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{"created":"2022-01-31T13:37:37.294796+00:00","id":"lit29506","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Kries, J. v.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 8: 1-33","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber die Natur gewisser mit den psychischen Vorg\u00e4ngen verkn\u00fcpfter Gehirnzust\u00e4nde.\nVon\nJ. y. Kries.\nDie psychologische Forschung kann es gegenw\u00e4rtig wohl als sichergestellt betrachten, dafs es unm\u00f6glich ist, einen l\u00fcckenlosen gesetzm\u00e4fsigen Zusammenhang der f\u00fcr sich betrachteten Bewufstseinserscheinungen nachzuweisen und dabei dem Eingreifen materieller Vorg\u00e4nge nur hinsichtlich der Sinnesempfindungen Rechnung zu tragen. Vielmehr kann es als zweifellos gelten, dafs der Versuch, zu einem Verst\u00e4ndnis der psychischen Vorg\u00e4nge zu gelangen, in viel weiterem Umfange die Mitwirkung cerebraler Zust\u00e4nde ~oder Prozesse ins Auge fassen mufs. Die Unkenntnis \u00fcber die Natur dessen, was sich im Zentralnervensystem abspielt, erscheint nun verh\u00e4ltnis-m\u00e4fsig am wenigsten als Hindernis bez\u00fcglich aller derjenigen Vorg\u00e4nge, welche etwa die unmittelbaren Substrate der Bewufst-seinserscheinungen bilden m\u00f6gen. Denn hier sind wir, eben durch die Ber\u00fccksichtigung der Bewufstseinserscheinungen selbst, einigermafsen in der Lage, zu beobachten, zu beschreiben, zu klassifizieren, selbst Kausalzusammenh\u00e4nge festzustellen. In weit h\u00f6herem Grade aber kann es wohl als Bed\u00fcrfnis bezeichnet werden, in Bezug auf alle diejenigen cerebralen Zust\u00e4nde etwas zu erfahren, welche den Gang der psychischen Erscheinungen mitbestimmen oder beeinflussen, ohne selbst als Bewufstseinszust\u00e4nde charakterisiert zu sein. Versuche in dieser Richtung scheinen mir nun selbst dann nicht aussichtslos, wenn man die Hoffnung, die cerebralen Prozesse ihrer Natur nach v\u00f6llig aufzukl\u00e4ren, als eine verfr\u00fchte ansehen wollte; denn es erscheint denkbar, wenn ich mich so ausdr\u00fccken darf, wenigstens \u00fcber die \u00e4ufsere Erscheinungsweise jener Faktoren\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie VIII.\t1","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nJ. v. Kries.\netwas festzustellen und ihnen, ohne ein endg\u00fcltiges Verst\u00e4ndnis zu beanspruchen, in einer klassifizierenden und in groben Umrissen zeichnenden Weise n\u00e4her zu kommen.1 Dafs es m\u00f6glich sei, in solcher Art bez\u00fcglich der in den Gang der psychischen Vorg\u00e4nge verflochtenen Gehirnzust\u00e4nde manches Wertvolle festzustellen, ist seit langer Zeit meine \u00dcberzeugung.\nAls einen Anfang in dieser Hinsicht m\u00f6chte ich die nachfolgenden \u00dcberlegungen, die in einer vielleicht etwas willk\u00fcrlichen Weise an einzeln herausgegriflene F\u00e4lle ankn\u00fcpfen, dem Leser unterbreiten. Man wird bemerken, dafs die hier gesteckten Ziele mit denjenigen, welche S. Exner in seinem unl\u00e4ngst erschienenen Werke2 verfolgt hat, vielfache Ber\u00fchrungen besitzen. Standpunkt und Behandlung sind insoweit verschieden, dafs es mir am richtigsten erschienen ist, die nachstehende Arbeit ziemlich unver\u00e4ndert in derjenigen Form mitzuteilen, in der sie (Ende des vorigen Jahres) niedergeschrieben worden war. Doch will ich zum Schl\u00fcsse auf das Verh\u00e4ltnis meiner Auffassung und Methode zu derjenigen Exners noch mit einigen Worten eingehen.\nI.\nIch beginne mit einem m\u00f6glichst charakteristischen Beispiele desjenigen Verhaltens, an das ich zun\u00e4chst anzukn\u00fcpfen vorhabe. In der gebr\u00e4uchlichen Notenschrift wird bekanntlich die Bedeutung jedes Notenzeichens durch den der ganzen Schrift Vorgesetzten \u201eSchl\u00fcssel\u201c bestimmt. Durchweg wird in dem F\u00fcnflinien system geschrieben ; dabei ist aber nur das feststehend, dafs jede Linie einen um zwei Stufen h\u00f6heren Ton bedeutet, als die n\u00e4chste unter ihr; dagegen bestimmt der Schl\u00fcssel die absolute H\u00f6he des Systems. In der etwas willk\u00fcrlichen Symbolik der traditionellen Notenschrift besagt das\n1\tNat\u00fcrlich wird der Wert solcher allgemeinen Darlegungen erh\u00f6ht werden, je mehr eine Ankn\u00fcpfung an bestimmte physiologische Vorstellungen m\u00f6glich ist. Aber eine solche Ankn\u00fcpfung ist nicht un-erl\u00e4fslich. Ja. ich glaube, dafs sich Ergebnisse solcher Art, lediglich mit einer ver\u00e4nderten Terminologie, sogar der w\u00fcrde aneignen k\u00f6nnen, der auf dem Standpunkte steht, jene mitbestimmenden Faktoren des Seelenlebens gar nicht als materielle Gehirnzust\u00e4nde, sondern als psychische Verhaltungsweisen auffassen zu wollen.\n2\tS. Exner, Entwurf zu einer physiologischen Erkl\u00e4rung der psychischen Erscheinungen. 1. Teil. Wien 1894.","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022 \u2022\n\u00fcber die Natur gewisser Gehirnzust\u00e4nde.\n3\nauf die vierte Linie gesetzte Zeichen\tder sogenannte\nBafsSchl\u00fcssel, dafs diese vierte Linie die Note f bedeutet; der\nauf die zweite Linie gesetzte Violinschl\u00fcssel fc charakterisiert\nm)\ndiese Linie als g, u. s. w. Hiernach bedeutet z. B. das Zeichen\nim Bafsschl\u00fcssel gelesen d,\nim Violinschl\u00fcssel dagegen\nw\u00e4hrend es in einer Beihe anderer Schl\u00fcssel noch andere Bedeutungen haben kann.\nOhne nun in Abrede stellen zu wollen, dafs diese Mannigfaltigkeit der Bedeutung eines und desselben Zeichens das Lesen der Notenschrift einigermafsen erschwert, k\u00f6nnen wir doch als sicher gestellt betrachten, dafs der darauf Einge\u00fcbte mit Leichtigkeit in verschiedenen Schl\u00fcsseln lesen kann. Und zwar geschieht dies so, dafs man zuerst in Augenschein nimmt, welcher (oder welche) Schl\u00fcssel der zu lesenden Notenschrift vorgesetzt sind und alsdann anstandslos in diesen liest. Dasjenige nun, was an diesem Sachverhalt eine besondere Aufmerksamkeit verdient, ist der Umstand, dafs ein und dasselbe Zeichen ganz verschiedene Notenvorstellungen in uns hervorruft, und dafs dies abh\u00e4ngig ist von irgend einer zun\u00e4chst nicht genauer bekannten Modifikation des psychophysischen Mechanismus, welche durch die vorangehende Wahrnehmung des Schl\u00fcssels bewirkt worden ist. Wie sind diese Modifikationen aufzufassen? Ich vermute, dafs manche Psychologen geneigt sein werden, sich die Sache so zurechtzulegen, dafs in jedem Falle die Vorstellung des Schl\u00fcssels \u201eunbewufst\u201c gegenw\u00e4rtig bleibe und den Gang der an jedes Zeichen sich kn\u00fcpfenden Assoziation mitbestimme. Es scheint mir indessen wichtig, namentlich f\u00fcrs erste eine solche Deutung des Sachverhalts beiseite zu lassen. Wir werden sp\u00e4ter Gelegenheit haben, auf dieselbe wieder zur\u00fcckzukommen, und es wird dann auch am Platze sein, \u00fcber Sinn und Wert gerade dieser Betrachtungsweise einige Andeutungen zu machen. Vorderhand w\u00e4re nur nach einem m\u00f6glichst einfachen und m\u00f6glichst wenig pr\u00e4judi-zierenden Ausdruck f\u00fcr den hier vorliegenden Sachverhalt zu suchen. In diesem Sinne m\u00f6chte ich die unbekannte Ver\u00e4nderung. welche den Wechsel der Assoziationsbeziehungen bewirkt und die wir wohl in einem nicht zu k\u00fchnen Bilde\n1*","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nJ. v. Kries.\netwa mit einer ver\u00e4nderlichen Weichenstellung vergleichen k\u00f6nnten, eine wechselnde Einstellung nennen. Da man im allgemeinen nicht im Zweifel dar\u00fcber sein wird, dafs es sich hier um ein Wechseln cerebraler Zust\u00e4nde handelt, so wollen wir im folgenden von cerebralen Einstellungen reden.1 Dabei will ich gleich bemerken, dafs \u00fcberhaupt die Aufsuchung verschiedener Arten cerebraler Einstellungen, die Betrachtung ihrer Entstehung, ihrer Wirkungsweise, ihres Zusammenhanges etc. Hauptaufgabe der gegenw\u00e4rtigen Abhandlung ist-Die hier an die Spitze gestellte ist nur eine unter verschiedenen anderen. Da ihre Bedeutung darin besteht, die Verkn\u00fcpfungsweise anderer Vorg\u00e4nge zu modifizieren, so k\u00f6nnen wir sie n\u00e4her als eine konnektive Einstellung bezeichnen. Die konnektive Einstellung w\u00e4re also jene cerebrale Ver\u00e4nderung, derzufolge eine und dieselbe Gesichtswahrnehmung bald diese, bald jene Vorstellung hervorruft. Und wir h\u00e4tten zun\u00e4chst lediglich von der Thatsache Akt zu nehmen, dafs solche Einstellungen m\u00f6glich sind, dafs sie durch einfache Wahrnehmungen angeregt und mit grofser Leichtigkeit und Geschwindigkeit gewechselt werden k\u00f6nnen. Nur Eines, ein Negatives, kann hinzugef\u00fcgt werden und ist wichtig: die Einstellungen bestehen hier ohne Zweifel nicht in irgend welchen Bewufstseins-ph\u00e4nomenen, die den Vorgang des Lesens begleiteten und die Art der Auffassung des einzelnen Notenzeichens etwa mitbestimmten. ln der That ist jedenfalls gar nicht daran zu denken, dafs etwa die bewufste Vorstellung des Schl\u00fcssels, in dem gelesen werden soll, uns w\u00e4hrend der ganzen Dauer dieser Th\u00e4tigkeit gegenw\u00e4rtig bliebe. Und noch eine andere Art, in der man den Wechsel der assoziativen Verkn\u00fcpfungen auf die Beteiligung dem Bewufstsein angeh\u00f6riger Faktoren zur\u00fcckzuf\u00fchren suchen k\u00f6nnte, l\u00e4fst sich wohl gerade in dem hier betrachteten Beispiel mit Sicherheit ausschliefsen. Man k\u00f6nnte n\u00e4mlich meinen, dafs es jedesmal die unmittelbar vorher stattgefundene Verkn\u00fcpfung von Notenzeichen und Tonvorstellung sei, welche f\u00fcr die n\u00e4chstfolgenden wieder die analoge, d. h. dem gleichen Schl\u00fcssel entsprechende, bewirke. Aber mir\n1 Wer sich auf diesen Standpunkt nicht stellen wollte, k\u00f6nnte, entsprechend dem schon oben Angedeuteten nat\u00fcrlich auch von psychischen Einstellungen reden.","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"Uber die Natur gewisser Gehirnzust\u00e4nde.