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{"created":"2022-01-31T14:13:25.100870+00:00","id":"lit29587","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Raehlmann, E.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 8: 401-422","fulltext":[{"file":"p0401.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber die R\u00fcckwirkung der Gesichtsempfindungen auf das physische und das psychische Leben.\nEine ophthalmologisch-psychologische Betrachtung\nnebst Erfahrungen an Schwachsichtigen und Blinden.\nVon\nE. Raehlmann\nin Dorpat.\nDie hohe Bedeutung der Gesichtsempfindungen f\u00fcr die Ausbildung der seelischen Th\u00e4tigkeit und f\u00fcr die Sch\u00e4rfe des Intellekts ist erst in der Neuzeit in ihrem vollen Umfange erkannt worden.\nDie W\u00fcrdigung des Zusammenhanges der Th\u00e4tigkeit des Auges mit den \u00fcbrigen Sinnesgebieten sowohl, als auch mit der motorischen Sph\u00e4re, hat auch der Pathologie fr\u00fcher unbekannte Forschungsmittel f\u00fcr die Erkenntnis krankhafter Lebenserscheinungen zugef\u00fchrt.\nDafs Sinneseindr\u00fccke auf reflektorischem Wege motorische Erscheinungen bewirken k\u00f6nnen, ist eine allbekannte Erscheinung. Ein Zusammenhang der Gef\u00fchlsoberfl\u00e4che des K\u00f6rpers mit dem Bewegungsapparate liegt beim neugeborenen Menschen vollkommen ausgebildet vor, und die Bahnen, auf welchen die \u00dcbertragung des Reizes von den Endigungen der sensiblen Nerven in der Haut und Schleimhaut zu dem Muskelapparate gelangt, sind schon fr\u00fchzeitig bekannt geworden.\nEin direkter Zusammenhang der \u00fcbrigen Sinnesnerven mit motorischen Bahnen ist aber, wenn wir von dem ebenfalls angeborenen Zusammenh\u00e4nge zwischen Sehnerv und Pupille absehen, vollkommen unbekannt.\nIndes ist das letzterw\u00e4hnte Beispiel zu beweisen geeignet, dafs auch den h\u00f6heren Sinnesnerven, namentlich dem Geh\u00f6r\n26\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie VI\u00dc.\nm","page":401},{"file":"p0402.txt","language":"de","ocr_de":"402\nE. Baehlmann.\nund Gesicht, eine bestimmte mafsgebende Bedeutung f\u00fcr die Th\u00e4tigkeit des Muskelapparates zukommt.\nDer Reflex zwischen Sehnerv (Netzhaut) und Pupille liefert uns sogar das pr\u00e4gnanteste Beispiel und den reinsten Typus des Reflexvorganges \u00fcberhaupt, der auch am meisten untersucht und in seinen anatomischen Bahnen am genauesten bekannt ist.\nWenn wir die Entwickelung des Seelenlebens beim Neugeborenen studieren, werden wir auch auf die Bedeutung der genannten h\u00f6heren Sinne f\u00fcr die Entstehung aller bewufsten Bewegungsvorg\u00e4nge in einer Reihenfolge aufmerksam, welche eine systemweise entwickelte Abh\u00e4ngigkeit derselben von dem Umfange der Sinn es th\u00e4tigkeit kundgiebt. Anf\u00e4nglich haben die bewufsten Bewegungen, die auf Geh\u00f6r- und Gesichtseindr\u00fccke eintreten, ganz den Charakter reflektorischer Bewegungen, die bei denselben Reizen in genau derselben Weise wiederkehren etc. ; erst sp\u00e4ter wird der Zusammenhang zwischen den Sinneserregungen und der motorischen \u00c4ufserung derselben ein immer lockererer, so dafs das Zwangsm\u00e4fsige des Vorganges immer mehr schwindet.\nDurch Assoziation der aus einer Reihe von Sinneseindr\u00fccken resultierenden Vorstellungen und deren Beziehungen zu einander kommen die ersten bewufsten Willens\u00e4ufserungen zu st\u00e4nde, welche nur zum Teil als Bewegungen \u00e4ufserlich hervortreten, gr\u00f6fstenteils zun\u00e4chst zur Unterdr\u00fcckung resp. zweckm\u00e4fsigen Verwertung der fr\u00fcheren motorischen Reflexe dienen.\nEine direkte Abh\u00e4ngigkeit zwischen motorischen Gebieten und den erw\u00e4hnten Sinnen l\u00e4fst sich aber am erwachsenen Menschen h\u00e4ufig noch nachweisen, und dabei n\u00e4hert der Vorgang sich um so mehr ' dem urspr\u00fcnglichen Charakter des Reflexes, je mehr die geistige Th\u00e4tigkeit beeintr\u00e4chtigt ist und je mehr (bei bestimmten Krankheiten) sich die psychischen Funktionen durch Ausfall sp\u00e4ter erworbener intellektueller psychischer Vorg\u00e4nge reduziert zeigen und der nerv\u00f6se Mechanismus sich mehr dem kindlichen n\u00e4hert.\nViel inniger indes, als mit den motorischen Zentren, stehen die Sinnesenergien miteinander in Verbindung.\nDie Vorstellungskomplexe, welche uns den Begriff einer Sache vermitteln, beruhen auf dem Vergleich der von den verschiedenen Sinnen gelieferten spezifischen Eindr\u00fccke.","page":402},{"file":"p0403.txt","language":"de","ocr_de":"\u2019R\u00fcckwirkung d. Gesichtsempfindungen auf d.physische u. d. psychische Leben. 403\nAm genauesten werden wir \u00fcber die Art, wie das intellektuelle Urteil auf den Erfahrungen der Sinne sich aufbaut, belehrt durch Beobachtungen an neugeborenen Kindern, und was speziell die vorwiegende Bedeutung des Gesichtssinnes angeht, so liefern auch Studien an operierten Blindgeborenen dar\u00fcber ziemlich genauen Aufschlufs.\nIn beiden F\u00e4llen ist der Einflufs des Gesichtes auf die Gestaltung der Vorstellungen, z. B. von den Raumverh\u00e4ltnissen, ein direkt zu messender; wir sehen gleichsam die Vorstellung entstehen auf Grund der einfachsten und n\u00e4chstliegenden Relationen der neuen Gesichts ein dr\u00fccke zu den bereits vorhandenen Vorstellungen auf den anderen Sinnesgebieten.\nDie geringste Beziehung hat das Gesicht zum Geschmacksund Geruchssinn. Beide, bei vielen Tierklassen ungemein fein entwickelt und f\u00fcr die Intelligenz dieser Tiere gewifs von der gr\u00f6fsten Bedeutung, spielen in der Erziehung des Geisteslebens des Menschen nur eine den anderen Sinnen sehr untergeordnete Rolle.\nBeide Sinne k\u00f6nnen v\u00f6llig schwinden, ohne dafs es dem Intellekt wesentlichen Schaden bringt.\nAber auch in F\u00e4llen, wo sie beim Menschen ungew\u00f6hnlich entwickelt sind, stehen sie in hohem Grade zur\u00fcck gegen die Bedeutung der \u00fcbrigen Sinne und spielen gegen\u00fcber den letzteren beim Auf baue komplizierter Vorstellungen nur die Rolle untergeordneter Handlanger. Entsprechend dieser Bedeutung hat sich im Sprachsch\u00e4tze vieler V\u00f6lker f\u00fcr diese Sinne dasselbe Wort als Bezeichnung f\u00fcr die Sinnesenergien eingeb\u00fcrgert. Die Th\u00e4tigkeit beider Sinne verbindet sich auch sehr h\u00e4ufig direkt miteinander, da z. B. eine Speise, welche gut schmeckt, auch in der Regel angenehm zu riechen pflegt etc.\nEs sind sogar F\u00e4lle perverser \u00dcbertragung bekannt, wo sich mit der Wahrnehmung bestimmter Ger\u00fcche auch eine besondere Geschmacksempfindung einstellte, also eine Miterregung stattfand, welche wir auch auf anderen Sinnesgebieten kennen lernen werden.