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{"created":"2022-01-31T15:34:06.751068+00:00","id":"lit29635","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Zeitler, Julius","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 20: 670-712","fulltext":[{"file":"p0670.txt","language":"de","ocr_de":"Taine und die Culturgeschichte.\nVon\nJulius Zeltler.\nLeipzig.\nI.\nZu den M\u00e4nnern, die im 19. Jahrhundert die Culturgeschichte, ihre Auffassung und ihre Methode wesentlich gef\u00f6rdert haben, geh\u00f6rt auch Taine. Seine vielseitigen Studien auf den verschiedensten Feldern der Wissenschaft, die keineswegs dem Naturerkennen allein gewidmet waren, bef\u00e4higten ihn ganz besonders f\u00fcr die Geschichte. Gleich seine erste Arbeit, der \u00bbEssay sur Tite Live\u00ab, die von der franz\u00f6sischen Akademie, allerdings nicht unbeanstandet, mit einem Preise ausgezeichnet wurde, lie\u00df in dem eigenth\u00fcmlichen Verfahren eine Fortbildung der Methode erkennen. Taine schilderte in Livius einen Historikertypus, der in der Geschichte nicht selten ist. Er charakterisirte ihn als einen \u00bboratorischen\u00ab Geschichtschreiber, indem er ihn mit dem \u00bbphilosophischen\u00ab Thukydides und dem \u00bbpraktischen\u00ab Tacitus verglich. Er betonte das vorwiegend rhetorische Wesen seines Geistes und meinte, Livius sei \u00bbkein guter Historiker,' weil er die Feder als Redner f\u00fchre\u00ab. Titus Livius war ihm nur in jenen Ereignissen exact, an denen er selbst theilgenommen oder die er wenigstens beobachtet hatte. Taine hielt \u00fcberhaupt daf\u00fcr, dass man die Geschichte am besten schreibt, deren Zeitgenosse man ist. Man kann ihm jedoch entgegenhalten, dass Macaulay, Fox, Gibbon, Montesquieu auch gro\u00dfe Redner waren und trotzdem gro\u00dfe Geschichtschreiber wurden ; unbeschadet ihrer oratorischen Talente legten sie starken Werth auf Quellenstudium und Quellenkritik.","page":670},{"file":"p0671.txt","language":"de","ocr_de":"Taine und die Culturgeschichte.\n671\nZum eigentlichen Durchbruch aber kommen die Gedanken Taine\u2019s \u00fcber die historische Methode erst in seiner \u00bbGeschichte der englischen Literatur\u00ab1), die 1863 erschien und deren Vorrede f\u00fcr das Problem der Culturgeschichte von gr\u00f6\u00dfter Bedeutung ist. Seine Absicht, eine Art Naturgeschichte der Literaturgeschichte zu geben, erreichte er vollkommen, noch jetzt ist sie das gl\u00e4nzendste literar-historische Werk der Franzosen. Taine bewies darin eine bis dahin unerh\u00f6rte Auffassung der Literaturgeschichte. Er legte das Hauptgewicht auf die Behandlung der Psychologie Englands. Das Werk ist eine cultur-psychologische Darstellung unter Zugrundlegung der literarischen Verh\u00e4ltnisse; mehr eine Darlegung der literarischen Cultur Englands, als seiner Literaturgeschichte2).\nUeberhaupt hat Taine den Werth, den Literaturwerke f\u00fcr die Culturgeschichte einer Zeit haben k\u00f6nnen, erst erschlossen; er nahm ihn zuerst in Anbau. Taine sah in den Literaturdenkm\u00e4lern vor allem die kostbarsten culturhistorischen Documente, die bezeichnendsten, die der Geschichte zur Verf\u00fcgung stehen; sie waren ihm \u00bbSpiegelbilder der zeitgen\u00f6ssischen Sitten\u00ab, und zugleich r\u00fchmte er sie als die sch\u00f6nsten Fr\u00fcchte ihrer Epoche. \u00bbEin Schriftwerk ist nicht das einfache Spiel einer Einbildungskraft, die vereinzelte Laune eines hei\u00dfen Kopfes, sondern ein Abbild der umgebenden Sitten und das Merkmal eines geistigen Zustands\u00ab (E. L. Vorr.).\nIn der culturpsychologischen Auffassung der literarischen Pro-ducte begegnete sich Taine mit Schlosser, der gesagt hatte, dass man aus den Bomanen die Culturgeschichte eines Volkes schreiben k\u00f6nne. Von dieser neuen Sch\u00e4tzung nahm eine sehr bedeutsame Aenderung der Geschichtschreibung ihren Ausgang. In der That zog Taine literarische Belege in einem vorher nicht gekannten Sinne f\u00fcr die Psychologie der Geschichtschreibung heran. Ein Schriftsteller repr\u00e4sentirte ihm die Zeit in einem weit tieferen Sinne, als irgend\n1)\tH. Taine, Geschichte der englischen Literatur, 3 Bde., \u00fcbersetzt von L. K\u00e4tscher (E. L.).\n2)\tDie Beziehungen zwischen der Literatur, den gesellschaftlichen Sitten und den staatlichen Einrichtungen im Sinne der Geschichtsphilosophie Montesquieu\u2019s wurden von Madame de Sta\u00ebl untersucht in ihrem Werk: De la litt\u00e9rature consid\u00e9r\u00e9e dans ses rapports avec les institutions sociales 1800.","page":671},{"file":"p0672.txt","language":"de","ocr_de":"672\nJulius Zeitler.\nein Staatsmann oder Feldherr. Er galt ihm als das edelste Gef\u00e4\u00df f\u00fcr den seelischen Inhalt und das Wesen einer Nation oder eines Jahrhunderts. \u00bbAus den Werken Stendhal\u2019s, Sainte Beuve\u2019s, und der deutschen Kritiker mag man ersehen, welche Sch\u00e4tze in literarischen Urkunden stecken k\u00f6nnen; ist die Urkunde gehaltvoll und findet sie einen guten Ausleger, so enth\u00e4lt sie die Psychologie einer Seele, oft die eines Jahrhunderts, zuweilen die einer Basse. In dieser Hinsicht sind ein gro\u00dfes Gedicht, ein sch\u00f6ner Boman oder die Memoiren eines bedeutenden Menschen lehrreicher, als ein ganzer Haufen von Historikern und Geschichtsb\u00fcchern; die Memoiren Cellini\u2019s, die Briefe des hl. Paulus, die Tischreden Luther\u2019s oder die Lustspiele des Aristophanes sind wichtiger, als f\u00fcnzig B\u00e4nde Verfassungsurkunden oder hundert B\u00e4nde diplomatischer Actenst\u00fccke\u00ab (E. L. I., S. 31). Um den Conversationsstil des 18. Jahrhunderts zu veranschaulichen, griff Taine auf die Correspondenzen, kleinen Verhandlungen und Gespr\u00e4che Diderot\u2019s und Voltaire\u2019s zur\u00fcck, \u00bbdie feinsten, lebhaftesten , pikantesten und tiefsten St\u00fccke der Literatur des Jahrhunderts\u00ab. Es entging Taine, dass Literaturdenkm\u00e4ler h\u00f6chstens cultur-historische Documente sind ; erst weiterhin k\u00f6nnen sie zu historischen werden.\nVor allem aber brachte Taine das unter dem Namen Milieutheorie bekannte Princip der geistigen Umgebung zum ersten Male in einem umfassenden Sinn zur Anwendung. Er bewies darin sogleich seine collectivistische Auffassung der geistigen Geschehnisse: nicht der Dichter, K\u00fcnstler oder Denker schafft die das Lehen eines Volkes bestimmenden Werke, sie sind vielmehr die naturnothwendigen Erzeugnisse der Zeitstr\u00f6mungen und der umgebenden Culturverh\u00e4ltnisse, in diesem Fall das Product der englischen Kasse, des Klimas, der Zeitumst\u00e4nde und der religi\u00f6sen Ueberzeugungen. Da auf die Erscheinungen der Literatur die Gesichtspunkte der Basse, der Sph\u00e4re und der Zeit am gl\u00fccklichsten und am leichtesten angewendet werden k\u00f6nnen, unterliegt es keinem Zweifel, dass das Schema der Milieutheorie \u00bburspr\u00fcnglich zuerst aus diesem Gebiet abstrahirt wurde\u00ab1). Der Vertiefung der literarischen Kritik durch Taine ist auch die Entstehung dieses Princips zu verdanken. Jene Factorenreihe ist\n1) Wundt, Logik II. 2. 328.","page":672},{"file":"p0673.txt","language":"de","ocr_de":"Taine und die Culturgeschichte.\n673\n\u00bbsichtlich unter dem vorwaltenden Einfl\u00fcsse literarhistorischer Untersuchungen entstanden\u00ab1). Diese Literarstudien, denen sich sp\u00e4ter kunstgeschichtliche anschlossen, stellten Taine auf eine H\u00f6he des historischen Blickes, auf der er jedem historischen Werk seiner Zeit weit \u00fcberlegen war, er war dadurch im st\u00e4nde, Richtlinien und Abwicklungen der Geschichte zu erkennen, die dem Verfasser selbst, der an dem chronologischen Faden der Begebenheiten entlang kletterte, verborgen gebliehen waren; den literarhistorischen Verlauf projicirte er auf den historischen; so unterschied er sofort die Strecken der rascheren oder der langsameren Entwicklung und spannte eine ganz andre Periodisirung \u00fcber das Gebiet, als sie aus dem politischen Geschehen allein, aus der Dauer einer Regierung oder eines Krieges, gewonnen worden war. Kein Wunder, dass Taine so von Anbeginn an ein Meister der historischen Composition war: die Geschichte der englischen Literatur ist auch ein gl\u00e4nzend componirtes, bedeutendes Kunstwerk.