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{"created":"2022-01-31T13:50:19.907060+00:00","id":"lit29558","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Stern, W.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 8: 308-311","fulltext":[{"file":"p0308.txt","language":"de","ocr_de":"308\nLitteraturbericht.\nTh. Schneider. \u00dcber das Ged\u00e4chtnis f\u00fcr aktive Muskelbewegungen.\nDissert. Dorpat. 1894. (Russisch.)\nEs wurden nach der Methode der mittleren Fehler die Beugehewegungen im Handgelenk hei 3 Personen untersucht. Die Zeitintervalle zwischen den einzelnen Versuchen betrugen V2, 1, 2, 4, 6, 8, 10 und 15 Minuten. S\u00e4mtliche Gelenke des Armes aufser dem Handgelenk, in welchem die Bewegungen vollf\u00fchrt wurden, waren immobilisiert; infolgedessen hatten die Bewegungen die Form eines Kreises (Teile desselben), dessen Radius dem Abstande der Zeigefingerspitze von dem Mittelpunkte des Handgelenkes gleich war. Die vermittelst einer am distalen Ende der Finger befestigten Bleifeder auf Millimeterpapier gezeichneten Bogen wurden durch die entsprechenden Chorden gemessen. Der Umfang der Bewegungen war ein verschiedener und schwankte von 70 bis 100 Millimeter. Die Resultate von mehr als 4000 Versuchen ergaben, dafs das Ged\u00e4chtnis f\u00fcr aktive Bewegungen bei Zeitintervallen bis zu 2 Minuten sehr wenig an St\u00e4rke abnimmt; mit weiterer Zunahme der Zeitintervalle nimmt das Ged\u00e4chtnis an St\u00e4rke langsam und regelm\u00e4fsig ab, aber ein Einflufs desselben ist noch bei Zeitintervallen von 15 Minuten zu konstatieren. Der mittlere Fehler betrug: bei V* Minute Zeitintervall V29, bei 2 Minuten V29, bei 4 Minuten V26, bei 15 Minuten 1/n der zu reproduzierenden Bewegung.\tv. Tschisch (Dorpat).\nG. Runze. Die Psychologie des Unsterblichkeitsglaubens und der Unsterblichkeitsleugnung. Studien zur vergleichenden 'Religionswissenschaft.\nHeft 2. Erster Teil. Berlin, R. Gaertners Verlag, 1894. (IX u. 224 S.).\nWenn Gelehrte, welche nicht Psychologen von Beruf sind, die in ihr Fach geh\u00f6rigen Erscheinungen auf ihre psychischen Grundlagen hin zu erforschen suchen, so leiden derartige Unternehmungen meist an einem bedauerlichen Fehler. Die Verfasser, uneingedenk der Vielgestaltigkeit und Mannigfaltigkeit des geistigen Lebens, suchen aus einem Prinzip, aus einem ihnen besonders naheliegenden Motiv alles zu erkl\u00e4ren, w\u00e4hrend gerade komplexe Erscheinungen erst durch das Ineinanderwirken der verschiedenartigsten psychischen Faktoren in ihrer Eigenart wirklich begriffen werden k\u00f6nnen. Besonders h\u00e4ufig begegnet uns dies auf dem Gebiete der Religions- und Mythenpsychologie; ich erinnere nur an Schwartz, der Witterungseindr\u00fccke, und an Max M\u00fcller, der sprachliche Mifsverst\u00e4ndnisse zum Quell aller Mythenbildung machen m\u00f6chte.\nMit um so gr\u00f6fserer Freude d\u00fcrfen wir ein Buch begr\u00fcfsen, dem dieser Mangel nicht anhaftet, das Buch eines Theologen, der sich als scharfsinniger Psychologe von grofser Objektivit\u00e4t und Vielseitigkeit erweist. Indem Runze die bedeutsame Kulturthatsache des Unsterblichkeitsglaubens auf ihren Ursprung hin untersucht, zeigt er, wie die mannigfaltigsten seelischen Th\u00e4tigkeiten, wie W\u00fcnsche des naiven Menschenherzens und Regungen seiner sittlichen Natur, wie Erzeugnisse der Phantasie und verstandesm\u00e4fsige Reflexion zusammenwirkten, um jenen Glauben zu schaffen, auszugestalten oder auch seine Entstehung zu unterdr\u00fccken.","page":308},{"file":"p0309.txt","language":"de","ocr_de":"Li Ueraturbericht.