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{"created":"2022-01-31T13:38:31.497499+00:00","id":"lit29507","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Du Bois-Reymond, Cl.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 8: 34-43","fulltext":[{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber die latente Hyperm\u00e9tropie.\nVortrag,\ngehalten in der Berliner Ophthalmologischen Gesellschaft\nam 19. Jnli 1894.\nVon\nCl. du Bois-Reymond.\nIn der meisterhaften Abhandlung von Donders \u00fcber die Hyperm\u00e9tropie findet sich eine kleine L\u00fccke. Wahrscheinlich widerstrebte es dem grofsen Physiologen, seine Lehre auf irgend etwas anderes als erwiesene Thatsachen zu begr\u00fcnden, und, wie man sehen wird, waren zur Zeit die erforderh\u00f6hen Beobachtungen noch nicht zur Hand.\nWenn ein Hypermetrop zum ersten Male in seinem Leben eine Brille aufsetzt, die seinen Fehler vollst\u00e4ndig ausgleicht, so beobachtet man eine sehr merkw\u00fcrdige Erscheinung. Sie ist Ihnen Allen wohlbekannt: Er verh\u00e4lt sich wie ein Kurzsichtiger und vermag den fernsten Teil des ihm neu erschlossenen Akkommodationsbereiches nicht zum scharfen Sehen zweckm\u00e4fsig zu verwenden. Wenn dies an sich vielleicht weniger \u00fcberraschend w\u00e4re, so kommt die eigent\u00fcmliche Beobachtung hinzu, dafs dem mit der Brille Bewaffneten doch wiederum sofort ein ganz bestimmter Teil des neuen Akkommodationsbereiches verwendbar geworden ist, die uns wohl-bekannte manifeste Hyperm\u00e9tropie, und ferner, dafs die Gr\u00f6fse dieses Betrages in gesetzm\u00e4fsiger Weise mit seinem Lebensalter verkn\u00fcpft gefunden wird. Wir m\u00fcssen daraus schliefsen, dafs die fragliche Erscheinung mit einer anderen gesetzm\u00e4fsigen Ver\u00e4nderung zusammenh\u00e4ngt, mit der Alters Ver\u00e4nderung der Linse, der Presbyopie. Diese Dinge sind allbekannt, seit sie Donders in klassischer Darstellung erl\u00e4utert hat, und sind in alle Lehrb\u00fccher \u00fcbergegangen. Weder bei Donders noch sonst","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022 \u2022\nUber die latente Hyperm\u00e9tropie.\n35\nin den mir gerade zu Gebote stehenden Werken fand ich aber eine eingehendere Erkl\u00e4rung der manifesten Hyperm\u00e9tropie und deren r\u00e4tselhafter Beziehung zum Lebensalter. Denn in der That, wir stehen hier vor einem physiologischen R\u00e4tsel. Ein Auge, das durch fehlerhaften Bau f\u00fcr konvergente Strahlen eingerichtet ist, wird zum allerersten Male von solchen getroffen und erweist sich unf\u00e4hig, sie zum deutlichen Bilde zu verwerten. Diese Unf\u00e4higkeit ist aber wieder beschr\u00e4nkt, und das Auge zeigt sich immer bis zu einer ganz bestimmten Grenze v\u00f6llig geschickt, sich eine optische Einstellung zu geben, f\u00fcr die es niemals vorher eine Verwendung gehabt hat. Diese letzte F\u00e4higkeit ist in der Physiologie des Auges ohne Beispiel und darf wohl ein R\u00e4tsel genannt werden. Mir wenigstens erschien sie lange Zeit in diesem Lichte, bis ich auf die Theorie gef\u00fchrt wurde, die ich Ihnen jetzt darlegen m\u00f6chte.