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{"created":"2022-01-31T14:27:46.087902+00:00","id":"lit29624","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Pelman","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 8: 477-480","fulltext":[{"file":"p0477.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n477\nDr. William Hirsch. Genie und Entartung. Eine psychologische Studie mit einem Vorwort von Prof. Dr. E. Mendel. Berlin und Leipzig, Verlag von Oscar Ooblentz. 1894.\t340 S.\nMendel weist in seinem Vorworte darauf hin. wie es sich der Verfasser zur Aufgabe gestellt habe, gewissen in der modernen Litteratur zu Tage tretenden Auffassungen \u00fcber psychische Zust\u00e4nde, welche den psychiatrischen Erfahrungen widersprechen, entgegenzutreten und sie auf das richtige Mafs zu beschr\u00e4nken.\nWir k\u00f6nnen der Empfehlung Mendels unsererseits die Best\u00e4tigung hinzuf\u00fcgen, dafs der Verfasser dieser Aufgabe durchaus gerecht geworden ist, und dafs wir der Art und Weise, in der er dies gethan, so wie seinen klaren und scharf logischen Ausf\u00fchrungen gerne unseren Beifall zollen.\nHirsch geht aus von der Entwickelung unserer Kenntnisse \u00fcber die psychischen Krankheiten, und er betont, wie die Irrenheilkunde heute in Bezug auf Korrektheit den \u00fcbrigen Disziplinen der klinischen Medizin ebenb\u00fcrtig zur Seite gestellt werden k\u00f6nne. Dafs daneben manche Dichtungen der modernen Psychiatrie auf irrt\u00fcmlichen Anschauungen beruhen, k\u00f6nne nicht als eine Einschr\u00e4nkung jener Behauptung gelten, und gerade deshalb habe er es unternommen, zur Aufkl\u00e4rung derartiger Irrt\u00fcmer einiges beizutragen und speziell das Verh\u00e4ltnis von Genie und Entartung einer n\u00e4heren Untersuchung zu unterziehen, da sich gerade hier jene Mifsverst\u00e4ndnisse besonders geltend gemacht haben. Zu diesem Behufe kam es besonders darauf an, f\u00fcr die verschiedenen Begriffe zu festen Grundlagen zu gelangen, was an sich zwar eigentlich selbstverst\u00e4ndlich, in Wirklichkeit aber meistens nicht \u00fcberall zur Ausf\u00fchrung gekommen ist.\nMufs doch bei der Beurteilung geistiger Gesundheitszust\u00e4nde oft diese oder jene ungew\u00f6hnliche und scheinbar absurde Handlung herhalten, um den Th\u00e4ter f\u00fcr geisteskrank zu erkl\u00e4ren, w\u00e4hrend man es \u00fcbersieht und unterl\u00e4fst, sich ein klares Bild von den gesamten psychischen Vorg\u00e4ngen zu machen, auf Grund dessen man allein zu einem mafs-gebenden und oft ganz anderen Urteile gelangen wird. Bekanntlich haben wir es noch nicht zu einer Definition f\u00fcr den Begriff des Irrsinnes gebracht und kein Grenzstein trennt die geistige Gesundheit von der Krankheit.\n\u00c4hnlich erging es bei der Definition des Begriffes Genie, indem man das Wort an die Stelle der Erscheinung setzte. Was ist nicht schon alles dar\u00fcber geschrieben worden und wie weit ist man auch heute noch davon entfernt, einen f\u00fcr die Wissenschaft verwendbaren Begriff zu besitzen.\nBesonders anschaulich wird diese Schwierigkeit, sowie man sie in das Licht eines bestimmten Beispieles r\u00fcckt.