend bestimmt wird. Diese Gleichungen sind so zu sagen eine Abbreviaturschrift, bei der wesentliche Verbindungsglieder hinwegbleiben, die entweder besonders untersucht oder nach den sonstigen Principien der Naturcausalit\u00e4t erg\u00e4nzt werden m\u00fcssen. Dabei zeigt sich nun, dass eine solche Erg\u00e4nzung, wo sie ausf\u00fchrbar ist, stets auf Kraft- oder Transformationsgleichungen, also auf stetig zusammenh\u00e4ngende und in sich geschlossene Causalreihen zur\u00fcckf\u00fchrt, und dass darum zur Annahme von ausl\u00f6senden Ursachen, welche nicht selbst Naturvorg\u00e4nge sind, d. h. von Kr\u00e4ften, die im Sinne der Naturwissenschaft keine Kr\u00e4fte sind, nirgends ein Spielraum bleibt..\nNun kann man freilich sagen: Was bedeuten die beschr\u00e4nkten Causalverkn\u00fcpfungen, welche Mechanik und exacte Physik auszu-\n1) In philosophischen Arbeiten ist diese Verwechselung des Energieprincips mit dem Causalprincip noch immer gang und g\u00e4be. In diesem Sinne betrachtet z. B. J. Pdzoldt (Vierteljahrsschr. f\u00fcr wiss. Philos. XVIII. S. 49f.) meine Bemerkungen gegen die aus dem Energieprincip gezogenen falschen Schl\u00fcsse als S\u00e4tze, die sich auf das Causalit\u00e4tsprincip selbst beziehen. Solche und \u00e4hnliche Missverst\u00e4ndnisse wandeln sich dann nat\u00fcrlich in ebenso viele \u00bbWiderspr\u00fcche\u00ab um, deren ich mich in d\u00e9n Augen des Autors schuldig mache.","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nW. Wundt.\nf\u00fchren verm\u00f6gen, gegen\u00fcber der ungeheuren Menge derjenigen Erscheinungen, f\u00fcr die uns eine Aufstellung von irgend gen\u00fcgenden Kraft-, Transformations- und zum Theil selbst Zustandsgleichungen nicht gelungen ist? Entzieht sich nicht insbesondere ein gro\u00dfer Theil der physiologischen Vorg\u00e4nge noch ganz und gar einer exacten Causalanalyse? Jene Annahme, dass die Naturcausalit\u00e4t eine in sich geschlossene sei, bleibt immer eine Folgerung von wenigen F\u00e4llen auf alle, also eine Induction von zweifelhaftem Werthe, die zur\u00fcckzustehen hat, wenn uns Thatsachen begegnen, die unmittelbar auf ein Herein greifen andersartiger, insbesondere psychischer Ursachen hinweisen, oder in denen sich umgekehrt eine R\u00fcckwirkung physischer Vorg\u00e4nge auf das psychische Leben ausspricht l).\nGegen diese Betrachtungsweise sind aber zwei Gesichtspunkte geltend zu machen. Erstens ist es eine methodologische Regel, dass die bei der Analyse einfacher Erscheinungen bew\u00e4hrten Prin-cipien auf die Untersuchung zusammengesetzter Vorg\u00e4nge angewandt werden m\u00fcssen, falls sich nicht directe Gr\u00fcnde gegen eine solche Uebertragung nachweisen lassen. Nun sind solche directe Gr\u00fcnde aus der Betrachtung der psychophysischen Wechselwirkungen nicht zu entnehmen. Denn dieselben f\u00fcgen sich vollst\u00e4ndig der Voraussetzung, dass auch sie einen in sich geschlossenen Kreis von Naturvorg\u00e4ngen bilden, insoweit sie der Naturseite dieser Vorg\u00e4nge angeh\u00f6ren, dass aber mit bestimmten physiologischen Processen zugleich und regelm\u00e4\u00dfig gewisse psychische Vorg\u00e4nge verbunden seien, die, weil au\u00dferhalb des Kreises der Naturvorg\u00e4nge stehend, auch dem Princip der Geschlossenheit der letzteren nicht widersprechen. Bei dieser Annahme bleibt demnach das Postulat, dass die physischen Vorg\u00e4nge nur aus andern physischen Vorg\u00e4ngen erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnen, bestehen, \u00fcber die regelm\u00e4\u00dfige Verbindung bestimmter psychischer Elementarerscheinungen mit physiologischen Vorg\u00e4ngen ist aber ebenso gut wie hei der Annahme einer directen psychisch-physischen oder physisch-psychischen Causalit\u00e4t Rechenschaft gegeben. Man sieht ohne weiteres, dass die so formu-lirte Annahme nichts anderes als das Princip des psychophysischen\n1) Sigwart, Methodenlehre. 2. Aufl. S. 531.","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 33\nParallelismus ist, und zwar in der Fassung, in der es, ohne alle Beziehung auf metaphysische Hypothesen, durch die Erfahrung nahe gelegt wird.\nZweitens sind die Fragen der wissenschaftlichen Methodik \u00fcberhaupt nicht nach den Regeln quantitativer, sondern nur nach Erw\u00e4gungen qualitativer Wahrscheinlichkeit zu entscheiden. Betrachtet man auf Grund der Voraussetzung des Princips der Geschlossenheit der Naturcausalit\u00e4t jede Entstehung von Naturvorg\u00e4ngen irgend welcher Art, die nicht auf Kraft- und Transformationsgleichungen zur\u00fcckf\u00fchrt, als Wunder, so ist die Annahme, dass der Wille eines Menschen direct bewegende Kr\u00e4fte der Materie ausl\u00f6sen k\u00f6nne, ebenso gut ein Wunder wie die Annahme, dass sich ein Mensch an einen fernen Ort zu versetzen im Stande sei, ohne dass er physische H\u00fclfsmittel der Ortsbewegung dazu anwendet. Unter dieser Voraussetzung lassen sich aber wieder Wunder von zweierlei Art unterscheiden. Bei den Wundern erster Art wird Energie geschaffen oder vernichtet. Bei den Wundern zweiter Art geschehen die Transformationen der Energie theils durch die Wirkungen von Naturkr\u00e4ften, wo sie an sich immer durch Transformationsgleichungen darstellbar sein m\u00fcssen, theils aber auch durch transcendente d. h. au\u00dferhalb der Naturcausalit\u00e4t gelegene Ursachen, in welchem letzteren Fall sie nur durch Zustandsgleichungen ausgedr\u00fcckt werden k\u00f6nnen. Die Sch\u00f6pfung von Materie aus nichts und die Construction eines Perpetuum mobile w\u00fcrden Wunder der ersten Art sein. Die Annahme, dass das Wollen oder die Vorstellung eines Menschen an und f\u00fcr sich die Macht habe, seinen Arm innerhalb der Grenzen der ihm verliehenen und in der Form latenter chemischer Energien bereit liegenden Contractionskraft. zu bewegen, w\u00fcrde ein Wunder zweiter Art sein. ' H\u00e4lt man daran fest, dass sich zwischen jedem Zustand eines begrenzten materiellen Systems und irgend einem in beliebiger Zeit vorangegangenen Zustand desselben stets eine Zustandsgleichung aufstellen lasse, so ist damit das Wunder der ersten Art f\u00fcr unm\u00f6glich erkl\u00e4rt, und in diesem Sinne schlie\u00dft daher die Annahme des Energieprincips solche Wunder aus. Nimmt man dann weiterhin an, dass zwischen jenem ersten und dem darauf bezogenen, zweiten Zustand eine\nWandt, Philos. Studien. X.\t3","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nW. Wundt.\nReihe von stetig einander folgenden Uebergangszust\u00e4nden vorhanden sein m\u00fcsse, deren jeder vollst\u00e4ndig durch Kraft- und Transformationsgleichungen aus dem unmittelbar vorangegangenen ableitbar sei, so ist damit auch das Wunder der zweiten Art beseitigt. Die regelm\u00e4\u00dfige Beziehung bestimmter psychischer zu bestimmten physischen Vorg\u00e4ngen bleibt jedoch hier so gut wie dort begreiflich, wenn man dieselbe lediglich als eine thats\u00e4chlich gegebene voraussetzt, die an und f\u00fcr sich das Princip der Geschlossenheit der Naturcausalit\u00e4t nicht alterirt. Das ist aber die Voraussetzung des psychophysischen Parallelismus in seiner empirischen Gestalt.\n7 Nun wird offenbar diese Voraussetzung gegen\u00fcber der einer directen psychophysischen Causalit\u00e4t besonders auch noch dann vorzuziehen sein, wenn sich wirklich, sei es auch nur in einzelnen F\u00e4llen, ein Parallelismus psychischer und physischer Vorg\u00e4nge nach-weisen l\u00e4sst. Dies trifft nun unzweifelhaft bei den einfachsten Erscheinungen der Erregung von Sinnesempfindungen durch \u00e4u\u00dfere Reize zu. Die Sinnesreizung l\u00f6st durch rein physiologische Traus-formationsprocesse Nervenerregungen und durch diese wiederum bestimmte physische Vorg\u00e4nge in Sinnescentren aus. Auch auf physische Nachwirkungen dieser centralen Vorg\u00e4nge, die sich der allgemeinen Annahme f\u00fcgen, dass die centralen Erregungen nicht spurlos aus der physischen Welt verschwinden, um in ganz anderer Form in der geistigen wieder aufzutauchen, weisen mannigfache Erscheinungen hin. So unvollkommen also die physiologische Erforschung der hier stattfindenden Umwandlungen sein mag, ihre Existenz kann man doch heute kaum mehr bezweifeln. Zugegeben aber, dass sich mit bestimmten physischen Vorg\u00e4ngen in den Sinnescentren bestimmte Empfindungen in gesetzm\u00e4\u00dfiger Weise verbinden, so sind offenbar die Annahmen, jene beiderlei Vorg\u00e4nge, der physische und der psychische, gingen einander parallel, und die andere, der physische Vorgang wirke auf die Seele ein und veranlasse diese zu Empfindungen, nur verschiedene Ausdr\u00fccke f\u00fcr einen und denselben Thatbestand, die sich in Bezug auf die angenommene physische Seite der Vorg\u00e4nge gar n'cht und hinsichtlich der psychischen Seite nur darin unterscheiden, dass der zweite Ausdruck neben der in sich geschlossenen Kette der physischen Ereignisse auch noch eine Wirkung der letzteren auf die Psyche","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 35\nannimmt, an welcher Wirkung aber nur das regelm\u00e4\u00dfige Zugleichsein psychischer Elementarvorg\u00e4nge mit bestimmten Gliedern eines physiologischen Causalzusammenhangs empirisch ist. Das Princip des Parallelismus beschr\u00e4nkt sich auf den Ausdruck dieser empirischen Thatsache, das Princip der physisch-psychischen Causalit\u00e4t f\u00fcgt zu ihr noch eine metaphysische Annahme hinzu, durch die in diesem speciellen Fall die Thatsache selbst nicht im geringsten deutlicher wird, die jedoch alle Schwierigkeiten erneuert, in die sich unvermeidlich eine Anschauungsweise verwickelt, welche die Seele in eine physischen Einwirkungen zug\u00e4ngliche und ihrerseits solche nach au\u00dfen- hervorbringende, also materielle Substanz umwandelt. Nur darin verh\u00e4lt sich diese Substanz abweichend von andern materiellen Substanzen, dass die auf sie \u00fcbertragenen Kraftwirkungen nicht aus dem Zusammenhang der physischen Kr\u00e4fte verschwinden, dass sich also dieser gerade so verh\u00e4lt, als wenn jene Quelle psychischer Transformation des Reizes gar nicht vorhanden w\u00e4re. Eben das ist es aber, was das Princip des Parallelismus ohne solche metaphysische H\u00fclfsannahmen durch unmittelbare Constatirung der thats\u00e4chlichen Verkn\u00fcpfung ausdr\u00fcckt. Nun ist es freilich hei der umgekehrten, der psychisch-physischen Form, meist nicht in gleicher Weise m\u00f6glich, auf der physischen Seite der Causalverkn\u00fcpfung feste Ausgangspunkte aufzufinden, da jene centralen Vorg\u00e4nge, welche unsere \u00e4u\u00dferen Willenshewegungen vorbereiten, zumeist unbekannt sind. Dennoch muss auch hier die Regel gelten, dass nach den einfacheren F\u00e4llen die verwickelteren beurtheilt werden m\u00fcssen. Hier bilden aber die einfachsten Triebbewegungen offenbar Beispiele einer causalen Willensreihe, die wir uns ohne Schwierigkeit auf physischer Seite auch ohne die Existenz psychischer Vorg\u00e4nge denken k\u00f6nnten. Das augenf\u00e4lligste Zeug-niss daf\u00fcr bildet die Thatsache, dass gewisse einfache Triebhandlungen von v\u00f6llig bewusstlos verlaufenden Reflexbewegungen an ihren \u00e4u\u00dferen Merkmalen h\u00e4ufig gar nicht zu unterscheiden sind. Ja, das Analoge ist hei den zusammengesetzteren Willenshandlungen zu beobachten, wenn diese, wie es in Folge langer Ein\u00fcbung geschieht, automatisch geworden sind. Gewiss werden wir auch nach dem Princip des Parallelismus voraussetzen, dass die centralen Ursachen einer solchen automatischen Bewegung\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nW. Wundt.\nnicht genau \u00fcbereinstimmen mit denen einer bewussten Willenshandlung: es werden hei jener eben solche Glieder ausfallen, an welche die elementaren psychischen Begleiterscheinungen gebunden sind. Aber die Thatsache, dass eine sehr verwickelte Verarbeitung von Reizen zu zweckm\u00e4\u00dfigen Erfolgen ohne jede Betheiligung der Seele durch den rein physischen Mechanismus des Gehirns m\u00f6glich ist, wird wenigstens durch die automatischen Bewegungen sicher bezeugt. Irgend ein erheblicher Grund, hier das Princip der Geschlossenheit des physischen Causalzusammenhangs zu Gunsten der oben erw\u00e4hnten Wunder zweiter Art aufzugeben, ist daher auf dem Boden der physischen Causalverkn\u00fcpfung nirgends zu entdecken.\nNur in einer Form l\u00e4sst sich demnach noch die Annahme einer psychophysischen Causalit\u00e4t von specifischer Art aufrecht erhalten : in der Form n\u00e4mlich, in der sie einerseits mit dem Princip der geschlossenen Naturcausalit\u00e4t vereinbar und anderseits mit dem Princip des Parallelismus identisch ist. Nichts steht n\u00e4mlich im Wege zu sagen: Psychische Effecte physischer Ursachen sind psychische Vorg\u00e4nge, die aus einer physischen Causalreihe derart hervorgehen, dass ihre Entstehung in dem Ablauf jener physischen Reihe keine Ver\u00e4nderung hervorbringt ; und physische Effecte psychischer Ursachen sind physische Vorg\u00e4nge, die mit psychischen Bedingungen regelm\u00e4\u00dfig verkn\u00fcpft sind, dabei aber physisch betrachtet immer auch aus einer physischen Causalreihe vollst\u00e4ndig ableitbar sein m\u00fcssen. Dies ist in der That der Sinn, in welchem wir \u00fcberall in der Psychologie fortan von psychophysischen Causalbeziehungen reden. Es ist aber klar, dass eben dies nur eine andere Ausdrucksform f\u00fcr das Princip des Parallelismus ist, die sich f\u00fcr den praktischen Gebrauch deshalb empfiehlt, weil bei ihr immer zugleich angegeben wird, ob der in Betracht gezogene psychische Vorgang dem zur Ursache oder dem zur Wirkung gerechneten Theil der Causalreihe angeh\u00f6rt. Au\u00dferdem erlaubt es diese Fassung, bei physiologischen Untersuchungen in den vielen F\u00e4llen, wo uns der Verlauf einer Causalreihe in gewissen Gliedern nur auf der psychischen Seite gegeben ist, die psychologischen Erg\u00e4nzungsglieder zu substituiren, um daraus auf die vorauszusetzenden physischen Mittelglieder R\u00fcckschl\u00fcsse zu machen, und hinwiederum in psychologischen Untersuchungen \u00fcberall da, wo die psychischen Mittel-","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 37\nglieder fehlen, die entsprechenden physiologischen zu substituiren, um dann an der entfernten Stelle, wo der Process wieder psychologisch wird, ihn in dieser Form wieder aufzunehmen. Auch dabei zeigt es sich, dass es in Wahrheit das Princip des psychophysischen Parallelismus ist, das im Hintergrund dieses Verfahrens steht, indem wir nach Ma\u00dfgabe desselben die in der Erfahrung fehlenden Theile der psychischen wie der physischen Causalerkl\u00e4rung zu erg\u00e4nzen suchen. Das ist aber f\u00fcr beide Seiten der Lebenserscheinungen von hohem Werth. Im allgemeinen ist man ja viel eher geneigt, innerhalb der psychischen Causalverkn\u00fcpfung L\u00fccken anzuerkennen, da uns fortw\u00e4hrend unsere subjective Erfahrung auf solche L\u00fccken hinweist. Dies ist aber doch nur deshalb der Fall, weil uns das Princip der ununterbrochenen Naturcausalit\u00e4t zu einer eingewurzelten Denkgewohnheit geworden ist, so dass wir die uns fehlenden Glieder des Naturzusammenhangs nach demselben erg\u00e4nzt denken. Betrachtet man unbeeinflusst von solchen Voraussetzungen die Thatsachen selbst, so d\u00fcrfte es sehr zweifelhaft sein, ob die L\u00fccken unseres wirklichen Wissens dort gr\u00f6\u00dfer sind als hier. Man denke doch nur an die wirksame H\u00fclfe, welche die psychologische Analyse unserer Empfindungen der physiologischen Untersuchung der Sinneserregungen leistet, und an die sp\u00e4rlichen Kenntnisse, die wir \u00fcber die physiologischen Substrate der verwickelteren psychischen Processe besitzen, im Vergleich mit der relativ eingehenden Kenntniss, die uns die innere Wahrnehmung von diesen Processen selber verschafft. Im Ganzen f\u00fcgt es sich aber gl\u00fccklich, dass gerade da, wo die Physiologie gegenw\u00e4rtig noch vor auf ihrem Gebiete unl\u00f6sbaren Problemen steht, die Psychologie ihr wenigstens wegweisende Dienste leistet, und dass da, wo die innere Wahrnehmung versagt, weil sich die psychischen Processe in latente psychische Dispositionen umwandeln, umgekehrt die Physiologie mit bestimmten Gesetzen der centralen Innervation aushelfend eintritt. Doch w\u00e4hrend sich die Grenzen der inneren Wahrnehmung fortw\u00e4hrend deutlich bemerkbar machen und verm\u00f6ge des Charakters der Unmittelbarkeit, den unsere innere Erfahrung besitzt, das wirkliche psychische Leben von dem metaphysischen Hintergrund desselben trennen, bedient sich die Interpretation der \u00e4u\u00dfern Erfahrung schon inmitten des Zusammenhangs der einfachsten und anscha- -","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nW. Wundt.\nlichsten Naturvorg\u00e4nge \u00fcberall so sehr der metaphysischen H\u00fclfs-begriffe der Substanz und der substantiellen Causalit\u00e4t, dass wir hier \u00fcber die Grenzen der in exacten Causalgleichungen wiederzugebenden Verbindungen der Erscheinungen auf die Gebiete, wo solches unm\u00f6glich ist und voraussichtlich allezeit nur eine logische Forderung bleiben wird, fast ohne es zu bemerken hin\u00fcbergleiten. Diese logische Forderung darf uns jedoch nicht daran hindern anzuerkennen, dass die Aufgabe, die sie einschlie\u00dft, nicht blo\u00df da eine unvollendbare ist, wo es sich um die Fragen nach dem absoluten Anfang und dem absoluten Ende der Erscheinungen handelt, sondern auch \u00fcberall da, wo die complexe Natur des Einzelnen auf unbegrenzte Reihen causaler Zusammenh\u00e4nge hinausf\u00fchrt.\nFassen wir die Summe dieser Betrachtungen zusammen, so ist demnach das Princip des psychophysischen Parallelismus eine unmittelbare Folgerung aus dem Princip der geschlossenen Natur-causalit\u00e4t, und das letztere beruht wieder auf der Voraussetzung, dass die Form, in der es sich in den einfachsten F\u00e4llen durch Kraft- und Transformationsgleichungen feststellen l\u00e4sst, auch jenseits der Grenzen dieser Feststellung ihre G\u00fcltigkeit bewahre, oder, wie wir das n\u00e4mliche auch ausdr\u00fccken k\u00f6nnen, dass die Eigenschaften, die wir der Materie zuschreiben m\u00fcssen, um eine vollst\u00e4ndige Naturerkl\u00e4rung im Princip zu Stande zu bringen, nur von den beharrenden Elementen der Materie, nicht aber von den mehr oder minder verwickelten Verbindungen abh\u00e4ngig sind, in denen sie Vorkommen. Unter dieser Voraussetzung ist das Parallelprincip der einfachste Ausdruck der Thatsachen der psychophysischen Wechselbeziehungen, w\u00e4hrend die Annahme einer besonderen psychophysischen Causalit\u00e4t lediglich das n\u00e4mliche in der Form ausdr\u00fcckt, dass sie gewissen physischen Ursachen neben ihren nach Naturgesetzen erfolgenden Wirkungen auch noch psychische Wirkungen zuschreibt, die aber auf jene ersteren keinen Einfluss aus\u00fcben, und dass sie ebenso gewissen psychischen Ursachen physische Wirkungen zuschreibt, die gleichzeitig eine von jenen unabh\u00e4ngige physische Ableitung gem\u00e4\u00df den Principien der Naturcausalit\u00e4t erfordern. Jede der l\u00ebtzteren Forderung ,widerstreitende Auffassung der psychophysischen Causalit\u00e4t schlie\u00dft dagegen die Annahme ein, die materielle Substanz k\u00f6nne unter bestimmten Bedingungen ihrer","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00fct und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 39\nZusammensetzung ihre Eigenschaften in dem Sinne \u00e4ndern, dass dabei physikalisch betrachtet ausl\u00f6sende Kr\u00e4fte aus nichts entstehen, oder dass mit andern Worten Wunder zweiter Art m\u00f6glich seien.\nEs ist einleuchtend, dass die Psychologie, falls sie den allgemeing\u00fcltigen Forderungen der Natur erkl\u00e4r ung nicht widersprechen will, von einer psychophysischen Causalit\u00e4t nur in der ersteren Bedeutung, in welcher dieser Ausdruck eben dem Sinne nach mit dem psychophysischen Parallelismus identisch ist, reden kann. Ob man dann die eine oder die andere dieser Ausdrucksweisen gebraucht, ist blo\u00df eine Frage der Zweckm\u00e4\u00dfigkeit. Im allgemeinen wird es sich aber empfehlen den causalen Ausdruck \u00fcberall da zu w\u00e4hlen, wo es sich um die Untersuchung einzelner Vorg\u00e4nge handelt, bei denen auf der Seite der Ursache ein psychischer, auf Seite der Wirkung als EndefFect ein physischer Vorgang empirisch gegeben ist, oder umgekehrt. Wollte man in solchen einzelnen F\u00e4llen psychophysischer Wechselbeziehungen die Ausdrucksweise des Parallelprincips anwenden, so w\u00fcrde dies zu schwerf\u00e4lligen Redewendungen f\u00fchren, die um so \u00fcberfl\u00fcssiger sind, als die physischen Causalglieder, auf die bestimmte psychische Elemente bezogen werden, in der Regel nur unzureichend bekannt sind. Wo dagegen die principielle Feststellung des Verh\u00e4ltnisses in Frage kommt, da wird der Ausdruck des Parallelprincips der angemessenere sein.\nDa dieses Princip nur das thats\u00e4chliche Gehundensein psychischer an physische Vorg\u00e4nge ausdr\u00fcckt, so ist \u00fcbrigens auch der urspr\u00fcngliche Ausgangspunkt desselben wahrscheinlich nicht das allgemeine Postulat der geschlossenen Naturcausalit\u00e4t, sondern lediglich die Beobachtung jener empirischen Beziehungen gewesen. Unsere Empfindungen sind gebunden an physische Erregungen der Sinnesorgane, die Th\u00e4tigkeit unserer Muskeln hei der willk\u00fcrlichen Bewegung ist ebenfalls gebunden an physiologische Vorg\u00e4nge. Diese regelm\u00e4\u00dfige Verkn\u00fcpfung der in letzter Instanz auf die Sinnenwelt bezogenen und in sie eingreifenden psychischen Vorg\u00e4nge mit physischen in unserem Organismus fand in dem Parallelprincip seinen einfachsten Ausdruck, da dieses eben nichts als die Thatsache der regelm\u00e4\u00dfigen Verkn\u00fcpfung selbst enth\u00e4lt. Aber gerade dieses urspr\u00fcnglichste empirische Motiv fordert leicht zu metaphysischen","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nW. Wundt.\nUmdeutungen heraus, f\u00fcr deren Entscheidung es dann an festen Principien gehricht. So lange n\u00e4mlich das Parallelprincip blo\u00df als Ausdruck einer dritten Art empirischer Verkn\u00fcpfung angesehen wird, bleibt die Frage, ob die beiden fndern Verkn\u00fcpfungsweisen der Erscheinungen, die physische und die psychische Cau-salit\u00e4t, jede eine selbst\u00e4ndige sei oder aber durch diese mittlere Form Zusammenh\u00e4ngen, eine offene, und es ist daher metaphysischen Versuchen zur Verbindung jener verschiedenen Formen unter einander der weiteste Spielraum gegeben. So setzte die spiritualistische Metaphysik den Parallelismus unmittelbar in eine der physischen analoge Causalit\u00e4t um, indem sie als aufnehmendes und wirkendes Agens die Seelensubstanz einschaltete : dann konnte die Empfindung, statt als ein die Sinneserregung begleitender, als ein von der Sinues-erregung in der Seele erweckter Vorgang, die Willenshandlung, statt als ein die motorische Erregung begleitendes seelisches Geschehen, als eine unmittelbare Wirkung der Seele auf die Nerven und Muskeln gedeutet werden. Das ist ja die, trotz ihrer Schwierigkeiten und Widerspr\u00fcche, wegen ihrer Uebereinstimmung mit der popul\u00e4ren Vorstellungsweise noch heute von so vielen Philosophen und Psychologen festgehaltene Ansicht. Nicht direct, durch die Bek\u00e4mpfung der ihr zu Grunde liegenden Substanzhypothese, erfuhr dieselbe ihre n\u00e4chsten Anfechtungen, sondern in Folge der zur Herrschaft gelangenden Idee der durchg\u00e4ngigen Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit und Nothwendigkeit des Weltlaufs, die mit der sprungweise die Naturgesetze unterbrechenden Causalit\u00e4t des individuellen Willens unvereinbar schien. Auf dieser Grundlage kam dann der metaphysische Parallelismus Spinoza\u2019s zu Stande, der, weit \u00fcber die in der Erfahrung gegebenen psychophysischen Beziehungen hinausgehend, jedem physischen Sein und Geschehen ein geistiges Abbild gegen\u00fcberstellte, \u2014 eine Verallgemeinerung des Princips, f\u00fcr welche die individuelle Seele nat\u00fcrlich nicht mehr zureichte, sondern die nur in einem transcendenten Intellectus infinitus als dem geistigen Ebenbild der unendlichen \u00e4u\u00dferen Weltordnung Platz fand.\nAbgesehen von der alle Schranken der Erfahrung \u00fcbersteigenden Unendlichkeitsidee und der intellectualistischen Grundanschauung, nach der das geistige Leben ebenso aus Vorstellungen und ihren Verbindungen wie die k\u00f6rperliche Welt aus K\u00f6rpern und","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 41\nihren Bewegungen bestehen soll, liegt -der wesentliche Unterschied dieses metaphysischen von dem empirischen Princip des Parallelismus, dessen sich die Psychologie bedient, darin, dass jenes metaphysische nicht blo\u00df die sinnlichen Einzelinhalte des Bewusstseins als Vorg\u00e4nge betrachtet, denen physische Processe parallel gehen, sondern dass es auch alle geistigen Verkn\u00fcpfungen jener Inhalte als Abbilder ihnen entsprechender physischer Wechselwirkungen auffasst. In dem Satze Spinoza\u2019s \u00bbOrdo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum \u00ab ist sogar auf diese Verkn\u00fcpfung der Hauptnachdruck gelegt, so dass die Ueberein-stimmung der Ideen und der Dinge selbst nur die stillschweigend hinzuzudenkende Voraussetzung zu jener Identit\u00e4t der Verbindungen ist. Nun w\u00fcrde freilich in dieser Form, in der das Verh\u00e4ltniss der k\u00f6rperlichen zur geistigen Welt vollst\u00e4ndig nach Analogie von Gegenst\u00e4nden und ihren Spiegelbildern gedacht wird, heut zu Tage auch der metaphysische Parallelismus nicht mehr aufrecht erhalten werden k\u00f6nnen. M\u00fcssen wir bei der Interpretation der Erscheinungen der k\u00f6rperlichen Welt diese auf Vorg\u00e4nge an einem materiellen Substrate zur\u00fcckf\u00fchren, die gar nicht angeschaut sondern nur begrifflich construirt werden k\u00f6nnen, und von denen daher auch unsere Vorstellungen der Dinge und ihrer Ver\u00e4nderungen, die doch h\u00f6chstenfalls jene Erscheinungen seihst wiederspiegeln, v\u00f6llig verschieden sind, so gewinnt nun der Parallelismus eine v\u00f6llig ver\u00e4nderte Bedeutung. Die geistigen Vorg\u00e4nge sind nicht mehr Abbilder der physischen Vorg\u00e4nge, sondern von ihnen toto genere verschieden, und sie stehen mit ihnen nur in dem Sinne in einer festen Beziehung, dass jedem materiellen Vorgang ein geistiger und jedem geistigen Vorgang ein materieller entspricht. Auf dem Boden dieser Voraussetzung sind dann streng genommen wieder drei metaphysische Annahmen m\u00f6glich. Entweder sind beiderlei Vorg\u00e4nge, die materiellen, blo\u00df begrifflich erschlossenen, und die geistigen, zu einem Theile wenigstens, so weit sie n\u00e4mlich in unsere eigene Seele fallen, unmittelbar erlebten, gleich real; oder die materiellen Vorg\u00e4nge sind allein real, die geistigen sind blo\u00dfe subjective Erscheinungsweisen derselben; oder endlich die geistigen Vorg\u00e4nge als die unmittelbar gegebenen sind die einzig realen, die Materie und die materiellen Processe sind H\u00fclfsbegriffe,","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nW. Wundt.\nderen wir uns blo\u00df zur Verkn\u00fcpfung der objectiven Erscheinungen bedienen. Die erste dieser Anschauungen, die Metaphysik der zwei Substanzen, verzichtet in der heutigen Philosophie durchweg auf das Princip des Parallelismus, das sie durch eine eigenartige psychophysische Causalit\u00e4t zu ersetzen sucht. Die zweite Auffassung ist die materialistische, die dritte die idealistische.\nIch gedenke hier nicht eingehender nachzuweisen, aus welchen Gr\u00fcnden ich eine materialistische Metaphysik f\u00fcr undurchf\u00fchrbar und demnach eine idealistische f\u00fcr allein zul\u00e4ssig halte, theils weil dies in anderem Zusammenhang geschehen ist1), theils und vornehmlich aber weil f\u00fcr die Psychologie \u00fcberhaupt das Princip des Parallelismus nur als ein empirisches in Frage kommt, und wreil man innerhalb der Grenzen, in denen ein Parallelgehen physischer und psychischer Vorg\u00e4nge durch die Erfahrung gefordert wird, die Entscheidung jener metaphysischen Frage ganz auf sich beruhen lassen kann. Wie die empirische Psychologie einerseits nat\u00fcrlich die Realit\u00e4t der geistigen Vorg\u00e4nge voraussetzen, anderseits aber bei der Betrachtung der psychophysischen Beziehungen den Standpunkt der sie erg\u00e4nzenden Naturwissenschaften, der Physik und der Physiologie, acceptiren muss, so muss auch das von ihr angewandte Princip des Parallelismus auf dieser Grundlage stehen. Demnach hat sie dasselbe aber auch in die der empirischen Forschung gebotenen Grenzen, also auf die Vorg\u00e4nge einzuschr\u00e4nken, f\u00fcr welche wirklich ein Parallelgehen physischer und psychischer Vorg\u00e4nge nachweisbar ist. Nach dieser Maxime bleibt jenes Princip erstens auf Bewusstseinsvorg\u00e4nge beschr\u00e4nkt. Zu er\u00f6rtern, ob irgend welchen physischen Processen innerhalb oder au\u00dferhalb des Organismus unbewusste psychische Vorg\u00e4nge parallel gehen, muss der Metaphysik \u00fcberlassen bleiben: f\u00fcr die Psychologie ist das Unbewusste ein Transcendentes, mit dem sie sich niemals zu besch\u00e4ftigen Anlass haben kann, da der Gegenstand ihrer Untersuchung schlechterdings nur die unmittelbare psychische Erfahrung selbst ist. Zweitens hat f\u00fcr die Psychologie die Annahme des Parallelismus nur insoweit eine Berechtigung, als dabei eine zeitliche Coincidenz der elementaren Bestandtheile\n1) System der Philosophie, Abschn. IV, Cap. III.","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismns. 