\n5\nscheint diese Auffassung kaum durchf\u00fchrbar zu sein. Denn erstlich erh\u00e4lt sich doch die richtige Einstellung auch \u00fcber l\u00e4ngere Pausen hin, w\u00e4hrend welcher gar keine Noten gelesen nnd gar kein Schl\u00fcssel* vorgestellt wird. Abgesehen hiervon aber d\u00fcrfte doch auch die genaue Verfolgung der hier versuchten Erkl\u00e4rung durch Bewufstseinsph\u00e4nomene auf den Grundgedanken der Einstellungen zur\u00fcckf\u00fchren. Nehmen wir an,\n*\nes sei soeben das Zeichen : \u00e4 als a gelesen worden. Wenn man nun diese Thatsache daf\u00fcr verantwortlich machen will,\ndafs das Zeichen\tals g gelesen wird, so kann dies wohl\nin gewissem Umfange als richtig zugegeben werden, n\u00e4mlich da, wo nahe benachbarte T\u00f6ne auf einanderfolgen, der einzelne also nicht sowohl im Schl\u00fcssel gelesen, sondern nach dem Intervall gegen den vorigen erkannt wird. Wenn aber, wie dies jedenfalls sehr h\u00e4ufig, ja wohl meistens der Fall ist, die neue Note nicht auf die vorige bezogen, sondern selbst\u00e4ndig gelesen wird, so kann man dies auf den Umstand, dafs zuvor eine andere Note in bestimmter Weise gelesen wurde, doch nicht wohl zur\u00fcckf\u00fchren, ohne einige weitere Annahmen hinzuzuf\u00fcgen. Weder das Notenzeichen noch die Tonvorstellung kann dasjenige psychologische Element darstellen, an welches sich die weitere Bestimmung der Assoziationen ankn\u00fcpft. Vielmehr kann gerade nur der Umstand in Betracht kommen, dafs gerade dies Zeichen mit dieser TonvorStellung verkn\u00fcpft wurde. Und in dieser Eorm betrachtet weist dann der ganze Vorgang doch bereits wieder sehr deutlich darauf hin, dafs nicht die vorg\u00e4ngigen Vorstellungen die folgende Assoziation bewirken, sondern dafs es ein drittes im Bewufstsein sich nicht andeutendes Verhalten sein mufs, welches f\u00fcr die zweite Verkn\u00fcpfung bestimmend ist, eines, welches auch der ersten bereits zu Grunde lag und allerdings durch die faktische Verwirklichung derselben befestigt und gest\u00e4rkt sein mag. Dieses Verhalten aber wird eben das sein, was wir als die \u201eEinstellung\u201c auf den einen oder den anderen Schl\u00fcssel bezeichnet haben wollten.\nEine erweiterte Bedeutung kann den hier zum Ausgangspunkt genommenen Thatsachen zun\u00e4chst insofern vindiziert","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nJ. V. Kries.\nwerden, als sicli sogleich zahlreiche andere anf\u00fchren lassen, bei welchen in \u00e4hnlichem Sinne und mit gleichem Recht von einer wechselnden konnektiven Einstellung gesprochen werden kann. F\u00fcr Buchstabenzeichen giebt es zwar (gl\u00fccklicherweise!) keinen derartigen Bedeutungswechsel, wie f\u00fcr die Notenzeichen,1 wohl aber finden wir einzelne Zeichen, die z. B. in verschiedenen Alphabeten mit ungleicher Bedeutung Vorkommen u. dergl. Die Majuskel P hat im lateinischen Alphabet eine andere Bedeutung, als im griechischen, das Zeichen 0 als Buchstabe eine andere, wie als Zahlzeichen. Auch diese optischen Gebilde haben also nicht eine', sondern mehrere assoziative Verkn\u00fcpfungen. Ob die eine oder die andere ins Spiel kommt, h\u00e4ngt auch hier von der jeweils vorhandenen Einstellung ab. Lesen wir griechisch, so kommt uns bei dem Zeichen P der Gedanke an den Laut p gar nicht in den Sinn, ebensowenig der Gedanke an ein 0, wenn uns in einer Rechnung die Null begegnet. \u2014 Die Zeichen S, 0 und H bedeuten in der Schreibweise der Chemiker Schwefel, Sauerstoff und Wasserstoff. Lese ich eine Abhandlung chemischen Inhalts, so werden die Zeichen unmittelbar in diesem Sinne verstanden, w\u00e4hrend unter anderen Umst\u00e4nden die entsprechenden Vorstellungen durch jene Zeichen ganz und gar nicht hervorgerufen werden.\nGleiches, wie von den bisher er\u00f6rterten optischen Wahrnehmungen, gilt auch von Klangbildern, so z. B. ganz besonders von geh\u00f6rten Worten. Das Wechseln der Assoziationen, die sich an denselben Wortklang kn\u00fcpfen k\u00f6nnen, zwingt, wie ich glaube, zur Anerkennung der Thatsache, dafs unser Sensorium je nach Umst\u00e4nden auf verschiedene Sprachen, ja auch auf verschiedene Gedanken- und Begriffskreise eingestellt sein kann, und wiederum durch die jeweilige Einstellung die Assoziationswege mitbestimmt sein k\u00f6nnen. Hierher geh\u00f6rt zun\u00e4chst, dafs von uns dasselbe (geh\u00f6rte) Wort je nach Umst\u00e4nden in verschiedenem Sinne aufgefafst wird; ich erinnere hier, um inner-\n1 Wenigstens keinen in allgemeinem Gebrauche. Als Chiffreschrift wird dagegen \u00f6fter eine Verschiebung derart benutzt, dafs jeder Buchstabe statt durch sein gew\u00f6hnliches Zeichen durch das im Alphabet ihm folgende repr\u00e4sentiert wird. Dafs man bei einiger \u00dcbung auch solche Chiffreschrift gel\u00e4ufig w\u00fcrde lesen k\u00f6nnen, ist wohl sicher. Alsdann m\u00fcfste es auch eine wechselnde Einstellung, f\u00fcr die gew\u00f6hnliche oder f\u00fcr diese verschobene Art zu lesen, geben.","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fcber die Natur gewisser Gehir umst\u00e4nde.\n7\nhalb einer Sprache zu bleiben, an Worte, wie Prozefs, Polar sation, Handlung, Zirkel, Assoziation etc.1\nBesonders beachtenswert scheint mir, dafs vielfach eine gewisse Einstellung auch bewirkt werden kann, ohne dafs, wie in den eben erw\u00e4hnten F\u00e4llen wohl meistens, man sich mit einem bestimmten Gedankenkreise direkt und in bewufster Weise besch\u00e4ftigt. Allerdings ist es m\u00f6glicherweise nicht ganz leicht, hierf\u00fcr ganz beweisende Beispiele beizubringen, schon weil individuelle Unterschiede dabei eine erhebliche Bolle spielen m\u00f6gen. Aber mir scheint z. B. nach pers\u00f6nlicher Erfahrung sicher, dafs man, sagen wir auf deutsch oder auf englisch, auf franz\u00f6sisch oder italienisch eingestellt sein kann. Vorzugsweise deutlich ist mir der Wechsel dieser Verhaltungsweisen, wenn ich meine Aufmerksamkeit einer Unterhaltung anderer Personen zuwende, die zun\u00e4chst wegen der Entfernung, wegen sonstiger Ger\u00e4usche u. dergl. zwar h\u00f6rbar, aber nicht wohl verst\u00e4ndlich ist. Ich stelle dann successive den Versuch an, sie mir verst\u00e4ndlich zu machen, indem ich annehme, es werde deutsch, dann, es werde franz\u00f6sisch, englisch etc. gesprochen. Das Sensorium wird auf die verschiedenen Sprachen eingestellt, und die richtige Einstellung bewirkt, dafs nun vielleicht ziemlich viel verstanden werden kann, w\u00e4hrend urspr\u00fcnglich nichts verst\u00e4ndlich wurde.2 Hier ist der Wechsel der Einstellung noch durch einen bewufsten Akt markiert. Man erw\u00e4ge indessen, dafs, wenn wir uns im Auslande aufhalten, wir ohne Zweifel dauernd auf die fremde Sprache eingestellt sind; wir sind es hinsichtlich der Geh\u00f6rseindr\u00fccke, und zwar auch dann, wenn wir vielleicht l\u00e4ngere Zeit gar nicht sprechen h\u00f6rten. Ein gewisser cerebraler Zustand liegt vor und ist\n1\tDie hier in Eede stehende Art der Einstellung entspricht, wie mir scheint, vorzugsweise dem, was Ziehen als einen EinfLufs der \u201eKonstellation\u201c auf die Assoziationen bezeichnet hat. {Leitfaden der 'physiologischen Psychologie. 2. AufL, S. 150.)\n2\tWer nicht in dieser Weise auf das psychische Verhalten zu achten gewohnt ist, wird vielleicht eher zu bemerken glauben, dafs, nachdem einmal ein oder ein paar Worte verstanden worden sind, nun mit gr\u00f6fserer Leichtigkeit auch mehr verstanden werden kann. In vielen E\u00e4llen hat dies gewifs keinen anderen Grund, als den, dafs die ersten verstandenen Worte ausreichen, um den H\u00f6rer auf die richtige Sprache einzustellen.","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nJ. v. Kries.\nanders, als wenn wir in der Heimat sind; aber er ist als Bewufstseinszustand nicht dauernd bemerkbar.\nGehen wir vorl\u00e4ufig weiter in der Aufsuchung \u00e4hnlicher Y erhaltungsweisen, so w\u00e4re etwa der Fall anzuschliefsen, dafs durch eine variierbare Einstellung die motorischen Erfolge von sensiblen Erregungen mitbestimmt werden, wobei entweder zwischen Eintreten und Nie ht ein treten eines bestimmten Erfolges oder zwischen der Ankn\u00fcpfung zweier verschiedener gewechselt werden kann. Schon der gew\u00f6hnliche Fall einfacher Reaktionsversuche geh\u00f6rt hierher. Den Zustand, in dem der Reagierende sich befindet, wenn er das Signal erwartet, werden wir zutreffend eine konnektive Einstellung nennen d\u00fcrfen. Die Bedeutung derselben ist nicht etwa dadurch ersch\u00f6pft, dafs die Aufmerksamkeit dem Signal zugewendet und dafs man f\u00fcr die Ausf\u00fchrung der Reaktion vorbereitet ist. Beides ist der Fall, unter Umst\u00e4nden mehr das eine, unter Umst\u00e4nden mehr das andere. Daneben aber ist offenbar von entscheidender Bedeutung eben jenes yerhalten des Sensoriums, welches durch die Entschliefsung, auf das Signal zu reagieren, herbeigef\u00fchrt ist, und welches thats\u00e4chlich die Ausf\u00fchrung der Reaktion an die Wahrnehmung kn\u00fcpft. Wir haben \u00fcbrigens nicht n\u00f6tig, auf solche dem Gebiete des wissenschaftlichen Versuches angeh\u00f6rige F\u00e4lle zu greifen. Auch das t\u00e4gliche Leben bietet uns hinl\u00e4nglich Beispiele \u00e4hnlichen Verhaltens. Die beim Milit\u00e4r ge\u00fcbte Ausf\u00fchrung von Bewegungen, Gewehrgriffen etc. auf Kommando hat ja mit der Ausf\u00fchrung von Reaktionsbewegungen die gr\u00f6fste \u00c4hnlichkeit. Um auch hier typische Beispiele f\u00fcr das Wechseln von Einstellungen zu bemerken, haben wir nur daran zu denken, dafs bei gleichzeitiger Besch\u00e4ftigung mehrerer Gruppen auf demselben Platz, jede Gruppe auf das Kommando eines, nicht aber auf das vielleicht noch lauter h\u00f6rbare eines anderen Befehlenden reagiert. Wird ihr gesagt, sie habe von jetzt ab auf ein anderes Kommando zu h\u00f6ren, so mufs sie sich hierauf einstellen. Der Einzelne, dem etwa gestattet ist, zu pausieren, h\u00f6rt die Kommandoworte, ohne davon Notiz zu nehmen, bis ihm wieder aufgegeben wird, mitzuthun, und er sich hierauf einstellt.\nWir brauchen ferner nur an die vorher erw\u00e4hnten Beispiele wechselnder Assoziierung zu denken, um zu finden, dafs in zahlreichen F\u00e4llen auch die Bewegungsausl\u00f6sung in ganz \u00e4hn-","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"m m\nUber die Natur gewisser Gehirnzust\u00e4nde.\n9\nlieh er Weise gewechselt werden kann. Die Einstellung auf verschiedene Schl\u00fcssel macht sich, wenn ein Musikst\u00fcck nach Noten gespielt wird, ganz ebenso geltend, wie wenn es nur gelesen wird; es ist ganz das N\u00e4mliche, ob die Notenzeichen nur Tonvorstellungen, oder ob sie zugleich Bewegungen auszul\u00f6sen haben. M\u00f6glich bleibt nat\u00fcrlich hier, wie in vielen F\u00e4llen, dafs es sich zun\u00e4chst auch nur um die wechselnden Assoziationen von Vorstellungen handelt. Die Ausf\u00fchrung verschiedener Bewegungen k\u00f6nnte darauf zur\u00fcckzuf\u00fchren sein, dafs das Notenzeichen einmal die Vorstellung dieses, das andere Mal die Vorstellung jenes Tones, das eine Mal dieser, das andere Mal jener Taste hervorruft und die Vorstellung eines Tones, einer Taste stets die gleiche Bewegung in Gang br\u00e4chte. Wir wollen diese Frage, deren Verfolgung f\u00fcr uns ohne Belang ist, uner\u00f6rtert lassen.