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{"created":"2022-01-31T13:47:28.560833+00:00","id":"lit29565","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Lipps, Theodor","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 8: 321-361","fulltext":[{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Gef\u00fchlen, insbesondere den \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen.\nVon\nTheodor Lipps.\nI.\nIch wende mich im Folgenden zuerst gegen Wundts Lehre von den \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen. Indem ich an derselben Kritik \u00fcbe, will ich durch Zur\u00fcckweisung besonders gef\u00e4hrlicher, weil durch besondere Autorit\u00e4t gest\u00fctzter und darum Schule machender Irrt\u00fcmer f\u00fcr eine wissenschaftliche Behandlung der Frage den Boden vorbereiten. Ich gebe damit gleich zu erkennen, dafs ich Wundts Weise nicht als eine wissenschaftlich gen\u00fcgende ansehen kann. In einigen der zu er\u00f6rternden Punkte habe ich bereits anderw\u00e4rts gegen Wundts Aufstellungen Einsprache erhoben. In keinem der fraglichen F\u00e4lle hat sich Wundt entschliefsen k\u00f6nnen, die gegnerischen Einw\u00e4nde zu pr\u00fcfen. Dies h\u00e4lt mich nicht ab, auch auf diese Punkte noch einmal zur\u00fcckzukommen und sie nach bestimmten Richtungen hin zu erg\u00e4nzen. Mir scheint nun einmal der Wissenschaft mehr gedient durch Diskussion der Streitpunkte, als durch Nichtachtung des Gegners und stillschweigendes Hinweggehen \u00fcber die von ihm vorgebrachten Thatsachen und von ihm geltend gemachten Gr\u00fcnde. Ich sage damit nicht, dafs die Nichtachtung des Gegners bei Wundt Grundsatz sei. Wundt ist nur, so meine ich mir die Sache erkl\u00e4ren zu m\u00fcssen, mit seinen Anschauungen allm\u00e4hlich so verwachsen, dafs er fremde Gedanken, ohne es zu wissen und zu wollen, unmittelbar nur unter dem Gesichtspunkte dieser Anschauungen, betrachtet, dafs auch einfache, nackte, von jedermann sofort zu verifizierende Thatsachen, ihm als thats\u00e4chlich oder nicht that-s\u00e4chlich, als beachtenswerte Momente, odet als verwirrender, und darum besser unbeachtet bleibender Schein sich darstellenr\n21\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie VIII.","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322\nTheodor Lipps.\nje nachdem sie seinen Anschauungen sich f\u00fcgen oder mit ihnen unvereinbar erscheinen. Ich finde diesen Sachverhalt bedauerlich, aber menschlich begreiflich.\nIn seiner Lehre von den \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen verweist Wundt zun\u00e4chst auf die schon an einer fr\u00fcheren Stelle der \u201ePhysiologischen Psychologie\u201c angesteilten Er\u00f6rterungen \u00fcber die musikalische Harmonie. In dieser Frage vor allem habe ich mich bereits sehr bestimmt als Wundts Gegner bekannt.1 Hier vor allem liegt mir aber auch daran, meine von W\u00fcndt nicht beachteten Gegengr\u00fcnde zu erg\u00e4nzen. Der Um-stand, dafs Wundts Lehre in der vierten Auflage der \u201ePhysiologischen Psychologie\u201c in einigen Punkten in etwas ver\u00e4ndertem Lichte erscheint, giebt mir dazu unmittelbare Veranlassung.\nDie Harmonie ruht f\u00fcr Wundt \u201eauf einer doppelten, einer metrischen und einer phonischen Grundlage\u201c. Nach dem \u201ephonischen Prinzip\u201c, das ich hier zun\u00e4chst ins Auge fasse, sind es \u201edie unmittelbar empfundenen oder assoziativ erregten Beziehungen der T\u00f6ne auf eine Klangeinheit, welche die haupts\u00e4chlichsten Faktoren des Harmoniegef\u00fchles abgeben\u201c. Ich stelle daneben gleich die fr\u00fchere Erkl\u00e4rung, die den \u201evollst\u00e4ndigen Einzelklang, bestehend aus seinem Grundton und seinen n\u00e4chsten deutlich vernehmbaren Obert\u00f6nen\u201c, als das \u201eGrundgebilde\u201c bezeichnet, \u201evon welchem alle Harmonie der T\u00f6ne ausgeht\u201c. Von dieser Harmonie unterscheidet Wundt die Konsonanz, obgleich auch von ihr gesagt wird, sie sei die \u201eVerbindung mehrerer Kl\u00e4nge zu einer Klangeinheit\u201c. Sie erscheint zusammen mit der Dissonanz und den Schwebungen als ein jene \u201eHarmonie\u201c unterst\u00fctzendes Moment.\nIch habe nun hier zun\u00e4chst gegen die \u201eempfundenen\u201c Beziehungen der T\u00f6ne zu einer Klangeinheit Einsprache zu erheben. Wir begegnen hier einer ersten unter den Fiktionen, die Wundts Lehre von den \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen, man kann fast sagen, konstituieren, und die auch weiterhin in der \u201ePhysiologischen Psychologie\u201c eine so grofse K\u00f6lle spielen. Wenn ich einen Einzelklang h\u00f6re, so h\u00f6re ich einen Einzelklang und nicht, einen Zusammenklang von T\u00f6nen. Ich kann bei gen\u00fcgender Aufmerksamkeit die \u201eTeilt\u00f6ne\u201c heraush\u00f6ren, d. h. die \u201eAufmerksamkeit\u201c kann bewirken, dafs die vorher lediglich\n1 Vergl. Psychologische Studien, Heidelberg 1885.","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre v. d. Gef\u00fchlen, insbesondere d. \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen. 323\npotentiell f\u00fcr mich vorhandenen Tonempfindungen aktuelle werden, dafs diese oder jene hinsichtlich der H\u00f6he unterschiedene T\u00f6ne, die vorher f\u00fcr mein Bewufstsein nicht bestanden, jetzt f\u00fcr mein Bewufstsein da sind. Solange aber keine solche Analyse geschehen ist, solange also der Klang wirklicher Einzelklang ist, bestehen f\u00fcr mein Bewufstsein keine verschiedenen T\u00f6ne, sondern statt der verschiedenen T\u00f6ne, d. h. vor allem statt der Mehrheit nebeneinander bestehender Tonh\u00f6hen stellt sich der eine Klang mit seiner eindeutig bestimmten Tonh\u00f6he meinem Bewufstsein dar.\nSo wenigstens verh\u00e4lt es sich bei mir. W\u00fcndt beschreibt die Sache anders. F\u00fcr ihn besteht die Leistung der Aufmerksamkeit hier wie sonst darin, dafs sie, ohne ihren Gegenstand zu ver\u00e4ndern, Teile an ihm zu \u201eklarer Vorstellung\u201c bringt, andere ins \u201eDunkel\u201c zur\u00fccktreten l\u00e4fst. Es verh\u00e4lt sich ihm zufolge beim Heraush\u00f6ren der Teilt\u00f6ne eines Klanges \u201enicht wesentlich anders, als wenn wir z. B. bei einer Succession einzelner Taktschl\u00e4ge bald vorzugsweise auf die zeitliche Geschwindigkeit der Folge, bald mehr auf die Qualit\u00e4t der einzelnen Kl\u00e4nge achten, wo wir ebenfalls die deutliche Vorstellung haben, dafs die Gesamtvorstellung beide Male die n\u00e4mliche ist, und dafs wir eben nur bald die, bald jene Eigenschaft des Gesamteindruckes vorzugsweise apperzipieren.\u201c\nDiesen S\u00e4tzen scheint mir ein psychologischer Grundirrtum oder zum mindesten eine Unklarheit hinsichtlich einer letzten oder fundamentalsten psychischen Thatsache zu Grunde zu liegen.1 Auch f\u00fcr W\u00fcndt besteht das \u201eBewufstsein\u201c darin, \u201edafs wir \u00fcberhaupt Zust\u00e4nde und Vorg\u00e4nge in uns finden\u201c; auch f\u00fcr Wundt ist das Bewufstsein \u201ekein von diesen inneren Vorg\u00e4ngen zu trennender Zustand\u201c. Verstehe ich Wundt recht, so kann ich seine Meinung auch in dem tautologischen Satze aussprechen, dafs das, wovon ich ein Bewufstsein habe, was also f\u00fcr mich, f\u00fcr meine unmittelbare psychologische Erfahrung da ist, immer nur bestehen kann in Bewufstseinsinhalten oder Bewufstseinsobjekten, dafs es f\u00fcr mich oder f\u00fcr mein Bewufstsein nicht noch aufserdem, als etwas davon Verschiedenes, ein Bewufstsein giebt oder geben kann.\n1 Yergl. \u00fcber das Folgende meine \u201eGrundthatsachen des Seelenlebens Kap. III.\n21*","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"324\nTheodor Tipps.\nIst es nun aber so, ist es eine zugestandene Sache, dafs die Bewufstseinsinhalte oder -objekte das Einzige sind, was f\u00fcr mein Bewufstsein besteht, so leuchtet ein, dafs auch alle Modifikationen, von denen ich ein Bewufstsein habe, die also f\u00fcr meine psychologische Erfahrung bestehen, nur Modifikationen von Bewufstseinsinhalten sein k\u00f6nnen, dafs es mithin keinen Sinn hat, anzunehmen, die Bewufstseinsinhalte oder der Gesamtbestand und Zusammenhang derselben k\u00f6nne v\u00f6llig derselbe bleiben und nur das Bewufstsein von ihnen sich \u00e4ndern, auf einen niedereren Grad herabsinken, weniger deutlich oder deutlicher werden oder wie sonst die Ausdr\u00fccke lauten. Mag sich, w\u00e4hrend die Bewufstseinsinhalte als einzelne und in ihrem Gesamtbestande dieselben bleiben, an und in mir \u00e4ndern was da will \u2014 dafs in solchem Falle f\u00fcr mein Bewufstsein irgend etwas sich \u00e4ndere, dafs irgend eine gleichzeitige \u00c4nderung gegeben sein k\u00f6nne f\u00fcr die psychologische Erfahrung, als unmittelbares inneres Erlebnis, diese Behauptung scheint mir in sich widersprechend. Und nat\u00fcrlich vermindert sich der Widerspruch nicht, wenn man lediglich die Terminologie \u00e4ndert, etwa statt von mehr oder weniger klar bewufsten Inhalten des Bewufstseins, von mehr oder weniger klaren, aber zugleich in ihrem Inhalt unver\u00e4nderten Vorstellungen redet. Denn \u201eich stelle etwas vor\u201c und \u201eich habe ein Bewufstsein von etwas\u201c, dies sagt dasselbe. Auch von der Vorstellung ist dem Bewufstsein nichts gegeben als der Inhalt, wir finden in uns, wenn wir vorstellen, nicht neben dem Inhalt oder davon unterscheidbar eine \u201eVorstellung\u201c vor, die den \u201eInhalt\u201c umschl\u00f6sse. Gewifs giebt es \u201edas Vorstellen\u201c des Inhaltes; d. h. es mufs irgendwie zugehen, dafs ein Objekt jetzt f\u00fcr mich da ist, das vorher f\u00fcr mich nicht da war; nur dafs wir eben hiervon ganz und gar keine unmittelbare Erfahrung haben, dafs also f\u00fcr unser unmittelbares Bewufstsein allerdings das Objekt lediglich da ist, nachdem es vorher nicht da war, ohne dafs wir zugleich von der Art, wie dies gemacht wird, ein Bewufstsein haben. Oder noch etwas anders gesagt: Sehen wir von den Objekten des Bewufstseins ab, so bleibt als Sinn des Wortes \u201eBewufstsein\u201c oder \u201eVorstellung\u201c nur das Dasein der Objekte f\u00fcr mich \u00fcbrig, dies eigent\u00fcmliche \u201eideelle\u201c Dasein. Ihm steht das reale Dasein entgegen. Geht es nun an, dies reale Dasein in Gedanken zu halbieren oder von","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre v. d. Gef\u00fchlen, insbesondere d. \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen. 325\nGraden desselben zu reden? Zweifellos kann etwas \u201ekalb dasein\u201c, d. h. es kann die H\u00e4lfte von ihm dasein, aber das Dasein selbst kann nicht, ohne Verminderung seines Inhaltes, sich vermindern. Ebenso wird es dann auch mit dem ideellen Dasein oder dem Dasein f\u00fcrs Bewufstsein sich verhalten. Ich meine, man braucht der hier bek\u00e4mpften Vorstellungsweise nur klar ins Gesicht zu sehen, um ihre Unm\u00f6glichkeit einzusehen. Bei allem dem leugne ich nat\u00fcrlich nicht, dafs die That-sachen, die man meint, wenn man im gew\u00f6hnlichen Leben von halbbewufsten Objekten, dunklen Vorstellungen u. dgl. redet, wirklich bestehen. Ich bestreite auch der Popularpsychologie des allt\u00e4glichen Lebens nicht das Hecht, bei dieser schiefen Weise der Bezeichnung stehen zu bleiben. Wohl aber bestreite ich der wissenschaftlichen Psychologie das Hecht, solche Bezeichnungen zu sanktionieren und damit den Schein zu erwecken, als sei durch sie die Sache exakt bezeichnet, ich bestreite ihr vollends das Hecht, ausdr\u00fccklich, wohl gar mit dem Anspruch der Selbstverst\u00e4ndlichkeit, zu erkl\u00e4ren, die Sache verhalte sich so und nicht anders.\nStatt solcher Versicherungen sollte die Psychologie vielmehr versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen. Ich meine aber, wer dies thut, wird sich bald \u00fcberzeugen, dafs das Meiste von dem, was man nachtr\u00e4glich als halbbewufst oder unklar vorgestellt bezeichnet, in dem Augenblick, wo es angeblich diese Pr\u00e4dikate verdiente, vielmehr v\u00f6llig unbewufst war, dafs man nur nachtr\u00e4glich meint, es m\u00fcsse wohl irgendwie im Bewufstsein vorhanden gewesen sein, weil die Bedingungen seines Daseins im Bewufstsein, mit Ausnahme der wichtigsten, der \u201eAufmerksamkeit\u201c, allerdings gegeben waren. Im \u00fcbrigen wird sich \u00f6fter das angeblich Halbbewufste als ein solches ausweisen, das halb, d. h. nur zur H\u00e4lfte im Bewufstsein war, das Minderbewufste oder unklar Vorgestellte als ein solches, dessen Inhalt l\u00fcckenhaft war, statt der ihm unter anderen Umst\u00e4nden eigenen bestimmten Umrisse und scharfen Grenzen verschwommene Umrisse und Grenzen, statt der starken Gegens\u00e4tze geringe Unterschiede an sich trug, statt stetig sich gleich zu bleiben, unsicher schwankte. Oder man wird finden, dafs das vermeintlich \u201eim dunklen Hintergr\u00fcnde des Bewufstseins\u201c Weilende im Bewufstsein auftrat, nur um alsbald wieder daraus zu verschwinden, dafs es wegen seiner Be-","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326\nTheo dm' Lipps.\ndeutungslosigkeit f\u00fcr den gleichzeitigen psychischen Gesamtzustand, oder weil die Seele von Anderem v\u00f6llig in Anspruch genommen war, die Seele nicht sp\u00fcrbar affizierte, also mit keinem merkbaren Gef\u00fchle des Interesses oder der subjektiven Anteilnahme positiver oder negativer Art sich verband, dafs es endlich, was damit unmittelbar zusammenh\u00e4ngt, keine anderweitigen zu ihm geh\u00f6rigen und mit ihm in unmittelbare bewufste Beziehungen tretende Vorstellungen erregte, nicht Gegenstand der Frage, nicht Ausgangspunkt f\u00fcr Gedanken oder Willensakte wurde, kurz : dafs es zwar da war, aber isoliert blieb, wie ein fl\u00fcchtiger Fremdling innerhalb der Seele und ihrer Objekte und Interessen sich darstellte.