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{"created":"2022-01-31T13:52:09.714145+00:00","id":"lit29519","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Edinger","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 8: 119-122","fulltext":[{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturbericht.\n119\nausf\u00fchrliche Monographie \u00fcber den ganzen Gegenstand wird in Aussicht gestellt.\tZiehen (Jena).\nGeorg Hirth. Die Lokalisationstheorie angewendet auf psychologische Probleme. Beispiel: Warum sind wir zerstreut? Vortrag, gehalten in der M\u00fcnchener psychologischen Gesellschaft. M\u00fcnchen, G. Hirths Verlag. 1894. 73 S.\nZur m\u00f6glichsten Klarstellung der psychologischen Erscheinungen kann man zwei Wege mit verschiedenen Ausgangspunkten einschlagen. Man kann diese Erscheinungen selbst studieren und sie auf die einfachsten Verh\u00e4ltnisse zu reduzieren suchen \u2014 dieser Weg ist der bisher fast allein begangene \u2014 oder man kann, vom Gehirnbau ausgehend, untersuchen, wie sich, vorausgesetzt, dafs Aufbau und Verbindungen gen\u00fcgend bekannt sind, die Leistungsm\u00f6glichkeiten gestalten. Der letztere Weg ist aus naheliegenden Gr\u00fcnden bisher kaum beschritten. Isoliert und ohne B\u00fccksicht auf die Ergebnisse, welche die erstere Untersuchungsweise zu Tag gef\u00f6rdert hat, ist er auch heute jedenfalls noch nicht beschreitbar. Immerhin scheint es an der Zeit, zu untersuchen, wie weit er heute schon f\u00fcr die Erkenntnis psychologischer Vorg\u00e4nge f\u00f6rderlich werden kann.\nMeynerts Arbeiten haben hier, wie in so vielem anderen, den Wegweiser gegeben, und bereits haben einzelne Psychiater versucht, bestimmte Formen von Seelenst\u00f6rungen direkt zu erkl\u00e4ren durch St\u00f6rung bestimmter Eindengebiete, durch Unterbrechung einzelner wohlbekannter Assoziationsbahnen. Am weitesten sind bisher die Erhebungen gediehen, welche den Vorgang der Sprache und der zentralen, beim Sehen vor sich gehenden Prozesse betreffen. Man ist nahe daran, Voraussagen zu k\u00f6nnen, was f\u00fcr seelische Ausfallerscheinungen bei Zerst\u00f6rung bestimmter, dem seelischen Vorg\u00e4nge des Sehens dienender Apparate eintreffen werden, und ist nicht weit entfernt von der M\u00f6glichkeit, diese Vorg\u00e4nge, deren Erscheinungsweise vielfache Beobachtung kennen gelehrt hat, zu pr\u00fcfen an den anatomischen Unterlagen, ja von diesen Unterlagen wieder aut neue M\u00f6glichkeiten seelischen Geschehens zu schliefsen. Ein weiteres Beispiel mag zeigen, wohin diese kurze Deduktion zielt. Die beobachtende Psychologie mag den Eiechvorgang, die Eiechempfindung und die an Geruchsempfindungen sich anschliefsenden Assoziationen untersuchen, sie mag diese Vorg\u00e4nge beim Menschen und, wenn m\u00f6glich, bei Tieren studieren, immer wird ihr zum mindesten ein f\u00f6rdernder Hinweis aus Untersuchungen werden, welche zeigen, wie grofs oder wie klein, wie einfach oder wie kompliziert diejenigen Eindenteile bei den einzelnen Arten sind, welche der seelischen Verwertung der Eiechempfindung dienen. Dann wird sich der Schlufs als gerechtfertigt erweisen, dafs Tiere, denen trotz Vorhandenseins des Eiechapparates die Eiechrinde fehlt, nicht solcher weitgehenden seelischen Verwertung von Eiech-eindr\u00fccken f\u00e4hig sind wie andere, deren Eiechapparat durch die mannigfachsten Assoziationsbahnen mit anderen Eindengebieten verkn\u00fcpft ist. Man wird aus der allgemeinen Kenntnis von der Bedeutung der Bindenzentren und der anatomisch gewonnenen Anschauung ihrer relativen","page":119},{"file":"p0120.txt","language":"de","ocr_de":"120\nLitteraturbericht.