\nUm mich leichter verst\u00e4ndlich zu machen, will ich eine neue Benennung einf\u00fchren, die eine feste, in unserer Betrachtung vorkommende Gr\u00f6fse bedeuten soll. Man kann annehmen, dafs ein Kind durchschnittlich in der zweiten H\u00e4lfte seines ersten Lebensjahres so weit im Sehen ge\u00fcbt ist, dafs es alle m\u00f6glichen Dinge, auch sehr kleine, mit beiden Augen richtig fixieren gelernt hat. Bei der bekannten engen Verkn\u00fcpfung zwischen Konvergenz und Akkommodation wird wohl kein aufmerksamer Beobachter bezweifeln, dafs auch die Ein\u00fcbung des Ciliarmuskels zu dieser Zeit vollendet ist. Der unbekannte, diesem Zeitpunkte angeh\u00f6rige Betrag der Akkommodation wird sich ann\u00e4hernd ausfindig machen lassen, wenn man die Presbyopiekurve von Donders, die er nur bis zum zehnten Lebensjahre wirklich ermittelt hat, hypothetisch bis ins erste Jahr verl\u00e4ngert. Eine gerade Linie ergiebt etwa 18 D., doch ist man zweifellos berechtigt, der Kurve auch in diesem St\u00fccke die schwache Kr\u00fcmmung zu belassen, die ihr ganzer Verlauf zeigt.\nEine solche Zeichnung stellt die umstehende Figur vor. Sie f\u00fchrt auf einen Wert von rund 20 D. Zerlegen wir jetzt dieTh\u00e4tig-keit des Ciliarmuskels ebenfalls in 20 Teile. F\u00fcr jede der 20 D. wird der Muskel um ein gewisses Mafs seinen Zug verst\u00e4rken m\u00fcssen. Man k\u00f6nnte sich geradezu vorstellen, dafs an Stelle des Muskels eine Wagschale hinge, auf die man von D. zu D.\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nCl. du Bois-Beymond.\nimmer mehr Gewicht auflegte. Diesen Impulsen, deren also jeder in der ersten Kindheit einer D. entspricht, gebe ich der K\u00fcrze wegen die Bezeichnung Entonien (,tvzovCa, die Spannung, z. B. des Bogens). Eine Entonie ist also eine kleine Krafteinheit, ohne jede optische Nebenbedeutung. Die gesamte Leistung des Ciliarmuskels betr\u00e4gt zur Zeit, wo das Kind eben sehen gelernt hat, 20 Entonien, die ebenso viele D. hervorbringen.\nDioptrien.\nJalire ,a<?\n60___65\t70\t75 so Jahre.\nDioptrien.\nDie weiteren Schlufsfolgerungen erfordern, was auch an sich wahrscheinlich ist, dafs gleichen Akkommodationsbetr\u00e4gen wenigstens ann\u00e4hernd gleiche Muskelarbeiten entsprechen, oder in der von uns gew\u00e4hlten Bezeichnungsweise, dafs alle Entonien ungef\u00e4hr untereinander gleich sind. Das ist unsere erste Voraussetzung. Da der Ciliarmuskel gegen elastische Kr\u00e4fte und in sehr geringer Hubh\u00f6he arbeitet, hat diese Annahme jedenfalls an sich keine Bedenken.\nBetrachten wir nun als Beispiel ein hypermetropisches Kind von + 5 D. Zu jener Zeit, wo der Gebrauch der","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"Uber die latente Hyperm\u00e9tropie.