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{"created":"2022-01-31T14:15:41.850558+00:00","id":"lit29588","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Landmann, S.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 8: 423-426","fulltext":[{"file":"p0423.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber die Beziehung der Atmung zur psychischen\nTh\u00e4tigkeit.\nVon\nDr. S. Landmann.\nIn dieser Zeitschrift1 hat G\u00f6tz Martius die Mitteilungen Alfred Lehmanns \u00fcber die Abh\u00e4ngigkeit der Empfindungsschwankungen von der Atmung besprochen und dabei die Behauptung aufgestellt, dafs der Atmungsprozefs als rein physiologische Erscheinung von den eigentlichen psychologischen Prozessen weit entfernt liegt und es von vornherein nicht berechtigt ist, zwischen bestimmten psychischen Erscheinungen und dem Atmungsprozesse eine direkte Abh\u00e4ngigkeit anzunehmen. \u201eAus der allgemeinen Abh\u00e4ngigkeit eine Abh\u00e4ngigkeit im engeren direkten Sinne zu machen, ist ein Sprung, der nur auf direkte Beweise hin gewagt werden darf. Als solcher kann nur gelten, wenn die Zeiten einer Phase der Atmung mit denjenigen einer Sinnesschwankung als konstant \u00fcbereinstimmend sich erg\u00e4ben, wenn \u00c4nderungen der Atmungsperioden mit solchen der Schwankungsperioden in erkennbarer Weise vorhanden w\u00e4ren.\u201c\nDar\u00fcber wird wohl kein Zweifel mehr bestehen, dafs die Intermissionen der Empfindung mit der abnehmenden Intensit\u00e4t des untersuchten Beizes zunehmen. Gegenstand der Meinungsverschiedenheit scheint mir nur die Frage zu sein, ob mit den Phasen der Atmungsperioden auch die Intensit\u00e4t eines Empfindungsreizes in direkter, obwohl mittelbarer Weise ge\u00e4ndert werden kann. Zur Entscheidung dieser Frage glaube ich durch Selbstbeobachtung einen Beitrag liefern zu k\u00f6nnen.\n1 Bd. VII. S. 220 u. ff.","page":423},{"file":"p0424.txt","language":"de","ocr_de":"424\n8. Landmann.\nDie Atmungsbewegungen, die normalen wie die krankhaften, werden instinktiv von der Medulla oblongata ausgel\u00f6st. Sie k\u00f6nnen aber auch zu willk\u00fcrlichen gemacht werden. Verwandle ich das gew\u00f6hnliche Atmen in m\u00f6glichst tiefe, regelm\u00e4ssige, freiwillige In- und Exspirationen, so kann ich hierdurch zweierlei Wirkungen an mir hervorbringen, die ich zum Unterschiede von anderen als psychische bezeichnen will. Erstens habe ich gefunden, dafs Neuralgien an den verschiedensten K\u00f6rperstellen auf der Akme der m\u00f6glichst tiefen, freiwilligen Inspirationen in der Kegel verschwinden und erst wieder auf einer bestimmten Stufe der Exspiration sich f\u00fchlbar machen. Zweitens habe ich an mir beobachtet, dafs durch eine l\u00e4ngere Fortsetzung dieser m\u00f6glichst tiefen, freiwilligen Atmung unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden, n\u00e4mlich bei v\u00f6lliger Abwesenheit aller St\u00f6rungen und bei ungest\u00f6rter bequemer K\u00f6rperlage selbst bei Abwesenheit eines jeden Schl\u00e4frigkeits-gef\u00fchls bald wirklicher Schlaf herbeigef\u00fchrt wird. Die beiden Wirkungen unterscheiden sich dadurch voneinander, dafs die eine lokal und mit kurzer Dauer, die andere allgemein und mit l\u00e4ngerer Dauer auftritt. Gemeinsam haben sie miteinander den an\u00e4sthesierenden Charakter. Der Physiologie wird es nicht schwer werden, die Ver\u00e4nderungen zu ermittele, welche mit der schmerzstillenden Wirkung einer freiwilligen m\u00f6glichst tiefen Atmung verbunden sind. Auf einer Unempfindlichkeit, welche durch den Akt der Freiwilligkeit selbst herbeigef\u00fchrt wird, kann diese Wirkung nicht beruhen. Denn einmal dauert die Schwankung der Schmerzempfindung nicht einmal so lange, als die freiwillig ausgef\u00fchrte Atmung selbst; dann aber spricht noch eine andere Erfahrung gegen eine derartige Auffassung. Im allt\u00e4glichen Leben kanh man es beobachten, dafs ein Mensch in dem Augenblicke, in welchem er von einem moralischen Schmerze am tiefsten ergriffen ist, eine m\u00f6glichst tiefe Atmung macht, die man einen Seufzer zu nennen pflegt. Dieser Seufzer wird ohne alle Willk\u00fcr durch ein blofses Bed\u00fcrfnis ausgel\u00f6st, und dennoch vermag er, wie man an sich selbst beobachten kann, eine momentane Erleichterung zu verschaffen. Wahrscheinlich beruht die schmerzvermindernde Wirkung eines m\u00f6glichst ausgedehnten Atmens auf den Ver\u00e4nderungen, welche von der Lunge durch den h\u00f6chsten Grad des passiven Druckes an der Ausdehnung des Herzens und der","page":424},{"file":"p0425.txt","language":"de","ocr_de":"Uber die Beziehung der Atmung zur psychischen Th\u00e4tigkeit. 