\nAusbildung schliefsen d\u00fcrfen auf die Leistungsf\u00e4higkeit in psychologischen Vorg\u00e4ngen. Wenn in der Tierreihe zuerst hei den Reptilien sich eine wohlausgebildete Hirnrinde zeigt, und wenn die Anatomie darthut, dafs diese ganz vorwiegend nur mit dem Riechapparat verkn\u00fcpft ist, so wird der Schlufs nicht anzufechten sein, dafs die \u00e4lteste Rindenth\u00e4tigkeit bei der seelischen Verwertung von Riecheindr\u00fccken einsetzt. Dieser Schlufs ist dann ebenso fest ziehbar, als er sich etwa aus der Beobachtung \u2014 m\u00fchsam genug w\u00e4re sie \u2014 von Reptilien im Vergleich zu den rindenlosen Fischen ergeben w\u00fcrde. So erscheint die Ansicht wohl gerechtfertigt, dafs der Psychologie nicht nur auf dem Wege der Beobachtung seelischer Vorg\u00e4nge ein Fortschritt erw\u00e4chst, sondern auch aus der M\u00f6glichkeit, dafs Leistungen aus dem Aufbau des Seelen organes heraus erschlossen werden k\u00f6nnen. Namentlich da wird sich diese Art der Untersuchung als n\u00fctzlich erweisen, wo die Funktionen, welche sich an die normale Existenz ganz bestimmter Rindenteile kn\u00fcpfen, bereits besser bekannt sind.\nIch glaube, dafs man wohl berechtigt ist, aus der gr\u00f6fseren Ausbildung des Occipitallappens etwa oder der Rindenpartien um die Zentralfurche auf die M\u00f6glichkeit gr\u00f6fserer seelischer Leistungsf\u00e4higkeit mit den Augen oder etwa mit den Extremit\u00e4ten zu schliefsen. Beim Elefant finde ich z. B. dorsal von den Rindenpartien, welche lokali-satorisch als Zentren f\u00fcr das Antlitzgebiet bekannt sind und dicht am kaudalen Pole der zweiten Stirnwindung ein grofses Rindenfeld, welches dem Nashorne vollst\u00e4ndig fehlt und auch sonst nirgends analog zu sehen ist. Es entspricht wohl dem psychischen Zentrum f\u00fcr die seelische Verwertung der R\u00fcsselbewegungen. W\u00fcfste ich gar nichts von diesen F\u00e4higkeiten, so w\u00e4re dennoch der Schlufs gerechtfertigt, dafs irgendwo im mimischen Gebiete bei diesem Tiere eine besonders grofse M\u00f6glichkeit zu auf Erinnerung einge\u00fcbten Bewegungen vorhanden sein mufs, ja es liefse sich, wenn man alle Verbindungen des R\u00fcsselfeldes kennte, recht wohl ermitteln, was alles das Tier mit seinem R\u00fcssel ausf\u00fchren k\u00f6nnte. Beobachtung der Funktion und Beobachtung des Organes, an welche diese gekn\u00fcpft ist, wirken einander erg\u00e4nzend f\u00f6rdernd.\nEs ist nun kein Zweifel, dafs man bisher eifrig in der Beobachtung der Erscheinungen des Seelenlebens begriffen, noch den Nutzen nicht gen\u00fcgend gew\u00fcrdigt hat, der f\u00fcr ihre Klarstellung aus den erw\u00e4hnten Wechselbeziehungen zu erreichen ist. \u00dcberall finden sich zwar schon Ans\u00e4tze, aber so recht zielbewufst ist man anscheinend noch nicht vorgegangen. Namentlich ist von den nun einmal sicher gestellten That-sachen der Rindenlokalisation und von den anatomischen Erfahrungen \u00fcber die Gr\u00f6fsenbildung der einzelnen Rindenfelder noch nicht der volle Vorteil gezogen. Versucht man aber einmal, sich hier nicht halb, sondern ganz auf den Boden des bereits Ermittelten zu stellen, so ergeben sich f\u00fcr viele Dinge relativ einfache Verh\u00e4ltnisse, und in noch mehreren erheben sich neue Fragen, deren Beantwortung nicht allzuschwer sein und zur weiteren Klarstellung vieler kaum noch in Begriff genommener Teile der Seelenlehre beitragen wird. Diesen Versuch macht die treffliche kleine Schrift, welche hier angezeigt werden soll. Ich m\u00f6chte sie","page":120},{"file":"p0121.txt","language":"de","ocr_de":"Litter a