43\nder Bewusstseinsvorg\u00e4nge und bestimmter qualitativ wie quantitativ sich mit ihnen ver\u00e4ndernder physischer Erregungen statuirt wird. Da die Elemente des Bewusstseins stets sinnliche Empfindungen mit an sie gebundenen einfachen sinnlichen Gef\u00fchlen sind, Be-standtheile die in der That in der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung ebenso gut wie in dem abstractesten Begriff Vorkommen m\u00fcssen, welchen letzteren wir uns ohne ein sinnliches Bild absolut nicht im Bewusstsein vergegenw\u00e4rtigen k\u00f6nnen, so liegt eigentlich in dieser sinnlichen Grundlage des Bewusstseins der so definirte Parallelismus schon eingeschlossen, falls man nicht zu der ganz willk\u00fcrlichen Annahm\u00e8 greift, es gebe sinnliche Empfindungen mit physischem Substrat und andere ihnen qualitativ vollst\u00e4ndig gleiche, h\u00f6chstens in vielen F\u00e4llen an St\u00e4rke geringere, die als rein seelische Zust\u00e4nde gedeutet werden m\u00fcssten. Dagegen bezieht sich das Princip des Parallelismus auf die Verbindungs weise der Elemente nur insoweit, als dies in der oben ausgesprochenen zeitlichen Bedingung vorausgesetzt ist. Wenn also elementare psychische Vorg\u00e4nge zeitlich verbunden sind, so m\u00fcssen die ihnen entsprechenden physischen Vorg\u00e4nge ebenfalls zeitlich verbunden sein, oder es muss wenigstens eine zeitliche Coexistenz f\u00fcr die bei der inneren Wahrnehmung entscheidenden Elemente zutreffen. Das n\u00e4mliche gilt in gewissem Ma\u00dfe f\u00fcr die Aufeinanderfolge in der Zeit sowie nat\u00fcrlich f\u00fcr die Regelm\u00e4\u00dfigkeiten der Coexistenz und Folge. Wenn daher zwei Vorstellungen nach einander mit einer gewissen Regelm\u00e4\u00dfigkeit in das Bewusstsein eintreten, so dass die eine die andere nach sich zieht, so wird daraus gewiss zu schlie\u00dfen sein, dass auch die entsprechenden physischen Erregungen einander regelm\u00e4\u00dfig folgen, und dass es neben dem geistigen Band, das wir innerlich wahrnehmen, auch einen physischen Zusammenhang gibt, auf den wir aus jenem zur\u00fcckschlie\u00dfen, und den wir eventuell selbst\u00e4ndig durch das Studium der physiologischen Erregungsprocesse und ihrer Verkettung erforschen k\u00f6nnten.\nZwei Dinge aber stehen g\u00e4nzlich au\u00dferhalb dessen, was sich etwa aus der physischen auf die psychische Seite oder auch aus dieser auf jene nach dem Princip des psychophysischen Parallelismus schlie\u00dfen l\u00e4sst: erstens wird uns keine Verbindung physischer Vorg\u00e4nge \u00fcber die Art der Verbindung psychischer Elemente je","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\nW. Wundt.\netwas lehren k\u00f6nnen, ebenso wenig wie wir umgekehrt aus unseren Vorstellungen die Natur der entsprechenden physiologischen Erregungen und ihrer Verkn\u00fcpfungen zu errathen verm\u00f6chten; und zweitens sind die Werthunterschiede, die wir zwischen den verschiedenen psychischen Gebilden unmittelbar anerkennen, Attribute, die den geistigen Inhalten eigenth\u00fcmlich sind, und denen auf der Naturseite die absolute Werthgleichheit alles Geschehens gegen\u00fcbersteht. Denn Werthhestimmungen, die sich auf physische Objecte beziehen, entstehen immer erst durch die Uebertragung eines geistigen Gesichtspunktes auf sie. Von den Objecten, insofern sie ohne R\u00fccksicht auf diese uns freilich sehr gel\u00e4ufige und darum unbemerkt immer ge\u00fcbte Uebertragung betrachtet werden, gilt genau das was Spinoza von den Dreiecken und Kreisen der Geometrie gesagt hat: sie sind an sich weder gut noch schlecht; erst das menschliche Begehren macht sie dazu. Eben darum war es f\u00fcr eine Metaphysik, welche lehrte, dass nicht blo\u00df die Ideen, sondern auch ihre Verkn\u00fcpfungen und Ordnungen Ebenbilder der Dinge seien, vollkommen folgerichtig, dass sie behauptete, solche Werthurtheile seien \u00fcberhaupt nichtig. Nur dass freilich keine Philosophie Thatsachen aus der Welt schaffen kann, und daher, wo sie dies versucht, nur ein Zeugniss wider sich selbst ahlegt. So ist denn schon die Form, in der wir uns die Dinge vorstellen, ein aus der physischen Erregung nicht zu Begreifendes. Freilich verlegen wir, nachdem wir erst zeitliche und r\u00e4umliche Vorstellungen gebildet haben, nun auch die physischen Parallelvorg\u00e4nge in Zeit und Raum und fassen sie danach auf. Aber welche Ansicht man auch \u00fcber die Bildung der Zeit- und Raumanschauung haben m\u00f6ge, ohne ein Bewusstsein und seine F\u00e4higkeit, eine Synthese der Empfindungen in diesen Formen auszuf\u00fchren, w\u00fcrden weder Zeit noch Raum in den subjectiven Formen, in denen wir sie aus unserer Anschauung kennen, existiren. Ebenso sind aber dann die mannigfachen Ver\u00e4nderungen, denen diese Vorstellungsformen unterworfen sind, zun\u00e4chst immer nur aus den psychischen Bedingungen zu begreifen, unter denen sie in unserem Bewusstsein stehen. Sogar eine so fundamentale Eigenschaft wie die verschiedene Innigkeit der Verbindung zweier psychischer Elemente, also z. B. zweier Empfindungen, wird nicht ohne weiteres auf eine parallelgehende","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Cansalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 45\nN\u00e4he in der Verbindung der entsprechenden physischen Erregungen zu beziehen sein. Wenn sich zwei Tonempfindungen oder eine Ton-und eine Lichtempfindung psychisch auf das innigste verbinden, so werden auch die entsprechenden physischen Erregungen gleichzeitig stattfinden; aber weder eine Erfahrungsinstanz noch das Princip des Parallelismus als solches zwingt uns dazu anzunehmen, dass nun auch zwischen den gleichzeitigen physischen Erregungen irgend eine Art von physischer Verbindung stattfinden m\u00fcsse, welche ein Substrat f\u00fcr den psychologischen Verbindungsprocess bilde. Sobald zwei r\u00e4umlich entfernte Sinnescentren gleichzeitig erregt werden, so sind ja solche Erregungen ebenso gut gleichzeitig gegeben wie diejenigen r\u00e4umlich benachbarter Gebiete; es ist also auch nicht einzusehen, warum sie sich nicht verm\u00f6ge irgend welcher psychischer Eigenschaften, die ihnen zukommen, verbinden sollen. Die gegentheilige Annahme w\u00fcrde, da alle Elemente eventuell in unserem Bewusstsein Verbindungen eingehen k\u00f6nnen, schlie\u00dflich auf nichts anderes als auf den Cartesianischen Seelenpunkt im Gehirn zur\u00fcckf\u00fchren.\nDie f\u00fcr die empirische Anwendung des Parallelprincips ma\u00dfgebenden Gesichtspunkte lassen sich hiernach in folgende S\u00e4tze zusammenfassen :\n1.\tDie letzten Elemente unserer Vorstellungen bestehen in sinnlichen Empfindungen, die, wie sie urspr\u00fcnglich stets von sinnlichen Eindr\u00fccken ausgehen, so auch fortan mit physischen Vorg\u00e4ngen, die regelm\u00e4\u00dfig zeitlich coexistiren, Zusammengehen.\n2.\tUeber die Art der Verbindung dieser Elemente, also \u00fcber die Form der aus ihnen resultirenden Vorstellung sowie \u00fcber die gr\u00f6\u00dfere oder geringere Innigkeit der Verbindung, kann aber das Parallelprincip keinerlei Aufschluss geben. Die einzige Folgerung, die es gestattet, geht dahin, dass einer regelm\u00e4\u00dfigen Coexistenz oder Folge auf der einen eine eben solche auf der andern Seite entsprechen muss. Unsere Art der Auffassung dieser psychischen formen ist jedoch immer erst Product eines Bewusstseinsvorganges, der als solcher mit irgend welchen physischen Vorg\u00e4ngen v\u00f6llig unvergleichbar ist, so dass diese auch \u00fcber jenen keine Rechenschaft geben k\u00f6nnen.","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46\nW. Wundt.\n3. Alle Vorstellungen sind in mehr oder minder ausgepr\u00e4gter Weise mit Werthbestimmungen verbunden, zu denen auf physischer Seite jedes Analogon fehlt. Diese Werthbestimmungen, m\u00f6gen sie nun sinnlicher Art sein oder zu den \u00e4sthetischen, ethischen, intellectuellen Werthen geh\u00f6ren, entbehren sammt den Einfl\u00fcssen, die sie auf den Zusammenhang des geistigen Lebens aus\u00fcben, der parallel gehenden physischen Verh\u00e4ltnisse, da auf die physischen Vorg\u00e4nge, wenn man sie ohne R\u00fccksicht auf das Subject betrachtet, Werthpr\u00e4dicate nicht anwendbar sind. Insofern den Unterschieden der Werthe physische Unterschiede \u00fcberhaupt parallel gehen, wie solches bei den sinnlichen Gef\u00fchlen nachweisbar ist, ermangeln diese dQch \u00fcberall der Eigenth\u00fcmlichkeiten, mittelst deren man \u00fcber ihren psychischen Werth Rechenschaft geben k\u00f6nnte. Wo dies trotzdem versucht wird, indem man z. B. das Lustgef\u00fchl auf die physische F\u00f6rderung, das Unlustgef\u00fchl auf das Gegentheil bezieht, da verlegt man nur das auf psychischer Seite beobachtete Werthpr\u00e4dicat zur\u00fcck in den physischen Vorgang.\nAuf den zwei letzten S\u00e4tzen beruht, wie ich meine, die ganze Berechtigung der Psychologie als Wissenschaft. W\u00e4re richtig was Spinoza behauptete, dass die Ordnung und Verkn\u00fcpfung unserer Ideen nur ein mehr oder minder treues oder verworrenes Abbild der Ordnung und der Verbindung der wirklichen Dinge, und dass die Werthbestimmungen, die unser Denken und F\u00fchlen begleiten, nichts als t\u00e4uschende Trugbilder seien, \u2014 dann w\u00fcrde es ganz gewiss besser gethan sein,, die Dinge seihst, das hei\u00dft die physischen Vorg\u00e4nge in unserem Gehirn zu untersuchen, statt ihre unvollkommenen Abbilder in unserem Bewusstsein. Die endg\u00fcltige Aufgabe der Psychologie w\u00e4re es dann, sich in Physiologie aufzul\u00f6sen.\nIn der That ist diese Auffassung von der Aufgabe der Psychologie seit dem Sieg der mechanischen Weltanschauung innerhalb der Naturwissenschaften immer und immer wieder aufgetaucht. Sie bildet das Programm der materialistischen Psychologie, von den Zeiten Gassendi\u2019s an bis auf unsere Tage. Unverkennbar ist aber, diese materialistische Str\u00f6mung in der Psychologie der neuesten Zeit durch zwei Bedingungen wesentlich verst\u00e4rkt worden: einmal durch die wachsende Geltung, die sich das Princip des psychophysischen","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 47\nParallelismus in seiner empirischen Bedeutung zu erringen wusste; und sodann durch die experimentelle Richtung der modernen Psychologie, gegen\u00fcber der mit Fug und Recht die \u00e4lteren Betriebe dieser Wissenschaft als veraltete gelten d\u00fcrfen. Metaphysisch angehauchte Geister werden immer geneigt sein, dem empirischen das metaphysische Parallelprincip zu substituiren, und sie werden dabei um so lieber zur materialistischen Form desselben greifen, je bescheidener der Besitz der Psychologie an eigenen Einsichten und namentlich an allgemeinen Principien hinter dem imponirenden Reichthum der exacten Wissenschaften zur\u00fccktritt, und je mehr man nebenbei geneigt ist, das gl\u00e4nzende Hypothesengeb\u00e4ude der letzteren als eine unantastbare Wirklichkeit h\u00f6herer Art zu bewundern. Die Anwendung der experimentellen Methode kann ferner, so unsch\u00e4tzbare Dienste sie der Selbstbeobachtung zu leisten vermag, doch auch dazu verf\u00fchren, das H\u00fclfsmittel f\u00fcr die Sache zu nehmen, zu meinen, deshalb weil die Psychologie \u00fcberall der physiologischen Angriffspunkte bedarf, sei ihr letzter Zweck selbst ein physiologischer. Hat aber diese verkehrte Meinung einmal Wurzel gefasst, so l\u00e4sst sie eine sorgf\u00e4ltige und unbefangene Selbstbeobachtung \u00fcberhaupt nicht mehr aufkommen. Denn sie verf\u00fchrt nun dazu, die wahrgenommenen Thatsachen von vornherein nicht nach ihrem eigenen Inhalt, sondern nach den physiologischen Hypothesen oder auch Hirngespinnsten zu beurtheilen, die man sich zu ihrer Interpretation zurecht gemacht hat. So ist von dieser Seite vielleicht mehr als von andern \u00fcberlebten und reaction\u00e4ren oder phantastisch ahirrenden Richtungen her eine gesunde und besonnene Fortentwicklung der Psychologie gef\u00e4hrdet. Dieser Umstand mag es rechtfertigen , wenn ich es versuche, diese Denkweise und die principiellen Fehler, auf denen sie beruht, etwas eingehender zu beleuchten.\nIII. Die materialistische Psychologie.\nGeistige Richtungen, die zu einigem Einfluss gelangt sind, pflegen bekanntlich ihre Wirkungen meist weiter als \u00fcber den Umkreis derer auszudehnen, die sich ausdr\u00fccklich als ihre Anh\u00e4nger bekennen. Wenn ich daher im Folgenden einzelne Beispiele","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48\nW. Wundt.\nmaterialistischer Interpretation Psychologen entnehmen sollte, die ihrer ganzen Anschauungsweise nach auf einem andern Boden stehen, so m\u00f6gen sie dies mit dem angedeuteten Umstande entschuldigen. Ich bek\u00e4mpfe hier \u00fcberhaupt nicht einzelne M\u00e4nner, sondern eine Sichtung \u2014 ich w\u00fcrde, wenn es erlaubt w\u00e4re die Begriffe von Gesundheit und Krankheit auf dieses Gebiet auszudehnen, vielleicht sagen eine geistige Entwickelungskrankheit \u2014 unserer wissenschaftlichen Literatur. Zwar fehlt es nicht an Gelehrten, die auch heute noch grunds\u00e4tzlich und in allen seinen Consequenzen den psychologischen Materialismus vertreten, und an diese werde ich mich nat\u00fcrlich \u00fcberall da zu wenden haben, wo es sich um Principien-fragen handelt. Auch sie gelten mir nicht als pers\u00f6nliche Gegner, sondern als Vertreter von Anschauungen, die ich f\u00fcr verkehrt und \u2014 da alles Verkehrte in der Wissenschaft zugleich sch\u00e4dlich ist \u2014 f\u00fcr sch\u00e4dlich halte, was mich jedoch nicht abh\u00e4lt, ihnen insofern ein relatives Verdienst zuzugestehen, als sie durch die scharfe Betonung der principiellen Seite der Frage zur Aufdeckung der logischen Widerspr\u00fcche und der Unbrauchbarkeit der aufgestellten Hypothesen das meiste beigetragen haben1).\nAlle diese Forscher pflegen nun \u2014 und darin besteht ein eigent\u00fcmlicher Unterschied des modernen psychologischen Materialismus von \u2019demjenigen vergangener Tage \u2014 mit Emphase zu versichern, dass sie die Errungenschaften der neueren Erkenntnisstheorie r\u00fcckhaltlos anerkennen. Nach dieser seien unsere Vorstellungen eigentlich die einzigen f\u00fcr uns realen Dinge, w\u00e4hrend die Existenz einer materiellen Welt au\u00dfer uns h\u00f6chstens eine mittelbare Gewissheit besitze. Aber nach dieser Verbeugung gegen Kant und Schopen-\n1) Da der Ausdruck \u00bbMaterialismus\u00ab so manchmal, namentlich von Philosophen, auf Anschauungen angewandt wird, f\u00fcr die er offenbar unrichtig gew\u00e4hlt ist, so will ich nicht unterlassen zu bemerken, dass ich hier unter materialistischer Psychologie lediglich diejenige Psychologie verstehe, welche die psychischen Vorg\u00e4nge aus physischen ableitet, und f\u00fcr welche die Vertreter dieser Richtung in neuerer Zeit selbst nicht selten den Namen des \u00bbpsychophysischen Materialismus\u00ab gew\u00e4hlt haben. Das Beiwort \u00bbpsychophysisch\u00ab ist insofern kennzeichnend, als man hier, im Unterschiede von \u00e4lteren Gestaltungen der gleichen Denkweise, die Empfindung als psychisches, nicht weiter auf physischem Wege zu erkl\u00e4rendes Element stehen l\u00e4sst. Uebrigens ist es selbstverst\u00e4ndlich, dass der Ausdruck \u00bbMaterialismus\u00ab in diesem ganzen Zusammenhang nur eine theoretische, keine praktische oder ethische Bedeutung besitzt.","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelistnus. 49\nhauer wird dann fortgefahren, die erkenntnisstheoretische Frage k\u00fcmmere den Psychologen als solchen nicht. F\u00fcr ihn seien nun einmal die materiellen Dinge auf der einen Seite und die geistigen Dinge oder unser Bewusstsein auf der andern Seite gegeben, und auf dieser Grundlage habe er zuzusehen, wie sich von den That-sachen des Bewusstseins eine haltbare Erkl\u00e4rung gewinnen lasse. Auf diesem kleinen Umwege ist man also zun\u00e4chst wieder bei der gew\u00f6hnlichen Auffassung angelangt. In der That kann auch ich mich auf den empirischen Standpunkt dieser psychologischen Forscher um so unbefangener stellen, als ich der Meinung bin, durch Kant und Schopenhauer sei die Subjectivit\u00e4t unserer Vorstellungen nicht im entferntesten bewiesen worden, und die Psychologie k\u00f6nne die Existenz der Objecte einfach deshalb ruhig voraussetzen, weil diese Objecte wirklich existiren. Sogar den Ausdruck \u00bbMaterie\u00ab und \u00bbmaterielle Vorg\u00e4nge\u00ab bin ich aber bereit, in diesem Zusammenhang zu acceptiren. Ist die Materie auch ein hypothetischer Begriff, so hat die Psychologie doch kein Recht einen in der Naturwissenschaft unerl\u00e4sslichen H\u00fclfsbegriff zur\u00fcckzuweisen. Nur darf mau freilich nicht glauben, seines hypothetischen Charakters durch das grammatische Kunstst\u00fcck ledig zu werden, dass man das Sub-stantivum vermeidet, um unter dem Titel \u00bbmaterieller Vorg\u00e4nge\u00ab alles das als Wirklichkeit wieder einzuf\u00fchren, was man soeben als hypothetische \u00bbMaterie\u00ab aus dem Fenster geworfen hat1). Eine weitere Frage ist es sodann, ob die Hypothesen \u00fcber die Materie auch im Stande sind das zu erkl\u00e4ren, zu dessen Interpretation sie nicht bestimmt sind, und worauf bei ihrer Bildung nicht die geringste R\u00fccksicht genommen wurde, n\u00e4mlich die psychischen Vorg\u00e4nge. Die materialistische Psychologie, auch die heutige, behauptet dies, sie behauptet es trotz der beiden mentalen Reservationen, dass die \u00e4u\u00dferen Dinge vielleicht gar nicht existiren, und dass die Materie nur ein hypothetisches Ding sei. Hier stand, wie ich meine, der alte Materialismus auf festerem Boden. Er glaubte unverr\u00fcckt an die Realit\u00e4t der Materie und der ihr von den Naturforschern zugeschriebenen molecularen Bewegungen. Waren aber diese einmal als die allgemeine Wirklichkeit anerkannt, so konnten sie\n1) Th. Ziehen, Leitfaden der physiolog. Psychologie. 2. Aufl. S. 1. Wundt, Philos. Studien. X.\t4","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50\nW. Wundt.\n\u00ab\nnat\u00fcrlich auch zur Interpretation jeder einzelnen Wirklichkeit benutzt werden, w\u00e4hrend Hypothesen in der Regel nur so weit reichen, als sie durch Thatsachen fundirt sind.\nDas H\u00fclfsmittel, durch welches man diese Uebertragung auf das psychische Gebiet zu st\u00e4nde bringt, besteht nun erstens in jener Ausdehnung des Princips des psychophysischen Parallelismus, die in dem Satze \u00bbOrdo et connexio idearum idem est ac or do et connexio rerum\u00ab ihren metaphysischen Ausdruck findet, und zweitens in der Voraussetzung, dass eine Umkehrung dieses Satzes nicht zul\u00e4ssig sei. Jedem geistigen entspreche also ein k\u00f6rperlicher, aber keineswegs jedem k\u00f6rperlichen ein geistiger Vorgang. Da aus diesem Grunde der Zusammenhang der Ideen \u00fcberall, der Zusammenhang der Dinge dagegen nirgends L\u00fccken der Causalit\u00e4t darbiete, so bestehe die einzig m\u00f6gliche und berechtigte psychologische Causal-erkl\u00e4rung in der Aufzeigung des Zusammenhangs der physischen Vorg\u00e4nge, die den psychischen parallel gehen.\nAm eingehendsten ist dieser Standpunkt von M\u00fcnsterberg in seiner Schrift \u00bb\u00fcber Aufgaben und Methoden der Psychologie\u00ab1) und an manchen andern Orten begr\u00fcndet worden. Die n\u00e4chste Aufgabe der Psychologie ist, so werden wir hier belehrt, die \u00bbAnalyse der Bewusstseinsinhalte\u00ab. Aber damit ist nicht etwa eine causale Analyse gemeint, wie die Naturwissenschaft sie an ihren Gegenst\u00e4nden ausf\u00fchrt. Eine solche h\u00e4lt der Verfasser theils wegen der vielen L\u00fccken unserer inneren Wahrnehmung f\u00fcr unm\u00f6glich, theils aber auch f\u00fcr \u00fcberfl\u00fcssig. Denn was wir innerlich erleben, werde von uns, insoweit es \u00fcberhaupt in einem psychologischen Causalzusammenhange stehe, ohne weiteres in demselben durch die Selbstbeobachtung wahrgenommen, sei also auch nicht mehr Gegenstand besonderer wissenschaftlicher Nachforschung2). Demnach bleibe die Psychologie auf diesem ihrem eigensten Gebiete bei einer elementaren Analyse st\u00e9hen, welche lediglich das thats\u00e4chliche Vorhandensein der im Bewusstsein gegebenen Elemente d. h. der Empfindungen \u2014 denn diese sind, wie behauptet wird, die einzigen Elemente \u2014 festzustellen habe. Die erweiterte Aufgabe der Psycho-\n1)\tSchriften d. Gesellsch. f. psychol. Forschung. Heft 2. \u2022\n2)\tM\u00fcnsterberg, Beitr. z. experim. Psychologie. Heft I. S. 17.","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 51\nlogie aber, welche dahin geht, nachzuweisen, wie diese durch die Analyse gewonnenen Elemente \u00bbals innerlich nothwendige begriffen werden k\u00f6nnen\u00ab, \u2014 diese Aufgahe sei nur durch die Untersuchung der begleitenden physiologischen Vorg\u00e4nge zu l\u00f6sen').\nMan sieht, dieser Psychologie macht die Frage nach der verwickelten Verkettung der Motive des menschlichen Fuhlens und Flandelns nicht viele Schmerzen, sei es nun, dass sie diese Frage f\u00fcr eine unwissenschaftliche h\u00e4lt, die die Psychologie nichts angehe, sei es, dass sie der Meinung huldigt, zu allen solchen Fragen, auf die man bis jetzt wenigstens wegweisende Antworten von der Psychologie verlangte, werde das Studium der Leitungsbahnen, der Localisationssph\u00e4ren und ihrer muthma\u00dflichen Verbindungen, des Blutlaufs im Gehirn etc., wenn nicht im Augenblick, so doch in einer gl\u00fccklicheren Zukunft die richtigen L\u00f6sungen finden. Nun ist aber klar, dass jene erweiterte Aufgabe der Psychologie nach dieser Auffassung \u00fcberhaupt keine psychologische, sondern nur noch eine physiologische, zum Theil auch eine anatomische ist. Und da die Nachweisung der Elemente des Bewusstseins, welche als engere Aufgabe \u00fcbrig bleiben soll, nur den Zweck hat der nachher kommenden physiologischen Erkl\u00e4rung das erforderliche Material darzubieten, so ist auch dies engere Gebiet blo\u00df ein vorbereitendes H\u00fclfsmittel f\u00fcr gewisse Theile der Physiologie. Man begreift darum nicht recht, wie der Verfasser dazu kommt, am Schl\u00fcsse seines Werkes den Physiologen die Mahnung zuzurufen, sie m\u00f6chten doch endlich einmal anerkennen, \u00bbdass auch die Psychologie eine Wissenschaft ist\u00ab1 2). Wie sie auf Grund dieser Methodenlehre zu einer solchen Meinung kommen sollten, vermag ich nicht einzusehen.\nNun ist es ja freilich richtig, dass der Verfasser trotz dieses principiellen Standpunktes im Verlauf seiner Schrift auch von allen den Dingen handelt, die sonst zu dem Hausrath eigentlich psychologischer H\u00fclfsmittel gerechnet werden, und dass er sogar die Selbstbeobachtung gegen manche wider sie gerichtete Angriffe in Schutz nimmt. Insbesondere meint er, gegen\u00fcber der Behauptung, dass\n1)\tUeber Aufgaben und Methoden der Psychologie. S. 21 ff.\n2)\tEbenda, S. 178.\n4*","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nW. Wundt.\nnur die experimentelle Untersuchung in der Psychologie wegen der hei ihr vorhandenen willk\u00fcrlichen Begrenzung und Wiederholung der Bedingungen eine planm\u00e4\u00dfige Selhstbeohachtung gestatte, gewisserma\u00dfen \u00bbreaction\u00e4re Psychologie\u00ab treiben zu sollen, indem er sich wieder der unmittelbaren, nicht durch experimentelle Bedingungen geregelten Selbstbeobachtung annimmt1). Aber diese soll eine ganz andere Richtung einschlagen als bisher: nicht auf das eigene Selbst, das ja f\u00fcr die psychologische Beobachtung nur aus einer Summe von Empfindungen besteht, sondern auf die Quellen dieser Empfindungen, auf die einzelnen Organe und ihre physiologischen Zust\u00e4nde soll sich die Aufmerksamkeit richten. Darum werden \u00bbbesonders diejenigen psychischen Ph\u00e4nomene, deren Elemente ihre periphere physiologische Bedingung nicht in der Erregung der h\u00f6heren Sinnesorgane, sondern in der Erregung innerer K\u00f6rperorgane, wie Muskeln, Gelenke, Sehnen, Blutgef\u00e4\u00dfe, Eingeweide u.s.w. besitzen, \u2014 und dahin geh\u00f6ren alle so genannten Gef\u00fchle, Triebe, Affecte, innere Th\u00e4tigkeiten, Willensacte, \u2014 sie werden nur von demjenigen innerlich beobachtet werden k\u00f6nnen, der gr\u00fcndliche anatomisch-physiologische Kenntnisse besitzt\u00ab2). In der That, eine sehr merkw\u00fcrdige Regel ! Damit wir beobachten, was in uns vorgeht, soll sich unsere Aufmerksamkeit so sorgf\u00e4ltig wie m\u00f6glich auf gewisse \u00e4u\u00dfere Gegenst\u00e4nde richten, und wenn wir es auch noch fertig bringen, gleichzeitig unsere m\u00fchselig erworbenen anatomisch-physiologischen Kenntnisse zu recapituliren, so scheint das als besonders f\u00f6rderlich f\u00fcr diese Selbstbeobachtung zu gelten.\nNun gibt es zweifellos F\u00e4lle, wo die subjective, also psychologische Beobachtung der physiologischen Untersuchung so zu sagen als F\u00fchrerin gedient hat. Ruht doch heute noch die physiologische Theorie der Ton- und Lichtempfindungen fast ganz auf der sub-jectiven Wahrnehmung der Ton- und Lichtqualit\u00e4ten, und auch f\u00fcr die Untersuchung des Verlaufs und der Endigung der centralen Leitungshahnen hat die Beobachtung entsprechender psychischer Functionsst\u00f6rungen heim Menschen wohl das werthvollste Material geliefert. Aber wo ist denn in der Erfahrung irgend ein Anhalts-\n1)\tUeber Aufgaben und Methoden der Psychologie. S. 64.\n2)\tEbenda, S. 74.","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"lieber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 53\npunkt gegeben, der uns den Schluss erlaubte, dass auf diesem Wege eine vollst\u00e4ndige Interpretation aller psychischen Vorg\u00e4nge, nicht blo\u00df ihrer Empfindungsgrundlagen, sondern auch der Verkn\u00fcpfungsweisen derselben, auf physiologischem Wege m\u00f6glich sein werde? Gerade das Gegentheil ist richtig. F\u00fcr alles das, was den geistigen Gehalt unseres inneren Lebens ausmacht, fehlt auch die entfernteste M\u00f6glichkeit im eigentlichen Sinne physiologisch interpretiren zu k\u00f6nnen. Schon im Gebiet der einfachen Sinneswahrnehmung beginnt diese Schranke. Die Verh\u00e4ltnisse des \u00e4u\u00dferen Geh\u00f6rapparates und der Acusticusleitung m\u00f6gen es uns z. B. verst\u00e4ndlich machen, dass T\u00f6ne verschiedener H\u00f6he unterschieden und gleichzeitig getrennt empfunden werden, oder auch dass bei gewissen Schwingungsdifferenzen der T\u00f6ne St\u00f6rungen der Empfindung entstehen. Dennoch wird sich die Harmonie und Disharmonie ebenso wenig blo\u00df mit H\u00fclfe jener physiologischen Verh\u00e4ltnisse vollst\u00e4ndig psychologisch definiren oder in ihrer Wirkung erkl\u00e4ren lassen, wie j sich etwa f\u00fcr Denjenigen, der nie T\u00f6ne geh\u00f6rt hat, die Qualit\u00e4t\neines Tones mittelst der optischen Demonstration von Luftschwin-\ngungen erzeugen lie\u00dfe. Die materialistische Psychologie ignorirt solche Einw\u00e4nde einfach auf Grund der zwei Postulate, dass der gesammte Bewusstseinsinhalt aus einzelnen Empfindungen bestehe, und dass alle Verbindungen von Empfindungen nur physiologisch erkl\u00e4rbar seien. Nach diesen Postulaten sollen sich alle Methoden richten. Diese sollen nicht die Thatsachen untersuchen, wie sie sich der m\u00f6glichst unbefangenen Beobachtung darbieten, sondern die Thatsachen, wie sie sich unter der Voraussetzung der G\u00fcltigkeit jener Postulate verhalten m\u00fcssen. Nun anticipiren aber diese augenscheinlich das Ergebniss der Untersuchung. Wird das Hauptproblem von vornherein als gel\u00f6st betrachtet, so ist nat\u00fcrlich auch die Richtung bestimmt, in der die L\u00f6sung jeder einzelnen Aufgabe erfolgen muss. Demnach ist diese Methodenlehre im wesentlichen nur eine Anweisung, wie man verfahren m\u00fcsse, um die a priori aufgestellten Forderungen in jedem einzelnen Falle best\u00e4tigt zu finden. Unter dieser Voraussetzung erf\u00fcllt das Buch seinen Zweck. Es fasst die Probleme consequent nur unter dem Gesichtspunkt auf, der f\u00fcr sie nach Anleitung jener allgemeinen metaphysischen Voraussetzung ma\u00dfgebend ist. Dass aber auf diesem Wege f\u00fcr die Psycho-","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"54\nW. Wundt.\nlogie nichts herauskommen kann, ist selbstverst\u00e4ndlich; und dass hei der fraglichen Natur der hier empfohlenen Art von Selbstbeobachtungen und Experimenten auch die Physiologie leer ausgeht, ist von vornherein wahrscheinlich. Da die Selbstbeobachtung, wie wir geh\u00f6rt haben, wesentlich die Aufgabe haben soll, k\u00f6rperliche Zust\u00e4nde zu beobachten, so kann sie auch immer nur einzelne Empfindungen beobachten, \u2014 dies ist aber nach den allgemeinen Postulaten des Verfassers das zu erwartende Ergebniss, und folglich hat die Selbstbeobachtung, die zu diesem Ergebnisse kommt, ihren Zweck erreicht. Sie musste ihn erreichen, weil sie von vornherein gar keinen andern hatte.\nIn dieser Beleuchtung wird nun eine Thatsache einigerma\u00dfen verst\u00e4ndlich, die den mit den Schwierigkeiten der Probleme vertrauten Leser in Staunen versetzen k\u00f6nnte. M\u00fcnsterberg geht an keine Aufgabe ohne eine theoretische Discussion der zu erwartenden Ergebnisse vor der Untersuchung. Gewiss ist das an sich nur zu loben: es ist immer besser planm\u00e4\u00dfig die Arbeit zu beginnen, als \u00bbnur zahlenm\u00e4\u00dfiges Material f\u00fcr allerlei bunt zusammengew\u00fcrfelte Probleme anzuh\u00e4ufen\u00ab1). So sehr ich aber dies Programm im allgemeinen billige, so meine ich doch, dass es nur dann ohne Bedenken ist, wenn man jederzeit bereit ist sich durch die Thatsachen eines bessern belehren zu lassen. Eine Untersuchung soll planm\u00e4\u00dfig, sie soll aber vor allem auch vorurtheilslos sein. Nun zweifle ich nicht im mindesten, dass M\u00fcnsterberg die Absicht hatte das zu sein; aber auf Grund der von ihm vorgelegten Untersuchungen zweifle ich, ob er diese Absicht erreicht hat. Denn es ist mir keine einzige unter diesen Untersuchungen vorgekommen, in der nicht das Ergebniss die Richtigkeit der vorausgegangenen Vermuthung best\u00e4tigt h\u00e4tte. Was das sagen will, kann man ermessen, wenn man bedenkt, wie oft selbst die gr\u00f6\u00dften Heroen der Naturforschung, ein Kepler, Galilei, Faraday u. A., zuerst irregef\u00fchrt durch falsche vorl\u00e4ufige Hypothesen, sich zu einer Berichtigung ihrer anf\u00e4nglichen Annahmen entschlie\u00dfen mussten. Diesem gl\u00fccklichen Experimentator dagegen schl\u00e4gt keine Vermuthung fehl, sie mag noch so neu und vielleicht f\u00fcr einen unbefangenen\n1) Beitr\u00e4ge zur experim. Psychologie. Heft I. S. 4.","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Priucip des psychophysischen Parallelismus. 