\n37\nAkkommodation eben erst einge\u00fcbt ist, mufs sich der folgende Zustand herausgebildet haben. Mit parallelen Blicklinien verbindet es unab\u00e4nderlich eine Akkommodation von 5 D., von dort bis zum Nahepunkt, der in (20\u20145) D. liegt, ist der Muskel f\u00fcr alle Konvergenzen mit der erforderlichen Sch\u00e4rfe einge\u00fcbt worden; aber die\u00f6D., die jenseits co liegen,wurden nie gebraucht, und demnach blieben auch die 5 ersten Entonien der ganzen Reihe v\u00f6llig unge\u00fcbt. Die ganze Hyperm\u00e9tropie ist latent. Sowie das Kind die Augen \u00f6ffnet, um zu sehen, ist das erste, dafs es diese 5 Entonien \u00fcberspringt, um dann erst in seinen nutzbaren Akkommodationsbereich einzutreten. An diesem Grade der Spannung bildet sich nun gleichsam ein praktischer Fernpunkt aus. Nur beim Starren, in m\u00fcfsigen Augenblicken, wo auch Divergenz eintritt, wird der Ciliarmuskel den Abschnitt dieser 5 Entonien bis zur Ruhelage gelegentlich durchlaufen. Mit zunehmendem Alter wirkt nun die Presbyopie ein. Es ist festgestellt, dafs so fr\u00fch, als man \u00fcberhaupt pr\u00fcfen kann, schon die Akkommodationsbreite abnimmt, und zugleich ist bekannt, dafs in gleichem Mafse und mit derselben Regelm\u00e4fsigkeit die Kernbildung fortschreitet, die ganze Linse an Starrheit gewinnt. Es ist aber nicht nachgewiesen, dafs der gesunde Ciliarmuskel an Kraft einb\u00fcfst, und man darf wohl sagen: es w\u00e4re schwer begreiflich, wenn ein so wichtiger Muskel schon in der Kindheit ohne jeden ersichtlichen Grund sich zur\u00fcckbilden sollte. Ich hoffe aber, durch das Folgende Sie zu \u00fcberzeugen, dafs die Presbyopie einzig und allein aus der verminderten Schnellkraft der Linse und nicht aus einer Schw\u00e4chung des Ciliarmuskels zu erkl\u00e4ren ist. Jedenfalls entspricht das auch vollkommen der subjektiven Empfindung. Yon der Form\u00e4nderung der Linse bemerken wir unmittelbar gar nichts. Wir f\u00fchlen nur deutlich die Muskelanstrengung und beobachten ein entsprechendes Heranr\u00fccken des Fixierpunktes. Das gilt f\u00fcr den alten wie f\u00fcr den jungen Menschen ; der Unterschied liegt nicht in der verwendeten Kraft, sondern in der dadurch erreichten Leistung. Im Altern versp\u00fcren wir nicht eine vermehrte Anstrengung, sondern nur den verminderten Erfolg. Doch ist dies, wie gesagt, nicht streng bewiesen, und ich verlasse hier zum zweiten Male den Boden der Thatsachen, indem ich es voraussetze. Mit dieser Annahme und der oben bereits erw\u00e4hnten wird aber mit einem Schlage das eigent\u00fcmliche Yer-","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nCl. du Bois-Reymond.\nhalten der Hyperm\u00e9tropie aufgekl\u00e4rt, und auch die weiteren Folgerungen der Theorie stimmen genau mit der Wirklichkeit \u00fcberein. Die Theorie lautet: Jener praktische Fern-punkt, entsprechend der latenten Hyperm\u00e9tropie des ersten Lebensjahres, bleibt f\u00fcr die Muskelth\u00e4tigkeit, d. h. in Entonien gemessen, durch das ganze Leben bestehen und bildet die Grenze zwischen Hm und Hl, vorausgesetzt dafs keine Brille gebraucht wird und dafs die Refraktion sich nicht \u00e4ndert.