\nInstruktiv ist eine andere Art des EinstellungsWechsels, die ich an einem mir aus meiner Jugend erinnerlichen Kinderspiele erl\u00e4utern will. Dasselbe bestand h\u00f6chst einfach darin, dafs nach einer willk\u00fcrlichen Verabredung die Bedeutung zweier Kommando Worte (z. B. Beugen und Strecken) vertauscht wurde, also auf den Ruf \u201eBeugen\u201c die Arme zu strecken, und auf \u201eStrecken\u201c die Arme zu beugen waren. Der Kommandierende suchte durch unregelm\u00e4fsigen Wechsel des Kommandos, h\u00e4ufige Wiederholung des gleichen etc. die Ausf\u00fchrenden zu Fehlern zu bringen. Man ersieht aus der M\u00f6glichkeit eines solchen Spieles, dafs es m\u00f6glich ist, nach einer solchen ganz willk\u00fcrlichen Verabredung die Verkn\u00fcpfungen zu wechseln; zugleich aber ist zu bemerken, dafs die Aufrechterhaltung einer solchen abweichenden Einstellung grofse Anspannung erfordert und daher recht h\u00e4ufig Fehler Vorkommen, indem die gewohnte Verkn\u00fcpfungsweise sich wieder zur Geltung bringt.\nGerade bez\u00fcglich der konnektiven Einstellungen ist nun eine Heranziehung physiologischer Thatsachen vorzugsweise nahe gelegt. Es sind die bekannten Erscheinungen der Hemmung und Bahnung, an welche hier sogleich zu denken ist. Ist das Wechseln zweier Verkn\u00fcpfungen etwas anderes, als die Er\u00f6ffnung eines und gleichzeitige Sperrung eines anderen Leitungsweges?\nEs soll auf diese und \u00e4hnliche Fragen, wiewohl eine eingehende Er\u00f6rterung derselben nicht im Plane dieser Arbeit","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nJ. v. Kries.\nliegt, zum Schl\u00fcsse derselben noch zur\u00fcckgekommen werden. An dieser Stelle mag der allgemeine Hinweis auf eine gewisse \u00c4hnlichkeit des hier Behandelten mit bekannten physiologischen Verh\u00e4ltnissen gen\u00fcgen.\nII.\nDen soeben besprochenen Erscheinungen m\u00f6chte ich sogleich gewisse andere anreihen, die sich in manchen Beziehungen ganz besonders typisch als Einstellungen qualifizieren, in anderen Hinsichten aber von den bisher betrachteten unterscheiden. Man pflegt anzunehmen, dafs unser in einem Urteil sich ausdr\u00fcckendes Wissen auf irgend einer Verkn\u00fcpfung der in das Urteil eingehenden Vorstellungen oder Begriffe beruht. Es wird aber auch wohl ziemlich allgemein anerkannt, dafs im Urteil neben der Koexistenz der betreffenden Vorstellungen noch etwas Weiteres, Besonderes hinzukomme, dasjenige, was z. B. Erdmann1 als Gleitungsbewufstsein bezeichnet. Auf eine genauere Er\u00f6rterung dar\u00fcber, worin der psychologische Thatbestand des Urteiles zu suchen ist, kann hier nicht eingegangen werden. Jedenfalls aber wird es berechtigt sein, den hier in Frage kommenden Zusammenhang von Vorstellungen als etwas Besonderes den gew\u00f6hnlichen rein assoziativen Verkn\u00fcpfungen gegen\u00fcberzustellen. Wir wollen zu diesem Zwecke von pr\u00e4dikativen oder assertorischen Verkn\u00fcpfungen reden.\nMan wird dann sagen d\u00fcrfen, dafs zwar nicht immer, aber\nin vielen F\u00e4llen das Entstehen einer derartigen Verkn\u00fcpfung,\nwie es immer statthat, wenn wir etwas erfahren oder wahr-\n\u2022 \u2022\nnehmen, den Charakter einer Einstellung zeigt. \u00dcberall da n\u00e4mlich ist dies der Fall, wo es sich nicht um Urteile von dauernder Bedeutung und somit nicht um die Bildung dauernder Verkn\u00fcpfungen handelt, sondern um das Wissen von einem jeweiligen Verhalten, von dem gerade jetzt vorhandenen Zustande eines h\u00e4ufig wechselnden Dinges. Ganz besonders charakteristisch ist dies zu bemerken, wo etwa nur zweierlei Verhaltungsweisen miteinander wechseln, und dann regelm\u00e4fsig als Ergebnis der letzten Wahrnehmung bekannt bleibt, welcher der beiden Zust\u00e4nde vorhanden ist. So weifs man, um ein triviales Beispiel anzuf\u00fchren, im Zimmer ruhig sitzend, meist\n1 B. Erdmann, Logik, S. 281.","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022 \u2022\nTJ ber die Natur gewisser Gehirnzust\u00e4nde.\n11\nsehr genau, ob die hinter einem befindliche Th\u00fcr ge\u00f6ffnet geblieben oder geschlossen worden ist, als zuletzt jemand herausging. Man hat dies, wie man wohl zu sagen pflegt, im Gef\u00fchl.\nEs kann bezweifelt werden, ob es sich hier um etwas prinzipiell anderes handelt, als es beim Behalten irgend einer Thatsache immer stattfindet. Der Unterschied liegt nur in dem vor\u00fcbergehenden Best\u00e4nde der hier hergestellten Verkn\u00fcpfung, welche alsbald wieder durch eine andere ersetzt werden kann. Aber es ist leicht denkbar, dafs auch die Herstellung einer Verkn\u00fcpfung, wie sie gew\u00f6hnlich irgend einem Zuwachs unseres Wissens entspricht, sich ganz nach Art einer Einstellung vollzieht, welche aber, da sie nicht gewechselt wird, zu einer dauernden Verkn\u00fcpfung wird. Ich m\u00f6chte, entsprechend dem Ausgangspunkte der Betrachtung, den Namen der Einstellung nur f\u00fcr die schnell und leicht zu wechselnden cerebralen Verhaltungsweisen verwenden. Es d\u00fcrfte also dann gesagt werden, dafs auch unser Wissen von dem jeweiligen Stande in solchen Dingen, die h\u00e4ufig wechseln, ganz nach Art einer Einstellung erworben und ver\u00e4ndert wird. Besonders interessant sind hier, wie \u00fcberall, die F\u00e4lle, in denen durch irgend welche besondere Umst\u00e4nde ein verkehrter Effekt der psychophysischen Einrichtung herauskommt. Hierher geh\u00f6rt z. B. die bekannte Erscheinung, dafs man gelegentlich nachts mit verkehrter Orientierung erwacht. Obwohl man recht gut weifs, dafs man, im Bette liegend, die Wand links, das Fenster hinter sich und die Th\u00fcr rechts hat, steht man doch unter dem vollen Zwange der T\u00e4uschung, dafs man entgegengesetzt liege. Der Schein ist trotz der Sicherheit des besseren Wissens f\u00fcr einige Zeit un\u00fcberwindlich und weicht meistens erst der direkten sinnlichen Wahrnehmung. Die M\u00f6glichkeit solcher T\u00e4uschungen zeigt, wie das ja auch von vornherein zu erwarten, dafs auch unser Wissen von der jeweiligen Lage unseres K\u00f6rpers in einer bekannten Umgebung sich nach Art einer Einstellung verh\u00e4lt. Die ganzen hier ber\u00fchrten und ein solches Wissen von zeitweiliger Bedeutung betreffenden Vorg\u00e4nge scheinen mir auch im Hinblick auf die im ersten Paragraphen behandelten Dinge belehrend, weil an ihnen ganz besonders deutlich wird, dafs es sich bei den Einstellungen um die Bildung cerebraler Zust\u00e4nde handelt, deren Bestehen mit irgend welchen Bewufstseinserscheinungen durchaus","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nJ. v. Kries.\nnicht verkn\u00fcpft zu sein braucht. F\u00fcr unser Wissen im gew\u00f6hnlichen Sinne des Wortes ist dies wohl l\u00e4ngst anerkannt. Etwas wissen heifst ja nicht best\u00e4ndig daran denken, es besteht vielmehr nur darin, dafs, wenn wir an die betreffenden Dinge\nM\ndenken, uns auch die \u00dcberzeugung kommt, es verhalte sich in dieser oder jener bestimmten Weise mit ihnen. In dieser Hinsicht nun ist offenbar gar kein Unterschied zwischen dem Wissen von dauernder und dem von vor\u00fcbergehender Bedeutung, zwischen der Dauer Verkn\u00fcpfung und der Einstellung. Auch die letztere ist von der Art, dafs sie sich erst geltend macht, wenn wir an bestimmte Dinge denken, w\u00e4hrend sie im allgemeinen unbestimmt lauge ohne begleitende Bewufstseinserscheinung latent verharren kann. Man wird wohl sagen d\u00fcrfen, dafs hierdurch auch die analoge Auffassung gest\u00fctzt wird, welche wir vorher f\u00fcr den andersartigen Wechsel von Assoziationsbahnen wahrscheinlich zu machen suchten.\nIII.\nDie cerebralen Einstellungen sind nach dem bisher Auseinandergesetzten in doppelter Weise charakterisiert, und zwar erstlich nach ihrem Effekt, indem sie einen Wechsel der zwischen irgend welchen psychischen Gebilden bestehenden Verkn\u00fcpfungen bewirken sollten, sodann aber auch nach der Art ihrer Entstehung, indem wir uns vorstellten, dafs etwa in der durch das Wort Einstellung angedeuteten Weise eine Beihe von ann\u00e4hernd festen Beziehungen pl\u00f6tzlich etabliert wird, um sich als etwas relativ Festes f\u00fcr eine gewisse Dauer zu erhalten. Es liegt nun nahe, und ich m\u00f6chte im folgenden auch den Versuch machen, den Begriff der cerebralen Einstellung in der Weise zu erweitern, dafs nur die letztere, auf ihre Entstehung bez\u00fcgliche, nicht aber die erstere, ihren Effekt betreffende Charakterisierung festgehalten wird. Betrachtet man n\u00e4mlich nur das als gegeben, dafs die Einstellung einen in der soeben angedeuteten Weise sich etablierenden cerebralen Zustand bedeuten soll, so erhebt sich sogleich die Frage, ob hierdurch gerade nur ein Wechsel verschiedener Verkn\u00fcpfungen zu bewirken ist. Die n\u00e4chstliegende Erweiterung w\u00fcrde darin bestehen, es sich als Sache einer Einstellung zu denken, dafs etwa die s\u00e4mtlichen von einer Vorstellung oder einer Art von Vorstellungen ausgehenden Verkn\u00fcpfungen und Effekte","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber die Natur gewisser Gehirnzust\u00e4nde.\t13\nbeg\u00fcnstigt und erleichtert, oder aber im Gegenteil unterdr\u00fcckt und erschwert werden. Es sind wohlbekannte Verh\u00e4ltnisse des Seelenlebens, welche zu dieser Annahme f\u00fchren, und f\u00fcr welche sich gerade aus ihr auch ein gewisses Verst\u00e4ndnis darzubieten scheint. Wir k\u00f6nnen als typischen Repr\u00e4sentanten derselben alles das anf\u00fchren, was unter den Begriff der Aufmerksamkeit zusammengefafst wird. Mir scheint in der That zweifellos, dafs auch die Richtung der Aufmerksamkeit auf diese oder jene Wahrnehmungen, Gedankenkreise etc. in der Hauptsache nichts anderes ist, als eine Art cerebraler Einstellung. Um Mifsverst\u00e4ndnisse zu vermeiden, will ich gleich hinzuf\u00fcgen, dafs mir hierdurch die Frage nach dem Wesen der Aufmerksamkeit nicht beantwortet, sondern nur auf ihren richtigen Boden gestellt, mit einer grofsen Reihe \u00e4hnlicher Probleme durch die gemeinsame Bezeichnung zusammenger\u00fcckt zu sein scheint. Die Bedeutung der ganzen Aufstellung m\u00f6chte ich daher auch nur darin erblicken, dafs sie ganz im allgemeinen die Richtung andeutet, in welcher die L\u00f6sung des Problems zu suchen ist, und insbesondere hierbei in Gegensatz zu anderen Auffassungen tritt, die mir prinzipiell unzul\u00e4nglich erscheinen. Ich denke hierbei besonders an die Tendenz, das Wesen der Aufmerksamkeit in Dingen zu suchen, die nicht cerebraler, sondern peripherer Natur sind. Vorzugsweise charakteristisch tritt uns diese Anschauung z. B. \u00bbbei Ribot entgegen, dessen Psychologie de Vattention ich die folgende Stelle entnehme (p. 32) : \u201eLes mouvements de la face du corps des membres et les modifications respiratoires qui accompagnent l\u2019attention, sont-ils simplement, comme on l\u2019admet d\u2019ordinaire, des effets, des signes? Sont-ils, au contraire, les conditions n\u00e9cessaires, les \u00e9l\u00e9ments constitutifs, les facteurs indispensables de l\u2019attention? Nous admettons cette seconde th\u00e8se, sans h\u00e9siter. Si Ton supprimait totalement les mouvements, on supprimerait totalement l\u2019attention.