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{"created":"2022-01-31T14:09:32.634181+00:00","id":"lit29598","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Hillebrand, Fr.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 8: 435-442","fulltext":[{"file":"p0435.txt","language":"de","ocr_de":"Li tteraturbericht.\n435\nletztere darin besteht, dafs der Befallene die Schriftzeichen nicht mehr erkennt.\nDas Wesentliche des Krankheitsbildes ist folgendes: D., 21 J. alt, Drechsler, wird als Soldat bei der Melinitbereitnng besch\u00e4ftigt, was ihm Unwohlsein nnd Erbrechen erregt. Pl\u00f6tzlich stellt sich Schwindel nnd Aphasie ein, beide schnell nnd vor\u00fcbergehend, aber \u00f6fter sich wiederholend. Pat. erh\u00e4lt einen halbj\u00e4hrigen Urlaub, w\u00e4hrend dessen er sich wohl befindet. Wieder in Dienst, leidet D. an heftigem Kopfschmerz und aphasischen Anf\u00e4llen; vermag weder zu lesen, noch zu schreiben, stammelt beim Sprechen, kommt in die CHARCoTSche Klinik, wo man aufser Retinitis duplex, Hemiopie und Diplopie rechterseits infolge von L\u00e4hmung des Nervus abducens, keine weiteren Organst\u00f6rungen, keine Beeintr\u00e4chtigung der Intelligenz findet. Auch Seelenblindheit ist nicht anzunehmen, denn D. nennt unverweilt die Gegenst\u00e4nde, die man ihm zeigt. Nur Wortblindheit und vor allem Agraphie sind vorhanden. Bisweilen zwar liest er zehn Worte hintereinander korrekt, bisweilen stockt er schon beim dritten. Zu schreiben aber \u2014 mit Ausnahme seines und seines Vaters Namen, die gleichlautend sind \u2014 vermag er nicht, weder spontan noch unter Diktat, sogar dann nicht, wenn er ein Wort richtig gelesen hat; bei einzelnen Buchstaben und Zahlen gelingt es ihm eher, ebenso wenn er eine Vorschrift kopieren soll. Die Zahlen addiert und subtrahiert er ganz richtig. \u2014 Schliefslich starb Patient unter heftigsten Kopfschmerzen und Hyper\u00e4sthesie der linken K\u00f6rperh\u00e4lfte, vollst\u00e4ndig erblindet, im Coma ohne Konvulsionen und Bewegungsst\u00f6rungen. Die Sektion ergab ein umfangreiches Gliom der linken Grofshirnhemisph\u00e4re, das kleiner an der Oberfl\u00e4che, den Pli courbe,1 in der Tiefe gr\u00f6fser, den unteren Teil des Lobulus quadratus umfafst und zerst\u00f6rt hat. \u2014 Der Befund erkl\u00e4rt die Wortblindheit und die Hemiopie. \u00dcberdies spricht die Integrit\u00e4t des Fufses der zweiten Stirnwindung \u2014 wohin Exner, Charcot, Marie u. a. m. das selbst\u00e4ndige Schreibzentrum verlegen, \u2014 daf\u00fcr, dafs der Fall zu den F\u00e4llen von sensorieller Agraphie infolge von Wortblindheit geh\u00f6rt.\tFraenkel.\nE. L. Fischer. Theorie der Gesichtswahrnehmung. Untersuchungen zur physiologischen Psychologie und Erkenntnislehre. Mainz, Franz Kirchheim. 1891. XVI und 392 S.\nDie vorliegende Arbeit ist wesentlich erkenntnis-theoretischen Fragen gewidmet; die Gesichtswahrnehmungen spielen dabei keine andere Polle, als dafs an ihnen das exemplifiziert wird, was der Verfasser \u00fcber den Begriff und den Erkenntnis wert der sog. \u00e4ufseren Wahrnehmung \u00fcberhaupt zu sagen hat. Scheint mir so der Titel nicht recht dem Inhalte zu entsprechen,2 so mufs ich es andererseits f\u00fcr bedenklich halten, wenn\n1\tLobulus parietalis inferior. Pansch.\n2\tDem Verfasser ist diese Diskrepanz selbst aufgefallen. In der Vorrede bemerkt er (pag. X), es h\u00e4tte dem Inhalte besser entsprochen, wenn er den Titel \u201eZur Theorie der Sinneswahrnehmung, speziell der Gesichts-perception11 gew\u00e4hlt h\u00e4tte.