\nIn der Milieutheorie f\u00fchrte Taine ein sehr fruchtbares Princip in die Geschichtswissenschaft ein. Herder und Hegel hatten in gleicher Weise an den Urspr\u00fcngen desselben Antheil. Uehrigens k\u00f6nnen schon seit Bodinus und Montesquieu die \u00bbumgebenden Umst\u00e4nde\u00ab f\u00fcr die Beurtheilung von Menschen und V\u00f6lkern nicht mehr entbehrt werden. Und hei der Schilderung der florentinischen Zust\u00e4nde in seiner Biographie Cellini\u2019s sagte Goethe: \u00bbDenn indem man einen Menschen als einen Theil eines Ganzen seiner Zeit oder seines Geburts- und Wohnortes betrachtet, so lassen sich gar manche Sonderbarkeiten entziffern, die sonst ewig ein R\u00e4thsel bleiben w\u00fcrden\u00ab.\nIn der Rasse sah Taine die reichste der Hauptkr\u00e4fte, von denen sich die geschichtlichen Ereignisse ableiten lassen ; er definirte sie als \u00bbjene angeborenen und erblichen Anlagen, die der Mensch in sich tr\u00e4gt und die gew\u00f6hnlich mit scharfen Unterschieden im Temperament und im K\u00f6rperbau Zusammenh\u00e4ngen\u00ab. Als zweite Hauptkraft stellte er die Sph\u00e4re, die Umwelt, das geographische Milieu auf; in den \u00bbumgebenden Verh\u00e4ltnissen\u00ab fasste er alle \u00e4u\u00dferen M\u00e4chte zusammen, die den menschlichen Stoff gestalten. Der Begriff Umwelt ist im Wesentlichen geistig zu verstehen. Dritte Hauptkraft\n1) Wundt, Logik II. 2. 328.\nWundt, Philos. Studien. XX.\n43","page":673},{"file":"p0674.txt","language":"de","ocr_de":"674\nJulius Zeitler.\nwar ihm derZeitpunkt, dessen Verschiedenheit ihm gen\u00fcgend galt zur Herbeif\u00fchrung einer Verschiedenheit der Gfesammtwirkung. Er bedeutet die zeitliche Eixirung der zusammentreffenden geistigen Gr\u00f6\u00dfen. Mit qualit\u00e9 maitresse bezeichnet Taine endlich den pers\u00f6nlichen und inneren Factor, wohingegen Rasse, Milieu und Moment collective Factoren sind, an deren Constituirung die Au\u00dfenwelt in h\u00f6herem Ma\u00dfe betheiligt ist, als die Innenwelt.\nIn der Milieutheorie glaubte Taine das Werkzeug zur Zur\u00fcckf\u00fchrung aller geschichtlichen Vorg\u00e4nge auf die Einfl\u00fcsse der geistigen Umgebung in der Hand zu haben. In diese geistigen Factoren sind auch die Naturbedingungen mit eingeschlossen und in den ihnen geb\u00fchrenden Zusammenhang gebracht. In der Aufeinanderfolge der Factoren ist zugleich das Verh\u00e4ltnis angegeben, in dem sie zu einander stehen. Jede folgende Stufe ist allgemeiner als die vorangehende und umfasst daher die Bedingungen zu ihrer Erkl\u00e4rung. Die geistigen M\u00e4chte, die eine Zeit beherrschen, umschlie\u00dfen auch die gesellschaftlichen Bedingungen, von diesen wiederum wird der specielle sociale Kreis umfasst. Uebrigens herrscht \u00fcber die Begriffe der Milieutheorie keineswegs allgemeine Klarheit; keine ihrer heutigen Anwendungen l\u00e4sst auf eine exacte Definition schlie\u00dfen, die ihnen zu Grunde l\u00e4ge. Das ist aber vielleicht die Schuld Tain es.\nDie Milieutheorie ist durchaus geschichtsphilosophischer Natur; Taine betrachtete sie als das allgemeine Princip, dem das gesammte historische Geschehen unterworfen w\u00e4re; soweit er es anwandte, tr\u00e4gt seine ganze Forschung einen deductiven Charakter. Dass ein herrschendes Princip die Gedanken eines ganzen Zeitalters regle, ist eine sehr wahrscheinliche Hypothese, ebenso wie Jedermann geschichtspsychische Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten anerkennen wird, aber es ist nur unter \u00e4u\u00dferster Vorsicht gerathen, mit Deductionen, die sich darauf st\u00fctzen, in der Geschichtswissenschaft zu operiren.\nTaine lie\u00df theoretisch keine Durchbrechung oder auch nur Einschr\u00e4nkung des Princips gelten. \u00bbGro\u00dfe, wirksame, weittragende Ideen entstehen weder durch Zufall, noch durch Willk\u00fcr, weder durch die Anstrengungen eines Individuums, noch durch ungef\u00e4hres Zusammentreffen. Nicht nur die Literaturen und Religionen, sondern auch die philosophischen Systeme und Methoden verdanken ihren Ursprung dem jeweiligen Zeitgeist, und nach diesem richtet sich ihre","page":674},{"file":"p0675.txt","language":"de","ocr_de":"Taine und die Culturgeschichte.\n675\nOhnmacht oder Wirksamkeit. Es gibt gewisse Zust\u00e4nde des \u00f6ffentlichen Geistes, die dieses oder jenes litterarische Genre, diesen oder jenen wissenschaftlichen Begriff ausschlie\u00dfen. Ist ein solcher Zustand vorhanden, so werden sich die Schriftsteller und Denker vergeblich m\u00fchen, etwas Anderes zum Durchbruch zu bringen, \u25a0\u2014 es wird ihnen nicht gelingen\u00ab. (E. L. I. S. 354.) \u00bbAlle Geister, welche suchen und finden, sind in dem Strome; sie kommen nur mit ihm vorw\u00e4rts; wenn sie sich ihm entgegensetzen, werden sie aufgehalten; wenn sie von ihm abweichen, werden sie gehemmt; wenn sie ihn f\u00f6rdern, werden sie weiter getragen als die Anderen\u00ab (E. L. III. S. 404). An den Neubildungen der Oultur soll der Einzelne keinen Antheil haben. \u00bbJede Neugestaltung ist. . . das Ergehniss einer Ver\u00e4nderung der geistigen und physischen Verh\u00e4ltnisse der Menschen, d. h. in letzter Reihe: der die Menschen umgebenden Zust\u00e4nde und Lebensbedingungen\u00ab (O. VIII. S. XV)1). Nat\u00fcrlich tr\u00e4gt dann auch jede Generation ihre Zukunft und ihre Geschichte \u00bbunbewusst und im vorhinein\u00ab unweigerlich in sich (0. I. S. 332).\nDie Theorie l\u00e4sst dem Wirken des Einzelnen keinen Raum. Trotz ihrer Unbedingtheit bleibt von jeder Individualit\u00e4t ein Rest, der aus Rasse, Milieu und Zeitpunkt nicht abgeleitet werden kann. Das Ver-h\u00e4ltniss zwischen dem Einzelnen und der Umwelt ist ein solches der Wechselbestimmung; der Einzelne aber wirkt jedenfalls auf seine Umgebung ver\u00e4ndernd zur\u00fcck. Durch eigenes Handeln vermag die einzelne Pers\u00f6nlichkeit ihre Umgebung zu beeinflussen, indem sie \u00bbtheils die vorhandenen Tendenzen verst\u00e4rkt, theils die Umwandlungen derselben vorbereitet\u00ab2). Der Milieutheorie gegen\u00fcber weist Wundt auf die Wichtigkeit der \u00bbUntersuchung des Verh\u00e4ltnisses der f\u00fchrenden Geister zu den allgemeinen geschichtlichen Entwicklungen\u00ab hin. Ueberhaupt wird die Milieutheorie erst dadurch f\u00fcr die historische Forschung fruchtbar, dass von ihr aus die wechselseitigen Beziehungen, die zwischen den Theilen einer Gesammtcultur walten, aufgehellt werden k\u00f6nnen, und dass das Verh\u00e4ltniss, in dem gewisse typische Pers\u00f6nlichkeiten zu jenem Gesammtzustand stehen\u00bb, nachgewiesen werden kann. Gl\u00fccklicherweise gab Taine nur in seiner\n1)\tH. Taine, Entstehung des modernen Frankreich (Origines-O.).\n2)\t\"Wundt, Logik. II. S. 411.\n43*","page":675},{"file":"p0676.txt","language":"de","ocr_de":"676\nJulius Zeitler.\nTheorie ein einseitiges und unvollst\u00e4ndiges Schema, sein Werk seihst spr\u00fcht vollstes Lehen, es ist das vielf\u00e4ltige Gewebe eines unendlich verzweigten Gedankenreichthums.\nAuf der Grundlage der Milieutheorie erwuchs die neue Auffassung der Geschichte, die Taine in die Welt brachte, und mit der er schlie\u00dflich den wissenschaftlichen Eealismus in Frankreich zur Herrschaft f\u00fchrte. Schon in der Vorrede zur Geschichte der englischen Literatur stellte er Stufen der geschichtswissenschaftlichen Forschungsweise auf und verbreitete sich \u00fcber die niedere, wie \u00fcber die h\u00f6here Methode. Dem Ansammeln und der Kritik von Thatsachen und Ereignissen stellte er die Zusammenfassung der typischen Reihen in h\u00f6here Zusammenh\u00e4nge gegen\u00fcber. Taine achtete blo\u00dfe Stoffcompilationen wenig; sie bedeuteten f\u00fcr ihn reine Vorarbeit gegen\u00fcber der Hauptsache, der Erforschung der Ursachen. Die Geschichte war f\u00fcr Taine ein psychologisches Problem: \u00bbDie Regeln der menschlichen Vegetation zu suchen, die specielle Psychologie jedes speciellen Gebildes zu entdecken, ist die Geschichtschreibung jetzt berufen\u00ab (E. L. I. S. 30).