turbericht\n121\neher als ein Programm, denn als eine Darstellung der ganzen Lehre\nansehen. Dafs sie anregend, kl\u00e4rend und f\u00f6rdernd wirken mufs, das ist\n\u2022 \u2022\ndes Deferenten \u00dcberzeugung. Sie soll deshalb zur Lekt\u00fcre im Original empfohlen sein, und nur aus ihrem ersten Teile, der die prinzipiellen Anschauungen des Verfassers enth\u00e4lt, mag das Wichtigste hier angef\u00fchrt werden, damit der Leser erkenne, wie der Verfasser sich zu seiner Aufgabe stellt, wie er sich die Grundlinien denkt, auf denen die von ihm vertretene Dichtung weiter bauen wird.\nDie gesamte Seelenth\u00e4tigkeit kn\u00fcpft f\u00fcr Hirth an die normale Existenz einer Anzahl von Dindenfeldern, welche zusammen die Hirnoberfl\u00e4che einnehmen. Er untersucht nun, wie weit sich, wenn man einmal auf diesem lokalisatorischen Standpunkte steht, einzelne psychologische Probleme aufkl\u00e4ren. Alle Dindenzentren sind eines relativen Eigenlebens f\u00e4hig, und dieses Eigenleben l\u00e4fst sich an sich und ziemlich isoliert studieren. So k\u00f6nnte man die Th\u00e4tigkeit der Sehzentren, ihre Assoziationsm\u00f6glichkeiten, ihre F\u00e4higkeit, Eindr\u00fccke zur\u00fcckzuhalten oder wieder zu reproduzieren, f\u00fcr sich allein studieren und dann etwa von einer Psychologie des gesamten Sehorganes sprechen. Durch Ein\u00fcbung, durch Erziehung k\u00f6nnen die einzelnen Sensorien, splanchnischen Projektionsfelder und Deflexzentren nebeneinander zu sehr verschiedener Entwickelung kommen. Neben einschlagenden anatomischen Beobachtungen zeigt schon die einfache Beobachtung an uns selbst und an anderen, wie aufserordentlich verschieden das Wahrnehmungsverm\u00f6gen, das Wieder er kennen, der Bildervorrat, die Dauerhaftigkeit der Erinnerungen etwa im Bereich des Gesichtssinnes sind. Das Fortschreiten der einzelnen Teile, in welche Hirth die Psyche zerlegt, ist entwickelungsgeschichtlich kein gleichartiges, sondern es erfolgt in mehreren Deihen. Ganz ebenso erfolgt (Deferent) die Entwickelung des Hirnmantels in der Tierreihe. Die physiologischen Bedingungen des Seelenlebens \u2014 Verfasser nennt sie die \u201eTemperamente der Ged\u00e4chtnisprovinzen\u201c \u2014 sind f\u00fcr verschiedene Zentren beim gleichen Menschen verschiedene. Das Einheitstemperament setzt sich aus einer ganzen Anzahl verschiedener Temperamente-zusammen. Auch die Leichtigkeit, mit der eine Ged\u00e4chtnisprovinz von der anderen angesprochen wird, die Bahnung der Assoziation, wird f\u00fcr verschiedene Menschen und f\u00fcr verschiedene Zentren des gleichen Menschen eine sehr verschiedene sein k\u00f6nnen. Trotz der relativ geringen Anzahl von Einzelzentren wird die M\u00f6glichkeit, dafs je zwei oder mehrere Zusammenwirken \u2014 und wir arbeiten nie mit einem Zentrum isoliert \u2014, eine aufserordentlich grofse sein k\u00f6nnen. Diese Kombinationen bezeichnet der Verfasser als \u201eMerksysteme\u201c und er zeigt, wie man die fortschreitende Erweiterung der Ichsynthese unter dem Gesichtspunkt solcher Systeme erkl\u00e4rbar machen k\u00f6nnte. Die Dindenteile, welche Tr\u00e4ger der \u201eGrundged\u00e4chtnisse\u201c sind, besitzen alle die F\u00e4higkeit, fortw\u00e4hrend, bewufst und unbewufst, \u201eaufnehmen\u201c zu k\u00f6nnen. Diese F\u00e4higkeit bezeichnet H. als Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit ist eine immer fortlaufende, es gehen fortw\u00e4hrend Leistungen der Merksysteme vor sich, von denen nur ein kleinster Teil zur Bewufstseins-h\u00f6he gelangt. \u201eEs denkt\u201c st\u00e4ndig in uns, auch ohne dafs wir es wollen","page":121},{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"122\nLitteraturbericht.