\n28*","page":435},{"file":"p0436.txt","language":"de","ocr_de":"436\nLitteraturbericht.\nsich jemand in Er\u00f6rterungen \u00fcber die physikalische und physiologische Seite des optischen Wahrnehmungsvorganges ergeht, dem dieses Gebiet schon in seinen elementarsten Teilen so vollst\u00e4ndig fremd ist, wie unserem Autor (ich werde sp\u00e4ter hinreichende Belege daf\u00fcr bringen). Die seit drei Jahrzehnten mit immer regerem Eifer betriebene psychophysische Forschung hat der Psychologie wichtige Gebiete erschlossen, daneben aber leider auch eine Art naturwissenschaftlicher Mode erzeugt; es wird schon gar nicht mehr gefragt, ob denn f\u00fcr eine Untersuchung auch das sachliche Bed\u00fcrfnis nach Beibringung physikalischen und physiologischen Materiales vorliegt oder nicht; und \u2014 was das Schlimmste ist \u2014 gerade diejenigen schwelgen mit dem gr\u00f6fsten Behagen in naturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen, die der systematischen und schulm\u00e4fsigen Besch\u00e4ftigung mit diesem Gebiete (und diese allein kann f\u00fcr den Psychologen erspriefslich sein) am allerfernsten stehen.\nWas die vorliegende Arbeit anlangt, so liegen ihre M\u00e4ngel nur zum geringeren Teile in dem vorerw\u00e4hnten Umstande; ihr Wert wird in weit h\u00f6herem Mafse durch die mangelhafte, insbesondere bedenklichen \u00c4qui-vokationen unterworfene, psychologische Analyse beeintr\u00e4chtigt.\nDer Verfasser stellt sich zur Aufgabe, das Verh\u00e4ltnis der Erkenntnis zu ihrem Objekte zu untersuchen,, insoweit dies die sinnlichen Wahrnehmungen betrifft.\nVor allem also die Frage : Haben wir den sinnlichen Qualit\u00e4ten obj ektive Bealit\u00e4t zuzuschreiben oder nicht ? Am allernachdr\u00fccklichsten wendet sich hier der Verfasser gegen den \u201eSubjektivismus der neueren Physiologie\u201c, demzufolge die Qualit\u00e4ten nur Produkte unserer Sinnesorgane infolge \u00e4ufserer Beize sind. Man sollte es kaum glauben, dafs sich heutzutage ein philosophischer Schriftsteller findet, der diesen Satz noch bezweifelt.1 Unser Autor thut dies in der That. Der klaren Argumentation Helmholtz\u2019, dafs ein unver\u00e4ndertes Erfassen der realen Aufsenobjekte voraussetzen w\u00fcrde, dafs eine Wirkung unabh\u00e4ngig von demjenigen sei, auf welches gewirkt wird (hier also die Natur unserer Sinnesorgane) setzt Fischer entgegen, es sei dadurch nicht bewiesen, dafs unsere Empfindungsinhalte nicht doch wenigstens Abbilder der \u00e4ufseren Gegenst\u00e4nde seien; Helmholtz habe, indem er die Empfindungen lediglich als Zeichen, Symbole, nicht aber als Bilder der \u00e4ufseren Objekte gelten lassen will, einen Sprung im Beweise gemacht; eine Marmor statue sei ihrer Natur nach gewifs etwas anderes, als ein Mensch, und doch k\u00f6nne zwischen beiden das Verh\u00e4ltnis der \u00c4hnlichkeit bestehen.\nEs ist unglaublich, mit wie wenig Logik unser Autor hier vorgeht. Vorerst: Darf ich das Bestehen einer \u00c4hnlichkeit darum annehmen, weil ich keinen Grund habe, Un\u00e4hnlichkeit zu statuieren? Sind zwei Dinge deshalb \u00e4hnlich, weil sie \u00e4hnlich sein k\u00f6nnen? Wenn es einmal sicher ist, dafs eine Wirkung auch von der Natur desjenigen abh\u00e4ngt, welches die Wirkung empf\u00e4ngt (dies giebt ja auch der Verfasser zu), so haben wir vorerst kein Becht, eine \u00c4hnlichkeit von Ursache und\n1 Es m\u00fcfste denn ein Ph\u00e6nomenalist BERKELEvschen Schlages sein, was bei unserem Autor keineswegs zutrifft.","page":436},{"file":"p0437.