\nIn vielen F\u00e4llen, wo die genannte Sinnesth\u00e4tigkeit eine ungew\u00f6hnliche Sch\u00e4rfe zeigt, ist solche nur durch Vermittelung h\u00f6herer Sinnesorgane, namentlich des Auges, erreichbar. Es ist z. B. auch dem sch\u00e4rfsten Geschmacke sehr schwer, g\u00e4nzlich different schmeckende Fl\u00fcssigkeiten bei abwechselnden Dar-\n26*","page":403},{"file":"p0404.txt","language":"de","ocr_de":"404\nE. Baehlmann.\nreichungen allein durch den Geschmack zu unterscheiden, wenn diese Fl\u00fcssigkeiten nicht gleichzeitig gesehen werden; und am schwierigsten, wenn auch der Geruch ausgeschlossen ist, z. B. durch Zuhalten der Nase.\nWeit mehr Bedeutung beanspruchen im Ablauf des psychischen Lebens die von der gesamten K\u00f6rperoberfl\u00e4che zugef\u00fchrten Gef\u00fchlsreize. In ihren verschiedenen Qualit\u00e4ten, als Tast-, Schmerz- und Temperaturempfindung, sind sie f\u00fcr die seelischen Vorg\u00e4nge in hervorragender Weise mitbestimmend.\nVermittelst derselben reguliert sich zum grofsen Teil die Innervation der Bewegungsmuskulatur und abstrahiert sich das Bewufstsein und die stetig gegebene Vorstellung von dem Spannungszustande der Muskulatur, der Lagerung resp. Stellung der Gliedmafsen, sowie vorwiegend auch des K\u00f6rpergleichgewichtes beim Gehen und Stehen etc.\nZur Erwerbung aller dieser Vorstellungen aber und der Beziehungen derselben zu einander ist die H\u00fclfe anderer Sinne besonders mit wirkend gewesen, namentlich die des Auges.\nIch verweise hier auf meine bez\u00fcglichen Untersuchungen an Kindern und Blindgeborenen,1 welche zeigen, dafs die Koordination der bewufsten Bewegungen, welche dem Greifen und Tasten dienen, vornehmlich entsteht unter Kontrolle durch die Gesichtswahrnehmung; ganz ebenso wie sich die Sprache unter Kontrolle des Geh\u00f6rs entwickelt, denn ohne Sprechen zu h\u00f6ren, lernt das Kind die Sprache nicht, und die erste Lautbildung vollzieht sich durch psychischen Vergleich der hervorgebrachten T\u00f6ne mit den im Zentrum vorhandenen Klangbildern fr\u00fcher geh\u00f6rter Laute. Blindgeborene oder fr\u00fchzeitig erblindete Kinder lernen auch, abgesehen von der Schwierigkeit der Orientierung, also eine F\u00fchrung vorausgesetzt, ungemein schwer, sich aufrecht zu halten und fortzubewegen.\nDie Kontraktion der Extremit\u00e4tenmuskulatur dient vornehmlich der Fortbewegung des K\u00f6rpers; ihre richtige Koordination und die zugeh\u00f6rigen Innervationsquoten m\u00fcssen sich also einem Zweckm\u00e4fsigkeitsgesetze unterordnen und anpassen, welches der Verschiebung des K\u00f6rpers im Baume am besten dient.\nDiese Gesetzm\u00e4fsigkeit bildet sich nun, wie meine Beob-\n1 Diese Zeitschrift. Bd. II, Seite 53\u201496.","page":404},{"file":"p0405.txt","language":"de","ocr_de":"R\u00fcckwirkung d. Gesichtsempfindungen auf d. physische u. d. psychische Leben. 405\nachtungen an Kindern und Blindgeborenen gelehrt haben, bei den ersten Tast- und Gehversuchen nur mit H\u00fclfe der Augen aus, indem das Auge die Exkursion der Bewegung den erforderlichen Baumgr\u00f6fsen anpafst und das richtige Mafs f\u00fcr die Innervation finden lehrt. Erst wenn durch die Erfahrung das Gesetzm\u00e4fsige in solchen Bewegungen befestigt ist, kann von einem Muskel- oder Innervationsgef\u00fchle die Bede sein, welches erst mit Erinnerungsbildern fr\u00fcherer Innervationen und den zugeh\u00f6rigen Bewegungen, d. h. mit bereits aus der Erfahrung mit H\u00fclfe des Gesichtssinnes gesammelten Bewegungsvorstellungen rechnen kann. Dann freilich tritt der Einflufs des Gesichts auf diese Bewegungen immer mehr zur\u00fcck.\nDer gewonnene Beichtum an motorischen Innervationsgef\u00fchlen in Verbindung mit den zentripetal geleiteten kutanen Beizen, welche mit den Bewegungen des K\u00f6rpers, Lagever\u00e4nderung, Muskelkontraktion etc. verbunden sind, gen\u00fcgt f\u00fcr das Zentrum vollkommen, um nicht allein \u00fcber die Auswahl der zu einer gewollten Bewegung erforderlichen Innervation, sondern auch \u00fcber den Effekt derselben, \u00fcber die jeweilige passive Lagerung der Extremit\u00e4ten richtig orientiert zu sein.\nSo ist das Verh\u00e4ltnis zwischen Innervation und Bewegung beim erwachsenen Menschen geordnet.\nDasselbe kann vom Standpunkte der geschilderten genetischen Entwickelung in zweierlei Art gest\u00f6rt werden. Denkbar ist zun\u00e4chst bei vorhandenen Hirnkrankheiten und bei Befallensein bestimmter Bindengebiete ein Ausfall vieler oder alle Bewegungsvorstellungen. Wir h\u00e4tten dann zentral bedingte Bewegungsst\u00f6rungen, ohne dafs die Motilit\u00e4t der beteiligten Extremit\u00e4ten verloren w\u00e4re, aber mit der Unm\u00f6glichkeit, sie frei bewegen zu k\u00f6nnen.\nEs w\u00e4re der Organismus in solchem Falle dem kindlichen \u00e4hnlich geworden, welcher \u00fcber diese Vorstellungen noch nicht verf\u00fcgt. Es m\u00fcfsten alle Bewegungen von neuem und zwar mit H\u00fclfe des Gesichts einge\u00fcbt werden, und diese Ein\u00fcbung w\u00fcrde mit derselben Schwierigkeit und Unbeholfenheit vor sich gehen, wie beim Kinde, welches gehen lernt. Dafs solche Zust\u00e4nde bei Zentralerkrankungen als einheitliches Krankheitsbild Vorkommen, wage ich nicht zu behaupten. Als Teilerscheinung undeutlich vermischt mit den Zust\u00e4nden motorischer L\u00e4hmung, sind sie h\u00e4ufig gegeben. Sie finden ihr Analogon in den","page":405},{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"406\nE. Baehlmann.\naphasischen St\u00f6rungen, bei welchen wir die Sprachmuskulatur in gleicher, freilich genauer studierter Abh\u00e4ngigkeit von den auf sensiblem Wege regulierten Bewegungszentren der Schl\u00e4fenrinde antreffen.\nEine St\u00f6rung des normalen Verh\u00e4ltnisses zwischen Innervation und Bewegung kann ferner bedingt sein durch den Fortfall aller sensiblen Eindr\u00fccke der Oberfl\u00e4che der zu bewegenden Gliedmafsen. Dann fehlt der Gradmesser, welcher \u00fcber die Extension der ausgef\u00fchrten Bewegung, \u00fcber ihre Intensit\u00e4t, ja \u00fcber die Ausf\u00fchrung selbst berichtet, und damit h\u00f6rt ebenfalls die M\u00f6glichkeit, richtig zu innervieren, auf. \u2014 Das ist der Zustand der mit An\u00e4sthesie behafteten Kranken. \u2014 Hier leistet nun das Auge dieselben Dienste wie beim Kinde, indem es diesen Gradmesser ersetzt und den noch intakt vorhandenen Bewegungsvorstellungen ihren jedesmal erforderlichen Umfang an weist. Der Gang und die zweckm\u00e4fsigen Bewegungen sind vollkommen erhalten, aber nur ausf\u00fchrbar unter Kontrolle der Augen.\nDie Wichtigkeit des Gesichtssinnes f\u00fcr die Koordination der Bewegungen der Gliedmafsen tritt also besonders hervor, wenn die Kontrolle durch das Gef\u00fchl mangelhaft ist oder g\u00e4nzlich fortf\u00e4llt.