\n309\nDie ebengenannten vier Momente sind es in der That, die R. in der ersten Abteilung seines Werkes: \u201eDer psychologische Ursprung des Unsterblichkeitsglaubens\u201c zum Einteilungsprinzip der Untersuchung macht ; und sofern man sie nur als heuristische Prinzipien, nicht als gesonderte Seelenverm\u00f6gen betrachtet, kann man dieser Klassifikation wohl zustimmen.\nI.\tDas elementarste Motiv des Unsterblichkeitsglaubens ist der Wunsch, der in verschiedenen Formen auftritt. Er ist egoistisch, auf die Fortdauer des eigenen Lebens gerichtet; und altruistisch, indem er aus Sympathie f\u00fcr unsere Lieben, aus Verehrung f\u00fcr die Grofsen unseres Volkes diesen ein ewiges Leben w\u00fcnscht, und vor allem, was R. merkw\u00fcrdigerweise nicht erw\u00e4hnt, durch die Hoffnung auf ein jenseitiges Wiedersehen den Trennungsschmerz zu lindern sucht. Er ist positiv, ein Haften am Dasein, ein Streben nach dauerndem Gl\u00fccke ; und negativ: Furcht; und diese hat wieder mehrere Wurzeln, sie tritt auf als Furcht vor dem Tode, d. h. dem Nichtssein, als Furcht vor dem Sterben, d. h. den Qualen des Hinscheidens, als Furcht vor den Toten. Die letzte, h\u00f6chste, aber auch sp\u00e4teste Form des Wunsch-motives ist endlich das Ruhmbed\u00fcrfnis, in welchem sich das Streben \u00e4ufsert, die Erinnerung des eigenen Lebens bei anderen zu verewigen.\nII.\tErst an zweiter Stelle kommt die Phantasieth\u00e4tigkeit als Quelle des Unsterblichkeitsglaubens in Betracht, teils als wache, selbstsch\u00f6pferische Einbildungskraft, teils und insbesondere als unwillk\u00fcrliche Traumphantasie. Er\u00f6ffnet uns doch der Traum eine neue Daseinssph\u00e4re, in der oft die nat\u00fcrlichen Schranken von Raum und Zeit \u00fcberschritten sind, eine Welt der Wunder und des \u00dcberirdischen; in noch potenziertem Mafse finden sich \u00e4hnliche Erscheinungen in den ekstatischen Zust\u00e4nden der Vision\u00e4re und Somnambulen. Hier steht man deutlich vor einem zweiten Leben; und sobald einmal die M\u00f6glichkeit eines neben dem nat\u00fcrlichen Leben bestehenden Daseins zugestanden ist, ist auch die Denkbarkeit eines \u00fcber dasselbe hinausdauernden gegeben. Sobald die Seele des Tr\u00e4umenden den schlafenden Leib verlassen zu k\u00f6nnen scheint, kann sie auch eine vom Leibe unabh\u00e4ngige Existenz f\u00fchren. Aber nicht nur darin, dafs der Traum als ein zweites Leben angesehen wird, sondern auch darin, dafs das wache Leben mit seiner Ungewifsheit und R\u00e4tselhaftigkeit als Traum erscheint, kann der Unsterblichkeitsglaube seine Nahrung finden: der Tod bringt dann erst das eigentliche Erwachen. Was endlich den speziellen Inhalt der Tr\u00e4ume anbetrifft, so ist das Erscheinen von Verstorbenen in lebendiger Gestalt eine h\u00f6chst bedeutsame Quelle des Unsterblichkeitsglaubens; im \u00fcbrigen ist der Trauminhalt weniger zur Sch\u00f6pfung, als zur Ausgestaltung jenes Glaubens geeignet, und hier steht er auf einer Stufe mit der wachen Phantasie; denn deren Anteil besteht darin, dafs sie das Jenseits mit alledem ausstattet, was dem Individuum oder Volke am vertrautesten und teuersten ist, und dafs sie bei dieser Ausgestaltung mit schrankenloser Sch\u00f6pfungskraft walten kann. So spielt sie eine zwar wichtige, aber immerhin nur, wie R. mehrfach mit Recht hervorhebt, subsidi\u00e4re Rolle in der psychologischen Entwickelung des \u00dcnsterblichkeitsglaubens.","page":309},{"file":"p0310.txt","language":"de","ocr_de":"310\nLitteraturberichU\nIII.