\nAus allem dem scheint mir dann auch hinl\u00e4nglich begreiflich, wie nachtr\u00e4glich, in der Erinnerung, der Gedanke eines bewufsten Daseins, das doch kein v\u00f6llig bewufstes gewesen sei, entstehen kann. In der That waren ja die fraglichen Bewufstseinsinhalte nicht so im Bewufstsein, wie die entsprechenden \u201evollbewufsten\u201c, d. h. sie waren nicht als gleich vollst\u00e4ndige oder gleich geartete Inhalte im Bewufstsein, sie spielten vor allem darin nicht dieselbe Bolle, sie standen weder zu anderen Inhalten noch zum \u201eIch\u201c in der gleichen Beziehung. Daraus machen wir dann, ohne uns viel zu besinnen, ein halbes oder unvollst\u00e4ndiges Bewufstsein. Auch sonst machen wir ja aus der Existenz, die f\u00fcr das Existierende oder die sonstige Welt nicht viel bedeutet, eine halbe Existenz. Es geh\u00f6rt eben dahin, wenn wir die \u201eklarste\u201c sinnliche Wahrnehmung, die ein unvollst\u00e4ndiges Objekt zum Inhalt hat, eine unvollst\u00e4ndige Wahrnehmung des (ganzen) Objektes nennen. Die \u201ehalb-bewufstenw Objekte, so verdeutlichen wir uns den Hergang wohl am richtigsten, waren thats\u00e4chlich ihrem Wesen und ihrer Wirkung nach andere, als die entsprechenden \u201evollbewufsten\u201c ; aber wir sind geneigt, nachtr\u00e4glich, wenn wir den gesamten Be-wufstseinszustand, dem sie angeh\u00f6rten, und ihre Stellung innerhalb desselben uns vergegenw\u00e4rtigen, diese Stellung so zu deuten oder uns verst\u00e4ndlich zu machen, dafs wir fingieren, sie seien v\u00f6llig dieselben gewesen, wie sonst, und nur das Bewufstsein oder ihr Dasein im Bewufstsein habe eine Verminderung erfahren. Damit haben wir dann eine Betrachtungsweise gewonnen, die den Vorzug der gr\u00f6fstm\u00f6glichen Einfachheit besitzt. Mit H\u00fclfe dieser Fiktion ist die Sache am raschesten gedacht und am","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre v. d. Gef\u00fchlen, insbesondere d. \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen. 327\nk\u00fcrzesten zurechtgelegt. Darum bleibt das naive Bewufstsein in seiner summariscben Weise dabei. Es macht aus der bequemen Fiktion eine Thatsache und hat damit seine Erkl\u00e4rung. Und die Psychologen folgen ihm. Ich sage, in der Erinnerung legen wir uns die Sache so zurecht. In der That kann es sich hier nur um eine in der Erinnerung, wenn auch der sofortigen Erinnerung, entstehende Betrachtungsweise handeln. Denn dafs die unmittelbare \u201eBeobachtung\u201c, die unmittelbar auf die Be-wufstseinsobjekte gerichtete \u201eAufmerksamkeit\u201c uns \u00fcber das Dasein der halbbewufsten Objekte belehren k\u00f6nne, meint doch wohl niemand. Der Mangel der Aufmerksamkeit oder des \u201eAchtens\u201c auf Objekte soll es ja sein, der sie zu halbbewufsten oder dunkel vorgestellten macht.\nDiese Unm\u00f6glichkeit unmittelbarer Beobachtung besteht nat\u00fcrlich auch r\u00fccksichtlich der halbbewufsten oder dunkel vorgestellten T\u00f6ne, die nach Wundt in der Klangempfindung enthalten sein sollen. Sonderbarerweise scheint dies Wundt nicht anzunehmen. Gesetzt, es verhielte sich so, wie Wundt sagt, so k\u00f6nnte ja gewifs Wundt dies nur wissen aus unmittelbarer Beobachtung. Wie man weifs, ist es sonst Wundts besonderer Stolz, der unmittelbaren psychologischen Beobachtung m\u00f6glichst wenig zu vertrauen. Wie kommt er dazu, gerade hier zu ihr Yertrauen zu hegen?\nNicht als k\u00f6nne die unmittelbare Beobachtung \u00fcber die Beschaffenheit der Klangempfindung unter keinen Umst\u00e4nden etwas aussagen. Das, was sie nicht aussagen kann, ist zun\u00e4chst nur dies, dafs dunkle Tonvorstellungen in der Klangempfindung enthalten seien. Angesichts dieser \u201edunklen\u201c Vorstellungen ist zweifellos das auch sonst oft aufgestellte Bedenken gerechtfertigt, dafs die bei der unmittelbaren Beobachtung aufgewandte Aufmerksamkeit ihr Objekt ver\u00e4ndere. Die dunklen Vorstellungen m\u00fcfsten durch die auf sie gerichtete Aufmerksamkeit zu klaren werden. Aber besteht denn die unmittelbare Beobachtung einer Klangempfindung oder richtiger eines empfundenen Klanges darin, dafs wir voraussetzen, es seien in ihnen dunkle Tonvorstellungen enthalten, und dafs wir dann auf diese vermeintlichen Tonvorstellungen die Aufmerksamkeit richten? M\u00fcssen wir nicht vielmehr, eben weil bei der psychologischen Beobachtung Gefahr besteht, dafs die Aufmerksamkeit ihr Objekt ver\u00e4ndere, auf jedes solche subjektive Verhalten","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nTheodw Lipps.\ndurchaus verzichten? Handelt es sich denn nicht bei dem Streite, den hier die Beobachtung schlichten soll, eben darum, ob \u00fcberhaupt Tonvorstellungen in dem Klange sich finden, und ob sie sich finden dann, wenn die einzelnen T\u00f6ne nicht Gegenstand einer geflissentlich auf sie gerichteten Beobachtung sind?\nPsychologische Beobachtung ist etwas anderes, als sich W\u00fcndt hier und auch sonst gelegentlich darunter vorzustellen scheint. Sie ist vor allem vorurteilslose Beobachtung. Sie besteht in unserem Palle zun\u00e4chst darin, dafs man einen Klang h\u00f6rt und m\u00f6glichst reflexionslos in sich aufnimmt, dafs man nichts in ihm h\u00f6ren will, sondern, mit Verzicht auf alles Wollen, sich, was man h\u00f6rt, gefallen l\u00e4fst, dafs man insbesondere keine Theorie, weder \u00fcber die Zusammengesetztheit der Kl\u00e4nge aus T\u00f6nen, noch eine vorher feststehende Theorie der Aufmerksamkeit, mitbringt und mithineinspielen l\u00e4fst. Unter dieser Voraussetzung h\u00f6re ich, wenn ich einen Klang h\u00f6re, diesen Klang und weiter nichts.\nAber W\u00fcndt hat nun einmal seine Theorie. \u201eBei der gew\u00f6hnlichen Auffassung des Einzelklanges ist es der Grundton, der verm\u00f6ge seiner \u00fcberwiegenden St\u00e4rke . . . die Aufmerksamkeit fesselt.\u201c Aus dieser einseitigen Aufmerksamkeit erkl\u00e4rt es sich f\u00fcr W\u00fcndt, dafs man die \u00fcbrigen T\u00f6ne, obgleich sie auch f\u00fcrs Bewufstsein da sind, nicht \u201ebeachtet\u201c. In der That braucht man nur seine Aufmerksamkeit von dem Grundton abzuwenden und mit gen\u00fcgender Energie diesen anderen T\u00f6nen zuzuwenden, und man findet sie. Daraus folgt, dafs sie auch vorher schon da waren, wenn n\u00e4mlich die Theorie, derzufolge die Aufmerksamkeit nur bewirkt, dafs das schon vorher, nur \u201eunbeachteter\u201c Weise, im Bewufstsein Vorhandene, beachtet wird, schon vorher feststeht;, wenn man aufserdem in der Lage ist, mit dem Begriffe eines bewufsten, aber nicht \u201ebeachteten\u201c Objektes, eines im Bewufstsein gegenw\u00e4rtigen Tones, von dem doch der Tr\u00e4ger des Bewufstseins nichts weifs oder, was doch wohl ungef\u00e4hr dasselbe heifst, kein Bewufstsein hat, einen Sinn zu verbinden.\nGl\u00fccklicherweise kann man aber eben die psychologische Beobachtung auch in anderer Weise treiben. Zun\u00e4chst so vorurteilslos, wie ich es oben forderte. H\u00e4lt man auch dann noch die v\u00f6llig unmittelbare Beobachtung f\u00fcr bedenklich, so","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre v. d. Gef\u00fchlen, insbesondere d. \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen. 329\nhindert nichts, dafs man die Beobachtung \u00fcbt in etwas weniger unmittelbarer Weise, die eben damit geringeren Gefahren ausgesetzt ist. Manche Psychologen scheinen freilich zu meinen, die psychologische Beobachtung oder die \u201eSelbstbeobachtung\u201c \u2014 obgleich sie in vielen F\u00e4llen, beispielsweise auch in dem unsrigen, mit dem \u201eSelbst\u201c gar nichts zu thun hat, sondern einfache Betrachtung des gegebenen Objektes ist \u2014 bestehe jederzeit nur in einer Art von Hinstarren auf die Bewufstseins-vorg\u00e4nge in eben dem Augenblicke, wo sie sich vollziehen. Dafs bei einem solchen Verhalten die Bewulstseinsvorg\u00e4nge sich vielfach anders abspielen m\u00fcssen, als sonst, das ist eine Wahrheit, so selbstverst\u00e4ndlich, dafs man nicht n\u00f6tig h\u00e4tte, so viel Fleifs auf ihre Darlegung zu verwenden. Ein Gef\u00fchl der Komik etwa in solcher Weise beobachten, w\u00e4hrend man es hat, das ist ein Widerspruch in sich selbst. Nur v\u00f6llig ungest\u00f6rt durch meine Beobachtung kann dies Gef\u00fchl vollst\u00e4ndig und rein zu st\u00e4nde kommen.\nDarum fehlt doch nicht die M\u00f6glichkeit der Beobachtung. Ich mufs sie nur vollziehen, nachdem der ganze Vorgang ohne mein bewufstes Eingreifen sich abgespielt hat. Ich mufs ihn festhalten in der Erinnerung und nun an dem Erinnerungsbilde meine Kunst \u00fcben. Schon vorhin sahen wir, dafs \u00fcber die Natur der angeblich halbbewufsten oder dunklen Vorstellungen nur die Erinnerung etwas aussagen k\u00f6nne. Dort erschien freilich das Erinnerungsbild verf\u00e4lscht durch eine k\u00fcnstliche, aber verm\u00f6ge ihrer Einfachheit verf\u00fchrerische Deutung oder Formulierung. Nat\u00fcrlich denke ich aber hier an ein Festhalten von Erinnerungsbildern, bei dem man sich solcher k\u00fcnstlichen Deutungen entschl\u00e4gt. Wieweit man hierzu f\u00e4hig ist, davon wird der Wert der am Erinnerungsbilde ge\u00fcbten \u201epsychologischen Analyse\u201c, dieses ersten und letzten Instrumentes der Psychologie, abh\u00e4ngen. Dafs danach die psychologische Erkenntnis durch die M\u00f6glichkeit der Erinnerung und einer sicheren Festhaltung der Bewustseinsobjekte in der Erinnerung bedingt ist, hat nichts Sonderbares. Es liegt darin weder ein Vorzug noch ein Nachteil der Psychologie. Auch die Naturwissenschaft ist davon abh\u00e4ngig. Sie k\u00f6nnte ohne dies keine zwei Thatsachen vergleichen oder in Beziehung setzen.\nWenden wir nun diese Weise der Beobachtung auf unseren Gegenstand an. Wundt meint, wie wir sahen, zwischen der","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330\nTheodor Lipps.\nBuccession der Teilt\u00f6ne, die im Bewufstsein nebeneinander gegeben sind, und den Teilt\u00f6nen eines einheitlichen Klanges, die f\u00fcr das Bewufstsein vollst\u00e4ndig zu diesem einen Klang verschmelzen, sei kein wesentlicher Unterschied. Soviel ich sehe, ergiebt sich bei Anwendung jener Methode der \u201eSelbstbeobachtung\u201c ein recht wesentlicher Unterschied, n\u00e4mlich genau derjenige, der zwischen selbst\u00e4ndigen Bewufstseins-objekten und dem Produkte einer Verschmelzung aus verschiedenen psychischen Elementen allgemein zu bestehen pflegt. Man lasse einen Einzelklang erklingen, ohne ihn, w\u00e4hrend er erklingt, durch die Aufmerksamkeit zu analysieren, d. h. in Wahrheit: in etwas wesentlich Anderes zu verwandeln. Man lasse ebenso eine Folge von Taktschl\u00e4gen erklingen, ohne sie unmittelbar durch die ^Aufmerksamkeit zu bel\u00e4stigen. Dann halte man die Erinnerungsbilder fest. Man wird finden, dafs es auch jetzt noch gelingt, bald diese, bald jene Eigenschaft, wenn man will, auch bald diesen, bald jenen Taktschlag in der Folge von Taktschl\u00e4gen vorzugsweise zu \u201eapperzipieren\u201c, dafs aber eine entsprechende vorzugsweise \u201eApperzeption\u201c der Teilt\u00f6ne des Klanges nicht gelingt. Sie sind eben nicht da; darum vermag auch die gesteigerte Aufmerksamkeit von ihnen nichts zu entdecken. Beweis genug, dafs sie auch, als der Klang geh\u00f6rt wurde, nicht da waren, dafs sie von der auf den geh\u00f6rten Klang gerichteten Aufmerksamkeit nicht sowohl entdeckt, als hervorgerufen wurden. Die Aufmerksamkeit riet sie hervor, indem sie den durch die einzelnen Tonreize erzeugten potentiellen Tonempfindungen diejenige Selbstst\u00e4ndigkeit verlieh, deren sie bedurften, wenn sie gegen den Zwang der Verschmelzung zu einer einzigen aktuellen Empfindung, n\u00e4mlich der Klangempfindung, sich behaupten, wenn sie also, jede f\u00fcr sich, in eine aktuelle Empfindung \u00fcbergehen sollten. Diese potentiellen einzelnen Tonempfindungen bestehen f\u00fcr die Erinnerung nicht mehr, weil die ihnen zu Grunde liegenden einzelnen Tonreize nicht mehr bestehen. Darum und nur darum ist gegen\u00fcber dem Erinnerungsbilde alles Analysierungsbem\u00fchen der Aufmerksamkeit vergeblich.\nLassen wir aber diesen Punkt, f\u00fcr den ich zum Uberflufs auf fr\u00fcher Gesagtes, beispielsweise auf einen Aufsatz \u00fcber den Begriff der Verschmelzung,1 verweisen kann, im Folgenden\n1 S. Philosoph. Monatsh. XXVIII, S. 547 ff.","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre v. \u00e4. Gef\u00fchlen, insbesondere d. \u00e4sthetischen Elementar gef\u00fcllten. 331\ng\u00e4nzlich dahingestellt. Trotz der obigen Bemerkungen trifft die Behauptung \u2014 wenn nicht einer unmittelbar empfundenen Beziehung, so doch \u00fcberhaupt einer Beziehung der T\u00f6ne eines Klanges zur Klangeinheit in gewissem Sinne zu. Dieser Sinn mufs nur genau bestimmt werden. Wundt nun unterscheidet diese Beziehung im weiteren Verlaufe seiner Darlegung von anderen Einheitsbeziehungen. Er spricht von einer \u201ekonstanten\u201c Verbindung von T\u00f6nen zu einem Klange und betont nachdr\u00fccklich, dafs die Verbindungen von Vorstellungselementen um so fester seien, je konstanter sie seien. Konstant ist die Einheit der T\u00f6ne im Einzelklange, sofern dieser, \u201evon einer einheitlichen Klangquelle . . . herr\u00fchrend, sobald er durch diese Klangquelle erzeugt wird, niemals sich zeitlich oder r\u00e4umlich in eine Succession oder in ein Nebeneinander einzelner Empfindungen zerlegt\u201c. Infolge dieser \u00e4ufseren Entstehungsbedingungen l\u00e4fst Wundt sogar die Verbindung der T\u00f6ne zum Klange zu einer \u201euntrennbaren Assoziation\u201c werden.