\nDas Gehen auf schwankendem oder elastischem Boden, unter Umst\u00e4nden also, wo der Fufs beim Aufsetzen sein Tastgef\u00fchl einb\u00fcfst und Unsicherheit beim Auftreten ein tritt, ist ohne H\u00fclfe der Augen auch f\u00fcr den gesunden Menschen mit normaler Sensibilit\u00e4t \u00e4ufserst schwierig.\nIst gar das Gef\u00fchl an der K\u00f6rperoberfl\u00e4che herabgesetzt, bei Verminderung der Hautsensibilit\u00e4t, oder aufgehoben, so ist . von einer zweckm\u00e4fsigen Bewegung, wie sie zum Gehen, Stehen etc. notwendig ist, nicht mehr die Hede, wenn nicht die Augen diese Bewegungen kontrollieren resp. das Mafs anweisen, nach dem die Innervation sich richten kann.\nMit verbundenen Augen vermag ein solcher Mensch nicht die geringste zweckm\u00e4fsige Bewegung auszuf\u00fchren.\nSchon bei relativ geringerer Herabsetzung der allgemeinen Sensibilit\u00e4t leidet die Sicherheit der Bewegungen und die Stabilit\u00e4t der Innervation \u00fcberhaupt^ wenn die Augen geschlossen werden, und jeder Kliniker weifs, dafs bei solchen Kranken auch","page":406},{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"B\u00fcckwirkung d. Gesichtsempfindungen auf d. physische u. d. psychische Leben. 407\nim Stehen der K\u00f6rper ins Schwanken ger\u00e4t, wenn die Augen geschlossen werden, um so leichter, je komplizierter die Stellung ist, welche man dem zu Pr\u00fcfenden angiebt.\nKlinische Beobachtungen dieser Richtung hat zuerst Duchenne1 angestellt, die St\u00f6rung aber dem Yerlorengehen eines besonderen Muskelgef\u00fchles zugeschrieben. Sp\u00e4ter hat Str\u00fcmpell2 einen Fall von partieller An\u00e4sthesie der K\u00f6rperoberfl\u00e4che beschrieben und dabei die Abh\u00e4ngigkeit der willk\u00fcrlichen Bewegungen von der Kontrolle der Augen einer erneuten Pr\u00fcfung und Deutung unterzogen.\nEndlich sind F\u00e4lle totaler An\u00e4sthesie von Heyne3 und Ziemssen4 beobachtet worden, welche die gleiche Abh\u00e4ngigkeit feststellten. In der HEYNEschen Arbeit wird auch der experimentelle Beweis erbracht, dafs die Sprache bei allgemeiner An\u00e4sthesie nur unter Kontrolle des Geh\u00f6rs m\u00f6glich ist; dafs also ein Kranker mit allgemeiner An\u00e4sthesie, wenn man ihm die Ohren zuh\u00e4lt, nicht im st\u00e4nde ist, auch nur einen Laut hervorzubringen.\nEs wird demnach ein Mensch mit allgemeiner kutaner An\u00e4sthesie stumm sein, d. h. nicht mehr zu sprechen verm\u00f6gen, sobald er taub wird, und umgekehrt; ebenso wie ein Blinder lahm werden wird, sobald er das Gef\u00fchl verliert.\nN\u00e4chst dem Gesichte ist das Geh\u00f6r der vornehmste Sinn, \u00fcber welchen der Mensch verf\u00fcgt. Mit letzterem aber steht das erstere in viel geringerer Beziehung als mit dem Gef\u00fchl.\nEs l\u00e4fst sich zwar beim Neugeborenen eine gleichzeitig sich entwickelnde Assoziation nachweisen, welche, um die 13. Lebenswoche etwa, zuerst bemerkt wird zwischen Augenbewegungen und dem Geh\u00f6r. Um diese Zeit wendet das Kind Kopf und Augen regelm\u00e4fsig nach der Seite hin, von welcher ein akustischer Reiz das Ohr getroffen hat. Allein diese Bewegungen haben, wenigstens um diese Zeit, noch die Bedeutung gew\u00f6hnlicher reflektorischer Bewegungen, allerdings innerhalb zweier Sinnesgebiete.\n1\tDuchenne, De VElectrisation localis\u00e9 (Illi\u00e8me Edition). Paris 1872.p*782.\n2\tStr\u00fcmpell, Deutsches Archiv f\u00fcr klinische Medicin. Bd. XXII, pag. 352.\n3\tDr. Max Heyne, \u00dcber einen Fall allgemeiner kutaner und sensorieller An\u00e4sthesie. Ebenda. Bd. XLYII, pag. 75 ff.\n4\tH. y. Ziemssen, Allgemeine und sensorielle An\u00e4sthesie. Ebenda. Bd. XL VH, pag. 89.","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"408\nE. Baehlmann.\nBesondere Erw\u00e4hnung verdienen aber einige Erscheinungen von perverser \u00dcbertragung einzelner Empfindungseindr\u00fccke in beiden sonst so scharf getrennten Sinnesgebieten.\nEs ist unzweifelhaft, dafs sich bei vereinzelten Menschen mit der \"Wahrnehmung bestimmter T\u00f6ne bestimmte Lichtempfindungen verbinden, welche in typischer Weise immer bei denselben T\u00f6nen als die gleichen wiederkehren. Die einfachste Art der Beteiligung des Gesichts an Geh\u00f6rsempfindungen bietet die einfache Mitempfindung in Form von diffuser Licht- oder Farbenperzeption ohne r\u00e4umliche Projektion derselben. Ich selbst habe einen sehr unterrichteten und gebildeten Herrn gekannt, welcher mit allen hohen T\u00f6nen die subjektive Empfindung hellen Lichtes, mit tiefen T\u00f6nen die\nVorstellung der Dunkelheit verband.\n__\nUber einen anderen Fall, der mir leider zur eigenen Untersuchung nicht zug\u00e4nglich war, ist mir sehr eingehend berichtet worden. In diesem Falle entsprachen den verschiedenen T\u00f6nen und Lauten verschiedene, aber immer die gleichen Farben, den hohen und tiefen T\u00f6nen entsprach verschiedene Lichtst\u00e4rke derselben.\nEin Instrumentalkonzert war f\u00fcr denselben gleichzeitig ein harmonisch-buntes Farbenspiel. In der Familie des Letztgenannten war die Empfindung mehrerer Glieder gegen\u00fcber Geh\u00f6rseindr\u00fccken und Farbenempfindungen gleich beschaffen.\nSolche F\u00e4lle scheinen \u00fcbrigens nicht selten vorzukommen.1 So hat E. Grueber auf dem letzten internationalen Kongrefs f\u00fcr Experimental-Psychologie in London 1893 eine ganze Reihe von eklatanten F\u00e4llen erw\u00e4hnt und beschrieben, und diesem interessanten Vortrage und der sich ankn\u00fcpfenden Diskussion entnehme ich die Mitteilung, dafs der Maler Leonhard Hoffmann beim H\u00f6ren musikalischer Instrumente ebenfalls Farbenempfindungen hatte und ebenso der bekannte \u00c4gyptologe Lepsius; dafs ferner, wenn auch weniger ausgesprochen, dieselbe Eigent\u00fcmlichkeit der Empfindungen bei dem Romanschriftsteller Karl Gutzkow und bei dem Meister der Psyeho-physik Fecener vorliegt\u00bb\nEine andere Art von gleichzeitiger Mitempfindung findet sich namentlich bei musikalischen Eindr\u00fccken, wo sich die\n1 Delboeuf: \u201e\u00c9l\u00e9ments de Psychophysique\u201c. Paris 1883, pag. 41.","page":408},{"file":"p0409.txt","language":"de","ocr_de":"R\u00fcckwirkung d. Gesichtsempfindungen auf d.physische u. d. psychische Leben. 409\nVorstellung in Gestalt r\u00e4umlich ausgedehnter Fl\u00e4chen \u2014 geometrischer Figuren, Geb\u00e4uden, Landschaften etc., mit den Geh\u00f6rsempfindungen verbindet.\n0 \u2666\nUber solche F\u00e4lle berichtete j\u00fcngst Wallaschek1 als \u00fcber eine Art \u201etype visuel\u201c in der Musik. Eine Dame stellte sich, sobald sie Musik h\u00f6rte, \u201esofort bestimmte Landschaften vor, die analog dem Verlauf der Musik sich \u00e4ndern, entwickeln\u201c u. s. w. Derselbe Autor berichtet ferner \u00fcber ein Beispiel Fechners (1. c. pag. 21).2\n\u201eNach einer Mitteilung von Z\u00f6llner verbindet Dubois in Berlin mit gewissen T\u00f6nen oder Ger\u00e4uschen sehr bestimmt die Vorstellung gewisser Figuren, z. B. mit langen getragenen T\u00f6nen die Vorstellung langer Cylinder, mit der des Donners die eines Haufens sich kugelig w\u00f6lbender Figuren, mit der von scharfen T\u00f6nen die eines f\u00fcnfspitzigen Sterns u. s. w.