55\nZuschauer unwahrscheinlich sein. Fast k\u00f6nnte man auf den Gedanken gerathen, Beobachten und Experimentiren seien \u00fcberhaupt \u00fcberfl\u00fcssige M\u00fchewaltungen, weil hei ihnen doch immer nur das herauskommt was man vorher schon wei\u00df. Aber diese wunderbare Treffsicherheit wird noch merkw\u00fcrdiger, wenn man in Betracht zieht, dass von einer besonderen Sorgfalt in der Anstellung der Versuche gar nicht die Bede ist. Die schwierigsten psychologischen Zeitmessungen z. B., die nach der Ansicht Anderer die gr\u00f6\u00dften Vorsichtsma\u00dfregeln zur Abhaltung st\u00f6render Nebeneinfl\u00fcsse erfordern, werden ohne alles das, etwa in gr\u00f6\u00dferer Gesellschaft, als sogenannte \u00bbKettenversuche\u00ab1), vorgenommen. Von Fehlerelimination ist nicht die Rede, oder die zu diesem Behuf angewandten Proceduren stimmen wenigstens mit den in den exacten Wissenschaften erprobten Methoden nicht \u00fcberein2). Mit andern Worten: diese Versuche haben Eigenschaften, verm\u00f6ge deren sie in den H\u00e4nden eines gew\u00f6hnlichen Beobachters v\u00f6llig unbrauchbares Material liefern w\u00fcrden. Hier verwandeln sie sich regelm\u00e4\u00dfig in gl\u00e4nzende Best\u00e4tigungen der vorausgegangenen Hypothesen. Nun hin ich weit entfernt zu glauben, dass die Versuche nicht mit der gr\u00f6\u00dften Zuverl\u00e4ssigkeit ausgef\u00fchrt und aufgezeichnet worden w\u00e4ren, und dass ihnen nicht die volle subjective Ueberzeugung des Experimentators von ihrer Wahrheit zur Seite stehe. Aber ich meine doch, dass sich an dieser Stelle das Streben, die Selbstbeobachtung durch die concentrirte Lenkung der Aufmerksamkeit auf Muskeln, Sehnen, Eingeweide u. s. w. zu verbessern, empfindlich ger\u00e4cht hat. Ich m\u00f6chte vermuthen, dass einem Beobachter, der sich der alten, ganz gew\u00f6hnlichen Selbstbeobachtung bedient h\u00e4tte, trotz ihrer Unsicherheit doch vielleicht der merkw\u00fcrdige Einfluss nicht ganz\n1)\tBeitr\u00e4ge zur experim. Psychologie. Heft IV, S. 40 ff.\n2)\tEine eingehendere Mittheilung der Versuche, welche dem Leser ein eigenes Urtheil \u00fcber ihre Zuverl\u00e4ssigkeit und eventuell eine Nachpr\u00fcfung derselben gestattet, wird nebenbei f\u00fcr \u00fcberfl\u00fcssig erkl\u00e4rt, weil ein gewisses pers\u00f6nliches Ver-' trauen Jeder beanspruchen d\u00fcrfe, der \u00fcber Experimente Bericht erstattet (Aufgaben und Methoden der Psychol. S. 147). Aus dieser Aeu\u00dferung k\u00f6nnte man schlie\u00dfen, in der Physik und namentlich in der Astronomie, wo bekanntlich die Mittheilung der Beobaehtungsergebnisse die sorgf\u00e4ltigste zu sein pflegt, sei ein besonderer Anlass zu einem solchen pers\u00f6nlichen Misstrauen vorhanden. Ich glaube nicht, dass dieser Verdacht gerechtfertigt ist.","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"56\nW. Wundt.\nentgangen w\u00e4re, den vorgefasste Meinungen auf unsere Wahrnehmungen auszu\u00fchen pflegen. Ebenso w\u00fcrde vielleicht manche Versuchsmethode und mancher Vorschlag zu einer solchen unterblieben sein, wenn der Verfasser dieser Psychologie der Selbstt\u00e4uschungen etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt h\u00e4tte: so z. B. das Verfahren, den Einfluss der Blutdurchstr\u00f6mung des Gehirns auf Beagiren, Asso-ciiren, Sprechen und andere psychische Functionen dadurch zu ermitteln, dass man diese Functionen in verschiedener K\u00f6rperstellung, z. B. bei seitlicher Kopfhaltung, ausf\u00fchrt1), und manches andere.\nDoch ich breche hier ah. Meine Absicht war es nicht, eine Kritik dieser Versuchsmethoden und Versuchs Vorschl\u00e4ge zu geben, \u2014 um so weniger als das schon von anderer Seite zur Gen\u00fcge geschehen ist. Ich w\u00fcnschte nur auf einen Punkt die Aufmerksamkeit zu lenken, der, wie mir scheint, nicht die verdiente Beachtung gefunden hat, darauf n\u00e4mlich, dass die Fehlerhaftigkeit der Methoden in diesem Fall auf das engste an den allgemeinen Standpunkt der materialistischen Psychologie gekn\u00fcpft, und dass daher in diesem Sinne in dem Mangel der Methodik selber gewisserma\u00dfen Methode ist, n\u00e4mlich eben die Methode, zu der die materialistische Psychologie durch die Consequenz ihres Grundgedankens nothwendig gef\u00fchrt wird. Es ist zuzugeben, dass die individuelle Ausf\u00fchrung manches dazu beigetragen haben kann, die Fehler augenf\u00e4lliger hervortreten zu lassen. Aber principiell ist es doch nicht die Ausf\u00fchrung, sondern der allgemeine Standpunkt, der die Verkehrtheit der Methoden nach sich zieht, und insofern kann ich es daher von meinem Standpunkte aus nur als eine gl\u00fcckliche F\u00fcgung betrachten, dass die Art der Ausf\u00fchrung allerdings geeignet ist, jene M\u00e4ngel in ein deutlicheres Licht zu stellen.\nDoch es gibt noch eine zweite, vielleicht wichtigere Seite, von der aus die leitenden Gedanken psychologischer Interpretation einer Pr\u00fcfung ihres sei es f\u00f6rdernden sei es hemmenden Einflusses auf den Fortschritt der Wissenschaft unterzogen werden k\u00f6nnen. Sie besteht in den einzelnen Erkl\u00e4rungsversuchen, durch die man die Thatsachen der psychologischen Erfahrung dem Verst\u00e4ndnisse n\u00e4her zu bringen sucht, und in der allgemeinen F\u00e4hig-\n1) Ueber Aufgaben und Methoden der Psychologie. S. 165.","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"Lieber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 57\nkeit, der Aufgabe der Psychologie gerecht zu werden, die sich in diesen Versuchen ausspricht. Das ist zugleich der Punkt, wo die materialistische Str\u00f6mung, die heute von einer gewissen Richtung der experimentellen Psychologie ausgeht, weit \u00fcber die ausdr\u00fccklichen Bekenner dieser Anschauung hinausgreift. Es pflegt dann zuweilen diese Zwischenstellung unter dem Gesichtspunkte gerechtfertigt zu werden, dass f\u00fcr die h\u00f6heren psychischen Functionen und insbesondere f\u00fcr die logische und erkennende Gedankenth\u00e4tig-keit andere Principien g\u00fcltig seien als f\u00fcr das sinnliche Seelenleben. Nat\u00fcrlich ist eine solche Theilung der Gebiete wenig vor-theilhaft f\u00fcr die einheitliche Auffassung des psychischen Lebens, und sie bringt in der Regel in diese einen unleidlichen Dualismus halb materialistischer halb logischer Interpretationskunst, die beide aus verschiedenen Gr\u00fcnden ihr Ziel verfehlen: die eine weil sie sich in physiologischen Hypothesen ersch\u00f6pft, die gar keinen psychologischen und meist auch keinen physiologischen Werth haben, die andere weil sie nicht \u00fcber das Auskunft gibt was wirklich in der Seele geschieht, sondern nur \u00fcber das was der betreffende Psychologe dar\u00fcber reflectirt hat.\nDie einzelnen Erkl\u00e4rungsversuche der materialistischen Psychologie stimmen nat\u00fcrlich alle in dem Merkmal \u00fcberein, dass sie psychische Vorg\u00e4nge auf physiologische Vorg\u00e4nge zur\u00fcckf\u00fchren und damit auch ihre psychologische Interpretation f\u00fcr vollst\u00e4ndig geleistet ansehen. Der Arten dieser Reduction des Psychischen auf das Physische lassen sich aber wieder zwei unterscheiden. Die eine reducirt psychische Vorg\u00e4nge irgend welcher Art auf einfache Empfindungen und mittelst der letzteren, nach dem Satze dass jeder Empfindung ein physiologischer Reiz parallel geht, auf \u00e4u\u00dfere oder innere physiologische Reize. Die andere bezieht sich auf verwickeltere psychische Vorg\u00e4nge, von denen man von vornherein anerkennt, dass sie auf einfache Empfindungen nicht zur\u00fcckgef\u00fchrt werden k\u00f6nnten: solche verwickeltere Vorg\u00e4nge reducirt man dann allgemein auf Mit erregungen und auf physiologische Nervenverbindungen, durch die solche Miterregungen vermittelt werden sollen. Als typische physiologische Vorbilder der Miterregungen gelten die Reflexbewegung und die Mitempfindung. Aus","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"58\nW. Wundt.\nder ersteren werden alle psychischen Vorg\u00e4nge erkl\u00e4rt, die irgendwie schlie\u00dflich in k\u00f6rperlichen,Bewegungen ihren Ausdruck finden, wie z. B. die Willenshandlungen; aus der letzteren diejenigen Vorg\u00e4nge, die sich psychologisch betrachtet als blo\u00df innere, so genannte reine Bewusstseins Vorg\u00e4nge, abspielen, wie z. B. Associationen, Phantasie- und Verstandesth\u00e4tigkeiten. Im allgemeinen kann man sagen, dass die Tendenz obwaltet, unter diesen die Phantasie- und Ver-standeshandluugen zun\u00e4chst auf Associationen und dann weiterhin die letzteren wieder hypothetisch auf Miterregungen, wie Irradiationen des Reizes, Mitschwingen von Ganglienzellen u. dergl., zu reduciren. In der Vertheilung der Probleme \u00fcber diese verschiedenen Interpretationsgebiete macht sich ferner das Princip der Einfachheit geltend. Im allgemeinen herrscht n\u00e4mlich der Grundsatz: wo etwas m\u00f6glicher Weise auf eine einfache Empfindung (eventuell auch auf den blo\u00dfen Mangel von Empfindungen, also im eigentlichsten Sinne auf nichts) zur\u00fcckgefiihrt werden kann, da ist diese Interpretation jeder andern vorzuziehen; zu Miterregungen greift man nur da, wo man ihrer nicht entbehren kann, lieber das Ma\u00df dieser Entbehrlichkeit existiren aber Meinungsunterschiede: manche Psychologen glauben mit einfachen Empfindungen auszureichen, wo andere zu Miterregungen greifen ; oder manche glauben gewisse Vorg\u00e4nge aus irgend einer der bekannten Sinneserregungen ableiten zu k\u00f6nnen, wo andere eine specifische Art von Empfindungen annehmen. Alle diese Unterschiede sind aber im Grunde unwesentlich gegen\u00fcber der alle diese Versuche durchziehenden Grundtendenz: der eigentlich psychischen Seite des Vorgangs g\u00e4nzlich ledig zu werden zu Gunsten irgend welcher greifbarer, in der That aber meistens hypothetischer physiologischer Vorg\u00e4nge. Um den wirklichen Erkl\u00e4rungswerth dieser verschiedenen Arten \u00fcblicher Interpretation zu ermessen, wird es n\u00fctzlich sein, jede derselben an einigen Beispielen zu erl\u00e4utern.\nBeginnen wir mit der Reduction psychischer Vorg\u00e4nge auf einfache Empfindungen, so bieten sich hier vor allem Zeit- und Raumanschauung als die f\u00fcr eine solche Reduction besonders geeigneten psychischen Thatsachen dar. Da die Zeitvorstellung im allgemeinen immer im Bewusstsein ist, und da Empfindungen ebenfalls immer in demselben existiren, so hat es","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 59\nanscheinend keine Schwierigkeit eine besondere Zeitqualit\u00e4t der Empfindungen anzunehmen, die ihnen urspr\u00fcnglich anhafte, und von der man vermuthet, dass sie an die nothwendige Kraftconsum-tion der Sinnesnerven gekn\u00fcpft sei. So sollen wir einen Glockenschlag von dem ihm folgenden, ein Erinnerungsbild von einer Wahrnehmung oder einem willk\u00fcrlichen Phantasiebild unmittelbar mittelst der Zeitqualit\u00e4t der Eindr\u00fccke unterscheiden *). Neben dieser Annahme, dass jede Empfindung Zeitqualit\u00e4t besitze, ist aber auch die andere aufgetaucht, dass sich nur gewisse Empfindungen, die mehr oder minder constant in unserem Bewusstsein sind, durch dieselbe auszeichnen. Speciell den Spannungsempfindungen der Muskeln wird diese wichtige Bolle zugeschriehen : sie sollen durch ihre wechselnde Ah- und Zunahme, die wir aber nicht auf die Muskeln selbst sondern eben auf dieses eigenth\u00fcmliche neue Quale Zeit beziehen, die Zeitempfindung veranlassen. Da die n\u00e4mlichen Spannungsempfindungen angeblich auch das sind was wir \u00bbAufmerksamkeit\u00ab nennen, so erkl\u00e4re sich hieraus die bekannte Thatsache, dass die Dichtung der Aufmerksamkeit auf die Zeit die Vorstellung der Dauer derselben deutlicher macht1 2). Wie man sieht erkl\u00e4ren diese Theorien die Zeitvorstellung, indem sie sie einfach als urspr\u00fcnglich vorhanden annehmen und nebenbei auf irgend einen physiologischen Process, wie die organische Consumtion im allgemeinen oder den Wechsel der Muskelcontractionen, hinweisen, ohne dass aber n\u00e4her nachgewiesen wird, wie aus diesen physiologischen Vorg\u00e4ngen Zeitanschauung hervorgehen soll3). Jedenfalls hat die zweite dieser Theorien wenigstens den Vorzug, dass sie einen EmpfindungsWechsel als Bedingung der Entstehung von Zeitvorstellungen constatirt: darin verr\u00e4th sich immerhin psychologische Einsicht, obgleich freilich \u00fcber die Art, wie der Wechsel der Empfindungen hier die Vorstellung vermittelt, g\u00e4nzlich hinweg-gegangen wird und principiell hinweggegangen werden muss, da ja alles was aus der Verbindung unserer Empfindungen entspringt nur physiologisch, aber nicht psychologisch erkl\u00e4rbar sein soll. Die\n1)\tMach, Beitr\u00e4ge zur Analyse der Empfindungen. S. 104f.\n2)\tM\u00fcnsterberg, Beitr\u00e4ge. Heft IL S. 25.\n3)\tVergl. die eingehende Kritik dieser und \u00e4hnlicher Theorien bei E. Meu-mann, Phil. Stud. VIII. S. 432ff.","page":59},{"file":"p0060.txt","language":"de","ocr_de":"60\nW. Wundt.\nTheorie der unmittelbaren Zeitqualit\u00e4t jeder Empfindung verzichtet selbst auf diesen Schatten psychologischen Verst\u00e4ndnisses. Warum von den zwei Glockenschl\u00e4gen der eine als fr\u00fcher, der andere als sp\u00e4ter aufgefasst wird, und warum auch noch die leere Zwischenzeit zwischen ihnen mit dieser Zeitqualit\u00e4t versehen ist, wie endlich \u00fcberdies auf dieselbe verschiedene psychologische Momente einen sehr erheblichen Einfluss besitzen, alles dies l\u00e4sst sie v\u00f6llig dunkel. Auch ist es merkw\u00fcrdig, dass vom Standpunkte dieser Theorie aus zuweilen noch die Empfindungen als einfache d. h. nicht zerlegbare Bestandtheile des Bewusstseins definirt werden, ohne dass man angibt, wie gro\u00df denn die einfachen, nicht weiter zerlegbaren Zeitqualit\u00e4ten seien.\nDurchaus verwandt dem Problem der zeitlichen ist das der r\u00e4umlichen Vorstellungen. Dass die materialistische Psychologie einen psychologischen Entstehungsprocess der r\u00e4umlichen Vorstellungen ebenfalls nicht zugeben kann, ist selbstverst\u00e4ndlich. Auch haben hier ja die nativistischen Theorien der Physiologen vorgearbeitet. Freilich, wenn man was die Physiologie geleistet mit dem vergleicht was die auf dem gleichen Boden stehende Psychologie zu Tage gef\u00f6rdert hat, so f\u00e4llt ein solcher Vergleich nicht zu Gunsten der letzteren aus. Ich halte z. B. Hering\u2019s Theorie des r\u00e4umlichen Sehens f\u00fcr undurchf\u00fchrbar; ich glaube, dass sie sich in Widerspr\u00fcche verwickelt und ohne die nachtr\u00e4gliche H\u00fclfe psychologischer Momente doch nicht auskommt. Aber man muss aner-kennen, dass sie mit dem vollen Bewusstsein der gestellten Aufgabe und der mannigfachen Einzelprobleme, die diese mit sich bringt, ausgef\u00fchrt ist, so dass auch wer ihr nicht zustimmt doch in methodischer Beziehung manches aus ihr lernen kann. Was man aber aus den entsprechenden nativistischen Aeu\u00dferungen moderner Psychologen lernen k\u00f6nnte, w\u00fcsste ich nicht zu sagen. Sie begn\u00fcgen sich durchweg mit der Versicherung, jede einfache Empfindung des Tast- und Gesichtssinns habe neben ihrer sonstigen Qualit\u00e4t auch eine Raumqualit\u00e4t. Wodurch es aber kommt, dass diese Raumqualit\u00e4t nichts fest gegebenes ist, sondern in sehr wechselnder Weise zu Fl\u00e4chen- und Tiefenvorstellungen verarbeitet wird, kurz das eigentlich psychologische Problem bleibt uner\u00f6rtert, falls man sich nicht etwa auch hier mit jener ungl\u00fccklichen Verquickung von","page":60},{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalitiit und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 61\nLogik und Physiologie behilft, bei der die Psychologie selber leer ausgeht. Nat\u00fcrlich wird \u00fcbrigens die Raumqualit\u00e4t entweder auf irgend einen unbekannten Nervenprocess zur\u00fcckgef\u00fchrt, der sich gerade mit den Tast- und Gesichtseindr\u00fccken verbinden soll, oder sie wird wieder als eine specifische Eigenschaft der Muskelempfindungen angesehen, so dass wir nach dem oben bei der so genannten Zeitempfindung Bemerkten die einfache Gleichung erhalten: Muskelempfindung = Aufmerksamkeit = Zeitempfindung = Raumempfindung.\nDa auch das Selbstbewusstsein und, wie wir unten sehen werden, die Gef\u00fchle und der Wille noch weitere Glieder dieser Gleichung bilden, so scheint hier die ganze Psychologie dazu bestimmt zu sein, einen Appendix zur Lehre von der Muskelcontrac-tion abzugeben.\nNeben der Zeit- und Raumqualit\u00e4t gibt es noch andere, mehr wechselnde Eigenschaften der Empfindung, die man zun\u00e4chst auf Empfindungsqualit\u00e4ten und dann mittelst dieser auf imagin\u00e4re Nervenprocesse zur\u00fcckzuf\u00fchren pflegt. H\u00f6ffding hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die gew\u00f6hnliche Auffassung des sinnlichen Wiedererkennens eines Gegenstandes, welche dieses aus der Vergleichung des Eindrucks mit einem Erinnerungsbild ableitet, in der Beobachtung gar keine St\u00fctze findet. Aber die L\u00f6sung, die er selbst gibt, indem er annimmt, dass sich mit der Empfindung des bekannten Eindrucks unmittelbar eine \u00bbBekanntheitsqualit\u00e4t\u00ab verbinde, die wieder auf einer besonderen durch die Uebung entstandenen Modification der \u00bbMolecularbewegung\u00ab in den Nerven beruhe1), \u2014 diese L\u00f6sung sucht offenbar den psychologischen Inhalt des\n1) H\u00f6ffding, Psychologie. DeutscheUebers. 2. Aufl. S. 163. \u2014 Uebrigens zeichnen sich H\u00f6ffding\u2019s Untersuchungen \u00fcber das Wiedererkennen durch manche treffliche psychologische Beobachtungen aus. Auch ist dieser Forscher durchaus nicht den principiellen Vertretern der materialistischen Psychologie zuzurechnen. Gerade dies aber scheint mir bezeichnend f\u00fcr das \u00fceher wuchern hypothetischer und psychologisch unfruchtbarer physiologischer Erkl\u00e4rungsversuche in der heutigen Literatur, dass selbst so vorz\u00fcgliche und unbefangene Psychologen wie H\u00f6ffding sich nicht ganz von denselben freihalten k\u00f6nnen, und dies bei Gelegenheiten, bei denen eine psychologische Interpretation doch, \"wie ich meine, weit n\u00e4her liegen und von vornherein den Vorgang mit andern verwandten psychologischen Processen in Beziehung bringen w\u00fcrde.","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"62\nW. Wundt.\nProblems auf eine vorl\u00e4ufig und wahrscheinlich f\u00fcr immer unl\u00f6sbare physiologische Aufgabe zur\u00fcckzuf\u00fchren. Da die Empfindungsqualit\u00e4ten letzte, nicht weiter abzuleitende Thatsachen sind, so ist ja mit jeder Reduction auf eine solche immer zugleich der Verzicht auf ein psychologisches Verst\u00e4ndniss ausgesprochen.\nIst dieser Versuch der Reduction auf eine Empfindungsqualit\u00e4t und mittelst ihrer auf einen specifischen Nervenprocess, abgesehen von diesem einfachen Beispiel des Wiedererkennens, bis jetzt nicht weiter auf die zusammengesetzteren Vorstellungs- und Erkenntniss-processe ausgedehnt worden, so bieten dagegen die Gef\u00fchle und Affecte um so gel\u00e4ufigere Objecte solcher Interpretationskunst. Zun\u00e4chst wird der Gef\u00fchlston der Empfindung als eine derselben urspr\u00fcnglich eigene Qualit\u00e4t aufgefasst, die bei schwachen Reizen den Charakter von Lust-, bei starken den von Unlustgef\u00fchlen habe, \u00fcberdies aber auch von der sonstigen Qualit\u00e4t der Empfindung abh\u00e4ngig sei; und dann wird versichert, dass alle h\u00f6heren Gef\u00fchle, also insbesondere die \u00e4sthetischen und ethischen, aus einer blo\u00dfen Summation solcher Empfindungst\u00f6ne und ihrer Erinnerungsbilder hervorgingen. Dies gelingt nat\u00fcrlich um so leichter, je vager von vornherein der Begriff der Empfindung gehalten wird. So liest man z. B. Auseinandersetzungen wie die folgenden: \u00bbDie Vorstellung der Dankbarkeit oder irgend einer andern Tugend w\u00fcrde niemals mit positivem Gef\u00fchlston von uns verkn\u00fcpft werden, wenn wir nicht \u00fcber Handlungen der Dankbarkeit, die wir gesehen oder die wir geh\u00f6rt, kurzum die wir empfunden haben, uns einmal gefreut h\u00e4tten\u00ab1). Zuerst wird hier der Gef\u00fchlston als eine die Empfindungen verm\u00f6ge der Natur des peripherischen oder centralen Nervenpro-cesses begleitende Qualit\u00e4t betrachtet, die ebenso wenig wie die des S\u00fc\u00dfen, Bitteren, Rothen u. dergl. eine weitere Erkl\u00e4rung zulasse. Dann wird der Begriff der Empfindung auf beliebig zusammengesetzte Eindr\u00fccke ausgedehnt. Unter diesen Eindr\u00fccken gibt es neben manchen andern auch \u00bbHandlungen der Dankbarkeit\u00ab, die nun ebenfalls mit ihrem Gef\u00fchlston versehen sind. Welcher Natur Handlungen sein m\u00fcssen, wenn wir sie solche der \u00bbDankbarkeit\u00ab nennen, danach zu fragen scheint ebenso wenig erforderlich zu sein,\n1) Th. Ziehen, Leitfaden der physiol. Psychologie. 2. Aufl. S. 123.","page":62},{"file":"p0063.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 63\nals wenn wir uns erkundigen wollten, warum wir blau blau und nicht roth sehen; oder, falls doch einmal eine Antwort gegeben werden soll, so verweist man auf irgend welche nebenbei ausgel\u00f6ste Erinnerungsbilder, die dann nat\u00fcrlich auch mit ihren den urspr\u00fcnglichen Empfindungen gleichenden \u00bbGef\u00fchlst\u00f6nen\u00ab versehen sind.\nEine sinnreiche Wendung hat diese einfache Qualit\u00e4tstheorie \u00fcbrigens dadurch erfahren, dass man nicht den Empfindungen selbst sondern ihren muskul\u00e4ren oder vasomotorischen Reflexwirkun-gen den Gef\u00fchlston zuschreibt. Hiernach wird derselbe in letzter Instanz wieder als ein Bestandtheil bestimmter Muskelempfindungen aufgefasst, und je nach dem Grad und der Art der stattfindenden Muskelcontractionen soll diese Muskelempfindung ein Lust- oder Unlustaffect sein. \u00bbDie Wahrnehmung \u00e4u\u00dferer Reize bewirkt k\u00f6rperliche Ver\u00e4nderungen, und die Empfindung dieser k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen ist das was wir eine Gem\u00fcthsbewegung nennen\u00ab1). Demnach sind die Ausdrucksbewegungen der Affecte in Wahrheit nicht die Wirkungen, sondern die Ursachen der Affecte. \u00bbEs w\u00fcrde rationeller sein zu sagen : wir sind traurig weil wir weinen, furchtsam weil wir zittern, statt: wir weinen weil wir traurig sind, zittern weil wir Furcht haben\u00ab2). Da bei diesen Theorien nicht ganz klar gemacht ist, warum gewisse Muskelempfindungen Lust- und andere Unlustgef\u00fchle hervorrufen, so hat endlich eine neueste Gestaltung derselben auch diese Schwierigkeit gehoben. Sie weist auf den Antagonismus der Streck- und Beugemuskeln hin, der in der allernat\u00fcrlichsten Weise diese L\u00fccke ausf\u00fclle. In der That, wenn die Streck- und Beugemuskeln in physiologischem Sinn Antagonisten sind, warum sollten sie es nicht auch im psychologischen sein? \u00bbInsofern diese Beugungs- und Streckungsempfindungen die Bewusstseinsvertretung entgegengesetzter Handlungen darstellen, m\u00fcssen diese Empfindungen selbst als gegens\u00e4tzliche empfunden werden\u00ab3). Damit ist der Beweis geliefert : alle Lustgef\u00fchle sind Streckempfindun-\n1)\tJames, Principles of Psychology. II. p. 449.\n2)\tEbenda, p. 450. Vergl. hierzu auch die kritischen Bemerkungen zu der \u00e4hnlichen Theorie C. Lange\u2019s in meinem Aufsatze: Zur Lehre von den Gem\u00fcths-bewegungen. Phil. Stud. VI, S. 349 ff.\n3)\tM\u00fcnsterberg, Beitr\u00e4ge. 4. Heft. S. 228.","page":63},{"file":"p0064.txt","language":"de","ocr_de":"64\nW. Wundt.\ngen, alle Unlustgef\u00fchle Beugeempfindungen. O ihr armen Poeten, wie viel unn\u00fctze M\u00fche habt ihr seit unvordenklicher Zeit verschwendet, menschliche Herzen zu erfreuen oder zu r\u00fchren ! Warum haht ihr euch nicht lieber auf Zimmergymnastik verlegt?\nIch wende mich zur zweiten Classe physiologischer Interpretationen: zur Erkl\u00e4rung beliebiger complexer Vorg\u00e4nge aus physiologischen Miterregungen. Ueber die Willenstheorien der materialistischen Psychologie kann ich kurz hinweggehen. Schwierigkeiten existiren hier nicht. Das Schema des Reflexbogens ist geeignet, alle Arten von Bewegungen und Handlungen, vom einfachsten unbewussten Reflex an bis zur sogenannten willk\u00fcrlichen Handlung, die eigentlich blo\u00df eine bewusste Handlung genannt werden sollte, zu begreifen. Die willk\u00fcrliche Handlung unterscheidet sich n\u00e4mlich von dem Reflex nur dadurch, dass die Reflexbahn Rindengebiete ergreift, deren Erregung mit Empfindung verbunden ist. Irradiationen des Reizes, durch welche Erinnerungsbilder miterregt werden, machen in diesem Fall die Sache manchmal etwas verwickelter, aber sie bleibt immer noch einfach genug, um als selbstverst\u00e4ndliches Ergebniss der \u00bbempirischen\u00ab Psychologie zu gelten, namentlich wenn man sich der wichtigen Dienste erinnert, die hier wie \u00fcberall das Princip der Selection leistet. Der einfache urspr\u00fcnglich v\u00f6llig zwecklose Reflex hat sich \u00bbjedenfalls\u00ab auf dem Wege der Selection von selbst im Laufe der Zeit zuerst in eine complicirte automatische Handlung verwandelt, worauf dann diese endlich in eine bewusste d. h. so genannte willk\u00fcrliche Handlung \u00fcberging1).\nWie unn\u00fctz erscheinen doch diesen einfachen Deductionen gegen\u00fcber all die m\u00fchseligen Erw\u00e4gungen \u00fcber Bedeutung und Werth der Motive, \u00fcber Entschluss und Ausf\u00fchrung, \u00fcber culpa und dolus und \u00fcber so manches andere ! Reflex und, wenn die Sache verwickelter wird, Selection \u2014 wahrlich, diese zwei trefflichen Hausmittel gegen \u00fcberfl\u00fcssiges Nachdenken (oder ich sollte wohl sagen gegen unlustbetonte Spannungsempfindungen der Stirnmuskeln) sind allen speculativen Willenspsychologen auf das dringendste zu empfehlen.\n1) Ziehen, a. a. O. S. 11, 14, 20 u. s. w.","page":64},{"file":"p0065.txt","language":"de","ocr_de":"lieber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 65\nAber ihre h\u00f6chsten Triumphe feiert diese L\u00f6sung der psychischen Probleme schlie\u00dflich in der Associationslehre, mit der sich zugleich der ganze Rest der Psychologie von selber erledigt. Denn D\u00e9griff\u00e9, Urtheile, Phantasie- und Verstandesth\u00e4tigkeiten sind selbstverst\u00e4ndlich nichts anderes als mehr oder minder verwickelte Associationserscheinungen. Als Grundlage der Associationslehre dient die Theorie der Erinnerungshilder. \u00bbIch sehe eine Rose: dabei werden zahllose Endigungen der Retina gereizt, und zahllose Sehnervenfasern tragen die Erregung in die Sehsph\u00e4re des Hinterhauptslappens . . . Dieser Erregung zahlreicher Ganglienzellen der Sehsph\u00e4ren entspricht die Gesichtsempfindung. Wo wird nun aber das Erinnerungsbild dieser Gesichtsempfindung niedergelegt?\u00abx). Auf diese Frage sind verschiedene Antworten m\u00f6glich; dem heutigen Stand der Wissenschaft entspricht angeblich die folgende am besten. \u00bbWir nehmen an, dass in gewissen Ganglienzellen die Empfindung der Rose entsteht, und weiter, dass diese zahlreichen Empfindungszellen an eine andere Ganglienzelle, die Erinnerungszelle, ihre Erregung abgeben\u00ab. Dabei l\u00f6st aber die Rose nicht blo\u00df eine Gesichts-, sondern durch ihren Duft auch eine Geruchsempfindung und durch ihre weichen Bl\u00e4tter eine Ber\u00fchrungsempfindung aus. \u00bbEs werden also von der Rose mindestens drei Erinnerungsbilder niedergelegt, ebenso viele Erinnerungsbilder als dieselbe Sinnesorgane erregt\u00ab. Dazu kommen dann noch, sobald wir das Wort Rose aussprechen h\u00f6ren, die Bewegungsyor-stellung des gesprochenen und die akustische Vorstellung des geh\u00f6rten Wortes. \u00bbDen Gesammtcomplex dieser 5 Vorstellungen bezeichnen wir auch als den concreten oder sinnlichen Begriff der Rose\u00ab. Von da an entwickelt sich die Begriffsbildung weiter. \u00bbIch sehe hundert Einzel-Rosen, und diese H\u00e4ufigkeit des constan-ten Zusammentreffens einer bestimmten Farbe, Form etc. auf wechselndem Hintergr\u00fcnde gen\u00fcgt, den etwas allgemeineren concreten Begriff der Rose in meiner Hirnrinde zu deponiren\u00ab. Von da geht es zum Begriff Pflanze, denn \u00bbdie Erfahrung deponirt zahlreiche aus Partialvorstellungen zusammengesetzte Einzelbegriffe in meiner Hirnrinde, z. B. die der Tulpe, der Rose, des Eichbaumes u. s. w.\u00ab,\n1) Ziehen, Leitfaden der physiol. Psychologie. 2. Aufl. S. 110ff. Wundt, Philos. Studien. X.\tc","page":65},{"file":"p0066.txt","language":"de","ocr_de":"66\nW. Wundt.\nund diese Partialvorstellungen verbinden sieb auf Grund des Associationsgesetzes der Aehnlichkeit. Darum gerathen, wenn wir den Begriff Pflanze bilden, neben dem gek\u00f6rten W ort die zahllosen Partialvorstellungen einzelner Pflanzen in Miterregung, sie \u00bbschwingen mit\u00ab. Die abstracten Begriffe endlich beruhen auf der Combination von Theilvorstellungen zu neuen, sogenannten Phantasievorstellungen. \u00bbDer abstracte Begriff stellt uns Vorstellungscombi-nationen dar, f\u00fcr welche analoge Empfindungscombinationen nie existirt haben\u00ab. Nat\u00fcrlich gehen diese Phantasiecombinationen auch wieder aus der Association, namentlich der Aehnlichkeitsasso-ciation, oder dem \u00bbMitschwingen der Erinnerungszellen\u00ab hervor. Im Uebrigen hat sich die physiologische Psychologie um diese Dinge nicht viel zu k\u00fcmmern, sondern sie kann sie der Erkenntnisstheorie \u00fcberlassen ').