\nLeider bin ich nicht v\u00f6llig sicher, ob oder inwieweit Wundt dieser durch die Konstanz bedingten Festigkeit der Verbindung einen entscheidenden Einflufs auf die Entstehung des Harmoniegef\u00fchls zuweist. Es geht mir hier, wie bei Wundt \u00f6fter: ich h\u00f6re von Thatsachen und erfahre dann, jetzt sei das zu Erkl\u00e4rende erkl\u00e4rt, ohne dafs ich doch v\u00f6llig deutlich sehe, was eigentlich an den Thatsachen die erkl\u00e4rende Kraft besitzen solle. Vor allem k\u00f6nnte es scheinen, als wolle Wundt bei der Beih\u00fclfe, die die \u201eKonsonanz\u201c zur Entstehung des Harmoniegef\u00fchles leistet, die Mitwirkung jener besonderen Festigkeit der Verbindung ausschlief sen. Wir sahen ja, dafs Wundt der Wirkung der Beziehungen der T\u00f6ne auf die Klangeinheit die Wirkung der Konsonanz als sekund\u00e4ren Faktor hinzuf\u00fcgt. Bei der letzteren scheint also die Beziehung auf die Klangeinheit oder die eigenartige Verbindung der Teilt\u00f6ne des Klanges nicht das Wirksame zu sein.\nAngenommen aber, ich liefse in Wundts Theorie die Festigkeit der Verbindung der T\u00f6ne zur Seite, so m\u00fcfste ich gestehen, nicht einzusehen, wiefern in der Theorie auch nur ein Versuch, sei es auch ein Versuch mit v\u00f6llig untauglichen Mitteln, gemacht sein sollte, die Thatsache des Harmoniegef\u00fchles verst\u00e4ndlich zu machen. Diese Thatsache schiene mir in Wahrheit g\u00e4nzlich aufser Diskussion zu bleiben. Da ich diese Voraus-","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"Theodor Lipps.\n332\nSetzung ohne absolut zwingenden Grund nicht machen darf, so nehme ich an, jene Erkl\u00e4rung \u00fcber die besondere Festigkeit der Verbindung der T\u00f6ne im Einzelklange habe allerdings nach Wundt f\u00fcr das Harmoniegef\u00fchl entscheidende Bedeutung. Irre ich darin, so bin ich doch gegen Wundt nicht ungerecht gewesen.\nUnter der bezeichneten Voraussetzung nun vermisse ich\nzun\u00e4chst ein wichtiges Glied in Wundts Gedankenkette. Es ist *\neine Eigent\u00fcmlichkeit W\u00fcNDTscher Theorien, gelegentlich mit Allgemeinbegriffen zu operieren, wo es sich um einzelne That-sachen handelt. Wenn ich nicht irre, so haben wir es gleich hier mit einem Beispiele dieser Neigung zu thun. Wundt spricht von dem Einzelklange und seinen Teilt\u00f6nen. Aber \u201eder\u201c Einzelklang und seine Teilt\u00f6ne, das sind Dinge, die es nicht giebt. Es giebt nur bestimmte Kl\u00e4nge und T\u00f6ne. Ist zwischen einem bestimmten Grundton und seiner Oktave, weil sie oft genug in einem Klange verschmolzen waren, eine feste Beziehung entstanden, so besteht zun\u00e4chst eine feste Beziehung zwischen eben diesen beiden T\u00f6nen. Hier aber handelt es sich darum, in welcher Weise ,es allen T\u00f6nen und ihren Oktaven, den h\u00f6chsten und den niedrigsten, wie den mittleren, gelingen k\u00f6nne und m\u00fcsse, eine \u00e4hnlich feste Beziehung einzugehen. Und das Gleiche mufs begreiflich gemacht werden hinsichtlich aller \u00fcbrigen harmonischen Intervalle ; zugleich mufs sich aus den zu Grunde gelegten Erfahrungen eine Stufenfolge in der Festigkeit der Beziehungen ableiten lassen, die den Stufen der Harmonie entspricht. Bei allem dem ist zu bedenken, dafs auch der hinsichtlich seiner H\u00f6he bestimmte Klang C oder c ein Allgemeinbegriff ist, dem in der Wirklichkeit allerlei Kl\u00e4nge, Kl\u00e4nge der Trompete, der Fl\u00f6te u. s. w., entsprechen; es ist weiter zu ber\u00fccksichtigen, dafs nicht alle Menschen dieselben Kl\u00e4nge, seien es Kl\u00e4nge von gleicher H\u00f6he oder Kl\u00e4nge von gleicher Klangfarbe, gleich h\u00e4ufig zu h\u00f6ren Gelegenheit haben ; es ist endlich speziell zu beachten, dafs Kinder, die doch auch schon, und oft in sehr jungen Jahren, musikalischen Sinn zeigen, in diesem Punkte einander und den Erwachsenen nicht v\u00f6llig gleich stehen k\u00f6nnen.\nW\u00e4ren aber alle diese Forderungen erf\u00fcllt, dann w\u00fcrde ich schliefslich bei der festen Klangeinheit, wie sie Wundt vorauszusetzen scheint, noch eines vermissen: n\u00e4mlich die Sicherheit,","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre v. d. Gef\u00fchlen, insbesondere d. \u00e4sthetischen Elementarge f\u00fchlen. 333\ndie die Beziehung zwischen harmonischen T\u00f6nen f\u00fcr uns besitzt. Ich sehe jeden Tag vor mir die L\u00e4nge und Breite des Tisches, an dem ich arbeite. Die Breite dieses Tisches hat alle Gelegenheit gehabt, mit der zugeh\u00f6rigen L\u00e4nge zu einer festen \u201eVorstellungseinheit\u201c zu verwachsen. Bei allem dem w\u00fcrde ich, wenn die Tischplatte an ihren L\u00e4ngsenden so verdeckt w\u00e4re, dafs ich nur die Breite, nicht aber die L\u00e4nge wahrn\u00e4hme, nicht in der Lage sein, die L\u00e4nge genau zu rekonstruieren. Ich k\u00f6nnte um sehr betr\u00e4chtliche Bruchteile irren. Dagegen hat mein Bewufstsein, welcher Ton zu einem gegebenen anderen als Oktave geh\u00f6rt, grofse Sicherheit ; ich halte nicht auch einmal einen Ton, dessen H\u00f6he von der H\u00f6he der Oktave ebenso betr\u00e4chtlich verschieden ist, f\u00fcr die Oktave. Dieser Unterschied vermindert sich, wenn r\u00e4umliche Gr\u00f6fsen schon an sich, durch ihre Beschaffenheit, in einer bestimmten Beziehung der \u00dcbereinstimmung oder Harmonie zu einander stehen. Ersetzen wir etwa in Gedanken das Rechteck der Tischplatte durch einen regelm\u00e4fsigen Stern. Diesen regel -m\u00e4fsigen Stern brauche ich nur einmal gesehen zu haben. Trotzdem erkenne ich nachher jede an sich deutlich merkliche Verschiebung eines Teiles. Ich erkenne sie aus keinem anderen Grunde, als weil durch sie die Regelm\u00e4fsigkeit oder innere Gesetzm\u00e4fsigkeit der Gesamtform zerst\u00f6rt erscheint; ich ersetze demgem\u00e4fs auch in Gedanken mit Sicherheit die verschobene Form durch diejenige, die ich in der Einheit der urspr\u00fcnglichen Gesamtform vorgefunden habe. Will man noch ein anderes Beispiel, so vergleiche man die aus beliebigen Kr\u00fcmmungen zusammengesetzte krumme Linie mit der regelm\u00e4fsigen Wellenlinie. Ich kann jener \u201eVorstellungseinheit\u201c oft begegnet sein, ohne darum irgend welche Sicherheit zu haben, welches bestimmte einzelne Element, d. h. welche bestimmte Einzelkr\u00fcmmung in den Zusammenhang der \u00fcbrigen mithineingeh\u00f6rt, dagegen rekonstruiere ich die einzelnen Teile der einmal gesehenen Wellenlinie, wenn auch nur ein Teil wiedergegeben ist, mit v\u00f6lliger Sicherheit. Auch hier ist die Regelm\u00e4fsigkeit, die innere, auf der Beschaffenheit der Teile beruhende, nicht erst durch die Wahrnehmung oder Erfahrung gekn\u00fcpfte Beziehung der Teile zu einander dasjenige, was mich leitet. Bezeichnet man, wie ich sonst zu thun pflege, diese inneren Beziehungen im Gegensatz zu den erfahrungsgem\u00e4fsen \u201eBeziehungen\u201c als \u201eVer-","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334\nTheodor Jbipps.\nh\u00e4ltnisse\u201c der Vorstellungselemente zu einander, so sind es \u00fcberhaupt die \u201eVerh\u00e4ltnisse\u201c, die erst ein sicheres Bewufstsein der Zusammengeh\u00f6rigkeit oder Einheit von Vorstellungselementen zu geben pflegen. \u2014 Aber eben von solchen, von der Erfahrung unabh\u00e4ngigen, insofern urspr\u00fcnglichen Verh\u00e4ltnissen will Wundt bei den T\u00f6nen nichts wissen. Es ist der Stolz seiner Theorie, dafs sie davon absieht. Die einzelnen T\u00f6ney die Grundt\u00f6ne, Oktaven, Duodecimen etc. sind f\u00fcr ihn nichts als beliebige T\u00f6ne, die nur eben faktisch zu Klangeinheiten verschmelzen und verm\u00f6ge des h\u00e4ufigen Verschmelzens eine feste Vorstellungseinheit bilden.\nHiermit sind wir nun schon beim eigentlich entscheidenden Punkte der W\u00fcNDTschen Theorie angelangt, ich meine bei dem Punkte, der am deutlichsten gegen diese Theorie entscheidet. Statt von \u201eVerh\u00e4ltnissen\u201c oder qualitativ bedingten Beziehungen der Teile der Wellenlinie zu einander zu sprechen, h\u00e4tte ich auch sagen k\u00f6nnen, jeder Teil der Wellenlinie \u201epasse\u201c zum Ganzen, und darauf beruhe es, dafs die Vorstellungseinheit oder mein Bewufstsein der Zugeh\u00f6rigkeit jedes Teiles zum Ganzen solche Sicherheit habe. F\u00fcr Wundt kehrt sich bei den T\u00f6nen und Klangeinheiten diese Sachlage um. Die Sicherheit der Vorstellungseinheit wird stillschweigend vorausgesetzt und daraus das \u201ePassen\u201c abgeleitet. Vielmehr, es wird gar nichts abgeleitet, sondern das Passen tritt mit einem Male, wie durch einen Zauberschlag, aus der Gedankenurne hervor. Pl\u00f6tzlich erf\u00e4hrt der Leser, die Harmonie \u2014 im W\u00fcNDTschen, engeren Sinne \u2014 beruhe \u201eauf einer Beziehung verschiedener T\u00f6ne, die unmittelbar als eine passende empfunden wird\u201c. Ich betone, dafs nur von einer erfahrungsgem\u00e4fsen Vorstellungseinheit vorher die Kede war, nur von der nackten Thatsache, dafs T\u00f6ne zu Kl\u00e4ngen verschmelzen; und wenn gleich darauf an die Stelle des \u201ePassens\u201c die \u201egesetzm\u00e4fsige\u201c Beziehung tritt, so kann darunter wiederum nur die thats\u00e4chliche, erfahrungsgem\u00e4fse Verbindung verstanden sein.\nEs giebt nur eine Annahme, aus der ich mir diese Art des Erkl\u00e4rens zu erkl\u00e4ren vermag. Es ist die Annahme, Wundt habe sich durch den Doppelsinn des Wortes \u201eEinheit\u201c und speziell \u201eVorstellungseinheit\u201c verf\u00fchren lassen. \u201eEinheit\u201c \u2014 das ist das eine Mal die f\u00fcr die Wahrnehmung oder den Verstand gegebene Einheit, ich k\u00f6nnte, beides zusammenfassend, sagen :","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre v. d. Gef\u00fchlen, insbesondere d. \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen. 335\ndie logische Einheit; es ist das andere Mal die Einheit f\u00fcr das Gef\u00fchl oder die \u00e4sthetische Einheit. Jene besteht im Zusammensein oder erfahrungsgem\u00e4fsen Zusammengewachsensein. Das Bewufstsein einer solchen Einheit ist das Bewufstsein, Elemente seien zusammen oder irgendwie vereinigt, bezw. sie m\u00fcfsten erfahr ungsgem\u00e4fs zusammengedacht werden. Die \u00e4sthetische Einheit dagegen besteht in der \u00dcbereinstimmung; ich habe das Bewufstsein derselben, wenn ich die Elemente nicht nur zusammen sehe oder durch die Erfahrung gen\u00f6tigt bin, sie zusammenzudenken, sondern, wenn ich zugleich durch das Zusammensein oder die erfahrungsgem\u00e4fse N\u00f6tigung der Verbindung befriedigt bin, wenn ich das thats\u00e4chliche oder erfahrungsgem\u00e4fse Zusammen zugleich als ein wertvolles oder sein sollendes empfinde.\nJeder weifs, dafs diese letztere Art der Einheit von jener ersteren v\u00f6llig unabh\u00e4ngig ist, dafs sie mit ihr zun\u00e4chst nichts gemein hat, als den Namen. Wundt selbst f\u00fchrt als Beispiel untrennbarer Vorstellungseinheiten die Verbindungen zwischen Geschmacks- und Geruchsempfindungen an ; er vergleicht diese Vorstellungseinheiten mit der Klangeinheit. Aber so untrennbar jene Verbindungen sein m\u00f6gen, sie sind darum nicht mehr und nicht minder befriedigende Verbindungen, als sie es auch abgesehen davon sein w\u00fcrden. Das noch so enge Verbundensein ergiebt kein Gref\u00fchl der sein sollenden, w\u00fcnschenswerten, wertvollen Verbindung, kein Gef\u00fchl der \u00dcbereinstimmung oder Harmonie. Die Empfindungen \u201epassen\u201c nicht ohne weiteres zu einander, nur darum, weil sie thats\u00e4chlich eng Zusammenh\u00e4ngen. Und nicht anders verh\u00e4lt es sich, wenn wir andere feste Vorstellungseinheiten ins Auge fassen. Blumen haben ein f\u00fcr allemal einen angenehmen oder widrigen oder mehr oder weniger indifferenten Duft. Aber die Vereinigung des angenehmen Duftes mit der Form oder Farbe der Blume wird durch solche Konstanz nicht befriedigender, die des unangenehmen oder gleichg\u00fcltigen verwandelt sich nicht in einen Gegenstand des begl\u00fcckenden Harmoniegef\u00fchles.\nIndem wir jetzt noch etwas mehr ins Einzelne gehen, m\u00fcssen wir, mit Wundt, ausdr\u00fccklich zwischen Harmonie im engeren Sinne und Konsonanz unterscheiden. \u201eDer Ausdruck Konsonanz,\u201c so erkl\u00e4rt Wundt, \u201ebezeichnet die Verbindung mehrerer Kl\u00e4nge zu einer Klangeinheit.\u201c Gemeint ist die Ver-","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"336\nTheodor Lipps.\nbin dung, die darin bestellt, dafs \u201eirgend welche deutlich h\u00f6rbare Partialt\u00f6ne zweier Kl\u00e4nge in Einklang stehen\u201c. Dasselbe sagt der Ausdruck \u201edirekte Klangverwandtschaft\u201c.\nIndem ich mich gegen diese Erkl\u00e4rungen wende, lege ich kein Gewicht mehr auf die Fiktion der \u201eh\u00f6rbaren\u201c Partialt\u00f6ne, die an dieser Stelle sogar als \u201edeutlich h\u00f6rbare\u201c auftreten. Auch abgesehen davon \u00fcberraschen jene S\u00e4tze. In der That, wenn man mit dem Ausdruck Konsonanz das Zusammenfallen von Partialt\u00f6nen \u201ebezeichnet\u201c und beides mit der direkten Klangverwandtschaft begrifflich identifiziert, dann ist alles in Ordnung, dann kann man nicht mehr zweifeln, dafs das Wesen der Konsonanz in diesem Zusammenfallen besteht, und dafs das Problem der Verwandtschaft in ihm seinen Erkl\u00e4rungsgrund findet. Angenommen aber, man \u201ebezeichnet\u201c mit dem Ausdruck \u201eKonsonanz\u201c, wie doch wohl \u00fcblich, etwas anderes, n\u00e4mlich ein Zusammen stimmen, ein Zusammenklingen, das befriedigt, das ein Gef\u00fchl der Harmonie oder, wenn man lieber will, der Konsonanz erweckt. Dann ist nichts in Ordnung. Vielmehr erhebt sich dann erst die Frage, woher dies Gef\u00fchl stammen k\u00f6nne, ob es etwa, wie W\u00fcndt meint, aus jenem Zusammenfallen sich erkl\u00e4re, oder ob damit noch gar nichts erkl\u00e4rt sei.