\nG\u00f6the, Schiller wird doch wohl jeder f\u00fcr Genies halten, und doch wie schwer, wie geradezu unm\u00f6glich ist es, f\u00fcr beide dieselbe Gleichung zu finden, und der Versuch, den Begriff des Genies auf gleiche oder analoge psychische Eigenschaften zur\u00fcckzuf\u00fchren, mufs als ein mifslungener aufgegeben werden. Ganz \u00e4hnlich ergeht es mit Mozart und Beethoven, wenn auch bei allen, die einen Anspruch auf Genie erheben, die sch\u00f6pferische Phantasie den gemeinsamen unentbehrlichen","page":477},{"file":"p0478.txt","language":"de","ocr_de":"478\nLitteraturbericht.\nFaktor bildet, ohne den weder ein genialer Dichter noch ein genialer Komponist gedacht werden kann.\nAber schon bei den genialen Gelehrten w\u00fcrde diese Begriffsbestimmung nicht mehr passen, und die reiche Phantasie, die den Dichter macht, w\u00fcrde sich dem Naturforscher eher als nachteilig erweisen, und wir sehen uns gen\u00f6tigt, den Genies auf ihren verschiedenen Gebieten die verschiedenartigsten psychologischen Bedingungen zu Grunde zu legen, so dafs wir mit dem Worte Genie einen bestimmten psychologischen Begriff \u00fcberhaupt nicht verbinden, eine pr\u00e4gnante Definition daf\u00fcr nicht geben k\u00f6nnen.\nWenn es daher nicht ganz unbedenklich ist, zwei unbestimmte Gr\u00f6fsen \u2014 Genie und Irrsein \u2014 miteinander vergleichen zu wollen, so kann man den Versuch mit einiger Vorsicht doch unternehmen, und Hirsch unterzieht die bisherigen Arbeiten der B-eihe nach einer Untersuchung. Zun\u00e4chst ist das ganze Material ein h\u00f6chst zweifelhaftes, und dies \u00fcbersehen oder zum mindesten nicht scharf genug in Erw\u00e4gung gezogen zu haben, mufs auch Lombroso gegen\u00fcber betont werden. Wenn aber auch manches Genie einer eingehenderen Kritik keinen Stand h\u00e4lt, so bleibt doch genug \u00fcbrig, um keinen Zweifel an der Thatsache zu lassen, dafs grofse M\u00e4nner an Sinnest\u00e4uschungen gelitten haben.\nWaren sie deshalb geisteskrank, und gen\u00fcgt die Thatsache einer Sinnest\u00e4uschung an sich, um den Halluzinierenden kurzer Hand f\u00fcr irrsinnig zu erkl\u00e4ren? Hirsch weist die Entscheidung der Frage von theoretischen Erw\u00e4gungen aus zur\u00fcck, und er will sie lediglich als eine Sache der Erfahrung auffassen. Lehrt uns die Erfahrung, dafs Halluzinationen nur bei Geisteskranken Vorkommen, so h\u00e4tten wir recht, wenn wir das Auftreten von Sinnest\u00e4uschungen als Symptom einer Krankheit auffafsten. Da dies jedoch nicht der Fall ist, so wird man das Vorkommen von Halluzinationen an sich f\u00fcr die Geistesst\u00f6rung eines Genies nicht verwerten k\u00f6nnen. Auch bei manchen anderen Symptomen hat man sich durch eine rein \u00e4ufserliehe \u00c4hnlichkeit zu voreiligen Schl\u00fcssen verleiten lassen, ohne zu bedenken, dafs eine \u00c4hnlichkeit noch lange keine Verwandtschaft bedingt. Es gilt dies vornehmlich f\u00fcr die Versunkenheit, Zerstreutheit und dergleichen Zust\u00e4nde mehr, die\ndas Genie wohl mit dem Geisteskranken teilen kann, ohne deshalb\n\u2022 \u2022\nwirklich geisteskrank zu sein. Die \u00c4hnlichkeit liegt \u00fcberall nur in dem \u00e4ufseren Scheine, ohne das Wesen zu ber\u00fchren, und nur die grofse Menge, die den Geist des grofsen Mannes nicht erfafst, kann in ihrem Unverst\u00e4nde Genie und Irrsein miteinander verwechseln.\nNur so konnte man dazu kommen, das Genie als eine Abart der Entartung aufzufassen und es wie diese auf erbliche Belastung zur\u00fcckzuf\u00fchren.