\tAls drittes Moment neben dem praktischen und phantastischen ist das theoretische wirksam. Das Aufh\u00f6ren des irdischen Daseins bot ein Verstandesr\u00e4tsel, das gel\u00f6st sein wollte, und die L\u00f6sung fiel meist nach der Richtung einer TJnsterblichkeitsannahme aus. Die vollkommene Vernichtung erschien ein nicht ausdenkbarer Gedanke ; ein absoluter pl\u00f6tzlicher Abschlufs war unvorstellbar. Ein rein Negatives, ein Nichts als Fortsetzung eines so eminent Positiven, wie das Leben es ist, konnte der Menschengeist nicht fassen. Auch schien das Leben selbst in sich die B\u00fcrgschaft seiner Ewigkeit zu tragen: Leben ist Sein, das Ich ist die \"Welt; in mir selbst habe ich das unmittelbare Bewufst-sein der Existenz ; der Gedanke an eine Nichtexistenz ist ein Ungedanke. Das Auftreten und Wirken derartiger Reflexionen verfolgt R. von un-civilisierten V\u00f6lkerschaften bis zu den modernen Philosophen; bei Ersteren begegnen sie uns zuweilen in interessanten Modifikationen : als Unsterblichkeitspr\u00e4rogative der H\u00e4uptlinge und Edlen (die Vernichtung eines bedeutenden, einflufsreichen Lebens erscheint undenkbarer, als das Erl\u00f6schen eines plebejischen Daseins, das keine Spuren hinterl\u00e4fst), und als Vorstellung vom zweiten Tode (manche V\u00f6lker lassen die abgeschiedenen Seelen noch einmal definitiv sterben, um so dem Vernichtungsgedanken durch allm\u00e4hlichen \u00dcbergang das Unfafsbare zu nehmen).\nIV.\tDie Vergeltung und das sittliche Ideal. Diese beiden Motive kommen, wenn sich auch in den Naturreligionen schon Andeutungen von ihnen finden, doch im allgemeinen erst viel sp\u00e4ter zur Wirksamkeit, als die bisher genannten. Der Vergeltungsgedanke, ausgehend vom verletzten Selbstgef\u00fchl und gipfelnd im sozialen Rechtsbegriff, geht durchaus nicht immer mit dem Unsterblichkeitsgedanken Hand in Hand (wie R. an der \u00e4lteren griechischen Mythologie und am Mosaismus nachweist), aber sie k\u00f6nnen doch, wie das sp\u00e4tere Hellenentum und namentlich das Christentum zeigen, sehr wohl sich vereinigen. Der Rechtsgedanke, zum Ideal erhoben, der f\u00fcr jede gute That eine Belohnung und f\u00fcr jede schlechte eine Bestrafung verlangt, f\u00fchrt mit Leichtigkeit, da auf dieser Welt ja vieles unausgeglichen bleibt, zu einer jenseitigen Vergeltung. Und wenn auch in der h\u00f6chsten Entwickelung des Christentumes der Vergeltungsgedanke wegen seiner egoistischen Seiten zum Teile fallen gelassen wurde, so wird er doch zum anderen Teil auch von theoretischen Forschern noch immer betont und spielt vor allem, wie Verfasser h\u00e4tte hinzuf\u00fcgen k\u00f6nnen, f\u00fcr die praktische Verwertung des Unsterblichkeitsglaubens nach wi\u00eb vor eine bedeutsame Rolle, namentlich bei der grofsen Masse, f\u00fcr die er ebenso als Trost in der Verzweiflung, wie als warnendes Mene tekel gegen die S\u00fcnde wirksam ist. Freilich setzte, wie schon angedeutet, die vollendetste Form des Christentumes an die Stelle des idealen Rechts- den idealen Tugendgedanken, an die Stelle der Vergeltung die g\u00f6ttliche Gnade, an die Stelle ausgleichender Belohnung und Bestrafung das Streben nach dem Aufgehen in g\u00f6ttlicher Vollkommenheit.\nDer zweite, k\u00fcrzere Hajiptteil des Buches behandelt die Negation des Unsterblichkeitsglaubens. Denn dieser Glaube ist nicht, wie","page":310},{"file":"p0311.