\nZweifellos trifft das Letztere zu. Dafs das Vorkommen eines gemeinsamen Elementes in zwei erfahrungsgem\u00e4fsen Einheiten kein Zusammenstimmen der Einheiten begr\u00fcndet, habe ich schon anderw\u00e4rts zu zeigen mich bem\u00fcht.1 Dafs W\u00fcndt meinte, auch davon keine Notiz nehmen zu sollen, brauche ich jetzt nicht mehr zu sagen; man wird aber sogar behaupten m\u00fcssen, dafs die Gemeinsamkeit eines Elementes bei Einheiten, die im \u00fcbrigen einander fremdartig sind, in der Kegel geradezu dem Gef\u00fchle des Zusammenstimmens entgegenwirken werde. Personen, die beliebig, jede in ihrer Weise, gekleidet w\u00e4ren und nur durch ein gemeinsames Element, etwa eine gleichgef\u00e4rbte Sch\u00e4rpe, das Gef\u00fchl der \u00dcbereinstimmung erzeugen wollten, w\u00fcrden aller Wahrscheinlichkeit nach das Gegenteil erreichen. Die Gemeinsamkeit des einen Elementes w\u00fcrde sie nicht \u00e4sthetisch aneinander binden, sondern nur das Gef\u00fchl der regellosen Ungleichartigkeit oder inneren Un-\n1 Psychologische Studien, Heidelberg 1885.","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre v. d. Gef\u00fchlen, insbesondere d. \u00e4sthetischen Elementar ge f\u00fchlen. 337\nZusammengeh\u00f6rigkeit der \u00fcbrigen Elemente deutlicher, und vielleicht jetzt erst st\u00f6rend, hervortreten lassen.\nIch sage, es \u201ew\u00fcrde\u201c so sein. Nach W\u00fcndt m\u00fcfste es, gerade bei Kl\u00e4ngen, zweifellos so sein. Angenommen, ein Klang K1 stehe mit einem anderen K2 in dem nach jedermanns Meinung in hohem Mafse harmonischen oder \u201ekonsonanten\u201c Quint en Verh\u00e4ltnis. Es f\u00e4llt dann der dritte und sechste Teilton von Kx bezw. mit dem zweiten und vierten Teiltone von K2 zusammen. Insofern sind die Kl\u00e4nge nach Wundt konsonant. Sie sind aber ebenso gewifs f\u00fcr W\u00fcndt zugleich\nnicht zusammenfallen. Denn genau so wie die Konsonanz im Zusammenfallen von Teilt\u00f6nen, so besteht f\u00fcr Wundt die Dissonanz im Nicht-zusammenfallen von Teilt\u00f6nen. W\u00fcndt selbst erkl\u00e4rt die \u201evollst\u00e4ndigste\u201c Konsonanz da f\u00fcr gegeben, wo alle Teilt\u00f6ne zweier Kl\u00e4nge zusammenfallen, d. h. beim Einklang; die Konsonanz von K\u00b1 und K2 ist ihm also eine minder vollst\u00e4ndige. Er f\u00fcgt nicht hinzu, dafs diese minder vollst\u00e4ndige Konsonanz nach seinem Begriffe der Dissonanz nicht etwa als eine Verbindung von Konsonanz mit blofsem Mangel der Konsonanz, sondern als eine Verbindung teilweiser Konsonanz mit teilweiser Dissonanz zu betrachten sei. Um so sicherer m\u00fcssen wir betonen, dafs es nach W\u00fcndt sich zweifellos so verh\u00e4lt. Es besteht aber in jenen beiden Kl\u00e4ngen nach Wundts Vorstellungsweise nicht nur Dissonanz neben Konsonanz, sondern mehr Dissonanz neben geringer Konsonanz, da ja nicht nur allerlei Obert\u00f6ne, sondern die wichtigsten Teilt\u00f6ne, die Grundt\u00f6ne der Kl\u00e4nge, nicht zusammenfallen. Es ist also mehr Grund f\u00fcr das Gef\u00fchl der Dissonanz, als f\u00fcr das Gef\u00fchl der Konsonanz. Nun k\u00f6nnte man vielleicht sagen, die Konsonanz werde eben thats\u00e4chlich mehr gef\u00fchlt, und die begleitende Dissonanz erh\u00f6he nur die Wirkung der Konsonanz. Aber davon gilt eben, wenn wir unter der Dissonanz die wirkliche musikalische Dissonanz verstehen und mit W\u00fcndt dabei bleiben,\ny\ndafs diese und nicht irgendwelche Quasi-Dissonanz aus dem Nichtzusammenfallen von Teilt\u00f6nen sich ergebe, nach Aussage unseres sonstigen musikalischen Empfindens das volle Gegenteil. Gewifs zerst\u00f6rt die Dissonanz nicht als solche die musikalische Wirkung, gewifs hat sie positive, die Wirkung der Konsonanzen erh\u00f6hende Bedeutung. Aber dies setzt jederzeit\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie VIII.\t22","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nTheod.or I\u00c2pps.\nvoraus, dafs die Dissonanz mit den Konsonanzen in bestimmter gesetzm\u00e4fsiger Beziehung stehe. Dagegen ist die beliebige Dissonanz nichts als Dissonanz. Und die st\u00f6rende Wirkung einer solchen beliebigen Dissonanz tritt erfahrungsgem\u00e4fs so wenig hinter der befriedigenden Wirkung der Konsonanz zur\u00fcck, dafs die vollste und reichste Konsonanz durch das gleichzeitige Erklingen eines einzigen, gen\u00fcgend deutlich hervortretenden fremden Tones zerst\u00f6rt und in ihr Gegenteil verkehrt wird. Dies aber ist der Fall, mit dem wir den Zusammenklang der beiden im Quintenverh\u00e4ltnisse stehenden Kl\u00e4nge K\u00b1 und Kt vergleichen m\u00fcssen. Vor allem die Grundt\u00f6ne der beiden Kl\u00e4nge sind ja f\u00fcr Wundt, wie schon betont, weiter nichts als beliebige, einander fremde T\u00f6ne. Sie, f\u00fcr sich betrachtet, m\u00fcssen eine vollkommene Dissonanz ergeben. Dafs sie durch \u201eindirekte Klangverwandtschaft\u201c, vielleicht auch noch in anderer Weise, in Beziehung stehen, kommt hier nicht in Betracht, da wir hier nur von der Konsonanz als solcher reden. Mag dann neben der Dissonanz noch so viel Konsonanz stattfinden, diese eine Dissonanz mufs gen\u00fcgen, um alles zu zerst\u00f6ren. Gen\u00fcgte sie aber an sich nicht, so k\u00e4me ihr schliefslich nach\nW\u00fcndt noch das Gesetz zu H\u00fclfe, dafs kontrastierende Gef\u00fchle\n\u00ab\nsich heben. Ich habe Gr\u00fcnde, an dieses Gesetz nicht zu glauben. Es liegt ihm nicht nur eine falsche psychologische Vorstellung zu Grunde, sondern es widersprechen ihm auch die Thatsachen. Wo kontrastierende Gef\u00fchle thats\u00e4chlich sich zu heben scheinen, hat dies jederzeit besondere Gr\u00fcnde, die mit einem Kontrast der Gef\u00fchle als solcher nichts zu thun haben. Aber f\u00fcr Wundt besteht nun einmal dieses \u201eGesetz\u201c allgemein. Diesem Gesetze zufolge mufs dann auch das Gef\u00fchl der Dissonanz durch das nebenhergehende Gef\u00fchl der Konsonanz noch gehoben werden. Wundts \u201eKonsonanz\u201c ist also in sich unm\u00f6glich.\nHierbei habe ich Wundt noch eine Voraussetzung zugegeben, die thats\u00e4chlich nicht zutrifft. Die \u00dcbereinstimmung der Sch\u00e4rpen, von denen ich vorhin sprach, mag, f\u00fcr sich betrachtet, eine Art der Befriedigung erwecken. In diesem Falle haben wir es eben doch wenigstens wirklich mit mehreren unter sich \u00fcbereinstimmenden Elementen zu thun. Die zusammenfallenden T\u00f6ne verschiedener Kl\u00e4nge dagegen sind nicht solche Elemente. Gleiche und gleichzeitig erklingende T\u00f6ne sind f\u00fcrs Ohr und damit f\u00fcrs Bewufstsein nichts als ein ein-","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre v. d Gef\u00fchlen, insbesondere d. \u00e4sthetischen Elementar ge f\u00fchlen. 339\nziger, nur in seiner Intensit\u00e4t verst\u00e4rkter Ton. Dafs sie einen verschiedenen Ursprung haben, davon hat das Bewufstsein nichts. F\u00fcr das Bewufstsein besteht \u2014 n\u00e4mlich nach Wundt \u2014, wenn zwei Kl\u00e4nge konsonieren, einfach eine Vielheit zu Kl\u00e4ngen verbundener T\u00f6ne, von denen einer relativ stark ist. Der Effekt des Zusammenfallens der Teilt\u00f6ne ist f\u00fcr das Ohr und weiterhin f\u00fcr das Bewufstsein und das Gef\u00fchl \u2014 wie ich schon am oben angef\u00fchrten Ort bemerkt habe \u2014 ganz derselbe, als ob der gemeinsame Teilton nur in einem Klange, aber entsprechend st\u00e4rker enthalten w\u00e4re. Dann aber w\u00e4ren die beiden Kl\u00e4nge nicht \u201ekonsonant\u201c. Schon der Begriff der \u201eKonsonanz\u201c ist also ein illusorischer, d. h. der mit diesem Worte bezeichnete That-bestand existiert als ein besonderer psychologischer Thatbestand \u00fcberhaupt nicht. Wundt selbst gesteht dies in gewisserWeise zu, wenn er, wie schon erw\u00e4hnt, den Einklang, bei dem alle Teilt\u00f6ne zusammenfallen, als die vollkommenste Konsonanz bezeichnet. Ein solcher Einklang ist f\u00fcrs Bewufstsein gar nichts anderes, als ein Klang. Die \u201eKonsonanz\u201c von Kl\u00e4ngen in der \u201evollkommensten\u201c Gestalt ist also nichts vom Dasein eines Klanges Verschiedenes. Ebenso nun ist die \u201eKonsonanz\u201c in ihren weniger vollkommenen Formen nichts vom Dasein mehrerer Kl\u00e4nge Verschiedenes; nur mit dem Zusatz, dafs in einem derselben ein Oberton in bestimmter St\u00e4rke gegeben ist.\nSo und nicht anders verh\u00e4lt es sich f\u00fcr Wundt. In Wahrheit ist die Konsonanz \u2014 ich meine jetzt diejenige, die diesen Namen verdient \u2014 im Vergleich zu den Kl\u00e4ngen, das Konsonanzgef\u00fchl im Vergleich zu der Befriedigung, die Kl\u00e4nge als solche erwecken, ein relativ Neues. Um die Erkl\u00e4rung dieses Neuen handelt es sich hier. Wundts Theorie giebt die Erkl\u00e4rung so wenig, dafs das zu Erkl\u00e4rende v\u00f6llig jenseits seiner Theorie bleibt.\nIm Vorstehenden habe ich den Umstand, dafs die Kl\u00e4nge nach Wundt durch die Erfahrung zu festen Vorstellungseinheiten geworden sind, einstweilen unber\u00fccksichtigt gelassen. Ich that es, weil es, wie schon bemerkt, fast scheint, als wolle Wundt diese erfahrungsgem\u00e4fse Festigkeit bei der Konsonanz nicht als erkl\u00e4renden Faktor verwenden. Nehmen wir sie jetzt hinzu, setzen wir zugleich voraus, Wundt h\u00e4tte gezeigt, wiefern die erfahrungsgem\u00e4fsen Vorstellungseinheiten zugleich \u00e4sthetische seien, wie also die gemeinsamen Teilt\u00f6ne zweier\n22*","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340\nTheodor Lipps.\nKl\u00e4nge es anfangen, nicht nur nach Aussage der Erfahrung, sondern auch f\u00fcr unser Gef\u00fchl zu den Kl\u00e4ngen zu geh\u00f6ren, oder in sie hineinzu\u201epassen\u201c \u2014 dann bliebe zun\u00e4chst die Behauptung, dafs Wundts \u201eKonsonanz\u201c gar kein besonderes psychologisches Faktum sei, bestehen. Es bliebe dabei, dafs diese \u201eKonsonanz\u201c, psychologisch betrachtet, nichts ist, als das gleichzeitige Dasein zweier Kl\u00e4nge, nur mit relativer St\u00e4rke eines der T\u00f6ne, die die zwei Kl\u00e4nge konstituieren. Aber dieser Ton w\u00fcrde jetzt doch wenigstens zu beiden Kl\u00e4ngen oder in beide Kl\u00e4nge passen. Die Frage ist, wras damit gewonnen w\u00fcre. Passen zwei \u00e4sthetische Einheiten zu einander, wenn und weil ihnen Elemente gemeinsam sind?\nSoviel wir sonst wissen, nicht. Die verschiedenen antiken S\u00e4ulenformen sind f\u00fcr uns zu sehr festen Vorstellungseinheiten geworden; sie sind zugleich in h\u00f6chstem Mafse \u00e4sthetische Einheiten. Andererseits fehlt es ihnen nicht an sehr deutlich sichtbaren gemeinsamen Elementen. Darum wird doch niemand versuchen, durch Nebeneinanderstellung dieser verschiedenen S\u00e4ulenformen eine h\u00f6here \u00e4sthetische Einheit zu erzielen. Und ganz ebenso steht es, wenn wir annehmen, das zwei \u00e4sthetischen Einheiten Gemeinsame sei, ebenso wie nach obigem die gemeinsamen T\u00f6ne zweier konsonanten Kl\u00e4nge, nur einmal gegeben. Ein und dasselbe ornamentale Motiv kann in zwei, ihrem Gesamtcharakter nach verschiedene, kompliziertere Ornamente vollkommen harmonisch sich einf\u00fcgen. Meint man nun, es w\u00fcirde ein harmonisches Ganze entstehen, wenn man beide Ornamente so verb\u00e4nde, dafs in der Zusammensetzung jenes Motiv nur einmal \u2014 nehmen wir der Vollst\u00e4ndigkeit der Analogie wegen zugleich an \u2014 besonders stark accentuiert vork\u00e4me, so dafs von diesem einen deutlich heraustretenden Motiv aus das eine der Ornamente nach der einen, das andere nach der anderen Seite sich entwickelte? Der Versuch ist leicht anzustellen. Es giebt mancherlei Motive, die in verschiedenen ornamentalen Stilarten Vorkommen k\u00f6nnen. Es ist aber auch gar nicht n\u00f6tig, dafs die Stilarten verschiedene sind. Auch identische Stilarten lassen Ornamente von sehr verschiedenem Charakter zu. Auch daf\u00fcr kann man Sorge tragen, dafs das gemeinsame Motiv in beiden Ornamenten bald als ein wesentlicherer, bald als ein minder wesentlicher Bestandteil erscheint. Wie man aber die Sache anstellen mag, der Versuch spricht","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre v. d. Gef\u00fchlen, insbesondere d. \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen. 341\njederzeit gegen jene Annahme. Es ergiebt sich ein harmonisches Ganze lediglich, wenn die vorhandenen Einheiten schon von Hanse ans nnd als Ganze nicht nnr in sich, sondern auch untereinander zusammenstimmen. Im \u00fcbrigen bewirkt die Verbindung wiederum nur, dafs die Unzusammengeh\u00f6rigkeit erst recht deutlich heraustritt. Waren die Ornamente, solange sie selbst\u00e4ndig nebeneinander standen, einander fremd, so sind sie jetzt, nach der Verbindung, zu einander widersprechenden geworden. Genau so w\u00fcrden auch konsonante Kl\u00e4nge nicht zusammenstimmen, sondern erst recht als v\u00f6llig unzusammengeh\u00f6rig erscheinen, wenn ihre \u201eKonsonanz\u201c oder \u201eVerwandtschaft\" in nichts Anderem best\u00e4nde, als in dem Zusammenfallen einzelner Teilt\u00f6ne. Mag die Klangeinheit eine noch so feste, mag auch jeder Klang in sich noch so sehr eine \u00e4sthetische Einheit sein, alles hilft zu nichts, wenn nicht zugleich die Kl\u00e4nge als Ganzes untereinander oder die Teile des einen Klanges mit entsprechenden Teilen des anderen an sich oder verm\u00f6ge ihrer Beschaffenheit in einer harmonischen Beziehung stehen. So wenigstens verh\u00e4lt es sich, wenn auch in der Psychologie die Forderung gilt, dafs Erkl\u00e4rungen nicht blofse Behauptungen sein d\u00fcrfen, die Glauben fordern, sondern dafs sie zugleich einer sonst bekannten Gesetzm\u00e4fsigkeit sich einordnen m\u00fcssen.