\nMit m\u00e4chtiger Geberde wies Taine auf die urspr\u00fcnglichen Quellen zur\u00fcck, auf die alten authentischen Belege. Dennoch He\u00df er seiner ganzen Geistesanlage nach den objectiven Quellen gegen\u00fcber den subjectiven keine einseitige Uebersch\u00e4tzung angedeihen. Ihm lag vor Allem an der \u00bbpsychologischen\u00ab Analyse der Texte. Das eigentliche Arbeitsgebiet des Historikers sind nach ihm die R\u00fcckschl\u00fcsse von den Handlungen, Thaten und Schriften auf die Seele. Die Quellen sind keine unmittelbaren Zeugnisse \u00fcber den psychischen Zustand, der einer That vorhergeht; aus der Quelle muss vielmehr erst der Thatbestand herausgesch\u00e4lt werden, aus diesem erst k\u00f6nnen die psychologischen R\u00fcckschl\u00fcsse auf die Motive gemacht werden.\nSo viel Werth Taine auf die Documente legte, er war doch weit entfernt, ihnen eine absolute Bedeutung beizumessen; man m\u00fcsse vielmehr die Menschen erkennen, die sie gemacht haben. \u00bbSowohl Muscheln als Documente sind leblose Ueberbleibsel, die nur als Anzeichen und Merkmale lebender vollst\u00e4ndiger Wesen und als Schl\u00fcssel zu deren Erkenntniss Werth haben\u00ab.\nDie Anschaulichkeit dieser Erkenntniss war Taine\u2019s eifrigste","page":676},{"file":"p0677.txt","language":"de","ocr_de":"Taine und die Culturgeschichte.\n677\nSorge, er will den vergangenen Menschen vom Historiker sichtbar hingestellt sehen. Taine w\u00fcnscht \u00bbdirecte, augenf\u00e4llige, pers\u00f6nliche, concrete Beobachtung\u00ab des Menschen. \u00bbEine Sprache, eine Gesetzgebung, ein Katechismus sind stets nur abstracte Dinge, die erst durch den Menschen, den th\u00e4tigen, greifbaren und sichtbaren Menschen, welcher isst, sich schl\u00e4gt und arbeitet, vollst\u00e4ndig werden\u00ab. Der Historiker soll sich mit allen H\u00fclfsmitteln das Vergangene vergegenw\u00e4rtigen. Freilich, meint Taine, wird seine Erkenntniss stets unvollst\u00e4ndig bleiben, aber \u00bbeine unvollst\u00e4ndige Erkenntniss ist besser als eine bedeutungslose oder falsche Kenntniss\u00ab.\nDer wirkliche Mensch, den Taine hinter dem blo\u00df sichtbaren sucht, besteht in seinem Kern aus einer Gruppe von unendlichen Eigenschaften und Gef\u00fchlen, die tief in seinem Innersten wurzeln. Dieses ist der eigentliche Gegenstand des Geschichtsschreibers. So war seine Kritik im Wesentlichen ein Suchen nach den Pers\u00f6nlichkeiten, die hinter den Theorien, den Constitutionen, den B\u00fcchern stehen. Aus den Einzelz\u00fcgen, die sich ihm bei dieser Arbeit ergaben, bildete er dann die historischen Typen, mit deren Hilfe er die Zeitalter darstellte. Er nannte es die \u00bbcharakteristische Eigent\u00fcmlichkeit\u00ab eines jeden Geschichtsschreibers, der Sinn f\u00fcr das Reale hat, zu begreifen, dass die Pergamente, die Mauern, die Kleider, die K\u00f6rper selbst nur H\u00fcllen und Documente sind; dass das wirkliche Factum das innere Gef\u00fchl der Menschen ist, die gelebt haben, dass das einzig wichtige Factum der Zustand und die Structur ihrer Seele ist, dass es sich vor Allem und einzig und allein darum handelt, zu ihm hindurchzudringen, dass von ihm alles andere abh\u00e4ngt .... die Geschichte ist nur die Geschichte des Herzens. (E. L. HI. S. 394). Taine erg\u00e4nzte also in einem vorher nicht gekannten Ma\u00dfe die objective Feststellung der Thatsachen mittels der historischen Kritik durch die subjective psychologische Kritik, die in der Vergegenw\u00e4rtigung der subjectiven Eigenth\u00fcmlichkeiten der betheiligten Pers\u00f6nlichkeiten besteht, die ja beide einander im Grunde auch nicht ent-rathen k\u00f6nnen. In der Theorie fordert der moderne Historiker eine Hineinf\u00fchlung in alle historischen Individualit\u00e4ten, die vor dem Auge des Forschers vor\u00fcberziehen. In der Praxis hat es immer seine Grenzen und l\u00e4uft vielmehr auf engere oder weitere historisch-psychologische Schemata hinaus, mit denen die auftauchenden Pers\u00f6nlich-","page":677},{"file":"p0678.txt","language":"de","ocr_de":"678\nJulius Zeitler.\nkeiten gefasst werden. Schon das Gesetz der Subjectivit\u00e4t bedingt es, dass kein Historiker \u00fcber sein individuelles Schema hinaus kann. Auch der Weg, den Taine zur Ueberwindung dieser Schwierigkeit gewiesen hat, f\u00fchrt nicht an\u2019s Ende. Denn schon die Ueberg\u00e4nge zur h\u00f6heren Methode beruhen auf der historischen Intuition. Zur h\u00f6heren Geschichtswissenschaft sind stets nur au\u00dferordentliche Menschen berufen. Deshalb werden gro\u00dfe Historiker auch nach den methodischen Einsichten der Gegenwart in Zukunft so selten sein, wie bisher.\nSein inductives Verfahren setzt Taine fort in der Aufsuchung von Grundtriebkr\u00e4ften, die bei den historischen Processen eine Eolle spielen und die als letzte Ursachen der Geschehnisse gelten k\u00f6nnen. Diese Ursachen stellen sich ihm dar in grundlegenden psychologischen Begriffen, die mittels eines complicirten Abstractionsverfahrens gebildet wurden. Diese Begriffe sind es dann erst, die Taine zur Aufstellung von historischen Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten dienen. Sobald sie den Ausgangspunkt bilden, wird die Methode deductiv.\n! Diese Forschungsweise wird fortw\u00e4hrend begleitet von naturwissenschaftlichen Analogien, die \u00fcberhaupt Taine\u2019s ganze Auffassung der Geschichtswissenschaft durchathmen. \u00bbLaster und Tugenden sind nicht minder Producte, wie Vitriol oder Zucker, und jede zusammengesetzte Erscheinung entsteht aus dem Zusammentreffen anderer, einfacherer Erscheinungen, von denen sie abh\u00e4ngt.\u00ab Taine h\u00e4uft eine Reihe von Ursachen, bis er auf eine primitive Anlage st\u00f6\u00dft, \u00bbdie allgemeinen und permanenten Ursachen.\u00ab Auf der Jagd nach dieser Grundtriebkraft kommt Taine auf \u00bbzwei bis drei Grundeigenschaften\u00ab. Das waren die beharrenden Grundz\u00fcge, die Taine in jeder V\u00f6lkerentwicklung sah: \u00bbWenn man es genau nimmt, so bleibt sich ein Volk immer gleich, in jedem Zeitalter, auf jeder Stufe der Civilisation j bestehe seine Tracht nun aus einem Ziegenfell, einem goldbesetzten Wams oder einem schwarzen Frack, sitze es in einem Palast oder in einer Schreibstube, \u2014 stets werden ihm die f\u00fcnf oder sechs gro\u00dfen Triebe, die es in seinen W\u00e4ldern beherrschten, nachfolgen\u00ab (E. L. H. S. 367). \u00bbIn allen F\u00e4llen ist der Mechanismus der menschlichen Geschichte derselbe. Stets findet sich als Urtriebkraft irgend eine ganz allgemeine Geistes- und Seelenanlage vor, wohne sie nun der Rasse von Natur inne oder sei sie","page":678},{"file":"p0679.txt","language":"de","ocr_de":"Taine und die Culturgeschichte.\n679\ndurch irgend einen auf die Basse bezughabenden Umstand erworben oder hervorgebracht\u00ab .... wir d\u00fcrfen \u00bbdie Gesammtbewegung einer bestimmten Kultur als Resultat einer permanenten Kraft betrachten, die ihre Wirksamkeit jeden Augenblick \u00e4ndert, indem sie e m-st\u00e4nde \u00e4ndert, unter denen sie wirksam ist\u00ab (E. L. Yorr. S. 29).\nIn der Vorrede zu den Essays, die Taine 1866 schrieb, setzte er seine Methode, seine \u00bbArt, zu arbeiten\u00ab, grundlegend auseinander!).\u00ab Um den psychischen Zustand, der eine gegebene Literatur, Philosophie Kunst oder Gesellschaft hervorbringt, zu erkl\u00e4ren, forscht Taine\u2019 nach den seelischen Kr\u00e4ften, die ihn erzeugen. Um das Ahstractionsverfahren, aus dem letztere gewonnen werden, handelt\n68 Zuerst beschreibt Taine, wie irgend eine historische Pers\u00f6nlichkeit, ein Gelehrter oder ein Staatsmann auf psychologische Begriffe gebracht werden kann, indem er seine charakteristischen Zuge aufstellt und ihn endlich auf einen bestimmten Seelenzustand fixirt. Von einer genauen psychologischen Terminologie ist dabei keine Rede, Taine war der Meinung, wie alle Historiker bis in die Gegenwart herein, dass selbstgemachte Begriffe das Beste w\u00e4ren und dass man die exacte Psychologie dazu nicht ben\u00f6thige. Durch Weiterf\u00fchrung der Analyse kommt nun Taine zu einer ganzen Anzahl von Zugen die s\u00e4mmtlich in einer gewissen Verkn\u00fcpfung stehen. Zuletzt genie\u00dft er \u00bbdas Schauspiel der wunderbaren Nothwendigkeiten, die die unz\u00e4hligen, verschiedenartigen wirren F\u00e4den jedes menschlichen Wesens miteinander verbinden\u00ab (S. XYffl). Von hier schreitet er fort zur Untersuchung gr\u00f6\u00dferer K\u00f6rper, wie etwa einer ganzen Kunstlerschule, einer Cultur, einer Rasse, einer Epoche. Er fordert dazu auf, ie Thatsachen zu gruppiren und aus jeder Thatsachengruppe mittels der psychologischen Analyse die bedeutsamsten Elemente herauszuziehen (S. XIX). Taine nennt hier dasselbe seine \u00fcbergeordnete Thatsache, was Hegel die Idee einer Gruppe nennt. Hier begegnet man auch sogleich dem Gesetz der historischen Relationen. \u00bbIn einer Gesammt-cultur steht alles Einzelne in einer gegenseitigen Abh\u00e4ngigkeit.