\nIch finde diese Deduction ausnehmend einfach. Aber ich finde, auch abgesehen von dem zuletzt angedeuteten Salto mortale in die Erkenntnisstheorie. dass sie an einigen Stellen die w\u00fcnschenswerthe Klarheit vermissen l\u00e4sst. Vor allen Dingen macht mir in dieser Beziehung der Vorgang des Deponirens der Erinnerungsbilder in den Erinnerungszellen einige Schwierigkeiten. Wer deponirt diese Bilder? Einmal ist gesagt, dass \u00bbwir\u00ab sie deponiren, ein anderes Mal legt sie \u00bbdie Erfahrung\u00ab dort nieder, zuweilen scheinen auch die Empfindungen in den Sinnescentren, nachdem sie als Empfindungen ihre Schuldigkeit gethan, dies von selbst zu besorgen. Wer also das deponirende Subject ist, das, wie der graue Mann im Peter Schlemihl den Schatten, die ausgebreitete Sinneserregung zusammenrollt, um sie in einer der Erinnerungszellen unterzubringen, bleibt unbestimmt. Nur das ist gewiss, dass diese Zellen die Bedeutung von Sparb\u00fcchsen besitzen, und zwar in doppeltem Sinne : einmal indem sie von den Empfindungen ein erspartes Depositum f\u00fcr die Zukunft zur\u00fccklegen, dann aber auch, indem jede noch so ausgehreitete Vorstellung sich bequemt in einer einzigen Zelle Platz zu finden, und so dem physiologischen Psychologen die Verlegenheit erspart, f\u00fcr die Legionen der Erinnerungsbilder eines guten Ged\u00e4chtnisses vergeblich nach Unterkunft suchen zu m\u00fcssen. Alles\n1) Ziehen, Leitfaden der physiol. Psychologie. 2. Aufl. S. 119.","page":66},{"file":"p0067.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 67\ndies ist in Ordnung und nichts dagegen einzuwenden. Aber wer ist das deponirende Subject? Dass \u00abwire, das hei\u00dft unser so genanntes \u00bbIch\u00ab dieses Subject sein k\u00f6nnte, ist nicht anzunehmen, \u2014 diese Redewendung muss offenbar als ein ungenauer Ausdruck angesehen werden. Denn dieses \u00bbwir\u00ab oder \u00bbIch\u00ab w\u00fcrde ja offenbar ein \u00bbmetaphysisches\u00ab oder \u00bbtranscendentes\u00ab Wesen sein, wie derVerfasser klar genug auseinandergesetzt hat. Das Ganze w\u00fcrde dann auf eine vervielf\u00e4ltigte Cartesianische Seelentheorie hinauslaufen. Genau so wie diese angenommen hatte, dass die Erinnerungsbilder s\u00e4mmtlich in der Zirbeldr\u00fcse \u00bbdeponirt\u00ab werden, so w\u00fcrde hier f\u00fcr jedes einzelne Erinnerungsbild ein Separatbeh\u00e4lter angenommen, was der Seele oder dem \u00bbIch\u00ab offenbar nur die \u00fcberfl\u00fcssige M\u00fche verursachte, f\u00fcr die richtige. Vertheilung der einzelnen Deposita Sorge zu tragen. Ich w\u00fcrde daher in dieser Fassung der Theorie keine Verbesserung gegen\u00fcber der Cartesianischen erblicken k\u00f6nnen. Noch weniger ist, wie ich glaube, die zweite Version, n\u00e4mlich dass die \u00bbErfahrung\u00ab das Depositengesch\u00e4ft besorgt, w\u00f6rtlich zu nehmen. Denn die \u00bbErfahrung\u00ab ist ein g\u00e4nzlich abstractes Wesen, noch viel metaphysischer und transcendenter als das \u00bbIch\u00bb oder die \u00bbSeele\u00ab. Es bleibt so nur die dritte Fassung als die eigentliche Meinung bestehen : die Empfindungen d. h. die Erregungen der Sinnescentren selbst sorgen irgendwie f\u00fcr ihre Unterkunft in den Erinnerungszellen. Ich bekenne nun, dass ich mir auch von dieser Procedur keine zureichende physiologische Vorstellung machen kann. Man wird auf die leitenden Fasern hinweisen, durch die jede Sinneszelle mit einer Menge von Erinnerungszellen verkn\u00fcpft sei. Aber gerade diese Vielseitigkeit der Verbindung macht mich um das Schicksal der Erinnerungsbilder besorgt. Wie soll f\u00fcr die vielen Erregungen, die einen einzigen Sinneseindruck zusammensetzen, eine einigerma\u00dfen sichere B\u00fcrgschaft gegeben sein, dass sie sich auch in der zureichenden Vollst\u00e4ndigkeit in der f\u00fcr sie passenden Erinnerungszelle zusammenfinden, ohne dass dieser oder jener wesentliche Bestandteil auf Abwege ger\u00e4th? Angesichts dieser Schwierigkeiten scheint es mir auff\u00e4llig, dass eine dritte M\u00f6glichkeit von den Vertretern der Theorie offenbar ganz \u00fcbersehen worden ist, und ich glaube mir ein Verdienst um den weiteren Ausbau derselben zu erwerben, wenn ich auf diese dritte und, wie mich d\u00fcnkt, weitaus\n5*","page":67},{"file":"p0068.txt","language":"de","ocr_de":"68\nW. Wundt.\nwahrscheinlichste M\u00f6glichkeit aufmerksam mache. Nicht ein trans-cendentes \u00bbIch\u00ab und nicht eine noch transcendentere \u00bbErfahrung\u00ab deponiren die Eindr\u00fccke in den Erinnerungszellen, aber jene lassen sich auch nicht von seihst in diesen nieder, sondern umgekehrt : die Erinnerungszellen deponiren in sich die aus den prim\u00e4ren Sinnescentren verschwundenen Erregungen. Diese Auffassung scheint mir vor allem dies f\u00fcr sich zu haben, dass sie sich gel\u00e4ufigen physiologischen Erfahrungen anschlie\u00dft. So kann man z. B. oft unter dem Mikroskop beobachten, dass eine Am\u00f6be einen in ihrer Nachbarschaft befindlichen Nahrungshallen, manchmal auch ein anderes Infusor, in sich selbst deponirt. Man pflegt in diesem Fall zu sagen : die Am\u00f6be frisst. In der That scheint mir dieser Ausdruck deutlicher zu sein als das ahstracte, immer noch etwas an Metaphysik erinnernde \u00bbDeponiren\u00ab. Warum sollten wir auch jenen bekannten physiologischen Vorgang nicht auf die Ganglienzellen \u00fcbertragen, die ja Elementarorganismen sind, also mit allen wesentlichen Functionen des Organismus ausger\u00fcstet sein m\u00fcssen? Sagen wir also einfach: die Empfindungseindr\u00fccke werden von den Erinnerungszellen gefressen ! Dadurch gewinnt mit einem Schlag der ganze Vorgang ein verst\u00e4ndlicheres Ansehen. Zun\u00e4chst ist einleuchtend, warum das Verschwinden der Empfindungen zeitlich mit der Ablagerung der Erinnerungsbilder zusammenfallen muss. Nat\u00fcrlich, wenn die Empfindungen von den Erinnerungszellen gefressen sind, so k\u00f6nnen sie unm\u00f6glich mehr in der alten Weise fortexistiren. Sodann macht der in der Depositentheorie sehr verf\u00e4ngliche Umstand, dass eine Erinnerungszelle immer nur ein Erinnerungsbild aufnimmt, gar keine Schwierigkeit mehr. Denn offenbar sind die besetzten Zellen satt, haben also kein Be-d\u00fcrfniss sich nach weiterer Nahrung umzusehen. Freilich k\u00f6nnte man ein Bedenken daraus sch\u00f6pfen, dass Empfindungen keine Nahrungsmittel seien, selbst nicht f\u00fcr so zarte Wesen wie diese. Aber dabei ist doch nicht zu vergessen, dass die Erinnerungsbilder nicht blo\u00df in ihrer Intensit\u00e4t sondern auch in ihrer Qualit\u00e4t von den Sinneseindr\u00fccken, denen sie entsprechen, wesentlich abweichen\u2019), was offenbar auf eine Transformation der letzteren bei ihrer\n1) Ziehen, a. a. O. S. 109.","page":68},{"file":"p0069.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalitiit und das Prineip des psychophysischen Parallelismus. 69\nAblagerung hinweist. Ferner ist zu erw\u00e4gen, dass die Empfindung ein physiologischer Reizungsvorgang und als solcher stets mit Stoffzersetzung verbunden ist. Nehmen wir also an, die durch die Erregung erzeugten Zersetzungsstoffe seien die den Erinnerungszellen ad\u00e4quaten Nahrungsstoffe, so ist alles erkl\u00e4rt, und der ganze Vorgang des Gefressenwerdens der Empfindungen scheint mir nahezu zur Gewissheit erhoben zu sein oder es doch mindestens mit den allerwahrscheinlichsten Theorien der modernsten Psychophysik an Wahrscheinlichkeit aufnehmen zu k\u00f6nnen. Nebenbei wirft diese neue Auffassung auf manche psychische Vorg\u00e4nge, welche die Depositentheorie mit aller M\u00fche nicht recht deutlich zu machen vermag, ein \u00fcberraschendes Licht. Dahin geh\u00f6rt z. B. die Bildung der abstracten Begriffe, wo die Theorie des Mitschwingens der Erinnerungszellen doch ein wenig zusagendes Bild von den physiologischen Substraten der Gedankenarbeit gibt. Dass uns der Kopf \u00bbwirbelt\u00ab, und dass die Gedanken \u00bbschwirren\u00ab, sind zwar gel\u00e4ufige Ausdr\u00fccke, denen m\u00f6glicher Weise eine subjective Wahrnehmung dieser Schwingungen der Erinnerungszellen zu Grunde liegen k\u00f6nnte. Dennoch scheint mir der Zustand des Schwingens nicht ganz mit den physikalischen Eigenschaften der Ganglienzellen \u00fcbereinzustimmen. Wie nahe liegt dagegen auf Grund der verbesserten Hypothese die Vorstellung, dass die abstracten Begriffe die Stoff-wechselproducte der Erinnerungszellen seien, womit sich \u00fcberdies leicht die logische Stufenfolge des Abstractionsprocesses in Verbindung bringen lie\u00dfe! Die physiologische Psychologie w\u00fcrde dadurch den Vortheil haben, mit allen diesen Dingen aus eigenen Mitteln fertig zu werden, und nicht mehr in die Verlegenheit kommen, sie in die Erkenntnisstheorie verweisen zu m\u00fcssen.\nAber eine gute Theorie bew\u00e4hrt sich vor allem da, wo es ihr gelingt, \u00fcber Thatsachen Rechenschaft zu gehen, welche die bisherigen Theorien g\u00e4nzlich unerkl\u00e4rt lassen mussten. Auch diesen Vorzug glaube ich der vorgeschlagenen Modification der Erinnerungstheorie vindiciren zu k\u00f6nnen. In den klinischen Beobachtungen \u00fcber die nach centralen Affectionen eintretenden Sprachst\u00f6rungen, namentlich \u00fcber die Erscheinungen der so genannten Amnesie, spielt eine Gruppe von Thatsachen eine Rolle, auf die ich schon mehrfach aufmerksam gemacht habe, und die \u00fcbrigens auch mit den","page":69},{"file":"p0070.txt","language":"de","ocr_de":"70\nW. Wundt.\nErscheinungen, die der Altersschwund des Ged\u00e4chtnisses darbietet, im Ganzen \u00fcbereinstimmen '). Diese Thatsachen bestehen darin, dass allgemein beim Schwinden des Wortged\u00e4chtnisses gewisse Wort-classen, und zwar die concretesten, wie Eigennamen, Namen einzelner sinnlicher Gegenst\u00e4nde, zuerst verschwinden, und dass dagegen die abstractesten Redetheile, wie abstracte Substantiva, Verba und Partikeln, am festesten haften. Ich habe an anderem Ort darauf hingewiesen, dass sich diese merkw\u00fcrdige Erscheinung psychologisch ziemlich einfach erkl\u00e4ren l\u00e4sst. Aber es w\u00fcrde doch w\u00fcnschenswerth sein, statt einer solchen psychologischen, also \u00bbtranscendent-metaphysischen\u00ab, eine physiologische, also \u00bbempirische\u00ab Erkl\u00e4rung zu besitzen. Nun ist eine solche offenbar auf Grund der Depositentheorie sehr schwierig, wenn nicht unm\u00f6glich. Denn es ist nicht wahrscheinlich, dass die Erinnerungszellen schon in ihrem unges\u00e4ttigten Zustand einen Hunger nach ganz bestimmten Vorstellungen, also z. B. nach Eigennamen, nach Partikeln u. dergl., besitzen sollten, oder dass sie gar nach diesen Kategorien im Gehirn von vornherein r\u00e4umlich gelagert seien. Aus diesen Gr\u00fcnden pflegt denn auch die Theorie \u00fcber die erw\u00e4hnten Thatsachen mit Stillschweigen hinwegzugehen \u2014 ein Verfahren, gegen das an sich nichts einzuwenden ist, weil es unbequemen Thatsachen gegen\u00fcber in allgemeiner Uebung steht. Immerhin w\u00e4re es angenehmer, wenn es gel\u00e4nge, auch solche widerstrebende Instanzen der Theorie dienstbar zu machen; und dazu bietet nun, wie ich glaube, die vorgeschlagene Hypothese die g\u00fcnstigste Gelegenheit. Sind n\u00e4mlich die Erinnerungszellen wahre Elementarorganismen mit Nahrungsaufnahme und Stoffwechsel, so werden sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch locomotorische Functionen besitzen. Die Anatomie weist hierf\u00fcr ausreichende Belege nach. Sind auch meines Wissens eigentliche Ortsbewegungen der Ganglienzellen noch nicht aufgefunden, so ist doch die Bewegungsf\u00e4higkeit \u00fcberhaupt eine allgemeine Eigenschaft lebensf\u00e4higer Zellen, und man darf daher sicher annehmen, dass sie auch den Ganglienzellen, und zwar in der Form zukommen wird, in der sie ihnen n\u00fctzlich ist, d. h. in der sie von der Theorie gefordert werden muss. Nach diesem Princip l\u00e4sst sich aber vor-\n1) Grundz\u00fcge der physiol. Psychologie. 4. Aufl. I. S. 234. Essays, S. 112ff.","page":70},{"file":"p0071.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalitiit und das Princip des psychophysischen Parallelismus.\t71\naussetzen, dass die oben geschilderte Nahrungsaufnahme der Erinnerungszellen zweierlei Bewegungen im Gefolge haben wird. Erstens werden sich diese Zellen reihenweise nach der Verwandtschaft der aufgenommenen Vorstellungen ordnen; und zweitens werden solche Erinnerungszellen, deren Erhaltung f\u00fcr das Gehirn w\u00fcnschenswerther ist, vorzugsweise denjenigen Orten Zustr\u00f6men , welche gegen innere und \u00e4u\u00dfere Sch\u00e4dlichkeiten, wie Blutextravasate, Verwundungen u. dergl., am meisten gesch\u00fctzt sind. Erw\u00fcnscht muss aber vor allem die Erhaltung derjenigen Zellen sein, die mit Wortvorstellungen gef\u00fcllt sind, f\u00fcr die es einen anderweitigen Ersatz nicht gibt: solche Vorstellungen sind die abstracten Begriffe, da wir bei ihnen nur das Wort, nicht etwa das sinnliche Bild des Gegenstandes selbst, als Tr\u00e4ger des Begriffs besitzen. Durch welche inneren Kr\u00e4fte jene zweckm\u00e4\u00dfigen Bewegungen zu Stande kommen, kann hier dahingestellt bleiben. Nur so viel sei bemerkt, dass man die Nebeneinanderordnung der Zellen nach der Verwandtschaft der von ihnen verspeisten Vorstellungen entweder auf eine chemische Anziehung oder noch wahrscheinlicher auf die Ausbildung einer Art von Heerdeninstinct zur\u00fcckf\u00fchren kann, wie letzterer ja schon bei den niedersten selbst\u00e4ndig lebenden Wesen vorkommt und bewirkt, dass sich die Individuen verwandter Art aufsuchen. Man k\u00f6nnte nun freilich denken, da dieser Instinct im vorliegenden Fall gewisserma\u00dfen ein logischer Instinct ist, da z. B. die Partikelzellen, die Verbalzellen u. s. w. immer einander aufsuchen, so sei damit solchen Elementartheilen eine allzu complicirte Function zugemuthet. Aber man vergesse nicht, welch ungeheurer Leistungen die nat\u00fcrliche Z\u00fcchtung f\u00e4hig ist ! Unvermeidlich mussten ja im Laufe der Zeit solche Gehirne, in denen keine geh\u00f6rige Ordnung der Erinnerungszellen zu Stande kam, im Kampfe ums Dasein gegen\u00fcber denjenigen unterliegen, in denen sich jene Ordnung herstellte. Allerdings k\u00f6nnte man hiergegen wiederum einwenden, dass es immer noch K\u00f6pfe gibt, die der Sprachgebrauch, offenbar weil in ihnen die Erinnerungszellen unordentlich durch einander gew\u00fcrfelt sind, sehr zutreffend als \u00bb confus\u00ab bezeichnet, und die also die Wirksamkeit jener Selection zweifelhaft erscheinen lassen. Auch ist richtig, dass die confusen K\u00f6pfe durchaus nicht immer im Kampf ums","page":71},{"file":"p0072.txt","language":"de","ocr_de":"72\nW. Wundt.\nDasein unterliegen, ja dass sie zuweilen, namentlich in der Wissenschaft, die \u00dcberhand zu gewinnen scheinen. Aber ich glaube doch, dass man sich solchen Einw\u00e4nden gegen\u00fcber getrost auf die Macht des Gesetzes der Selection verlassen kann, das uns, da es alle Dinge erkl\u00e4rt, die auf andere Weise nicht erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnen, auch in diesem Falle schlie\u00dflich nicht im Stich lassen wird!\nBlicken wir zur\u00fcck auf die zwei H\u00fclfsmittel, deren sich die materialistische Psychologie zur L\u00f6sung ihrer Vorgesetzten Aufgabe bedient, so haben dieselben zwar an sich einen etwas verschiedenen Werth, im Enderfolg stimmen sie aber auf das vollkommenste \u00fcberein. Das erste dieser H\u00fclfsmittel, die Reduction beliebiger psychischer Vorg\u00e4nge auf einfache Empfindungen, verh\u00fctet auf das wirksamste die weitere Nachfrage nach der Natur und nach den entfernteren psychologischen Beziehungen jener Vorg\u00e4nge. Denn die Empfindung ist, wie ja ausdr\u00fccklich versichert wird, ein Urspr\u00fcngliches, gar nicht weiter Abzuleitendes : jede solche Reduction ist also der Auffindung eines Asylum ignorantiae gleichzuachten. Das Endziel dieser Methode w\u00fcrde es daher sein, f\u00fcr alle psychischen Vorg\u00e4nge solche Asyle zu er\u00f6ffnen. H\u00e4tte sie das geleistet, so k\u00f6nnte billiger Weise \u00fcberhaupt nur noch nach dem physiologischen Zustandekommen der einzelnen Empfindungen gefragt werden, d. h. das wissenschaftliche Problem der Psychologie w\u00fcrde vollst\u00e4ndig aus ihr heraus und in die Physiologie hinein verlegt sein. Das l\u00e4sst sich nun nicht f\u00fcr alle F\u00e4lle durchf\u00fchren, und deshalb tritt hier das zweite H\u00fclfsmittel, die Reduction anerkannt zusammengesetzter psychischer Vorg\u00e4nge auf physiologische Miter-regungen, erg\u00e4nzend ein. Dieses H\u00fclfsmittel erreicht den n\u00e4mlichen Zweck auf einem kleinen Umwege, indem gezeigt wird, dass auch da, wo zun\u00e4chst die psychischen Vorg\u00e4nge unter einander in gewissen causalen Verbindungen zu stehen scheinen, dies nur ein mehr oder minder verworrener Reflex physiologischer Wechselwirkungen sei. So l\u00e4sst sich das Gesammtergebniss dieser psychologischen Bem\u00fchungen nicht treffender schildern als mit den Worten Mephistos an den Sch\u00fcler, namentlich wenn man sich zur besseren Verdeutlichung eine leise Variation des Textes erlaubt:","page":72},{"file":"p0073.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 73\n\u00bbWer das geistige Leben will erkennen und beschreiben,\nSucht erst den Geist heraus zu treiben,\nDann hat er die^Theile in seiner Hand,\nFehlt leider! nur das geistige Band.\u00ab\nDas Verfahren aber, durch welches diese Psychologie die psychischen Vorg\u00e4nge auf allerlei hypothetische physiologische Processe, auf schwingende Ganglienzellen, Irradiationen und \u00e4hnliches zur\u00fcck-fiihrt, nennt sich \u00bbempirische\u00ab Methode. Im Gegensatz zu dieser wird dann jeder Versuch, einen gegebenen psychischen Thatbestand in seinem wirklichen Verhalten und in seinen Verbindungen mit andern Thatsachen festzustellen, als \u00bbMetaphysik\u00ab, als ein Operiren mit \u00bbtranscendenten Seelenverm\u00f6gen\u00ab verp\u00f6nt. In der That, wer physiologische Hirngespinnste f\u00fcr empirische Thatsachen h\u00e4lt, dem kann billiger Weise nicht verdacht werden, wenn ihm empirische psychologische Thatsachen metaphysisch und transcendent Vorkommen. Ich ziehe es meinerseits vor, in den Augen solcher Empiriker lieber f\u00fcr einen Nicht-Empiriker zu gelten.\nSigwart bemerkt in seiner \u00bbMethodenlehre\u00ab, in der Richtung der Aufgabe der Psychologie, den Geisteswissenschaften eine Grundlage zu bieten, habe sich \u00bbdie der Physiologie zugewendete Seite der psychologischen Forschung bis jetzt ziemlich unfruchtbar erwiesen\u00ab1). Ich halte dieses Urtheil f\u00fcr nicht ganz gerecht, aber f\u00fcr begreiflich. F\u00fcr nicht ganz gerecht, weil Sigwart, der seine Kenntniss der experimentellen Psychologie wesentlich aus M\u00fcnster-herg\u2019s Schrift \u00bb\u00fcber die Aufgaben und Methoden der Psychologie\u00ab zu sch\u00f6pfen scheint, doch wohl das, was die experimentelle Methode f\u00fcr die unbefangene Auffassung der elementaren psychischen Vorg\u00e4nge wirklich geleistet hat, nicht zureichend zu w\u00fcrdigen wei\u00df. Ich werde auf diesen Punkt im folgenden Abschnitt zur\u00fcckkommen. F\u00fcr begreiflich, f\u00fcr allzu begreiflich, und fast zugleich f\u00fcr unbegreiflich mild halte ich aber Sigwart\u2019s Urtheil, insofern es sich eben blo\u00df auf die Beurtheilung der materialistischen Psychologie st\u00fctzt. Diese hat, wie ich meine, nicht blo\u00df f\u00fcr die Geisteswissenschaften, sondern sie hat auch f\u00fcr die Psychologie selbst nichts geleistet. Hat sie doch f\u00fcr diese eigentlich nicht einmal etwas\n1) Sigwart, Methodenlehre. 2. Aufl. S. 572.","page":73},{"file":"p0074.txt","language":"de","ocr_de":"74\nW. Wundt.\nleisten wollen, es sei denn, dass man ihre Abdankung auch eine Leistung nennen m\u00f6chte. Wenn diese Psychologie \u00fcberhaupt etwas geleistet haben sollte, so k\u00f6nnte ihr Verdienst logischer Weise nur auf dem Gebiet der Physiologie liegen. Ihr wollte sie ja durch \u00bbAnalyse des Bewusstseinsinhaltes\u00ab das Material schaffen, mittelst dessen eine tiefere Erkenntniss der physiologischen Substrate psychischer Vorg\u00e4nge erschlossen werden sollte. Dass hier in der That von Seiten der psychologischen Analyse etwas geschehen kann, lehrt das Beispiel der Analyse der Klang- und Lichtempfindungen, wo zweifellos die physiologische Theorie durch die subjective, also eigentlich psychologische Untersuchung [wesentlich gef\u00f6rdert worden ist. Aber dieses Verdienst kann sich die moderne materialistische Psychologie nicht zuschreiben. Zu diesem Capitel der Sinneslehre haben ihre Vertreter thats\u00e4chlich nichts beigetragen, und zu der Lehre von den zusammengesetzten Gesichts- und Geh\u00f6rswahrnehmungen haben sie, wie wir oben gesehen, so zu sagen grunds\u00e4tzlich nichts beitragen wollen. Es bleiben also zun\u00e4chst ihre angeblichen Entdeckungen gewisser Empfindungen \u00fcbrig, die vorher nicht beachtet worden waren, wie z. B. der Muskelempfindungen als Tr\u00e4ger der Aufmerksamkeit, des Zeitsinns, der Lust- und Unlustgef\u00fchle u. dergl., Entdeckungen, deren Richtigkeit von andern Psychologen nicht nur, sondern auch von den meisten Physiologen bestritten wird, von manchen der letzteren namentlich auch deshalb, weil sie \u00fcberhaupt die Existenz solcher Muskelempfindungen bezweifeln. Es bleiben dann noch einige Hypothesen \u00fcber Miterregungen im Gehirn, schwingende Nervenzellen, Ablagerungen von Erinnerungsbildern u. dergl. mehr. Diesen Hypothesen wird jedoch schwerlich ein unbefangener Physiologe irgend einen Werth f\u00fcr seine Wissenschaft zugestehen, es sei denn den Werth abschreckender Beispiele, da man sich vielleicht der Hoffnung hingeben darf, dass leere Hirngespinnste einmal todtgeschlagen nicht so leicht wieder aufeTstehen. Leider zeigt die Erfahrung, dass auch diese Hoffnung h\u00e4ufig tr\u00fcgt. Wie h\u00e4tte sonst die ganze materialistische Psychologie heute noch einmal zum Leben erwachen k\u00f6nnen, da sie doch schon vor mehr als hundert Jahren vollkommen todt geschlagen worden ist? Aber ich kann noch immer nicht glauben, dass sie wirklich lebendig ist, sondern ich halte sie f\u00fcr das Gespenst des seligen Holbach,","page":74},{"file":"p0075.txt","language":"de","ocr_de":". Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 75\ndas sich in ein modernes Gewand, geziert mit Bildern von Ganglienzellen, Leitungshahnen und psychophysischen Experimenten, geh\u00fcllt hat und als Legitimationspapier sogar ein vergilbtes Blatt Kantscher Transcendentalphilosophie mit sich f\u00fchrt. Auch Gespenster wissen sich in die Zeit zu schicken.\nIV. Beker psychische Causalit\u00e4t.\nDen Begriff der substantiellen Causalit\u00e4t \u00fcbertrug die \u00e4ltere Psychologie unmittelbar auf das psychische Gebiet, indem sie alles seelische Geschehen theils als Wirkung der k\u00f6rperlichen Substanz auf die Seele, theils und vornehmlich als Handlung der Seele betrachtete, die im letzten Grunde von ihrer eigenen Substanz ausgehe, dabei aber zugleich von jenen \u00e4u\u00dferen Wirkungen auf sie bestimmt sei. Diesen \u00e4lteren Begriff der psychischen Causalit\u00e4t hat die neuere Psychologie nahezu in allen ihren Lichtungen verworfen. Sie erkl\u00e4rt es f\u00fcr unzul\u00e4ssig, \u00bbaus dem Begriff der Substanz oder des einfachen Wesens bestimmte Pr\u00e4dicate abzuleiten\u00ab1), und sie ist demnach geneigt, an die Stelle dieses metaphysischen Hintergrundes der Erscheinungen den Begriff \u00bbeines einheitlichen Sub-jectes unserer Gedanken, Gef\u00fchle und Willensbestrebungen\u00ab treten zu lassen2). Die Substanz soll also durch das empirische Subject ersetzt werden, unter welchem letzteren man den thats\u00e4ch-lichen Gesammtinhalt unserer inneren Erlebnisse zugleich mit der ebenfalls empirisch gegebenen Verbindung derselben zu einem einheitlichen Ganzen versteht.\nIch hin mit dieser Begriffsbestimmung vollkommen einverstanden, und ich glaube nicht, dass ihr Jemand, der nicht von vornherein mit metaphysischen Hintergedanken an die Psychologie herantritt, widersprechen wird. Aber das Subject ist nur ein logischer Begriff, der eben nur die Zusammenfassung gewisser Inhalte zu einer Einheit ausdr\u00fcckt, und der deshalb, sobald es sich um die n\u00e4here Untersuchung solcher Gedankeneinheiten handelt, eine Feststellung ebensowohl der in dem Subject enthaltenen empirischen Inhalte wie der Art und des Grundes ihrer Zusammenfassung\n.1) Sigwart, Methodenlehre. 2. Aufl. S. 543.\t2) Ebenda, S. 544.","page":75},{"file":"p0076.txt","language":"de","ocr_de":"76\nW. Wundt.\nerfordert. Allerdings ist das Subject unseres F\u00fchlens, Vorstellens und Wollens so zu sagen Subject im eminenten Sinne des Wortes, insofern die Einheit unseres Denkens der letzte logische Grund aller Subjectbegriffe \u00fcberhaupt ist. Aber dieser Umstand kann doch die Psychologie nicht hindern, nach dem realen Substrat auch dieses Subjectes zu fragen, ganz so wie die objectiven Wissenschaften zwar von \"gewissen urspr\u00fcnglich in der Form logischer Einheiten gegebenen Begriffen, wie z. B. die Naturwissenschaft von den Begriffen der Naturdinge, ausgehen, aber es stets als ihre Aufgabe betrachten, den realen Inhalt dieser zun\u00e4chst nur formal festgehaltenen Objectbegriffe zu bestimmen. F\u00fcr die Psychologie ist eben der einheitliche Thatbestand der eigenen psychischen Erlebnisse gleichfalls Object der Untersuchung. Sie darf sich durch die Thatsache, dass dieses Object das untersuchende Subject selbst ist, nicht abhalten lassen, von der n\u00e4chsten formalen Zusammenfassung der psychischen Vorg\u00e4nge auf ihre reale Verbindung und damit auf das reale Substrat dieses Subjectes zur\u00fcckzugehen, \u201e Der Begriff der Seelensubstanz versucht dies, indem er als das Substrat der empirisch gegebenen psychischen Vorg\u00e4nge ein nicht empirisch gegebenes Substrat annimmt. Dieser Begriff der Seelensubstanz erweist sich aber lediglich als die Umwandlung des logischen Einheitsbegriffs des Subjectes in eine reale Substanz. Er leistet daher in Wahrheit keine anderen Dienste, als sie jener Subjectbegriff auch schon geleistet hat. In diesem Sinne ist es nicht unrichtig, wenn gesagt wird, der Begriff der Seele leiste \u00bbder Psychologie wenigstens den Dienst, dass er sie methodisch erst m\u00f6glich macht\u00ab1). Man kann genau dasselbe von dem Begriff des Objectes in Bezug auf die Naturwissenschaft sagen. Logisch m\u00f6glich macht er sie, aber auch nicht mehr. Denn die Psychologie kann, so wenig wie die Naturwissenschaft, einen .Schritt thun, ohne sich \u00fcber die realen Merkmale Rechenschaft zu geben, an denen sie ihren Gegenstand von andern Gegenst\u00e4nden unterscheidet, und \u00fcber das reale Substrat, das sie daher als die Grundlage jener logischen Einheit des Begriffs anzusehen habe. Der so gebildete Begriff dieses realen Substrats kann m\u00f6glicher Weise blo\u00df ein vorl\u00e4ufiger sein, er kann\n1) Sigwart, a. a. O. S. 543.","page":76},{"file":"p0077.txt","language":"de","ocr_de":"Deber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 77\nder weiteren Berichtigung und Vervollst\u00e4ndigung bed\u00fcrfen. Aber irgend ein realer Ausgangspunkt muss gegeben sein. Der blo\u00df formale Begriff des Subjectes oder Objectes sagt immer nur, dass es etwas zu untersuchen gebe, und l\u00e4sst \u00fcber das wie und was v\u00f6llig im Ungewissen.\nNun ist es selbstverst\u00e4ndlich, dass das reale Substrat der Psychologie, so lange diese eine empirische Wissenschaft sein will, ebenfalls ein empirischer Gegenstand sein muss. Als solcher ist er in der That unmittelbar gegeben in dem psychophysischen Individuum. Er ist nicht gegeben in dem physischen Individuum, wie die materialistische Psychologie alter und neuer Zeit behauptet. Vielmehr steckt in dieser Behauptung bereits die metaphysische Annahme, dass die geistigen Vorg\u00e4nge blo\u00dfe Wirkungen oder Functionen des physischen Individuums seien. Eine solche Annahme ist aber, abgesehen von den Widerspr\u00fcchen, in die sie sich nachtr\u00e4glich mit dem Inhalt der psychologischen Erfahrung verwickelt, schon als Ausgangspunkt der Untersuchung unzul\u00e4ssig, weil sie als solcher eine falsche Behauptung ist: das physische Individuum ist uns niemals als Substrat seelischer Vorg\u00e4nge empirisch gegeben, sondern immer nur das psychophysische. Nicht minder ist die Annahme, das reale Substrat der geistigen Vorg\u00e4nge sei das psychische Individuum, unzul\u00e4ssig, weil, abgesehen von allen Erfahrungen \u00fcber die innigen Beziehungen des physischen zum psychischen Leben, das psychische Individuum als solches ebenso wenig als ein f\u00fcr sich bestehender Gegenstand existirt wie das physische Individuum eines Organismus mit seelischen Lebens\u00e4u\u00dferungen. Nach dem Tode oder in Folge gewisser St\u00f6rungen des Lebens kann allerdings der K\u00f6rper blo\u00df als physischer fort-existiren, aber er ist eben dann nicht mehr das Individuum, mit dem es die Psychologie zu thun hat; er ist es nicht einmal mehr in physischer Beziehung, denn ein todter Organismus nicht nur sondern auch ein lebender, aber in seinen geistigen Eigenschaften gest\u00f6rter ist selbst in dem Ablauf des physischen Geschehens nicht mehr das psychophysische Individuum der Psychologie. So kann z. B. ein Organismus noch leben, auch wenn er der vorher vorhandenen F\u00e4higkeit von Willens\u00e4u\u00dferungen beraubt ist; aber es sind dabei immer auch die physischen Lebens\u00e4u\u00dferungen wesentlich ver\u00e4ndert.","page":77},{"file":"p0078.txt","language":"de","ocr_de":"78\nW. Wundt.