\u201c\nDen Gegensatz gegen derartige Vorstellungen charakterisiere ich wohl am besten, wenn ich (ex hypothesi) die Erkl\u00e4rung der Aufmerksamkeit durch cerebrale Einstellung in einer etwas groben, aber greifbaren Form darstelle. Man k\u00f6nnte zu solchem Zwecke etwa annehmen, dafs die Richtung der Aufmerksamkeit auf unsere Gesichtswahrnehmungen darin besteht, dafs die vom Cuneus des Occipitalhirns ausstrahlenden Bahnen in einen","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nJ. v. Kries.\nZustand erh\u00f6hter Erregbarkeit oder Leitungsf\u00e4higkeit gesetzt werden, dafs sie \u201egebahnt\u201c, dafs gleichzeitig andere Bahnen mehr oder weniger durch \u201eHemmungsvorg\u00e4nge\u201c \u201egesperrt\u201c sind, u. dergl.\nAllerdings aber scheint mir, dafs die genauere Verfolgung des Problems der Aufmerksamkeit uns zu einer bedeutungsvollen Erweiterung des Einstellungsbegriffes f\u00fchrt. Denn nur in gewissen F\u00e4llen k\u00f6nnen wir die Erfolge der Aufmerksamkeit durch die Etablierung von Verkn\u00fcpfungen, durch konnek-tive Einstellung erkl\u00e4ren.\nWenn wir den Gang der Dinge vergleichen, je nachdem wir einer in unserem Bewufstsein vorhandenen Vorstellung oder Vorstellungsreihe unsere Aufmerksamkeit zu wenden oder nicht, so finden wir hier in der That, dafs eine Anzahl psychischer Effekte (Behalten, Wiedererkennen, Beurteilen etc.) in dem einen Falle eintritt, in dem anderen aus bleibt. Wir k\u00f6nnen uns also hier als Gegenstand der Einstellung die Beg\u00fcnstigung oder Erschwerung s\u00e4mtlicher, an einen bestimmten Vorgang sich anschliefsenden Wirkungen denken, die Einstellung also auch eine konnektive nennen, wiewohl sie schon von wesentlich anderer Art ist, als die unter I er\u00f6rterten konnektiven Einstellungen. Aber wir sprechen von Aufmerksamheit auch noch in ganz anderem Sinne. Wir verm\u00f6gen, wenn wir z. B. ein optisches Signal erwarten, im voraus unsere Aufmerksamkeit der erwarteten Empfindung, wir verm\u00f6gen, sie einem bestimmten Teile unseres Gesichtsfeldes, einem bestimmten Klange, Kommandoworte u. dergl. zuzuwenden. Obgleich nun die Auffassung auch % solcher Einstellungen als konnektiver vielleicht durchf\u00fchrbar w\u00e4re, so erscheint es mir doch weit n\u00e4herliegend (und auch der folgende Abschnitt wird dieser Anschauung zur St\u00fctze dienen), dafs es auch Einstellungen giebt, welche lediglich f\u00fcr das Eintreten bestimmter cerebraler Zust\u00e4nde oder Vorg\u00e4nge, nicht aber gerade f\u00fcr die Verkn\u00fcpfung mehrerer, eine beg\u00fcnstigende Disposition schaffen, das Eintreten derselben also erleichtern, ganz ohne R\u00fccksicht darauf, von wo der Anstofs dazu ausgeht. Eine solche Einstellung kann, im Gegensatz zu den konnektiven, etwa eine dispositive1 genannt\n1 Man kann an dieser Bezeichnung, wie ich nicht \u00fcbersehe, mit einigem Hechte tadeln, dafs sie, w\u00f6rtlich, eigentlich nur eine einstellende Einstellung bedeute. Indessen ist doch der spezielle Gebrauch von Dis-","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"Uber die Natur gewisser Gehirnzust\u00e4nde.\n15\nwerden. Das Wesen der Aufmerksamkeit w\u00fcrde hiernach in bestimmten cerebralen Einstellungen, und zwar teils konnek-tiven, teils dispositiven, zu suchen sein.\nMit der hier gegebenen Auffassung der Aufmerksamkeit steht es im guten Einkl\u00e4nge, dafs dieselbe in mannigfaltigster Weise herbeigef\u00fchrt oder gewechselt werden kann, und dafs unter den sie bedingenden Faktoren auch Willens Vorg\u00e4nge ihre Folie spielen. Aber es widerspricht ihr auch nicht, dafs heftige Eindr\u00fccke ohne weiteres die Zuwendung der Aufmerksamkeit erzwingen.\nIV.\nWenn schon in den unter III er\u00f6rterten F\u00e4llen eine Andeutung lag, dafs es Einstellungen geben d\u00fcrfte, die lediglich eine allgemeine Disposition zur Erzeugung gewisser Vorstellungen oder Vorstellungskomplexe involvieren, so m\u00f6chte ich nun in folgendem den gleichen Gedanken noch in einer anderen Richtung verfolgen. Es kann gefragt werden, ob die cerebralen Einstellungen notwendig nur als begleitende Umst\u00e4nde des psychischen Geschehens gedacht werden m\u00fcssen, die das Eintreten und Wirken der eigentlich mafsgebenden Elemente beg\u00fcnstigen, verhindern oder modifizieren, ob sie nicht vielmehr auch als selbst\u00e4ndige Elemente in dem Gange des psychischen Mechanismus funktionieren und in solcher Gestalt zu dessen Erkl\u00e4rung herangezogen werden k\u00f6nnen. Es ist die alte Frage nach der psychologischen Basis der Allgemeinvorstellungen und Begriffe, die ich hier im Auge habe. Die Schwierigkeit, ob \u00fcberhaupt eine, event, welche Vorstellung die Worte von allgemeiner Bedeutung begleite, ist auch durch die neueren Versuche in dieser Richtung wohl nicht definitiv und gewifs nicht in bejahendem Sinne gel\u00f6st worden. Man hat noch nicht angeben k\u00f6nnen, was, selbst in einfachsten F\u00e4llen, bei Worten, wie Rot? S\u00fcfs, Mensch, Dreieck etc., den Wortklang begleitet; und noch dunkler erscheint dies bei Worten, wie Handelsvertrag, speku-. lieren, Differenzialgleichung u. dergl. Dafs irgend eine Begleiterscheinung noch vorhanden sein mufs, sobald wir die Worte mit Verst\u00e4ndnis h\u00f6ren, das beweist in schlagendster Art der\nponieren und Disponiertsein im Sinne einer beg\u00fcnstigenden Vorbereitung ein so feststehender, dafs die obige Kombination wohl als zul\u00e4ssig gelten darf.","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nJ. v. Kries.\nGegensatz des verst\u00e4ndnislosen H\u00f6rens. Aber worin besteht dasjenige Unbekannte, welches zu dem flatus vocis hinzukommen mufs, um das Verst\u00e4ndnis zu ergeben? Hat man sich einmal mit dem Begriffe der Einstellungen vertraut gemacht, so erscheint es zum mindesten als ein nicht aussichtsloser Versuch, einmal von der Annahme auszugehen, dafs thats\u00e4chlich irgendwelche bewufste Vorstellungen die Wortkl\u00e4nge nicht begleiten oder wenigstens nicht zu begleiten brauchen, dafs f\u00fcr das Verst\u00e4ndnis wesentlich und hinreichend irgend eine bestimmte, dem Begriffe eigent\u00fcmliche cerebrale Einstellung sei. Ich m\u00f6chte aber sogar weiter gehen und sagen, dafs die strenge Verfolgung der Schwierigkeiten, die dem Probleme anhaften, eigentlich mit Notwendigkeit zu einer Auffassung f\u00fchrt, die mit dieser hier vorgeschlagenen so ziemlich zusammen trifft. Halten wir uns an einfachste Beispiele, so w\u00e4re etwa zu fragen, welche Vorstellung z. B. das Wort Bot begleitet. Da das Wort eine unz\u00e4hlbare Menge verschiedenartiger Empfindungszust\u00e4nde bedeuten kann, so ist ersichtlich, dafs nicht alle diese etwa gleichzeitig in uns auftauchen k\u00f6nnen, wenn von Rot die Rede ist. Hinl\u00e4nglich bekannte Argumente lehren nicht minder deutlich, dafs nicht irgend ein beliebiges Rot von ganz bestimmtem Parbenton, S\u00e4ttigung etc. die begleitende Vorstellung sein kann. Wir verm\u00f6gen uns aber keine Rotempfindung als Bewufstseinselement deutlich zu machen, welche nicht in Bezug auf S\u00e4ttigung, Farbenton etc. bestimmt sein m\u00fcfste. Das Unbestimmte ist an dem realiter gegebenen Bewufstseinszustande ein Unding. Die Unbestimmtheit kann vielmehr der Natur der Sache nach nur einer Begleiterscheinung zukommen, die zu einer ganzen Reihe von Bewufstseinszust\u00e4nden in dem n\u00e4mlichen (genau gesagt, in einem stetig abgestuften) Verh\u00e4ltnis steht. Ich kann mir, um es nochmals in etwas anderer Formulierung zu sagen, schlechterdings kein Bild von einer Rotempfindung, Rotvorstellung etc. machen, die hinsichtlich der wesentlichen Eigent\u00fcmlichkeiten der Farbenempfindung unbestimmt sein sollte. Eine begleitende Erscheinung mufs nat\u00fcrlich, an sich betrachtet, und so, wie sie gerade verwirklicht ist, auch etwas v\u00f6llig Bestimmtes sein; sie kann aber durch ihre Beziehung zu den Bewufstseinserscheinungen etwas Unbestimmtes sein, sofern sie zu einer ganzen Reihe von solchen in Beziehung gesetzt ist.","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fcber die Natur gewisser Gehirnzust\u00e4nde.\n17\nSo k\u00f6nnten wir uns also versuchsweise das physiologische Korrespondens der Allgemeinvorstellung Rot etwa als einen Zustand denken, der zur Vorstellung irgend eines beliebigen Rot disponieren w\u00fcrde,1 als eine dis p o sitive Einstellung. Es versteht sich von selbst, dafs diese Andeutungen nicht mehr stichhaltig sind, sobald man zu verwickelteren, insbesondere abstrakten Begriffen \u00fcbergeht. Erscheint es indessen schwierig, sich hier von der psychophysischen Natur einer Einstellung ein befriedigendes Bild zu machen, so steht wohl noch viel zweifelloser die Resultatlosigkeit des anderen Weges vor Augen, durch eine Angebung bestimmter Vorstellungselemente die eigentliche psychologische Basis des Begriffes zutreffend zu bezeichnen. Denn was wird, um es zu wiederholen, bei Worten, wie Gravitationsgesetz, Tugend, Differenzialgleichung u. dergl. wirklich vorgestellt? Man kann daher vielleicht mit mehr Recht sagen, dafs wir gerade in solchen F\u00e4llen mit unabweisbarer Notwendigkeit auf den Gedanken der cerebralen Einstellung, d. h. eines bestimmten, mit einem Schlage herbeizuf\u00fchrenden cerebralen Verhaltens ohne angebbares Bewufstseinsph\u00e4nomen, gef\u00fchrt werden, und dafs gerade solche F\u00e4lle geeignet sind, uns in betreff der Einstellungen neues und wichtiges zu lehren. Daher sei es denn auch gestattet, bei der Weiterf\u00fchrung unseres Problems in dieser Richtung noch etwas zu verweilen.\nErw\u00e4gen wir zun\u00e4chst, was sich \u00fcber die Einstellung bei einem abstrakten Begriff etwa sagen l\u00e4fst, so ist ja leicht zu konstatieren, dafs es sich da nicht, wie bei den einfachsten Allgemeinvorstellungen, um die Disposition zu einer Reihe von sinnlichen Empfindungen handeln kann. Man wird vielmehr nur sagen k\u00f6nnen, dafs eine Disposition zu einer Reihe von Vorstellungen vorliegt, die auch ihrerseits noch abstrakter Natur sind, also zu einer Reihe von anderen Einstellungen, ferner zu einer Anzahl von Verkn\u00fcpfungen derselben, wie sie\n1 \u00dcberlegungen dieser Art sind selbstverst\u00e4ndlich keineswegs neu wir betrachten nur von dem hier eingenommenen Standpunkte aus dasselbe, was von Logikern und Psychologen schon vielfach er\u00f6rtert worden ist. Besonders reich ist Erdmanns Logik an hierher geh\u00f6rigen Auseinandersetzungen. Noch mehr stimmen mit den hier entwickelten Anschauungen die Bemerkungen Baumkers \u00fcber die \u201eerregten Dispositionen\u201c \u00fcberein. (Anzeige von Erdmanns Logik in den G\u00f6ttinger gelehrten Anzeigen\u2022 1898. S. 764 f.)