\u201c\nIn solchen F\u00e4llen handelt es sich offenbar um weitere Ausbreitung der erw\u00e4hnten Assoziationsprozesse, mittelst welcher sich die Gesichtsvorstel]ungen an Geh\u00f6rsempfindungen anschliefsen, um eine Art subjektiver illusorischer Verarbeitung der schon an sich ungew\u00f6hnlichen Empfindungsvorg\u00e4nge. Inwiefern willk\u00fcrlich hervorgerufene Stimmungen des Gem\u00fcts bei diesen Erscheinungen mitbeteiligt sind, ist kaum zu ergr\u00fcnden.\nWallaschek berichtet ferner3 \u00fcber eine Dame, welche Gesichtsvorstellungen nicht nur in der Phantasie mit Geh\u00f6rsempfindungen, speziell mit Musik, verband, sondern weifse Figuren tats\u00e4chlich vor sich sah, sobald Instrumente zu spielen begannen.\nHier handelt es sich also um ein Beispiel wirklicher Illusion im Gebiete des Gesichtssinnes, hervorgerufen durch bestimmte Geh\u00f6rseindr\u00fccke.\nDafs es sich in solchem Falle nicht um eine direkte Miterregung, sondern offenbar um \u00dcbertragung von Empfindungen von einem Sinnesgebiet ins andere handelt, welche auf dem Wege assoziierter Vorstellungen, die sich bei den beteiligten\n1\tPichard Wallaschek: \u201eDie Bedeutung der Aphasie f\u00fcr die Musikvorstellung.\u201c Diese Zeitschrift Bd. VI, pag. 19 u. ff.\n2\tFechner: Vorschule der \u00c4sthetik. I, pag. 177.\n3\tWallaschek: 1. c. pag. 21 und \u201eDas musikalische Ged\u00e4chtnis.\u201c Viertel-jahrsschr. f. Musikw. 1892, pag. 237.","page":409},{"file":"p0410.txt","language":"de","ocr_de":"410\nJE. Ba\u00e9hlmann.\nPersonen leichter als bei den meisten Menschen und mit einer gewissen Regelm\u00e4fsigkeit verkn\u00fcpfen, zu st\u00e4nde kommen, liegt auf der Hand.\nAuf welchen Bahnen aber diese Assoziationsvorstellungen geleitet werden, ist v\u00f6llig unbekannt, und das R\u00e4tselhafte des psychischen Vorganges, durch welchen es zur Miterregung der Zentren eines v\u00f6llig getrennten Sinnesgebietes kommt, absolut unaufgekl\u00e4rt.\n\u2022 \u00bb\nGanz ebenso dunkel sind die Vorg\u00e4nge, welche der \u00dcbertragung von Geh\u00f6rseindr\u00fccken in die Gef\u00fchlssph\u00e4re zu Grunde liegen. Die bisher beliebte und bequeme Art, sie in das Gebiet der Hysterie zu verlegen oder gar an hypnotische Zust\u00e4nde zu denken, hat dem Verst\u00e4ndnis der \u00dcbertragung wenigstens nicht den geringsten Nutzen gebracht. Freilich ist nicht in Abrede zu stellen, dafs die zu erw\u00e4hnenden Abnormit\u00e4ten viel bei hysterischen und neurasthenischen Personen, \u00fcberhaupt bei reizbarer Schw\u00e4che, \u00fcbrigens h\u00e4ufig genug bei gesunden und kr\u00e4ftigen Individuen angetroffen werden.\nSo findet man viele Menschen, welche bestimmte musikalische Instrumente nicht h\u00f6ren k\u00f6nnen, ohne gleichzeitig schmerzhafte Empfindungen zu bekommen.\nIch kannte eine Dame, welche bei dem H\u00f6ren des Cellos regelm\u00e4fsig schmerzhafte Krampfzuf\u00e4lle bekam, und jedermann wird in seinem Bekanntenkreise wohl auch Personen kennen, welche abnorme Empfindungen von K\u00e4lte etc. \u00e4ufsern beim H\u00f6ren ungew\u00f6hnlich schriller T\u00f6ne (wie sie z. B. das Kratzen eines Schreibegriffels auf der Schiefertafel etc. hervorbringt).\nEs wurde schon hervorgehoben, dafs f\u00fcr die Ausbildung aller Verstandesth\u00e4tigkeit und aller geistigen F\u00e4higkeit \u00fcberhaupt die Th\u00e4tigkeit der Sinne von grundlegender Bedeutung ist. Man k\u00f6nnte sie mit vielem Recht als das Produkt der Sinnesarbeit \u00fcberhaupt definieren. Es m\u00fcfsten dabei die Verstandeskr\u00e4fte um so gr\u00f6fser sich entwickeln, je sch\u00e4rfer und th\u00e4tiger die Sinnesarbeit ausf\u00e4llt. Vom allgemeinen psychologischen Standpunkte aus w\u00e4re eine solche Definition auch richtig, und f\u00fcr den Naturmenschen, welcher dem Einfl\u00fcsse der Erziehung und Belehrung entzogen w\u00e4re, w\u00fcrden \u2014 ein normal entwickeltes Gehirn vorausgesetzt \u2014 die genannten Faktoren f\u00fcr die Ausbildung des Verstandes allein mafsgebend","page":410},{"file":"p0411.txt","language":"de","ocr_de":"R\u00fcckwirkung d. Gesichtsempfindungen auf d. physische u. d. psychische Leben. 411\nsein. Erziehung, Belehrung sind jedoch von ganz bedeutendem Einfl\u00fcsse f\u00fcr die Ausbildung, indem sie den durch die Sinne aufzunehmenden Vorstellungskomplexen schon bestimmte Formen zu geben verm\u00f6gen, indem sie den Sinnen ihre Th\u00e4tigkeit gewissermafsen erleichtern, ihnen die Verarbeitung der aufzunehmenden Eindr\u00fccke durch Form und Reihenfolge des dargebotenen Stoffes leichter machen. Schon deshalb aber wird der sinnlich am meisten Beanlagte, dieselbe Form der Belehrung vorausgesetzt, auch am meisten \u201ezu lernen\u201c verm\u00f6gen. Und andererseits kann ja auch trotz physikalisch gut entwickelter Sinne bei schlechter Beanlagung, d. h. bei unvollkommenem, anatomisch-mangelhaft eingerichtetem Bau der Zentralorgane, der Einflufs aller Sinnesth\u00e4tigkeit und aller \u00e4ufseren Belehrung f\u00fcr den Intellekt von ganz geringer Bedeutung sein.\nIn der Entwickelung des Geisteslebens spielen die sogenannten h\u00f6heren Sinne, Gesicht und Geh\u00f6r, die Hauptrolle. Geht einer derselben verloren, so wird die Aufgabe, die geistige Erziehung zu leiten, dem anderen allein zu- und deswegen an sich schon mangelhaft ausfallen. Damit soll nicht gesagt sein, dafs ein Tauber oder dafs ein Blinder sich geistig nicht \u00fcber das Durchschnittsmafs hinaus zu entwickeln verm\u00f6ge. Indes ist solches doch immer die Ausnahme und setzt eine regere Th\u00e4tigkeit der \u00fcbrigen Sinne und damit eine viel gr\u00f6fsere Erziehungsarbeit voraus.\nIn dieser Beziehung von gr\u00f6fserem Interesse sind die Gedanken, welche Friedrich Hitschmann, selbst ein Blinder, \u00fcber das psychische Leben entwickelt.1\nVon Wichtigkeit ist seine Angabe, dafs \u201edie Vorstellung des Raumes im Geistesleben des Blinden (nat\u00fcrlich sind Blindgeborene gemeint) eine viel geringere Rolle spielt, als in dem des Sehenden\u201c, und dafs diese Raumvorstellung \u201eweit mehr vom Geh\u00f6r als von dem Tastsinn abh\u00e4ngt\u201c.\n\u201eDer Blinde denkt, soviel mir bekannt ist, Personen \u00fcberhaupt nicht, indem er sich ihre k\u00f6rperliche Erscheinung vergegenw\u00e4rtigt\u201c, \u201eer verkn\u00fcpft vielmehr die geistige Pers\u00f6nlichkeit, um die es sich handelt, direkt mit dem sinnlichen Moment, das unmittelbar auf ihn ein wirkt, also mit der Stimme\u201c.