\u00ab \u00bbZwischen einem Buchengang von Versailles, einer philosophischen und theologischen Er\u00f6rterung von Malebranche, einer Vorschrift\n1} Taine, Essays. Deutsch von\nP. K\u00fchn u. A. Aal. 1898. (Ess.)","page":679},{"file":"p0680.txt","language":"de","ocr_de":"680\nJulius Z eitler.\nf\u00fcr die Versbildung bei Boileau, einem Gesetz von Colbert \u00fcber die Hypotheken, einem Compliment im Vorzimmer zu Matly, einem Spruch von Bossuet\u00ab i), gibt es eine genaue Verkn\u00fcpfung; \u00bbdie Thatsachen stehen miteinander in Verbindung durch die Definitionen der Gruppen, zu denen sie geh\u00f6ren. Eine jede von ihnen ist eine Handlung dieses idealen und allgemeinen Menschen, um den sich alle Erfindungen und alle Eigenth\u00fcmlichkeiten gruppiren; eine jede von ihnen hat als Ursache eine F\u00e4higkeit oder eine Neigung des herrschenden Vorbildes.\u00ab Die verschiedenen Neigungen oder F\u00e4higkeiten der centralen Pers\u00f6nlichkeit endlich halten sich das Gleichgewicht.\nDurch Vergleichung der Hauptz\u00fcge einer Epoche mit denen einer vorangehenden werden die bleibenden Z\u00fcge erkannt. Das Schluss-ergebniss ist eine klare Vorstellung \u00fcber die allgemeinen Zust\u00e4nde, die ihre Herrschaft \u00fcber ganze Jahrhunderte und ganze Nationen erstrecken. Und \u00bbdas gro\u00dfe Spiel der Geschichte\u00ab besteht eigentlich nur aus der gesetzm\u00e4\u00dfigen Abfolge dieser Zust\u00e4nde. In den Bezeichnungen dieser Stufen hat man dann eine Kette von Begriffen, an der die typischen Geschehnisse aufgereiht werden k\u00f6nnen.\n\u00bbIn jeder gro\u00dfen menschlichen Sch\u00f6pfung ist ein erzeugendes Element vorhanden, das auch in den anderen nahehegenden Sch\u00f6pfungen obwaltet; hierunter ist irgend eine wirksame und bedeutende F\u00e4higkeit, Begabung oder Anlage zu verstehen, die den speciellen Charakter, den sie besitzt, in alle Handlungen, an denen sie sich betheiligt, hineinbringt.\u00ab (E. L. I. S. 27.) Von da schreitet Taine zur Erforschung der allgemeinen Gesetze, die nicht mehr einzelne Ereignisse beherrschen, sondern Gattungen von Ereignissen. Auch jeder Gattung hegt als Ursache eine psychische Anlage zu Grunde: ist die Ursache gegeben, so tritt die Gattung zu Tage, und sie verschwindet wieder, sobald die Ursache aufh\u00f6rt.\nIn diesem Sinne, meint Taine, gestaltet sich heute die Geschichte um; durch diese Arbeit kann sie aus einem einfachen Bericht eine Wissenschaft werden, und die Gesetze feststellen, nachdem sie die Thatsachen entwickelt hat. Die Geschichte, die j\u00fcngste Wissenschaft, kann ebenso wie ihre \u00e4ltere Schwester, die Naturwissenschaft, Gesetze\n1) Essays, S. XX.","page":680},{"file":"p0681.txt","language":"de","ocr_de":"Taine und die Culturgesohiehte.\n681\nauf stellen. Zur Begr\u00fcndung seiner Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten wies Taine stets auf analoge Vorg\u00e4nge oder Thatsachen aus den Naturwissenschaften hin. Taine entwickelt nun eine Reihe von solchen Gesetzen. Zun\u00e4chst das Gesetz des Zusammenhangs der Merkmale: \u00e4ndern sich bestimmte Eigenschaften eines Zusammenhanges, so \u00e4ndert sich das ganze System, da jedes Werk und jede Institution aufs engste an die \u00fcbrigen Productionen der Epoche gekn\u00fcpft ist; das Gesetz des Gleichgewichtes der psychischen Actionen; das Gesetz der Einheit der Zusammensetzung: alles einem gemeinsamen Zusammenhang Angeh\u00f6rige weist einen gemeinsamen Typus auf; so hat jede geschichtliche Epoche ihre nothwendige Eigenart; in einem Culturcomplex sind alle Dinge aufs tiefste miteinander verwoben und verflochten, so dass z. B. in allen Einrichtungen auch die Eigenart der Landschaft sich ausspricht; das Gesetz der Auslese der Pers\u00f6nlichkeiten, wovon in der Typenlehre zu handeln sein wird; das Gesetz von der Unterordnung der Merkmale, das \u00fcber die Coordination und Subordination der Elemente oder Eactoren in einem Zusammenhang unterrichtet; so schaffen \u00bbdie socialen Verh\u00e4ltnisse stets die politischen\u00ab (E. L. III. S. 161), stets passen sich die gesetzlichen Constitutionen den gesellschaftlichen Dingen an; das Gesetz von den gegenseitigen Abh\u00e4ngigkeiten, den historischen Relationen, das Taine am eingehendsten durchf\u00fchrte in seiner Philosophie der Kunst (1864), sowie in der Geschichte der englischen Literatur.\nObgleich Taine gl\u00e4nzende Schilderungen von historischen Epochen gegeben hat, wie z. B. von der englischen Renaissance, von der klassischen Epoche Frankreichs, von der italienischen Renaissance, wobei er auch den vorhergehenden und den nachfolgenden Zustand stets scharf beleuchtete, so stellte er sich die Zeitalter doch ebenso sehr als Typen vor wie als Stufen. Das erhellt am besten aus seiner Charakteristik der Renaissance, als einer Epoche des Individualismus, der eigenartigen Ausbildung der Pers\u00f6nlichkeiten. Eine Stufenreihe lie\u00dfe sich nicht schwer aus seinem Werk abstrahiren; einzelne Bemerkungen, wie z. B. diese, dass \u00bballe zwei Jahrhunderte sich bei den Menschen das Verh\u00e4ltnis der Bilder und der Ideen, die Triebfeder der Leidenschaften, der Grad der Reflexionen und die Art der Neigungen \u00e4ndern\u00ab (E.L. Ill, S. 56), haben keinen zwingenden Charakter.","page":681},{"file":"p0682.txt","language":"de","ocr_de":"682\nJulius Zeitler.\nNat\u00fcrlich trugen die reichen Y\u00f6lkervergleichungen, die Taine anstellte, ihre Fr\u00fcchte. Jedes Volk durchl\u00e4uft eine bestimmte Entwicklung, deren einzelne Stadien auch bei vorangegangnen oder nachfolgenden V\u00f6lkern festgestellt werden k\u00f6nnen. Diese Stufen sind das entscheidende, nicht die reine Chronologie des Geschehens. Nat\u00fcrlich haben die Stufen nur einen heuristischen Werth, nur einen Begriffswerth, als Zangen, mit denen die Ereignisse und Zust\u00e4nde am besten gepackt werden k\u00f6nnen; es gibt stets auch eine Menge Z\u00fcge, Verschiedenheiten, die sich nicht in die Stufenfolge pressen lassen. Das sind die Singularit\u00e4ten, die Besonderheiten, das Individuelle. An ihnen erlahmt die ordnende Hand des Historikers. Ueberhaupt decken sich die Begriffe der Geschichte immer nur approximativ mit den historischen Wirklichkeiten ; das historische Begriffsgeb\u00e4ude kann niemals genau den wirklichen Verlauf des Geschehens beherbergen.\nNicht unerw\u00e4hnt darf in diesem Zusammenhang bleiben, dass Taine der erste Historiker war, der eine klare Vorstellung von den einzelnen Phasen einer Culturepoche hatte. Besonders in der Schilderung der italienischen und holl\u00e4ndischen Kunst finden sich ausgezeichnete Darstellungen dar\u00fcber, dass die verschiedenen Factoren, aus denen sich die Gesammtcultur eines Volkes zusammensetzt, wirth-schaftliche Macht, politisches und wissenschaftliches Lehen, sittliche T\u00fcchtigkeit, k\u00fcnstlerische Beth\u00e4tigung u. s. w. niemals in ihrer vollen Bl\u00fcthe nebeneinander wirksam sind1), dass sie im Gegentheil Entwicklungen durchlaufen, deren H\u00f6hepunkte wohl in einer bestimmten gesetzm\u00e4\u00dfigen Beziehung stehen, sich aber nie decken.