\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie VIII.\t2","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nJ. v. Kries.\nim Urteil gegeben sind, n. dergl. Trotz dieser Unbestimmtheit erscheint es also wohl am richtigsten, das Wesen dieser Einstellungen durchweg in den beg\u00fcnstigenden Dispositionen zu erblicken, die sie f\u00fcr irgend welche psychische Zust\u00e4nde oder Vorg\u00e4nge darstellen, sie also gleichermafsen als dispositive Einstellungen zu bezeichnen.\nGerade die Betrachtung der Worte und ihrer Bedeutungen scheint mir nun vorzugsweise belehrend, da sie uns zeigt, wieweit in dieser Hinsicht die Leistungsf\u00e4higkeit unseres Sensoriums geht. Wenn z. B. die Verfolgung einer bestimmten Art von Gedankenbewegung uns das Wort \u201eInkonsequenz\u201c hervorruft, eine bestimmte Art des Handelns das Wort \u201egrofsm\u00fctig\u201c u. dergl., so wird ersichtlich, wie verwickelt die \u00dcbereinstimmungen sein k\u00f6nnen, welche f\u00fcr die gleiche Wirkung, die Hervorrufung eines derartigen Wortes, mafsgebend sind. Noch deutlicher zeigen dies vie]leicht Partikeln, wie \u201e\u00fcberhaupt\u201c, \u201eum so mehr\u201c, \u201enicht einmal\u201c etc. Gewisse Arten der Gedankenbewegung gen\u00fcgen jedesmal, um diese Worte in uns auftauchen und unserem m\u00fcndlichen oder schriftlichen Ausdruck sich einreihen zu lassen. Wir k\u00f6nnen daher sagen, dafs in erstaunlichstem Umfange bestimmte psychologische Folgen nicht an Elemente, sondern an die in den Beziehungen verschiedener Elemente gegebenen Eigent\u00fcmlichkeiten sich kn\u00fcpfen. Dies ist der Fall bei den Worten, welche, wie die vorher erw\u00e4hnten Partikeln, verwickelte logische Verh\u00e4ltnisse bezeichnen. Aber es ist ohne Zweifel in ganz \u00e4hnlicher Weise auch schon bei den Worten der Fall, welche eine r\u00e4umliche Form, die Art einer Ver\u00e4nderung, das Verh\u00e4ltnis zweier Empfindungen u. s. w. bezeichnen.1\n1 F\u00fcr mich liegt gerade in der Art nnd Weise, wie Worte ver-wickelterer Bedeutung, besonders auch die Partikeln, gebraucht werden, ein \u00fcberzeugender Beweis daf\u00fcr, dafs es ganz unm\u00f6glich ist, die \u00dcbereinstimmung der psychologischen Wirkung oder die \u00c4hnlichkeit durchg\u00e4ngig auf das Vorhandensein gemeinsamer Elemente zur\u00fcckzuf\u00fchren. Wenn eine gewisse Art der Gedankenbewegung uns das Wort \u201e\u00fcberhaupt\u201c, oder \u201ebeispielsweise\u201c u. dergl. in die Vorstellung ruft, so k\u00f6nnen wir doch unm\u00f6glich diese Klangbilder uns an ein bestimmtes psychisches Element gekn\u00fcpft denken, welches bei jenen Denkvorg\u00e4ngen immer begleitend vorhanden w\u00e4re. Ganz ebenso aber wird auch die psychologische Bedeutung z. B. r\u00e4umlicher und zeitlicher Formen in erster Linie darauf beruhen, dafs die an gewisse Wahrnehmungen gekn\u00fcpften","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022 \u2022\nUber die Natur gewisser Gehirnzust\u00e4nde.\n19\nDiese AssoziationsVerh\u00e4ltnisse sind, wie merkw\u00fcrdig und schwer erkl\u00e4rbar auch immer, doch eine leicht festzustellende und zweifellose Thatsache, die wir zum Ausgangspunkte nehmen k\u00f6nnen. Ohne nun mit Entschiedenheit behaupten zu wollen, dafs es sich in voller Allgemeinheit so verh\u00e4lt, m\u00f6chte ich versuchsweise und als Objekt weiterer Pr\u00fcfung den Satz aufstellen: Cerebrale Zust\u00e4nde oder Vorg\u00e4nge, die \u00fcbereinstimmend wirken k\u00f6nnen (also in irgend einer Hinsicht \u00e4hnlich sind), k\u00f6nnen auch eine gemeinsame disponierende Einstellung besitzen. Verh\u00e4lt sich dies so, so ergiebt sich daraus sogleich die Konsequenz, dafs im allgemeinen ein Wort, welches in der Hede oder im Gedankengange unter bestimmten allgemein angebbaren Bedingungen auftritt, auch beim H\u00f6rer bestimmte Einstellungen hervorrufen kann, die als Disposition f\u00fcr gewisse Vorstellungen, f\u00fcr gewisse Arten, solche zu verkn\u00fcpfen, f\u00fcr gewisse Gedankenbewegungen etc. zu bezeichnen sind, und dafs das faktische Bewirken dieser Einstellungen das ist, worauf es beim verst\u00e4ndnisvollen H\u00f6ren ankommt.* 1 * * * * Wir\nAssoziationen von neuen Wahrnehmungen \u00e4hnlicher Form hervorgerufen werden (worin eine fundamentale Eigent\u00fcmlichkeit der assoziativen Funktion zu erblicken ist), nicht aber darauf, dafs hei jeder Wahrnehmung die ihr und allen \u00e4hnlichen gemeinsame Form noch einmal als etwas psychisch Selbst\u00e4ndiges vorhanden w\u00e4re. Wo ein bereits fixierter Begriff, d. h. eine ausgebildete cerebrale Einstellung vorhanden ist (z. B. Dreieck, 6/s Takt u. dergl.), wird diese die speziellen, ihr entsprechenden Wahrnehmungen begleiten k\u00f6nnen und auch thats\u00e4chlich meistens begleiten. Aber das Gemeinsame ist alsdann eine cerebrale Begleiterscheinung, nicht ein Bewufstseinselement.\n1 \u201eDiese erregten Dispositionen sind es, welche dem Worte sein Verst\u00e4ndnis geben.\u201c Baumker, a. a. O., S. 765. \u2014 \u00dcbrigens sind wir nat\u00fcrlich nicht gerade zu der Annahme gezwungen, dafs jedem Worte, f\u00fcr sich geh\u00f6rt, eine bestimmte\u00bbEinstellung entsprechen m\u00fcsse. Die Bedeutung vieler (namentlich z. B. der Partikeln) k\u00f6nnte sich wohl auch darin ersch\u00f6pfen, dafs sie bei dem H\u00f6ren anderer, die die Tr\u00e4ger der eigentlichen Satzbedeutung sind, mitwirken und deren psychischen Effekt * beg\u00fcnstigen und erleichtern. Aus diesem Grunde mufs es auch dahingestellt bleiben, ob der oben aufgestellte Satz, dafs es f\u00fcr alles, was \u00fcber-\neinstimmend wirken kann, auch eine gemeinsame disponierende Ein-\nstellung als einen selbst\u00e4ndigen cerebralen Zustand geben kann, ganz\nohne Einschr\u00e4nkung gilt. F\u00fcr die wichtigeren grammatischen Elemente\ndes Satzes zwar scheint mir dies unabweisbar ; dagegen w\u00e4re wohl m\u00f6glich, dafs den unbedeutenderen kein selbst\u00e4ndiger Effekt, sondern lediglich eine modifizierende Mitwirkung beim Funktionieren anderer\nzukommt.\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nJ. v. Kries.\ngelangen Jso schliefslich zu der Anschauung, dafs die eigentlichen Tr\u00e4ger der Denkvorg\u00e4nge in den die (geh\u00f6rten oder gedachten) Wortkl\u00e4nge begleitenden dispositiven Einstellungen zu erblicken sind. Dieses Ergebnis, wie sehr auch zugegeben sein mag, dafs es mehr eine Fragestellung, als eine Erkl\u00e4rung ist, gen\u00fcgt doch, wie ich glaube, als Ausgangspunkt f\u00fcr einige beachtenswerte Folgerungen, welche, ohne zu weit in die spezielle Psychologie des Denkens einzugehen, hier angeschlossen werden k\u00f6nnen.\nDas wirkliche Funktionieren der Begriffe n\u00f6tigt zun\u00e4chst zu der Annahme, dafs f\u00fcr die Einstellungen die gleichen Gesetze assoziativer Verkn\u00fcpfung gelten, wie f\u00fcr Bewufstseinselemente. Gehen wir wieder davon aus, dafs das im Urteil sich ausdr\u00fcckende Wissen in einer besonderen Art der Verkn\u00fcpfung zweier oder mehrerer Vorstellungen bestehe, so w\u00fcrde anzunehmen sein, dafs, wenn wir h\u00f6rend oder lesend etwas erfahren, eine solche Verkn\u00fcpfung sich bildet. Suchen wir nun, wie wir thun wollten, das wesentliche Element eines in Begriffen formulierten Urteils in den die Worte begleitenden cerebralen Einstellungen, so ist klar, dafs das Verstehen und besonders das Behalten eines uns sprachlich mitgeteilten Wissens auf die hierbei sich bildende (assertorische) Verkn\u00fcpfung von Einstellungen zur\u00fcckgef\u00fchrt werden mufs. Hierin wird wohl auch keine besondere Schwierigkeit gefunden werden d\u00fcrfen, wenn wir bedenken, dafs die Herstellung solcher Verkn\u00fcpfungen in jedem Falle als eine cerebrale Leistung aufgefafst werden mufs, daher nicht einzusehen ist, weshalb sie sich nicht auf Einstellungen ebensowohl, wie auf Bewufstseinsvorg\u00e4nge erstrecken soll. \u2014 Hoch in einer wichtigen Beziehung k\u00f6nnen wir den gew\u00f6hnlichen Erscheinungen des t\u00e4glichen Lebens einen Aufschlufs entnehmen. Wir behalten das, was wir (h\u00f6rend oder lesend) \u2022 erfahren, im allgemeinen, sei es ganz, sei es zum Teil, seinem wesentlichen Inhalt nach, keineswegs aber gerade in derjenigen begrifflichen Formulierung, in welcher wir davon Kenntnis erhalten haben. Ohne Zweifel ist auch von anderen die hierin liegende Schwierigkeit schon oft in \u00e4hnlicher Weise empfunden worden; mir speziell ist diese F\u00e4higkeit formeller Umgestaltung des Erfahrenen, die F\u00e4higkeit, bestimmte Inhalte von ihrer Form unabh\u00e4ngig dem Ged\u00e4chtnis einzupr\u00e4gen,","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"Uber die Natur gewisser Gehirnzust\u00e4nde.\n21\nimmer als eine der merkw\u00fcrdigsten Eigent\u00fcmlichkeiten unseres psychophysischen Apparates erschienen. Wir lesen z. B., es sei der russische Gesandte aus London abberufen worden. Wie ist es zu verstehen, dafs diese Thatsache, indem wir uns ihrer erinnern, genau ebenso leicht, wie in der urspr\u00fcnglichen, etwa in der ganz anders gewendeten Form auftaucht, Bufsland habe die diplomatischen Beziehungen mit England abgebrochen? Es handelt sich hier keineswegs darum, dafs unter Mitwirkung \u00e4lterer Kenntnisse aus der neuen Mitteilung Folgerungen gezogen worden w\u00e4ren (wie etwa, wenn ausgesagt wird, es habe gedonnert und wir hinterher aussagen, dafs es geblitzt habe), sondern es ist \u00fcberhaupt die urspr\u00fcngliche Form der Mitteilung in kurzer Zeit ganz belanglos geworden, wir k\u00f6nnen uns auf sie gar nicht mehr besinnen. Diese Thatsache l\u00e4fst sich nun meines Erachtens kaum anders auffassen, als so, dafs die Einstellungen verwandter Begriffe miteinander Zusammenh\u00e4ngen, zum Teil wohl identisch sind, und dafs somit jede einen Urteilsinhalt ausdr\u00fcckende Verkn\u00fcpfung nicht blos die bestimmten Begriffe affiziert, in denen sie gerade vorgelegt wird, sondern die ganzen Begriffskreise, denen ein jeder angeh\u00f6rt. Eine irgendwie herbeigef\u00fchrte Vermehrung unseres Wissens w\u00fcrde danach etwa als die Herstellung eines Zusammenhanges zwischen verschiedenen Einstellungen angesehen werden m\u00fcssen, deren jede eine relativ allgemeine Bedeutung besitzt; aus diesem Grunde kann es ganz wohl von Nebenumst\u00e4nden abh\u00e4ngen, in welcher speziellen begrifflichen Formulierung die betreffende Thatsache wieder ins Ged\u00e4chtnis zur\u00fcckgerufen oder ausgedr\u00fcckt wird.