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{"created":"2022-01-31T13:32:18.596983+00:00","id":"lit29510","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Ufer","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 8: 104-107","fulltext":[{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\nA. H\u00f6fler. Was die gegenw\u00e4rtige Psychologie unserm Gymnasium sein und werden k\u00f6nnte. Vortrag, gehalten in der p\u00e4dagogischen Sektion der 42. Versammlung deutscher Philologen und Schulm\u00e4nner in Wien 1893. Selbstverlag des Vortragenden. Wien 1893. (Sonderdruck aus den Verhandlungen der 42. Philologenversammlung. Leipzig, Teubner.)\nWir haben in dieser Zeitschrift wiederholt Gelegenheit gehabt zu der Klage, dafs es um die Verwertung der Psychologie in der Schule durchweg nicht zum besten bestellt sei. Zwar fehlt es nicht an der theoretischen Anerkennung der Psychologie als einer Grundwissenschaft der P\u00e4dagogik, wohl aber noch gar sehr an der folgerichtigen Durchf\u00fchrung der aus dieser Anerkennung sich notwendig ergebenden Aufgaben. Ganz besonders ist das in den Kreisen des h\u00f6heren Lehrerstandes der Fall, w\u00e4hrend ein betr\u00e4chtlicher Teil der Volksschullehrer sich nach Mafsgahe seiner Kr\u00e4fte bereits seit l\u00e4ngerer Zeit redlich und auch nicht ohne jeden Erfolg ahgem\u00fcht hat. Um so freudiger begr\u00fcfsen wir obige Stimme aus der Wiener Versammlung, die nicht einer leider noch zu h\u00e4ufigen \u201eSonntagsreiterei\" (nach Kehmkes Ausdruck), sondern einem gr\u00fcndlichen Studium der psychologischen Wissenschaft und einer ausgiebigen Verwertung derselben in p\u00e4dagogischer Beziehung das Wort redet.\nDer Vortrag gliedert sich in zwei Teile; im ersten ist von der Psychologie als Grundwissenschaft der P\u00e4dagogik die Kede, und im zweiten wird ihre Bedeutung als Unterrichtsgegenstand an h\u00f6heren Schulen behandelt. In beiderlei Beziehung betont der Verfasser nachdr\u00fccklich den Wert der gegenw\u00e4rtigen Psychologie, wie sie sich etwa in dieser Zeitschrift darstellt, im Gegensatz zu der durch Bonitz in \u00d6sterreich auf Grund der bekannten B\u00fccher von Zimmermann, Lindner und Drbal fast offiziell gewordenen Psychologie Herbarts. .Referent ist zwar im allgemeinen, wie H\u00f6fler ganz richtig bemerkt, ebenfalls ein Anh\u00e4nger Herbarts; doch hofft er, dafs dieser Umstand der Beurteilung des Vortrages nicht zum Nachteil gereicht.\nH\u00f6fler ist ein besonnener Mann; daher vers\u00e4umt er es trotz aller Polemik gegen Herbart wenigstens nicht, diesem wegen seiner Bedeutung f\u00fcr die Geschichte der Philosophie Anerkennung widerfahren zu lassen. Er h\u00e4tte aber auch mit gutem Gewissen hervorheben k\u00f6nnen, dafs man es Herbart und seiner Schule fast ausschliefslich zu danken hat, wenn sich in der Gegenwart die \u00dcberzeugung doch immer mehr Bahn bricht, dafs die einzelnen Mafsnahmen der P\u00e4dagogik unter anderem auch aus","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n105\nder Psychologie abgeleitet und vor ihr gerechtfertigt werden m\u00fcssen. Wer mit der neueren Entwickelung der P\u00e4dagogik vertraut ist, wird diese Thatsache nicht in Abrede stellen, selbst zugeben m\u00fcssen, dafs sich Herbarts Einflufs in dieser Beziehung weit \u00fcber den Kreis seiner Schule hinaus geltend macht, insofern die * hierher stammenden psychologischp\u00e4dagogischen Arbeiten (die \u00fcbrigens der Zahl nach nicht so gering sind, wie H\u00f6fler nach einer mifsverst\u00e4ndlichen Bemerkung