\nLassen wir z. B. unseren Hypermetropen sein zwanzigstes Lebensjahr erreicht haben. Er verf\u00fcgt dann noch \u00fcber eine Akkommodationsbreite von im ganzen 10 D. Die Arbeitsleistung des Ciliarmuskels hat sich nicht ver\u00e4ndert; sie betr\u00e4gt, wie fr\u00fcher, 20 Entonien. Von einer kleinen Steigerung, wie sie bei Hyperm\u00e9tropie wahrscheinlich durch die fortgesetzte \u00dcbung erreicht wird, wollen wir absehen. Da jetzt 10 D. auf 20 Entonien nach unserer Annahme gleichm\u00e4fsig zu verteilen sind, entf\u00e4llt auf jede Entonie nicht mehr 1 D., sondern nur noch V2 D. Versuchen wir, aus der Theorie f\u00fcr dieses Lebensalter\ndas Verh\u00e4ltnis der latenten Hyperm\u00e9tropie zur totalen,\nHl\n~Ht\nzu berechnen. Unser Beispiel, der zwanzigj\u00e4hrige Hypermetrop von 5 D., hatte zu der Zeit, wo er sehen lernte, \u00fcber die ersten 5 Entonien nicht zu gebieten gelernt. Die \u00fcbrigen 15 Entonien sind einge\u00fcbt und durch l\u00e4ngeren Gebrauch hinreichend geschult. Wird jetzt durch das Konvexglas seine ganze Akkommodationsbreite in den wirklichen Raum verlegt, so macht sich dieser Zustand geltend. In den ersten 5 Entonien, die er niemals fr\u00fcher zu brauchen Gelegenheit hatte, vermag er sich nicht sicher zu bewegen und kann damit zun\u00e4chst kein Bild festhalten. Das ist seine latente Hyperm\u00e9tropie. Von der 6. an bis zur 20. beherrscht er die Muskelspannungen mit Sicherheit, und es kommt ihm hierbei sogar die \u00dcbung im ersten Lebensjahre wieder zu statten, obwohl die 5 zun\u00e4chst folgenden Entonien auch schon seit jener Zeit eine nach der anderen in Nichtgebrauch verfallen waren, n\u00e4mlich die der manifesten Hyperm\u00e9tropie zugeh\u00f6rigen. Welchem Akkommodationsbetrag entsprechen nun aber jene 5 nicht verwendbaren Entonien bei dem Zwanzigj\u00e4hrigen? Der Akkommodationsbetrag einer jeden ist auf 0,5 D. zur\u00fcckgegangen, mithin leisten","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"39\n\u00dcber die latente Hyperm\u00e9tropie.\n5 Entonien jetzt nur noch 2,5 D., und so grofs wird also, wie man sonst es auszudr\u00fccken pflegt, die latente Hyperm\u00e9tropie sein, d. h. gleich der H\u00e4lfte der totalen.\nSuchen wir einen allgemeinen Ausdruck f\u00fcr das an dem Einzelbeispiel Dargelegte, so ergiebt sich die einfache Proportion El : Ht \u2014 A : 20, wenn wir unter A die Akkommodation des jedesmaligen Lebensalters verstehen. In Worten ausgedr\u00fcckt: der Hypermetrop jeden Alters, das noch eine nennenswerte Akkommodation besitzt, entspannt stets, wenn ihm ein gen\u00fcgend starkes Konvexglas geboten wird, soweit er es \u00fcberhaupt kann, seine Akkommodation, also alle Entonien bis auf jene ersten, die in der Kindheit seinem Sehen eine Grenze setzten. Das ist f\u00fcr ihn, der nur nach dem Muskelgef\u00fchl, also nach Entonien urteilt, der fernste Punkt. In D. ausgedr\u00fcckt, bedeuten diese aber zu jeder Lebenszeit um so viel weniger, als der Betrag von A gegen den urspr\u00fcnglichen von 20 D. inzwischen zur\u00fcckgegangen ist. Darum nimmt die latente Hyperm\u00e9tropie ab.\nIch habe nun den Beweis zu f\u00fchren, dafs diese Theorie mit den beobachteten Thatsachen \u00fcbereinstimmt. Seit dem Jahre 1883 (Centralbl. f. Augenheilhde. Juli-Augustheft) sind wir durch eine Arbeit von Hirschberg und Daniel \u00fcber das er-\n]Jm\nfahrungsm\u00e4fsig bestehende Verh\u00e4ltnis \u2014g-\u2014 unterrichtet. Aus\neiner grofsen Keihe sorgf\u00e4ltig ausgew\u00e4hlter und beobachteter F\u00e4lle stellen die Verfasser eine Tabelle auf, die wir f\u00fcr El und in Decimalbr\u00fcche umgerechnet wiedergeben:\nVom 6. bis 15. Lebensjahre meist Hl\n\u00bb tb. J?