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{"created":"2022-01-31T13:43:08.968489+00:00","id":"lit29512","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Bruchmann, K.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 8: 108-110","fulltext":[{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108\nLitteraturbericht\nDenn jede harmonische Ausbildung des menschlichen Geistes schliefst auch die Kultivierung des dem Menschen fest eingewurzelten, religi\u00f6sen Gef\u00fchles in sich, welches im Glauben an das G\u00f6ttliche seine St\u00fctze findet. Je weiter aber die Kultur fortschreitet, um so bestimmter und gekl\u00e4rter mufs auch dieses Gef\u00fchl werden, falls die Entwickelung eine harmonische ist. Der Glaube an Gott kann daher wohl die mit h\u00f6herer Kultur verbundenen sittlichen Sch\u00e4den heilen, aber nicht umgekehrt eine h\u00f6here Gesamtkultur den metaphysischen Glauben.\nZum Schlufs giebt der Verfasser auf Grund des Gesagten noch einige beherzigenswerte Kegeln.\tMax Giessler (Erfurt).\nAlfred Fouill\u00e9e. La psychologie des id\u00e9es-forces. I. 365 u. XL, II. 415.\nParis, F\u00e9lix Alcan, 1893.\nW\u00e4hrend die psychophysische Behandlung der Psychologie, gest\u00e4rkt durch das tr\u00f6stliche Ideal der Exaktheit, m\u00fchsam nach den Wurzeln der Erkenntnis sucht und sich nicht selten, wie der Mikroskopiker, mit einem kleinen Gebiete der Forschung begn\u00fcgt, geh\u00f6rt F. zu den Psychologen, die den Menschen in der F\u00fclle seines Wesens f\u00fcr die psychologische Erkenntnis verwerten woollen. Freilich ist kein geistiger Vorgang ohne Nervenvorgang denkbar, aber umgekehrt stehen alle physiologischen Prozesse in einem, wenn auch nicht immer klar gef\u00fchlten, Zusammenh\u00e4nge mit dem Kerne unseres Wesens, der als Streben, Wille (zum Leben), Hinwendung zur Lust und Abwendung von Unlust sich darstellt (z. B. I. 251). Die psychologischen Vorg\u00e4nge sind daher, je primitiver, desto mehr, aus jener Wurzel unseres Wesens abzuleiten (I. 126, II. 15, 242). In Struktur und Farbe, k\u00f6nnte man sagen, erinnern sie an jene, statt wie abstrakte Fr\u00fcchte am Baume des Lebens zu erscheinen, denen man ihre Verwandtschaft mit der Wurzel nicht mehr anmerkt. Daher hat die Psychologie'\u00fcberall, in niederen wie h\u00f6heren Erscheinungen (I. 228), mindestens nach jener Beimischung des Ursprungs zu fragen, wo m\u00f6glich sogar in den h\u00f6chsten Ideen ein sinnliches Kesiduum aufzusp\u00fcren (I. 244, 298, II. 37, 57). Wie sich die Sitten als organisch bedingte, stabil gewordene, der Gesamtheit n\u00fctzliche Instinkte darstellen, so sind die Empfindungen, Vorstellungen u. s. w. ein Ergebnis aus der Keaktion (1. 73) subjektiven Strebens und den Forderungen des Lebens, eine Kesultante der Anpassung, wie sie f\u00fcr die Existenz erforderlich und in ihr wirksam (force) ist. Somit haben wir die Wirksamkeit des Gedankens in und aufser uns zu erkennen, denn die geistigen Zust\u00e4nde haben, wegen der radikalen Einheit des Physischen und Psychischen (II. 6, 245), eine innere und davon unzertrennliche \u00e4ufsere Wirkung. Die geistigen Ph\u00e4nomene sind urspr\u00fcnglich nicht Vorstellungen, sondern Strebungen, welche, gef\u00f6rdert oder gehemmt, von Lust- oder Unlustempfindungen begleitet sind. Denken und Wollen sind unzertrennlich. Unterscheidung, Gef\u00fchl und Keaktion, urspr\u00fcnglich eins, entwickeln sich zu Intelligenz und zum Willen im engeren Sinne (II. 223, I. 132, 301). Jeder Bewufstseinszustand ist id\u00e9e, insofern er eine Unterscheidung, Kraft aber, insofern er eine Wahl (pr\u00e9f\u00e9rence) enth\u00e4lt, so dafs die Welt der Vorstellungen auch eine Welt bewegender Bilder ist (II. 19). Ohne","page":108},{"file":"p0109.txt","language":"de","ocr_de":"Li it\u00e9ra turbericht.