\nTaine erachtete es f\u00fcr die vornehmste Aufgabe des Geschichtsschreibers, die Gesetze des historischen Lehens zu entdecken und aufzustellen. Die Oausalit\u00e4t der Geschichte fand in ihm einen eifrigen Forscher. Er besa\u00df eine hervorragende F\u00e4higkeit, die Grundlinien einer Entwicklung aufzusp\u00fcren, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen auf ihre Hauptz\u00fcge zu bringen, in die zust\u00e4ndliche Schichtung, Lagerung und Gliederung der durch einander schie\u00dfenden Ereignissreilien begrifflich Ordnung zu bringen. W\u00e4hrend die \u00e4ltere Geschichte L\u00e4ngsschnitte durch das Geschehen machte und ihr Verfahren meistens auf bare Chronologie hinauslief, machte Taine Querschnitte und schloss\n1) Zeitler: Die Kunstphilosophie von Hippolyte Adolphe Taine. 1901. S. 84 ff.","page":682},{"file":"p0683.txt","language":"de","ocr_de":"Taine und die Culturgeschichte.\n683\ndadurch die ganze ungemein vielf\u00e4ltige Verflechtung des Culturbaues auf. So wurde er zum Begr\u00fcnder der Culturgeschichte. Er war auf dem besten Wege, aus der Geschichte eine Psychologie der Volksseele zu machen, das schwebte ihm als Ziel vor, so sehr auch seine Ideen dar\u00fcber die begriffliche und wissenschaftliche Klarheit vermissen lassen.\nVor allem besa\u00df Taine eine ungew\u00f6hnliche historische Objectivit\u00e4t. Fast behandelte er die Geschichte als eine Naturwissenschaft; sie war ihm nur ein \u00bbProblem der Mechanik\u00bb: \u00bbDie Gesammtwirkung ist ein Compositum, das ganz und gar von der Gr\u00f6\u00dfe und Richtung der es hervorbringenden Kr\u00e4fte bestimmt wird. Der einzige Unterschied zwischen diesen psychischen und den physikalischen Problemen besteht darin, dass sich bei . den ersteren die Gr\u00f6\u00dfen und Richtungen nicht so sch\u00e4tzen und genau bemessen lassen, wie bei den letzteren. \u00ab Von einer unbedingten Gleichsetzung beider Gebiete scheute er also doch zur\u00fcck. Immerhin \u00fcbertrieb er die Analogie in einem nicht erlaubten Ma\u00dfe. \u00bbHeute gibt es eine historische Anatomie ebensogut wie eine zoologische\u00ab (E. L. Vorrede). Und in der Einleitung zu seinem Hauptwerke sagte er: \u00bbEinen anderen Zweck, als ein anatomischer Historiker zu sein, habe ich nicht. Ich behandle meinen Gegenstand so, wie der Naturforscher ein Insect behandeln w\u00fcrde\u00ab (Or. I. S. 38). Damit h\u00e4ngt zusammen, dass Taine ohne ein betr\u00e4chtlicheres moralisches Vorurtheil an die historischen Pers\u00f6nlichkeiten herantrat. Das ist besonders in den Origines zu sp\u00fcren. Er hielt ja \u00fcberhaupt nicht viel von der G\u00fcte des Menschen. Psychologisch war er ihm ein Phantast und ein Narr. Was einige Menschen von den Thieren unterscheidet, das ist die Vernunft; aber die Mehrheit der Menschen sind nur Thiere, die Phantasie haben und deren Gehirn Hallucinationen, Chim\u00e4ren und Legenden bev\u00f6lkern. Der Mensch ohne Vernunft d\u00fcnkte ihm ein wilder und \u00fcbersch\u00e4umender Gorilla. Die ganze Revolutionsgeschichte atbmet diese Auffassung.\nDiese Objectivit\u00e4t wandelte sich nicht selten zu Piet\u00e4t um: \u00bbKein Zeitalter hat das Recht, seine Sch\u00f6nheit andern Zeitaltern aufzuzwingen; kein Zeitalter hat die Pflicht, seine Sch\u00f6nheit den vorangehenden Zeitaltern zu entlehnen. Man soll weder l\u00e4stern noch nachahmen, sondern erfinden und verstehen. Die Kunst soll original, die Geschichtswissenschaft ehrf\u00fcrchtig sein\u00ab (Ess. S. 136). \u00bbEin wahrer","page":683},{"file":"p0684.txt","language":"de","ocr_de":"684\nJulius Zeitler.\nHistoriker ist nicht sicher, dass seine Culturstufe eine vollkommene ist und lebt ebensogern in andern L\u00e4ndern, als in dem seinigen.\u00ab (E. L. HI. S. 51). Taine fordert unbedingte Achtung vor dem, was die Ahnen geschaffen haben. Das Auge des Historikers ruht \u00fcber der Stufenfolge der Culturen mit einem ganz objectiven Blick; er bevorzugt keine Periode und keinen Menschen, mit gleicher Liebe umfasst er alle Stadien, und h\u00fctet sich subjective Abw\u00e4gungen der Perioden in seine Darstellung mit einflie\u00dfen zu lassen. Er bem\u00fcht sich, unter m\u00f6glichstem Ausschluss von Werthma\u00dfst\u00e4ben der Geschichte gerecht zu werden. \u00bbDer Historiker ist der beste, sagte er (E. L. III. S. 438), der mich nicht zwingt, nach ihm zu denken; der sich nicht zwischen mich und die Dinge stellt... ich will eine That-sache und nicht die Erz\u00e4hlung einer Thatsache.\u00ab\nDie Charakteristiken, die Taine vom romanischen und vom germanischen Volkscharakter gab, bieten ein bevorzugtes Beispiel f\u00fcr seine Methode. Von seiner Ardennenheimat her war er selbst ein Mischling zweier V\u00f6lker, ein franz\u00f6sischer Verstand, befruchtet von Ideen germanischen Ursprungs. Besonders der psychologischen Beschaffenheit des franz\u00f6sischen Volksgeistes widmete er eingehende Untersuchungen: \u00bbEs mangelt ihm an jenen Halbvisionen, die den Menschen sch\u00fctteln und ihm in einem Augenblick gro\u00dfe Tiefen und entfernte Aussichten er\u00f6ffnen\u00ab. Die Franzosen \u00bbsind der enthusiastischen Anwandlungen und extremen Schw\u00e4rmereien unf\u00e4hig\u00ab. Dagegen erreichten sie die Vollkommenheit in der Prosa; die \u00bbAusbildung von Allem, was mit der Conversation oder der Beredsamkeit zusammenh\u00e4ngt\u00bb (E. L. I. S. 103). Das Wesentliche des franz\u00f6sischen Geistes besteht nach ihm in der Ausf\u00fchrung allgemeiner Ideen; er erkannte die franz\u00f6sische Cultur als eine rhetorische, die Gabe, sich gut auszudr\u00fccken, als eine Geisteseigenth\u00fcmlichkeit der franz\u00f6sischen Rasse. Er stellte den Satz auf, dass \u00bbkeine Rasse Europas so wenig poetisch sei, wie das franz\u00f6sische Volk\u00ab. Der Franzose galt ihm als Sprecher und Raisonneur. Er l\u00e4sst sich sogar einmal hinrei\u00dfen, von den \u00bbK\u00fcnstler- und Schw\u00e4tzerv\u00f6lkern\u00ab zu sprechen (E. L. I. S. 73). Das Weltleben entwickelte den franz\u00f6sischen Charakter. Die Conversation regte das Denken an; die Franzosen denken nirgends besser als in Gesellschaft. Der \u00bbhonn\u00eate homme\u00ab, der vollendet ist in der Kunst der Repr\u00e4sentation, ist das Product der Gesellschaft in einer geselligen","page":684},{"file":"p0685.txt","language":"de","ocr_de":"Taine und die Culturgeschichte.\n685\nRasse. Geschichtlich ist dieser franz\u00f6sische Typus besonders im monarchischen und classischen Frankreich herausgetreten. Dieser \u00bbclassische Geist\u00ab, eine \u00bbhistorische Kraft ersten Ranges\u00ab (Origines I, S. 232), verdient einen Augenblick n\u00e4her betrachtet zu werden.\n\u00bbDurch seine nat\u00fcrliche Beanlagung und seine Constitution erweist sich das classische Frankreich vor allen Nationen am meisten geeignet f\u00fcr die Sitten des Weltlebens und die Werke des oratorischen Geistes\u00ab (E. L. II. S. 77). Gleichzeitig mit der Monarchie und der feinen Conversation kommt der classische Geist in die H\u00f6he. Das ganze Leben bekam sogleich einen rednerischen und literarischen Anstrich. \u00bbDer classische Geist verdankt seine Entstehung der Gewohnheit, vor einem Salonp\u00fcblikum zu sprechen und f\u00fcr ein solches zu denken und zu schreiben\u00ab. (Origines I. S. 234). \u00bbDie k\u00f6nigliche Suprematie schafft einen Hof, den Mittelpunkt der Gesellschaft, die Quelle aller Huld, den Schauplatz des Glanzes und Genusses. Am Throne werden die vornehmen Herren sofort feine Cavaliere und H\u00f6flinge\u00ab (E. L. H. S. 51). \u00bbWas dem H\u00f6fling am meisten fehlt, ist die wahre Empfindung einer erfundenen pers\u00f6nlichen Idee. Was ihn am meisten interessirt, ist die Correctheit des \u00e4u\u00dferen Schmuckes, die Vollendung des \u00e4u\u00dfern Scheins\u00ab (E. L. H. S. 71). \u00bbIn den Hofsitten ersetzt das Wort die That . . . Die Kunst, zu plaudern, wird die erste von allen . . . Die Conversation soll nicht einer Arbeit, sondern \u00bb einem Spaziergang gleichen. Die neue Literatur wird das Werk und das Bild der Gesellschaft, die zugleich ihr Publicum und ihr Modell war, die aus ihr hervorging und mit ihr endete\u00ab (E. L. n. S. 53). Die Classiker begreifen den Geist nur in seinem cultivirten Zustande, sie haben ihr poetisches Handbuch mit den gestatteten Mustern stets bei sich; \u00bballe Pers\u00f6nlichkeiten, die das Menschliche \u00fcberragen, entgehen ihnen\u00ab. In dieser Epoche sind alle Schriftsteller Weltm\u00e4nner, stolz auf ihre feinen Manieren, auf ihr Leben am Hofe und in vornehmer Gesellschaft, stolz auf ihr chevalereskes Wesen und ihren guten Geschmack. \u00bbIch bin kein Schriftsteller\u00ab, s_agte Congr\u00e8ve zu Voltaire, \u00bbich bin ein Gentleman\u00ab. In der That, wie Pope sagte: \u00bber lebte mehr als ein Mann von Stande, denn als ein Mann der sch\u00f6nen Wissenschaft\u00ab. In dieser Weise entfaltete der classische Geist seine Macht in Frankreich; er war das Modell,","page":685},{"file":"p0686.txt","language":"de","ocr_de":"686\nJulius Zeitler.