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n437\n_ \u2022 \u2666\nWirkung zu statuieren; 1 da aber der Fall der \u00c4hnlichkeit nur einer ist neben unz\u00e4hlig vielen F\u00e4llen der Un\u00e4hnlichkeit, so hat schon von diesem Standpunkte aus derjenige recht, welcher die \u00c4hnlichkeit nicht behauptet, also von Zeichen spricht und nicht von Bildern. Denn das wird doch wohl selbst Fischer nicht glauben, dafs wir (wie beim Beispiel von der Statue) in der Lage sind, die Empfindungsinhalte mit den wahren Aufsendingen zu vergleichen. \u2014 Helmholtz weist, um die Sache recht ad oculos zu demonstrieren, auf den Fall der partiellen Farbenblindheit hin. Der Zinnober erscheint uns Farbent\u00fcchtigen rot, den Rotblinden schwarz \u2014 zeigt das nicht die Subjektivit\u00e4t der Farbenqualit\u00e4t? Nun erreicht aber die logische Konfusion bei Fischer ihren H\u00f6hepunkt: wenn die Farbenqualit\u00e4t, meint er, nur eine Reaktion unseres Organes ist, mufs dann nicht dasselbe auch von der Wellenl\u00e4nge gesagt werden? Dann w\u00e4re also, so \u201eschliefst\u201c er weiter, auch die Wellenl\u00e4nge blofs eine \u201esubjektive Vorstellung\u201c! Ich glaube, mich der M\u00fche einer Widerlegung entziehen zu d\u00fcrfen. Wer nicht zu unterscheiden vermag zwischen dem, was uns in der Empfindung unmittelbar gegeben ist (wie die Farbe) und dem, was wir (blofs nach Analogie gewisser Sinnesdaten) in der Aufsenwelt hypothetisch annehmen, der sollte \u00fcber derlei Dinge \u00fcberhaupt nicht reden.\nWas aber unseren Autor am meisten an jener weit verbreiteten Lehre von dem blofs ph\u00e4nomenalen Charakter der sinnlichen Qualit\u00e4ten irre macht, das ist das \u201eNach-aufsen-Setzen\u201c gewisser Qualit\u00e4ten, wie gerade derjenigen des Gesichtssinnes. Es will ihm durchaus nicht einleuchten, wie eine sinnliche Qualit\u00e4t, wenn sie wirklich nur eine physiologische Funktion eines nerv\u00f6sen Apparates ist, doch den Charakter von etwas aufser uns Befindlichem annehmen soll. So kommt er denn dazu, die sinnlichen Qualit\u00e4ten gar nicht zu den Empfindungen zu rechnen; was wahrhaft eine Empfindung sei, werde nie nach aufsen verlegt, niemand versetze eine Muskelspannung in den Gegenstand, der sie veranlafst hat. Diese Erw\u00e4gung f\u00fchrt den Verfasser zu einer gr\u00fcndlichen Umgestaltung des Empfindungsbegriffes. Nach ihm ist n\u00e4mlich unter Empfindung zu verstehen das \u201eunmittelbare, durch Reizung eines sensiblen Nerven hervorgerufene Bewufstwerden eines gegenw\u00e4rtigen inneren Zustandes, beziehungsweise einer gegenw\u00e4rtigen inneren Zustands\u00e4nderung des eigenen beseelten Organismus\u201c. Die \u201enach aufsen projizierten\u201c Qualit\u00e4ten, wie z. B. die des Gesichtssinnes, sind ihm keine \u201eEmpfindungen\u201c, sondern \u201eWahrnehmungen\u201c.2 Nun ist man nat\u00fcrlich gespannt?\n1\tBeil\u00e4ufig gesagt, h\u00e4tten wir es auch dann nicht, wenn es auf die Natur des Empf\u00e4ngers der Wirkung gar nicht ank\u00e4me. Nichts beweist, dafs das Geschaffene dem Schaffenden \u00e4hnlich sein mufs.\n2\tDaf\u00fcr ruft er auch den Sprachgebrauch als Beweismittel an. Man sagt wohl, \u201eich empfinde W\u00e4rme\u201c, nicht aber \u201eich empfinde eine weifse oder gelbe Farbe\u201c, und noch weniger \u201eich empfinde dort dr\u00fcben einen Wald\u201c u. dergl. Das mag sein. Mit welchem Rechte jedoch der Verfasser die dem Sprachgebrauche zu Grunde liegenden Klassifikationen f\u00fcr so unanfechtbar ansieht, dafs selbst die wissenschaftliche Analyse sich nicht unterfangen darf, die bestehenden Schranken zu durchbrechen und neue