\nInteressant ist es ferner, von dem hier eingenommenen Standpunkte aus einen Blick auf die Bildung neuer, insbesondere verwickelter Begriffe zu werfen. Denken wir an den so h\u00e4ufigen Fall, dafs wir einen wissenschaftlichen Terminus technicus zuerst kennen lernen und dann allm\u00e4hlich uns seiner zu bedienen anfangen, so springt namentlich in die Augen, wie viel mehr als die blofs theoretische Kenntnis seiner Bedeutung dazu geh\u00f6rt, dafs wir einen solchen Begriff, wie die uns gewohnten, mit Gel\u00e4ufigkeit gebrauchen, dafs er mit Sicherheit und Leichtigkeit funktioniert. Ohne Zweifel beruht dies unter anderem auch darauf, dafs erst allm\u00e4hlich eine dem betreffenden Worte korrespondierende und mit ihm fest verkn\u00fcpfte","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nJ. v. Kries.\nEinstellung sich ausbildet, welche als eine typische und unver\u00e4nderliche sich jedesmal wieder in genau der gleichen Weise etabliert. Es wird anzunehmen sein, dafs die alte Lehre von der Bevorzugung der \u201eausgefahrenen Geleise64 auch f\u00fcr die Einstellungen gilt, und dafs unser Denken nur da leicht und sicher von statten geht, wo es sich um solche typisch festgestellten Einstellungen bewegt. F\u00fcr denjenigen also, der mit solchen Begriffen zu operieren gewohnt ist, entspricht, wie ich mir denken m\u00f6chte, ein ganz bestimmtes cerebrales Verhalten dem Worte Strafprozefs oder irreduktibel ebensowohl wie dem Worte s\u00fcfs oder hart.1\nV.\nAuf ein neues und sehr eigenartiges Gebiet f\u00fchrt uns die Erw\u00e4gung der zeitlichen Verh\u00e4ltnisse, die bei den Einstellungen in Betracht kommen. Beginnen wir auch hier mit dem Falle eines rein rezeptiven Vorganges, so w\u00fcrde zu erw\u00e4hnen sein, dafs die Auffassung von sensiblen Beizen, die sich zeitlich in einer bestimmten Weise abspielen, ganz ebenso wie die Auffassung einmaliger Beize durch Einstellungen beeinflufst werden\n1 In Bezug auf das viel er\u00f6rterte Verh\u00e4ltnis des Begriffes zum Wort, besonders auch zum Klangbilde des Wortes f\u00fchrt die oben entwickelte Anschauung zu einem ganz bestimmten Ergebnis, und zwar, wie ich glaube, zu demjenigen, welches von der Erfahrung in der entschiedensten Weise best\u00e4tigt wird. Die Wahl einer sinnlichen Marke, welche vorzugsweise leicht immer wieder in sehr ann\u00e4hernd gleicher Weise hergestellt werden kann, erleichtert offenbar in gr\u00f6fstem Mafse auch die Ausbildung eines typischen cerebralen Zustandes, der sich gleichartig wiederholt und die Basis eines neuen Begriffes abgiebt. Wer neue Gedankenkreise durcharbeitet, findet sich auch jetzt noch trotz des Besitzes einer hochentwickelten Terminologie meistens in der Notwendigkeit, neue Begriffe zu schaffen. Dabei ist die Wahl eines Wortes eine kaum entbehrliche Erleichterung. Dagegen lehren nicht blofs gewisse F\u00e4lle von Aphasie, sondern auch schon Beobachtungen des t\u00e4glichen Lebens, dafs ein bereits gel\u00e4ufiger Begriff, d. h. eine bereits ausgebildete und bevorzugte Einstellung auch ohne das Wort eintreten und funktionieren kann. Das sinnliche Zeichen (sei es akustischer oder anderer Art) ist also f\u00fcr die Ausbildung und typische Fixierung einer cerebralen Einstellung ein wichtiges H\u00fclfsmittel, welches besonders bei den ver-wickelteren Begriffen vielleicht kaum entbehrt werden kann. Ist aber dieser Erfolg einmal erreicht, so kann die \u201eEinstellung\u201c auch ohne Wort oder Klangbild funktionieren, wenn auch wohl meistens nicht so leicht und sicher, wie in Begleitung desselben.","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber die Natur gewisser Gehirnzust\u00e4nde.\n23\nkann. Wir k\u00f6nnen hier kaum umhin, uns auch die Einstellungen statt wie bisher als bestimmte Zust\u00e4nde nunmehr als eine Reihe von Zust\u00e4nden, als einen durch einen Anfangsanstofs ausgel\u00f6sten Vorgang zu denken, welcher dem Ablauf der sensiblen Reize in passender Weise entgegenkommt. Nat\u00fcrlich kann etwas Derartiges nur da in Frage kommen, wo die wahrzunehmenden Vorg\u00e4nge entweder nach ihrem zeitlichen Verhalten schon im voraus bekannt sind oder aber irgend eine Regelm\u00e4fsigkeit (Rhythmik) darbieten. In solchen F\u00e4llen aber macht sich sehr deutlich bemerkbar, dafs irgend ein subjektives Element f\u00fcr die richtige Auffassung, f\u00fcr das Verst\u00e4ndnis des Rhythmus erforderlich ist. Man kann aus diesem Grunde auch, was besonders belehrend ist, einen bestimmten und in gleichm\u00e4fsiger Weise sich fortsetzenden Rhythmus verschieden auffassen, ihn entweder auf eine oder auf eine andere Art h\u00f6ren. Wie nun auch immer im speziellen sich die Sache gestalten mag, immer beruht das Ergebnis doch darauf, dafs in einer Serie von Geh\u00f6rseindr\u00fccken die auf gewisse Zeitpunkte fallenden Reize anderen Einstellungen begegnen, als die auf gewisse andere Zeitpunkte treffenden. Es ergiebt sich somit als Grundlage des ganzen Ph\u00e4nomens die F\u00e4higkeit, nicht blofs Dauereinstellungen herbeizuf\u00fchren, sondern auch EinstellungsVer\u00e4nderungen, die sich in einem bestimmten Tempo abspielen. Der allgemeine Satz, zu dem wir so gelangt sind, l\u00e4fst sich, wie ich glaube, auf Grund \u00e4ufserst zahlreicher Thatsachen wahrscheinlich machen und d\u00fcrfte f\u00fcr die ganze Auffassung unseres Zeitsinnes von Wichtigkeit sein. Im Grunde beruht meines Erachtens schon die einfache Vergleichung der Zeitintervalle, in welchen etwa akustische Signale aufeinander folgen, auf derartigen Vorg\u00e4ngen. Wir bewirken, wie M\u00fcller und Schumann gezeigt haben, eine Einstellung, verm\u00f6ge deren wir ein Signal gerade in einem bestimmten Moment erwarten, und werden alsdann durch das zu fr\u00fch kommende \u201e\u00fcberrascht\u201c, oder wir finden, dafs es, zu sp\u00e4t kommend, auf sich warten l\u00e4fst. Die einfache Aufgabe, das Tempo eines Musikst\u00fcckes mit Genauigkeit aufzufassen, zeigt auch \u00c4hnliches. Es ist schwierig (wie jeder Musiktreibende aus den Erfahrungen des Ensemblespieles weifs) einen Zeitwert, der erst ein Mal objektiv markiert wurde, sogleich richtig aufzufassen. Wir gewinnen eine Sicherheit vielmehr erst dann","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nJ. v. Kries.\nwenn wir etwa auf Grund der ersten T\u00f6ne uns eine Einstellung gebildet und diese an 2 oder 3 folgenden gepr\u00fcft, eventuell korrigiert haben. Der Zeitwert ist richtig und genau aufgefafst, wenn wir uns einen ihm entsprechenden Ablauf cerebraler P roze sse geschaffen haben. Ich m\u00f6chte ferner hier an das Verhalten erinnern, welches bei der Auffassung zweier Signale bemerkbar wird, die in sehr kurzen Zeitabst\u00e4nden aufeinander folgen. Soll hier beurteilt werden, welches von beiden das fr\u00fchere ist, so gelangt man zu einer sicheren Entscheidung in der Art, dafs man, so zu sagen probeweise, einmal die Reihenfolge a \u00df, dann die Reihenfolge \u00df a wahrzunehmen versucht und dabei bemerkt, mit welcher dieser Einstellungen nun der wirkliche Gang der Signale \u00fcbereinstimmt. Es m\u00f6gen wohl in der Art und Weise, hier zu Werke zu gehen, manche individuelle Verschiedenheiten stattfinden; mir pers\u00f6nlich ist der Einflufs und der Vorteil derartigen Verfahrens selbst in ganz einfachen F\u00e4llen deutlich. Wenn ich z. B. an mir selbst das Zeitverh\u00e4ltnis von Carotis-Puls und Radial-Puls mit Sicherheit aufzufassen suche, so finde ich, dafs ich dieses ganz sicher beurteilen kann, indem ich der wirklich bestehenden Zeitfolge mit meiner Erwartung entgegenkomme. Es wird hier von vornherein ein Springen der Aufmerksamkeit bewirkt, derart, dafs diese sich zuerst dem die Carotis bef\u00fchlenden und dann sofort dem auf die Radialis gelegten Finger zuwendet. So bemerke ich mit Leichtigkeit, dafs die Anschl\u00e4ge thats\u00e4chlich in dieser Folge eintreten. Keineswegs erreicht die Wahrnehmung dieselbe Deutlichkeit, wenn ich im voraus auf die verkehrte Folge einstelle. Die Beobachtung erh\u00e4lt vielmehr alsdann etwas Verwirrendes und Unsicheres und ergiebt \u00fcberhaupt kein bestimmtes Urteil.\n\u00dcbrigens kann ein Beweis f\u00fcr die unserem Sensorium hier zugeschriebene allgemeine F\u00e4higkeit wohl auch schon in den Verh\u00e4ltnissen vieler koordinierter Bewegungen gefunden werden. Denn bei diesen ist ja fast stets das Einsetzen verschiedener Aktionen in bestimmten zeitlichen Verh\u00e4ltnissen erforderlich, und gewifs nur in seltenen F\u00e4llen kann man sich dies so verwirklicht denken, dafs jede Phase der Bewegung etwa nach Art eines Reflexes die folgende ausl\u00f6ste. Sehr h\u00e4ufig vielmehr geschieht w\u00e4hrend bestimmter k\u00fcrzerer und l\u00e4ngerer Zeiten","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"Uber die Natur gewisser Gehirnzust\u00e4nde.\n25\n\u00fcberhaupt nichts \u00e4ufserlich Bemerkbares. Wir werden uns daher die scheinbare Pause, nach deren Ablauf eine bestimmte Muskelth\u00e4tigkeit wieder im richtigen Zeitpunkt einsetzt, durch irgend einen cerebralen Vorgang ausgef\u00fcllt denken m\u00fcssen. Auch die so leicht gegebene M\u00f6glichkeit zeitlicher Vertauschungen zweier Aktionen (wie sie z. B. beim sogenannten Versprechen vorkommt) beweist hinl\u00e4nglich, dafs die normale zeitliche Formierung nicht einfach auf die Verkn\u00fcpfung jeder Phase der Bewegung mit der auf sie folgenden zur\u00fcckgef\u00fchrt werden kann.\nAls besonders beachtenswert sei hier ferner die M\u00f6glichkeit erw\u00e4hnt, die Tempi bestimmter einge\u00fcbter Bewegungen durch eine vorherige Entschliefsung innerhalb weiter Grenzen willk\u00fcrlich zu w\u00e4hlen, wobei, soweit bemerkbar, an dem ganzen Vorg\u00e4nge sich gar nichts als die Geschwindigkeit \u00e4ndert. Wir k\u00f6nnen ein und dasselbe Musikst\u00fcck nach Wahl oder Vorschrift langsamer oder schneller ausf\u00fchren. Aus meiner Milit\u00e4rzeit ist mir erinnerlich, dafs beim Kompagnie-Exerzieren die Gewehrgriffe wesentlich langsamer als beim Exerzieren im Regiment oder in der Brigade ausgef\u00fchrt wurden. Da das \u201egute Klappen\u201c der Griffe auf der m\u00f6glichst nahen \u00dcbereinstimmung des Tempos bei den s\u00e4mtlichen Beteiligten beruht, so war dies nat\u00fcrlich eine gewisse Erschwerung. Sie brachte aber trotzdem keine erhebliche St\u00f6rung mit sich, und man konnte hier recht deutlich sehen, dafs es m\u00f6glich war, trotz langer und festester Gew\u00f6hnung an ein Tempo, sich sogleich auf ein anderes einzustellen.\nGanz \u00e4hnlich nun, wie bei der Theorie der Aufmerksamkeit, scheint mir auch hier das Ergebnis, zu dem wir gelangen, vielleicht mehr im negativen als im positiven Sinne wichtig. Denn worin jene supponierten cerebralenVorg\u00e4nge, deren zeitlich fixierter oder fixierbarer Ablauf unserem Zeitsinn zur Unterst\u00fctzung dient, eigentlich bestehen m\u00f6gen, das l\u00e4fst sich vor der Hand wohl kaum sicher angeben. Sicher scheint mir nur, dafs sie auf dem uns von anderer Seite her wohl bekannten Gebiete nicht gesucht werden k\u00f6nnen. So ist es meines Erachtens ganz unm\u00f6glich, sie (wie neuerdings geschehen) auf das Abklingen irgend welcher Empfindungen, das Verblassen eines Erinnerungsbildes u. dergl. zur\u00fcckzuf\u00fchren.","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nJ. v. Kries.