\naus dem alle Reden, Schriften, Phrasen, das gesammte W\u00f6rterbuch der Revolution hervorgingen.\nIm Gegensatz dazu charakterisirt Taine die Germanen. \u00bbDie Begeisterung ist ihr nat\u00fcrlicher Zustand\u00ab; eine nicht zu z\u00fcgelnde Leidenschaft bricht aus ihnen hervor. Sie galten Taine als die eigentliche poetische Rasse. Ihnen allein schrieb er Bl\u00fcthezeiten der Dichtung zu.\nAuch die Auffassung, die Taine von einigen ber\u00fchmten Historikern hatte, gibt werthvolle Aufschl\u00fcsse \u00fcber seine Methode, \u00fcber seine eigne Art, Geschichte zu treiben. Ueberhaupt k\u00f6nnen in einer Entwicklung der historischen Methode die Pers\u00f6nlichkeiten der Historiker nicht au\u00dfer Betracht bleiben. Diese greifen m\u00e4chtiger in die Entwicklung der Geschichtswissenschaft ein, als man annimmt. Der Process der logischen Fortbildung der Methode kann von machtvollen Individualit\u00e4ten sehr stark beeinflusst werden. Die seelische und geistige Verfassung der Historiker bestimmt auch ihre Sympathien und Tendenzen. Die Individualit\u00e4t eines Forschers spielt schon in der Bevorzugung einzelner Factoren eine Rolle; die historische Abstraction steht unter dem Einfluss seiner besonderen geistigen Auffassung. Nichts gibt tiefere Aufschl\u00fcsse \u00fcber Taine als seine Auffassung der historischen Pers\u00f6nlichkeiten, wie z. B. jene Burke\u2019s (E. L. II. S. 259), der \u00bbdie Gesammtheit der Dinge erfasste und durch die Texte, Constitutionen und Ziffern hindurch den unsichtbaren Gang der Ereignisse und den innern Geist der Dinge wahrnahm\u00ab. Seine Kritiken einer Reihe von Geschichtschreibern sind sehr lehrreich.\nVor intuitiv schaffenden Historikern, wie Michelet oder Carlyle, hatte Taine geringere Achtung. So hoch er als Schriftsteller die Intuition, \u00bbl\u2019inspiration imm\u00e9diate\u00ab stellte, am Historiker sch\u00e4tzte er sie nicht. Von der H\u00f6he seines gro\u00dfes Verstandes beurtheilte er jene als phantasievolle K\u00f6pfe. Neben ihm erscheinen sie in der That als Vision\u00e4re.\nMan betrachte nur einmal das Portr\u00e4t, das Taine von Michelet entwirft. Er charakterisirte die Hauptkraft Michelet\u2019s als die \u00bbinspirirte Einbildungskraft\u00ab und schrieb ihm die vision\u00e4re Macht eines Victor Hugo zu, und zwar \u00bbmehr die Phantasie des Herzens als die des Auges\u00ab (Ess. S. 56). Michelets Genie bestand in der","page":686},{"file":"p0687.txt","language":"de","ocr_de":"Taine und die Culturgeschiclite.\n687\nleidenschaftlichen Eingehung und in einer poetischen Empf\u00e4nglich-lichkeit\u00ab, einer au\u00dferordentlichen Kraft der Nachempfindung. F\u00fcr Michelet sind die Wissenschaft und die Geschichte nicht Werke der Analyse, sondern Werke des Instinkts. \u00bbDiese Empf\u00e4nglichkeit der Phantasie verleiht die historische Begabung, ich meine die Kunst, aus einer Menge von Thatsachen und Ursachen die Ursachen und die Thatsachen, die wichtig sind, herauszuheben\u00ab (Ess. S. 55). Diese Begabung erkennt aber Taine noch nicht als wissenschaftlich an. \u00bbF\u00fcr Michelet ist der Instinkt die Methode; darum verherrlicht er den Instinkt, . . . setzt die Ueherlegung und Analyse herab und erhebt den unvermittelten Glauben und die reflexionslose Ahnung\u00ab. Die andern vermeiden den Dithyrambus als einen Betrug; er gibt sich ihm hin als einem Offenbarer. Wenn es sich aber um Geschichte handelt, glaubt man nicht an Propheten.\nEine \u00e4hnliche Natur, aber auch von eigener Art, ist Paul de St. Viktor. \u00bbWie alle K\u00fcnstler ist er Phantast. Er geh\u00f6rt nicht der Geschichte an, sondern die Geschichte geh\u00f6rt ihm an. Er besch\u00e4ftigt sich nicht mit ihr, um dem Leser das unversehrte und einfache Bild der fr\u00fcheren Menschen und Bassen vor Augen zu f\u00fchren. Er bedient sich der gro\u00dfen Pers\u00f6nlichkeiten der Vergangenheit, um gro\u00dfe Schauspiele aufzuf\u00fchren, und wenn die Sch\u00e4rfe der m\u00e4chtigen und biegsamen Einbildungskraft ihn wie einen Geschichtschreiber bis in das Heiligthum der erloschenen Seelen und der dahingegangenen Civilisationen eindringen l\u00e4sst, entnimmt er ihm nur lebendige Ein-* dr\u00fccke, um daraus tragische oder harmonische Gruppen zu formen\u00ab. (Ess. S. 463.)\nDie Auffassung, die Taine von Carlyle hatte, ist befremdend. Er sprach ihm ein Verh\u00e4ltniss zur Geschichte zu, das nicht ganz stimmen d\u00fcrfte. Carlyle variirt im Grunde nur ein Thema: Dass die Weltgeschichte in der Geschichte der gro\u00dfen M\u00e4nner bestehe, die in der Welt gewirkt und geschaffen haben; die Masse der Menschheit hinkt ihnen hinterdrein; die Beziehungen der Gro\u00dfen zu dieser Masse werden nicht untersucht. F\u00fcr Carlyle ist der gro\u00dfe Mann ein unmittelbar aus Gottes eigener Hand gekommener Blitz. Unter seiner Feder bl\u00e4ht sich die Lebensgeschichte Einzelner zur Weltgeschichte auf.\nTaine interpretirt den heroistischen Standpunkt Carlyle\u2019s so,","page":687},{"file":"p0688.txt","language":"de","ocr_de":"688\nJulius Zeitler.\ndass er fast annehmbar wird, dass er mindestens als Ueberleitung zu seinem eigenen gelten kann. F\u00fcr den mystischen Charakter, den alle Helden Carlyle\u2019s, Dichter, Staatsm\u00e4nner, Reformatoren, Propheten, an sich haben, ist er allerdings nicht blind; dennoch ist ihm der Held \u00bbein Inbegriff der Uebrigen. Er umfasst und repr\u00e4sentirt die Civilisation, die ihn umgibt; er hat eine originale Idee entdeckt, verk\u00fcndet oder ins Werk gesetzt, und seine Zeit ist ihm darin gefolgt. Die Kenntniss eines heroischen Gef\u00fchles gibt insofern auch die Kenntniss eines ganzen Zeitalters\u00ab (E. L. IH. S. 434). Durch diese Methode, meint Taine, hat Carlyle den Weg der Biographie verlassen und erkannt, \u00bbdass eine Civilisation, so weit und zertreut sie auch durch Raum und Zeit sei, ein untheilbares Ganze bildet . . . er hat den tiefen und fernen Zusammenhang der Dinge begriffen, den Zusammenhang, der einen gro\u00dfen Mann mit seiner Zeit verkn\u00fcpft, denjenigen, der die Werke des vollendeten mit dem Lallen des werdenden Denkens verkn\u00fcpft\u00ab (a. a. 0.). Nicht ohne leisen Spott f\u00fcgt er freilich hinzu: \u00bbDiese ungest\u00fcmen Divinationen und Behauptungen ermangeln oft der Beweise\u00ab (E. L. in. S. 401). So ist er in letzter Linie doch f\u00fcr ihn \u00bbeine Art Mastodon\u00ab, ein \u00bbpuritanischer Seher\u00ab.\nAn Guizot, mit dem sich Taine auch einmal besch\u00e4ftigt, r\u00fchmt er \u00bbdie Kunst, die Thatsachen zu gruppiren und aus ihnen die allgemeinen Ideen zu ziehen\u00ab (Ess. S. 21). Aber er ist ihm zu trocken. \u00bbEr gibt sich nicht hin, er ist kein K\u00fcnstler\u00ab (a. a. O. S. 15). \u00bbDer Historiker muss in sich f\u00fcnf oder sechs Dichter einschlie\u00dfen\u00ab (S. 17).\nAm h\u00f6chsten sch\u00e4tzte er Macaulay. Er beschrieb ihn als den Typus des journalistischen Historikers ; er besa\u00df die oratorischen F\u00e4higkeiten im h\u00f6chsten Ma\u00dfe. Seine \u00bbKunst, zu entwickeln, ist das Talent des Advokaten und Redners, f\u00fcr alle Sachen zu plaidiren\u00ab (E. L. III. S. 362). Macaulay war Parlamentsmitglied und sprach so gut, dass man ihm zuh\u00f6rte, aus reiner Freude, ihn zu h\u00f6ren. Die Gewohnheit von der Trib\u00fcne zu sprechen, war vielleicht die Ursache dieser unvergleichlichen Klarheit. Und \u00bbum hei den Engl\u00e4ndern in die Geschichte einzutreten, braucht man blo\u00df von der Kanzel und dem Journale herabzusteigen\u00ab. In der That hatte Macaulay in der Geschichte die Gewohnheiten bewahrt, die er in den Journalen erworben hatte. Es zeichnet ihn aus, dass er fast immer als Zeit-","page":688},{"file":"p0689.txt","language":"de","ocr_de":"Taine und die Culturgeschichte.