aufzurichten, ist durchaus nicht ersichtlich. Wenn aber Fischer meint,","page":437},{"file":"p0438.txt","language":"de","ocr_de":"438\nI\u00c2tteraturbericht,\nzu h\u00f6ren, was denn der Inhalt solcher Empfindungen, also z. B. der Gesichtsempfindungen, sei, da doch die Qualit\u00e4ten Bot, Gr\u00fcn etc. es nicht sein k\u00f6nnen, weil sie nicht in unser Sehorgan, sondern nach aufsen lokalisiert werden. Da erfahren wir denn, dafs der \u00e4ufsere Beiz in unseren perzipierenden Organen physische und zugleich un-h ewufst-psychische Modifikationen erzeuge, und dafs diese letzteren unbewufsten Sensationen den eigentlichen Gegenstand der Empfindung bilden.1 \"Wenn wir, um mich eines vom Verfasser gebrauchten Beispieles zu bedienen, unsere Haut sich ausdehnen und zusammenziehen sehen (an was f\u00fcr eine Erscheinung der Verfasser dabei denkt, ist mir allerdings nicht klar), so ist das, was unser Auge vermittelt, keine Empfindung, sondern eine Wahrnehmung; eine Empfindung w\u00e4re erst gegeben, wenn diese Zusammenziehung, bezw. Ausdehnung, auf Hautnerven wirkend, taktile Qualit\u00e4ten ausl\u00f6sen w\u00fcrde. Die optisch wahrgenommene Ausdehnung oder Zusammenziehung ist selbst keine Empfindung: \u201edenn (!!) die Empfindungen, die wir bei diesen physiologischen Funktionen haben, sind etwas anderes, als was wir dabei mit den Augen beobachten\" (eine merkw\u00fcrdige \u201eBegr\u00fcndung\u201c, wie man zugeben wird).\nAber nicht nur dem unmittelbar auf den Beiz folgenden physiologischen Vorg\u00e4nge soll ein psychischer parallel gehen (der aber unbewufst ist), auch der physiologischen Weiterleitung dieses Vorganges bis zum Zentral organ geht eine psychische Weiterleitung parallel, von der wir nat\u00fcrlich auch wieder nichts wissen.\n(Wie ich hier nur einschaltungsweise bemerken will, glaubt unser Autor, indem er das dem zentralen Prozefs entsprechende psychische Glied ebenfalls durch psychische Antezedentien (jene unbewufsten psychischen Leitungsglieder) verursacht denkt, der Schwierigkeit einer Erkl\u00e4rung psychischer Vorg\u00e4nge aus physischen zu entkommen. Er\nman sage, \u201eich nehme dort einen Wald wahr\u201c und nicht \u201eich empfinde ihn\", so ist zu bedenken, dafs dieses \u201eich nehme ihn wahr\u201c so viel heifst, wie \u201eich empfinde ihn und halte das der Empfindung Entsprechende f\u00fcr existierend\". Es ist also in dem Wahrnehmen das Empfinden als Teil eingeschlossen: und damit fallen alle weiteren vom Verf. gezogenen Konsequenzen. Zu wie ungerechtfertigten Vorw\u00fcrfen aber das einseitige Festhalten an einem zuf\u00e4lligen Sprachgebrauch f\u00fchren kann, das zeigt der Verfasser auch mit seiner Opposition gegen die Ansicht Humes und Mills, dafs in der Wahrnehmung ein Glauben (belief) enthalten sei. Fischer wendet ein: das, was ich mit eigenen Augen sehe, brauche ich nicht zu glauben, das weifs ich. Hume und Mell sind nie \u00e4rger mifsverstanden worden. Sie wollen sagen: zur Wahrnehmung geh\u00f6rt ein Urteil; und indem sie meinen, das Urteilen sei psychologisch nicht zu analysieren, sondern sei etwas Letztes, Irreducibles, finden sie f\u00fcr diesen primitiven Akt kein besseres Wort vor, als \u201ebelief\u201c (Glauben). In die Gattung dieses \u201ebelief\u201c geh\u00f6rt das Wissen gerade so gut, wie das Glauben im engeren Sinne. H\u00e4tte der Verfasser Mill geh\u00f6rig studiert, so h\u00e4tte er erkennen m\u00fcssen, dafs seine Entgegenstellung von Wissen und Glauben in diesem Zusammenh\u00e4nge sinnlos ist.