\nAber Wundt stellt an unsere Gl\u00e4ubigkeit noch weit h\u00f6here Anforderungen, als diejenigen, die wir bisher kennen gelernt haben. Ich rede hier gleich in bestimmten Beispielen. Warum ist der Molldreiklang ein harmonischer, oder wenn man lieber will, konsonanter? Nach Wundt aus einem doppelten Grunde: Weil seine Kl\u00e4nge einen gemeinsamen Oberton, und weil sie einen gemeinsamen Grundklang haben. Aber hier mufs wiederum gesagt werden, dafs es keinen Molldreiklang \u00fcberhaupt, sondern nur bestimmte Molldreikl\u00e4nge giebt, und zwar dies in doppeltem Sinne. Es giebt Molldreikl\u00e4nge verschiedener Instrumente und Molldreikl\u00e4nge von verschiedener H\u00f6he. Heilst ein Molldreiklang c-es-g, so heifst sein gemeinsamer Oberton g\". Dieser Oberton existiert, wenn die Kl\u00e4nge des Dreiklangs gen\u00fcgend obertonreiche Kl\u00e4nge sind. Er existiert nicht, wenn dies nicht der Fall ist. Aber auch in diesem Falle fehlt das Gef\u00fchl der Harmonie oder Konsonanz nicht. Es ist selbst beim Molldreiklang der Stimmgabel deutlich ausgesprochen.","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342\nTheodor Lipps.\nWill man nun etwa sagen, hierbei werde die \u201eKlangVerwandtschaft\u201c und damit das Gef\u00fchl des harmonischen Zusammenklingens dadurch hergestellt, dafs man das fehlende g\u201c 1 das in anderen F\u00e4llen angeblich das \u00e4sthetische Bindeglied ausmacht, in der Vorstellung hinzuerg\u00e4nze ? Dies mag der Theoretiker im theoretischen Interesse thun. Der musikalisch empfindende Mensch im allgemeinen weifs von solcher Erg\u00e4nzung nichts. Und wenn er das gn wirklich hinzuf\u00fcge, so w\u00fcrden dadurch nimmermehr die empfundenen Kl\u00e4nge \u00e4sthetisch aneinander gebunden. Kein Ganzes der Wahrnehmung, das harmonisch w\u00e4re, wenn nicht ein zur Harmonie erforderliches Glied fehlte, wird dadurch harmonisch, dafs ich das Glied in Gedanken hinzuf\u00fcge. Mein Phantasiebild mag dadurch harmonisch w'erden, e wahrgenommene Wirklichkeit aber mufs mir eben im Gegens\u00e4tze dazu erst recht unharmonisch erscheinen. Oder meint man, wir \u00fcbertr\u00fcgen den Eindruck der Harmonie, den wir sonst in F\u00e4llen, wo das verbindende Glied nicht fehlte, empfingen, gewohnheitsm\u00e4fsig auf den Fall, in dem es fehlt? Wiederum gilt das volle Gegenteil. Eben weil wir gewohnt sind, den Eindruck der Harmonie zu gewinnen, m\u00fcssen wir da, wo die Wirklichkeit den Eindruck nicht erzeugt, den Mangel doppelt empfinden. So wenigstens verh\u00e4lt es sich \u00fcberall sonst. Sind wir an eine bestimmte Schicklichkeit in diesen oder jenen allt\u00e4glichen Verrichtungen gew\u00f6hnt, so \u00fcbertragen wir nicht den befriedigenden Eindruck der Schicklichkeit auf die F\u00e4lle, in denen gleiche Verrichtungen ohne jene Schicklichkeit vollzogen werden, sondern wir sind mehr, als wir es sonst w\u00e4ren, von dem that s\u00e4chlichen Mangel derselben unangenehm ber\u00fchrt. Nicht anders wird es sich verhalten, wo wir die gewohnte Harmonie oder Konsonanz von T\u00f6nen verrmissen. Nur wenn man mit Allgemeinbegrififen \u2014 \u201eder\u201c Molldreiklang \u2014 statt mit Thatsachen operiert, kann man dar\u00fcber hinwegsehen.\nZweitens, sagt man, hat der Molldreiklang einen einheitlichen Grundklang, auf den wir seine Kl\u00e4nge \u201ebeziehen\u201c k\u00f6nnen, d. h. es giebt einen Klang, der die Teilt\u00f6ne der s\u00e4mtlichen drei Kl\u00e4nge des Molldreiklanges als Obert\u00f6ne in sich enth\u00e4lt. In der Beziehung von Kl\u00e4ngen auf einen solchen gemeinsamen Grundklang besteht Wundts \u201eindirekte Klangverwandtschaft\u201c : und diese soll im wesentlichen das begr\u00fcnden, was Wundt speziell als \u201eHarmonie\u201c bezeichnet.","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre v. d. Gef\u00fchlen, insbesondere d. \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen. 343\nIn der That besteht dieser einheitliche Grundklang in gewissen F\u00e4llen. Heilst der Molldreiklang, wie oben, c-es-g, so ist der zugeh\u00f6rige Grrundklang As3. Dieses As3 ist \u201ein dem Zusammenklang als Differenzton zu h\u00f6ren\u201c. Er existiert also wirklich, nicht blofs in den Spekulationen des Theoretikers. Man k\u00f6nnte zwar daran erinnern, dafs Wundt vorher erkl\u00e4rt hat, der vollst\u00e4ndige Einzelklang, bestehend aus einem Gr rundton und seinen n\u00e4chsten deutlich vernehmbaren Obert\u00f6nen, sei \u201edas Grundgebilde\u201c, von dem alle Harmonie der T\u00f6ne ausgehe ; man k\u00f6nnte meinen, die T\u00f6ne der Kl\u00e4nge c, es, g seien, da schon ihre Grundt\u00f6ne erst den zehnten, zw\u00f6lften und f\u00fcnfzehnten Teilton von As3 repr\u00e4sentieren, doch wohl nicht zu den n\u00e4chsten Obert\u00f6nen vor As3 zu rechnen. Aber auf solche Kleinigkeiten lege ich hier kein Gewicht.\nDagegen fehlt der gemeinsame Grundklang, er wird nicht nur unh\u00f6rbar, sondern unm\u00f6glich, und kann nicht einmal in der Phantasie des Theoretikers Vorkommen, wenn wir den Dreiklang nur um wenig tiefer legen. Es ist also in diesem Falle auch die Klangeinheit, von der \u201ealle Harmonie ausgeht\u201c, ein Ding der Unm\u00f6glichkeit. Trotzdem bleibt die Harmonie bestehen.\nEndlich giebt es eine Harmonie der Klangfolge, wie des Zusammenklanges. Wie diese, so ist auch jene f\u00fcr Wundt zun\u00e4chst bedingt durch die Identit\u00e4t von Teilt\u00f6nen oder die \u201eKonsonanz\u201c. Insoweit gilt auch f\u00fcr die Klangfolge das oben zur Konsonanz Bemerkte. Weiter wird dann auch die angebliche Bedeutung der indirekten Verwandtschaft auf die Klangfolge \u00fcbertragen. Nur ist diese hier vorhanden lediglich in der Form einer \u201eassoziativen Beziehung\u201c, \u201everm\u00f6ge deren T\u00f6ne, die \u201efortw\u00e4hrend\u201c als zusammengeh\u00f6rige Elemente eines Einzelklanges empfunden werden, auch dann, wenn sie suc-cessiv auftreten, auf den herrschenden Bestandteil jenes Einzelklanges zur\u00fcckbezogen werden k\u00f6nnen\u201c. Statt \u201efortw\u00e4hrend\u201c will Wundt hier sagen: in h\u00e4ufigen F\u00e4llen. Aufser-dem \u00fcbersieht er auch hier die Kl\u00e4nge, f\u00fcr die es keinen gemeinsamen Grundklang giebt, die also nie als zusammengeh\u00f6rige Elemente eines Einzelklanges haben empfunden werden k\u00f6nnen. Im \u00fcbrigen trifft die Behauptung, dafs die einander folgenden Kl\u00e4nge ebenso wie die zusammenklingenden auf den gemeinsamen Grundklang bezogen werden \u201ek\u00f6nnen\u201c,","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344\nTheodor Tipps.\nzu, d. h. es hindert mich, wenn ich auf Grund meiner Kenntnis von der \u00dcELMHOLTZschen Theorie der Obert\u00f6ne und mit H\u00fclfe einiges Nachrechnens den Grundklang gl\u00fccklich ausfindig gemacht habe, nichts, ihn mir vorzustellen und mir seiner durch die Theorie geforderten Stellung als \u201e G rundklang\u201c bewufst zu werden. Nur thue ich dies freilich nie. Trotzdem habe ich harmonische Klangfolgen immer als solche empfunden. Es kommt eben f\u00fcr das \u00e4sthetische Gef\u00fchl nicht darauf an, was man thun kann, sondern was man thut. M\u00f6glichkeiten sind keine wirkende Faktoren. Dais auch hier wiederum Helmholtz\u2019 Entdeckung von der Zusammensetzung der Kl\u00e4nge vorausgesetzt ist. bemerke ich nur nebenbei.\nWundt hat die Harmonie einschliefslich der Konsonanz nicht erkl\u00e4rt. Zur Erkl\u00e4rung der Disharmonie und Dissonanz, die ebenso positive Thatsachen sind, hat er nicht einmal den Versuch gemacht. Dafs Teilt\u00f6ne von Kl\u00e4ngen nicht zu einer Klangeinheit geh\u00f6ren, kann sie nicht disharmonisch, sondern nur gegeneinander gleichg\u00fcltig machen. Tritt uns dasjenige, was wir nicht als verbunden zu sehen gewohnt sind, einmal als verbunden entgegen, so m\u00f6gen wir \u00fcberrascht sein, aber ob angenehm oder unangenehm, das h\u00e4ngt von besonderen Bedingungen ab. Sind die miteinander verbundenen Elemente an sich wohlgef\u00e4llig \u2014 und das sind ja reine T\u00f6ne \u2014, und st\u00f6rt nichts ihr Zusammensein, dann mufs sogar am Ende der \u201eHeiz der Neuheit\u201c ihrer Verbindung zu Gute kommen. Von einer St\u00f6rung weifs ja aber Wundt nichts. Er leugnet nicht die Wirkung der Schwebungen, die Helmholtz f\u00fcr die Dissonanz verantwortlich machen wollte, aber er betont ausdr\u00fccklich, dafs die Schwebungen zur Dissonanz nicht erforderlich seien.\nZur musikalischen Wirkung der Konsonanz, der Harmonie, der Dissonanz, der Schwebungen, kommt bei Wundt schliefs-lich noch die Wirkung eines metrischen Momentes. Wundt scheint es geradezu als ein Verdienst seiner Theorie anzusehen, dafs sie so verschiedenartige Erkl\u00e4rungsgr\u00fcnde in sich vereinigt. Leider ergeben viele unstichhaltige Gr\u00fcnde keinen stichhaltigen Grund. Auch das metrische Moment, von dem Wundt Gebrauch macht, erweist sich bei genauerem Zusehen als kein m\u00f6glicher Erkl\u00e4rungsgrund. Grundton, Quinte, Oktave verhalten sich hinsichtlich ihrer Schwingungszahlen wie 1:2:3. Diesem Verh\u00e4ltnis der Schwingungszahlen ent-","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre v. d. Gef\u00fchlen, insbesondere d. \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen. 345\nsprechend soll die Quinte auch in unserer Empfindung als die Mitte zwischen Grundton und Oktave erscheinen, sie soll f\u00fcr unsere Empfindung den Abstand zwischen Grundton und Oktave symmetrisch teilen. M\u00f6gen nun die hierauf bez\u00fcglichen, wie man weifs, gar nicht so einfachen Untersuchungen wirklich dies Resultat ergeben, jedenfalls weifs die Welt davon erst seit den fraglichen Untersuchungen. Ehe sie angestellt wurden, wufste man nichts von der symmetrischen Teilung, und auch jetzt noch besteht sie nicht f\u00fcr das Bewufstsein des musikalisch Empfindenden, mag er mit jenen Untersuchungen vertraut sein oder nicht. Wundt selbst betont, dafs die Quinte als die Mitte zwischen Grundton und Oktave erscheine, nur wenn man m\u00f6glichst von der Klangverwandtschaft abstrahiere. Aber dies pflegen wir eben nicht zu thun, und der musikalisch empfindende Mensch darf es nat\u00fcrlich nicht einmal versuchen. Dann kann doch auch wohl von einer musikalischen Wirkung dieser Mitte keine Rede sein. Wie hier die Klangverwandtschaft, oder richtiger: das nicht durch die absoluten, sondern durch die relativen Unterschiede der Schwingungszahlen bedingte Gef\u00fchl der Harmonie das Bewufstsein der Mitte oder der symmetrischen Teilung nicht zu st\u00e4nde kommen l\u00e4fst, so kann auch auf dem Gebiete der r\u00e4umlichen Formen die Symmetrie f\u00fcr das Bewufstsein oder den Gesamteindruck durch Nebenumst\u00e4nde aufgehoben werden. Damit ist dann unfehlbar auch die \u00e4sthetische Wirkung der Symmetrie dahin. Man sollte\nmeinen, die Tonwelt h\u00e4tte in dem Punkte kein Vorrecht.\n\u2022 0\n\u00dcberblicken wir das Ganze der W\u00fcNDTschen Theorie, so erscheinen in ihr durchweg an Stelle der in den einzelnen konkreten F\u00e4llen vorliegenden Thatbest\u00e4nde allgemeine und k\u00fcnstliche Betrachtungsweisen, gedankliche Schemata, begriffliche Konstruktionen gesetzt. Diese sollen erkl\u00e4ren, was nur durch Untersuchung jener erkl\u00e4rt werden kann. Weil der Theoretiker, und auch er noch nicht seit lange, den Allgemeinbegriff des vollst\u00e4ndigen, aus bestimmten T\u00f6nen \u201ezusammengesetzten\u201c Einzelklanges bilden und allerlei musikalische Beziehungen unter dem Gesichtspunkte einer mehr oder weniger vollst\u00e4ndigen Verwirklichung dieses Begriffes betrachten kann, darum soll der musikalisch empfindende Mensch, der von allem dem nichts weifs, an den musikalischen Beziehungen seine Freude haben. Gewifs mag der Theoretiker durch seine Betrachtungsweise","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"346\nTheodor Tipps.\nbefriedigt werden; aber die Freude an der Theorie ist nicht die Freude an dem Gegenst\u00e4nde derselben. Ebenso soll an symmetrischen Beziehungen, die der k\u00fcnstlich von Thats\u00e4chlichem abstrahierende Theoretiker entdeckt oder zu entdecken glaubt, der Mensch sich erbauen, f\u00fcr dessen Bewufstsein sie nicht bestehen und zugestandenermafsen nicht bestehen k\u00f6nnen. \u2014 Es w\u00e4re zu verwundern, wenn diese Methode der Erkl\u00e4rung bei Wundt vereinzelt st\u00e4nde. In der That begegnet sie uns auch sonst. Sie kehrt vor allem wieder bei der Theorie der Baumanschauung. Was in unserem Falle der ideale Einzelklang und die gedankliche Beziehung aller T\u00f6ne auf ihn, das ist dort die Wanderung des imagin\u00e4ren Blickpunktes und die gedankliche Konstruktion des Baumes auf Grund derselben. Ich nehme Anstand, Wundt wegen dieser Art seines Denkens ohne weiteres unter die Metaphysiker zu rechnen. Gewifs aber hat dieselbe in gewissen metaphysischen Begriffskonstruktionen, welche ja auch den Anspruch erhoben, zugleich einen that s\u00e4chlichen Hergang zu bezeichnen, ihr n\u00e4chstes Analogon. Ich sehe in Wundts Weise ein merkw\u00fcrdiges Beispiel von der faszinierenden Gewalt solcher Begriffskonstruktionen, ein um so merkw\u00fcrdigeres, als Wundt zugleich des festen Glaubens lebt, nicht nur auch, sondern in besonderem Mafse auf dem Boden der Thatsachen zu stehen.