\n1 Friedrich Hitschmann: \u201e\u00dcber Begr\u00fcndung einer Blindenpsychologie von einem Blinden.\u201c Liese Zeitschrift. Bd. V, Heft 3, pag. 388 u. ff.","page":411},{"file":"p0412.txt","language":"de","ocr_de":"412\nE. Baehlmann.\nDamit ist in v\u00f6lliger \u00dcbereinstimmung, was ich durch Studien an Blindgeborenen, welche durch Operation sehend wurden, \u00fcber ihr Geistesleben ermitteln konnte.\nDie Raumvorstellung, welche der Blindgeborene durch die Th\u00e4tigkeit der ihm verf\u00fcgbaren Sinne gewonnen hat, stimmt nicht eo ipso \u00fcberein mit der Vorstellung des K\u00f6rperlichen und des B-aumes, \u00fcber welche der Sehende verf\u00fcgt, und wenn ein Blindgeborener das Gesicht durch Operation pl\u00f6tzlich erh\u00e4lt, so erschliefst sich ihm im wahren Wortsinne erst eine Vorstellung der k\u00f6rperlichen Welt, welche ihm bis dahin fehlte.1\nWenn beide h\u00f6heren Sinne, Geh\u00f6r und Gesicht, unentwickelt sind resp. schwinden, ist der Mensch im h\u00f6chsten Grade k\u00f6rperlich und geistig h\u00fclflos oder bei Verlust dieser Sinne vorwiegend auf den Umfang des Intellekts beschr\u00e4nkt, welcher vor der Einbufse dieser Sinne vorhanden war.\nZwar hat W. Jerusalem2 \u00fcber immerhin ansehnliche Erfolge der Erziehung von Taubstumm-Blinden, namentlich eines von der Natur sinnlich so \u00fcberaus karg ausgestatteten M\u00e4dchens berichtet, aber gerade dieser Fall ist geeignet, die fundamentale Bedeutung der h\u00f6heren Sinne f\u00fcr die Ausbildung aller geistigen Th\u00e4tigkeit anschaulich zu illustrieren.\nEs ist vielfach behauptet worden und eine noch zur Zeit gel\u00e4ufige Vorstellung, dafs bei dem Fehlen oder Versagen eines Sinnes die \u00fcbrigen eine gesteigerte Th\u00e4tigkeit entwickelten und so gleichsam den Defekt zu ersetzen vermochten; das ist indes nur soweit richtig, als der ausfallende Sinn die Aufmerksamkeit des Menschen nat\u00fcrlich nicht in Anspruch nimmt und dieselbe ungeteilt den \u00fcbrigen Sinnen, beim Blinden beispielsweise dem Geh\u00f6r zugewendet werde. Die Vorstellung aber, dafs der Blinde besser d. h. sch\u00e4rfer h\u00f6re als der Sehende, entbehrt jeder thats\u00e4chlichen Begr\u00fcndung.\nSchon Hitschmann, der blinde Autor der oben erw\u00e4hnten Schrift, folgert (1. c. pag. 390) ganz richtig, dafs diese Annahme, konsequent durchgef\u00fchrt, zu dem absurden Schl\u00fcsse f\u00fchren m\u00fcfste, \u201edafs einem Wesen, dem von allen Sinnen etwa blofs der Geschmack erhalten w\u00e4re, durch diesen allein ann\u00e4hernd\n1\tVgl. diese Zeitschrift. Bd. II.\n2\tW. Jerusalem: Laura Bridgman. Erziehung einer Taubstumm-Blinden. Eine psychologische Studie. Wien 1890. A. Pichlers Wittwe und Sohn.","page":412},{"file":"p0413.txt","language":"de","ocr_de":"R\u00fcckwirkung d. Gesichtsempfindungen auf d. physische u. d.psychische Lehen. 413\ngleichviel Empfindungen vermittelt w\u00fcrden, als den anderen durch all\u2019 ihre gesunden Sinne zusammen\u201c.\nDie Gr\u00f6fse der erreichbaren geistigen Entwickelung h\u00e4ngt indes, wie bereits oben erw\u00e4hnt, nun nicht allein von dem Funktionieren der Sinne ab, sondern auch von dem Zustande der Zentralorgane, und hierdurch sind Unterschiede bedingt, welche als gr\u00f6fsere oder geringere Beanlagung zu lebhafterer Th\u00e4tigkeit auf bestimmten Sinnesgebieten hervortreten.\nDiese kommen nat\u00fcrlich auch bei Individuen in Betracht, wo nach anderer Sichtung Sinnesdefekte vorliegen.\nSo erkl\u00e4ren sich einseitige Begabungen bei sonst geistig wenig entwickelten Menschen.\nIch habe zwei blinde, mit Mikr\u00f6eephalus und Idiotismus behaftete Kinder (M\u00e4dchen) gekannt, welche hervorragende musikalische Begabung zeigten und mit erstaunlicher Sicherheit Melodien auffafsten. Anfang der 70er Jahre befand sich in der Irren-Heil- und Pflege-Anstalt Nietleben bei Halle ein taubstummer Idiot, welcher eine auffallende Begabung f\u00fcr Nachzeichnen entwickelte. Derselbe zeichnete jede Vorlage ohne weiteres und zwar in jedem gew\u00fcnschten Mafsstabe nach. Man gab ihm recht h\u00e4ufig, um ihn zu besch\u00e4ftigen, einen Bleistift in die Hand, legte ein Blatt Papier vor ihm hin, irgend ein Bild dazu, und nun fing er an nachzuzeichnen; dabei hatte derselbe entschieden nicht das geringste Formenverst\u00e4ndnis, um etwa selbst\u00e4ndig den kleinsten Entwurf machen zu k\u00f6nnen. Wenn man ihm aber ein Bild zum Nachzeichnen anwies, so war es ganz einerlei, ob das Blatt mit der Zeichnung schief oder gerade vor ihm lag, ob er vom linken oder vom rechten Ende der Zeichnung oder in deren Mitte begann, aber der Mafsstab, den er beim ersten Beginnen anlegte, wurde durchweg beibehalten, die Zeichnung wurde fertig und \u00e4hnlich.\nMan legte ihm das Bild eines Pferdes vor (Stahlstich aut Quartformat) und zwar die Zeichnung verkehrt, mit dem Kopfe des Pferdes nach unten, nahm seine Hand, welche den Bleistift hielt und begann in der rechten oberen Ecke eines freien Blattes Papier den einen Hinterfufs (Huf etc.) in den Umrissen zu zeichnen; das gen\u00fcgte. Der Idiot zeichnete weiter, unbek\u00fcmmert um die falsche Lage, bis das Bild fertig war.\nSolche talentvolle Entwickelung in einzelnen Sinnes gebieten","page":413},{"file":"p0414.txt","language":"de","ocr_de":"414\nE. Baehlmann.\nbei dem Fehlen anderer ist aber durchweg als Ausnahme zu bezeichnen. Durchschnittlich ist im Gegenteil wohl die Ausnutzung der \u00fcbrigen Sinneseindr\u00fccke geringer, wenn der eine oder der andere h\u00f6here Sinn ausf\u00e4llt. Das folgt schon aus der Verkleinerung des physischen Assoziationsgebietes, welches durch den Fortfall eines (h\u00f6heren) Sinnes bedeutend eingeengt wird.\nEinen Hund, den man gesehen und bellen geh\u00f6rt hat, erkennt man nach seinem optischen Bilde sowohl als am Gebell; beide Vorstellungen sind aber derart eng assoziiert, dafs das H\u00f6ren des Bellens auch die Vorstellung des optischen Bildes induziert. Der Begriff des Hundes ist also gewisser-mafsen zweifach, d h. in zwei Sinnesgebieten fixiert, und der Fortfall eines der beiden Sinne wird auch den Begriff entsprechend lockern m\u00fcssen, d. h. der subjektive Eindruck ist beim Blinden z. B. ein entschieden weniger voller, als beim Sehenden.\nIn der Begel sehen wir auch bei Leuten, welche erblinden, eine Abnahme der psychischen Leistungsf\u00e4higkeit eintreten, welche nicht allein durch den Gem\u00fctsaffekt, welcher in Form einer Depression die geistige Th\u00e4tigkeit hemmt, zu erkl\u00e4ren ist. \u2014 Man sieht das sehr h\u00e4ufig an Starblinden, welche l\u00e4ngere Zeit wegen Katarakt die brauchbare Sehf\u00e4higkeit ein-geb\u00fcfst haben. Solche Leute, fr\u00fcher gesund und frisch, verfallen sehr rasch, geistig und k\u00f6rperlich, und vor allem die geistige Energie ist mehr herabgesetzt, als die physische St\u00f6rung, selbst unter Ber\u00fccksichtigung des erw\u00e4hnten Affektes, erkl\u00e4ren k\u00f6nnte.