\n1 Daneben giebt es wohl auch F\u00e4lle, wo diese Sensation bewufst ist, wie bei der \u201eSpannung eines Muskels\u201c und \u00fcberhaupt (wenn ich den Autor richtig verstehe) \u00fcberall dort, wo eine Qualit\u00e4t in den Angriffspunkt des Beizes lokalisiert wird, was bekanntlich heim Gesichtssinn nicht der Fall ist.","page":438},{"file":"p0439.txt","language":"de","ocr_de":"Iditeraturbericht\n439\nweifs nicht, dafs er die Schwierigkeit blofs verschoben hat. Denn wenn der \u00e4ufsere Reiz, wie er meint, in dem perzipierenden Organe eine physische und zugleich eine psychische Modifikation hervorbringt, so mufs entweder die psychische durch die physische, oder es m\u00fcssen beide zugleich durch den \u00e4ufseren Reiz (der doch auch ein physischer Vorgang ist) hervorgerufen worden sein. Die Schwierigkeit besteht also nach wie vor. Doch das nur nebenbei.)\nDer Zusammenhang dieser abenteuerlichen Empfindungslehre1 mit dem erkenntnis-theoretischen Standpunkt des Verfassers ist, wenn \u00fcberhaupt, dann nur in folgender Weise zu begreifen: unsere Wahrnehmungen (wie z. B. die Sehobjekte) k\u00f6nnen nicht subjektiv sein, weil\u2019sie aufserhalb unseres K\u00f6rpers lokalisiert werden; von den Empfindungen ist nicht zu leugnen, dafs sie in uns entstehen, Funktionen irgend eines Teiles unseres Nervensystems sind; also d\u00fcrfen wir solche nach aufsen lokalisierte Qualit\u00e4ten nicht als Empfindungen bezeichnen. Wenn nun dem Gesichtssinn denn doch Empfindungen zugeschrieben werden m\u00fcssen, wir aber von Eichtempfindungen, die in unserem Auge lokalisiert sind, schlechterdings nichts wissen, so m\u00fcssen eben unbewufste Sensationen als Funktionen des perzipierenden Endorganes angenommen werden.\nDer Grundirrtum (allerdings heutzutage ein fast unverantwortlicher Irrtum) liegt in der Verwechselung des ph\u00e4nomenalen Ortes eines Wahrnehmungsinhaltes mit dem Ort des physiologischen Erzeugers dieser Wahrnehmung und in der weiteren Verwechselung des ph\u00e4nomenalen Ortes mit dem wirklichen Orte des \u00e4ufseren Erregers, z. B. der Lichtquelle (\u201eSehraum\u201c und \u201ewirklicher Raum\u201c nach Hering). (Ich m\u00f6chte damit nicht sagen, dafs nicht auch andere Verwechselungen in reicher Zahl unterlaufen.) Wer ein Sehzentrum annimmt, sagt doch nicht, dafs die Sehobjekte daselbst lokalisiert sein m\u00fcssen. Jeder Physiologe weifs, dafs, wenn er von der \u201eLokalisation einer Empfindung im Gehirn\u201c spricht, er damit nichts \u00fcber die Lokalisation des Empfindungsobjektes gesagt hat. Die \u00c4quivokation, die in dem Ausdruck \u201eLokalisation einer Empfindung\u201c gelegen ist, gilt als g\u00e4nzlich ungef\u00e4hrlich, unser Autor ist ihr freilich erlegen. Es nimmt sich zu l\u00e4cherlich aus, wenn Verfasser die Physiologen darauf aufmerksam macht, dafs ein hell loderndes Feuer, welches wir eben wahrnehmen, doch nicht in unserem Gehirn lodere und unseren Sch\u00e4del innen hell beleuchte, und wenn er damit etwas gegen den physiologischen Subjektivismus bewiesen haben will.\nWie Verfasser hier und sonst noch zu wiederholten Malen Ort der Ursache einer Empfindung und (ph\u00e4nomenalen) Ort des Empfindungsinhaltes verwechselt, so verwechselt er ebenso oft Empfindung und Ursache derselben \u00fcberhaupt. Was soll man dazu sagen, wenn er, um zu beweisen, dafs wir mit den Augen Dinge, die von uns unabh\u00e4ngig sind, wahrnehmen, sich so \u00e4ussert: \u201eDenn wenn ihnen nicht selbst\u00e4ndige\n1 Das ist wohl der mildeste Ausdruck f\u00fcr eine Lehre, der zufolge es \u00e4ufsere Wahrnehmungen ohne Empfindungen