\nDa nach dem Gesagten Wundts Theorie der Harmonie\nnicht als eine Theorie gelten kann, da andererseits Helmholtz\u2019\nTheorie teils aus den gleichen, teils aus anderen Gr\u00fcnden,\nauch solchen, die Wundt anf\u00fchrt, unhaltbar ist, so sehe ich\neinstweilen keinen anderen Weg der Erkl\u00e4rung, als denjenigen,\nder von der Thatsache der einfacheren und weniger einfachen\nSchwingungsverh\u00e4ltnisse ausgeht. Dafs diese mit der Harmonie\nund Disharmonie in gesetzm\u00e4fsigem Zusammenh\u00e4nge stehen,\nist ja nun doch einmal eine nicht zu bestreitende Thatsache.\nDabei denke ich nicht an Eulers \u201eunbewufstes Z\u00e4hlen\u201c der\nSchwingungen, wohl aber daran, dafs die Schwingungsrhythmen\noder regelm\u00e4fsigen Schwingungsfolgen, die in einfachen Ver-\n\u2022 \u2022\nh\u00e4ltnissen stehen, ebendamit ein Moment der \u00dcbereinstimmung, eine, n\u00e4mlich eben rhythmische, Verwandtschaft besitzen, und dafs dieser \u00dcbereinstimmung oder Verwandtschaft eine, obzwar nicht n\u00e4her zu bestimmende, \u00dcbereinstimmung oder Verwandtschaft zwischen den psychophysischen Erregungsvorg\u00e4ngen","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre v. d. Gef\u00fchlen, insbesondere d. \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen. 347\nentsprechen wird, die durch jene Schwingungsfolgen erzeugt werden und in den zugeh\u00f6rigen Tonempfindungen uns zum Bewufstsein kommen. Dafs solche Verwandtschaftsverh\u00e4ltnisse auch aus anderen Gr\u00fcnden gefordert erscheinen, giebt dieser Annahme erh\u00f6hte Sicherheit. \u00dcbrigens verweise ich daf\u00fcr auf anderw\u00e4rts Gesagtes.1\nNicht ganz denselben, aber immerhin einen \u00e4hnlichen Charakter, wie \"Wundts Er\u00f6rterung der \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchle auf dem Gebiet der T\u00f6ne, zeigen seine Versuche, die Elementargef\u00fchle verst\u00e4ndlich zu machen, die die Welt des Sichtbaren, vor allem die Welt der Gestalten, in uns erweckt. Den Farben schreibt W\u00fcndt eine geringere \u00e4sthetische Wirkung zu, als ich ihnen zuschreiben w\u00fcrde. Ich denke nat\u00fcrlich nicht daran, ihm hierin das Hecht seiner individuellen Auffassung abzustreiten. Dagegen habe ich bereits2 das Hecht der W\u00fcNDTschen Erkl\u00e4rung unseres Wohlgefallens an kontrastierenden Farben gemeint bestreiten zu m\u00fcssen. Unbefangene Beobachtung, meint Wundt, m\u00fcsse dabei stehen bleiben, dafs kontrastierende Farben in ihrer sinnlichen Wirkung sich heben. Was ich dagegen bemerkte, war dies, dafs man die gleiche Hebung, d. h. die gleiche Steigerung der Intensit\u00e4t von Farben auch auf anderem Wege erzeugen k\u00f6nne, z. B. durch st\u00e4rkere Beleuchtung, dafs aber, wenn beliebige benachbarte Farben, etwa Gr\u00fcn und Blau, auf solche Weise in ihrer sinnlichen Wirkung gehoben werden, daraus das Gegenteil des Wohlgefallens hervorgehen k\u00f6nne, dafs also die Hebung der sinnlichen Wirkung als solche gewifs nicht der Grund des Wohlgefallens sein k\u00f6nne.\nWas die \u00e4sthetische Wirkung der Gestalten betrifft, so unterscheidet Wundt die Gliederung der Gestalten und den Lauf der Begrenzungslinien. F\u00fcr die Gliederung sei die Hegelm\u00e4fsigkeit, vor allem in Gestalt der Symmetrie, wesentlich. Diesem Satz wird man ebenso zustimmen m\u00fcssen, wie dem Zusatz, dafs bei den Naturformen tiefer hegende Beziehungen der Teile zu einander hinzutreten. W\u00fcndt h\u00e4tte sogar getrost weitergehen und sagen d\u00fcrfen, dafs solche tiefer liegenden Be-\n1\t\u00dcber den Begriff der Verschmelzung etc. Philos. Monatsh. XXVIII, S. 576 ff.\n2\tS. Grundthatsachm des Seelenlebens. S. 275 f.","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348\nTheodor Lipps.\nZiehungen \u00fcberall zu finden seien, und dafs sie \u00fcberall dasjenige seien, was erst die eigentlich \u00e4sthetische Wertsch\u00e4tzung zu st\u00e4nde kommen lasse. Genaueres Eingehen auf die Frage h\u00e4tte ihm zugleich gezeigt, wie unzul\u00e4ssig vom \u00e4sthetischen Standpunkte jene Unterscheidung zwischen Gliederung und Lauf der Begrenzungslinien ist.\nDafs bei den Naturgegenst\u00e4nden tiefer liegende Beziehungen obwalten, hindert nach Wundt doch nicht, dafs auch bei ihnen eine Art der Begelm\u00e4fsigkeit besteht und \u00e4sthetisch wirkt, nicht die eigentliche und strenge, aber eine un eigentliche, die Wundt als \u201eHomologie\u201c bezeichnet. Hier ist wiederum ein Punkt, wo ein Wort, oder wenn man lieber will, ein Begriff zur rechten Zeit sich einstellt. Beim Menschen sind H\u00e4nde und F\u00fcfse, Hals und Taille, Brust und Bauch \u201ehomologe\u201c Teile, die F\u00fcfse sind eine \u201ehomologe Wiederholung\u201c der H\u00e4nde etc. Ich frage, warum nennt Wundt die Formen des Fufses, der Taille, des Bauches nicht statt \u201eHomologien\u201c lieber Verschiebungen, Verzerrungen, Karikaturen, mifslungene, weil hinter ihrem Vorbild zur\u00fcckbleibende Nachbildungen der Formen der Hand, des Halses, der Brust? Die Antwort ist einfach: Weil in diesem Falle die Abweichungen oder Modifikationen, die \u00fcbereinstimmenden und doch wiederum nicht \u00fcbereinstimmenden Formen gefallen. W\u00fcrden sie mifsfallen, so w\u00fcrde auch Wundt nicht anstehen, sie mit einem jener anderen Namen zu bezeichnen. Angenommen, die eine H\u00e4lfte eines Palastes wiederholte die andere so, wie der Fufs die Hand, oder der Bauch die Brust wiederholt, so w\u00fcrde auch Wundt von verschobener Begelm\u00e4fsigkeit sprechen, er w\u00fcrde in der Wiederholung eine Karikatur der Symmetrie sehen und diese Verschiebung oder Karikatur abscheulich finden. In der That pflegt die verschobene Kegelm\u00e4fsigkeit, die Symmetrie, die keine ist, zu den \u00e4stethisch unertr\u00e4glichsten Dingen zu geh\u00f6ren. Warum machen die Formen des menschlichen K\u00f6rpers eine Ausnahme; oder was dasselbe heilst, warum verdienen sie den wohlklingenden Namen Homologie? Diesen Wohlklang zu leugnen, bin ich ja weit entfernt. Ich leugne nur, dafs Bezeichnung mit einem gef\u00e4lligen Namen und Erkl\u00e4rung einer gef\u00e4lligen Sache dasselbe ist.\nIm Anschlufs an die Symmetrie behandelt Wundt das Verh\u00e4ltnis des goldenen Schnittes. Er meint, der goldene","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre v. d. Gef\u00fchlen, insbesondere d. \u00e4sthetischen Elementar gef\u00fcllten. 349\nSchnitt habe vor der Symmetrie insofern den Vorzug, als er \u201enicht nur jeden Teil, sondern auch das Ganze als Proportionsglied enthalte\u201c. Die Wohlgef\u00e4lligkeit von Gebilden, deren Glieder oder Elemente sich zueinander verhalten, wie der Minor und Major des goldenen Schnittes, wird damit unmittelbar auf das in der Formel des goldenen Schnittes a : b : (a -(- b) enthaltene mathematische Verh\u00e4ltnis zur\u00fcckgef\u00fchrt. Wundt bezieht sich in der n\u00e4heren Ausf\u00fchrung gelegentlich auf Withers Untersuchungen in den Philos. Studien IX, 1 u. 2. Merkw\u00fcrdigerweise aber l\u00e4fst er gerade die Bemerkung Withers unbeachtet, die f\u00fcr ihn die wichtigste h\u00e4tte sein m\u00fcssen, die aber freilich seine Theorie umst\u00f6fst. Wither betont, dafs sich das wohlgef\u00e4lligste Gr\u00f6lsenverh\u00e4ltnis dem Verh\u00e4ltnis zwischen dem Minor und Major des goldenen Schnittes nirgends so sehr n\u00e4hert, wie dann, wenn es als Verh\u00e4ltnis der Seiten eines Bechteckes gegeben ist. Hier nun ist das \u201eGanze\u201c, d. h. die Summe der Seiten, gar nicht vorhanden, es besteht also f\u00fcr die Wahrnehmung auch nicht die Gleichheit des Verh\u00e4ltnisses zwischen Minor und Major einerseits und des Verh\u00e4ltnisses zwischen dem Major und dem Ganzen andererseits. Gewifs mag auch hier wiederum der Theoretiker, der von der angeblichen Bedeutung des goldenen Schnittes weifs, das Ganze in Gedanken hersteilen und in der Folge, wenn nicht an der k\u00fcnstlich erzeugten Gleichheit der Proportionen, so doch an der vermeintlichen Best\u00e4tigung seiner Theorie seine Freude haben. Wer nur einfach die Figur betrachtet, hat davon nichts. Sein Wohlgefallen mufs also auf anderem Grunde beruhen.\nAuf welchem Grunde es aber beruht, das, meine ich, sollte man gar nicht fragen, ohne dais man zugleich die Frage zu beantworten sucht, ob nicht ein allgemeiner Grund des Wohlgefallens an r\u00e4umlichen Formen \u00fcberhaupt gefunden und worin etwa er gefunden werden k\u00f6nne. Wird er gefunden, so mus man zun\u00e4chst versuchen, aus ihm auch den hier in Bede stehenden einzelnen Fall verst\u00e4ndlich zu machen. Ich nun finde einen solchen allgemeinen Grund in dem sich Aufrichten und sich Ausbreiten der r\u00e4umlichen Gebilde, ihrem sich Kr\u00fcmmen und sich Strecken, sich Ausweiten und V erengen u. s. w., ich finde ihn, genauer gesagt, in den mit diesen und mancherlei anderen Namen bezeichneten r\u00e4umlichen Verhaltungsweisen, Funktionen, raumbildenden und formerzeugenden","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"350\nTheodor Lipps.\nFaktoren. Und daraus wird mir auch das Wohlgefallen an den Gliederungen, die dem Verh\u00e4ltnisse des goldenen Schnittes sich ann\u00e4hern, gen\u00fcgend verst\u00e4ndlich. Das Rechteck, das diese Gliederung zeigt, vertrete hier zugleich die \u00fcbrigen F\u00e4lle. Jedes vom Quadrat deutlich unterschiedene Rechteck \u00fcberhaupt \u201esteht\u201c oder \u201eliegt\u201c, repr\u00e4sentiert seinem Hauptcharakter nach das sich Aufrichten oder das sich Ausdehnen oder sich Gehen-lassen in die Breite. Zugleich ist im einen Falle mit dem sich Aufrichten eine gewisse Ausdehnung in die Breite, im anderen mit dem horizontalen sich Ausbreiten ein gewisses Mafs der Ausdehnung nach oben verbunden. Und diese Verhaltungsweisen oder Funktionen stehen, obgleich in ihrer Wirkung, d. h. zun\u00e4chst in ihrer Richtung an sich durchaus verschieden und selbst\u00e4ndig, doch nicht isoliert nebeneinander,\nsondern wirken zusammen und geben in ihrem Zusammenwirken\n\u2022 \u2022\ndem Rechteck seine einheitliche Form. \u00dcberall nun, wo dergleichen der Fall ist, d. h. \u00fcberall, wo an sich eigenartig wirkende, in diesem Sinne \u201eselbst\u00e4ndige\u201c raumbildende Faktoren zu einem einheitlichen r\u00e4umlichen Formganzen Zusammenwirken, hat es \u00e4sthetischen Wert, wenn einer der Faktoren als der herrschende und damit den Grundcharakter des Ganzen eindeutig bestimmende erscheint. Es gewinnt eben dadurch das Ganze das, was man im pr\u00e4gnanten Sinne \u201eCharakter\u201c nennt. Andererseits vertr\u00e4gt sich damit nicht nur, dafs auch der zur\u00fccktreteinde oder sich unterordnende Faktor zu entschiedener Geltung gelange oder seine Eigenart deutlich verwirkliche, sondern es erscheint uns w\u00fcnschenswert, dafs er dies in dem Mafse thue, als es jene Forderung der eindeutigen Charakterbestimmtheit erlaubt, in dem Mafse also, als durch sein relatives Hervortreten die Herrschaft jenes herrschenden Faktors nicht in Frage gestellt erscheint. Selbst\u00e4ndiges sich Auswirken der unterschiedenen und ihrer Natur nach zu solchem selbst\u00e4ndigen sich Auswirken f\u00e4higen raumbildenden Faktoren, Funktionen, Motive, elementaren Formgedanken, so aber, dafs dabei zugleich die Unterordnung unter einen dieser Faktoren oder Formgedanken nicht nur stattfindet, sondern vollkommen klar und sicher sich aufdr\u00e4ngt, oder umgekehrt gesagt, klare Unterordnung unter einen Faktor oder Formgedanken, verbunden mit selbst\u00e4ndiger Verwirklichung der anderen innerhalb der hierdurch gesteckten Grenzen, \u2014 mit diesen Worten ist ein","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre v. d. Gef\u00fchlen, insbesondere d. \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen. 351\nallgemeines \u00e4sthetisches Formgesetz, das zugleich auf anderen Gebieten sein Analogon findet, bezeichnet.\nDieses Formgesetz nun verwirklicht sich in mannigfaltigster Weise. Es kann in einfachster Weise sich verwirklichen beim einfachen Rechteck oder den ihm n\u00e4chstverwandten Formen. Es verwirklicht sich aber beim Rechteck naturgem\u00e4fs dann, wenn das sich Aufrichten oder das in die Breite sich Dehnen deutlich \u00fcber wiegt, wenn also das Rechteck entschieden als ein stehendes oder liegendes erscheint, so entschieden, dafs dies Stehen oder Liegen als sein Grundcharakter oder als sein eigentliches \u201eWesen\u201c erscheint, zugleich aber die andere Art der Ausbreitung die Geltung gewinnt, die sie unter dieser Voraussetzung gewinnen kann. Es entspricht mit anderen Worten jenem Prinzip: das v\u00f6llig ausgesprochen vertikal oder horizontal gestreckte Rechteck, das zugleich nach der anderen Richtung m\u00f6glichste F\u00fclle, m\u00f6glichst viel Masse oder K\u00f6rper besitzt, so dafs es ebenso bestimmt von dem keine Richtung bevorzugenden, insofern charakterlosen Quadrat, wie von dem nicht mehr eindeutig, sondern einseitig charakterisierten schlanken oder schmalen, eine seiner Richtungen verk\u00fcmmernden Rechteck entfernt bleibt. Dieses Rechteck nun kann gar nicht umhin, im Verh\u00e4ltnis seiner Seiten dem Verh\u00e4ltnis zwischen Minor und Major des goldenen Schnittes sich zu n\u00e4hern. Wieweit es sich ihm n\u00e4hert, d. h. bei welcher Form wir den Eindruck sowohl des eindeutigen Charakters, als des un verk\u00fcmmerten zur Geltung Kommens beider Richtungen am vollkommensten gewinnen, dies l\u00e4fst sich nat\u00fcrlich nicht a priori bestimmen, sondern nur durch die Erfahrung feststellen. In dieser erfahrungsgem\u00e4fsen Feststellung, aber auch nur in ihr besteht der Wert der einschl\u00e4gigen experimentellen Untersuchungen.