\t25.\tfl\tfl\tHl \u2014\t0,5\t\u201e\t\u201e\tH\nv 26.\t\u201e\t35.\t\tfl\tHl =\t0,4 bis 0,25 (Mittel = 0,325)\n\u201e 36. \u201e\t45.\tfl\tfl\tHl \u2014\t0\nDar\u00fcber\t\t\tstets\tHl =\t0.\nNach unserer oben gefundenen Proportion El: Et = A : 20 w\u00fcrde die Tabelle lauten:\nIm 10. Lebensjahre ist Hl = 0,7 der ganzen H\nfl\t20.\tfl\tfl\tHl - 0,5\tfl\tfl\tH\nfl\t30.\tfl\tfl\tHl = 0,35\tfl\tn\tH\nV\t40.\tfl\tfl\tHl = 0,22\tfl\tV)\tH\nfl\t50.\tfl\tfl\tHl = 0,12\tfl\tfl\tH","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nCl. du Bois-Reymond.\nWie man sieht, sind die Abweichungen unbedeutend. Wenn man bedenkt, dafs die Ziffern von Hirschberg und Daniel mit dem Augenspiegel und ohne Atropin gewonnen sind, dafs die Refraktion aus praktischen Brillenbestimmungen sp\u00e4ter herausgesucht ist, endlich, dafs auch wir rein schematisch gerechnet und bekannte Fehlerquellen vernachl\u00e4ssigt haben, so kann man zum mindesten die \u00dcbereinstimmung der drei ersten Ziffern als ganz befriedigend betrachten. Man k\u00f6nnte sich aber daran stofsen, dafs die Theorie auch im 40. und sogar im 50. Jahre noch einen kleinen Betrag latenter Hyperm\u00e9tropie erfordert, w\u00e4hrend die erste Tabelle dort \u201emeist\u201c und \u201estets\u201c 0 anf\u00fchrt. Darauf ist aber zu erwidern, dafs ein so kleiner Betrag bei solcher Art der Untersuchung eben meist unentdeckt bleiben mufs. Umgekehrt beweist es, wie mir scheint, die besondere Sorgfalt und Sicherheit der HiRSCHBERG-DANiELschen Untersuchung, dafs sie in der 4. und 5. Dekade einige Male doch wirklich diese kleine Hl nachweisen konnten. \u00dcbrigens liegt es mir fern, zu behaupten, dafs die Theorie ausnahmslos zutreffen mufs. Es lassen sich viele Ursachen denken, die h\u00e4ufig gegen das 40. und 50. Lebensjahr hin wirklich den Rest von Hl verschwinden lassen k\u00f6nnten. Bei jeder m\u00e4fsigen Amblyopie z. B. wird er stets, wenn er nicht grofs ist, verschwinden m\u00fcssen. Genug, dafs die Unterschiede des theoretischen und praktischen Befundes innerhalb der Schwankungen liegen, die, wie jedem Praktiker bekannt ist, von Fall zu Fall solchen Bestimmungen unvermeidlich anhaften, dafs also die Thatsachen diese einfache und einleuchtende L\u00f6sung zulassen.\nUm so mehr \u00fcberraschte es mich, als ich die Entdeckung machte, dafs diese ganze Erkl\u00e4rungsweise nicht mehr neu ist. De Schr\u00f6der in Paris, chef de clinique bei Landolt, hat sie schon vor 12 Jahren (1882) in einer kleinen Arbeit: \u201e\u00dcber das Wesen der manifesten und latenten Hyperm\u00e9tropie\u201c [Arch. d'Ophth. de Fanas, Landolt, Poncet, II. p. 289\u2014307) im wesentlichen richtig entwickelt. Ihm geb\u00fchrt ohne Zweifel das Verdienst der ersten Entdeckung. Erst nachdem ich durch eigenes Nachdenken auch auf die Theorie gekommen war und die Proportion mit einem kurzen Entw\u00fcrfe dieser Arbeit niedergeschrieben hatte, stiefs ich auf eine vorher \u00fcbersehene, f\u00fcr den mit dem Gegenstand Unbekannten auch nicht verst\u00e4ndliche Stelle der HiRSCHBERG-DANiELschen Arbeit, wo die Formel","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"41\n\u00dcber die latente Hypemietropie.