geben mufs.","page":439},{"file":"p0440.txt","language":"de","ocr_de":"440\nLitteraturbericht\nExistenz zuk\u00e4me, wie k\u00f6nnten sie dann auf unsere Augen und die \u00fcbrigen Sinne ein wirken? Das w\u00e4re offenbar unm\u00f6glich\u201c. Merkt er denn die Aqui-vokation nicht? Das Wort \u201eihnen\u201c bezieht sich auf die Sehdinge, auf die Wahrnehmungsinhalte, das \u201esie\u201c auf die \u00e4ufseren Ursachen! \u00c4hnlich, wenn er auseinandersetzt, in der Wahrnehmung k\u00e4men uns die Objekte nicht durch das Medium ideeller Bilder, sondern im strengsten Sinne selbst zum Bewufstsein, und dann fortf\u00e4hrt: \u201eDarum (!) ist auch die Gegenwart der Objekte behufs ihrer (!!) Wahrnehmung notwendig.\u201c Dieselbe \u00c4quivokation.\nVerfasser kennt den Unterschied zwischen Akt und Inhalt, aber er macht von dieser Kenntnis einen sehr bescheidenen Gebrauch. Allen Ernstes giebt er denjenigen, welche die Qualit\u00e4ten Rot, Gr\u00fcn, Sauer etc. als Bewufstseinszust\u00e4nde ansehen, zu bedenken, dafs sie dann ein rotes, gr\u00fcnes, saures etc. Bewufstsein annehmen m\u00fcfsten ! ! !\nUnd allen diesen \u00c4quivokationen zuliebe sollen wir uns die w\u00fcstesten psychologischen Hypothesen gefallen lassen! Eine Wahrnehmung, in der keine Empfindung enthalten, sondern die nur von einer solchen bedingt ist, alle m\u00f6glichen unbewufsten psychischen Prozesse, dann eine famose Art von Projektion der Netzhautbilder, eine Empfindung des Sehens (Sehen im Sinne des physiologischen Aktes genommen), die wir von der Empfindung des H\u00f6rens unterscheiden, aber nicht etwa durch die verschiedenen Objekte, Farbe und Ton, da diese ja nicht der Empfindung, sondern der Wahrnehmung angeh\u00f6ren, und die letztere andere Objekte hat, als die erstere. Und wenn wir all das gl\u00fccklich verschluckt haben, dann wird uns die Weisheit des kritischen Realismus zu teil, unter anderem in Form von folgendem \u201eHauptsatz\u201c : \u201eWir sehen unter normalen Verh\u00e4ltnissen die Gegenst\u00e4nde in der Farbe, Gr\u00f6fse und Gestalt, wie sie sich uns in ihren von uns empfundenen und unwillk\u00fcrlich nach aufsen projizierten Netzhautbildern darstellen.\u201c (Beil\u00e4ufig gesagt, m\u00f6chte ich wissen, in welcher \u201eFarbe\u201c sich ein \u201eNetzhautbild\u201c darstellt, wenn dasselbe nicht selbst gesehen wird, sondern erst eine Bedingung des Wahrnehmungsbildes ist.)\nZum Schl\u00fcsse noch einige Proben der obligaten \u201enaturwissenschaftlichen\u201c Staffage, die dem \u201ekritischen Realismus\u201c beigegeben wird.\nVon symptomatischer Bedeutung f\u00fcr einen Autor, der ganze Kapitel dem \u201ephysikalisch-chemischen\u201c und dem \u201ephysiologisch-sensorischen\u201c Prozesse des Sehaktes widmet, halte ich es, wenn derselbe nicht weifs, was man unter Brennpunkt versteht. Verfasser setzt uns auseinander, dafs bei entspannter Akkommodation eines emmetropischen Auges die von unendlicher Ferne kommenden Strahlen sich auf der Netzhaut vereinigen; wenn aber bei gleichem Akkommodationszustand die Lichtquelle dem Auge n\u00e4her r\u00fcckt, dann vereinigen sich die Strahlen nicht auf der Netzhaut, \u201eda jetzt ihr Brennpunkt eigentlich hinter dasselbe (sc. das Netzhautzentrum) f\u00e4llt.\u201c (S. 281.) Er meint also, Bildpunkt und Brennpunkt sei dasselbe.\nMit der Dioptrik geht es unserem Autor \u00fcberhaupt schlecht. Die von der Sonne ausgehenden Strahlen sollen sich bei entsprechender Akkommodation auf einem einzigen Punkte der Netzhaut vereinigen.","page":440},{"file":"p0441.