des Beferenten hat glauben k\u00f6nnen) wenigstens in methodischer Beziehung als Muster angesehen werden. Dafs auf BENEKischem, LoTZEschem, WuNDTSchem oder irgend einem anderen Boden bis jetzt noch nichts gewachsen ist, was sich der HERBARTSchen P\u00e4dagogik zur Seite stellen liefse, erweckt beim Beferenten, der die Wahrheit mehr liebt, als ein ihm besonders vertrautes System, kein gerade angenehmes Gef\u00fchl; vielmehr w\u00fcrde sich dieser mit H\u00f6fler freuen, ein durchgebildetes p\u00e4dagogisches System auf anderer psychologischer Grundlage kennen zu lernen.\nW\u00e4re erst auch nur ein derartiges durchgebildetes System vorhanden, so w\u00fcrde sich klar heraussteilen, ob H\u00f6fler im Bechte ist, wenn er meint, die Vertreter der gegenw\u00e4rtigen Psychologie s\u00e4hen sich den Herbartianern gegen\u00fcber von der Mitarbeit in p\u00e4dagogischen Dingen ausgeschlossen. Beferent vermag das einstweilen durchaus nicht zuzugeben, im Hinblick auf die neueste Auflage des Buches von K. Lange \u00fcber Apperzeption nicht einmal mit Bezug auf die Vertreter der WuNDTSchen Psychologie. Was die neuere Assoziationspsychologie betrifft, so hat Beferent vor einigen Jahren, als der ZiEHENsche Leitfaden erschien, ihr Verh\u00e4ltnis zu Herbarts Psychologie und P\u00e4dagogik erwogen und f\u00fcr die letztere durchweg eine St\u00fctze in dem Buche gefunden, namentlich hinsichtlich der Vorstellungs-und Willensvorg\u00e4nge, trotzdem Ziehen ebensowenig wie H\u00f6fler \u201eVorstellungen unter der Schwelle des Bewufstseins\u201c auch nur hypothetisch anerkennt, ein Gedanke \u00fcbrigens, in dem sich H\u00f6fler und Ziehen mit dem bekanntlich vorzugsweise in Herbarts Bahnen wandelnden Psychologen und P\u00e4dagogen Waitz ber\u00fchren. Auch in den Schriften Bibots findet der Beferent keinen praktisch f\u00fchlbar werdenden, auf Thatsachen gegr\u00fcndeten Widerspruch gegen die P\u00e4dagogik der HERBARTSchen Schule, und die auch von H\u00f6fler namhaft gemachte Schrift D\u00f6rpfelds \u00fcber Denken und Ged\u00e4chtnis w\u00fcrde beispielsweise die hierher geh\u00f6rigen Ergebnisse von Ebbinghaus\u2019 Untersuchungen ganz gut und nicht zu ihrem Nachteil in sich aufnehmen k\u00f6nnen. Beferent w\u00fcrde das gern im einzelnen darlegen, wenn es in dieser Zeitschrift am Platze w\u00e4re. So aber mufs er sich damit begn\u00fcgen, an H\u00f6fler die Frage zu richten, ob er z. B. die p\u00e4dagogisch aufserordentlich wichtige Lehre von der Durcharbeitung des Lehrstoffes (die sog. Formalstufen) auf Grund der von ihm vertretenen Psychologie durchgreifend bek\u00e4mpfen zu k\u00f6nnen glaubt, oder ob er sie bei psychologischer Musterung in der Hauptsache gutheifsen mufs. Beferent glaubt nicht, dafs sich von ihr viel abdingen l\u00e4fst, wohl aber ist er der Meinung, dafs sie auf Grund der physiologischen Psychologie der Neuzeit in manchen Partien, so besonders in der Stufe der Anwendung oder \u00dcbung, noch einer bedeutenden Vervollkommnung f\u00e4hig ist. Der wundeste Punkt in Herbarts Psycho-","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106\nLitter aturbericJit.\nlogie \u2014 aber durchaus in ihr allein \u2014 ist ohne Zweifel die Lehre vom Gef\u00fchl. In p\u00e4dagogischer Beziehung aber braucht nur soviel festgehalten zu werden, dafs beim Gef\u00fchl auch das Vorstellungsleben eine grofse Bolle spielt (was im Ernste unm\u00f6glich geleugnet werden kann), und man beh\u00e4lt mit der P\u00e4dagogik Herbarts F\u00fchlung. (Siehe auch O. Fl\u00fcgels Besprechung des neuen Buches von Ziegler \u00fcber das Gef\u00fchl in der Zeitschr f. Phil. u. P\u00fcd. 1894. S. 169 ff.)