\nVI.\nNachdem wir in verschiedenen Beziehungen den Begriff der Einstellungen \u00fcber diejenige Bedeutung erweitert haben, welche das erste Beispiel (die wechselnde Assoziationsbahn) an die Hand gab, erscheint es angezeigt, auf die Frage, worin dieselben bestehen m\u00f6gen, und insbesondere auf ihr Verh\u00e4ltnis zu den Bewufstseinserscheinungen nochmals kurz zur\u00fcckzukommen. Bez\u00fcglich derjenigen Einstellungen, die wir uns als die Tr\u00e4ger der abstrakten Begriffe dachten (und f\u00fcr die Verh\u00e4ltnisse der Aufmerksamkeit gilt vielleicht \u00c4hnliches), habe ich es absichtlich als einen Versuch bezeichnet, wenn wir annehmen, dafs irgend welche Bewufstseinserscheinungen sie nicht begleiten, oder nicht zu begleiten brauchen. Thats\u00e4chlich nun m\u00f6chte ich aber diese Frage nach wie vor als eine offene, auch nach wie vor als eine \u00e4ufserst schwierige betrachten. Nur glaube ich, dafs sie sich in etwas ver\u00e4ndertem Lichte darstellt, nachdem man sich mehr oder weniger daran gew\u00f6hnt hat, mit der Annahme von Einstellungen zu operieren. Sie erscheint, glaube ich, nicht mehr von so hervorragender Wichtigkeit. Nehmen wir z. B. den Begriff \u201eEom\u201c. Um den Thatsachen gerecht zu werden, mufs man sich, wie ich denke, vorstellen, dafs diesem Worte eine ann\u00e4hernd bestimmte cerebrale Einstellung entspricht, die sich, wenn wir von Born h\u00f6ren oder reden, allemal in etwa gleicher Weise verwirklicht findet. Nun kann schwerlich behauptet werden, dafs jemals diese Einstellung vorhanden ist, ohne irgend welche Begleiterscheinungen im Bewufstsein herbeizuf\u00fchren. Sobald ich nur etwas l\u00e4nger bei dem Begriffe verweile, ist dies sogar gewifs immer der Fall. Aber man bemerkt doch sehr leicht, dafs diese je nach Umst\u00e4nden sehr verschieden sind, bald mehr, bald weniger, bald auch von dieser, bald von jener Art. Das eine Mal taucht vielleicht das Bild des Pantheons oder des Petersplatzes in mir auf; das andere Mal die Erinnerung an das kartographische Bild Italiens mit dem die Stadt Born darstellenden Punkte etc. Wenn ich aber in der Zeitung lese, dafs in Born ein Bombenattentat stattgefunden habe, so ist es sicher ganz gleichg\u00fcltig, ob und welche jener Vorstellungselemente dabei durch das Wort Born ausgel\u00f6st worden sind. Nicht in diesen schattenhaften, schwer greifbaren und ganz variablen Begleit-","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fcber die Natur gewisser Gehirnzust\u00e4nde.\n27\nerscheinungen kann dasjenige gefunden werden, was bei der sicheren Aufbewahrung der gelesenen Thatsache in meinem Ged\u00e4chtnis in Betracht kommt; dies mufs vielmehr ein fest bestimmter cerebraler Zustand sein, der das Wort Rom jedesmal in wenigstens ann\u00e4hernd gleicher Weise begleitet, wenn ich es mit Verst\u00e4ndnis h\u00f6re oder wenn ich es denke. Von den sogen, abstrakten Begriffen l\u00e4fst sich gleiches behaupten. F\u00fcr Denjenigen wenigstens, der das Wort \u201eStrafprozefs\u201c oder \u201eDifferenzialgleichungu zu benutzen gew\u00f6hnt ist, mufs diesen, sobald sie mit Verst\u00e4ndnis geh\u00f6rt werden, ein ann\u00e4hernd fixierter cerebraler Zustand entsprechen; dieser ist das im psychischen Geschehen Mafsgebende. Im Bewufstsein m\u00f6gen vielleicht neben dem Wortklange auch noch jedesmal diese oder jene Begleiterscheinungen vorhanden sein; aber sie sind gewifs nicht das, worauf es beim wirklichen Denken ankommt, und nicht ihre Verfolgung ist es, was besonders erstrebenswert und wichtig erscheint.\nBetrachten wir hiernach als sichergestellt, dafs wenigstens der wesentliche und f\u00fcr ihr Funktionieren wichtige Teil der Einstellungen nicht in Bewufstseinserscheinungen gesucht werden kann, so erhebt sich nat\u00fcrlich sogleich die Frage, ob eine andersartige, n\u00e4mlich von physiologischer Basis ausgehende Charakterisierung derselben gegeben werden kann. Ich m\u00f6chte indessen, ehe ich mich dem Wenigen, was ich in dieser Hinsicht hier beibringen m\u00f6chte, zuwende, zun\u00e4chst betonen, dafs dem Ergebnisse der obigen Betrachtungen auch ohne solche Deutung eine gewisse Existenzberechtigung zukommt. Zwar kann wohl auf den ersten Blick das Gegenteil der Fall zu sein scheinen. Wie schon eingangs erw\u00e4hnt, gilt es ja allgemein als sicher, dafs eine Gesetzm\u00e4fsigkeit des psychischen Geschehens nicht unter ausschliefslicher Ber\u00fccksichtigung der Bewufstseinserscheinungen nachgewiesen werden kann. Vielmehr ist unbestritten, dafs (auch abgesehen von der bekannten Abh\u00e4ngigkeit der Empfindungen von physiologischen Prozessen) eine best\u00e4ndige Mitwirkung von Faktoren anderer Art angenommen werden mufs, die mit den Bewufstseinserscheinungen in Wechselwirkung stehen und ihren Ablauf mitbestimmen. Wenn wir nun z. B. eine psychische Einstellung als dasjenige Verhalten definieren, welches bewirkt, dafs an eine Erregung X sich das eine Mal die Vorstellung A, das andere Mal da-","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nJ. v. Kries.\ngegen B ankn\u00fcpft, und wenn wir nicht im Stande sind, von anderer Seite her die Natur dieses wechselnden Verh\u00e4ltnisses irgendwie aufzukl\u00e4ren: haben wir dann etwas mehr gethan, als eben jenen schon seit lange angenommenen unbekannten Faktoren einen Namen gegeben, der unsere Einsicht thats\u00e4chlich gar nicht f\u00f6rdert?\nOhne in Abrede zu stellen, dais in diesen Argumenten etwas Nichtiges hegt, glaube ich doch, dafs das Verh\u00e4ltnis nicht ganz so aufzufassen ist. Gewifs ist, indem wir von cerebralen Einstellungen reden, damit kein psychologisches Problem vollst\u00e4ndig gel\u00f6st. Immerhin aber scheint mir doch damit ein gewisser Anhalt gegeben f\u00fcr die Dichtung, in der die L\u00f6sung zu suchen ist, ein Anhalt, der aus verschiedenen Gr\u00fcnden nicht ganz wertlos sein d\u00fcrfte. Und zwar ist hier zuerst zu beachten, dafs schon die deutlich ausgesprochene Annahme, nach welcher der Grund gewisser Einstellungserscheinungen in cerebralen Zust\u00e4nden zu suchen ist, nicht ohne Bedeutung bleibt gegen\u00fcber anderen Auffassungen, die das betreffende Problem von vornherein auf anderen Boden stellen Hierher rechne ich erstlich diejenige Betrachtungsweise, die mit unbewufsten psychischen Vorg\u00e4ngen und Zust\u00e4nden arbeitet. Der unbewufste psychische Vorgang oder Zustand ist ja zun\u00e4chst nichts Greif- oder Aufzeigbares, sondern lediglich ein X Wenn die Annahme unbewufster psychischer Vorg\u00e4nge in gewissen F\u00e4llen in hohem Grade zutreffend und belehrend erscheint (ich erinnere nur an die Lehre von den unbewufsten Schl\u00fcssen), so liegt dies doch nur daran, dafs hierdurch irgend ein Verh\u00e4ltnis dieser unbekannten Faktoren zu bewufsten psychischen Vorg\u00e4ngen, insbesondere die Art ihrer Entstehung, zutreffend bezeichnet wird. Auf der anderen Seite aber mufs betont werden, dafs, wenn man von vornherein darauf ausgeht, die Gesetzm\u00e4fsigkeit der Seelenvorg\u00e4nge nur in der Weise zu suchen, dafs man die Mitwirkung entsprechender unbewufster Vorg\u00e4nge annimmt, dadurch die ganze Betrachtungsweise in hohem Grade eingeschr\u00e4nkt wird. Zun\u00e4chst mufs es als durchaus zweifelhaft erscheinen, ob die gesamte Verschiedenartigkeit cerebraler Zust\u00e4nde in dieser Weise zutreffend dargestellt werden kann. Der Versuch also, die in den Gang der psychischen Erscheinungen eingreifenden unbekannten Faktoren als \u201eunbewufste psychische Erscheinungen\u201c auszudr\u00fccken, legt","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"Uber die Natur gewisser Gehirnzust\u00e4nde.\n29\nder Untersuchung eine Beschr\u00e4nkung auf, deren Berechtigung mindestens sehr zweifelhaft ist. In einer Beihe der oben behandelten F\u00e4lle wird man sich \u00fcberzeugen k\u00f6nnen, dafs die Heranziehung unbewufster Vorstellungen statt der Einstellungen nicht zu befriedigenden Ergebnissen f\u00fchrt.\nVon ganz \u00e4hnlicher Art ist ein zweiter Punkt, in dem ich einen gewissen Nutzen von dem Begriffe der Einstellungen erwarten m\u00f6chte. Noch bedenklicher n\u00e4mlich, als die Ein-zw\u00e4ngung in den Nahmen der unbewufsten Vorstellungen scheint mir die Tendenz, die unbekannten Faktoren des psychischen Geschehens einfach in Abrede zu stellen oder zu ignorieren; und dies geschieht, wenn man den Versuch macht, die Einfl\u00fcsse, die ihnen thats\u00e4chlich zukommen, anderen im Bewufst-sein nachweisbaren Elementen zuzuschreiben. Ich denke hier an die oben erw\u00e4hnten Versuche bez\u00fcglich der Aufmerksamkeit und des Zeitsinnes.\nWeiter aber bin ich doch der Meinung, dafs, so gering man auch die erste Ausbeute auf diesem Gebiete veranschlagen mag, doch auch der gegenw\u00e4rtige Stand der Kenntnisse ausreicht, um wenigstens Einiges in Bezug auf die Natur und die Vorgangsgesetze der cerebralen Zust\u00e4nde festzustellen. Werfen wir von diesem allgemeinen Gesichtspunkte aus einen B\u00fcckblick auf die er\u00f6rterten F\u00e4lle, so wird etwa folgendes deutlich werden.\nZu Grunde zu legen w\u00e4re, dafs die Einstellungen gewisse pr\u00e4formierte Zust\u00e4nde oder Vorg\u00e4nge des Gehirns darstellen, deren Auftreten im Gange des psychophysischen Mechanismus mit dem Auftreten und der Hervorrufung bewufster Vor-Stellungen die gr\u00f6fste \u00c4hnlichkeit besitzt. Es w\u00e4re dabei namentlich zu beachten, dafs sie im Ablauf der psychophysischen Vorg\u00e4nge in einer den allgemeinen Assoziationsgesetzen ganz entsprechenden Weise herbeigef\u00fchrt werden, und dafs sie in \u00e4hnlicher Art auch sich nicht blofs mit bewufsten Vorstellungen, sondern auch untereinander verkn\u00fcpfen.\nGehen wir nun hiervon aus, so w\u00fcrden sich im Anschl\u00fcsse an die bisherigen Auseinandersetzungen verschiedene Arten derselben unterscheiden lassen. An die Spitze k\u00f6nnten wir etwa diejenigen stellen, welche (hier zuletzt er\u00f6rtert) eine allgemeine Disposition f\u00fcr eine gewisse Gesamtheit \u00e4hnlicher psychischer Verhaltungsweisen darstellen. Hierbei w\u00e4re be-","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nJ. v. Kries.\nsonders zu beachten, dafs es nicht blofs eine gemeinsame Disposition f\u00fcr eine Gesamtheit von Empfindungen, Vorstellungen etc. geben kann, sondern auch f\u00fcr eine bestimmte Art der Verkn\u00fcpfung von mehreren oder des \u00dcberganges von einer zu einer anderen.