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n441\n(S. 245.) Ist es dem Verfasser nie aufgefallen, dafs die Sonne gr\u00f6fser aussieht, als irgend ein anderer Fixstern ?\nEine wunderliche Idee ist es auch, dafs die Entstehung des Retina-bildes durch einen in der Netzhaut ausgel\u00f6sten physikalisch-chemischen Prozefs \u201ebedingt\u201c sein soll. (S. 271.)\nS. 253 teilt der Verfasser mit, dafs die Lichtwellen nicht direkt die Opticusfasern erregen, sondern nur indirekt durch chemische Ver\u00e4nderungen, welche sie in der St\u00e4bchen- und Zapfenschicht hervorbringen, und dafs die dadurch ausgel\u00f6sten chemischen Kr\u00e4fte eine weit gr\u00f6fsere Arbeit zu leisten im st\u00e4nde seien, als die Lichtwellen selbst. Unmittelbar darauf folgt der klassische Satz: \u201eDaher kommt es denn auch, dafs wir selbst bei \u00e4ufserst schwacher Beleuchtung noch Objekte zu sehen verm\u00f6gen.\u201c Das geht nun schon \u00fcber die Grenzen des Erlaubten! 1 * * *\nS. Bll wird erw\u00e4hnt, dafs die Farben bei Steigerung der objektiven Intensit\u00e4t ihren Ton \u00e4ndern, und daran der gute Rat geschlossen, man solle die Beleuchtung weder zu grell, noch zu schwach w\u00e4hlen, wenn man die Farbent\u00f6ne \u201erein\u201c perzipieren will. Soll das heifsen, \u201ewenn man sie so perzipieren will, wie sie an sich sind?\u201c Das d\u00fcrfte ein St\u00fcck \u201eRealismus\u201c sein, aber \u201ekritisch\u201c kann ich ihn nicht finden.\nZum Beweise daf\u00fcr, dafs auch S\u00e4uglinge schon die Sehobjekte aufserhalb des K\u00f6rpers lokalisieren und nicht am Ende auf ihre Netzhaut, wird \u2014 incredibile dictu \u2014 die Beobachtung angef\u00fchrt, das S\u00e4uglinge schon in den ersten Tagen nach ihrer Geburt ein in ungef\u00e4hr S/A m Entfernung vor sie hingehaltenes Licht \u201emit weitge\u00f6fiheten Augen anstarrten\u201c. Der Himmel mag wissen, wie diese Beobachtung mit der Lokalisation des Sehobjektes nach auf sen Zusammenh\u00e4ngen soll !\nWas soll man ferner zu folgender Bl\u00fcte sagen : \u201eDa nun der Leib seine h\u00f6chste Entwickelung im zentralen Nervensystem findet, \u00fcbt auch die Seele daselbst, wie die Erfahrung lehrt, ihre h\u00f6chsten Funktionen aus.\u201c Welche Erfahrung lehrt das? Und wo finden die weniger hohen Funktionen der Seele statt? Und die \u201eh\u00f6chste Entwickelung\u201c, welche der Leib im Nervensystem findet ! Macht das den Anspruch, mehr als blofses Gerede zu sein? Doch genug! Wenn es mir auf die Erheiterung der Leser ank\u00e4me, k\u00f6nnte ich noch manches mitteilen aus dem Schatze von Fischers naturwissenschaftlichen Kenntnissen, wie z. B., dafs zu den Vorg\u00e4ngen, von welchen uns die Empfindung Kunde giebt, auch das \u201eZucken eines Nerven\u201c geh\u00f6rt (ich m\u00f6chte doch wahrhaft einmal einen Nerven \u201ezucken\u201c sehen), dafs das \u201ead\u00e4quate Medium\u201c f\u00fcr die Wahrnehmung von Farben und Ger\u00fcchen die atmosph\u00e4rische Luft\n1 Unmittelbar daran schliefst sich der Satz: \u201eAn sich ist das Licht,\ndas in solchen Grenzf\u00e4llen der Wahrnehmung von den betreffenden\nGegenst\u00e4nden ins Auge dringt, so gering, dafs seine kinetische Energie\nsicherlich nicht ausreicht, die ziemlich tr\u00e4ge Nervenmasse des Opticus zu erregen.\u201c Was doch der Verfasser alles weifs! Kein Fachmann w\u00fcrde es unternehmen, etwas \u00fcber die gr\u00f6fsere oder geringere \u201eTr\u00e4gheit\u201c\nder Opticusfasern im Vergleich zu den St\u00e4bchen oder Zapfen auszusagen. Aber der Laie und Amateur hat seit jeher mehr gewufst als der Forscher.","page":441},{"file":"p0442.txt","language":"de","ocr_de":"442\nLitteraturbericht.