\nWir werden uns zun\u00e4chst mit diesen beiden Begriffen abzufinden und sie auf ihre Berechtigung zu pr\u00fcfen haben. Erblich belastet ist jeder, in dessen Aszendenz sich Krankheiten des Nervensystems vorfinden, entartet dagegen doch nur der, bei dem sich der Nachweis eines mangelhaft entwickelten psychischen Organes erbringen l\u00e4fst. Dasjenige, worin sich die psychische Entartung von anderen Geistesst\u00f6rungen","page":478},{"file":"p0479.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n479\nunterscheidet, ist gerade das Atypische in dem Auftreten und dem Verlaufe ihrer Symptome.\nDie Kenntnis dieser Zust\u00e4nde ist eine verh\u00e4ltnism\u00e4fsig junge Erwerbung der Psychiatrie, und sie er\u00f6ffnet uns weite und \u00fcberraschende Ausblicke in das Seelenleben, und dies um so mehr, als die Entarteten dem Laien vielfach nicht als krank erscheinen, sondern nicht selten ihm als geistreich imponieren und eine gewisse Rolle in der Gesellschaft spielen.\nHierher geh\u00f6ren u. a. die religi\u00f6sen Schw\u00e4rmer, die Propheten und Phantasten, Volksbegl\u00fccker, Spiritisten, kurz hoc genus omne, zuweilen recht begabte Menschen, aber stets nur von einer einseitigen Begabung, deren Vorz\u00fcge durch ihre Fehler vollauf aufgewogen werden und die man daher trotz ihrer Begabung nie und nimmer als Genie bezeichnen kann. Die Schilderung, die uns Hirsch von den Entarteten entwirft, entspricht unseren heutigen Kenntnissen dieser Zust\u00e4nde, wie sie uns aus den Forschungen Magxans, Kochs u. a. zug\u00e4nglich geworden sind, und wer sie beherzigt, wird nie in die Versuchung kommen, jene grofsen und zur vollen Harmonie entwickelten Geister, die wir Genies nennen, mit jenen Entarteten zu verwechseln.\nBekanntlich stehen sich zur Zeit zwei Anschauungen schroff gegen\u00fcber, von denen die eine ebenso einseitig der erblichen Anlage die ganze Verantwortung zuschiebt, wie es die andere der Umgebung, den \u00e4ufseren Umst\u00e4nden, dem milieu social thut. Je nachdem man der einen oder der anderen dieser Anschauungsweisen zuneigt, wird man der Erziehung einen mehr oder weniger grofsen Wert beimessen. Dafs auch hier die Wahrheit in der Mitte liegt, sollte jedem Einsichtigen klar sein, und Hirsch h\u00e4lt die Erziehung auch f\u00fcr das Genie von einer um so gr\u00f6fseren Bedeutung, als gerade hier in der urspr\u00fcnglichen Anlage besondere Gefahren \u2014 man denke nur an die rege Phantasie \u2014 gelegen sind. Der EinfLufs grofser Eltern zeigt sich hier nicht nur in der durch die Zeugung \u00fcbertragenen Anlage, sondern auch in der Schulung dieser Anlage durch die sp\u00e4tere Erziehung, und auch das Genie kann nur durch Fleifs und Arbeit die H\u00f6hen des Parnasses erklimmen. Leider wird dies in der Praxis nur zu oft \u00fcbersehen, und aus materiellen Interessen wird manches Genie durch allzufr\u00fche Ausbeutung seiner genialen Anlagen schon im Keime zerst\u00f6rt.\nW\u00e4hrend sich Hirsch bisher in ruhig aufbauender Weise das Material zu schaffen suchte, wendet er sich nunmehr in schroffer Wendung gegen Ansichten, welche der seinigen entgegenstehen, und zwar in erster Linie gegen Max Nord au. Die Behauptung Nord aus von der zunehmenden psychischen Entartung unserer Zeit, sowie die Art der Begr\u00fcndung dieser Ansicht haben sein Mifsfallen in gleicher Weise auf sich gezogen, und er giebt sich nun seinerseits ebensoviele M\u00fche, diese Behauptung zu widerlegen, wie dies Nord au vorher bei ihrer Aufstellung gethan.