\nDiesen w\u00fcrde als etwas wesentlich Verschiedenes der Wechsel von AssoziationsVerh\u00e4ltnissen anzuschliefsen sein, f\u00fcr welchen im ersten Paragraphen Beispiele aufgef\u00fchrt wurden. Denn ohne Zweifel l\u00e4fst sich dies nicht auf die wechselnde Disposition zu verschiedenen Arten der Vorstellungsbewegung zur\u00fcckf\u00fchren. Zwischen den s\u00e4mtlichen Verkn\u00fcpfungen von Kl\u00e4ngen mit Begriffen, wie sie einer Sprache eigen sind, besteht ohne Zweifel ein gewisser Zusammenhang, der es erm\u00f6glicht, sie alle gleichzeitig einzustellen oder (bei Einstellung auf eine andere Sprache) gegen ein System von anderen zur\u00fccktreten zu lassen. Aber ein solches System von Zusammenh\u00e4ngen werden wir nicht wohl mit der Einstellung auf ein bestimmtes Verh\u00e4ltnis von Vorstellungsgebilden vergleichen k\u00f6nnen, wie sie etwa den Worten Steigerung, Widerspruch u. dergl. entsprechen m\u00f6gen.\nZu der Herstellung dieser rein assoziativen Verkn\u00fcpfungen w\u00fcrde aber, wie mir zweifellos scheint, als etwas wiederum Andersartiges die Herstellung derjenigen Begriffs Verbindungen hinzuzuf\u00fcgen sein, welche im Urteil zum Ausdruck kommen ; denn die Psychologie der Urteile kann meines Erachtens nicht scharf genug den Satz betonen, dafs die Verbindung von Vorstellungen im Urteil etwas mehr sein mufs, als das blofse Hebeneinanderbestehen derselben; der psychologische Bestand des Wissens ersch\u00f6pft sich also auch nicht darin, dafs bei der einen Vorstellung uns die andere einf\u00e4llt, nicht in der blofsen Assoziation. Aus diesem Grunde mufs also wohl die Etablierung eines Wissens von einem zeitweilig geltenden Verhalten, wie sie unter II geschildert wurde, als eine andere Art von Einstellung betrachtet werden, als die wechselnde Einstellung von Assoziationsbahnen.\nEs versteht sich von selbst, dafs die Aufstellung dieser drei Kategorien zun\u00e4chst nur eine fragmentarische Bedeutung besitzen soll. M\u00f6glich erscheint mir nicht nur, dafs ihnen andere anzureihen sein werden, sondern auch etwas Anderes m\u00f6chte ich behufs richtiger Auffassung jener Kategorien betonen. Mir scheint keineswegs sicher, dafs bei weiterer Ver-","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"Uber die Natur gewisser Gehirnzust\u00e4nde.\n31\nvollst\u00e4ndigung unserer Einsichten die Einstellungen als eine fest charakterisierte und scharf begrenzte Art cerebraler Verhaltungsweisen sich erweisen werden. Mir ist sogar viel wahrscheinlicher, dafs dies nicht der Fall sein wird. Wenn diejenigen cerebralen Zust\u00e4nde, in welchen die Einstellungen bestehen, etwas stetig Ver\u00e4nderliches darstellen, so w\u00fcrden wir nicht glauben d\u00fcrfen, durch die Angabe bestimmter Einstellungen die Gesamtzust\u00e4nde ersch\u00f6pfend wiedergeben zu k\u00f6nnen. Die von unserer Betrachtung herausgegriffenen Einstellungen w\u00fcrden dann nur so zu sagen als feste Punkte innerhalb einer unendlichen Mannigfaltigkeit erscheinen, deren Studium sich aber eben deswegen f\u00fcr den Anfang am meisten empfiehlt, weil sie wegen ihrer typischen Ausbildung und ann\u00e4hernd gleichartigen Wiederholung am ehesten greifbar erscheinen.\nAuch die Vorstellungen von der Entstehung und Wechselwirkung der Einstellungen werden alsdann der Vervollst\u00e4ndigung bed\u00fcrfen. Es wurde bisher besonders Nachdruck darauf gelegt, dafs sie, \u00e4hnlich wie es zufolge assoziativer Verkn\u00fcpfungen die bewufsten Vorstellungen thun, mit einem Schlage hergestellt und gewechselt werden k\u00f6nnen. Schon jetzt l\u00e4fst sich dem manches Andere hinzuf\u00fcgen. So k\u00f6nnen wir eine Anzahl von Erscheinungen darauf zur\u00fcckf\u00fchren, dafs einer einmal gebildeten Einstellung, wenn sie nicht durch eine andere entgegengesetzte abgel\u00f6st wird, eine gewisse, aber doch nur begrenzte Dauer zukommt. Auf ein solches Nachdauern einer Einstellung m\u00f6chte ich die bekannte M\u00f6glichkeit zur\u00fcckf\u00fchren, an einem bereits vor\u00fcbergegangenen Sinneseindrucke etwas wahrzunehmen, z. B. die Schl\u00e4ge einer Uhr hinterher zu z\u00e4hlen u. dergl. Eine psychologisch interessante Bolle spielt dieDauer der Einstellungen ferner beim H\u00f6ren oder Lesen, und zwar um so mehr, je verwickelter der grammatikalische Bau ist. Um das Verst\u00e4ndnis, d. h. die Verkn\u00fcpfung der verschiedenen dispositiven Einstellungen zu bewirken, mufs die durch den Anfangsteil des Satzes bewirkte noch bestehen, wenn die Schlufsteile geh\u00f6rt werden; sie m\u00fcssen sich zu diesem Zwecke oft l\u00e4ngere Zeit erhalten und auch dann, wenn inzwischen (durch Nebens\u00e4tze, Einschaltungen u. dergl.) eine Beihe anderer Vorg\u00e4nge analoger Art abl\u00e4uft. Im ganzen l\u00e4fst sich hiernach, glaube ich, sagen, dafs die Aufstellung des Begriffes der cerebralen Einstellungen und der Versuch, \u00fcber ihr Verhalten etwas zu ermitteln, zwar nicht","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nJ. v. Kries.\nzur Gewinnung fertiger Ergebnisse, sondern mehr zu neuen Fragestellungen f\u00fchrt; dafs aber auch die bestimmtere und speziellere Fragestellung, welche \u00fcbersehen l\u00e4fst, in welcher Richtung etwa die Antwort zu suchen ist, einen gewissen Gewinn bedeutet.\nVon noch gr\u00f6fserem Werte w\u00fcrde es nun nat\u00fcrlich sein, wenn es gel\u00e4nge, die aus den psychologischen Thatsachen sich ergebenden Postulate mit den Anschauungen und Ergebnissen, zu denen die Physiologie des Zentralnervensystems gelangt, in Zusammenhang zu bringen. Dafs dies in gewissem Mafse m\u00f6glich ist, scheint mir zweifellos. Es zeigt sich vielleicht am deutlichsten darin, dafs Exner, gerade von diesem physiologischen Begriffskreise ausgehend, zu ganz \u00e4hnlichen Problemen und teilweise ganz \u00fcbereinstimmenden Resultaten gelangen konnte. Auch ist es gewifs kein Zufall, dafs die physiologisch bekannten Verh\u00e4ltnisse, die Hemmung und Bahnung, deren Beziehung zu den konnektiven Einstellungen mir von Anfang an besonders beachtenswert erschienen war, von Exner an die Spitze gestellt und in weitestem Umfange fruktifiziert werden.\nVergleicht man das, was oben \u00fcber konnektive Einstellungen\nausgef\u00fchrt worden ist, nfit Exners allgemeinen Darlegungen der\nHemmung und Bahnung, mit seiner Theorie der Aufmerksamkeit,\nder Reaktionsversuche u. a. m., so wird man, wenn nicht \u2022 \u2022\nv\u00f6llige \u00dcbereinstimmung, doch jedenfalls eine sehr erfreuliche Ann\u00e4herung der Anschauungen bemerken, vielleicht auch finden, dafs manche der hier nur aufgeworfenen Fragen dort bereits gl\u00fccklich beantwortet sind. Auf der anderen Seite aber kann ich mich doch der Anschauung nicht entschlagen, dafs die Psychologie noch eine ganze Reihe von Problemen stellt, f\u00fcr welche die physiologischen Vorstellungen eine \u00e4hnliche Ann\u00e4herung noch nicht gestatten. So scheint mir schon ein Verst\u00e4ndnis der dispositiven Einstellungen, wenn man sie in dem oben gekennzeichneten weiten Umfange nimmt, den die Sprachpsychologie fordert, auf grofse Schwierigkeiten zu st\u00f6fsen. Ebenso ist mir fraglich, ob es gelingt, von dem besonderen, dem Urteile zu Grunde liegenden Zusammenh\u00e4nge gen\u00fcgend Rechenschaft zu geben. Diese und \u00e4hnliche Erw\u00e4gungen haben in mir bisher den Zweifel wach gehalten, ob nicht die Physiologie des Zentralnervensystems, besonders der Hirnrinde, dazu wird schreiten m\u00fcssen, mit wesentlich anderen Vorstellungen, als den jetzt gel\u00e4ufigen (Erregungsvorgang und Leitung desselben) zu operieren.","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fcber die Natur gewisser Gehirnzust\u00e4nde.\n33\n\"Wenn ich sage: \u201eNapoleon starb in St. Helena\u201c, beruht dies in der That darauf, dafs erst eine Granglienzelle, die die \u201eTr\u00e4gerin\u201c der Vorstellung \u201eNapoleon\u201c ist, in Th\u00e4tigkeit ger\u00e4t, von dieser der Erregungsvorgang zu einer zweiten hinl\u00e4uft, in welcher die Vorstellung des Sterbens deponiert ist, '\u00fc. s. w. ? Das ist gewifs fraglich. Es k\u00f6nnte sich ja recht wohl auch um eine Folge verschiedener Vorg\u00e4nge, ja sogar um eine Gleichzeitigkeit und funktionelle Verkn\u00fcpfung derselben an dem gleichen Orte handeln. L\u00e4gen die Dinge in Wirklichkeit so (ich fingiere dies, wie gesagt, nur beispielsweise), so k\u00f6nnten wir die konnektiven Einstellungen nicht mehr als eine Er\u00f6ffnung oder Sperrung von Leitungsbahnen auffassen. \u2014 Bez\u00fcglich der Verh\u00e4ltnisse des Zeitsinnes, von denen oben die Bede war, kann es ebenfalls zun\u00e4chst ungewifs bleiben, ob die Herstellung bestimmter Zeitintervalle zwischen cerebralen Vorg\u00e4ngen auf einer Beeinflussung von Leitungsbeziehungen und Leitungsgeschwindigkeiten beruht. Allerdings entspricht es in h\u00f6chstem Mafse auch meinen Anschauungen, wenn Exner gelegentlich von einem \u201eFortkriechenu des ErregungsVorganges in der grauen Substanz redet. M\u00f6glich aber erscheint doch wohl auch, dafs es sich um den Ablauf von Vorg\u00e4ngen an einer und derselben Stelle, um eine Einstellung dieses Ablaufes auf verschiedene Geschwindigkeiten u. dergl. handelt.\nAus diesen Gr\u00fcnden m\u00f6chte ich Gewicht darauf legen, dafs die hier im Anschlufs an psychologische Verh\u00e4ltnisse entwickelten Vorstellungen von den physiologischen wenigstens insoweit unabh\u00e4ngig sind, als sie selbst mit sehr erheblichen Umdeutungen derselben vereinbar bleiben w\u00fcrden. Die gleichen Gr\u00fcnde werden es, wie ich hoffe, auch rechtfertigen, dafs ich, vom psychologischen Standpunkte ausgehend, eine Ankn\u00fcpfung an die Physiologie des Zentralnervensystems nicht in erster Stelle erstrebt habe, und nicht minder, dafs ich diese Betrachtungen auch nach Vorliegen der ExxERschen Arbeit ohne ein detailliertes Eingehen auf diese mitteilte. In der That war es mir mehr als um direkte physiologische Ankn\u00fcpfungen darum zu thun, gewisse Unterlagen f\u00fcr eine sp\u00e4tere Bearbeitung spezieller Fragen \u00fcber die Psychologie des Denkens zu gewinnen ; und ich m\u00f6chte die Verfolgung dieser besonderen Absicht auch als Entschuldigung f\u00fcr den unsystematischen und fragmentarischen Charakter dieser Mitteilung betrachtet wissen.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie VIII.\n3","page":33}],"identifier":"lit29506","issued":"1895","language":"de","pages":"1-33","startpages":"1","title":"\u00dcber die Natur gewisser mit den psychischen Vorg\u00e4ngen verkn\u00fcpfter Gehirnzust\u00e4nde","type":"Journal Article","volume":"8"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:37:37.294801+00:00"}