\nPsychisches und Physisches sind demnach als Complexe von Thatsachen zu betrachten, die in Folge bestimmter, hier nicht weiter zu er\u00f6rternder Merkmale von einander unterschieden, die aber deshalb noch keineswegs auf verschiedene Subjecte oder reale Substrate bezogen werden k\u00f6nnen. Jede solche isolirte Objectivirung w\u00fcrde eben so gut eine Ueberschreitung des empirisch gegebenen Zusammenhangs sein, als wenn man die optischen und die elektrischen Eigenschaften eines Krystalls auf verschiedene Gegenst\u00e4nde beziehen wollte. In der Naturwissenschaft ist zu einer gewissen Zeit dieses Streben ebenfalls vorhanden gewesen; es hat in der Substantia-lisirung der verschiedenen Naturerscheinungen seinen Ausdruck gefunden. Heute ist es unter dem Zwang des durch die Wechselbeziehungen der Naturkr\u00e4fte sich aufdr\u00e4ngenden Einheitsgedankens fast v\u00f6llig zur\u00fcckgetreten. Das hindert nicht, dass bis zu einem gewissen Grade die Trennung der wissenschaftlichen Arbeit erhalten bleiben kann. Denn allgemein haben sich ja die Wissenschaften nicht sowohl nach den letzten Objecten als nach den ma\u00dfgebenden Gesichtspunkten der Untersuchung geschieden, wobei diese wieder durch das logische Bed\u00fcrfniss der Trennung bestimmter Gruppen von Erscheinungen bestimmt werden. So hindert denn auch die Einheit des Substrates der Lebensvorg\u00e4nge, insbesondere aller h\u00f6heren, nicht, dass Physiologie und Psychologie getrennte Wege gehen. Freilich kann aber die Physiologie bei gewissen Functionsgebieten nicht umhin, auf die psychische Seite jener Vorg\u00e4nge R\u00fccksicht zu nehmen, und noch weniger ist die Psychologie im Stande, das geistige Leben unabh\u00e4ngig von dem physischen Sein und seinen Naturbedingungen zu untersuchen. An sich ist ja eben das psychophysische Individuum in seiner unmittelbaren Einheit der Gegenstand beider Gebiete, und nicht dieser Gegenstand, sondern die Thatsache, dass er verschiedene Seiten unserer Betrachtung darbietet, rechtfertigt die Trennung der Wissenschaften und ihrer Methoden ; und sie rechtfertigt diese Trennung nat\u00fcrlich immer nur insoweit, als uns nicht die reale Verbindung der Erscheinungen n\u00f6thigt, auf die urspr\u00fcngliche Einheit des Gegenstandes zur\u00fcckzugehen.\nMit diesem Vorbehalt wird nun aber auch innerhalb eines jeden der beiden Gebiete und insbesondere innerhalb der Psychologie jenes einheitliche psychophysische Individuum vor\u00fcbergehend","page":78},{"file":"p0079.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 79\nin seine beiden Bestandteile gesondert werden k\u00f6nnen. Es wird dann f\u00fcr diese Sonderung jeweils die R\u00fccksicht auf die besondere Bedeutung, die jeder derselben der allgemeinen Einheit des psychischen Lebens gegen\u00fcber besitzt, ma\u00dfgebend sein. In diesem Sinne kann dann wohl von einer physischen und von einer psychischen Seite der Psychologie geredet werden. Hierbei wird unter der ersteren der Theil des Gesammtzusammenhangs der psychischen Vorg\u00e4nge zu verstehen sein, der von dem physischen Individuum, insoweit dieses \u00fcberhaupt als eine f\u00fcr sich zu isolirende Einheit betrachtet werden darf, in entscheidender Weise mitbestimmt ist. Das psychische Individuum dagegen wird alles das umfassen, was so sehr von den geistigen Eigenschaften abh\u00e4ngt, dass dagegen die k\u00f6rperlichen nur als unerl\u00e4ssliche Nebenbestimmungen in Betracht kommen. Man darf sich aber nat\u00fcrlich hier so wenig wie in andern F\u00e4llen derartiger Abstraction verleiten lassen, die Ab-stractionsproducte in reale Objecte umzuwandeln. Es gibt f\u00fcr die Psychologie nur ein reales Object, und dieses ist das psychophysische Individuum selbst ; aber es gibt psychische Vorg\u00e4nge an diesem Object-Subject, welche in erster Linie von den k\u00f6rperlichen Eigenschaften desselben bestimmt sind, und andere, in denen die geistigen zu \u00fcberwiegender Geltung kommen.\nFragen wir nun nach den allgemeinen Merkmalen, nach denen diese Eigenschaften zu unterscheiden sind, so werden solche noth-wendig auf eigenth\u00fcmliche Gestaltungen der Causalit\u00e4t zur\u00fcckf\u00fchren. Das physische Individuum ist diejenige Seite der psychophysischen Einheit, die vollst\u00e4ndig aus den Principien der physischen Causalit\u00e4t, also aus Beziehungen abzuleiten ist, die sich thats\u00e4chlich oder wenigstens nach allgemeinen Forderungen in Causalgleichun-gen der fr\u00fcher bezeichneten Formen ausdr\u00fccken lassen. Das psychische Individuum dagegen ist diejenige Seite jener Einheit, die auf Verkn\u00fcpfungen nach Grund und Folge zur\u00fcckf\u00fchrt, die aus solchen Causalgleichungen weder thats\u00e4chlich abzuleiten sind, noch auch principiell sie voraussetzen lassen. Ich habe oben (S, 45 f.) bereits auf zwei allgemeine Thatbest\u00e4nde des psychischen Geschehens hingewiesen, die zwar nach dem Princip des psychophysischen Parallelismus in der mannigfaltigsten Weise mit den Principien der physischen Causalit\u00e4t verbunden sein k\u00f6nnen, selbst aber doch in diesen niemals","page":79},{"file":"p0080.txt","language":"de","ocr_de":"80\nW. Wundt.\neingeschlossen sind : sie bestehen erstens in der eigent\u00fcmlichen Verbindungsweise der psychischen Elemente mit einander, und zweitens in den eigenth\u00fcmlichen Werthbestimmungen, denen sie unterworfen sind. Auf Regelm\u00e4\u00dfigkeiten dieser psychischen Verbindungen und Werthbestimmungen werden demnach auch die Principien der psychischen Causalit\u00e4t notwendig hinausf\u00fchren. Von Causalit\u00e4t wird aber hier mit demselben Rechte wie bei den zu der Aufstellung der Causalgleichungen f\u00fchrenden Erscheinungen geredet werden k\u00f6nnen, sobald nur Regelm\u00e4\u00dfigkeiten des Geschehens vorliegen, die unser logisch verkn\u00fcpfendes Denken zur Anwendung des Princips von Grund und Folge auffordern. Die ganze Art der Verbindung schlie\u00dft jedoch in diesem Fall die Anwendung von Causalgleichungen aus, die sich direct auf Wechselwirkungen von bewegenden Kr\u00e4ften und Energien, indirect auf ein constantes, an und f\u00fcr sich der Werthbestimmungen ermangelndes Substrat beziehen. Eben dieser Umstand, dass die Principien der psychischen Causalit\u00e4t, wie von vornherein nach den allgemeinen Eigenschaften des Geistigen zu erwarten ist, den physischen Causalbeziehungen gegen\u00fcber ein absolut Disparates, weder mit ihnen in ein Verh\u00e4ltniss der Aehnlichkeit noch der Unterordnung zu Bringendes darstellen, macht zugleich begreiflich, dass beide Causalit\u00e4tsformen an einem und demselben realen Substrat, dem psychophysischen Individuum, zu beobachten sind, und dass sie sich an ihm weder st\u00f6ren noch eigentlich auf real verschiedene Thatsachen beziehen, spndern dass sie vielmehr nur die einander erg\u00e4nzenden Grunds\u00e4tze zur Interpretation eines und desselben thats\u00e4chlichen Zusammenhanges abgeben. Wenn es neben dem Gebiet von Lebensvorg\u00e4ngen, auf welches so das physische und das psychische Causalprincip gleichzeitig anwendbar sind und in dieser wechselseitigen Durchdringung eigentlich erst die ganze Causalit\u00e4t des beseelten Individuums umfassen, noch zahlreiche andere Lebensvorg\u00e4nge sowohl wie andere Naturvorg\u00e4nge gibt, f\u00fcr die das nicht m\u00f6glich ist, so liegt \u00fcbrigens hierin kein Widerspruch gegen die Auffassung, dass beide Principien zusammengeh\u00f6ren und nur in ihrer Erg\u00e4nzung die ganze Causalit\u00e4t des Seins ausmachen. Denn selbst f\u00fcr den rein empirischen Standpunkt ist dies lediglich ein Hinweis darauf, dass uns bei den Naturerscheinungen","page":80},{"file":"p0081.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 81\nim allgemeinen nur derjenige Zusammenhang gegeben ist, den wir, weil er sich ausschlie\u00dflich auf die objective Sinneswahrnehmung gr\u00fcndet, den \u00e4u\u00dferen nennen. Dabei bleibt es dahingestellt, ob dieser \u00e4u\u00dfere Zusammenhang wirklich der einzige ist, der den blo\u00df objectiv wahrgenommenen Erscheinungen zukommt, oder ob er blo\u00df derjenige ist, auf den sich verm\u00f6ge der Bedingungen der Sinneswahrnehmung unser Erkennen beschr\u00e4nkt.\nVerm\u00f6ge dieser wechselseitigen Durchdringung und Erg\u00e4nzung der beiden Causalit\u00e4ten, der physischen und der psychischen, werden wir nun schon bei solchen Bewusstseinsvorg\u00e4ngen, deren Zustandekommen zun\u00e4chst auf physischen Causalgesetzen beruht, immer zugleich die psychische Causalit\u00e4t in ihren eigenth\u00fcmlichen, in bestimmten Verkn\u00fcpfungen der Elemente und in Werthbestimmungen sich beth\u00e4tigenden Wirkungen zu erwarten haben. Ein Gebiet dieser Art bilden vor allem die Empfindungen, deren Abh\u00e4ngigkeit von physischen Einwirkungen und von den physischen Eigenschaften des Individuums stets den Hauptst\u00fctzpunkt der materialistischen Psychologie gebildet hat. Freilich war das mit einem gewissen Schein von Recht eigentlich nur so lange m\u00f6glich, als man, ohne allzu sehr gegen die psychologische Erfahrung zu versto\u00dfen, der naiven Anschauung huldigen konnte, mit den zeitlichen und r\u00e4umlichen Eigenschaften der Sinneserregungen seien ohne weiteres auch die zeitlichen und r\u00e4umlichen Eigenschaften unserer Vorstellungen gegeben. Darum pflegt, wie fr\u00fcher bemerkt, noch heute die materialistische Psychologie an dieser Annahme festzuhalten, indem sie, einfache Empfindungen und aus solchen zusammengesetzte Sinneswahrnehmungen unter dem Generaltitel \u00bbEmpfindungen\u00ab zusammenfassend, das psychologische Problem der Vorstellungsbildung umgeht. In Wahrheit kann von der Psychologie die Empfindung nur als ein intensives Quale betrachtet werden, dessen Verbindung mit andern \u00e4hnlichen Empfindungen zwar durch gewisse regelm\u00e4\u00dfig coexistirende oder einander folgende Reizeinwirkungen \u00e4u\u00dferlich veranlasst, nicht aber im eigentlichen Sinn verursacht werden kann. Denn eine Anzahl noch so regelm\u00e4\u00dfig verbundener Nervenerregungen ist immer noch keine angeschaute Mannigfaltigkeit. Der materialistische Nativismus, der\nWundt, Philos, Studien. X.\t\u00df","page":81},{"file":"p0082.txt","language":"de","ocr_de":"82\nW. Wundt.\njene ohne weiteres in diese umwandelt, substituirt eben dabei unbewusst dem objectiven ErregungsVorgang das anschauende Subject, das die angeschaute Mannigfaltigkeit bereits besitzt und so auch den objectiven Vorgang unmittelbar als einen zeitlich-r\u00e4umlichen betrachtet. In aller Verbindung und Verkn\u00fcpfung von Empfindungen ist also schon die psychische Causalit\u00e4t wirksam. Auf die Art, wie sie wirkt, ist die Ordnung und Verbindung der physischen Eindr\u00fccke von bestimmendem Einfluss ; das lebendige Anschauungsbild ist aber von jener objectiven Verkn\u00fcpfungsweise nicht minder verschieden, wie Roth und Blau als Lichtempfindungen von den objectiven Aetherschwingungen verschieden sind. Der Umstand, dass wir der Mannigfaltigkeiten der Anschauung bed\u00fcrfen, um uns die objectiven Vorg\u00e4nge als unabh\u00e4ngig vom Subject existirende vorzustellen, l\u00e4sst jedoch selbst Psychologen immer wieder \u00fcbersehen, dass \u00fcber die psychologische Entwickelung unserer Vorstellungen nicht im entferntesten Rechenschaft gegeben ist, wenn wir die psychische Synthese der Empfindungen auf irgend einen physischen Vorgang zur\u00fcckbeziehen.\nNicht selten spielt dabei wohl die Verwechselung des Standpunktes der Psychologie mit dem der Erkenntnisstheorie eine gewisse Rolle. Beide Wissenschaften haben bei der Zergliederung der objectiven Wahrnehmung von dem gegebenen Object auszugehen, und dieses gegebene Object ist f\u00fcr beide nat\u00fcrlich das n\u00e4mliche: der \u00e4u\u00dfere Gegenstand mit seinen zeitlichen, r\u00e4umlichen und qualitativen Eigenschaften. Von da an sind aber die Wege der Untersuchung verschiedene, weil die Aufgaben verschiedene sind. Die Erkenntnisstheorie fr\u00e4gt nach dem Wesen des objectiven Gegenstandes, wie es als das unabh\u00e4ngig von dem denkenden Subject existirende Substrat der Wirklichkeit angesehen werden muss. Hierbei kann dieselbe, wenn sie nicht was freilich oft genug geschehen kann und noch geschieht in einen unfruchtbaren Subjectivismus und Psychologismus verfallen will, aus dem es keinen rechtm\u00e4\u00dfigen R\u00fcckweg zur objectiven Existenz gibt, nur das n\u00e4mliche Verfahren w\u00e4hlen, das die objective Wissenschaft, vornehmlich also die Naturwissenschaft, im einzelnen befolgt hat: sie muss zun\u00e4chst das Object mit allen seinen unmittelbar ihm zukommenden Eigenschaften, einschlie\u00dflich der dass es objective","page":82},{"file":"p0083.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 83\nExistenz hat, als real existirend voraussetzen, und dann die Widerspr\u00fcche, in welche diese urspr\u00fcngliche Voraussetzung der unmittelbaren Erfahrung verwickelt, successiv beseitigen, indem sie genau in dem Ma\u00dfe, als es die Aufgabe erheischt, die gegebenen That-sachen durch H\u00fclfshegriffe erg\u00e4nzt. Ganz anders ist das Verfahren der Psychologie. Indem es ihr unter anderm obliegt, den sub-jectiven Vorgang bei der Bildung der Objectsvorstellung zu untersuchen, hat sie zun\u00e4chst die Vorstellung in allen ihren Eigenschaften als ein subjectives Ereigniss hinzunehmen, also vorauszusetzen, jene sei in ihren zeitlichen, r\u00e4umlichen ebenso wie in ihren qualitativen Eigenschaften unmittelbar als Empfindung gegeben. Dabei hat sie aber nun ebenso wenig stehen zu bleiben wie die Erkenntnisstheorie bei ihrer analogen objectiven Voraussetzung; sondern sie hat den Widerspr\u00fcchen, in die sie durch dieselbe verwickelt wird, Schritt f\u00fcr Schritt Rechnung zu tragen und danach die urspr\u00fcngliche Auffassung zu berichtigen und eventuell H\u00fclfshegriffe zu ihrer Beseitigung einzuf\u00fchren. Nat\u00fcrlich sind diese Widerspr\u00fcche, gem\u00e4\u00df den abweichenden Aufgaben der Psychologie, hier ganz andere als dort, und demnach m\u00fcssen auch die Berichtigungen und H\u00fclfshypothesen eine andere Gestalt annehmen. Sobald sich irgend ein Bestandtheil des untersuchten psychischen Gebildes nicht als unmittelbar gegeben, sondern als auf mittelbarem Wege zu Stande kommend darstellt, so ist n\u00e4mlich zu ermitteln, aus welchen subjectiven Bedingungen er hervorgegangen ist, und wie diese Bedingungen bei seiner Erzeugung zusammengewirkt haben. Darum hat jede Aufl\u00f6sung eines solchen psychologischen Widerspruchs nothwendig ein doppeltes Resultat : erstens erweist sich ein urspr\u00fcnglich f\u00fcr einfach gehaltenes psychisches Gebilde oder eine scheinbar einfache Eigenschaft desselben als zusammengesetzt aus mehreren Elementen; und zweitens weist die Zusammensetzung auf einen psychischen Vorgang und damit auf einen Act psychischer Causalit\u00e4t hin, der die Verbindung zu Stande brachte. Wendet man diese Gesichtspunkte auf die psychologische Untersuchung der sinnlichen Wahrnehmung an, so scheint mir nun kein Zweifel zu bestehen, dass die Ansicht, die zeitlichen und r\u00e4umlichen Eigenschaften seien einfache und unzerlegbare Empfindungsqualit\u00e4ten, der Untersuchung der n\u00e4heren Bedingungen der Wahrnehmung\n6*","page":83},{"file":"p0084.txt","language":"de","ocr_de":"84\nW. Wundt.\ngegen\u00fcber unm\u00f6glich aufrecht erhalten werden kann, ungef\u00e4hr ebenso wenig wie sich in der Physik die Ansicht aufrecht erhalten lie\u00df, die Farben seien objective Eigenschaften der K\u00f6rper, die den subjectiven Farbenempfindungen gleichen. Denn jene nativistische Ansicht k\u00f6nnte nur dann allenfalls beibehalten werden, wenn jeder localen Empfindung ein von dem Ort des Eindrucks abh\u00e4ngiger, von anderen Factoren aber unabh\u00e4ngiger Raumwerth zuk\u00e4me. Dies ist aber durchaus nicht der Fall. Vielmehr lehrt die Analyse der Wahrnehmungen, dass alle Raumbestimmungen immer erst auf Grund vieler zum Theil verwickelter Empfindungseinfl\u00fcsse zu Stande kommen, und dass die zeitliche und r\u00e4umliche Vorstellung das Product aller dieser Einfl\u00fcsse ist. In der That erkl\u00e4rt sich das Widerstreben gegen diese Folgerung auch nur daraus, dass die Annahme eines solchen Processes die Annahme einer psychischen Causalit\u00e4t in sich schlie\u00dft, die man durchaus vermeiden m\u00f6chte, um das psychische Geschehen unmittelbar aus der physischen Causalit\u00e4t abzuleiten. So ereignet sich hier das eigenth\u00fcmliche Schauspiel, dass man, sobald die psychologische Analyse bis zu dem Punkte gelangt ist, wo die Erforschung der eigenth\u00fcmlichen Gesetze der psychischen Causalit\u00e4t, also die Hauptaufgabe deT Psychologie zu beginnen h\u00e4tte, umkehrt, um auf der gangbaren Heerstra\u00dfe physiologischer Voruntersuchungen bleiben zu k\u00f6nnen. Aehnlich wie mit den zeitlichen und r\u00e4umlichen Eigenschaften verh\u00e4lt es sich dann auch mit den Gef\u00fchlen. Hier hilft die Annahme eines Gef\u00fchlstones, dem in der Regel eine \u00e4hnliche nativistische Bedeutung beigelegt wird wie der Zeit- und Raumqualit\u00e4t, \u00fcber alle Schwierigkeiten der causalen Analyse, freilich aber auch \u00fcber jede wirkliche L\u00f6sung der psychologischen Aufgaben hinweg.\nBildet hiernach die Entstehung der Sinneswahrnehmungen dasjenige Gebiet psychischer Vorg\u00e4nge, welches in seinen Entstehungsbedingungen am engsten von der Organisation des physischen Individuums abh\u00e4ngt, da nicht blo\u00df die einzelnen Empfindungen, die in der Wahrnehmung verbunden werden, sondern auch die regelm\u00e4\u00dfige Verkn\u00fcpfung dieser Empfindungen, ohne die keine psychische Ordnung derselben zu Stande kommen k\u00f6nnte, auf physischen Bedingungen beruht, so zeigt doch gerade schon dieses Gebiet","page":84},{"file":"p0085.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 85\naugenf\u00e4llig, dass es keinen zusammengesetzten psychischen Vorgang, also, da alle realen Vorg\u00e4nge zusammengesetzt sind, \u00fcberhaupt keinen sinnlichen Process im Bewusstsein gibt, bei dessen Bildung nicht bereits die psychische Causalit\u00e4t in ihrer specifischen Eigen-thiimlichkeit mitwirkt. Ehe wir uns noch \u00fcber diese Eigenth\u00fcm-lichkeit selbst Rechenschaft gegeben haben, ist ja ohne weiteres klar, dass psychische Gebilde, wie eine Zeitstrecke, eine Taktform, eine fl\u00e4chenhafte oder k\u00f6rperliche Vorstellung, auf Verbindungsgesetzen beruhen m\u00fcssen, f\u00fcr die uns die physischen Causalgleichungen kein Ma\u00df geben k\u00f6nnen, weil es sich hier \u00fcberhaupt um Vorg\u00e4nge handelt, die mit den physischen Causalbeziehungen unvergleichbar sind.\nEin zweites Gebiet psychischer Eigenschaften, f\u00fcr das man zun\u00e4chst das physische Individuum als Erkl\u00e4rungsgrund herbeizuziehen geneigt sein wird, besteht in den Nachwirkungen psychischer Processe, die nach k\u00fcrzerer oder l\u00e4ngerer Zeit eine Erneuerung oder, wenn nicht diese \u2014 da es absolute Reproductionen psychischer Vorg\u00e4nge \u00fcberhaupt nicht gibt \u2014 so doch neue Vorg\u00e4nge m\u00f6glich machen, die irgendwie in ihrer Beschaffenheit von vorangegangenen abh\u00e4ngig sind und auf diese bezogen werden. Die \u00e4ltere Psychologie, die eine von dem physischen Individuum unabh\u00e4ngige substantielle Causalit\u00e4t der Seele annahm, setzte zur\u00fcckbleibende \u00bbSpuren \u00ab, Nachwirkungen in der Seele selbst voraus, die unabh\u00e4ngig von etwaigen Nachwirkungen im K\u00f6rper existiren k\u00f6nnten. Die heutige Psychologie ist mit Recht zu einer Beseitigung dieser Anschauung \u00fcbergegangen. Empfindungen, die ohne \u00e4u\u00dfere Reize entstehen, gehen aus inneren, in den Sinnescentren wirksamen Reizen hervor, die mindestens in-ge wissen F\u00e4llen direct nachweisbar sind, in allen andern aber um des im \u00fcbrigen v\u00f6llig gleichartigen Verhaltens der Empfindungen willen angenommen werden k\u00f6nnen. Zu der Hypothese, es gebe nicht-sinnliche, rein seelische Vorstellungen ist daher in Wahrheit, abgesehen etwa von dem Wunsche, auf diesem Wege ein von dem physischen unabh\u00e4ngiges psychisches Individuum zu gewinnen, gar kein Grund vorhanden. Die psychologische Analyse der Associationsvorg\u00e4nge unterst\u00fctzt diese psychophysische Auffassung \u00fcberdies dadurch, dass sie die Associationen als Verbindungen nachweist, die nicht zwischen den Vorstellungen selbst, sondern zwischen deren Empfindungselementen","page":85},{"file":"p0086.txt","language":"de","ocr_de":"86\nW. Wundt.\nzu Stande kommen, da sich nur auf diese Weise erkl\u00e4rt, dass eine reproducirte Vorstellung nie vollst\u00e4ndig einer fr\u00fcher da gewesenen gleicht, und da \u00fcberdies in vielen F\u00e4llen direct wahrzunehmen ist, dass in eine einzige Vorstellung Bestandtheile mehrerer urspr\u00fcnglich selbst\u00e4ndiger Wahrnehmungen eingehen. Nun ist es klar, dass die Annahme eines Zur\u00fcckbleibens der Vorstellungen in der Seele nur dann einigerma\u00dfen haltbar w\u00e4re, wenn die von der Seele gebildeten, aus Empfindungen zusammengesetzten Vorstellungen selbst in ihr erhalten blieben, dass sie es aber nicht ist, wenn sich zeigt, dass eigentlich nur die Empfindungselemente in gewissem Sinne erhalten bleiben, indem sie Anlagen zur\u00fccklassen, die ihre Wiederholung erm\u00f6glichen. Ist dagegen jede neu auftauchende Vorstellung immer wieder Erzeugniss einer neuen psychischen Synthese, so werden wir nothwendig zu der Auffassung gedr\u00e4ngt, dass die centralen Substrate der Associationsth\u00e4tigkeit physiologische H\u00fclfs-apparate der \u00e4u\u00dferen Sinneswerkzeuge sind, durch welche die verg\u00e4nglichen Einwirkungen auf die letzteren der Seele bleibend verf\u00fcgbar werden. Dem entspricht es auch, dass wir im Stande sind, die Associationen, insoweit sie eben in Erneuerungen bestimmter Empfindungsinhalte bestehen, auf die allgemeinen Gesetze der physiologischen Uebung zur\u00fcckzuf\u00fchren.\nAber freilich sind damit noch keineswegs die Associations Vorg\u00e4nge selbst erkl\u00e4rt: sie sind es in Wahrheit ebenso wenig, wie die physiologischen Einrichtungen der Sinnesapparate \u00fcber die psychischen Eigenschaften der Wahrnehmungsvorg\u00e4nge, insbesondere der ihnen eigenthiimlichen Gesetze r\u00e4umlicher und zeitlicher Ordnung Rechenschaft geben. Vielmehr besteht ja eben auf dem neu errungenen Standpunkt, der nicht eine Reproduction der fertigen Vorstellungen, sondern nur eine solche der einzelnen Empfindungselemente zugeb\u00e7n kann, das Wesentliche bei der Association in der eigenth\u00fcmlichen Verbindung dieser Bestandtheile, die zumeist verschiedenen fr\u00fcheren Wahrnehmungen oder auch Wahrnehmungen und neuen Eindr\u00fccken angeh\u00f6ren, zu einem Ganzen. Diese Verbindung muss aber bei jedem einzelnen Associationsacte neu vollzogen werden. Wie dieser Act psychischer Causalit\u00e4t in seiner Beschaffenheit den bei der Verarbeitung unmittelbarer Sinneseindr\u00fccke stattfindenden Processen der Synthese verwandt ist, so ist","page":86},{"file":"p0087.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Prineip des psychophysischen Parallelismus. 87\nes nun auch selbstverst\u00e4ndlich, dass \u00fcberhaupt Association und Sinnes Wahrnehmung nicht mehr, wie es von der alten, an der Fiction unver\u00e4nderlicher und beinahe unsterblicher Vorstellungen festhaltenden Psychologie geschah, als von einander zu trennende Processe betrachtet werden, da sie im Gegentheil \u00fcberall in einander eingreifende und in sich wieder gleichartige Theilvorg\u00e4nge des einheitlich in sich zusammenh\u00e4ngenden psychischen Geschehens sind. In der That sind besonders die Formen der von der alten (und mit einer merkw\u00fcrdigen Beharrlichkeit zumeist auch noch von der neueren) Psychologie v\u00f6llig \u00fcbersehenen Formen der simultanen Association einerseits die wesentlichsten Bestandtheile der Wahrnehmungsprocesse seihst, anderseits bilden sie die Br\u00fccke von diesen zu den Erinnerungsvorg\u00e4ngen, wobei sie ohne scharf zu ziehende Grenze in die Erscheinungen der associativen Aneinanderreihung in der Zeit \u00fcbergehen.\nAber noch in einer andern Beziehung ist der Vorgang der Association nur d\u00fcrftig nach seiner \u00e4u\u00dferlichsten Seite erfasst, wenn man die ungeheure Bedeutung, die f\u00fcr ihn die Vorg\u00e4nge psychischer Causalit\u00e4t besitzen, \u00fcbersieht. Von den Sinneswahrnehmungen k\u00f6nnen wir noch mit einem gewissen Recht oder wenig Schein von Recht sagen, sie seien durch die physischen Sinneseindr\u00fccke zwingend bestimmt, \u2014 sie sind dies, so weit eben nicht durch die associativen Processe, ohne die schon sie nicht erkl\u00e4rbar w\u00e4ren, ein Zusammenhang des Empfindungsinhaltes in seinen eigenen Bestandteilen sowie mit der ganzen Vergangenheit des Bewusstseins vermittelt wird, wie das z. B. bei den f\u00fcr die Entwickelung der sinnlichen Wahrnehmungen so wichtigen Assimilationen deutlich hervortritt. Bei denjenigen Associationen, die als Grundlage der Erinnerungsvorg\u00e4nge dienen, gewinnt nun dieser fast unbegrenzte Zusammenhang mit den Gesammterlebnissen des individuellen Bewusstseins die \u00fcberwiegende Bedeutung, so dass gegen ihn die durch die Neuheit des Eindrucks physiologisch beg\u00fcnstigten Bestandtheile mehr oder weniger zur\u00fccktreten. Man kann von den so genannten Associationsgesetzen mit Fug und Recht dasselbe sagen, was den Seelenverm\u00f6gen vorgeworfen wurde: sie sind nichts als \u00bbleere M\u00f6glichkeiten\u00ab. Wenn die einzelnen Associationsformen gegeben sind, so kann man nachweisen, wo diese oder jene Form","page":87},{"file":"p0088.txt","language":"de","ocr_de":"88\nW. Wundt.\neingesetzt hat, wo dieses oder jenes fr\u00fchere Erlebniss wirksam geworden ist; aber eine Deduction in \u00e4hnlichem Sinne, wie wir sie der einzelnen Naturerscheinung gegen\u00fcber versuchen, ist von vornherein unausf\u00fchrbar; und das wird auch nicht anders, wenn wir die Schablone der alten Aristotelischen Formen durch die auf die Elementarprocesse zur\u00fcckgreifende gel\u00e4utertere Auffassung ersetzen. Der letzte Grund des einzelnen Erinnerungsactes wie jedes einzelnen psychischen Actes \u00fcberhaupt bleibt immer die ganze Vergangenheit des Bewusstseins sammt den urspr\u00fcnglichen Anlagen, die diese Vergangenheit selbst schon mitbestimmt haben. Aus dieser so gewordenen Gesammtanlage wird zwar immer nur Einzelnes wirksam; aber darauf, was wirksam wird, ist stets zugleich die Totalit\u00e4t aller \u00fcbrigen Bewusstseinsbedingungen von Einfluss. So f\u00fchren selbst die entscheidenden Ursachen einer einzelnen Association bereits auf eine unendliche Reihe zur\u00fcck, und wenn wir in vielen F\u00e4llen, die leicht aus n\u00e4chstgelegenen Bedingungen abzuleiten sind, hiervon abstrahiren k\u00f6nnen, so geschieht dies doch immer mit dem Vorbehalte, dass nicht \u00fcbersehene Glieder aus jenem unbegrenzten Gesammtzusammenhang der Causalit\u00e4t des Einzelbewusstseins auf den Verlauf eingewirkt haben.\nNun ist man freilich immer wieder geneigt, diesem psychologischen Thatbestande die ganz allgemeine Forderung der physischen Causalit\u00e4t entgegenzuhalten, dass schlie\u00dflich jeder einzelne Vorgang im physischen Organismus durch physische Causalit\u00e4t determinirt, also schlie\u00dflich im Princip durch eine wenn auch noch so gro\u00dfe Anzahl von Kraft- und Transformationsgleichungen abzuleiten sein m\u00fcsse, \u2014 eine Betrachtungsweise, die nat\u00fcrlich auch f\u00fcr alle weiteren psychischen Functionen geltend gemacht wird. JJnd gewiss wird Niemand, der das Princip des psychophysischen Parallelismus f\u00fcr eine die Anspr\u00fcche physischer und psychischer Causalit\u00e4t in ein vereinbares Verh\u00e4ltniss bringende Form h\u00e4lt, jener allgemeinen Forderung widersprechen. In der That steht und f\u00e4llt dieselbe meines Erachtens mit der Anerkennung oder Nichtanerkennung der allgemeinen logischen Principien der Naturwissenschaft, speciell des Princips der geschlossenen Naturcausalit\u00e4t. Wer da sagt: \u00bbdieses Princip hat sich zwar als richtig f\u00fcr ein begrenztes Gebiet von Erscheinungen und als fruchtbar f\u00fcr die Erforschung sehr vieler","page":88},{"file":"p0089.txt","language":"de","ocr_de":"Deber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 89\nweiterer Gebiete erwiesen, aber ein zwingender Beweis daf\u00fcr, dass es auf die Gesammtheit der Naturerscheinungen anwendbar sei, ist nicht erbracht\u00ab, \u2014 wer sich auf diesen Standpunkt zur\u00fcckzieht, dem ist freilich von vornherein zuzugeben, dass, wenn er einen vollst\u00e4ndigen Inductionsbeweis f\u00fcr dasselbe verlangt, ein solcher ebenso wenig wie etwa f\u00fcr die G\u00fcltigkeit des Tr\u00e4gheitsgesetzes jenseits der Grenzen der uns bekannten materiellen Welt jemals zu erbringen sein wird. In Wahrheit steht jenes Postulat mit den fundamentalen Voraussetzungen \u00fcber die Materie und ihre Kr\u00e4fte in so engem Zusammenhang, dass auch diese nicht mehr als g\u00fcltig angesehen werden k\u00f6nnen, wenn man jenes aufgibt; andere Voraussetzungen, die an Stelle der bisher recipirten treten oder durch diese erg\u00e4nzt werden k\u00f6nnten, sind aber bis jetzt nicht aufgestellt worden, \u2014 denn die allgemeine Behauptung, dass f\u00fcr irgend welche Naturerscheinungen andere Naturgesetze g\u00fcltig seien, wird man doch nicht f\u00fcr eine solche Voraussetzung halten k\u00f6nnen. Statt auf Grund psychologischer Erfahrungen, die an und f\u00fcr sich nur \u00fcber Fragen der psychischen und nicht der physischen Causalit\u00e4t entscheiden, das von der Naturwissenschaft befolgte Princip zu verwerfen, wird man also doch besser thun, zuzusehen, ob sich nicht unter der Annahme der ausnahmslosen Geltung jenes Princips eine Auffassung der psychischen und ihres Verh\u00e4ltnisses zur physischen Causalit\u00e4t finden lasse, die der ersten ihr Hecht gibt, ohne der zweiten das ihrige einzuschr\u00e4nken. Nun sagt das physische Causal-princip nichts anderes aus, als dass die Ursachen f\u00fcr irgend welche Vorg\u00e4nge der physischen Natur immer nur innerhalb dieser physischen Natur und daher unter den f\u00fcr sie g\u00fcltigen Gesetzen, niemals aber au\u00dferhalb derselben gesucht werden sollen. Dagegen will es nat\u00fcrlich nicht sagen, dass jede einzelne Erscheinung auf diesem Wege vollst\u00e4ndig begriffen werden k\u00f6nne, oder dass irgend ein einzelnes Geschehen, das sich der vollst\u00e4ndigen causalen Analyse von physischer Seite entzieht, \u00fcberhaupt als wissenschaftlich unanalysirbar unber\u00fccksichtigt zu lassen sei. Vielmehr ist das Postulat der geschlossenen Naturcausalit\u00e4t an und f\u00fcr sich nur eine regulative Idee, nach der wir noth wendig handeln m\u00fcssen, so weit wir \u00fcberhaupt den Naturbedingungen nachgehen k\u00f6nnen oder wollen, nach der wir aber die einzelne","page":89},{"file":"p0090.txt","language":"de","ocr_de":"90\nW. Wundt.