\nBei allem dem ist vorausgesetzt, dafs das Rechteck verm\u00f6ge der Art seines Vorkommens die isolierte Betrachtung fordert, die ich ihm hier habe angedeihen lassen. Findet sich das Rechteck in irgendwelchem weiteren Zusammenh\u00e4nge, dann fragt es sich, wie weit auch in diesem Zusammenh\u00e4nge die Begriffe des entschiedenen Stehens und Liegens und des gleichzeitig stattfindenden, m\u00f6glichst bedeutungsvollen Hervortretens der horizontalen, bezw. vertikalen Ausbreitung \u2014 alle diese Begriffe, so abstrakt und allgemein gefafst, wie sie oben gefafst","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352\nTheodor Lipps.\nwurden \u2014 noch ihre Stelle finden, oder wieweit vielmehr durch den Zusammenhang konkretere Forderungen, Forderungen eines bestimmten Stehens, Liegens, eines sich Ausbreitens von bestimmter Art und Gr\u00f6fse gestellt sind. Je mehr jenes der Fall ist, eine je abstraktere Sprache, kurz gesagt, ein Formgebiet spricht, um so mehr werden die Formen in ihren Verh\u00e4ltnissen einer allgemeinen, von allen konkreteren Forderungen abstrahierenden Normalformel, oder, insoweit der goldene Schnitt erfah-rungsgem\u00e4fs als solche Normalformel erscheint, dem goldenen Schnitte sich n\u00e4hern k\u00f6nnen. Dafs in der Architektur jene Voraussetzung in gewissem Mafse erf\u00fcllt ist, oder, der Natur dieser Kunst zufolge, in gr\u00f6fserem oder geringerem Mafse erf\u00fcllt sein kann, dafs insbesondere gewisse Zeiten mehr als andere eine relative Abstraktheit der architektonischen Formensprache anstrebten und von speziellerer Charakteristik sich fern hielten, dies ist der Grund, warum in der Architektur und speziell in der Architektur gewisser Zeiten Ann\u00e4herungen an den goldenen Schnitt h\u00e4ufiger gefunden werden und mehr am Platze erscheinen m\u00f6gen, als sonst; und keineswegs ist der Grund daf\u00fcr darin zu suchen, dafs in der Architektur die Wohlgef\u00e4lligkeit der Formen als solcher, abgesehen von ihrem Sinn, eine gr\u00f6fsere Rolle spielte. Formen mit abstraktem Sinn sind nicht Formen ohne Sinn; Formen ohne Sinn sind auch in der Architektur sinnlos. \u2014 Dagegen sind auch in der Architektur diese oder jene Abweichungen vom goldenen Schnitt notwendig, sobald der Zusammenhang oder der Sinn, den eine Form an ihrer Stelle hat, diese Abweichung fordert. Der goldene Schnitt wird h\u00e4fslich, wenn er sinnwidrig wird, genau so wie er sch\u00f6n erscheint, solange er sinnvoll erscheint. Endlich ist das Quadrat die sch\u00f6nste Rechteckform, wo die Herrschaft einer der beiden Richtungen des Rechtecks dem Sinne des Rechtecks widerspricht; und dies ist notwendig der Fall, wenn die dritte, zu den beiden Richtungen des Rechtecks senkrechte Richtung die charakteristische Funktionsrichtung ist, d. h. die Richtung der Funktion, auf die das Ganze als Ganzes abzielt, und wenn die Ausbreitung in den beiden dem Rechteck selbst angeh\u00f6rigen Richtungen ihrer Natur nach dieser Funktion in gleicher Weise sich unterordnet. In diesem Falle ist es das Quadrat, das dem Ganzen einen eindeutig bestimmten Charakter oder kurz \u201eCharakter\u201c giebt:","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre v. d. Gef\u00fchlen, insbesondere d. \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen. 353\ndas vom Quadrat abweichende Rechteck w\u00fcrde die Grund-funktion nur als die wichtigste Funktion, nicht als die Funktion erscheinen lassen. Beispiele sind der quadratische Querschnitt des Pfeilers, der st\u00fctzt oder tr\u00e4gt, die Kassette der Kassettendecke, die auflagert oder den Raum nach oben abschliefst, die Platte des Fufsbodenbelags, der den Boden deckt, u. a. Die Kassettendecke kann zugleich nach einer Seite sich strecken, die Kassetten k\u00f6nnen also l\u00e4nglich sein. Dann aber ist der Charakter des Auflagerns und damit die Klarheit des Ganzen vermindert; und \u00e4hnlich in den anderen F\u00e4llen.\nV\u00f6llig unbegreiflich ist mir schliefslich Wundts Lehre von den \u00e4sthetischen Eiern entargef\u00fchlen, die aus der Betrachtung des Laufes der Begrenzungslinien sich ergeben. Hier baut sich eine Fiktion \u00fcber der anderen auf; die Thatsachen sind v\u00f6llig zum Schweigen gebracht. Was erkl\u00e4rt wird und die Art, wie es erkl\u00e4rt wird, beides hat mit der psychologischen Wirklichkeit gleich wenig zu thun. Wir erfahren: \u201eOhne M\u00fche verfolgt das Auge von seiner Prim\u00e4rstellung aus gerade Linien im Sehfeld. Wenn dagegen Punktdistanzen durcheilt werden, so bewegt sich dasselbe schon von der Prim\u00e4rstellung aus und noch mehr von anderen Stellungen in Bogenlinien von schwacher Kr\u00fcmmung. Wir d\u00fcrfen hieraus schliefsen, dafs die schwach gekr\u00fcmmte Bogenlinie die Linie der ungezwungensten Bewegung f\u00fcr das Auge ist. So sehr daher auch die Bewegungen nach dem LiSTMOschen Gesetz bei der Betrachtung naher Objekte f\u00fcr das Auge vorteilhaft sein m\u00f6gen, so sind doch jene gekr\u00fcmmten Bewegungen, welche verm\u00f6ge der blofs angen\u00e4herten G\u00fcltigkeit dieses Gesetzes stattfinden, bei der freieren Auffassung entfernterer Naturgegenst\u00e4nde die sinnlich angenehmeren. Wir empfinden es z. B. an architektonischen Werken von gr\u00f6fserer Ausdehnung entschieden miisf\u00e4llig, wenn unser Auge gezwungen wird, ausschliefslich geraden Linien nachzugehen ; namentlich aber ist der pl\u00f6tzliche \u00dcbergang zwischen Geraden von verschiedener Richtung dem Auge peinlich, und wir lieben daher die Vermittelung durch die sanft geschwungene Bogenlinie.u\nIch frage: Was will das alles? Ich rede hier nicht von der H\u00f6he des \u00e4sthetischen Standpunktes, die aus diesen S\u00e4tzen herausleuchtet. Ich frage nicht, wie der irgend mit den \u00e4sthetischen Thatsachen Vertraute und um \u00e4sthetisches Ver-\n23\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie VIII.","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354\nTheodor Lipps.\nst\u00e4ndnis Bem\u00fchte urteilen mufs, wenn er der unendlichen Feinheit der architektonischen Formensprache gedenkt, wie sie vor allem auch in den Uber gangsgliedern stattfindet, wenn er die Gesetzm\u00e4fsigkeit sich vergegenw\u00e4rtigt, mit der \u00fcberall im Bauwerk und nicht zuletzt in den \u00dcbergangsgliedern relativ selbst\u00e4ndige, zugleich doch in den Zusammenhang des Ganzen sich einordnende Gedanken in einzelne Gedankenelemente logisch sich gliedern, wie diese Gedankenelemente genau die ihnen ad\u00e4quate Form gewinnen und wie sie zugleich genau so, wie es ihr innerer Zusammenhang fordert, \u00e4ufserlich sich aneinanderf\u00fcgen, \u2014 und wenn er dann sieht, wie eine wissenschaftliche Psychologie mit allem dem sich auseinandersetzt: \u201eDer pl\u00f6tzliche \u00dcbergang zwischen geraden Linien ist dem \u201eAuge\u201c unangenehm, und \u201edaher\u201c lieben wir die Vermittelung durch die \u201esanftgeschwungene Bogenlinie\u201c ; als w\u00e4re nicht oft genug der pl\u00f6tzliche \u00dcbergang absolut gefordert, als t]j\u00e4te es, wo er nicht am Platze ist, eine beliebige sanftgeschwungene Bogenlinie, als k\u00f6nnte nicht oft die geringste Ver\u00e4nderung einer Linie Sch\u00f6nheit in H\u00e4fslichkeit verkehren und umgekehrt. Nur eines: angenommen, ich verst\u00e4nde vom Griechischen gar nichts; ich h\u00e4tte nur, ohne Kenntnis des Sinnes, griechische Buchstaben lesen und zu Worten verbinden gelernt. Ich h\u00e4tte dabei bemerkt, dafs einige Worte meiner Zunge schwerer fallen, als andere. Was w\u00fcrde man sagen, wenn ich auf Grund davon die Ilias Homers \u00e4sthetisch erkl\u00e4ren, wenn ich aus der M\u00fche oder M\u00fchelosigkeit, mit der ich die Laute und Worte derselben ausspreche, die Sch\u00f6nheit derselben ableiten wollte?\u201c\nWir werden sogleich sehen, dafs dieser Vergleich nicht v\u00f6llig stimmt. Die M\u00fche und M\u00fchelosigkeit des Aussprechens der griechischen Worte ist der Voraussetzung nach wenigstens Thatsache, w\u00e4hrend Wundt mit fingierten M\u00fchen und M\u00fchelosigkeiten operiert. F\u00fcr jetzt erst noch einige Nebens\u00e4chlichkeiten. Ist es W\u00fcndt Ernst damit, dafs entferntere, dafs insbesondere architektonische Objekte in h\u00f6herem Mafse die krumme Linie zulassen oder fordern, als solche, die aus der N\u00e4he betrachtet zu werden pflegen? Dann mufs seine Meinung ins Gegenteil verkehrt werden. Erzeugnissen der Keramik, Thon-und Glasgef\u00e4fsen u. s. w. ist die krumme Linie, auch die \u201esanft geschwungene Bogenlinie\u201c vor allem naturgem\u00e4fs, und die","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre v. d, Gef\u00fchlen, insbesondere d. \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen. 355\npflegen wir gewifs aus der N\u00e4he zu betrachten. Andererseits hat die gerade Linie nirgends eine h\u00f6here Bedeutung, als in der Architektur. Und was will die \u201efreiere Auffassung\u201c entfernter Gegenst\u00e4nde, auf die die Wohlgef\u00e4lligkeit der krummen Linie bei solchen Gegenst\u00e4nden gegr\u00fcndet wird? Heifst dies, dafs bei solchen Gegenst\u00e4nden, dafs insbesondere bei der Architektur ein scharfes Erfassen der Formen weniger erforderlich sei, so dafs hier mehr als sonst auf die Verfolgung der einzelnen Linien mit dem Blick verzichtet werden k\u00f6nne?\nWiederum gilt das Gegenteil. Die Architektur ist diejenige Kunst, bei der es in besonderem Mafse auf die exakte Linienf\u00fchrung ankommt. Bei dem Majolikagef\u00e4fs, dem venetianischen Glase sind Schwankungen, Abweichungen von der intendierten reinen Form zul\u00e4ssig, sogar, weil sie dem Stoffcharakter entsprechen, innerhalb gewisser Grenzen w\u00fcnschenswert ; das Zuf\u00e4llige hat hier, wie in mancherlei anderen F\u00e4hen, sein Recht und seine \u00e4sthetische Bedeutung. Dagegen w\u00e4ren in der Architektur solche Schwankungen, solche Zuf\u00e4lligkeiten unertr\u00e4glich. Wenn es darum \u00fcberhaupt Sinn hat, bei Betrachtung eines Objektes die sichere Verfolgung der einzelnen Linie zu fordern, so ist zweifellos bei ihr diese Forderung am meisten berechtigt.\nIn der That aber ist, wie ich schon bei anderer Gelegenheit gegen Wundt bemerkt habe, die Annahme, dafs wir Linien, von denen wir ein Bild gewinnen wollen, fixierend durchlaufen, eine der Wirklichkeit widersprechende. M\u00f6gen wir urspr\u00fcnglich zu diesem m\u00fchsamen Verfahren gen\u00f6tigt gewesen sein \u2014 obgleich die Beobachtung an Kindern dies keineswegs ergiebt \u2014, jetzt verfahren wir nicht mehr so. Der Blick schwankt bald da-, bald dorthin, er umspielt die Linie in ihrem Verlaufe so, wie es uns gerade bequem ist, aber er folgt ihr nicht in dem Sinne, wie dies Wundt voraussetzt. Wir verfolgen sie, aber nur mit der Aufmerksamkeit, mit diesem inneren Blick. Der pl\u00f6tzliche \u00dcbergang zwischen Geraden von verschiedener Richtung ist \u201edem Auge peinlich\u201c. In der That ist, wie schon gesagt, ein solcher \u00dcbergang uns bald erfreulich, bald unerfreulich. Sagt man im letzteren Falle, er sei \u201edem Auge\u201c peinlich, so ist dies eine popul\u00e4re Wendung, die man nicht in wissenschaftlichem Zusammenh\u00e4nge in vollem Ernste nehmen sollte. Die Wendung will einfach sagen, der Anblick der Linien sei peinlich.\n28*","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356\nTheodor Lipps.\nDagegen meint niemand, dem Auge, diesem \u00e4ufseren Organ, geschehe durch, denselben ein Leid. Am wenigsten meint man, das Auge verfolge die eine Linie getreulich bis zum Punkte des Zusammenstofsens mit der anderen, um dann eine scharfe Biegung zu machen und ebenso getreulich der anderen zu folgen, und die Anstrengung dieses pflichtgetreuen Ausfahrens der Ecken sei der Grund f\u00fcr den \u00fcblen Eindruck der Linien. Sollte aber jemand dieser Meinung sein, so irrt er. Denn niemand verf\u00e4hrt in solcher Weise. Wundt nur fingiert, dafs man es thue. Wo bliebe auch sonst die \u00e4sthetische \u2014 ebensowohl wie die optische \u2014 Augenbewegungstheorie?