\n109\ndas \u00bbInteresse des Subjektes ist die Entwickelung des Denkens nicht begreifbar, sodafs man fast sagen kann, dafs die Psychologie Studium des Willens ist (XXXIX. I. 19, II, 211), obgleich der Wille an sich geistige Th\u00e4tigkeiten nicht verursachen k\u00f6nne (I. 261).\nAllgemeinste Eigenschaft des Bewufstseins ist ein Grad oder eine Intensit\u00e4t und aufser dem qualitativen Element ein dynamisches. Verfasser behandelt nun im I. und II. Buch die Empfindungen und ihre Eigenschaften (I. 17 f., II. 22 f.) ihr Verh\u00e4ltnis und das der Erregung (\u00e9motion) zum Streben (app\u00e9tit) und zur Bewegung (vgl. I. 203); die Pr\u00e4ge nach dem Indifferenzpunkt der Empfindung (I. 67, 89); Lust und Unlust in ihren Delationen (I. 59) und Arten (II. 214), ihr Verh\u00e4ltnis zu niederen und h\u00f6heren Sinnen (I. 84) und die Frage, ob Lust nur aus Bed\u00fcrfnis entsteht (I. 86 f.); er verneint, dafs der Schmerz der Weltbeweger ist (I. 94, 103, 204), und entscheidet sich dahin (I. 109), dafs Lust und Schmerz ihre fundamentalen (irr\u00e9ductibles) Qualit\u00e4ten haben, so dafs sie nicht blofs Ph\u00e4nomene der Intensit\u00e4t oder blofse Delationen zwischen Thatsachen des Bewufstseins sind, denen allein Dealit\u00e4t und Wirksamkeit zuk\u00e4me. Das III. Buch ist dem Ged\u00e4chtnis gewidmet. Seinen Keim (die Lokalisierungstheorie mufs man beim Verfasser nach-lesen) habe man in der fundamentalen Eigenschaft der Zellen zu suchen, im reagierenden Streben, begleitet von mehr oder weniger angenehmer oder unangenehmer Erregung (I. 194 f.); ein Gedanke (id\u00e9e), als Akt des Intellekts, k\u00f6nne nicht unbewufst existieren, sondern nur unter analogen Bedingungen wieder entstehen (I. 197). Folgt die Frage der Assoziation (I. 209, 215), der Apperzeption (II. 215) und des Wieder-erkennens (I. 242 f., 250 f., 293). Sind wir nun aus dem Gebiete der Sensationen in das der Vorstellungen vorgedrungen, so sind zun\u00e4chst die intellektuellen Operationen zu betrachten, insofern sie mit Sensationen und Strebungen (\u00e9l\u00e9ments sensitifs et app\u00e9titifs) Zusammenh\u00e4ngen (IV. Buch) ; sodann die haupts\u00e4chlichen Ideenkr\u00e4fte des ausgebildeten Bewufstseins: die \u00e4ufsere Welt,- das Ich (II. 69, 75) und Nicht-Ich, der Daum, die Zeit, die Identit\u00e4t und der zureichende Grund, die Naturgesetze, das Deale und Absolute, das Unendliche, die Vollkommenheit; die Verbindung zwischen Gef\u00fchlen und Ideen, ihr Zusammenhang mit Strebungen und Bewegungen (V. Buch); der Wille im engeren Sinne und die Freiheit (VI. Buch). Endlich behandelt das VII. Buch die St\u00f6rungen und Ver\u00e4nderungen des Bewufstseins und des Willens (Schlaf, Hypnotismus u. a.). Ist Bejahung und Verneinung eigentlich Sache des Willens (I. 139, 160), so liegt auch die Wurzel von Ich und Nicht-Ich in der Thatsache des Strebens und seiner Begrenzung (II. 16 f., 69, 75, 209). Unter den drei m\u00f6glichen Daumtheorien entscheidet sich Verfasser f\u00fcr die \u201eextensivistische\u201c, wonach es eine r\u00e4umliche Qualit\u00e4t giebt, eine unmittelbar durch die Erfahrung in den Sensationen gegebene Extensit\u00e4t, welche schliefslich in der geistigen Bearbeitung zum Begriff des Daumes wird (II. 21 f.). Wie es im Be-wufstsein eine Weise gebe, welche der k\u00f6rperlichen Intensit\u00e4t entspricht, so m\u00fcsse es darin auch eine urspr\u00fcngliche Weise geben, welche der k\u00f6rperlichen Ausdehnung entspricht. Obgleich auch diese Qualit\u00e4t des","page":109},{"file":"p0110.txt","language":"de","ocr_de":"110\nLitteraturberieht.