\nBeferent k\u00f6nnte es hiernach im Gegens\u00e4tze zu H\u00f6fler nur f\u00fcr er-spriefslich halten, wenn im \u201eVerein f\u00fcr wissenschaftliche P\u00e4dagogik\u201c recht viele Vertreter der \u201egegenw\u00e4rtigen Psychologie\u201c w\u00e4ren. Ein wirklich von Herbarts Geiste beseelter Verein kann doch unm\u00f6glich Thatsachen ab weisen; auch berichtet H\u00f6fler nicht genau, wenn er sagt, die Statuten des Vereins verlangten, dafs alle Mitglieder von Herbarts Prinzipien ausgehen m\u00fcfsten; sondern nur soviel ist richtig, dafs die Lehre Herbarts als Beziehungspunkt gilt, so dafs sie auch widerlegt, berichtigt und fortgebildet werden kann. An der M\u00f6glichkeit der Berichtigung und Fortbildung zweifelt Beferent nicht, wie H\u00f6fler es thut. Wenn in dieser Bichtung w\u00e4hrend der letzten Jahre kein besonderer Fortschritt zu sp\u00fcren gewesen ist, so braucht das nicht notwendig in der Sache selber zu liegen.\nAus dem bereits Gesagten ergiebt sich zur Gen\u00fcge, dafs Beferent H\u00f6fler auch nicht beipflichten kann, wenn dieser meint, es empfehle sich nicht, die Kandidaten des h\u00f6heren Schulamtes ganz besonders in die HERBARTSche Psychologie einzuf\u00fchren. Das ist schon n\u00f6tig, weil die angehenden Lehrer im anderen Falle die wissenschaftlich-p\u00e4dagogische Litteratur, die gegenw\u00e4rtig fast ausschliefslich mit dem Namen Herbarts verkn\u00fcpft ist, nicht gen\u00fcgend kennen lernen w\u00fcrden, was doch in B\u00fccksicht auf die historische Entwickelung nicht von Vorteil sein k\u00f6nnte. Es empfiehlt sich aber auch wegen des praktischen Wertes der Herbart-schen Psychologie, den Beferent aus der Th\u00e4tigkeit vieler Volkschullehrer hat kennen lernen. Wenn H\u00f6flers Erfahrungen in diesem Punkte andere sind, so wird dies wahrscheinlich bei den betreffenden Lehrern an einer mangelhaften Einf\u00fchrung in die Psychologie und deren p\u00e4dagogische Verwertung liegen. (Siehe hierzu des Beferenten Ausf\u00fchrungen in dieser Zeitschrift, Bd. V. S. 88 ff. und 403 f.) Selbstverst\u00e4ndlich bef\u00fcrwortet Beferent kein dogmatisches Eintrichtern der Lehre Herbarts; man mag auch getrost viele Fragen offen lassen, die Herbart und seine Anh\u00e4nger als gel\u00f6st ansehen. Daneben wird das Studium von Werken, wie Stumpfs Tonpsychologie, von grofsem Nutzen sein. H\u00f6fler hat gewifs Becht, wenn er meint, das Studium solcher Werke \u00fcber scheinbar einfache, in Wahrheit aber sehr verwickelte Dinge schaffe erst den richtigen Sinn f\u00fcr die Besch\u00e4ftigung mit psychologischen Untersuchungen und deren Verwertung im Unterrichte und in der Erziehung, wenn es auch unmittelbar nicht viel f\u00fcr den Beruf des Lehrers ab werfe.\nIm zweiten Teile seines Vortrages bedauert H\u00f6fler, dafs der selbstst\u00e4ndige Unterricht in der Psychologie (und der gesamten philosophischen Prop\u00e4deutik) in Preufsen in Wegfall gekommen sei, und dafs die Psychologie nur in Verbindung mit dem Deutschunterricht noch ein \u00e4ufserst","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbe?'icht.\n107\nk\u00fcmmerliches Pl\u00e4tzchen habe, dafs auch in \u00d6sterreich der Psychologie in der Schule ein gleiches Schicksal drohe, obwohl sie \u201eeine humanistische Wissenschaft im allereigentlichsten Sinne\u201c sei. Hierin mufs ihm der Referent v\u00f6llig beistimmen und noch darauf hinweisen, dafs unter diesen Verh\u00e4ltnissen auch die Ausbildung f\u00fcr nicht p\u00e4dagogische Berufe (Theologie, Medizin, Rechtswissenschaft) in einem wesentlichen Punkte nur unzureichend sein kann, Ausnahmen nat\u00fcrlich abgerechnet.