\nIn der That ist das Seelenleben dieser Kranken infolge der Erblindung h\u00f6chlichst ver\u00e4ndert. Die sensorielle Assoziation ist infolge der mehr oder weniger pl\u00f6tzlichen Unterbrechung der vornehmsten Zufuhrstrafse der Eindr\u00fccke und Motive gewissermafsen aus dem Geleise gebracht. Kein Wunder, dafs die Th\u00e4tigkeit des Ganzen hochgradig gehemmt wird.\nDafs dieser Zustand auch auf das k\u00f6rperliche Befinden zur\u00fcckwirkt, liegt auf der Hand.\nGerade an diesen Kranken merkt man die grofse Bedeutung der Gesichtswahrnehmungen f\u00fcr den Ablauf aller geistigen Funktionen.\nHierzulande, wo erst k\u00fcrzlich eine neue Eisenbahn ein","page":414},{"file":"p0415.txt","language":"de","ocr_de":"R\u00fcckwirkung d. Gesichtsempfindungen auf d. physische u. d. psychische Lehen. 415\nausgedehntes Hinterland f\u00fcr den Stadtverkehr erschlossen hat, kommen h\u00e4ufig Augenkranke, welche schon seit Jahren erblindet sind, zur Operation \u2014 F\u00e4lle, die in bev\u00f6lkerten Gegenden Zentraleuropas infolge besserer Kommunikationsmittel so gut wie g\u00e4nzlich fehlen.\nSolche Kranke, welche jahrelang so gut wie blind waren, haben den Gebrauch der Augen fast verloren; nur die Erinnerung an fr\u00fchere lichtvolle Tage ist noch lebendig, und sie erwacht recht h\u00e4ufig, wenn die Kranken, frisch operiert, unter dem Verb\u00e4nde im Dunkelzimmer liegen, in einer ungewohnten Lebhaftigkeit, welche zeitweise die normalen Grenzen \u00fcberschreitet.\nH\u00e4ufig kommt es zu Delirien, Vorg\u00e4ngen im Geistesleben, welche den Neuropathologen und Irren\u00e4rzten nicht unbekannt sind.1 Diese Delirien haben aber fast ausnahmslos ein und denselben Inhalt. Es sind vorzugsweise Halluzinationen im Gebiete des Gesichtssinnes und Delirien, in welchen die Kranken namentlich die Gesichtseindr\u00fccke aus ihrer fr\u00fcheren Lebenszeit reproduzieren und bunt durcheinander mengen.\nDie ersten Beobachtungen berichten Sichel2 und Zehender;3 weitere Mitteilungen verdanken wir Lanne,4 Magne,5 Arlt6 und Schmidt-Himpler.7 \u2014 In allen F\u00e4llen waren wirkliche Geistesst\u00f6rungen, teilweise mit maniakalischen Aufregungszust\u00e4nden, vorhanden. Nach Magne und auch Arlt handelt es sich in solchen F\u00e4llen meist um Delirium tremens, welches bei dem Alkoholgenufs ergebenen Patienten zum Teil wohl infolge der di\u00e4tetischen Entziehung des Alkohols zum Ausbruche kam. Nach Lanne und Schmidt-Bjmpler dagegen m\u00fcssen die F\u00e4lle als Delirium nervosum resp. traumaticum (D\u00fcpnytren) auf-gefafst werden.\nDie Delirien zeichnen sich, wie schon Schmidt-Kimpler ausf\u00fchrt, durch leichten und raschen Verlauf, ferner durch ihren\n1\tVergl. Stanislaus Bielski, Inaugural-Dissertation. Dorpat 1885.\n2\tVunion m\u00e9d. 1863. No. 1.\n3\tZehenders klin. Monatsbl. f. Augenheilkde. 1863. p. 125.\n4\tGazette des h\u00f4pitaux. 1868. No. 57.\n6 Magne, Bull, de Th\u00e9rap. 1863. p. 426.\n6\tHandh. d. Augenheilkde. von G-raefe und Saemisch. Bd. HI. I. p. 309. 1874.\n7\tSchmidt-Rimpler, Arch. f. Psychiatr. u. Nervenkrankh. Bd. IX. 1879.","page":415},{"file":"p0416.txt","language":"de","ocr_de":"416\nE. Maef\u00fcmann.\nInhalt aus, da es sich vorzugsweise um Halluzinationen im Gebiete des Gesichtssinnes handelt, und endlich durch ihre Abh\u00e4ngigkeit von dem Aufenthalte im Dunkeln (resp. unter dem Verb\u00e4nde).\nNeben diesen F\u00e4llen von Delirien kommen in den Dunkel-zimmera der Augenkliniken aber gelegentlich auch F\u00e4lle zur Beobachtung, wo keine eigentlichen Geistesst\u00f6rungen, sondern vor\u00fcbergehend reine Halluzinationen resp. Illusionen im Gebiete des Gesichtssinnes beobachtet werden bei sonst vollkommen klarem Bewufstsein.\nHierher geh\u00f6rt eine interessante Selbstbeobachtung des Botanikers Naegeli, \u00fcber welche Jolly1 berichtet und ein von mir beobachteter Fall,2 den ich kurz referiere; es handelte sich um einen Mann, welcher infolge heftiger Blendung an zentralem Netzhautskotom erkrankt war. Derselbe hatte die subjektive Erscheinung dunkler und farbiger Flecke vor den Augen.\nAls er sich zum Zwecke der Behandlung im absolut dunklen Zimmer aufhielt, gestalteten sich die sonst rund geformten Flecke zu allerlei Figuren und Gestalten, Gesichtern, Tieren etc., welche er deutlich vor sich sah, obwohl er sich der Subjektivit\u00e4t der Erscheinung vollkommen bewufst war.\nEinen besonders typischen Fall von Halluzination und Illusion aber ausschliefslich im Gebiete des Gesichtssinnes und ohne alle Aufregungszust\u00e4nde beobachtete ich ferner bei einer alten 73j\u00e4hrigen Dame, welche von mir an grauem Star operiert wurde. Einige Tage nach der Operation bekam dieselbe unter dem Verb\u00e4nde alle m\u00f6glichen Gesichtsvorstellungen, welche teilweise als Halluzinationen ihr Urteil unrichtig beeinflufsten, gr\u00f6fstenteils aber als reine Illusionen vorgetragen wurden, ohne dafs die Patientin an die Realit\u00e4t der Erscheinungen glaubte. So erz\u00e4hlte sie z. B., dafs das Zimmer, in dem sie sich bef\u00e4nde, sch\u00f6n ausgestattet sei, sie sah einen Spiegel in goldenem Rahmen und zwei Bilder daneben. Sie sah deutlich drei Uhren und deren sich bewegende Pendel, \u00e4ufserte aber spontan, dafs sie das Ticken derselben\ntrotz ihrer Aufmerksamkeit nicht geh\u00f6rt habe etc.\n\u00a7\u2022\nUber diesen Fall ist ebenfalls in der erw\u00e4hnten Dissertation von Bielski genauer berichtet.\n1\tF. Jolly, Allgem. Zeitschr. f. Psyckiatr. etc. Bd. XL.\n2\tBielski, 1. c. p. 37.","page":416},{"file":"p0417.txt","language":"de","ocr_de":"R\u00fcckwirkung d. Gesichtsempfindungen auf d. physische u. d. psychische Leben. 417\nVorzugsweise finden sich solche Zust\u00e4nde von Halluzinationen und Illusionen im Gebiete des Gesichtssinnes mit und ohne Aufregungszust\u00e4nde bei Staroperierten, sie haben dann einen gewissen regelm\u00e4fsigen Verlauf, beginnen einige Tage nach der Operation und h\u00f6ren in der Hegel kurz nach der Abnahme des Augenverbandes auf, ohne wiederzukehren.\nEs mag sein, dafs das Alter hierbei in Betracht kommt (vornehmlich handelt es sich bei Starkranken um alte Leute), jedenfalls aber spielt die Wiedergewinnung des langentbehrten Gesichtssinnes eine bedeutende Bolle, und in der That m\u00fcssen die ersten verwertbaren Eindr\u00fccke des Sehorganes, auf den altgewohnten Bahnen in die psychischen Vorstellungsreihen eingreifend, einen totalen Umschwung in dem Ablauf der Denkprozesse herbeif\u00fchren.