\nBewufstseins irr\u00e9ductible ist, so sei sie nicht eine Form a priori (II. 28), ebensowenig wie die Eigenheit, blau zu empfinden, oder Zahnschmerz u. s.w. (II. 30 f., 35). Da der Baum die allgemeine M\u00f6glichkeit des Geschehens ist, so wird seine Vorstellung in uns zur id\u00e9e-force (II. 64). Auch die Zeit h\u00e4nge mit dem Willen zusammen. Will man sie eine Form nennen, so sei sie zun\u00e4chst Form des Strebens, nicht des Denkens (II. 94). Das Gef\u00fchl der Gegenwart ist verkn\u00fcpft mit der Erf\u00fcllung des Willens gleichsam durch eine Beute, das der Vergangenheit mit dem Entwischen der Beute, das der Zukunft mit der Begierde danach. Auch die Zeit wird zur id\u00e9e-force (II. 127 f.). Endlich sind die Formen des Denkens nichts als die wesentlichen Funktionen des normalen Willens, denen die wesentlichen Formen des physiologischen Lebens entsprechen (II. 210). Eine Definition des Willens (II. 266, 279), der Freiheit (II. 290).\nWird sich der Leser bei dieser kleinen Skizze einer \u201evolitionistischen\u201c Psychologie an manche verwandten deutschen Vorstellungen erinnern, an Schopenhauer, sogar an Fichte (den \u00fcbrigens der Verfasser erw\u00e4hnt), undj trotz des Widerspruchs und vieler thats\u00e4chlicher Abweichungen des Verfassers, an Herbart, so ist doch Fouill\u00e9e eigen die unerbittliche Konsequenz der Durchf\u00fchrung im einzelnen und die unverdrossene und sehr eingehende Kritik an vielen Anderen. Man kann sagen, dafs er kaum eine neuere Dichtung unbeachtet und unbeurteilt l\u00e4fst, was den lehrreichen Eindruck seines Werkes erh\u00f6ht. Seine Darlegungen sind lebhaft und anregend. Ich glaube, dafs das Werk auch von Anderen mit Interesse und vielfacher Zustimmung gelesen werden wird. Es ist eine Psychologie aus dem Vollen. Der Kritik werden wohl (aufser den ewigen Fragen von Daum und Zeit) zwei Punkte unterliegen: 1. die Theorie vom Ged\u00e4chtnis und 2. die Anschauung von der beschr\u00e4nkten Spontaneit\u00e4t des Geistes, obgleich Verfasser dieser gelegentlich einige Zugest\u00e4ndnisse macht (I. 226\u2014229, II. 378, 31), wie um sie zu tr\u00f6sten, dafs er ihr nicht alles nehmen will. Besonders stimme ich des Verfassers Anschauung vom Prinzip des kleinsten Kraftmafses bei (I. 5, 7, 257, 358), die ich meinerseits f\u00fcr ein gewisses Gebiet der Sprachgeschichte zu verwerten gesucht habe.\nK. Bruchmann (Berlin).\nJ. Me Keen Oattell. Mental Measurement. Philos. Bevieiu. Bd. II. S. 316\u2014332. (Mai 1893.)\nVerfasser er\u00f6rtert in klarer, \u00fcbersichtlicher Darstellung die verschiedenen M\u00f6glichkeiten der Messung in der Psychologie, ohne wesentlich Neues zu bringen. Er bespricht nacheinander die statistischen Methoden, die Messung der Zeit psychischer Vorg\u00e4nge, der Intensit\u00e4t von Empfindungen und Gef\u00fchlen und derjenigen psychischen Faktoren, welche der r\u00e4umlichen Ausdehnung entsprechen. Ein Mafs der Lust und Unlust sucht er in Verfolgung FECHNERScher Ideen aus der Bevorzugung zu gewinnen. Zum Schlufs stellt er noch als mefsbare Gr\u00f6fse die \u201ecomplexity\u201c eines psychischen Vorganges, etwa eines Gef\u00fchls, auf d. h. die Zahl der in Anspruch genommenen psychischen Elemente.\nJ. Cohn (Leipzig).","page":110}],"identifier":"lit29512","issued":"1895","language":"de","pages":"108-110","startpages":"108","title":"Alfred Fouill\u00e9e: La psychologie des id\u00e9es-forces. I. 365 u. XL, II. 415. Paris, F\u00e9lix Alcan, 1893","type":"Journal Article","volume":"8"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:43:08.968495+00:00"}