\nErscheinung selber niemals mit absoluter Vollst\u00e4ndigkeit abzuleiten im Stande sind. Die Rolle einer solchen regulativen Idee spielt das Princip insbesondere \u00fcberall da, wo die L\u00f6sung der cau-salen Aufgabe zu einem unendlichen, also transcendenten Problem wird. Nun geht in einem gewissen Sinn jedes einzelne, auch das einfachste Causalproblem, sobald man es in Verbindung mit den weiteren Causalreihen bringt, mit denen es im Zusammenhang steht, in eine unendliche Aufgabe \u00fcber. Da wir aber eine solche unbegrenzte Weiterverfolgung in einem gro\u00dfen Gebiet der Naturerkl\u00e4rung unterlassen k\u00f6nnen, ohne damit die L\u00f6sung der Einzelprobleme zu sch\u00e4digen, ja im Gegentheil zum Behuf einer solchen L\u00f6sung unterlassen m\u00fcssen, so betrachten wir in allen solchen F\u00e4llen die einzelnen Causalprobleme mit Recht als beschr\u00e4nkte oder doch willk\u00fcrlich zu beschr\u00e4nkende und darum an sich selbst rein empirische Aufgaben. Das wird anders in allen den F\u00e4llen, wo in den f\u00fcr jede gegebene Wirkung in Ansatz zu bringenden n\u00e4chsten Ursachen bereits Unmittelbar Bedingungen mit enthalten sind, die ohne einen unendlichen Causalregressus gar nicht begriffen werden k\u00f6nnten. Dieser Fall, der bei zahlreichen Lebensvorg\u00e4ngen und vornehmlich bei psychophysischen Erscheinungen vorliegt, unterscheidet sich wesentlich von jenem andern, bei dem das Causalproblem nur durch den Regressus auf weitere und weitere sich anschlie\u00dfende Probleme transcendent wird. Dass die Erde in diesem Moment diese bestimmte Stellung zur Sonne einnimmt, ist aus ihren unmittelbar vorangegangenen Zust\u00e4nden vollst\u00e4ndig abzuleiten. Diese ihrerseits f\u00fchren dann immer weiter und schlie\u00dflich auf eine unendliche Reihe zur\u00fcck, die wir irgendwo willk\u00fcrlich abbrechen m\u00fcssen. Die Reihe kann in einzelnen Gliedern hypothetisch und m\u00f6glicher Weise auch irrig sein, aber keiner ihrer Bestandtheile schlie\u00dft ein transcendentes Problem ein: letzteres entsteht erst dann, wenn wir fordern, es solle in dieser Weise bis zu einem absoluten Anfang der Dinge zur\u00fcckgegangen werden. Ein einzelner Lebensvorgang und besonders ein einzelner Gehirnvorgang dagegen kann unmittelbar in sich die Nachwirkungen einer Causal-reihe enthalten, die wir weder thats\u00e4chlich noch hypothetisch zu reconstruiren verm\u00f6gen.. Hier bleibt daher von vornherein das Princip der physischen Causalerkl\u00e4rung eine blo\u00dfe Forderung, mit","page":90},{"file":"p0091.txt","language":"de","ocr_de":"lieber psychische Causalit\u00e4t und das Prineip des psychophysischen Parallelismus. 91\nder wir nur ausdr\u00fccken, dass eine gegebene physische Erscheinung als solche nothwendig auch dem allgemeinen Zusammenhang des physischen Geschehens angeh\u00f6re, ohne uns damit einer wirklichen Ableitung aus demselben unterziehen zu wollen. Die Erfahrung weist darauf hin, dass \u00fcberall im Gebiet der Lebensvorg\u00e4nge solche Verdichtungen unbegrenzter Causalverbindungen, die in das einzelne Geschehen her\u00fcberwirken, Vorkommen, und dass sie auch hier wieder haupts\u00e4chlich den h\u00f6heren Organismen eigen sind, bei denen uns zugleich der parallel gehende psychische Zusammenhang zwar ebenfalls kein vollst\u00e4ndiges, aber doch in Wirklichkeit ein ungleich umfassenderes Bild von der Ausdehnung der vorhandenen Causal-reihen er\u00f6ffnet. Eben darum beginnt hier, wo die realen Aufgaben der Physiologie nur in h\u00f6chst begrenztem Umfange l\u00f6sbar sind, die Psychologie mit ihren ungleich weiter \u00fcberschaubaren Zusammenh\u00e4ngen des psychischen Geschehens ein H\u00fclfsmittel der Physiologie zu werden. Wie dagegen diese letztere im Stande sein sollte, der Psychologie bei der Erforschung irgend weiter zur\u00fcckreichender psychischer Causalverbindungen Dienste zu leisten oder sie gar auf diesem ihrem eigensten Gebiete abzul\u00f6sen, ist absolut nicht einzusehen. Jeder Versuch hierzu kann nur dazu f\u00fchren, dass die psychologischen Probleme selbst gewaltsam unterdr\u00fcckt werden, ohne dass nat\u00fcrlich darum die an ihre Stelle gesetzten physischen Probleme gel\u00f6st w\u00fcrden. Statt dessen hilft man sich dann mit einer ganz allgemeinen R\u00fcckverweisung auf das Postulat der Natur-causalit\u00e4t, ohne zu bemerken, dass eben dies Postulat im vorliegenden Fall eine Regel bleibt, nach der wir jeweils die einzelnen Erscheinungen zu verkn\u00fcpfen haben, die aber, sobald man sie, um mit Kant zu reden, in ein \u00bbconstitutives Prineip\u00ab umwandelt, d. h. sobald man die Totalit\u00e4t der Bedingungen auch nur hypothetisch als gegeben annimmt, den Fehler einschlie\u00dft, einen unendlichen Regressus als wirklich vollendbar, eine transcendente Aufgabe als empirisch l\u00f6sbar zu behandeln. Das Prineip der geschlossenen Naturcausalit\u00e4t in dieser umfassenden Bedeutung, weit entfernt ein empirisches Gesetz zu sein, ist aber nur der Grundsatz, dass unser Denken die innerhalb der empirisch erkennbaren Zusammenh\u00e4nge mit Erfolg angewandten Principien als allgemeing\u00fcltige anerkennt, also nicht nur jeder neuen Erfahrung gegen\u00fcber anwendet,","page":91},{"file":"p0092.txt","language":"de","ocr_de":"92\nW. Wundt.\nsondern auch, fordert, dass sie \u00fcber den gesammten, in seiner Totalit\u00e4t niemals der Erfahrung zug\u00e4nglichen Zusammenhang der Natur auszudehnen seien. In dieser Erweiterung ist dann das Princip ein metaphysisches, aber es ist in jenem berechtigten Sinne metaphysisch, in welchem wir schon innerhalb der Erfahrungswissenschaft der metaphysischen Erg\u00e4nzungen nicht entbehren k\u00f6nnen, da wir das empirisch Gegebene \u00fcberall nach Anleitung des Erfahrungsinhaltes zur Einheit zu erg\u00e4nzen streben. Gewiss w\u00fcrde daher auf jene Ausdehnung unseres Princips zu verzichten sein, wenn uns irgendwo, z. B. auf dem Gebiet der psychischen Causalit\u00e4t, That-sachen begegneten, die mit ihm unvereinbar w\u00e4ren. Aber da, wie bemerkt, die psychische Causalit\u00e4t ein Erkl\u00e4rungsprincip sein muss, das immer nur \u00fcber die psychische Verkn\u00fcpfung, niemals \u00fcber die physische der Erfahrungsinhalte Rechenschaft gibt, so ist ein solcher Widerstreit von vornherein undenkbar. Dagegen bleibt die Unm\u00f6glichkeit, irgend eine einzelne Erfahrung vollst\u00e4ndig nach der Anleitung des Postulates der geschlossenen Naturcausalit\u00e4t zu erkl\u00e4ren, immer nur ein scheinbarer Widerstreit, bei dem man die letzte Einheitsidee der Naturbetrachtung mit dem Zusammenhang der Erscheinungen im einzelnen verwechselt. Es ist dies eine vollkommen analoge Vermengung, wie sie sich so oft auf religi\u00f6sem Gebiete ereignet hat, wenn man die nothwendige Vorausbestimmung des Weltlaufs in Gott mit der fatalistischen Interpretation der einzelnen Willenshandlungen verwechselte *).\n1) Gegen den oben ausgef\u00fchrten Gedanken, dass die absolute Einordnung jedes einzelnen Geschehens in den unendlichen Causalzusammenhang der Natur lediglich eine regulative Idee sei, deren Ausf\u00fchrung vollendet gedacht zu einem transcendenten Problem werde, wendet J. Petzoldt ein, der Unendlichkeitsbegriff sei hier unanwendbar, \u00bbdenn es m\u00fcsste nur jedesmal ein derart gro\u00dfer Theil des Universums in Rechnung gestellt werden, dass die Summe der Wirkungen im ausgeschlossenen unendlichen \u00fcbrigen Theil unter jeder vorgeschriebenen noch so kleinen Gr\u00f6\u00dfe bliebe, dass also diese Wirkungen sich aufheben ; das w\u00fcrde aber stets m\u00f6glich sein, da um jedes noch so gro\u00dfe endliche Theilsystem des Universums (z. B. um das menschliche Gehirn) herum von einer f\u00fcr jeden Fall besonders zu bestimmenden Entfernung ab die Zahl und Masse der \u00fcbrigen Theile des Universums nach allen Richtungen hin in gleicher Ordnung als unendlich angenommen werden d\u00fcrfen, ihre Wirkungen auf das betrachtete abgegrenzte System also als sich gegenseitig auf hebend gedacht werden m\u00fcssen\u00ab. (Vierteljahrsschr. f. wiss. Philos. XVIII, S. 50 Anm.) Darauf erwiedere ich, dass","page":92},{"file":"p0093.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 93\nEine wichtige Rolle bei dieser vermeintlichen Zur\u00fcckf\u00fchrung unendlicher Aufgaben auf einfache Causalprobleme spielen unzureichende Analogien. Da sich alle jene Lehensvorg\u00e4nge, die mit den psychischen Functionen in Verbindung stehen, an dem n\u00e4mlichen physischen Organismus ereignen, der auch der Sitz einfacherer physiologischer Functionen ist, so w\u00e4re es in der That wunderbar, wenn sich nicht irgend welche Beziehungen zwischen diesen Functionen verschiedener Ordnung auffinden lie\u00dfen. So hat z. B. die complicirteste Willenshandlung mit der rein mechanischen Reflexbewegung jedenfalls das gemein, dass sie eine Bewegung ist; auch \u00fcben nicht selten \u00e4u\u00dfere Sinnesreize einen Einfluss auf sie aus. Begn\u00fcgt man sich nun zu verlangen, dass nur \u00fcberhaupt irgend einmal ein Eindruck vorangegangen sei, dem dieser Einfluss zukomme, so ist nat\u00fcrlich jede Willenshandlung nach ihrer physiologischen Seite auf das Schema des Reflexes zu reduciren. Wo der Reflex nicht ausreicht, helfen dann, wie wir oben gesehen hab\u00e7n, centrale \u00bbMiterregungen\u00ab. Die auch in physiologischer Beziehung entscheidenden Eigenschaften der betreffenden Vorg\u00e4nge werden aber dabei nicht erkl\u00e4rt, und wenn es sonst der Vortheil erster ann\u00e4hernder L\u00f6sungen der Probleme ist, dass sie den Weg zu einer eindringendmen Erkenntniss er\u00f6ffnen, so trifft hier das Gegentheil zu: man beruhist sich bei der einmal erfassten schematischen Vorstellung und vergisst, dass sie auf die gestellte Frage eigentlich gar keine Antwort gibt. So wirken hier wie anderw\u00e4rts schlechte Analogien als intellectuelle Opiate.\ndiese Ausf\u00fchrung nichts als eine Analogie und zwar eine schlechte Analogie ist. Der Causalzusammenhang wird hier nicht als eine in der Zeit zur\u00fccklaufende Reihe von Ereignissen, sondern als eine r\u00e4umliche Masse gedacht, in welcher es zu jedem Punkt eine endliche Grenze gibt, \u00fcber die hinaus keine Kr\u00e4fte, z. B. Gravitationsanziehungen, auf ihn wirken k\u00f6nnen. Das menschliche Gehirn oder irgend ein anderes Naturproduct ist aber nicht das Erzeugniss solcher dauernd im Raum um es \u00bbherumliegender\u00ab und in zureichender Entfernung sich wechselseitig aufhehender Causalit\u00e4ten, sondern seine Entstehung f\u00fchrt auf eine Causalverkettung in der Zeit zur\u00fcck, in der jeder irgendwann erreichte Zustand immer wieder die Frage nach seiner eigenen Entstehung herausfordert. Wenn die verschiedenen zuletzt sich ins unendliche verzweigenden Gausalreihen irgendwann im R\u00fcckgang der Zeit unendlich klein w\u00fcrden oder sich wechselseitig aufh\u00f6ben, so w\u00fcrde das augenscheinlich eine Sch\u00f6pfung aus Nichts bedeuten, eine Con-sequenz, die der Verf. schwerlich zu ziehen geneigt sein wird.","page":93},{"file":"p0094.txt","language":"de","ocr_de":"94\nW. Wundt.\nSo wenig die Vorg\u00e4nge der Sinnes Wahrnehmung und der Association als blo\u00dfe subjective Spiegelungen rein physiologischer Pro-cesse angesehen werden k\u00f6nnen, ebenso wenig bilden nun aber die verwickelteren Bewusstseinsvorg\u00e4nge, welche die herk\u00f6mmliche Benennung als Phantasie- und Verstandesth\u00e4tigkeiten bezeichnet, ein Gebiet rein psychischer Functionen, das sich losgel\u00f6st von den Wirkungen des physischen Mechanismus denken lie\u00dfe. Vielmehr ist der Unterschied auf physischer wie auf psychischer Seite stets nur ein Grad-, kein Wesensunterschied. Auf physischer Seite insofern, als die auf eine unbegrenzte Causalreihe f zur\u00fcckweisenden Bedingungen des einzelnen Geschehens, gegen\u00fcber den in den unmittelbar gegebenen Ursachen gelegenen, zu immer entscheidenderem Uebergewicht gelangen. Auf psychischer insofern, als sich die Wirkungsgesetze der psychischen Causalit\u00e4t hier zwar deutlicher, aber darum doch qualitativ in nicht anderer Weise geltend machen als dort. Ich habe an anderen Orten ausgef\u00fchrt, wie die Verbindung des Vorstellens, F\u00fchlens und Strebens zu einem einheitlichen, nur durch k\u00fcnstliche Abstraction zu trennenden Process auf den h\u00f6heren Stufen des psychischen Lebens genau ebenso besteht wie hei den einfachsten sinnlichen Vorg\u00e4ngen, und wie insbesondere die Entwickelung des Willens das Bindeglied f\u00fcr alle anderen psychischen Entwickelungen abgibt. Da sich im allgemeinen nur die Verkn\u00fcpfungen der psychischen Elemente, nicht diese selbst bei den h\u00f6heren geistigen Functionen verwickelter gestalten, und da diese Verkn\u00fcpfungen nach den oben (S. 45) er\u00f6rterten Grunds\u00e4tzen durchaus nur der Seite der psychischen Causalit\u00e4t angeh\u00f6ren, so ist damit auch von selbst schon gegeben, dass die n\u00e4mlichen physiologischen Substrate in \u00fcbereinstimmender Functionsweise durch die ganze Stufenfolge der seelischen Entwickelungen in Wirksamkeit treten werden. Ein besonderes physiologisches Organ etwa f\u00fcr die Einheit des geistigen Lehens anzunehmen, das in ver\u00e4nderter Bedeutung immer noch als eine Art Sitz der Seele oder der h\u00f6heren seelischen Functionen angesehen werden k\u00f6nnte, widerstreitet direct dem Grunds\u00e4tze, dass alle Verbindungen psychischer Elemente Wirkungen psychischer, nicht physischer Causalit\u00e4t sind, als solche aber, wie gesagt, nicht etwas, das die physische Causalit\u00e4t durchkreuzt oder gar aufheht, sondern","page":94},{"file":"p0095.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 95\nlediglich eine Erg\u00e4nzung derselben f\u00fcr diejenige Seite des Geschehens, auf die sich jene \u00fcberhaupt nicht bezieht. Nur wo sich im Umfang ;der gesammten seelischen Vorg\u00e4nge qualitative oder intensive Ver\u00e4nderungen der Empfindungen in der inneren Wahrnehmung darbieten, da k\u00f6nnen nat\u00fcrlich auch physische Substrate dieser Ver\u00e4nderungen und entsprechende Parallelprocesse in ihnen nicht fehlen. In diesem Sinne, aber auch nur in diesem', ist, wie ich meine, die Annahme eines \u00bb Apperceptionscentrums \u00ab nicht zu umgehen. Denn die Ver\u00e4nderungen der Klarheit und Deutlichkeit der Vorstellungen, sowie gewisse die Aufmerksamkeit begleitende motorische Mitempfindungen sind, die ersteren zugleich, die letzteren ganz und gar, Ver\u00e4nderungen des Empfindungsinhaltes, die irgend eine physische Grundlage haben m\u00fcssen. Diese wird voraussichtlich wieder f\u00fcr die Klarheits\u00e4nderungen eine andere als f\u00fcr die Intensit\u00e4ts\u00e4nderungen sein, f\u00fcr jene, wie ich ver-muthe, in physiologischen HemmungsVorg\u00e4ngen, f\u00fcr diese in Miterregungen bestehen1). Wo man den Ort dieses Centrums anzunehmen habe, dar\u00fcber gehen die physiologischen Erfahrungen noch keine absolut sichere Entscheidung; wenn ich das Stirnhirn vorl\u00e4ufig als dessen anatomischen Sitz vermuthe, so d\u00fcrften hierf\u00fcr bis jetzt immerhin \u00fcberwiegende Erfahrungen sprechen. F\u00fcr die Psychologie ist diese Frage im Grunde ganz gleichg\u00fcltig. Nicht gleichg\u00fcltig w\u00fcrde es aber f\u00fcr sie sein, wenn man in einem solchen Centrum ein neues Organ eines neuen sogenannten Seelenverm\u00f6gens oder auch nur ein physiologisches Substrat f\u00fcr das erblicken wollte, was die physiologische Erkl\u00e4rung ihrer Natur nach niemals leisten kann, n\u00e4mlich f\u00fcr die eigenth\u00fcmlichen Gesetze unserer Apperceptions- und Willens-th\u00e4tigkeit. Diese sind ganz und gar Wirkungen psychischer Causalit\u00e4t. Nur insoweit jeder Apperceptionsvorgang zugleich mit Ver\u00e4nderungen am Empfindungsinhalte verbunden ist, sind f\u00fcr ihn physiologische Parallel Vorg\u00e4nge und, insoweit zwischen solchen Ver\u00e4nderungen ein Zusammenhang existirt, auch physiologische Verbindungen jener Parallelvorg\u00e4nge anzunehmen.\nIn der Frage, ob es m\u00f6glich sei, Principien psychischer Causalit\u00e4t aufzustellen, welche den in den Causalgleichungen\n1) Vergl. Grundz\u00fcge der physiol. Psychologie. 4. Aufl. II. S. 481.","page":95},{"file":"p0096.txt","language":"de","ocr_de":"96\nW. Wundt.\nniedergelegten Principien des physischen Geschehens als ebenb\u00fcrtige Grunds\u00e4tze an die Seite treten k\u00f6nnen, liegt, wie mir scheint, auch die andere nach der Rechtm\u00e4\u00dfigkeit der Psychologie als einer selbst\u00e4ndigen Wissenschaft, und in dieser abermals die weitere nach der Bedeutung der Geisteswissenschaften \u00fcberhaupt eingeschlossen. Ist die physische Causalit\u00e4t die einzige, dann ist damit das Schicksal aller dieser Wissenschaften besiegelt. Denn unter dieser Voraussetzung ist zun\u00e4chst die Psychologie auf Physiologie zu reduciren; f\u00fcr die Geisteswissenschaften fehlt es aber an einer \u00e4hnlich grundlegenden Disciplin, wie eine solche die allgemeine Physik f\u00fcr die Naturwissenschaften ist. M\u00f6glicher Weise k\u00f6nnte ja noch daran gedacht werden, dass jede derselben auf ihrem eigenen Gebiet selbst\u00e4ndige Principien aufstelle. An eine Einheit dieser Gebiete aber w\u00e4re nicht mehr zu denken, und unaufhaltsam w\u00fcrde jener naturalistische Gesichtspunkt, der die Psychologie beseitigte, auch auf sie \u00fcbergreifen : man w\u00fcrde sie in angewandte Theile der Biologie umwandeln, wie das ja eine materialistische Culturgeschichte und Sociologie in der That his zu einem gewissen Grade versucht hat.\nNun ist von vornherein bei der Beantwortung der obigen Frage ein Missverst\u00e4ndniss fernzuhalten, das eigentlich auf demselben Vorurtheil beruht, aus dem der Gedanke der Aufl\u00f6sung der Psychologie in Physiologie entstanden ist: das Missverst\u00e4ndniss n\u00e4mlich, als m\u00fcsse es ein System von Gesetzen des Geistes gehen, die von \u00e4hnlich exacter, mathematisch formulirbarer Beschaffenheit seien wie die allgemeinsten Naturgesetze, so dass, wenn sie gegeben w\u00e4ren, man mit ihrer H\u00fclfe eine der physischen Mechanik ebenb\u00fcrtige \u00bbMechanik des Geistes\u00ab construiren k\u00f6nnte. Diesem Missverst\u00e4ndniss begegnet namentlich auch die experimentelle Psychologie. Man erwartet von ihr mindestens, dass sie ein paar Gesetze, die es etwa mit den Kepler\u2019schen aufnehmen k\u00f6nnten, entdecke; wenn sie solche Gesetze nicht entdeckt, so habe sie, meint man, ihren Beruf verfehlt. In anderer Weise lag dieses Missverst\u00e4ndniss schon Herbart\u2019s Versuch, die Psychologie in eine mathematische Wissenschaft umzuwandeln, zu Grunde. Denn dieser Versuch ging eben darauf aus, eine der physischen Mechanik parallele Mechanik des Geistes zu schaffen. Dass der Versuch missgl\u00fcckte, dass Herbart\u2019s Mechanik des Geistes nicht das, wof\u00fcr sie sich ausgab,","page":96},{"file":"p0097.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 97\nsondern eine Mechanik imagin\u00e4rer Gebilde war, die nur durch den Namen \u00bbVorstellungen \u00ab, mit dem diese Gebilde bezeichnet wurden, zur Verwechselung mit dem geistigen Lehen herausforderte, hat der Erfolg gelehrt. Heute wissen wir, dass jener Versuch nicht etwa deshalb fehlschlug, weil einzelne Fehler die Annahmen ungenau machten, sondern weil die Grundvoraussetzung, von der Herbart ausging, falsch war, weil es unsterbliche Vorstellungen, \u00fcberhaupt Vorstellungen als constante Gebilde, an die alles \u00fcbrige gebunden w\u00e4re, in der Seele nicht gibt. Diese Grundvoraussetzung war eben nichts anderes gewesen als eine Uebertragung naturalistischer Gesichtspunkte auf das geistige Gebiet. Wie die Physik der Materie mit ihren constanten Eigenschaften bedarf, so bedurfte diese \u00bbMechanik des Geistes\u00ab der unver\u00e4nderlichen Vorstellungen, \u2014 gegen\u00fcber dem unaufhaltsamen Flusse des wirklichen geistigen Lebens fiel daher das Kartenhaus dieser mathematischen Hypothesen mit einem Schlage in sich zusammen.\nDass im Eingang der neueren Versuche, der Psychologie exactere Grundlagen zu geben, das \u00bbpsychophysische Gesetz\u00ab Fechner\u2019s steht, hat wohl zu seinem Theile dazu beigetragen, bei Manchen das Vorurtheil von neuem zu n\u00e4hren, es werde nun im Laufe der Zeit gelingen, weitere Gesetze von \u00e4hnlicher oder noch allgemeinerer Tragweite aufzufinden und so Herbart\u2019s missgl\u00fcckten Versuch 'mit besserem Erfolg auf empirischer Grundlage zu wiederholen. Diese Hoffnungen haben sich nicht erf\u00fcllt, weil sie sich nicht erf\u00fcllen konnten. Und sie konnten es nicht, weil das geistige Leben \u00fcberhaupt kein solches Conglom\u00e9rat einfacher mathematischer Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten ist, wie man hier angenommen hatte. Wenn daher, wie in dem Fall des F'echn er \u2019sehen Gesetzes, je einmal eine einfache und ann\u00e4hernd exacte Formulirung oder eine zahlenm\u00e4\u00dfige Feststellung gewisser Regelm\u00e4\u00dfigkeiten m\u00f6glich ist, so handelt es sich dabei \u00fcberall um Erscheinungen, bei denen die Abh\u00e4ngigkeit von physischen Bedingungen eine zureichend gro\u00dfe Rolle spielt, um auch die psychischen Vorg\u00e4nge einfach und regelm\u00e4\u00dfig genug zu gestalten. F\u00fcr die eigentliche Psychologie haben darum solche m mathematischer Form m\u00f6gliche Gesetzesformulirungen eine ver-h\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig untergeordnete Bedeutung. Der Hauptgrund aber, warum es auf geistigem Gebiet Galilei\u2019sche oder Kepler\u2019sche\nWundt, Philos. Studien. X.\t7","page":97},{"file":"p0098.txt","language":"de","ocr_de":"98\nW. Wundt.\nGesetze nicht gibt und niemals geben wird, liegt nicht in der ungeheuren Verwickelung der Bedingungen des geistigen Lebens an sich, wie gew\u00f6hnlich angenommen wird, sondern in seiner qualitativ abweichenden Beschaffenheit und in der in Folge dessen v\u00f6llig abweichenden Natur der Causalprobleme. Die Hauptgesichtspunkte lassen sich hier in die zwei S\u00e4tze zusammenfassen: dass die Verbindungen der psychischen Elemente ihre ganz \u00fcberwiegende Bedeutung durch die qualitativen Erfolge gewinnen, die sie hervorbringen, und nur in untergeordneter Weise durch die jene Erfolge begleitenden quantitativen Eigenschaften; und dass ferner die causale W\u00fcrdigung der psychischen Vorg\u00e4nge \u00fcberall von Werthbestimmungen durchsetzt ist, die sich wiederum nur in nebens\u00e4chlicher Weise nach Graden, also quantitativ ordnen lassen, ihre Hauptbedeutung aber ebenfalls qualitativen Eigent\u00fcmlichkeiten verdanken. Darum ist es nicht unm\u00f6glich, dass, wenn \u00fcberhaupt je einmal diese Gebiete in weiterem Umfange mathematischen Betrachtungen zug\u00e4nglich gemacht werden sollten, solche von ganz anderen Grundlagen r\u00fccksichtlichDder functionellen Beziehungen der Gr\u00f6\u00dfen werden auszugehen haben, als es im Gebiete der Naturcausalit\u00e4t der Fall ist. Auch unter dieser Bedingung wird freilich wegen der \u00fcberwiegenden Bedeutung der qualitativen Eigenth\u00fcmlichkeit psychischer Vorg\u00e4nge die mathematische Betrachtung voraussichtlich niemals jene herrschende Rolle spielen, wie in den exacten Naturwissenschaften.\nWenn trotzdem, wie ich glaube, die experimentelle Methode f\u00fcr die Behandlung der einfacheren Probleme der Psychologie keine geringere Bedeutung hat als f\u00fcr die der Naturwissenschaft, so muss d\u00ebmnach diese Bedeutung theilweise wenigstens auf einer andern Seite liegen. Sie beruht in der That hier ganz und gar auf dem der experimentellen Methode eigenth\u00fcmlichen Verfahren der willk\u00fcrlichen Fixirung, Ver\u00e4nderung und Wiederholung bestimmter Bedingungen des Geschehens. Durch dieses Verfahren wird die scharfe Analyse der Thatsachen ungemein gef\u00f6rdert, wenn nicht \u00fcberhaupt erst m\u00f6glich gemacht. Auf die Fragen, welche Elemente an einem bestimmten Vorgang betheiligt sind, und wie diese Elemente sich verbinden, welches ferner die bedingenden und welches die abh\u00e4ngigen Factoren eines complexen Vorganges sind,","page":98},{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 99\nauf diese Fragen, auf welche die gew\u00f6hnliche Selbstbeobachtung wegen ihrer oft ger\u00fcgten Unsicherheit in der Regel gar keine Antworten zu geben vermag, sind solche durch die experimentelle Selbstbeobachtung im allgemeinen \u00fcberall zu gewinnen. Man erinnere sich nur alles dessen, was die Psychologie f\u00fcr das Verst\u00e4ndnis des Vorganges der sinnlichen Wahrnehmung und der einfachen mit dieser verbundenen und an sie sich anschlie\u00dfenden Associatiors-processe dem Experiment verdankt. Oder man vergegenw\u00e4rtige sich die Aufschl\u00fcsse, die sie f\u00fcr das Verst\u00e4ndniss der Functionen des Willens und der Aufmerksamkeit sowie der zeitlichen Eigenschaften der Vorstellungen den chronometrischen Untersuchungen zu entnehmen vermag. Nicht darum handelt es sich hier \u00fcberall, feste Zahlen zu ermitteln, so zu sagen psychische Constanten zu bestimmen, wie so oft missverst\u00e4ndlich geglaubt wird. Davon kann in einem der physikalischen und chemischen Constantenbestimmung analogen Sinne \u00fcberhaupt nicht die Rede sein. Die wahre Aufgabe ist es vielmehr, allgemeine typische Formen des Geschehens festzustellen, aus denen sich die betheiligten Elemente und ihre causalen Beziehungen in allgemeing\u00fcltiger Weise ergeben. Mag in diesen und andern Gebieten, die heute Gegenst\u00e4nde experimenteller psychologischer Untersuchungen bilden, r\u00fccksichtlich der Thatsachen sowohl wie der Theorien vieles streitig sein \u2014 der Streit dreht sich doch nicht mehr um ein leeres Hin und Wider von Meinungen, zwischen denen eine Entscheidung \u00fcberhaupt nicht zu finden ist, sondern in letzter Instanz um Thatfragen, die, wo sie noch nicht entschieden sind, zu entscheiden sein m\u00fcssen, und um die logische Zweckm\u00e4\u00dfigkeit der Interpretation gewisser Thatsachen ' auf diese oder auf jene Weise, \u00fcber die, wenn erst die Thatsachen selbst und ihre Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen sichergestellt sind, schlie\u00dflich allgemeing\u00fcltige Maximen der Methodik entscheiden k\u00f6nnen.\nFreilich ist nicht zu verkennen, dass die experimentelle Richtung in der Psychologie bis jetzt noch allzu sehr geneigt ist, \u00fcber der Zerlegung der zusammengesetzten psychischen Vorg\u00e4nge in ihre mehr oder weniger sicher nachweisbaren Elemente die Eigent\u00fcmlichkeiten unbeachtet zu lassen, die das psychische Geschehen in der Verbindung dieser Elemente darbietet. Die materialistische Psychologie bezeichnet ja, wie wir gesehen haben, eine\n7*","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"100\nW. Wundt.\nsolche reine Elementaranalyse principiell als die einzige psychologische Aufgabe. Dass aber auch \u00fcber die Grenzen dieser Richtung hinaus der Standpunkt reiner Analyse \u00fcber wiegt, ist bei der Neuheit dieser Art von Untersuchungen wohl begreiflich. Dennoch darf man sich nicht verhehlen, dass auf diesem Wege die eigentlichen Hauptprobleme der empirisch-psychologischen Forschung ungel\u00f6st bleiben. Denn diese Probleme beziehen sich hier gerade so wie in der Naturwissenschaft haupts\u00e4chlich darauf, wie die Elemente, deren Vorhandensein jene elementare Analyse nachweist, mit einander verbunden sind, und welche Principien der Causalit\u00e4t in diesen Verbindungen ihren Ausdruck finden. Also das, worauf es am meisten ankommt, das Problem der psychischen Causalit\u00e4t, bleibt hier unbeachtet bei Seite liegen.\nDennoch meine ich, dass es uns nicht an Anhaltspunkten gebricht, um wenigstens gewisse allgemeine Principien hervorzuheben, die sich immer und immer wieder best\u00e4tigt finden, und es scheint mir gerade dies eine der werthvollsten Errungenschaften der experimentellen Psychologie zu sein, dass sie, falls sie \u00fcberhaupt den Aufgaben und ihren L\u00f6sungen unbefangen gegen\u00fcbertritt, jene Principien auf den verschiedensten Stufen des seelischen Lebens, von der einfachen Sinneswahrnehmung und Triebhandlung bis hinauf zu den verwickeltsten Erzeugnissen intellectueller Th\u00e4tigkeit, wiederfindet, ohne dass in den Grundformen ihrer Anwendung ein wesentlicher Unterschied zu entdecken w\u00e4re.\nDie Principien, die sich so als die f\u00fcr die Eigenth\u00fcmlichkeiten des psychischen Geschehens durch alle seine Stufen und Beth\u00e4ti-gungsformen gleichartigen und, gegen\u00fcber der Naturcausalit\u00e4t, zugleich als die specifischen Merkmale psychischer Causalit\u00e4t betrachten lassen, sind, wie ich glaube, die folgenden drei : 1) das Princip der reinen Actualit\u00e4t des Geschehens, 2) das Princip der sch\u00f6pferischen Synthese, und 3) das Princip der beziehenden Analyse. Es sei mir gestattet, den Inhalt eines jeden derselben durch einige Bemerkungen zu erl\u00e4utern.\ni","page":100},{"file":"p0101.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 101\n1. Das Princip der reinen Actualit\u00e4t des Geschehens.