\nH\u00e4tte es aber auch mit dem \u201eVerfolgen\u201c der Linien seine Richtigkeit, so w\u00fcrden wir doch nie auf den Gedanken verfallen, die Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit der dazu erforderlichen Bewegungen des Auges irrt\u00fcmlich als zu den Linien geh\u00f6rig anzusehen. Ich mache hier gleichzeitig auf eine weitere Unzul\u00e4ssigkeit der Theorie aufmerksam. \u201eDie\u201c zur Durchmessung oder Verfolgung einer Linie erforderliche Bewegung des Auges giebt es nicht. Die Bewegung ist eine andere und andere, insbesondere eine anstrengendere oder bequemere, je nach der Lage der Augen zum Kopfe, oder was dasselbe sagt, je nach der Stellung des Kopfes zur Linie. Danach m\u00fcfste je nach der Stellung des Kopfes dieselbe Linie wohlgef\u00e4llig oder mifsf\u00e4llig erscheinen k\u00f6nnen. Dies trifft doch wohl nicht zu. Ich kann die Dekorationen an der Decke der Sixtinischen Kapelle \u2014 von den Gem\u00e4lden sehe ich ab \u2014 das eine Mal auf dem R\u00fccken liegend oder mittelst eines Spiegels, also m\u00f6glichst bequem, das andere Mal aufrechtstehend betrachten. Das Letztere schliefst eine erhebliche Anstrengung nicht nur f\u00fcr meine Halsmuskeln, sondern auch, da ich den Kopf nicht allzuweit nach r\u00fcckw\u00e4rts biegen kann, f\u00fcr meine Augen in sich. Dies lasse ich aber nicht die Dekorationen entgelten. Sie gefallen mir, so sehr mir die Augenbewegungen, die sie mir aufn\u00f6tigen, mifsfallen. Ich verwechsle nicht den \u201eGef\u00fchlston\u201c, den meine Augenbewegungen, und denjenigen, den die wahrgenommenen Linien besitzen. \u2014 Kur nebenbei sei bemerkt, dafs diese Verwechselung nach Wundt, der den Gef\u00fchlston als ein drittes Element der Empfindung, neben\nQualit\u00e4t und Intensit\u00e4t, bezeichnet, besonders unbegreiflich sein w\u00fcrde.","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre v. d. Gef\u00fchlen, insbesondere d. \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen. 357\nLassen wir aber alles Bisherige dahingestellt. Warum nennt Wundt die schwach gekr\u00fcmmte Bogenlinie die Linie der ungezwungensten Bewegung f\u00fcrs Auge? Wie rechtfertigt Wundt diese Behauptung, die ihm die angebliche Wohlgef\u00e4lligkeit der schwach gekr\u00fcmmten Bogenlinie erkl\u00e4ren soll, aus den Thatsachen? Die kurze Antwort lautet: Indem er auch hier wiederum durch einen Allgemeinbegriff sich verf\u00fchren l\u00e4fst. \u201eDie\u201c schwach gekr\u00fcmmte Bogenlinie giebt es in der Welt so wenig, als \u201edie\u201c zur Durchmessung einer Linie erforderliche Augenbewegung, oder \u201edie\u201c Klangeinheit u. s. w. Es giebt nur schwach gekr\u00fcmmte Bogenhnien von dieser oder jener Form. Welche schwach gekr\u00fcmmte Bogenlinie nun pflegt das Auge, wenn es eine Distanz frei durchmisst, zu beschreiben? Ist es eine bestimmte? Dann k\u00f6nnte daraus geschlossen werden, dafs eben diese bestimmte Bogenlinie die \u201eLinie der ungezwungensten Bewegung f\u00fcrs Auge\u201c sei. Diese bestimmte Linie m\u00fcfste dann auch gemeint sein, wenn Wundt von unmittelbar wohlgef\u00e4lligen krummen Linien spricht. Und es m\u00fcfste Wundt leicht fallen, diese Linie nachzuweisen. In Wahrheit meint Wundt die Sache nicht so. Das frei sich bewegende Auge vollzieht bald diese, bald jene krummlinige Bewegung. Was folgt dann aber aus dieser Thatsache? Offenbar doch nichts Anderes, als dies, dafs f\u00fcr das Auge bald diese, bald jene krummlinige Bewegung die bequemste ist. Wundt erkennt dies ja auch selbst an einer anderen Stelle ausdr\u00fccklich an. Er sagt dort, das eine leere Distanz durchmessende Auge folge der \u201eihm gerade bequemsten Bahn\u201c. Die \u201egerade\u201c bequemste Bahn ist doch nicht eine bestimmte, sondern eine von nicht n\u00e4her zu bezeichnenden Umst\u00e4nden, irgendwelchen zuf\u00e4lligen Verfassungen des Auges abh\u00e4ngige und mit diesen wechselnde. Es braucht nun aber wohl nicht gesagt zu werden, dafs die Behauptung, dem Auge sei jetzt diese, jetzt jene schwach krummlinige Bewegung die bequemste, nicht identisch ist mit der Erkl\u00e4rung, es sei f\u00fcrs Auge \u00fcberhaupt, also zu jeder Zeit, die, d. h. jede beliebige schwach krummlinige Bewegung die bequemste, es sei mit einem Worte \u201edie schwach gekr\u00fcmmte Bogenlinie die Linie der ungezwungensten Bewegung f\u00fcrs Auge\u201c. Vielmehr schliefst jene Behauptung diese aus.\nW\u00fcndt zieht also aus den Thatsachen eine Folgerung, die durch die Thatsachen ausgeschlossen ist. W\u00e4re der von ihm","page":357},{"file":"p0358.txt","language":"de","ocr_de":"358\nTheodor Lipps.\ngezogene Schlufs richtig, so k\u00f6nnte man ebensowohl aus dem Umstande, dafs ein Bach da, wo er seinem nat\u00fcrlichen Lauf \u00fcberlassen bleibt, nicht geradlinig, sondern krummlinig dahin-fliefst, den Schlufs ziehen, es sei ihm nicht jetzt diese, jetzt jene krummlinige Bewegung nat\u00fcrlich, sondern es habe f\u00fcr den Bach \u00fcberhaupt in jedem Momente jede beliebige krumme Linie den Vorzug der Nat\u00fcrlichkeit oder Ungezwungenheit vor der geraden. Nat\u00fcrlich gilt davon das Gregenteil. Kr\u00fcmmt sich der Bach in einem Moment seines Verlaufes nach rechts, so ist in diesem Momente die Kr\u00fcmmung nach links aller Wahrscheinlichkeit nach diejenige, die seiner nat\u00fcrlichen Tendenz am meisten widerspricht und umgekehrt. Genau so mufs es sich auch mit den Bewegungen des Auges verhalten. Nur das Wort \u201edie Bewegung in der sanft gekr\u00fcmmten Bogenlinie\u201c hat Wundt dazu gebracht, dies zu verkennen.\nEine Art von unbewufstem Wortspiel, so k\u00f6nnen wir sagen, l\u00e4fst Wundts Erkl\u00e4rung der angeblichen Wohlgef\u00e4lligkeit schwach gekr\u00fcmmter Bogenlinien zu st\u00e4nde kommen. Ich finde dergleichen relativ verzeihlich. Weniger verzeihlich ist, dafs Wundt erkl\u00e4rt, was nicht besteht. Ich habe darauf schon aufmerksam gemacht, komme aber auf den Punkt, weil er schliefslich der wichtigste ist, noch einmal zur\u00fcck. Zun\u00e4chst hebt W\u00fcndt im Grunde auch hier seine eigene Voraussetzung gelegentlich wieder auf. Auch das scharfe Pesthalten der eigenen Gedanken ist ja nicht gerade eine charakteristische Eigenschaft der \u201ePhysiologischen Psychologie\u201c. Er sagt bald nach der Stelle, auf die im obigen Bezug genommen war: Grad und Form der wohlgef\u00e4lligen Kr\u00fcmmungen richte sich nach den sonstigen Eigenschaften der Objekte. Dies ist nicht v\u00f6llig unrichtig. Die sonstigen Eigenschaften der Objekte, bei Gef\u00e4fsen z. B. das Material, bestimmen zwar nicht Grad und Form der Kr\u00fcmmung, aber sie \u00fcben darauf innerhalb gewisser, von der \u00c4sthetik n\u00e4her zu bestimmender Grenzen emenEinflufs. Indessen ich frage hier: Was bleibt von einer Kr\u00fcmmung noch \u00fcbrig, wenn ich ihre Form und ihren Grad abziehe? Was also f\u00e4llt an ihrer Wohlgef\u00e4lligkeit den Augenbewegungen zur Last? Soviel ich sehe, nichts. Oder ist die Meinung jenes Satzes, die Wohlgef\u00e4lligkeit der Linien sei durch die Augenbewegungen bedingt, wenn die Linien gar nicht Begrenzungslinien von Gegenst\u00e4nden, sondern freie","page":358},{"file":"p0359.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre v, d. Gef\u00fchlen, insbesondere d. \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen. 359\nornamentale Linien seien ? Darauf habe ich zu bemerken, dafs hier wie \u00fcberall die krummen Linien, die stark wie die schwach gekr\u00fcmmten, wohlgef\u00e4llig sein k\u00f6nnen und das Gregenteil, und dafs die Wohlgef\u00e4lligkeit auch hier nicht davon abh\u00e4ngt, ob die Linien mit solchen, wie sie das frei bewegte Auge beschreibt, \u00fcbereinstimmen. Sondern Linien sind, ebenso wie Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisse, wohlgef\u00e4llig, wenn sie einen Sinn haben und durch ihren Sinn uns zu befriedigen verm\u00f6gen. Was dies heifst, diese Frage beantwortet sich verschieden, vor allem bei den Naturobjekten anders \u2014 und doch wiederum in unmittelbar verwandter Art \u2014 als bei den freien ornamentalen Linien und den Linien der dem Ornament zun\u00e4chst stehenden \u201e ornamentalen \u201c K\u00fcnste, ein schliefslich der Architektur. Die freie, keine Naturobjekte nachbildende ornamentale Linie und die in gleichem Sinne \u201efreie\u201c Linie in den ornamentalen K\u00fcnsten ist wohlgef\u00e4llig, wenn in ihr ein nat\u00fcrlicher LinienfLufs sich verwirklicht. Dieser LinienfLufs aber ist genau das, was der Name sagt, n\u00e4mlich ein Flufs, eine Bewegung in den Linien. Es ist die Bewegung, die wir meinen, wenn wir Linien sich strecken, sich biegen, auseinanderlaufen, in sich zur\u00fcckkehren lassen u.s. w. Und \u201enat\u00fcrlich\u201c ist dieser Flufs oder diese Bewegung, wenn sie ohne Hemmung und Zwang sich verwirklicht, wenn die in jedem Momente der Linie stattfindende Bewegung aus der Bewegung des jedesmal vorangehenden Momentes notwendig sich ergiebt, oder wenn die in der Linie einmal vorhandene Gesetz-m\u00e4fsigkeit in ihrem freien sich Auswirken successive die Form der Linie aus sich hervorgehen l\u00e4fst. Diese Gesetzm\u00e4fsigkeit ist, als Gesetzm\u00e4fsigkeit der Bewegung, \u201emechanische\u201c Gesetzm\u00e4fsigkeit. Die mechanische Gesetzm\u00e4fsigkeit der Geraden, des Kreises, der Spirale, der Wellenlinie, leuchtet ohne grofse Schwierigkeit ein. Die \u00c4sthetik hat aber die Gesetzm\u00e4fsigkeit aller wohlgef\u00e4lligen freien Linien einleuchtend zu machen. Indem sie dabei gewisse Formen als Grundformen, andere als unter gewissen Umst\u00e4nden entstehende abgeleitete Formen erkennt, wird diese \u201e\u00e4sthetische Mechanik\u201c zugleich zur \u00e4sthetischen Systematik. Dazu ist nat\u00fcrlich Untersuchung im einzelnen erforderlich. Die Worte, die allgemeinen Wendungen, die Fiktionen, die Begriffskonstruktionen finden hier keine Stelle mehr.\nMit den bezeichneten Punkten ist Wundts Lehre von denr","page":359},{"file":"p0360.txt","language":"de","ocr_de":"Theodor Lipps.\n360\n\u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen im wesentlichen ersch\u00f6pft. Die Bemerkungen \u00fcber das Erhabene und Komische erw\u00e4hne ich nur. Wundt begn\u00fcgt sich hier, bekannte S\u00e4tze zu reproduzieren, von denen doch wohl zur Gen\u00fcge gezeigt worden ist, wie wenig sie das Wesen der Sachen treffen.\nDie Komik soll auf teilweiser \u00dcbereinstimmung und teilweisem Kontrast von Vorstellungen beruhen. Hieraus soll sich ein Wechsel der Gef\u00fchle ergeben, in dem die Lust nicht nur an sich \u00fcberwiegt, sondern aufserdem noch \u201ewie alle Gef\u00fchlea durch den Kontrast gehoben wird. Ich meine, in einer ziemlich ausf\u00fchrlichen, von Wundt selbstredend mit Nichtachtung gestraften \u201ePsychologie der Komik\u201c gen\u00fcgend deutlich gezeigt zu haben, dafs von dem allen bei der Komik nichts stattfindet oder nichts stattzufinden braucht.1 Was die angebliche Hebung der Gef\u00fchle durch den Kontrast \u2014 n\u00e4mlich den Kontrast der Gef\u00fchle \u2014 betrifft, so habe ich oben schon meine Ungl\u00e4ubigkeit \u2014 f\u00fcr die ich einigermafsen zwingende Gr\u00fcnde habe \u2014 angedeutet. Zudem verstehe ich nicht, warum, wenn der Kontrast alle Gef\u00fchle hebt, innerhalb der Komik nicht ebensowohl das Gef\u00fchl der Unlust gehoben werden sollte. Doch freilich, dies w\u00fcrde zur Theorie nicht passen. Nur nebenbei bemerke ich, dafs f\u00fcr Wundt, nach dieser Erkl\u00e4rung der Komik, beispielsweise alle konsonanten Zusammenkl\u00e4nge komisch sein m\u00fcfsten.\nWundt meint irgendwo, \u201edie Neigung, die Produkte einer nachtr\u00e4glichen Keflexion \u00fcber die Erscheinungen in diese selbst zu verlegen\u201c, sei \u201eein altes Erb\u00fcbel der Psychologie\u201c. Hierf\u00fcr giebt die \u201ePhysiologische Psychologie\u201c und speziell die Lehre von den \u201e\u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen\u201c die deutlichsten mir bekannten Belege.\nWundt bemerkt an einer anderen Stelle gegen meinen in den \u201e\u00c4sthetischen Faktoren der Paumanschaitimg\u201c angestellten, in der Einzelausf\u00fchrung, wie ich wohl weifs, nicht \u00fcberall einwandfreien Versuch, gewisse optische T\u00e4uschungen aus eben den Elementen abzuleiten, die auch die \u00e4sthetische Wirkung der Formen bedingen: \u201eStatt in solcher Weise dunkle \u00e4sthetische Begriffe in die Psychologie zu \u00fcbertragen, sollte es vielmehr unsere Aufgabe sein, die \u00e4sthetischen Wirkungen auf\n1 S. Philosoph. Monatsh. XXIV, 385 ff.; 513 ff; XXV, 28 ff; 129 ff. ; 284 ff. ; 408 ff.","page":360},{"file":"p0361.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre v. cl. Gef\u00fchlen, insbesondere d. \u00e4sthetischen Elementarge f\u00fchlen. 361\nklare psychologische Elemente zur\u00fcckzuf\u00fchren.\u201c Ich hoffe, hier gezeigt zu haben, wie es mit den \u201eklaren psychologischen Elementen\u201c in Wundts Erkl\u00e4rung der \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchle bestellt ist. Ich beabsichtige, bei anderer Gelegenheit zu zeigen, wie es mit den \u201eklaren psychologischen Elementen\u201c in Wundts Erkl\u00e4rung der fraglichen optischen T\u00e4uschungen, und weiterhin ebenso, wie es mit den \u201edunklen \u00e4sthetischen Begriffen\u201c bei meiner Deutung derselben sich verh\u00e4lt. Ich hoffe, dabei f\u00fcr jedermann einleuchtend zu machen, dafs es weder an jenen \u201eklaren psychologischen Elementen\u201c liegt, wenn sie W\u00fcndt klar, noch an diesen \u201edunklen \u00e4sthetischen Begriffen\u201c, wenn sie Wundt dunkel erscheinen.\nSehr bestimmt habe ich im obigen meinen Widerspruch gegen W\u00fcndt laut werden lassen. Je bestimmter ich ihn laut werden liefs, um so weniger m\u00f6chte ich, dafs man meine, ich verkenne die bahnbrechende Bedeutung von Wundts psychologischen Arbeiten, oder verg\u00e4fse den Dank, den ihm der Psychologe daf\u00fcr schuldet. Nichts von dem trifft zu. Aber dies hindert nicht, dafs ich auch daraus kein Hehl mache, worin f\u00fcr mich die Gr\u00f6fse von Wundts Leistungen nicht besteht. Sie besteht nicht in der Sch\u00e4rfe der psychologischen Analyse, nicht in der sicheren Feststellung der Thatsachen der psychologischen Erfahrung, ich meine der unmittelbaren Erfahrung, die doch schliefslich f\u00fcr alles das Fundament abgiebt, ohne die auch das Experiment stumm bleiben mufs. W\u00fcndt mifstraut dieser Methode der Selbstbeobachtung. In der That haben wir gesehen, dafs bei ihrer Handhabung einige Vorsicht erforderlich ist. \u2014 Und ebensowenig liegt f\u00fcr mich die Gr\u00f6fse von Wundts psychologischen Leistungen in der Ausbildung der Theorie. Was ihn hier hemmt, ist vor allem die Neigung zur Konstruktion, eine Art von scholastischem Trieb. Hier vor allem mufs die wissenschaftliche Psychologie von den Wegen der \u201e Physiologischen Psychologie\u201c weit sich entfernt halten.","page":361}],"identifier":"lit29565","issued":"1895","language":"de","pages":"321-361","startpages":"321","title":"Zur Lehre von den Gef\u00fchlen, insbesondere den \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchlen","type":"Journal Article","volume":"8"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:47:28.560838+00:00"}