\nist1 u. dergl. m. Aber die gebotene Anslese d\u00fcrfte hinreichen, zn beweisen, dafs man auch, um \u00fcber naturwissenschaftliche Dinge reden zu k\u00f6nnen, etwas gelernt haben mufs.\tFr. Hillebrand (Wien).\nvan Fleet, F. Astigmatism and the Ophthalmometer. Arch, of Ophth. Vol.XXHI. 1. (1894.)\nvan Fleet hat 100 Patienten der Reihe nach ohne Auswahl genau mit dem jAVALSchen Ophthalmometer gemessen. Nur f\u00fcnf Patienten hatten keinen Astigmatismus. Von den \u00fcbrigen 190 Augen hatten 177 regel-m\u00e4fsigen, 13 unregelm\u00e4fsigen Astigmatismus. Bei genauer Pr\u00fcfung mit Zylindergl\u00e4sern ergab sich, dafs von den 177 mit regelm\u00e4fsigem Astigmatismus behafteten Augen bei 158 sich der mit dem Ophthalmometer gefundene Astigmatismus bis auf eine Dioptrie zylindrisch korrigieren liefs. Nur 19 nahmen schw\u00e4chere Zylindergl\u00e4ser an. Ein so g\u00fcnstiges Verh\u00e4ltnis hat man meist sonst nicht gefunden. Verfasser ist der Ansicht, dafs dies vielfach daran liegt, dafs das Instrument falsch ge-handhabt wird, verbogen oder fehlerhaft gebaut ist, wie er Gelegenheit hatte, mehrfach festzustellen.\tB. Greeff (Berlin).\nElia Baquis e Cesare Bardtjel. Su alcuni interessanti fenomeni oculari subjettivi verificati in un soggetto neurastenico. Riv. di fren. XX, 1,\nS. 23\u201454. (1894.)\nDie interessanten Gesichtserscheinungen, um die es sich bei einem neurasthenischen Studenten seit ca. zwei Jahren handelt, dessen Augen, mit Ausnahme von etwas Akkommodationskrampf, wie seine \u00fcbrigen Sinnesorgane objektiv nichts Krankhaftes zeigen, \u2014 sind folgende:\n1.\tIntraokul\u00e4re Bilder, graue Flecken, die im gegenw\u00e4rtigen Falle auf dem Sichtbarwerden von embryonalen Elementen im Hintergr\u00fcnde des Glask\u00f6rpers beruhen und eine nicht ungew\u00f6hnliche Erscheinung bei Neurasthenischen sind. (Mouches volantes.)\n2.\tLeuchtende Strahlen (sprazzi), bei anderen Neurasthenischen von den Verff. nicht beohachtet. Pat. erblickt dieselben beim Sehen in eine schwache und ziemlich nahe Lichtquelle und zwar dadurch, dafs die grauen Flecken pl\u00f6tzlich selbstleuchtend werden. Verff. erkl\u00e4ren dies damit, dafs die zylindrischen Elemente in der grofsen N\u00e4he der Netzhaut als kleine Linsen wirken, was auf dem entfernteren Linsenk\u00f6rper nicht geschehen w\u00fcrde.\n3.\tFarhenerscheinungen. Pat. sieht farbige H\u00f6fe rings um das Lampenlicht, den \u00e4ufseren Kreis rot, den inneren, nahe der Flamme, dunkel, \u2014 ganz so, wie man es an gefrorenen, von innen erleuchteten Fensterscheiben sehen kann, infolge verdichteter Wasserdampftr\u00f6pfchen an der inneren Fl\u00e4che. Bei dem Pat. reicht der dunkle Bing nicht ganz bis zur Flamme, infolge des durch Akkommodationskrampf entstehenden zweiten Spektrums. Ein gesundes Individuum nimmt das nicht wahr,\n1 Glaubt der Verfasser, dass die Atmosph\u00e4re bis zu den Fixsternen reicht? Weifs er nichts von Fortpflanzung des Lichtes im Vacuum? Dergleichen geh\u00f6rt doch zu den elementaren physikalischen Kenntnissen.","page":442}],"identifier":"lit29598","issued":"1895","language":"de","pages":"435-442","startpages":"435","title":"E. L. Fischer: Theorie der Gesichtswahrnehmung. Untersuchungen zur physiologischen Psychologie und Erkenntnislehre. Mainz, Franz Kirchheim. 1891. XVI und 392 S.","type":"Journal Article","volume":"8"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:09:32.634186+00:00"}