\nUnter ihm verstehe ich die Thatsache, dass jeder psychische Inhalt ein Vorgang (Actus) ist, dass es also constante Objecte, wie sie die Naturwissenschaft auf ihrem Gebiete voraussetzen muss, auf psychischem, d. h. innerhalb unserer unmittelbaren inneren Erlebnisse, nicht gibt. Aus dieser Actualit\u00e4t des Geschehens folgt, dass auch das Princip der psychischen Causalit\u00e4t ein Princip rein actueller Causalit\u00e4t sein muss. Als Ursache eines bestimmten einzelnen Geschehens kann darum hier immer nur irgend ein anderes Geschehen oder eine gewisse Summe von Ereignissen, ohne jede Theilnahme constanter Objecte, gedacht werden. Die Nothwendig-keit dieses Princips erhellt unmittelbar aus der Forderung, dass in jeder Erfahrungswissenschaft als Ursachen wie als Wirkungen nur Erfahrungsinhalte angenommen werden k\u00f6nnen. Sind auf psychischem Gebiet alle Erfahrungsinhalte reine Ereignisse, so ist es daher klar, dass auch nur solche in die Causalverh\u00e4ltnisse eingehen k\u00f6nnen. Wo gewisse constante Bedingungen der physischen Organisation in den Causalerkl\u00e4rungen der Psychologie eine Rolle spielen, wie z. B. bei der Interpretation der Sinneswahrnehmungen, da handelt es sich eben in Wahrheit nicht mehr um psychologische, sondern um physiologische Causalerkl\u00e4rungen. Die ersteren lassen sich aber auch in diesen F\u00e4llen gewinnen, wenn man die Empfindungen als gegebene Elemente annimmt und nach den Verbindungen fr\u00e4gt, die zwischen ihnen stattfinden. Um deutlich zu erkennen, was ein \u00bbreines Ereigniss\u00ab sei, m\u00fcssen wir also von allen psychophysischen Beziehungen abstrahiren und uns auf den Standpunkt rein psychologischer Betrachtung stellen, d. h. wir m\u00fcssen die einfachen Elemente der psychischen Vorg\u00e4nge als gegeben voraussetzen und die Frage zu beantworten suchen, nach welchen Gesetzen sich diese Elemente verbinden und in ihren Verbindungen auf einander wirken. Wir d\u00fcrfen aber niemals, wenn wir psychologisch erkl\u00e4ren wollen, den psychischen Vorg\u00e4ngen ihre physiologischen Parallelvorg\u00e4nge substituiren, und wir d\u00fcrfen nat\u00fcrlich noch weniger die Vorstellung eines Objectes mit dem vorgestellten Objecte selber verwechseln. Die Constanz des letzteren, ist man ja immer geneigt auf die Vorstellung zu \u00fcbertragen, obgleich diese","page":101},{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"102\nW. Wundt.\nals psychischer Act ebenso gut ein reines Geschehen ist wie irgend ein anderer psychischer Vorgang.\nMan hat nun dem psychischen Geschehen den Charakter substantieller Causalit\u00e4t dadurch zu wahren gesucht, dass man dasselbe als Handlung, wenn nicht einer beharrenden Substanz, so doch eines relativ constanten Subjectes auffasste. Doch kann hiermit das Subject nur als reale, nicht als blo\u00df logische Einheit gemeint sein. Reales Subject ist aber, wie wir gesehen haben, das psychophysische Individuum als Tr\u00e4ger aller psychischen wie physischen Lebensvorg\u00e4nge. Um die psychische Causalit\u00e4t, wie sie an sich selbst und unabh\u00e4ngig von den intercurrirenden Wirkungen physischer Causalit\u00e4t beschaffen ist, zu bestimmen, m\u00fcssen wir daher die geistige Seite dieses Individuums f\u00fcr sich allein ins Auge fassen, genau so wie die Physiologie zur Ermittelung der rein physiologischen Gesetze blo\u00df das k\u00f6rperliche Individuum ber\u00fccksichtigt. Das ist freilich in beiden F\u00e4llen eine Abstraction; aber diese Abstraction ist f\u00fcr die Psychologie so gut wie f\u00fcr die Physiologie n\u00f6thig, weil die verschiedenen Causalformen, die sich in dem wirklichen psychophysischen Individuum begegnen, nur auf Grund derselben klar erfasst werden k\u00f6nnen, und weil wir fortan, wo es sich um psychische Causalit\u00e4ten handelt, mit Recht die geistige Seite vornehmlich beachten. In diesem Sinne ist also Subject alles psychischen Geschehens das psychische Individuum mit allen seinen realen Eigenschaften; und diese sind lediglich gegeben in der Gesammtheit der psychischen Erlebnisse. Das psychische Individuum selbst ist nichts anderes als der Zusammenhang dieser Erlebnisse, der uns ebenfalls thats\u00e4chlich gegeben und zugleich f\u00fcr die Auffassung jedes einzelnen Geschehens unerl\u00e4sslich ist. Das psychische Individuum oder, wenn wir den alten Ausdruck daf\u00fcr beibehalten wollen, die Seele ist demnach der stetige Zusammenhang des psychischen Geschehens selber, wobei der einzelne Inhalt dieses Geschehens und sein Zusammenhang mit den andern Inhalten derart sich wechselseitig bedingen, dass ohne den Zusammenhang kein einzelnes Geschehen, ebenso aber hinwiederum kein Zusammenhang ohne das einzelne Geschehen m\u00f6glich ist.\nDieser unmittelbar wahrgenommene Zusammenhang schlie\u00dft einzelne Unterbrechungen nicht aus. Denn nicht darin besteht","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 103\nderselbe, dass ohne zeitliche L\u00fccke ein Ereigniss an das andere sich anschlie\u00dft. Da die Zeit eine Vorstellungsform ist, die erst unter bestimmten Bedingungen des psychischen Geschehens entsteht und in ihrer Beschaffenheit fortw\u00e4hrend von dem Wechsel dieser Bedingungen abh\u00e4ngig bleibt, so kann selbstverst\u00e4ndlich die Continuit\u00e4t der Zeitanschauung nicht ihrerseits zur Bedingung des psychischen Zusammenhangs gemacht werden. Vielmehr besteht das Wesen dieses letzteren darin, dass jedes neue psychische Ereigniss in irgend welche Verbindungen tritt mit gleichzeitigen und vorangegangenen Ereignissen, so dass theils direct, theils indirect jedes Geschehen mit jedem andern des n\u00e4mlichen psychischen Individuums verbunden ist. Erst unteT gewissen Bedingungen geben diese Verbindungen unseren Vorstellungen die Eigenschaft des stetigen Abflusses in der Zeit, welcher letztere demnach nat\u00fcrlich nicht m\u00f6glich w\u00e4re ohne Verbindungen der psychischen Elemente, wogegen aber nicht umgekehrt gesagt werden kann, dass jede psychische Verbindung nothwendig die Form der Zeitanschauung annehmen m\u00fcsse. Aehn-lich wie die Zeit zu den Verbindungen auf einander folgender psychischer Ereignisse, verh\u00e4lt sich die Baumanschauung zu der Verbindung der zugleich gegebenen. So wichtig sie auch f\u00fcr die Zusammenfassung verschiedener psychischer Ereignisse zu einem simultanen Ganzen ist, so m\u00fcssen doch stets zu der Verbindung des psychischen Geschehens besondere Bedingungen hinzutreten, um ihr die Eigenschaft der r\u00e4umlichen Ordnung zu geben.\nMit dem continuirlichen Zusammenhang des Geschehens, durch welchen zu seinem sehr kleinen Theile direct, zum gr\u00f6\u00dften Theile aber indirect alle psychischen Erlebnisse des Individuums mit einander verkn\u00fcpft werden, steht nun eine weitere wichtige Eigenschaft der psychischen Causalit\u00e4t in Verbindung. Die n\u00e4chsten und namentlich die entscheidenden Ursachen eines einzelnen Geschehens brauchen durchaus nicht Ereignisse zu sein, die unmittelbar der Zeit nach dem bewirkten Ereigniss vorangehen, sondern sie k\u00f6nnen in der Continuit\u00e4t der psychischen Vorg\u00e4nge beliebig von dem verursachten Ereigniss zeitlich entfernt sein. Nahes und Entferntes bilden also in gleicher Weise Bestand theile eines Zusammenhangs , aus welchem jeder Bestandtheil in jedem Moment actuell werden kann. Der Satz von der Zeitfolge von Ursache und Wirkung","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104\nW. Wundt.\ngreift nur in dem Sinne hier Platz, dass ein urs\u00e4chliches Ereigniss eingetreten sein muss, wenn ein verursachtes entstehen soll. Dieser Umstand ist es wohl, der die Philosophen im allgemeinen geneigt gemacht hat, bei der psychischen Causalit\u00e4t \u00fcberhaupt nur eine Wirksamkeit des gesammten psychischen Individuums vorauszusetzen. Aber in Wahrheit kann von einer Totalwirkung, welche alle fr\u00fcheren Erlebnisse als Ursachen umfasste, niemals die Rede sein. Zwar ist anzuerkennen, dass in Folge der Causal Wirkung indirect verbundener Ereignisse die Summe der Momente, die als n\u00e4chste Ursachen wirken, in der Regel weit gr\u00f6\u00dfer ist, als in den F\u00e4llen physischer Causalit\u00e4t. Aber immer bilden diese causalen Momente doch der Gesammtheit der Vorerlebnisse gegen\u00fcber nur einen verschwindenden Theil. Darum f\u00fchrt jede reale Interpretation psychischer Vorg\u00e4nge, wenn sie \u00fcberhaupt auf den'Namen einer solchen Anspruch erheben kann, niemals ein einzelnes Ereigniss auf das gesammte Individuum zur\u00fcck, womit wegen der unendlichen Mannigfaltigkeit der Vorerlebnisse gar nichts gesagt w\u00e4re, sondern auf irgend welche einzelne Bestandtheile dieses Totalzusammenhangs. Dabei kommen aber allerdings zwei Momente in Betracht, welche die psychische Causalerkl\u00e4rung verwickelter gestalten. Erstens bringt jedes psychische Individuum in der Gestalt sogenannter Anlagen eine Anzahl urspr\u00fcnglicher Bedingungen mit, die vielfach erst die besondere Wirksamkeit der eigentlichen psychischen Ursachen bestimmen ; und zweitens ist die Grenze zwischen den n\u00e4heren und den entfernteren Ursachen eines bestimmten Geschehens hier ungleich schwieriger zu ziehen als auf physischem Gebiete, so dass wir in den meisten F\u00e4llen verwickelterer psychischer Causalit\u00e4t nur in sehr unbestimmten Umrissen die wirklich ma\u00dfgebenden Ursachen anzugeben wissen.\nWas nun den ersten dieser Umst\u00e4nde betrifft, so ist die Existenz und der wichtige Einfluss solcher urspr\u00fcnglicher Anlagen zweifellos ; aber ebenso gewiss ist es, dass ihnen immer nur die Rolle entfernterer Bedingungen, nicht die von directen Ursachen zukommt. Nehmen wir z. B. das verwickeltste Gebiet, das der zusammengesetzten menschlichen Willenshandlungen, so wird eine verbrecherische Handlung vielleicht neunmal in zehn F\u00e4llen mitbedingt sein von urspr\u00fcnglicher Anlage; aber diese f\u00fcr sich ist so","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"lieber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 105-\nwenig im Stande direct eine Handlung hervorzubringen, wie die Erde an sich, ohne dass ein K\u00f6rper in die hierzu geeignete Lage gebracht wird, den Fall eines K\u00f6rpers bewirken kann. Zugleich besteht aber ein wesentlicher Unterschied zwischen solchen urspr\u00fcnglichen Anlagen und den permanenten Bedingungen der Naturereignisse. Jene Anlagen wirken n\u00e4mlich, auch wenn die hinzutretenden Ursachen dieselben sind, nicht in unver\u00e4nderlicher Weise, sondern die Erfahrung lehrt, dass sie selbst durch die hinzutretenden actuellen Ursachen einer fortw\u00e4hrenden Ver\u00e4nderung unterworfen sind. Auch sie k\u00f6nnen daher nicht als constante, sondern nur als ver\u00e4nderliche Bedingungen betrachtet werden, die die actuellen psychischen Ursachen irgendwie modifi-ciren, dabei aber ihrerseits durch das einzelne Geschehen fortw\u00e4hrend modificirt werden. K\u00f6nnen demnach diese ver\u00e4nderlichen Anlagen die psychische Causalit\u00e4t nicht ihres actuellen Charakters berauben, so ist dies nat\u00fcrlich noch weniger bei jenen com-plexen Erzeugnissen vieler einzelner Vorereignisse der Fall, die wir wohl als erworbene Anlagen bezeichnen. Als Collectivbegriffe k\u00f6nnen diese der praktischen psychologischen Interpretation ihre Dienste leisten. Niemals darf man sich aber dem Glauben hingeben, dass dadurch das handelnde Individuum selbst in ein constantes, allen Einfl\u00fcssen in unab\u00e4nderlicher Weise begegnendes Subject verwandelt werde. In der That sieht sich ja auch schon die praktisch-psychologische Motivirung fortw\u00e4hrend gen\u00f6thigt, eben dieser Ver\u00e4nderlichkeit auch der relativ regelm\u00e4\u00dfig wirkenden psychischen Bedingungen Rechnung zu tragen. Jene Aufstellung eines constanten Subjectes als der beharrenden Ursache alles individuellen psychischen Geschehens ist also eine reine Fiction, die niemals und nirgends, wo man wirklich den Versuch macht, psychische Vorg\u00e4nge causal zu begreifen, festgehalten wird. Jeder causaient psychologischen Interpretation ist, wenn sie nur ein wenig in die Tiefe dringt, das handelnde Subject keine constante Bedingung, sondern eine Summe von Ursachen und Bedingungen, von denen die ersteren in psychischen Ereignissen, die letzteren aber in fortw\u00e4hrend modi-ficirbaren Anlagen bestehen, die den Charakter von ver\u00e4nderlichen Zust\u00e4nden, nicht von permanenten Eigenschaften besitzen. Dazu kommt, dass diese Anlagen stets die Frage nach ihrer","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106\nW. Wundt.\nEntwickelung wachrufen, worauf dann die Beantwortung dieser Frage, sofern sie m\u00f6glich ist, wiederum nur in einer Ableitung aus einzelnen actuellen psychischen Ursachen, also aus Ereignissen und eventuell aus weiter zur\u00fcckliegenden Anlagen bestehen kann. Da nun die letzteren immer wieder zu einer \u00e4hnlichen Fragestellung herausfordern, so w\u00fcrde dieser Process erst in einer vollst\u00e4ndigen Zerlegung des gesammten psychischen Causalzusammenhangs in lauter actuelle psychische Vorg\u00e4nge sein Ende finden. Mit andern Worten : jede reale psychologische Causalerkl\u00e4rung setzt, mag sie sich auch unter den in Rechnung gezogenen Bedingungen relativ fester H\u00fclfsbegriffe bedienen, doch ihrem letzten Zwecke nach stets eine vollst\u00e4ndige Aufl\u00f6sung aller Bedingungen in eine Reihe von Ereignissen nach dem Princip der actuellen psychischen Causalit\u00e4t voraus.\nEs ist einleuchtend, dass die angef\u00fchrten Momente die psychologische Causalerkl\u00e4rung mit eigenth\u00fcmlichen Schwierigkeiten umgehen. Theils entspringen diese aus der Mannigfaltigkeit der an einer bestimmten Wirkung betheiligten Ursachen, namentlich daraus, dass zeitlich weit von einander entfernte Ursachen doch gleich bedeutsam sein k\u00f6nnen; theils entspringen sie aus dem verwickelten Ineinandergreifen der eigentlichen oder actuellen Ursachen und der entfernteren Bedingungen. Nur in den einfachsten F\u00e4llen, bei denen das psychische Geschehen fast eine analoge Gleichf\u00f6rmigkeit darbietet wie gewisse einfache Naturereignisse, z. B. hei der Bildung der Sinneswahrnehmungen, bei der Entstehung einzelner Triebhandlungen, hat, sobald nur erst die psychischen Elemente der Vorg\u00e4nge gefunden sind, die causale Erkl\u00e4rung im allgemeinen keine erheblichen Schwierigkeiten mehr. Dagegen gestaltet diese sich in andern und gerade den wichtigsten F\u00e4llen, wie bei den complexen Willenshandlungen, den h\u00f6heren intellectuellen Erzeugnissen, zu einer nie zu vollendenden Aufgabe, die auch von der besten psychologischen Interpretation stets nur nach einzelnen Seiten und bis zu nothgedrungen vorauszusetzenden letzten Bedingungen gef\u00fchrt werden kann. Wie immer beschaffen aber auch eine solche Untersuchung sein m\u00f6ge, als begriffliche Grenze zwischen Ursachen und Bedingungen werden wir auf psychischem Gebiete die festhalten, dass wir als psychische Ursachen solche Gr\u00fcnde des","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 107\nGeschehens ansehen, die selbst Ereignisse sind, als psychische Bedingungen dagegen jene fortw\u00e4hrend durch neue Ereignisse modificirbaren Zust\u00e4nde, die wir angeborene oder erworbene Anlagen nennen. Sobald jedoch solche Anlagen nicht willk\u00fcrlich als feste Ausgangspunkte hingenommen, sondern selbst einer n\u00e4heren Untersuchung unterzogen werden, sind als die psychischen Ursachen dieser Bedingungen abermals nur psychische Vorg\u00e4nge nachzuweisen.\nIn diesen Eigenschaften liegen zugleich die wesentlichen Unterschiedsmerkmale der psychischen von der physischen Causalit\u00e4t. Auch die physische Causalit\u00e4t geht aus von dem Begriff des Geschehens; denn, wo keine Ver\u00e4nderung vor sich geht, kann ja die Frage nach der Verursachung nicht entstehen. Aber an jeder Ursache betheiligen sich zugleich unmittelbar constante, von den unver\u00e4nderlichen Objecten der Natur ausgehende Bedingungen, die daher in jede Causalgleichung mit eingehen, und die erst feste Relationen zwischen Ursachen und Wirkungen, also \u00fcberhaupt die Aufstellung von Causalgleichungen m\u00f6glich machen. Dieser Charakter substantieller Causalit\u00e4t, der hier nothwendig dem Causal-princip gewahrt bleibt, macht zugleich einen zeitlich-r\u00e4umlichen Zusammenhang der Ursachen und Wirkungen erforderlich, der hei den prim\u00e4ren Causalgleichungen, den Kraft- und Transformationsgleichungen, unmittelbar, bei den Zustandsgleichungen aber mittelbar vorausgesetzt ist, insofern diese die stillschweigende Annahme von Zwischen Vorg\u00e4ngen einschlie\u00dfen, die sich wiederum in Kraftoder Transformationsgleichungen ausdr\u00fccken lassen, und durch die der stetige Uehergang aus dem ersten in den zweiten Zustand vermittelt wird. Anders beider psychischen Causalit\u00e4t. Bei ihr sind zun\u00e4chst die Ursachen reine, nicht an Objecte gebundene Ereignisse: denn psychische Objecte als beharrende Tr\u00e4ger von Ereignissen gibt es nicht. Sobald wir aus einer psychischen Causal-reihe auf ein Object zur\u00fcckgreifen, an das wir jene gebunden ansehen, kann ein solches Object immer nur ein physisches sein, das als solches nur Bestandtheil einer physischen Causalreihe ist, wobei diese zwar nach dem Princip des Parallelismus mit psychischen Vorg\u00e4ngen in Beziehung stehen, nicht aber selbst zur Causalit\u00e4t derselben geh\u00f6ren kann. Als relativ dauernde Bedingungen","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108\nW. Wundt.\ntreten uns dagegen in einer psychischen Causalreihe nur ver\u00e4nderliche Zust\u00e4nde entgegen, die selbst schlie\u00dflich die causale Zerlegung in eine Kette von Ereignissen herausfordern. Dazu kommt endlich als letztes entscheidendes Merkmal der Zusammenhang, der Nahes und Entferntes in1 gleicher Weise verbindet, sodass unter Umst\u00e4nden die zeitlich entferntere Ursache die wirksamere, die zeitlich n\u00e4here die minder wirksame sein kann, und dass bald die unmittelbaren Ursachen, bald aber die aus weiter zur\u00fcckliegenden Bedingungen hervorgegangenen Zust\u00e4nde von entscheidenderer Bedeutung sind.-\nIn der Ver\u00e4nderlichkeit jener Zustandsbedingungen, die in die psychische Causalit\u00e4t eingehen, liegt endlich der augenf\u00e4lligste \u00e4u\u00dfere Unterschied derselben von der physischen Causalit\u00e4t, die Unm\u00f6glichkeit n\u00e4mlich, jemals ein Causalverh\u00e4ltniss dieser Art in der Form von Causalgleichungen darzustellen, wesentlich begr\u00fcndet. Es ist eben der Charakter der reinen Actualit\u00e4t des Geschehens, der hier die Aufstellung solcher Gleichungen ausschlie\u00dft. Um so mehr ist in einem andern Punkte, der mit den fundamentalen Unterschieden subjectiver und objectiver Erfahrung zusammenh\u00e4ngt, die psychische der physischen Causalit\u00e4t \u00fcberlegen. W\u00e4hrend diese erst durch eine Reihe von Schl\u00fcssen sowie mit H\u00fclfe von Voraussetzungen, die sie dem unmittelbaren Inhalte der Wahrnehmung hinzuf\u00fcgt, zu endg\u00fcltigen Causalbeziehungen gelangen kann, ist die Auffindung psychischer Ursachen ein Werk directer psychologischer Analyse der Inhalte des Bewusstseins. Hypothesen k\u00f6nnen'\u00abich hier, wenn sie n\u00f6thig werden, immer nur auf die Art der Verbindung dieser Elemente, streng genommen aber nicht oder doch nur in einem vorl\u00e4ufigen, noch unvollkommenen Stadium jener Analyse auf die ma\u00dfgebenden Elemente seihst beziehen. Denn die letzten Factoren psychischer Causalit\u00e4t bleiben unmittelbare Bewusstseinsthatsachen, nicht irgendwelche hypothetische Kr\u00e4fte oder Substanzen, die auf Grund der Analyse angenommen werden. Hiermit h\u00e4ngt der bedeutsame Unterschied der Form zusammen, die auf beiden Gebieten die causalen Verbindungen annehmen. Auf psychischem Gebiet ist die causale Beziehung selbst in der inneren Wahrnehmung gegeben, und sie ist darum zugleich gebunden an jenen Zusammenhang des Bewusst-","page":108},{"file":"p0109.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 109\nseins, der jeden einzelnen Inhalt desselben direct oder indirect mit allen andern in Verbindung bringt. Bei der physischen Causalit\u00e4t dagegen ist die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung immer erst eine begrifflich zu Stande gekommene. In der Wahrnehmung bilden beide Glieder des Causalverh\u00e4ltnisses getrennte Erfahrungen, disjecta membra, bei denen in einzelnen F\u00e4llen die Verkn\u00fcpfung freilich durch die Wahrnehmung nahe gelegt wird, in andern aber eine lange begriffliche Verarbeitung der Beobachtungen voraussetzt. In beiden F\u00e4llen bleibt sie daher ein Act blo\u00df logischer Synthesis, weshalb denn auch das r\u00e4umlich und zeitlich Nahe als causal getrennt und umgekehrt das in der Anschauung Getrennte als causal verbunden aufgefasst werden kann. So ist z. B. der Begriff der anziehenden Kraft, der Sonne und Erde in eine causale Verbindung bringt, ebenso gut ein Erzeugniss logischer Synthese wie der Begriff der Sto\u00dfkraft, der die gleiche Verbindung f\u00fcr zwei einander ber\u00fchrende K\u00f6rper ausf\u00fchrt. Denn eine unmittelbare anschauliche Nothwendigkeit daf\u00fcr, dass der sto\u00dfende den gesto\u00dfenen K\u00f6rper bewegt, ist nirgends zu entdecken : diese Nothwendigkeit entsteht erst aus der begrifflichen \u00abVerkn\u00fcpfung und Verarbeitung der Erfahrungen. Dagegen ist die Entstehung einer Sinneswahrnehmung aus ihren einfachen sinnlichen Elementen, eines Willensactes aus seinen Motiven eine causale Verbindung, f\u00fcr die wir auf begrifflichem Wege Bindeglieder gar nicht erst zu suchen brauchen, weil wir diese Inhalte selbst in dem Zusammenhang unserer inneren Vorg\u00e4nge als causal verbunden unmittelbar anschaulich auffassen. Wenn Zweifel an der Richtigkeit einer gegebenen causalen Interpretation entstehen \u2014 und sie k\u00f6nnen auch hier sicherlich Vorkommen \u2014 so beziehen sich daher diese nicht auf die Zweckm\u00e4\u00dfigkeit der Erkl\u00e4rungsh\u00fclfsmittel, der angewandten H\u00fclfsbegriffe und H\u00fclfshypothesen, sondern auf Thatfragen, die durch eine sorgsamere und mit besseren H\u00fclfsmit-teln ausger\u00fcstete Untersuchung zu entscheiden sein m\u00fcssen, oder, wo sie dies nicht sein sollten, lediglich an der ungeheuren Complication der Vorg\u00e4nge scheitern. Wir k\u00f6nnen dies kurz in den Satz zusammenfassen: alle psychische Causalit\u00e4t ist eine anschauliche, alle physische Causalit\u00e4t ist eine begriffliche. Darin ist von selbst eingeschlossen, dass die psychische","page":109},{"file":"p0110.txt","language":"de","ocr_de":"110\nW. Wundt.\nCausalit\u00e4t an sich die urspr\u00fcnglichere, die physische die abgeleitete ist, wie dies ja auch die psychologische Entwickelung des Causal-begriffs im allgemeinen best\u00e4tigt. Aus unserer inneren Wahrnehmung sch\u00f6pfen wir die Forderung, dass alles uns in irgend einer Wahrnehmung Gegebene nach Gr\u00fcnden und Folgen zu verkn\u00fcpfen sei, und der Versuch der Durchf\u00fchrung dieser Forderung zeigt dann, dass ihr f\u00fcr die \u00e4u\u00dfere Erfahrung, insofern wir dieselbe als eine von dem Subject unabh\u00e4ngige betrachten, nur auf begrifflichem Wege entsprochen werden kann, \u00e4hnlich wie ja auch die dieser Entwickelung parallel gehende Entwickelung des Begriffs eines \u00e4u\u00dferen Gegenstandes zu dem Ergebnisse f\u00fchrt, dass dieser Begriff auf einen Inhalt bezogen werden muss, der, als Grundlage des anschaulich gegebenen Objectes, selbst nicht anschaulich, sondern nur logisch, also nach gewissen rein begrifflichen Forderungen festzustellen ist. Indem nun diese begriffliche und jene anschauliche Entwickelung f\u00fcr unser Erkenntnissbed\u00fcrfniss gleich unvermeidlich sind, ist darin wiederum die Mahnung enthalten, dass wir keine dieser beiden Causalformen, die sich ja wie gesagt nicht widerstreiten sondern erg\u00e4nzen, als die ausschlie\u00dfliche ansehen sollen, sondern dass wir uns, wo dies geschieht, wie es denn z. B. gerade d%> wo wir ihre eigenth\u00fcmlichen Merkmale feststellen, geschehen muss, lediglich einer Abstraction bedienen, welche die Wirklichkeit nur von einem Gesichtspunkte aus und deshalb eben unvollst\u00e4ndig wiedergibt. Die Abstraction der physischen Causalit\u00e4t bedarf zu ihrer Erg\u00e4nzung der psychischen, auf dem Gebiet des psychophysischen Geschehens um der Erfahrung vollkommen gerecht zu werden, \u00fcberall sonst aber um der eigenth\u00fcmlichen Schranken und Bedingungen des physischen Causalbegriffs eingedenk zu bleiben, die f\u00fcr die metaphysische Betrachtung der Dinge zugleich Motive f\u00fcr die hypothetische Erg\u00e4nzung des Begriffs der objectiven Realit\u00e4t abgeben k\u00f6nnen. Nicht minder bedarf die Abstraction der psychischen Causalit\u00e4t der physischen zu ihrer Erg\u00e4nzung, da das Subject aller psychologischen Erfahrung das psychophysische Individuum ist, in welchem sich beide Causalit\u00e4ten verbinden oder, wie wir es wohl besser ausdr\u00fccken, in welchem sich diese beiden zusammengeh\u00f6rigen Seiten der einen Causalit\u00e4t wechselseitig durchdringen .\t'","page":110},{"file":"p0111.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 111\nIndem die Verkn\u00fcpfung von Ursachen und Wirkungen auf psychischem Gebiete eine unmittelbare und anschauliche ist, steht sie in engster Verbindung mit jener Stetigkeit des psychischen Geschehens, welche uns dieses als zugeh\u00f6rig zu einem einzigen Zusammenhang auffassen l\u00e4sst. Dabei kann aber dieser Zusammenhang ebenso als die Bedingung wie als die Folge der psychischen Causalit\u00e4t betrachtet werden. Denn existirte er nicht, so w\u00fcrde es uns unm\u00f6glich sein, der Verkettung der psychischen Ursachen und Wirkungen unmittelbar inne zu werden. Anderseits w\u00fcrde aber auch ohne diese der Zusammenhang des psychischen Geschehens unm\u00f6glich sein. Das schlie\u00dft nicht aus, dass in Folge der psychophysischen Beziehungen, die von der gew\u00f6hnlichen Betrachtungsweise auf ein Hereingreifen physischer Causalit\u00e4t bezogen werden, neue Bewusstseinsinhalte entstehen, die nicht in den gleichzeitigen und vorangegangenen inneren Vorg\u00e4ngen motivirt sind. Aber indem sich diese in den Zusammenhang des psychischen Geschehens einreihen, und nur weil sie dies thun zu wirksamen Bestandteilen desselben werden, weisen sie lediglich darauf hin, dass die Causalit\u00e4t des individuellen Bewusstseins keine in sich abgeschlossene ist und daher auch f\u00fcr sich allein betrachtet blo\u00df eine relative Vollst\u00e4ndigkeit besitzen kann. Uebrigens, ist dies in gewissem Sinne auch hei der physischen Causalit\u00e4t nicht anders, hei der sich aus dem unbegrenzten Causalzusammenhang der Natur immer nur willk\u00fcrlich bestimmte relativ selbst\u00e4ndige und in sich abgeschlossene Systeme aussondern lassen. Doch sind nat\u00fcrlich die Bedingungen solcher Begrenzung in beiden F\u00e4llen wieder wesentlich verschiedene. Insbesondere empf\u00e4ngt hier der Zusammenhang der psychischen Causalreihen sein eigent\u00fcmliches Gepr\u00e4ge dadurch, dass er an die Grenzen des individuellen Bewusstseins gebunden ist, und dass daher alle Beziehungen, in denen sich diese Grenzen als nur relativ g\u00fcltige erweisen, durch die psychophysischen Wechselbeziehungen zur Au\u00dfenwelt zu Stande kommen.\nIn jenem Zusammenhang der geistigen Vorg\u00e4nge, der ebenso Bedingung wie Wirkung der psychischen Causalit\u00e4t ist, besteht nun diejenige fundamentale Thatsache des individuellen Bewusstseins, welche die Psychologie als die Einheit des Bewusstseins zu bezeichnen pflegt. Dabei verh\u00e4lt sich hinwiederum diese Einheit zum","page":111},{"file":"p0112.txt","language":"de","ocr_de":"112\nW. Wundt.\nBewusstsein selbst, unter dem wir ja nur das unmittelbare Gegebensein unserer inneren Erlebnisse verstehen, ebenso wie der Zusammenhang des geistigen Geschehens zur psychischen Causalit\u00e4t. Beide bedingen sich wechselseitig, so dass psychologisch betrachtet weder ein Bewusstsein ohne Einheit seiner Zust\u00e4nde, noch diese letztere ohne Bewusstsein m\u00f6glich ist. Nach dem Thatbestand der inneren Erfahrung ist aber die Einheit des Bewusstseins eine doppelte: erstens eine simultane Einheit der in einem gegebenen Moment ablaufenden, und zweitens eine continuirliche Verbindung der einander folgenden Bewusstseinsvorg\u00e4nge. Demnach ist auch die psychische Causalit\u00e4t in dieser doppelten Weise wirksam : als causale Verbindung gleichzeitig gegebener Inhalte oder als psychische Wechselwirkung, und als causale Verbindung vorangehender, in verschiedenem Grade zeitlich getrennter mit nachfolgenden Ereignissen oder als psychische Folgewirkung. Die Wechselwirkung macht sich vorzugsweise bei den einfacheren, die Folgewirkung bei den verwickelteren Processen geltend: so z. B. die erstere bei den Sinneswahrnehmungen, den diese begleitenden Gef\u00fchlen u. s. w., die zweite bei den Willenshandlungen, intellectuellen Processen n. dergl.\nIn der Verbindung der simultan und successiv gegebenen Zust\u00e4nde und Vorg\u00e4nge zur Einheit des Bewusstseins ist nun bereits das folgende, f\u00fcr die psychische Causalit\u00e4t \u00fcberaus charakteristische und wichtige Princip wirksam, welches sie nicht weniger als die reine Actualit\u00e4t des Geschehens von der physischen Causalit\u00e4t scheidet.\n2. Das Princip der sch\u00f6pferischen Synthese.\nUnter ihm verstehe ich die Thatsache, dass die psychischen Elemente durch ihre causalen Wechselwirkungen und Folgewirkungen Verbindungen erzeugen, die zwar aus ihren Componen-ten psychologisch erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnen, gleichwohl aber neue qualitatix\u00c9tEigenschaften besitzen, die in den Elementen nicht enthalten waren, wobei namentlich auch an diese neuen Eigenschaften eigenth\u00fcmliche, in den Elementen nicht vorgebildete Werthbestimmungen gekn\u00fcpft werden. Insofern die psychische Synthese in allen solchen F\u00e4llen ein Neues hervorbringt, nenne ich sie eben","page":112},{"file":"p0113.