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n311\nman meist annahm, ein notwendiger Bestandteil jeder Religion ; vielmehr findet er sich in einigen zum Teil hochentwickelten Glaubens-formen, wenn auch nicht immer strikte geleugnet, so doch nicht beachtet oder nur gelegentlich angedeutet. Diese Religionen sind der Mosaismus, der Buddhismus und der Konfucianismus, und Verfasser giebt uns ein anschauliches Bild \u00fcber deren Verhalten gegen\u00fcber dem Unsterblichkeitsglauben, um dann zu ihrer psychologischen Erkl\u00e4rung zu schreiten. Diese Schlufsstelle des Werkes, die Psychologie der Unsterblichkeitsleugnung, wie sie uns bei obigen Religionen und bei einigen philosophischen Systemen begegnet, ist eine der vorz\u00fcglichsten des Buches. R. weist nach, dafs von den zum Unsterblichkeitsglauben f\u00fchrenden Motiven das Wunschmotiv hier fortf\u00e4llt und dafs dadurch die Entstehung des Glaubens verhindert wird. Der Anh\u00e4nger des Konfucius ist (\u00e4hnlich wie der positivistische Philosoph der Neuzeit) Diesseitigkeitsrealist, f\u00fchlt in dem Ausleben dieses Daseins seine volle Befriedigung und verlangt nach nichts Weiterem ; der Buddhist (und der Schopenhauerianer) ist von dem Elend des Daseins so \u00fcberzeugt, dafs ihm dessen Fortdauer ein unertr\u00e4glicher Gedanke ist 5 und endlich die Anh\u00e4nger des alten Mosaismus (und \u00e4hnlich alle Pantheisten) gehen auf in der unendlichen Erhabenheit des Gottesbegriffes, in dem sie volles Gen\u00fcge finden, neben dem sie sich wie ein Nichts f\u00fchlen, vor dessen allgewaltiger Realit\u00e4t der einzelne in Staub versinkt.\nDie hier wiedergegebenen psychologischen Ausf\u00fchrungen (bei deren Skizzierung ich zuweilen der \u00dcbersicht halber ganz wenig von der Anordnung des Verfassers ab wich) werden nun von einem umf\u00e4nglichen Thatsachenmaterial getragen; sie sind mit biblischen und profanen Zitaten und Belegstellen auf das allerreichlichste, an manchen Stellen fast allzureichlich, durchflochten. Alle bedeutenderen Religionen und philosophischen Systeme finden ihre Ber\u00fccksichtigung; vielleicht w\u00e4re auch ein Blick auf die psychologischen Grundlagen des neuzeitlichen Spiritismus, der einen R\u00fcckfall in l\u00e4ngst \u00fcberwundene Formen des Unsterblichkeitsglaubens zu bedeuten scheint, nicht unlohnend gewesen.\nErw\u00e4hnt sei noch zum Schlufs, dafs Verfasser mir manchesmal dem Wirken des sprachlichen Einflusses auf die Gestaltung der Glaubensformen eine zu grofse Bedeutung beizulegen scheint; wir sehen mit Interesse dem angek\u00fcndigten n\u00e4chsten Heft seiner Studien entgegen, welches wohl eine Rechtfertigung seines Standpunktes in dieser Beziehung enthalten wird.\tW. Stern (Berlin).\nMax Dessoir. Zur Psychologie der Vita sexualis. Allgem. Zeitschr. f\u00fcr Psychiatrie. Bd. 50. S. 941\u2014975. (1894.)\nIn der ersten Zeit nach dem Erwachen des Geschlechtstriebes bleibt das Geschlechtsgef\u00fchl ein \u201eundifferenziertes\u201c, d. h. wird nicht auf das von dem eigenen differente Geschlecht bezogen, erst in einem zweiten Stadium tritt die Beziehung zum anderen Geschlecht in den Vordergrund. Es giebt nun pathologische F\u00e4lle, wo das Geschlechtsgef\u00fchl derart \u201eembryonisch\u201c bleibt, dafs es durch die Ber\u00fchrung mit Lebensw\u00e4rme \u00fcberhaupt erregt wird, gleichg\u00fcltig, ob die Ber\u00fchrung vom","page":311}],"identifier":"lit29558","issued":"1895","language":"de","pages":"308-311","startpages":"308","title":"G. Runze: Die Psychologie des Unsterblichkeitsglaubens und der Unsterblichkeitsleugnung. Studien zur vergleichenden Religionswissenschaft. Heft 2. Erster Teil. Berlin, R. Gaertners Verlag, 1894. IX u. 224 S.","type":"Journal Article","volume":"8"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:50:19.907065+00:00"}