\nVielleicht ist an dem bedauerlichen R\u00fcckg\u00e4nge auch die herk\u00f6mmliche Unterrichtsmethodik nicht ohne Schuld, insofern die Ergebnisse wenig befriedigende gewesen sein m\u00f6gen. Den Vorschl\u00e4gen, welche H\u00f6fler in dieser Beziehung macht, stimmen wir im allgemeinen zu (vergl. unsere oben namhaft gemachten Ausf\u00fchrungen in dieser Zeitschrift').\nDer ganze H\u00f6FLERSche Vortrag bietet des Beherzigenswerten und Anregenden so viel, dafs es zu bedauern w\u00e4re, wenn er eine Stimme in der W\u00fcste bliebe.\tUfer (Altenburg).\nA. Brodbeck. Leib und Seele. Hannover-Linden. Manz & Lange. 1894. 45 S.\nDie im Feuilletonstil gehaltene, interessante Schrift setzt es sich zur Aufgabe, das \u201epsycho-physiologische Grundgesetz der Doppelbewegung von Innen nach Aufsen und von Aufsen nach Innen\u201c zu erl\u00e4utern. W\u00e4hrend das zweite Kapitel, welches die Wirkung von Innen nach Aufsen bespricht, sein Thema nicht umfassend genug behandelt, ist im dritten Kapitel die Wirkung des \u00c4ufseren auf das Innere genauer durchgef\u00fchrt: Das Annehmen einer bestimmten Geberde, Haltung, Bewegung zieht auch eine entsprechende Ver\u00e4nderung des psychischen Gesamthabitus nach sich. Auch die \u00e4ufsere Umgebung, die Familie, Dorf, Land wirken bestimmend auf das Innere. Die Menschenkenntnis besteht in der F\u00e4higkeit, fremde Z\u00fcge, Bewegungen und dergl. irgendwie an sich selbst zu kopieren und dadurch zu lernen, welches Innere solchem Aufseren entspricht. Alles, was man Sehergabe, Gedankenlesen nennt, ist auf diesen Vorgang zur\u00fcckzu f\u00fchr en. Ein fein angelegter Mensch braucht einen anderen nur einen Moment lang zu sehen, um das Gesicht und Wesen des Anderen innerlich selbst zu erfassen, physiologisch zu mimen und von da aus genau auf dieselben Gedanken, Gef\u00fchle und Zust\u00e4nde zu kommen, wie das Original sie hatte. Solche sensible Menschen werden Medien genannt, Durch Fixieren und sonstiges Imponieren kann man seine Gedanken und damit seinen eigenen Willen auf Andere mit Sicherheit \u00fcbertragen, sofern Andere gen\u00f6tigt werden, unwillk\u00fcrlich dieselbe Haltung, dieselben Mienen anzunehmen, was dann auf deren Inneres mit Notwendigkeit wirkt.\nDie Behauptung des Verfassers, dafs die Sch\u00e4fer dadurch, dafs sie die Tiere tausendf\u00e4ltig anschauen und sich dabei in deren Wesen und Eigenheiten versenken, schafsn\u00e4sig, die Fleischer schweins\u00e4ugig u. s. w. w\u00fcrden, ist unrichtig. Dieser Vorgang scheint mir \u00fcberhaupt nur dann m\u00f6glich zu sein, falls es erbliche Sch\u00e4fer- und Fleischergeschlechter g\u00e4be. Ferner wird behauptet, dafs der metaphysische Glaube durch h\u00f6here Gesamtkultur \u201eheilbar\u201c sei. Auch das halte ich f\u00fcr unrichtig.","page":107}],"identifier":"lit29510","issued":"1895","language":"de","pages":"104-107","startpages":"104","title":"A. H\u00f6fler: Was die gegenw\u00e4rtige Psychologie unserm Gymnasium sein und werden k\u00f6nnte. Vortrag, gehalten in der p\u00e4dagogischen Sektion der 42. Versammlung deutscher Philologen und Schulm\u00e4nner in Wien 1893. Selbstverlag des Vortragenden. Wien 1893. (Sonderdruck aus den Verhandlungen der 42. Philologenversammlung. Leipzig, Teubner)","type":"Journal Article","volume":"8"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:32:18.596989+00:00"}