\n689\ngen\u00f6sse redet. \u00bbWenn die gro\u00dfen Redner zu schreiben bereit sind, so sind sie die gewaltigsten unter den Schriftstellern\u00ab. . . . Alle S\u00e4tze Macaulay\u2019s haben einen begeisterten Accent; man f\u00fchlt, dass er die Geister beherrschen will. \u00bbDie wahre Beredsamkeit ist diejenige, die in solcher Weise das Raisonnement durch die Erregung vollendet, die durch die Einheit der Leidenschaft die Einheit der Ereignisse reproducirt, die den Gang und die Verkettung der That-sachen durch den Gang und die Verkettung der Ideen wiedergibt\u00ab. (E. L. m. S. 332.)\nMacaulay hat das lebhafteste Bewusstsein f\u00fcr die Ursachen, und die Ursachen sind es, welche die Thatsachen verbinden. \u00bbEine Sammlung von Geschichten ist noch keine Geschichte\u00ab (E. L. III. S. 353). Was Macaulay schrieb, war Geschichte.\nIn den Origines befinden sich auch einige Ausf\u00fchrungen Tai ne\u2019s \u00fcber die Auffassung, die Napoleon vom Beruf des Historikers hatte. Sie erg\u00e4nzen die Charakteristiken, die Taine von den Aufgaben des Geschichtschreibers gibt, auf\u2019s gl\u00fccklichste.\nTaine gibt sie ganz ohne Commentar. Napoleon hielt die Feststellung der Geschichte Frankreichs f\u00fcr eine Sache der Regierung: es d\u00fcnkte ihm nothwendig, sie zu beeinflussen und zu lenken, sie geradezu zu machen. \u00bbIch kenne keine wichtigere Arbeit\u00ab, sagte er, \u00bbvor Allem hei\u00dft es sich des Geistes versichern, in welchem Geschichte geschrieben werden soll. Die Urtheile des Historikers \u00fcber die Vergangenheit sollen wohl berechnet sein\u00ab (Or. 6 S. 202). Im Umkreis der Throne denkt man heute noch nicht viel anders.\nTaine hat es mannigfach geschildert, inwiefern Dichter und Schriftsteller als Culturhistoriker verfahren. Es ist hier unm\u00f6glich, ihm in diese Details zu folgen. Dagegen darf seine Auffassung des historischen Romans nicht unbeachtet bleiben. Er war ein schroffer Gegner desselben. Walter Scott bot ihm den Anlass, seine Meinung kundzugeben. Der historische Roman ist \u00bbfast nur Decoration und Inscenirung; die Gef\u00fchle sind k\u00fcnstlich; es sind Operngef\u00fchle; die Dichter sind nur geschickte Leute, Verfertiger von Texten und bunter Leinwand; sie haben Talent und kein Genie; sie entnehmen ihre Ideen nicht ihrem Herzen, sondern ihrem Kopfe\u00ab . . . (E. L. in. S. 50), sie kennen die vergangenen Zeiten und die fernen L\u00e4nder nur als Alterthumsforscher und als Reisende. Taine vertritt ihnen\nWnndt, Philos. Studien. XX.\n44","page":689},{"file":"p0690.txt","language":"de","ocr_de":"690\nJulius Zeitler.\ngegen\u00fcber die Einsicht, dass \u00bbdie versuchten Wiederbelebungen immer unvollkommen sind, dass jede Nachahmung nur ein Abklatsch ist; dass der moderne Ton unfehlbar aus den Worten hervorklingt, die wir den archaischen Charakteren beilegen, dass jedes Sittengem\u00e4lde einheitlich und gleichzeitig sein muss, und dass die arch\u00e4ologische Literatur eine verkehrte G-attung ist\u00ab (E. L. HL S. 47). Das Bild der Vergangenheit muss man bei den Schriftstellern der Vergangenheit suchen ; der erdichtete Roman muss den authentischen Memoiren Platz machen; die historische Literatur muss sich in Kritik und Geschichte verwandeln.\nIm Allgemeinen hat Ta.ine alle Forderungen, die er an den Historiker stellt, bei der Kritik Michelets zusammengefasst. \u00bbDie Geschichte ist eine Kunst, aber sie ist auch eine Wissenschaft; sie verlangt von dem Schriftsteller die Eingebung, aber sie verlangt von ihm auch die Ueberlegung. Hat sie als Mitarbeiterin die sch\u00f6pferische Phantasie, so hat sie als Werkzeug die bed\u00e4chtige Kritik und die umsichtige Verallgemeinerung. Seine Bilder sollen ebenso lebendig sein, wie die der Poesie, aber sein Stil soll ebenso genau, seine Eintheilung ebenso deutlich, seine Gesetze ebenso bewiesen, seine Folgerung ebenso zwingend sein wie die der Naturgeschichte\u00ab (Ess. S. 56).\nn.\nIn der modernen Auffassung ist alle Geschichte Gesellschaftsgeschichte; der ganze Umkreis der Mitglieder einer Volksgemeinschaft geh\u00f6rt dazu. Der fr\u00fchere Geschichtsbegriff betraf nur einen Ausschnitt aus der Gemeinschaft und nicht einmal einen repr\u00e4sentativen. Der Einzelne ist mit seinem Leben in die Geschichte hineingebettet; jede Individualgeschichte ruht auf einem sociologischen Fundament. Der Einzelne ist als Object der Geschichte an die Socialgeschichte gebunden. Neuere Historiker lehnen das Individuum wohl nicht unbedingt ab, aber sie weisen es aus dem Bereich der wissenschaftlichen Geschichte hinaus. Die Geschichte ist nach ihrer Meinung nicht dazu da, die R\u00e4thsel des Individuums zu l\u00f6sen.\nDie Geschichte hat es aber mit einem andern Begriff des Individuums zu thun als die Philosophie ; f\u00fcr die letztere ist es eine Abstraction. Das historische Individuum hat aber sehr wohl concreten","page":690},{"file":"p0691.txt","language":"de","ocr_de":"Taiiie und die Culturgeschichte.\n691\nInhalt, mit dem gerechnet werden muss. Mit diesem Missverst\u00e4ndnis h\u00e4ngt es wohl zusammen, dass die sociologische Geschichtsauffassung das Individuum wie einen Pfahl im Fleisch empfindet, der herausgebrannt werden muss. Die collectivistische Geschichte liebt den einzelnen Menschen nicht, sie liebt ihre Begriffe, und der Teufel soll das Individuum holen, das nicht auf ihr Streckbett passt. Eigentlich kann aber die Geschichte blo\u00df den Pers\u00f6nlichkeitsbegriff brauchen; in diesem sind von vornherein ganze Gebiete der Umwelt und socialen Lage, wie sonstige Determinationen eingeschlossen. Das ist beim politischen' Kopf nicht weniger der Fall wie beim K\u00fcnstler. Jede psychologische Constellation ist einzig; je werthvoller sie ist, desto gr\u00f6\u00dfer ist ihre Oulturbedeutung. Das sociale Individuum f\u00fcr eine blo\u00dfe Abstraction zu halten, ist ein ebensogro\u00dfer Fehler, wie die sociale Gemeinschaft f\u00fcr eine blo\u00dfe Summe von Individuen zu nehmen. Nun sind in einer geistigen Gemeinschaft keine anderen psychischen Kr\u00e4fte wirksam, wie in den Individuen, die sie zusammensetzen. Das Individuum wird so der Tr\u00e4ger der in allen th\u00e4tigen psychischen Energien. Die geistigen und seelischen Eigenschaften des individuellen Menschen bilden die letzte Wurzel zu allen Arten von geistigen Vorg\u00e4ngen und geistigen Sch\u00f6pfungen. Es wird darum den Collec-tivisten nicht ohne weiteres m\u00f6glich sein, das Individuum auszul\u00f6schen.\nIn den Streit zwischen Collectivisten und Individualisten kam erst einige Klarheit, als man die Wissenschaftsgebiete, um die es sich handelt, genauer von einander trennte. Man gab wohl zu, dass das * Individuum mit einem Theil seines Wesens in den historischen Process eintrete; der ganze \u00fcbrige Theil blieb andern Wissenschaften \u00fcberlassen. Hier war die Psychologie allein zust\u00e4ndig; je schroffer man die Geschichte als eine Gesetzeswissenschaft definirte, desto mehr arbeitete man daran, der Psychologie alle Individualgeschichte mehr oder weniger anzugliedem. Und lie\u00df man auch jenen Theil des Individuums einmal gelten, so waren ihm doch die Nothwendigkeiten der socialpsychischen Kr\u00e4fte unbedingt \u00fcberlegen. Der sociale Mensch war eingespannt in das Joch des Geschehens und erfreute sich nur in einer einseitigen Abh\u00e4ngigkeit von der socialpsychologischen Grundlage einer gewissen Duldung.\nNun kann aber der Historiker mehr als nur die Thatsache eines Individuums feststellen, er kann auch das Typische daraus erkennen\n44*","page":691},{"file":"p0692.txt","language":"de","ocr_de":"692\nJulius Zeitler.\nund herausl\u00f6sen und hat das in der Praxis bisher auch durchweg gethan. Es scheint, der Kampf zwischen massenpsychologischer und individualpsychologischer Auffassung der Geschichte, zwischen der unbekannten Menge und den Helden als Tr\u00e4gern des Geschehens kann nur durch eine historische Typenlehre gel\u00f6st werden. Gerade nach den Wandlungen der Methode hat die Geschichte die Aufgabe, das Individuum irgendwie zu fassen; es l\u00e4sst sich aber geschichtlich nicht anders fassen als durch seine typischen Eigenschaften, die singul\u00e4ren entschl\u00fcpfen der ordnenden Hand des Historikers immer wieder. Es ist eine seiner Aufgaben, das Individuum auf Typen zu bringen, da er es psychologisch nicht ersch\u00f6pfen kann.