\nDie nun zur Geltung kommenden Gesichts Vorstellungen, die sich den aus anderen Sinnesgebieten stammenden Eindr\u00fccken wieder von neuem assoziieren und eine Art von Deformation des subjektiven Lebens bewirken, k\u00f6nnen dabei den normalen Verlauf der psychischen Vorg\u00e4nge hemmen oder st\u00f6ren und so zu eigentlichen Sinnest\u00e4uschungen Veranlassung bieten.\nAber auch, ohne dafs die Beaktion des Geisteslebens auf die neuen Vorstellungskomplexe pathologischen Umfang gewinnt, ist sie von der gr\u00f6fsten Bedeutung f\u00fcr die ganze Lebens-\u00e4ufserung der Staroperierten auch in k\u00f6rperlicher Beziehung.\nVor der Operation handelt es sich meist um schlaffe, energielose Menschen, deren Gem\u00fctsleben von dem Ungl\u00fccke der Erblindung \u00fcberw\u00e4ltigt worden ist. Geistig meist zaghaft und mutlos, sind sie auch k\u00f6rperlich meist heruntergekommen; vorzeitig gealtert, auch bei kr\u00e4ftigem K\u00f6rperbau, mit welken, schlaffen, unbelebten Gesichtsz\u00fcgen, ohne intensive Willens-\u00e4ufserungen. Ein solches Bild, welches auch die Abh\u00e4ngigkeit des physischen Lebens von der Th\u00e4tigkeit des Auges erweist, bieten jene an grauem Star beiderseits erblindeten Personen fast ausnahmslos, wenn sie mehrere Jahre ihren Zustand getragen haben. Mit einem Schlage \u00e4ndert sich das Bild, wenn solche Kranke nach der Operation wieder sehend werden. Die betreffenden Personen erscheinen sichtlich verj\u00fcngt. Ihr Gesicht zeigt wieder Lebhaftigkeit und Ausdruck. Ihre ganze Erscheinung verr\u00e4t die erh\u00f6hte Lebensenergie,\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie VIII.\t27","page":417},{"file":"p0418.txt","language":"de","ocr_de":"418\nE. Baehlmann.\nwelche die Erschliefsnng des frisch wiedergewonnenen Gesichtssinnes herbeif\u00fchrt.\nUnd welche Bedeutung gar mufs die Wiedergewinnung des Sehverm\u00f6gens nach langer Blindheit f\u00fcr das geistige Leben eines Menschen besitzen, welcher nicht allein blind, sondern auch taub war. Ich habe in dieser Beziehung einen Fall beobachtet, welcher, wohl einzig in seiner Art, besonders geeignet ist, die Wichtigkeit des Gesichtssinnnes im obigen Sinne zu beweisen.\nN. N., M\u00e4dchen von 19 Jahren, hat in ihrem nennten Jahre, angeblich infolge der Masern, das Geh\u00f6r verloren nnd ist zur Zeit auf beiden Ohren vollkommen taub. Sie war als Kind ein aufgewecktes M\u00e4dchen. Bis zu ihrem neunten Jahre hat sie die Schule besucht und konnte zur Zeit ihrer Erkrankung ziemlich gel\u00e4ufig lesen und schreiben. Ca. ein Jahr, nachdem sie das Geh\u00f6r verloren, stellten sich auf beiden Augen Sehst\u00f6rungen ein. Nach wenigen Monaten war das taube M\u00e4dchen auf beiden Augen erblindet. Bis zur Erkrankung der Augen hatte sie noch gesprochen ; nachdem sie blind geworden, hat sie anfangs nur noch bei besonderen Bed\u00fcrfnissen sich durch Worte nach Art tauber Personen (mit hohler Stimme) verst\u00e4ndlich zu machen gesucht. Nach und nach hatte das Sprechen aufgeh\u00f6rt, und seit ungef\u00e4hr neun Jahren hat sie kein Wort von sich gegeben.\nZur Zeit ihrer Aufnahme in die Klinik bestand folgender Status\u2019\u2022\nSchlank gebaute Person von mittlerer Gr\u00f6fse, erheblich abgemagert, ohne Panniculus adiposus, mit schlaffen, welken Z\u00fcgen und eigent\u00fcmlich apathischem Gesichtsausdruck, beiderseits weiche geschr\u00fcmpfte Katarakt, welche die Pupille auch bei mittlerer Weite vollkommen ausf\u00fcllt. Die Kranke hat prompte Empfindung f\u00fcr quantitative Lichtunterschiede, vermag auch gr\u00f6fsere, dicht vor die Augen gehaltene Gegenst\u00e4nde wahr-zunehmen, aber nicht deren Form zu erkennen. Die Augen stehen in atypischer Lage (wie bei v\u00f6llig Blinden) meist divergent, die Beaktion der Pupille ist beiderseits normal.\nDie Patientin befand sich, bevor sie operiert wurde, acht Tage zur Beobachtung in der Klinik; sie zeigte einen Zustand vollkommener Energielosigkeit und Apathie. Die meiste Zeit verbrachte sie schlafend in liegender oder sitzender Stellung, aber auch w\u00e4hrend des wachen Zustandes safs sie teilnahmslos da, still vor sich hinbr\u00fctend. Wird sie von einem Ort zum anderen gef\u00fchrt und irgendwo hingesetzt, so bleibt sie sitzen, wie man sie hingesetzt hatte, ohne irgend welche Bewegungen vorzunehmen. Nahrung nimmt sie nur, wenn ihr das Essen vorgesetzt und ihr der L\u00f6ffel in die Hand gegeben wird. Die Pr\u00fcfung der Sensibilit\u00e4t gegen\u00fcber Ber\u00fchrung an der K\u00f6rperoberfl\u00e4che war entschieden herabgesetzt, aber nicht aufgehoben. Auch die Beflexe, Knie- und Plantarreflex, waren entschieden herabgesetzt Temperatur normal.","page":418},{"file":"p0419.txt","language":"de","ocr_de":"R\u00fcckwirkung d. Gesichtsempfindungen auf d. physische u. d. psychische Leben. 419\nDie Operation wurde auf beiden Augen mit gutem Erfolge aus-gef\u00fcbrt; beide Augen wurden nach der Operation sorgf\u00e4ltig verbunden und Sehversuche in den ersten Tagen vermieden, um das mit der Pr\u00fcfung zu verbindende Experiment m\u00f6glichst rein anstellen zu k\u00f6nnen.\nAls zum Zweck der Pr\u00fcfung der Verband abgenommen und das M\u00e4dchen aufgefordert wurde, die Augen zu \u00f6ffnen, war es anfangs nicht zu bewegen, die Lider aufzuschlagen. Pl\u00f6tzlich \u00f6ffnete sie die Augen, starrte eine kurze Zeit gerade aus und schlofs dann die Augen wieder. Pl\u00f6tzlich lief ein Zittern \u00fcber den ganzen K\u00f6rper, und auf dem Gesichte erschienen dicke Schweifstropfen.\nDie Augen wurden wieder verbunden und die Kranke sich selbst \u00fcberlassen. Nach kurzer Zeit wurde mir von der W\u00e4rterin mitgeteilt, dafs das operierte M\u00e4dchen, welches bis jetzt stumm gewesen war, pl\u00f6tzlich zu sprechen angefangen habe; das erste Wort, das sie gesprochen, sei das Wort \u201eWasser\u201c gewesen. Die Heilung lief gut von statten, und die Augen erhielten ein gutes Sehverm\u00f6gen.\nNach der Operation, als die Patientin anfing, von ihren Augen Gebrauch zu machen, ver\u00e4nderte sich ihre ganze Erscheinung. Sie wurde lebhaft behende, ging viel umher und sprach, allerdings mit der undeutlichen Sprache tauber Personen.\nAls ihre Mutter sie zu besuchen kam, erz\u00e4hlte sie derselben, welche seit neun Jahren von ihrer Tochter keinen Sprachlaut geh\u00f6rt hatte, die ganze Operationsgeschichte und alles, was mit ihr vorgegangen war. Mir selbst las sie aus einem ihr von der Schulzeit her bekannten Buche mit lauter Stimme einige Zeilen vor. Einige Zeit nach der Operation wurde ihre Sensibilit\u00e4t von neuem untersucht und keine Herabsetzung derselben mehr gefunden; es zeigten sich auch die Sehnenreflexe eher gesteigert als geschw\u00e4cht.