\nde Schr\u00f6ders kurz erw\u00e4hnt wird. Das Urteil lautet: \u201eDie genannte Formel scheint willk\u00fcrlich und nicht ganz richtig zu sein.\u201c Ich habe es absichthch unterlassen, die Arbeit de Schr\u00f6ders zu lesen, bis ich die obige Ausarbeitung der Theorie niedergeschrieben hatte. Dann erst verglich ich seine Entwickelung mit meiner und mufs mich allerdings teilweise dem Urteile meines verehrten Lehrers anschliefsen. de Schr\u00f6der geht, was sicher unrichtig ist, von einer h\u00f6chsten Akkommodationsbreite = 14 D. aus, offenbar deshalb, weil zuf\u00e4llig die Bestimmungen Donderss nur bis zum 10. Lebensjahre zur\u00fcckgehen und mit 14 D. anfangen. Das Beobachtungsmaterial ist zu klein und die Berechnungen sind wohl nicht fehlerlos. Aber, was mir die Hauptsache zu sein scheint, die zu Grunde gelegte Idee und das daraus abgeleitete Gesetz stimmen genau mit dem Ihnen hier dargelegten \u00fcberein, wenn auch die gew\u00e4hlte Ausdrucksweise und die Ziffernwerte etwas anders ausgefallen sind. Vielleicht erblicken Sie darin mit mir eine weitere Best\u00e4tigung des Gesagten.\nIndessen lassen sich aus der Erfahrung auch noch einige Punkte beibringen, die dem Gesetze zur St\u00fctze dienen. Hur so wird die manifeste Hyperm\u00e9tropie bei einem, der nie eine Brille gebrauchte, \u00fcberhaupt verst\u00e4ndlich. Wer sie anders erkl\u00e4ren wollte, m\u00fcfste doch annehmen, dafs jeder Hypermetrop mit zunehmendem Alter sich allm\u00e4hlich daran gew\u00f6hnte, mit Zerstreuungskreisen, d. h. mit ungenauer Akkommodation, zu arbeiten und so diese \u00dcbung sich aneignete. Es ist uns allen bekannt, dafs das thats\u00e4chlich in einzelnen F\u00e4llen der h\u00f6chsten Hyperm\u00e9tropie beobachtet wird. Aber die Regel ist es nicht. Vielmehr wissen wir, dafs alle gew\u00f6hnlichen Hypermetropen bis zum \u00e4ufsersten an der scharfen Akkommodation festhalten, dafs sie mit \u00fcb er angestrengter Akkommodation arbeiten, bis die Asthenopie ihnen das unm\u00f6glich macht. Die Asthenopie tritt auch nicht als eine langsam zunehmende Undeutlichkeit auf, sondern als eine pl\u00f6tzliche Sehst\u00f6rung, w\u00e4hrend bis zuletzt deutlich gesehen wurde. Sehr richtig bemerkt auch de Schr\u00f6der, dafs die manifeste Hyperm\u00e9tropie jugendlicher Hypermetropen geringen Grades ganz unerkl\u00e4rlich w\u00e4re, wenn man seine Theorie ablehnt. Obwohl es solchen ein Leichtes ist, ihre ganze H und noch weit mehr zu \u00fcberwinden, findet sich, wenn man genau pr\u00fcft, auch bei ihnen der kleine Betrag der Hm immer dem","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nCl. du Bois-Beymond.