425\ngrofsen Gehirnblutgef\u00e4fse hervorgebracht werden und sekund\u00e4r mit der Verminderung des Blutzuflusses zu den Gehirnzentren eine Schwankung in der Empfindung bedingen.\nDie andere, allgemeine Wirkung einer l\u00e4ngere Zeit fortgesetzten, freiwilligen, m\u00f6glichst tiefen Atmung, die hypnotisierende, kann unm\u00f6glich mit der analgesierenden einen gemeinschaftlichen Vorgang haben. Denn es wird sich wohl kaum vorstellbar machen lassen, dafs aus einer nur fl\u00fcchtigen Empfindungsschwankung ein Schlaf sich entwickle, ein Zustand, w\u00e4hrend dessen eine Empfindung \u00fcberhaupt nicht zu st\u00e4nde kommt. N\u00e4her liegt es, die einschl\u00e4fernde Wirkung als eine Autohypnose zu betrachten und ihre Entstehung auf gleiche Weise, wie die einer jeden anderen Hypnose zu erkl\u00e4ren. Die Aufmerksamkeit, d. h. die Energie, mit welcher die Bewufst-seinszellen die Th\u00e4tigkeit der Muskeln zur Einleitung und Unterhaltung einer m\u00f6glichst tiefen Atmung ausl\u00f6sen, bedingt den Zustand einer Isolierung, w\u00e4hrend welcher von einem anderen inneren oder \u00e4ufseren Beize \u00fcberhaupt keine Th\u00e4tigkeit der Gehirnrindenzellen angeregt wird. Allein selbst die Muskelarbeit einer freiwilligen, forcierten Atmung ist einfach genug, um sehr bald auch ohne die Mitwirkung einer bewufsten Th\u00e4tigkeitsvorstellung ganz automatisch durch die blofse Bewegungsvorstellung ausgef\u00fchrt zu werden. Sobald als dieser Moment eingetreten ist, h\u00f6ren unter \u00fcbrigens g\u00fcnstigen Bedingungen auch diejenigen Hirnrindenzellen auf, th\u00e4tig zu sein, welche die Bewegungsvorstellung des Atmens bewufst gemacht haben, und es kann hiermit f\u00fcr die gesamte geistige Th\u00e4tigkeit jener Zustand der Empfindungslosigkeit eintreten, welche den Schlaf charakterisiert. Auf gleiche Weise entsteht auch die k\u00fcnstliche Hypnose. Die ganze Aufmerksamkeit der Versuchsperson wird solange auf eint\u00f6nige Geh\u00f6rs- oder einf\u00f6rmige Gesichtseindr\u00fccke gerichtet, bis die einwirkenden Beize auf h\u00f6ren, eine Empfindung zu erregen, und das Gehirn in eine vollst\u00e4ndige Unth\u00e4tigkeit, in den hypnotischen Zustand verf\u00e4llt. Zwischen einer solchen Hypnose und der, welche durch ein l\u00e4ngeres, anfangs freiwilliges, sp\u00e4ter automatisch fortgesetztes m\u00f6glichst tiefes Atmen herbeigef\u00fchrt wird, kann nur in der Entstehungsweise ein Unterschied entdeckt werden.\nGegen diese Auffassung k\u00f6nnte der nahe liegende Einwand erhoben werden, dafs der Schlaf vielleicht gar nicht durch","page":425},{"file":"p0426.txt","language":"de","ocr_de":"426\nS. Landmann.\ndas freiwillige, m\u00f6glichst tiefe Atmen herbeigef\u00fchrt wird, sondern zuf\u00e4llig von selbst eintritt. Dieser Ein wand wird aber durch anderweitige Beobachtungen widerlegt. Ich bin schon oft nach einem f\u00fcnf- und mehrst\u00fcndigen Schlafe vollst\u00e4ndig ausgeruht erwacht und bem\u00fchte mich, nochmals einzuschlafen. Aber ungeachtet lange fortgesetzter, freiwilliger, m\u00f6glichst tiefer Atmung blieb der Schlaf aus, dagegen stellte sich das Gef\u00fchl der \u00c4rgerlichkeit ein und unmittelbar daran reihte sich ein Gedanke, der unter dem automatisch fortgesetzten, m\u00f6glichst tiefen Atmen seine Assoziationen hervorzurufen begann. Pl\u00f6tzlich wurden in mir Vorstellungen bewufst, deren Entstehung ich mir nicht erkl\u00e4ren konnte, und die sich als Erinnerungen an frische Tr\u00e4ume darstellten. Ich konnte feststellen, dafs die Zeit zwischen der begonnenen Gedankenarbeit und den aufgetauchten Traumerinnerungen aus meinem Bewufstsein gestrichen war und war zu der Schlufsfolgerung gelangt, dafs ich unter dem Einfl\u00fcsse des Atmens trotz der mangelnden Schl\u00e4frigkeit und trotz der begonnenen Denkarbeit, ohne es zu merken, eingeschlafen war. Der zu wiederholten Malen beobachtete Eintritt des Schlafes unter Umst\u00e4nden, welche sonst das Wachsein beg\u00fcnstigen, wird wohl mit ziemlicher Sicherheit als eine Wirkung der in diesen F\u00e4llen fortgesetzten, m\u00f6glichst tiefen Atmung angesehen werden d\u00fcrfen.\nSollten die hier mitgeteilten Beobachtungen anderweitige Best\u00e4tigung finden, so d\u00fcrfte nicht l\u00e4nger bezweifelt werden, dafs zwischen bestimmten psychischen Erscheinungen und dem Atmungsprozesse ein direkter Zusammenhang besteht.\nl","page":426}],"identifier":"lit29588","issued":"1895","language":"de","pages":"423-426","startpages":"423","title":"\u00dcber die Beziehung der Atmung zur psychischen Th\u00e4tigkeit","type":"Journal Article","volume":"8"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:15:41.850564+00:00"}