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 113\neine sch\u00f6pferische. Auch dieses Princip bew\u00e4hrt sich in allen psychischen Causalverbindungen : es begleitet die geistige Entwickelung von ihren ersten bis zu ihren vollkommensten Stufen, und in seiner Wirksamkeit gibt sich eine so fundamentale Ueberein-stimmung der psychischen Vorg\u00e4nge unter einander zu erkennen, dass ihr gegen\u00fcber alle die bekannten Unterscheidungen in niedere und h\u00f6here, sinnliche und intellectuelle Functionen, ebenso wrie die davon abh\u00e4ngigen in Ged\u00e4chtniss-, Phantasie-, Verstandesth\u00e4tig-keiten und \u00e4hnliche, von untergeordneter Bedeutung sind, da sie sich nicht auf die allgemeine Natur der causalen Processe, sondern nur auf gewisse Unterschiede der Ergebnisse dieser Processe beziehen.\nIn seiner einfachsten, darum aber auch f\u00fcr Den, der \u00fcberhaupt f\u00fcr psychische Zusammenh\u00e4nge ein Verst\u00e4ndniss besitzt, klarsten und \u00fcberzeugendsten Gestalt tritt uns die Wirksamkeit dieses Prin-cips in der einfachen Sinneswahrnehmung entgegen. Jede Wahrnehmung ist zerlegbar in elementare Empfindungen. Aber sie ist niemals blo\u00df die Summe dieser Empfindungen, sondern aus der Verbindung derselben entsteht ein Neues mit eigenth\u00fcmlicheii Merkmalen, die in den Empfindungen nicht enthalten waren. So setzen wir aus einer Menge von Lichteindr\u00fccken die Vorstellung einer r\u00e4umlichen Gestalt zusammen. Welcher der verschiedenen Theorien \u00fcber die Entstehung des Sehfeldes man sich auch zuneigen m\u00f6ge, keine, selbst nicht die des verwegensten Nativisten, kann um die sch\u00f6pferische Synthese der Empfindungen herumkommen. Denn wenn man auch annehmen sollte, dass die Vorstellung eines einzelnen Raumpunktes etwas urspr\u00fcngliches sei, \u2014 nur durch eine Erschleichung, bei der man das Product dieser Synthese schon stillschweigend mit hinzudenkt, kann man meinen, damit sei nun auch die Verbindung aller dieser Elemente zu einer ausgedehnten r\u00e4umlichen Wahrnehmung von selbst gegeben. Und wie sollte vollends die je nach den verschiedenen psychologischen Motiven, welche die\nahrnehmung beeinflussen, so ungemein wechselnde Gestaltung des Sehfeldes, die Verlegung in verschiedene Entfernungen im Raum und die damit wieder zusammenh\u00e4ngende Beschaffenheit der orperlichen Vorstellung anders denn als ein psychisches Erzeugniss orkl\u00e4rt werden k\u00f6nnen? Wie viel man auch, um die Psychologie\nWu\u201cdt, Philos. Stadien. X.\to","page":113},{"file":"p0114.txt","language":"de","ocr_de":"114\nW. Wundt.\nzu entlasten, der Physiologie aufb\u00fcrden mag, das eine bleibt immer, dass die Verbindung der mannigfaltigen Eindr\u00fccke zu einem einheitlichen Ganzen ein Act unseres Bewusstseins ist. Und mag man mit noch so viel Recht den Raum als eine real au\u00dfer uns existi-rende Form der Verbindung der Dinge ansehen, f\u00fcr uns existirt er doch jedenfalls nur durch unsere Wahrnehmung. Ob diese -als eine erzeugende oder als eine blo\u00df nacherzeugende angesehen werde, sch\u00f6pferisch bleibt sie stets gegen\u00fcber der Summe der Empfindungen, die das Substrat des Wahrnehmungsactes ist. Muss das jede Theorie anerkennen, wenn sie sich nicht gedankenlos \u00fcber die unumst\u00f6\u00dfliche Thatsache hinwegsetzen will, dass jede Zusammenfassung im Bewusstsein ein psychischer Act ist, so hat aber allerdings, wie ich meine, die genetische Wahrnehmungstheorie den Vorzug, dass sie aus demselben Princip, dessen die andern nachtr\u00e4glich doch nicht entbehren k\u00f6nnen, von Anfang an den Wahrnehmungsvorgang zu verstehen sucht, \u2014 ein logischer Vorzug, zu welchem dann au\u00dferdem noch gewisse empirische Beweisgr\u00fcnde hinzukommen, denen gegen\u00fcber sich die nativistischen Theorien in unl\u00f6sbare Widerspr\u00fcche verwickeln. Insbesondere scheint es mir, dass die Theorie der complexen Localzeichen deutlich die wesentliche Eigenth\u00fcmlichkeit aller dieser Synthesen erkennen l\u00e4sst, wonach die Elemente des Ganzen und ihre Verkn\u00fcpfungen \u00fcber die Eigenschaften der resultirenden Vorstellung Rechenschaft geben, sobald diese als gegeben angenommen wird, dass es aber f\u00fcr Denjenigen, dem diese Vorstellung nicht bekannt w\u00e4re, ebenso unm\u00f6glich sein w\u00fcrde, sie aus jenen ihren psychologischen Bedingungen ahzuleiten, wie es f\u00fcr Den, der noch keine Farbe empfunden hat, (xu/m\u00f6glich w\u00e4re, aus dem Begriff der Lichtschwingungen die Qualit\u00e4t der Empfindung zu gewinnen.\nWie mit der r\u00e4umlichen Synthese, so verh\u00e4lt es sich mit allen andern Arten der Zusammenfassung der Empfindungen zu einheitlichen Vorstellungen. M\u00f6gen uns noch so sehr die objectiven Verh\u00e4ltnisse der Tonschwingungen als begreifliche Bedingungen der Consonanz und Dissonanz, Harmonie und Disharmonie der Kl\u00e4nge erscheinen : diese Erzeugnisse selbst sind doch sowohl nach ihrer Vor-stellungs- wie nach ihrer Gef\u00fchlsseite Erzeugnisse, in denen zu den Eigenschaften der in ihnen enthaltenen Empfindungscomponenten","page":114},{"file":"p0115.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 115\nneue hinzutreten. Das n\u00e4mliche gilt f\u00fcr unsere zeitlichen Yer-kn\u00fcpfungsformen der Empfindungen, die metrische und rhythmische Ordnung. Erst indem wir uns klarmachen, wie sich schon hei der einfachsten Wahrnehmung dies Princip der sch\u00f6pferischen Synthese beth\u00e4tigt, werden uns nun aber auch die h\u00f6heren psychischen Gebilde, die Producte der intellectuellen Functionen, unter dem gleichen Gesichtspunkte verst\u00e4ndlich: sie erscheinen nicht mehr als v\u00f6llig disparate Erzeugnisse, die den niederen psychischen Functionen unvergleichbar gegen\u00fcberstehen, sondern als zusammengesetztere Weiterentwickelungen der einfachsten seelischen Vorg\u00e4nge. So ist es, wenn man nicht bei oberfl\u00e4chlichen und nichtssagenden Merkmalen stehen bleiben will, als die Eigenth\u00fcmlichkeit aller Phantasieth\u00e4tigkeit anzusehen, dass sie von einheitlichen Gesammtvorstellungen ausgeht, die nach intellectuellen Motiven, die sich \u00fcber die verschiedensten Regionen des Seelenlebens erstrecken, gebildet sind. Solche Gesammtvorstellungen, wie sie ja in der deutlichsten Weise namentlich jeder k\u00fcnstlerisch planvollen Wirksamkeit der Phantasie zu Grunde liegen, sind sch\u00f6pferische Synthesen, die sich unter zusammengesetzten Bedingungen bilden, und an denen sich namentlich weiter zur\u00fcckliegende Erwerbungen des Bewusstseins hetheiligen. Aehu-liches gilt von den unter dem Vorwalten logischer Motive zu Stande kommenden Gesammtvorstellungen, den Begriffen1).\nAuch das Princip der sch\u00f6pferischen Synthese enth\u00e4lt ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal der psychischen von der physischen Causalit\u00e4t. Die Qualit\u00e4t physischer Wirkungen ist stets vollst\u00e4ndig vorgebildet in ihren Ursachen. Dies erhellt aus den Causalglei-chungen, in denen sich die Beziehungen beider zu einander darstellen lassen. So sind die beiden Glieder einer Kraftgleichung unmittelbar als gleichartige Gr\u00f6\u00dfen oder Gr\u00f6\u00dfenfunctionen gegeben,\n1) Vergl. Physiol. Psychol. 4. Aufl. II. S. 490 ff. Vorles. \u00fcb. die Menschen-und Thierseele. 2. Aufl. S. 334ff. Ich darf wohl hier bemerken, dass die oben hervorgehobenen Principien psychischer Causalit\u00e4t in den beiden genannten erken sowie anderw\u00e4rts mehrfach von mir im Einzelnen hervorgehoben worden sind. Wenn diese Ausf\u00fchrungen so gut wie gar keine Beachtung von Seiten er Psychologen gefunden haben, so liegt der Grund zum Theil vielleicht darin, ich8 816 an versc*lle<^enen Orten zerstreut sind. Als die Hauptursache glaube jc aber doch das geringe Interesse ansehen zu d\u00fcrfen, das die heutige Psycho-\u00b0g!e den synthetischen Aufgaben ihrer Wissenschaft entgegenbringt.","page":115},{"file":"p0116.txt","language":"de","ocr_de":"116\nW. Wundt.\nso dass hier nach Ma\u00dfgabe weniger allgemeiner Voraussetzungen \u00fcber die Wirksamkeit der Kr\u00e4fte jeder einzelne Erfolg vorausbestimmt werden kann. Bei den Transformationsgleichungen wird diese qualitative Gleichartigkeit der Glieder allerdings erst auf Grund jener hypothetischen Annahmen hergestellt, die im Sinne der mechanischen Naturanschauung alle Naturvorg\u00e4nge als Be-. wegungsvorg\u00e4nge betrachten. L\u00e4sst man diesen Gleichungen ihre \\ urspr\u00fcngliche Bedeutung, so enthalten sie dagegen feste quantitative .\nBeziehungen 'zwischen qualitativ verschiedenen Processen., Aber I indem im allgemeinen, von gewissen speciellen Bedingungen abgesehen, eine R\u00fcckverwandlung der Processe in den n\u00e4mlichen quantitativen Verh\u00e4ltnissen m\u00f6glich ist, geben sich auch hier die verschiedenen Naturvorg\u00e4nge als gleichwerthige zu erkennen. Das n\u00e4mliche gilt dann selbstverst\u00e4ndlich von den in Zustandsgleichungen ausgedr\u00fcckten Beziehungen, die ja, wie fr\u00fcher bemerkt, nur aus einer continuirlichen Verkettung von Ursachen und Wirkungen von einander entfernte Glieder herausgreifen. Indem nun im Gegens\u00e4tze hierzu das Product jeder psychischen Synthese neue ; Eigenschaften mit neuen Werthbestimmungen enth\u00e4lt, erkl\u00e4rt sich hieraus, dass zun\u00e4chst im individuellen Seelenleben, dann aber auch in , den \u00fcber dieses hinausreichenden geistigen Zusammenh\u00e4ngen innerhalb gewisser, wahrscheinlich durch innere wie \u00e4u\u00dfere Bedingungen bestimmter Grenzen fortschreitende psychische Entwickelungen entstehen. Diese Verkettung sch\u00f6pferischer Synthesen zu einer progressiven Entwickelungsreihe habe ich an anderer Stelle (im Gegens\u00e4tze zu dem Gesetz der Constanz der physischen Energie) als das Princip des Wachsthums geistiger Energie bezeichnet und zugleich darauf hingewiesen, dass dasselbe wieder mit einem andern, allen geistigen Entwickelungen eigenth\u00fcmlichen Princip, dem der Heterogenie der Zwecke, in enger Beziehung steht1). Bei dem Ausdruck \u00bbWachsthum der Energie\u00ab ist freilich nicht zu vergessen, dass, wenn wir die Gr\u00f6\u00dfe irgend eines psychischen Werthes im Hinblick auf die ihm zukommende geistige Wirkungsf\u00e4higkeit als dessen Energie bezeichnen, die geistigen Energien zwar eine allgemeine Gr\u00f6\u00dfenvergleichung, aber keine exacte quantitative Messung\n1) Ethik. 2. Aufl. S. 266.","page":116},{"file":"p0117.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parall\u00e9lismes. 117\nzulassen, weil, wie oben bemerkt, Constantenbestimmungen auf geistigem Gebiet durch die Natur der psychischen Causalit\u00e4t ausgeschlossen sind.\nMit den er\u00f6rterten Unterschieden physischer und psychischer Causalit\u00e4t h\u00e4ngt endlich noch der weitere zusammen, dass auf physischem Gebiet der angemessene Fortschritt der Ca\u00fcsalerkl\u00e4rungen progressiv von den Ursachen zu den Wirkungen fortschreitet, w\u00e4hrend er auf psychischem Gebiete urspr\u00fcnglich immer nur regressiv ist, indem zu gegebenen Wirkungen die Ursachen und Bedingungen aufgesucht werden k\u00f6nnen, die uns jene verst\u00e4ndlich erscheinen lassen. Auf physischem Gebiete k\u00f6nnen daher auch in einfacheren F\u00e4llen aus Combinationen von Ursachen, die in der gegebenen Weise noch niemals zusammen beobachtet worden sind, die Wirkungen vorausgesagt werden; auf psychischem Gebiet ist das selbst in den einfachsten F\u00e4llen niemals m\u00f6glich, sondern hier kann immer nur von gleichen auf gleiche F\u00e4lle eine solche Voraussage gemacht werden, ein Umstand, durch welchen diese f\u00fcr alle verwickelteren psychischen Vorg\u00e4nge \u00fcberhaupt ausgeschlossen ist. Wie ungemein wichtig dieser principielle Unterschied f\u00fcr den ganzen Umfang der Geisteswissenschaften ist, und wie er sich \u00fcberall in der Methodik derselben zu erkennen gibt, sei hier nur angedeutet. Zugleich steht diese Eigenth\u00fcmlichkeit wieder in enger Verbindung mit der eminenten Bedeutung, welche f\u00fcr die Geisteswissenschaften die Zweckbeurtheilung besitzt. Ihr ist es ja eigen, dass sie das Verh\u00e4ltniss der Glieder der Causalit\u00e4t umkehrt, indem sie fragt, wie die Ursachen beschaffen sein m\u00fcssen, um einen bezweckten Erfolg herbeizuf\u00fchren. Doch ist die regressive psychologische C\u00e4usalerkl\u00e4rung an und f\u00fcr sich noch keineswegs Zweckerkl\u00e4rung. Denn sie ist auch ausf\u00fchrbar, ohne dass irgendwie der begriff des Zwecks in Frage kommt. In der That ist bei allen theoretischen Problemen diese reine regressive Causalbetrachtung eigentlich immer zun\u00e4chst gefordert. Erst die Bildung von Geisteserzeugnissen, die auf ein bewusstes zweckth\u00e4tiges Handeln zur\u00fcck-weisen, bei denen also eine Wahl zwischen verschiedenen m\u00f6glichen Motiven stattfindet, fordert die eigentliche Zweckbetrachtung heraus.","page":117},{"file":"p0118.txt","language":"de","ocr_de":"118\nW. Wundt.\n3. Das Princip der beziehenden Analyse.\nIn nichts bew\u00e4hrt sich so sehr die einheitliche Natur der Gebilde, welche die sch\u00f6pferische psychische Synthese hervorbringt, als in der Art, wie sich diese Gebilde in einzelne Bestandtheile gliedern. Diese Gliederung geschieht n\u00e4mlich durchgehends nicht so, dass die aus dem Ganzen ausgesonderten Theile nun f\u00fcr sich bestehende Einheiten bilden, sondern stets derart, dass sie mit dem Ganzen, aus dem sie hervorgingen, in Beziehung bleiben und wesentlich durch diese fortdauernde Beziehung ihre eigene Bedeutung empfangen.\t*\nGleich dem Princip der sch\u00f6pferischen Synthese, zu dem es das erg\u00e4nzende Gegenst\u00fcck bildet, ist 'auch das der beziehenden Analyse auf allen Stufen der psychischen Entwickelung nachzuweisen. Innerhalb der Wahrnehmungsvorg\u00e4nge z. B. besteht es in der Hervorhebung eines begrenzten Theiles aus einem zusammenh\u00e4ngenden Ganzen. Diese Gliederung der Vorstellung in ihre Bestandtheile erfolgt, gerade so wie die Synthese des Ganzen aus seinen Elementen^ meist in Folge bestimmter \u00e4u\u00dferer Ursachen: die Theile eines r\u00e4umlichen Bildes sondern sich z, B. in Folge der Bewegung, der verschiedenen Vertheilung von Licht und Farben u. s. w. Aber diese Ursachen bilden immer nur bestimmende Motive, nicht zwingende Gr\u00fcnde. Es kommt zu ihnen noch die subjective Bedingung, dass unser Bewusstsein aus der Totaleinheit, die es umfasst, suc-cessiv begrenztere Einheiten hervorhebt, um sie sich vorzugsweise zu vergegenw\u00e4rtigen. Diese eigenth\u00fcmliche Bewusstseinsfunction, ohne welche die Trennung und Unterscheidung des Einzelnen aus einer Gesammtheit von Empfindungen nicht m\u00f6glich w\u00e4re, nennen wir die Apperception. Sie ist theils von der unmittelbaren Bewusstseinslage, z. B. von \u00e4u\u00dferen Eindr\u00fccken und den durch sie angeregten n\u00e4chsten Associationen, theils von weiter zur\u00fcckliegenden, aus der ganzen bisherigen Bewusstseinsentwickelung hervorgehenden Bedingungen abh\u00e4ngig. Wie das Bewusstsein eine Totaleinheit, so ist der Inhalt der Apperception eine Sondereinheit, die sich aus jener hervorhebt, und der wir nach dem Grade dieser Hervorhebung und der Sch\u00e4rfe der Begrenzung gegen\u00fcber andern Bestandtheilen Klarheit und Deutlichkeit zuschreiben. Wie in der Bevor-","page":118},{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 119\nzugung bestimmter Theile eines simultanen Eindrucks, so beth\u00e4tigt sich die Apperception dann weiterhin in dem zeitlichen Verlauf des psychischen Geschehens : sie gliedert die Eindr\u00fccke einer Zeitreihe, indem sie einzelne st\u00e4rker hebt als andere und so die rhythmische Gliederung des zeitlichen Vorgangs erzeugt, sowie die Zusammenfassung successiver Elemente zu einem complexen Ganzen vermittelt. Nach den aus der Gesammtentwickelung des Bewusstseins resultirenden intellectuellen Motiven endlich werden jene Gesammt-vorstellungen, welche die Ausgangspunkte der sogenannten Phantasie- und Verstandesth\u00e4tigkeit bilden, durch successive Hervorhebung ihrer Bestandtheile gegliedert, bei welchem Vorgang nicht nur das Einzelne in klarere Beleuchtung r\u00fcckt, sondern auch durch associative Erregung sich vervollst\u00e4ndigen und weiterhin in secund\u00e4re Bestandtheile sondern kann.\nIn allen diesen F\u00e4llen ist die apperceptive Zerlegung nicht eine \u00e4u\u00dferliche Trennung in isolirte Theile, sondern eine organische, insofern eben der Theil stets seine Beziehung zum Ganzen bewahrt. Ebenso ist auf allen diesen Stufen der Entwickelung die Apperception eine Einheitsfunction in dem Sinne, dass sich der Totaleinheit des Bewusstseins in einem gegebenen Bewusstseinsact immer nur eine durch die Apperception hervorgehobene Sondereinheit ge gen\u00fcb erstellt, wobei dann die letztere wieder mehr oder weniger zusammengesetzt sein kann und daher in der Regel eine weitere Gliederung gestattet. In der psychologischen Entwickelung jeder Kunstsch\u00f6pfung und in den in der Sprache niedergelegten psychologischen Gesetzen der Gedankenth\u00e4tigkeit findet diese Einheit der Apperception zugleich mit dem ihr eng verbundenen Princip der beziehenden Analyse ihren deutlichen Ausdruck. Wer die Gesetze der Begriffs- und Urtheilsbildung und der k\u00fcnstlerischen Phantasie durchaus als etwas betrachten will, was die Psychologie nichts angehe, weil sich Logik und Aesthetik mit ihnen besch\u00e4ftigen, der sollte doch wenigstens versuchen, \u00fcber gewisse Beobachtungen Rechenschaft zu geben, von denen Logik und Aesthetik abstrahiren, weil es sich dabei um die psychologische Entstehungsweise des Gedankens handelt. Dazu geh\u00f6rt z. B. die Wahrnehmung, dass dem Redenden der Gedanke als Ganzes, dem K\u00fcnstler das Kunstwerk als Ganzes vorschwebt, ehe er sich die einzelnen Theile","page":119},{"file":"p0120.txt","language":"de","ocr_de":"120\nW. Wundt.\nvergegenw\u00e4rtigt. \"Wie w\u00e4re es auch sonst m\u00f6glich, auch nur einen einigerma\u00dfen verwickelten Satz zu Ende zu f\u00fchren, w\u00e4hrend man doch im Beginn der Rede noch keineswegs wei\u00df, wie er sich im einzelnen gestalten wird? Gewiss hat die Psychologie und die Psychophysik noch zahllose Aufgaben zu l\u00f6sen, hei denen es zun\u00e4chst nur auf eine sorgf\u00e4ltige Analyse der Thatsachen ankommt, und sie soll nicht alle Dinge sofort \u00bb sub specie aeternitatis \u00ab betrachten. Aber ihre Hauptaufgabe wird es immer bleiben, den Zusammenhang des geistigen Lebens in allen seinen Theilen verstehen zu lernen. Die Function der beziehenden Analyse ist es nun, die uns die Formen dieses Zusammenhangs enth\u00fcllt. Indem sie aus der F\u00fclle der gleichzeitig und nach einander gegebenen Bewusstseinsinhalte einzelne heraushebt, um sie in Beziehung zu setzen, bereitet sich in ihr jene planm\u00e4\u00dfige logische Analyse unserer inneren Erlebnisse vor, welche diese nach Gr\u00fcnden und Folgen, nach Motiven und Zwecken verbindet. Eine solche Analyse w\u00fcrde nicht m\u00f6glich sein, wenn nicht ihr entsprechende psychologische Zerlegungsvorg\u00e4nge bereits zu den nat\u00fcrlichen Erzeugnissen des psychischen Geschehens geh\u00f6rten. Als das Causalprincip der geistigen Vorg\u00e4nge ergibt sich so das allgemeine Princip der Verkn\u00fcpfung nach Grund und Folge sammt den mit ihm untrennbar verbundenen, f\u00fcr alle Vergleichung und Beziehung psychischer Inhalte ma\u00dfgebenden Principien der Identit\u00e4t und des Widerspruchs1). Dabei ist jedoch nicht zu vergessen, dass diese Principien abstracte, von der Wirklichkeit der inneren Erlebnisse abgezogene Formen sind, die in dem unmittelbaren Bewusstseinsinhalt nur concrete Einzelvorstellungen zu ihrem Substrate haben, und deren Wirksamkeit \u00fcberdies fortw\u00e4hrend durch \u00e4u\u00dfere physische Einfl\u00fcsse, durch Sinneseindr\u00fccke und die von ihnen ausgehenden associativen Erregungen, unterbrochen wird. Die Psychologie hat daher jene idealen Formen nicht als solche, sondern in ihrer Verbindung mit der Gesammtheit der psychophysischen Bedingungen des Bewusstseins und damit in ihrer realen Bedeutung f\u00fcr die Entwickelung des Seelenlebens zu untersuchen. Daraus folgt von selbst, dass ihre Aufgaben ein fortw\u00e4h-\n1) Ueber den inneren Zusammenhang dieser Principien vergl. mein System der Philosophie. S. 71 ff.","page":120},{"file":"p0121.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 121\nrendes Ineinandergreifen psychischer und physischer Causalbetrach-tungen erfordern. Je verwickelter sich aus diesen Gr\u00fcnden die causale Analyse schon der einfacheren geistigen Vorg\u00e4nge gestaltet, um so nothwendiger ist es aber, dass hier durch die Einf\u00fchrung der experimentellen Methode ann\u00e4hernd constante oder leicht willk\u00fcrlich zu wiederholende Bedingungen f\u00fcr die zu erzeugenden typischen Vorg\u00e4nge des individuellen Bewusstseins herzustellen sind. Weit entfernt, dass, wie h\u00e4ufig behauptet worden ist, die Verwickelung des psychischen Geschehens die experimentelle Methode ausschl\u00f6sse, macht sie also dieselbe vielmehr innerhalb der ihr naturgem\u00e4\u00df gesteckten Grenzen ihrer Anwendung zu einem um so dringenderen Erforderniss.\nOb aber, \u00fcber den engeren Umkreis psychologischer Aufgaben hinaus, diese neue Art psychologischer Forschung auch dem Beruf der Psychologie, den Geisteswissenschaften eine allgemeine Grundlage zu bieten, gerecht zu werden vermag? Ich glaube, diese Frage ist im Grunde identisch mit der andern: Ist jene Richtung im Stande, die Psychologie selber zu f\u00f6rdern? Denn diese, die das geistige Leben, wie es zun\u00e4chst im individuellen Bewusstsein gegeben ist, zu erforschen sucht, hat zweifellos die Aufgabe, den Geistes Wissenschaften, der Philologie, der Geschichte, der Kunsttheorie u. s. w., bei ihren speciellen Interpretationen geistiger Vorg\u00e4nge und geistiger Erzeugnisse h\u00fclfreich zu sein. Eine Methode, die zu dieser letzten Aufgabe der Psychologie nichts beitr\u00e4gt, kann also unm\u00f6glich f\u00fcr die Psychologie selber etwas Nennens-werthes leisten. Nun bin ich geneigt, \u00fcber die H\u00fclfe, die bis jetzt die einzelnen Geisteswissenschaften von der Psychologie empfangen haben, \u00fcberaus bescheiden zu denken. Die hervorragenden Historiker, National\u00f6konomen, Juristen \u2014 sie haben sich beholfen und behelfen sich, so viel ich sehen kann, noch immer mit dem, was jedem Gebildeten ohne besonderes Studium der wissenschaftlichen Psychologie aus der allgemeinen Lebenserfahrung und aus der Besch\u00e4ftigung mit der allgemeinen Geschichte geistiger Bestrebungen zu Gebote steht. Oder, wenn sich je einmal ein Jurist oder Sprachforscher an eines der gangbaren psychologischen Systeme, z. B. an das Herbart\u2019sche, enger angeschlossen haben sollte, so vermag ich nicht zu entdecken, dass ihm","page":121},{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"122\nW. Wundt.\naus dieser Sichtung seines Denkens eine besondere F\u00f6rderung der specielleren wissenschaftlichen Aufgaben erwachsen w\u00e4re. Wenn es also der experimentellen Psychologie nicht gelingen sollte, einen tiefgreifenden Einfluss auf die Geisteswissenschaften zu \u00fcben, so w\u00fcrde sie darin in der That kaum den bisherigen Sichtungen nachstehen. Aber insofern sie gegen\u00fcber diesen die Psychologie auf eine festere Basis zu stellen sucht, da sie wenigstens f\u00fcr die einfacheren Probleme durch die experimentelle Vervollkommnung der Beobachtung zuverl\u00e4ssigere Antworten zu gewinnen hofft, liegt es allerdings nahe zu erwarten, dass man auf diesem Wege etwas weiter als seither kommen werde. 0b diese Hoffnung Aussicht auf Erf\u00fcllung hat? Je nach der Aufgabe, die man dem Experimente anweist, wird die Antwort auf diese Frage eine verschiedene sein. Die materialistische Psychologie, die jene Aufgabe darin erblickt, die Abh\u00e4ngigkeit der psychischen von physiologischen Vorg\u00e4ngen nachzuweisen, kann nat\u00fcrlich der Psychologie \u00fcberhaupt kaum eine Bedeutung f\u00fcr die Geisteswissenschaften zuerkennen, es sei denn die, dass auch die letzteren allm\u00e4hlich in eine erweiterte physiologische Zukunftswissenschaft \u00fcbergehen sollen. Ich habe schon bemerkt, dass ich den Zweck der experimentellen Methode hier in nichts anderem sehe, als in der ihr \u00fcberall zukommenden Eigenschaft, die Beobachtung durch willk\u00fcrliche Wiederholung, Constant-erhaltung und Variirung der Bedingungen zu vervollkommnen. Der Dienst, den sie zu leisten vermag, besteht dann wesentlich darin, dass sie die innere Beobachtung vervollkommnet, ja in exacterem Sinne, wie ich glaube, erst m\u00f6glich macht. Hat nun die so verstandene experimentelle Selbstbeobachtung bereits Dienste geleistet? Auf diese Frage l\u00e4sst sich wohl keine allgemeing\u00fcltige Antwort geben, weil es bei dem unfertigen Zustand unserer Wissenschaft selbst innerhalb der experimentellen Richtung noch keine allgemeing\u00fcltige Psychologie gibt. Manche sehen in der physiologischen Untersuchung, andere wenigstens in den psychophysischen Methoden und \u00e4hnlichem ihre Hauptaufgabe. Bei solchem Widerstreit der Meinungen, wie er f\u00fcr eine Zeit noch unsicher tastender Entwickelung begreiflich ist, wird immer der Einzelne nur sagen k\u00f6nnen, was er selbst an neuen Anschauungen und Einsichten der neuen Methode zu verdanken glaubt. Wenn ich aber gefragt w\u00fcrde,","page":122},{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus. 123\nworin f\u00fcr mich der psychologische Werth der experimentellen Beobachtung bestanden hat und noch besteht, so w\u00fcrde ich antworten, dass sie in mir eine v\u00f6llig neue Anschauung von der Natur und dem Zusammenhang der seelischen Vorg\u00e4nge erzeugt und immer mehr befestigt hat. Als ich zum ersten Mal an psychologische Probleme herantrat, theilte ich das allgemeine, dem Physiologen nahe liegende Vorurtheil, dass die Bildung der Sinnes Wahrnehmungen lediglich ein Werk der physiologischen Eigenschaften unserer Sinnesorgane sei. Ich lernte zuerst an den Leistungen des Gesichtssinnes jenen Act sch\u00f6pferischer Synthese hegreifen, der mir allm\u00e4hlich der F\u00fchrer wurde, um auch der Entwickelung der h\u00f6heren Phantasie- und Verstandesfunctionen ein psychologisches Verst\u00e4ndniss abzugewinnen, f\u00fcr das mir die alte Psychologie keine H\u00fclfe geboten hatte. Als ich dann an die Untersuchung der zeitlichen Verh\u00e4ltnisse des Verlaufs der Vorstellungen heranging, er-\u00f6ffnete sich mir ein neuer Einblick in die Entwickelung der Willensfunctionen, der \u00e4u\u00dferen aus den inneren, der zusammengesetzten aus einfachen, ein Einblick zugleich in den engen Zusammenhang aller der durch k\u00fcnstliche Abstractionen und Namen, wie Vorstellen, F\u00fchlen, Wollen, geschiedenen psychischen Functionen, mit einem Wort in die Untheilbarkeit und auf allen seinen Stufen innere Gleichartigkeit des geistigen Lebens. Die chronometrische Erforschung der Associationsvorg\u00e4nge, welche die Aufmerksamkeit auf das Verh\u00e4ltniss der Wahrnehmungs- zu den Erinnerungsbildern lenkte, lehrte mich endlich den Begriff der \u00bbreproducirten\u00ab Vorstellungen als eine jener vielen Selbstt\u00e4uschungen erkennen, die in festen Begriffszeichen ausgedr\u00fcckt werden, um dann fort und fort an die Stelle der Wirklichkeit ein nicht existirendes Trugbild zu setzen. Ich lernte die \u00bbVorstellung\u00ab als einen Vorgang verstehen, der nicht weniger wechselnd und verg\u00e4nglich ist wie ein Gef\u00fchls- oder Willensact, und ich begriff, dass in Folge dessen die alte Associationslehre nicht l\u00e4nger haltbar sei, dass sie durch die Annahme von Verbindungsprocessen zwischen den Empfindungselementen ersetzt werden m\u00fcsse, ein Gesichtspunkt, unter dem sich nun auch der fortw\u00e4hrende Uebergang und die nahe Beziehung der succes-siven zu den simultanen Associationen von selbst ergab. Als den f\u00fcr mich wichtigsten Gesammtertrag dieser neuen Anschauungen","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124 W. Wundt. Ueber psychische Causalit\u00e4t u. das Princip d. psychophysischen Parallelismus.\ndarf ich aber die Einsicht in jene allgemeinen Principien psychischer Causalit\u00e4t betrachten, deren Formulirung ich oben versucht habe.\nDaneben ergab dann allerdings die experimentelle Beobachtung auch noch manches Andere, z. B. bestimmtere und, wie ich glaube, gesichertere Vorstellungen \u00fcber den Umfang des Bewusstseins, \u00fcber die absolute Zeitdauer gewisser Vorg\u00e4nge, genauere Werthe f\u00fcr bestimmte psychophysische Beziehungen u. s. w. Ich halte aber diese Specialergebnisse im allgemeinen f\u00fcr geringf\u00fcgig, f\u00fcr Nebenergebnisse, nicht im mindesten f\u00fcr die Hauptsache. Wenn ich darum zusammenfassend sagen soll, was ich selbst an psychologischen Einsichten der experimentellen Methode verdanke, so kann ich nur antworten : Alles was ich auf diesem Gebiete \u00fcberhaupt f\u00fcr richtig und zum Theil f\u00fcr unumst\u00f6\u00dflich halte. Und wenn ich weiter gefragt werde, ob mir diese psychologischen Einsichten irgend welche Gesichtspunkte f\u00fcr die Beurtheilung der Objecte der Geisteswissenschaften, also von Sprache, Sitte, Kunst, Geschichte u. s. w., dargeboten haben, so muss ich antworten: insoweit ich \u00fcberhaupt durch meine nicht-fachm\u00e4nnische, sondern gelegentliche und von allgemeinen wissenschaftlichen Interessen geleitete Besch\u00e4ftigung mit jenen Gebieten ein selbst\u00e4ndiges Urtheil besitze, so verdanke ich hier hinwiederum Alles, was nicht die Thatsachen selbst, sondern die allgemeinen Gesichtspunkte ihrer Beurtheilung angeht, zu einem wesentlichen Theile den in der Psychologie gewonnenen Anschauungen.","page":124}],"identifier":"lit29437","issued":"1894","language":"de","pages":"1-124","startpages":"1","title":"Ueber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus","type":"Journal Article","volume":"10"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:39:39.675800+00:00"}