\nBei dem taubstummen und gleichzeitig blinden M\u00e4dchen ist uns das psychische Leben von hervorragendem Interesse. Die vornehmsten Sinne fehlen. Die Kranke ist, wenn wir vom Geruch und Geschmack absehen, nur auf die Eindr\u00fccke angewiesen, welche ihr das Gef\u00fchl einigermafsen kontinuierlich vermittelt. Und gerade das Gef\u00fchl erwies sich nicht etwa, wie man nach der gel\u00e4ufigen Vorstellung \u00fcber \u201evicariierende Sinnesth\u00e4tigkeitu h\u00e4tte erwarten m\u00fcssen, gesteigert, resp. gesch\u00e4rft, sondern umgekehrt, die Sensibilit\u00e4t war entschieden dem normalen Verhalten gegen\u00fcber herabgesetzt. Besonderes Interesse verdient die Schlafsucht, die Teilnahmslosigkeit und die Apathie des M\u00e4dchens. Offenbar handelt es sich hier nicht allein um eine Folge der allerdings extremen H\u00fclflosigkeit, in welcher ein tauber und blinder Mensch sich befindet, daf\u00fcr ist der Zustand starren Hinbr\u00fctens und das gesamte stupide Verhalten unserer Patientin zu auffallend,\n27*","page":419},{"file":"p0420.txt","language":"de","ocr_de":"420\nE. Baehlmann.\nsondern es kommt hier vor allem der Verlust der wesentlichsten H\u00fclfsmittel zur Gewinnung geistiger Vorstellungen, . der Mangel an sinnlichen Eindr\u00fccken in Betracht, infolgedessen das psychische Leben an Vorstellungen und Gedanken verarmen mufs. (Bei unserer Patientin kommt dabei sehr in Betracht, dafs sie als Kind \u00fcber alle Sinne verf\u00fcgte, ein aufgewecktes, reges M\u00e4dchen gewesen sein soll, welches in der Schule gut gelernt hat.) Durch den Mangel der Sinneseindr\u00fccke erkl\u00e4rt sich die auffallende Schlafsucht und die Apathie der Patientin auch wohl ohne Zwang. Beim gesunden Menschen, der von seinen K\u00f6rperkr\u00e4ften und von seinen Sinnesf\u00e4higkeiten den physiologisch-normalen Gebrauch macht, steht das Schlafbed\u00fcrfnis in bestimmtem Verh\u00e4ltnis zur Muskel-und Sinnesarbeit. Von der jeweiligen Gr\u00f6fse der Sinnesreize h\u00e4ngt, wie Pfl\u00fcger zuerst ausf\u00fchrte, zum grofsen Teile der wache Zustand des Gehirns ab. Vorzugsweise kommen hier die vom Seh- und H\u00f6rnerven geleiteten, ferner die sensiblen Beize in Betracht, welche mehr oder weniger kontinuierlich einwirken und das Gehirn dauernd besch\u00e4ftigen. Wir k\u00f6nnen mit Pfl\u00fcger1 fragen, \u201eob diese das Gehirn kontinuierlich treffende Erregungsmasse nicht einen grofsen Teil der lebendigen Kr\u00e4fte liefert, von deren bestimmter Gr\u00f6fse der wache Zustand abh\u00e4ngt\u201c. (1. c. pag. 473.)\nIn der That sind diese Erregungen derart mafsgebend f\u00fcr den Eintritt des Schlafes, dafs es gelingt, bei Experimenten an Tieren und an Menschen Schlaf herbeizuf\u00fchren, wenn die erw\u00e4hnten Sinnesreize auf ein kleines Mafs reduziert oder ganz aufgehoben, resp. abgehalten werden. Dar\u00fcber kann nach den Experimenten Heybels,2 sowie nach den interessanten klinischen Beobachtungen Str\u00fcmpells,3 Heynes,4 Ziemssens5 u. A. kein Zweifel bestehen.\nIn allen diesen F\u00e4llen bestand allgemeine kutane An\u00e4sthesie. Bei allen diesen Kranken war nur mehr durch das Geh\u00f6r und\n1\tE. Pfl\u00fcger, Theorie des Schlafes. Arch. f. die ges. Physiol. Bd. X. pag. 473.\n2\tDr. Emil Heybel, \u00dcber die Abh\u00e4ngigkeit des wachen G-ehirn-znstandes von \u00e4nfseren Erregungen. Ebenda. Bd. XIY. pag. 158 u. ff.\n8 Str\u00fcmpell, Deutsches Arch. f. Min. Med. Bd. XXII. pag. 348.\n4\tM. Heyne, 1. c. pag. 84.\n5\tZiemssen, 1. c. pag, 95.","page":420},{"file":"p0421.txt","language":"de","ocr_de":"R\u00fcckwirkung d. Gesichtsempfindungen auf d. physische u. d. psychische Leben. 421\ndas Gesicht die Zuleitung \u00e4ufserer Erregungen m\u00f6glich. Wurde diese Quelle verstopft, d. h. wurden den Kranken Augen und Ohren verschlossen, so schliefen sie ein; das Experiment versagte niemals. Der Schlaf trat schon wenige Minuten nach dem Verschluis der Augen und Ohren ein.\nF\u00fcr die obige Erkl\u00e4rung des Schlafzustandes bietet nun unser Fall erneutes Interesse; bei ihm liegen die Sinnesdefekte genau umgekehrt, wie bei den angef\u00fchrten F\u00e4llen; es funktionieren die h\u00f6heren Sinne nicht, dagegen ist das Gef\u00fchl an der K\u00f6rperoberfl\u00e4che erhalten, wenn auch herabgesetzt, der geistige Erregungszustand, soweit er m\u00f6glich ist, bindet sich aus-schliefslich an die vom Gef\u00fchl vermittelten Eindr\u00fccke. Bei ruhiger K\u00f6rperhaltung sind dieselben nun sehr gering, und daher ist die indolente, stupide Existenz der Patientin und die Schlafsucht zu erkl\u00e4ren. Weiterhin unterscheidet sich unsere neue Beobachtung von den angef\u00fchrten, weil hier die Sinnesdefekte bei sonst gesundem K\u00f6rper und Geiste Vorlagen \u2014, w\u00e4hrend die von den genannten Forschern mitgeteilten Beobachtungen sich auf Kranke beziehen, bei welchen die Sensibilit\u00e4tsst\u00f6rung durch Krankheit der Zentralorgane bedingt war.\nEndlich bietet unser Fall das gr\u00f6fste Interesse durch den Erfolg der Staroperation, durch welche die Patientin die Gesichts Wahrnehmungen wiedererhielt, nachdem dieselben neun Jahre hindurch gefehlt hatten.\nNichts beweist schlagender die Bedeutung dieses Gewinnes, \u2022\u2022\nals der \u00dcbergang des Zustandes v\u00f6lliger Stupidit\u00e4t in eine gewisse Lebhaftigkeit mit Wiedergewinn der Sprache und mit Steigerung der gesamten sensiblen Erregbarkeit.\nEs kann keinem Zweifel unterliegen, dafs durch den Wiedergewinn des Gesichtes alte As so zi at io ns Verbindungen psychischer Erregungs Vorg\u00e4nge, welche fr\u00fcher das Sprachbewegungszentrum mit gewissen optischen Eindr\u00fccken verbunden haben, wieder lebendig wurden und der Lautbildung f\u00f6rderlich waren.\nDas war auch zu erkennen, als die Patientin aus einem Buche, in welchem sie als Kind gelernt hatte, einzelne S\u00e4tze laut und vernehmlich vorlas.","page":421},{"file":"p0422.txt","language":"de","ocr_de":"422\nE. Raehlmann.\nHier waren gewifs die von der Kinderzeit bekannt gebliebenen gedruckten Buchstaben- und Wortzeichen der n\u00e4chste Anlafs zum Auffinden der wichtigen Innervation f\u00fcr das Hervorbringen der neun Jahre hindurch nicht mehr ge\u00fcbten Sprachlaute.","page":422}],"identifier":"lit29587","issued":"1895","language":"de","pages":"401-422","startpages":"401","title":"\u00dcber die R\u00fcckwirkung der Gesichtsempfindungen auf das physische und das psychische Leben: Eine ophthalmologisch-psychologische Betrachtung nebst Erfahrungen an Schwachsichtigen und Blinden","type":"Journal Article","volume":"8"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:13:25.100876+00:00"}