\nGesetz entsprechend. Ebensowenig versteht man, warum der Hypermetrop mit der Brille, wenn er doch f\u00fcr einen Teil seiner Akkommodation die F\u00e4higkeit zu entspannen besitzt, f\u00fcr den B-est zuerst eine so v\u00f6llige Unf\u00e4higkeit zeigt und doch wieder nach kurzem Gebrauche der Brille auch diesen beherrschen lernt. de Schr\u00f6der hat \u00fcbrigens auch Ein\u00e4ugige gepr\u00fcft, um dem Einwande zu begegnen, dafs die Konvergenz einen Einflufs bes\u00e4fse, und endlich hat er auch an F\u00e4llen krankhafter L\u00e4hmung und an Atropinisierten die G\u00fcltigkeit unseres Gesetzes nachgewiesen. Auch diese haben einen Best von Hl, der pro-\nportional dem Verh\u00e4ltnis \u25a0 (nach seiner Bechnung -y^-J vermindert ist. Denn sie bemessen nat\u00fcrlich ihre Ciliarmuskelspannung nach der Innervation, nach dem zentralen Willensimpuls, den sie abgeben. Dessen Entonienwert ist aber jetzt durch die L\u00e4hmung herabgedr\u00fcckt; L\u00e4hmung und Altersstufe vermindern zusammen den optischen Wert der Hl, und zwar ebenfalls in dem Verh\u00e4ltnis des gerade noch vorhandenen A zu 20.\nIch hoffe, Sie werden mir zugeben, dafs unser Gesetz der latenten Hyperm\u00e9tropie am besten alle beobachteten That-sachen verst\u00e4ndlich macht und wohl verdient, in der Lehre von der Hyperm\u00e9tropie einen Platz zu finden. Zum Schlufs m\u00f6chte ich noch seine praktische Brauchbarkeit in Schutz nehmen. Hirschberg und Daniel erkl\u00e4ren die Formel f\u00fcr \u201ezu kompliziert, als dafs sie f\u00fcr die Praxis irgendwelchen Wert haben k\u00f6nnte\u201c. Man kommt zuweilen in die Lage, die Hm theoretisch bestimmen zu m\u00fcssen, meist bei Kindern. Ich pflege, nach Hirschbergs Vorgang, bei solchen stets die Hm durch eine Brille auszugleichen, weil diese Brillen die un-angenehmen Ubergangsst\u00f6rungen, beim Aufsetzen und Ablegen der Gl\u00e4ser, am wenigsten hervorrufen. Bei \u00e4ngstlichen oder dummen Individuen l\u00e4fst sich wohl Ht genau genug mit dem Spiegel messen, aber die Gl\u00e4serprobe ergiebt eine ungewisse Gr\u00f6fse. Nach dem Gesetz berechnet man Hm folgendermafsen:\nDie Formel heifst\nHl\nHt\nA\n2CT*\nMan sucht in der Tafel der\nM-Breiten nach Donders (von Nagel in Dioptrien \u00fcbertragen) die .A-Breite des Alters auf und zieht sie von 20 ab, so ist der Best, durch 20 dividiert, derjenige Bruchteil von Ht, den","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022 \u2022\nUber die latente Hyperm\u00e9tropie.\n43\nman ungef\u00e4hr auszugleichen hat. Dafs man die ^.-Breiten dazu braucht, ist wohl kein Nachteil, denn sie m\u00fcssen ohnehin jedem zu Hand sein, der in genauer und zweckm\u00e4fsiger Weise Brillen bestimmen will. Die kleine Bruchberechnung kann man aber, wie ich wohl kaum hinzuzusetzen brauche, den Zahlen gem\u00e4fs abrunden, und zwar am besten, indem man die Hm etwas zu hoch berechnet, weil sie doch nach kurzem Brillentragen zunehmen wird.","page":43}],"identifier":"lit29507","issued":"1895","language":"de","pages":"34-43","startpages":"34","title":"\u00dcber die latente Hypermetropie: Vortrag, gehalten in der Berliner Ophthalmologischen Gesellschaft am 19. Juli 1894","type":"Journal Article","volume":"8"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:38:31.497504+00:00"}