\nHirsch will von einer Zunahme der Entartung, von einer Hysterie, die unsere Zeit erf\u00fcllt, nichts wissen, und er bezweifelt die wissenschaftliche Bef\u00e4higung Nordaus oder doch die Beweiskraft seiner Beispiele, wie er sie in seinem vielgenannten Buche \u201eEntartung\u201c niedergelegt hat.","page":479},{"file":"p0480.txt","language":"de","ocr_de":"480\nLitteraturbericht.\nIn manchem hat Hirsch unstreitig recht, Nordau ist vielfach zu weit gegangen und er hat Personen und Zust\u00e4nde in seine Kreise gezogen, die er besser draufsen gelassen h\u00e4tte. Auf herbe Kritik mufste er daher gefafst sein. Dafs Hirsch hierin \u00fcberall das richtige Mafs eingehalten, m\u00f6chte ich nicht gerade behaupten, doch w\u00fcrde uns eine weitere Ausf\u00fchrung der streitigen Punkte hier zu weit f\u00fchren, wenngleich die Polemik an sich manches Interessante bietet. Das Buch bietet des Lesenswerten ohnehin so viel, dafs jeder seihst entscheiden m\u00f6ge, auf welche Seite er sich stellen will.\nDafs aber gerade auf diesem Gebiete viel ges\u00fcndigt worden ist und noch t\u00e4glich ges\u00fcndigt wird, wer will das bestreiten, und ebensowenig wird man in Abrede stellen, dafs Puschmanns fr\u00fchere psychische Studie \u00fcber Wagner und manches andere der Art geradezu als Unfug zu bezeichnen ist.\nGanz gewifs ist es ein Wagnis, aus einem Kunstwerke oder einem litterarischen Erzeugnisse ohne weiteres eine Diagnose auf psychische Erkrankung des Autors zu stellen, aber andererseits f\u00fchrt Hirsch selber in \u00fcberzeugender Weise aus, wie sich uns des Dichters ganzes Innere in seinen Werken offenbart, so dafs Schl\u00fcsse am Ende doch nicht zu den ganz unm\u00f6glichen Dingen geh\u00f6ren d\u00fcrften. Wenn eine derartige Beurteilung alsdann eine etwas subjektive F\u00e4rbung tr\u00e4gt und je nachdem zu einer Verurteilung herausw\u00e4chst, w\u00e4hrend ein anderer anderer Ansicht ist, so ist darin kaum ein Ungl\u00fcck zu sehen, da wir aus einem Austausch der Meinungen eine Kl\u00e4rung des Urteils erwarten d\u00fcrfen.\nEin solcher Zwiespalt der Meinungen gewinnt ein um so h\u00f6heres Interesse, wenn er uns, wie in dem vorliegenden Falle, den Beweis liefert, dafs sogar Anschauungen, die wir uns nachgerade angew\u00f6hnt haben, als allgemein feststehende zu betrachten, nicht \u00fcber allen Zweifel erhaben sind.\nSo stellt Hirsch in scharfem Gegens\u00e4tze zu Nord au die Annahme einer allgemeinen Entartung der Kulturv\u00f6lker als unbewiesen hin, und er will von der \u201eschwarzen Pest der Entartung\u201c nicht viel wissen, und da er f\u00fcr seine Art der Anschauung eine ganze F\u00fclle von \u00e4rztlichen Erfahrungen und eine ebenso kritische wie ausgiebige Benutzung der Litteratur beibringt, so wird sein Buch, wie Mendel mit Hecht bemerkt, nicht blofs f\u00fcr den Fachmann von Interesse sein, sondern auch einem grofsen nicht medizinischen Leserkreise Belehrung und Aufkl\u00e4rung \u00fcber schwierige Probleme gew\u00e4hren.\tPelm an.","page":480}],"identifier":"lit29624","issued":"1895","language":"de","pages":"477-480","startpages":"477","title":"Dr. William Hirsch: Genie und Entartung. Eine psychologische Studie mit einem Vorwort von Prof. Dr. E. Mendel. Berlin und Leipzig, Verlag von Oscar Coblentz. 1894. 340 S.","type":"Journal Article","volume":"8"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:27:46.087908+00:00"}