\nund wissen, und infolge dieses unbewufsten Denkens vollzieht sich ein grofser Teil unserer Handlungen gleichfalls ohne Bewufstsein. \u201eDie Worte Aufmerksamkeit, Bewufstsein, Wille gehen nur einen gewissen biologischen Mafsstab f\u00fcr die St\u00e4rke und Ordnung der vorausgesetzten Spannungen.\u201c Das, was wir darunter begreifen, ist von dem Inhalte der Gef\u00fchle etc. nat\u00fcrlich gar nicht trennbar. Auch das Bewufstsein ist nur ein \u201ePh\u00e4nomen\u201c des B\u00fchlens und Denkens. Es ist nicht Erzeuger und Tr\u00e4ger der Ichsynthese, sondern Ausdrucksform derselben. Es ist nur eine Phase des psychischen Lebens und nicht dies Leben selbst.\nDie Vererbung, die Entwickelung, die Ein\u00fcbung vor allem der Bindenzentren erf\u00e4hrt Ber\u00fccksichtigung. Das Ichbewufstsein leitet Verfasser aus den peripheren Eindr\u00fccken ab, die an die Zentren gelangen, und er kommt zu der Ansicht, dais Menschen denkbar w\u00e4ren, die nur mit einem einzigen Zentrum denkf\u00e4hig, noch Ichbewufstsein h\u00e4tten, dafs also eine Synthese der gesamten Denkprozesse hierzu nicht erforderlich sei. In der That g\u00e4be es Menschen genug, bei denen \u2014 etwa sehr begabten Malern \u2014 die Leistungsf\u00e4higkeit eines einzelnen Seelenzentrums so grofs und einseitig ist, dafs daneben die Th\u00e4tigkeit der \u00fcbrigen Bindengebiete zu einer Stufe herabsinkt, die, verglichen mit anderen Individuen, aufserordentlich klein erscheint. \u201eIch Sehmensch\u201c k\u00f6nnte ein solcher von sich sagen.\nDie Ichsynthese bildet aber nicht ein allzeit geschlossenes psychologisches Ganzes, sondern sie besteht aus vielen mosaikartig zusammengef\u00fcgten Teilen. Nicht alle k\u00f6nnen gleichzeitig in den Zustand des Bewufstseins gerufen werden. Arbeiten wir intensiv mit einer Merkprovinz, so tritt die Th\u00e4tigkeit der anderen unter das INiveau des Bewufstseins oder in geringeres Mafs; wir sind in Bezug auf diese zerstreut. Oft tritt gar kein Merksystem in hervorragende Th\u00e4tigkeit; der Bewufstseinszustand an sich ist dann der Grund der Zerstreutheit. Am Beispiel der Zerstreutheit selbst pr\u00fcft nun der Verfasser nochmals die aufgestellten Ansichten durch. Diese Pr\u00fcfung bildet den Hauptteil der kleinen Schrift. Die Pr\u00e4ge der Zerstreutheit ist auch gew\u00e4hlt, weil dieses in psychologischer und psychiatrischer Beziehung interessanten Zustandes in den Lehr- und Handb\u00fcchern meist nur ganz nebenbei Erw\u00e4hnung geschieht, gewissermafsen als einer Negation der Aufmerksamkeit.\nEdinger (Prankfurt a. M.).\n1.\tJ. Gaule. Der Einflufs des Trigeminus auf die Hornhaut. Centrcilbl. f. Physiol. 1891. Heft 15.\n2.\tJ. Gaule. Wie beherrscht der Trigeminus die Ern\u00e4hrung der Hornhaut? Ebenda. Heft 16.\n3.\tJ. Gaule. Zur Frage der trophischen Funktionen des Trigeminus.\nEbenda. 1892. Heft 13.\n4.\tJ. Gaule. Spinalganglien der Haut. Ebenda. 1892. Heft 22.\n5.\tJ. Gaule. Spinalganglien des Kaninchens. Ebenda. 1892. Heft 11.\n6.\tJ. Gaule. Weitere Experimente an den Spinalganglien und hinteren Wurzeln. Ebenda. 1893. Heft 25.","page":122}],"identifier":"lit29519","issued":"1895","language":"de","pages":"119-122","startpages":"119","title":"Georg Hirth: Die Lokalisationstheorie angewendet auf psychologische Probleme. Beispiel: Warum sind wir zerstreut? Vortrag, gehalten in der M\u00fcnchener psychologischen Gesellschaft. M\u00fcnchen, G. Hirths Verlag. 1894. 73 S.","type":"Journal Article","volume":"8"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:52:09.714151+00:00"}