\nIn der Geschichte handelt es sich also sowohl um Massenbewegungen, als Typenentwicklungen. Der Begriff der Typen umschlie\u00dft die Individualit\u00e4ten und Pers\u00f6nlichkeiten, soweit sie am geschichtlichen Process theilhaben. Dieser Antheil entzieht sich keineswegs der Bestimmung. Das geschichtliche Ged\u00e4chtniss h\u00e4lt an sich nur jene Z\u00fcge der Pers\u00f6nlichkeiten fest, die f\u00fcr den allgemeinen Verlauf der Dinge von unwiderleglicher Bedeutung sind. Der geschichtliche Beitrag jedes Individuums ist wohl gebucht; mag er auch in einer schwankenden Weise von den Historikern gesch\u00e4tzt werden. In gro\u00dfen Umrissen steht er fest. Man ist sich also dar\u00fcber klar, in welchem Ma\u00dfe die historischen Individuen zum Strom der Geschichte beigetragen haben. Dieses Material bietet die Mittel an die Hand, die Beitr\u00e4ge der Einzelnen zu vergleichen, auf ihre Wesensz\u00fcge zu untersuchen und f\u00fcr jedes Zeitalter unter einen Generalnenner zu bringen. Der \u00bbStandpunkt der die Historiker die geschichtlichen Str\u00f6mungen \u00fcbersehen l\u00e4sst, muss freilich hoch genug sein; dass auch gr\u00f6\u00dfere Pers\u00f6nlichkeiten mit ihm erfasst werden k\u00f6nnen. Wenn der Standpunkt zu niedrig ist, als dass er die bedeutenderen Individualit\u00e4ten mit umschl\u00f6sse, so f\u00e4llt auch die von ihm aus construirte historische Str\u00f6mung dahin.\nDer sociologischen Geschichte kommt es scheinbar nur auf die gro\u00dfen Culturstr\u00f6mungen an, und jeder Blick darauf lehrt, dass in ihr doch die Pers\u00f6nlichkeiten nicht entbehrt werden k\u00f6nnen. Die Schilderung der Zust\u00e4nde ist ohne individuelle Details gar nicht m\u00f6glich. Individualit\u00e4ten m\u00fcssen auf jeder Seite die Culturgeschichte illustriren. Dadurch wird die theoretische Missachtung der Person-","page":692},{"file":"p0693.txt","language":"de","ocr_de":"Taine und die Culturgeschichte.\n693\nlichkeit zu einem guten Theile widerlegt. Gewisse Individualit\u00e4ten m\u00fcssen immer als Repr\u00e4sentanten, als Tr\u00e4ger der Epoche, eingef\u00fclirt werden, denn die Pers\u00f6nlichkeiten sind es ehen, an denen und mittels deren sich der Geschichtswandel am deutlichsten documentirt. Aus der Darstellung, auch des extremsten Sociologen, heben sich die Individualit\u00e4ten wie Bergesgipfel empor. Freilich nicht unverk\u00fcmmert, denn ein \u00fcberhistorisches, n\u00e4mlich psychologisches Ahw\u00e4gen und dergleichen kennt, er nicht; er klemmt alles in das Prokrustesbett des geschichtlichen Verlaufs, wie er ihn sich vorstellt. Allerdings: er reiht die bedeutenden Individuen in seine Darstellung mit ein, aber er kappt sie, er bearbeitet sie mit der historischen Scheere, um sie f\u00fcr seinen Gebrauch, d. h. f\u00fcr seine Darstellung von der Epoche zurechtzuschneiden. Die Ueberragenden gehen unter seinen H\u00e4nden nicht mit ihrer Individualit\u00e4t in den Process der Geschichte ein, sondern verst\u00fcmmelt. Immerhin: die Geschichte kommt also \u00fcberhaupt nicht ohne Pers\u00f6nlichkeiten aus. Und sie muss jedes Mal dann eine Pers\u00f6nlichkeit in den Mittelpunkt stellen, wenn sie repr\u00e4sentativ ist f\u00fcr ihre Epoche. Der ganze Strom der Geschichte geht durch sie hindurch; in ihr, als dem bevorzugten Tr\u00e4ger des Geschehens, sind die Zust\u00e4nde und Ereignisse gleichsam krystallisirt. Es gibt Individuen, die ganz restlos ihre zeitgen\u00f6ssische Geschichte umschreiben; typische Pers\u00f6nlichkeiten, auf deren zwei Augen ganz allein eine historische Str\u00f6mung beruht. Das sind die Leute, die am Webstuhl der Geschichte sitzen; Geschichte wird \u00fcberhaupt immer noch gemacht, nicht mehr von K\u00f6nigen, wie es \u00fcberhaupt selten geschehen, sondern von den Oulturtr\u00e4gem.\nDie typischen Erscheinungen in den historischen Pers\u00f6nlichkeiten sind die f\u00fcr die Geschichte allein bedeutsamen, ganz abgesehen davon, ob sie gegen\u00fcber den singul\u00e4ren gr\u00f6\u00dfere oder geringere Macht besitzen. Die Typik eines Individuums zeigt den Grad an, in dem social-psychische Kr\u00e4fte in ihm wirksam sind ; alle personalen Tendenzen und Richtlinien f\u00fchren ja irgendwie in den allgemeinen Gang der Zeit hinein. Nur die Typik bringt Ordnung in die reiche Mannigfaltigkeit des individualgeschichtlichen Lebens. Geschichtlich kann der Einzelne garnicht anders gefasst werden, als mit dem Netz des Typus. Die Geschichte kann jene Theilgebiete, die nicht in den Typus fallen, entweder als R\u00fcckst\u00e4ndigkeiten oder als Vorl\u00e4ufer-","page":693},{"file":"p0694.txt","language":"de","ocr_de":"694\nJulius Zeitler.\nqualit\u00e4ten erfassen. Mit dem Rest gibt sie sich nicht weiter ab. Den \u00fcberl\u00e4sst sie den Psychologen und Psychiatern.\nIn Taine\u2019s Werken nun sind alle Bausteine zu einer Typenlehre gegeben. Bei seiner systematischen Auffassung der Geschichte lie\u00df er dem Individuum fast keinen Raum. Nat\u00fcrlich widerstrebte es dem Geschichtstheoretiker, individuelle Verdienste anzuerkennen, eine Leistung auf pers\u00f6nliche F\u00e4higkeiten zur\u00fcckzuf\u00fchren. Aber sein eigentliches K\u00f6nnen gipfelte durchaus nicht in seiner mechanischen Methode; er sah die Dinge vielmehr mit synthetischen Augen. Mit einer au\u00dferordentlichen Kraft der historischen Einf\u00fchlung und Intuition vermochte sich Taine in die Seele der Geschichte zu versetzen, mit gleicher Liebe umfasste er die gro\u00dfen Bewegungen des V\u00f6lkergeschehens, wie die innersten Wandlungen im Herzen der hervorragenden historischen Typen. Als \u00bbRepr\u00e4sentanten einer Art\u00ab traten die Individuen in alle seine culturgeschichtlichen Darstellungen mit ein. Er verk\u00f6rperte sich die Zeitalter in einer repr\u00e4sentativen Pers\u00f6nlichkeit, in einem Typus. Auf diese Verk\u00f6rperung wandte er die Farbenpracht eines Romanschriftstellers. Das war in seinen politischen Darstellungen nicht weniger der Fall, als in seinen literarischen und kunstgeschichtlichen. Die Portr\u00e4ts, die er von den Jakobinern und von Napoleon gegeben hat, sind ganz nach dieser Methode entworfen; sie strotzen von Lebensf\u00fclle und geben zugleich in jedem einzelnen Zuge die historische Structur kund. Der Forscher, der zuerst das Gesetz der Relationen aufgestellt hatte, konnte auch an dem Verh\u00e4ltniss der leitenden Menschen zu der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung nicht vor\u00fcbergehen.\nIn jener Vorrede zu den Essays hat Taine keineswegs die Einw\u00e4nde \u00fcbersehen, die vom Gegner erhoben werden konnten: \u00bbEr wirft ihnen vor, dass sie die nationalen Charaktere und die allgemeinen Verh\u00e4ltnisse als die einzigen gro\u00dfen Kr\u00e4fte in der Geschichte betrachten, und von dieser Behauptung ausgehend behauptet er, dass sie das Individuum unterdr\u00fccken. Er vergisst, dass diese gro\u00dfen Kr\u00e4fte nur die Summe sind von den Neigungen und Gaben der Individuen, dass unsere allgemeinen Beziehungen Sammelbegriffe sind und dass die Individuen in einem Volke, einem Jahrhundert oder einer Rasse ebenso vorhanden sind und wirken, wie die Summanden in einer Addition\u00ab (Ess. S. 23). Wer dem Historiker vorwirft, dass","page":694},{"file":"p0695.txt","language":"de","ocr_de":"Taine und die Culturgeschichte.\n695\ner die unabh\u00e4ngige und freie Pers\u00f6nlichkeit leugne, der \u00bbvergisst, was eine individuelle Seele ist, wie er k\u00fcrzlich verga\u00df, was eine historische Macht ist; er trennt das Wort von der Sache; er nimmt ihm seinen Inhalt und stellt es beiseite, wie ein selbstschaffendes und besonderes Wesen. Er h\u00f6rt auf, in der individuellen Seele, wie vorhin in der historischen Macht, die Elemente zu sehen, die jenen bilden, vorhin die Individuen, von denen die geschichtliche Macht nur die Summe ist, jetzt die F\u00e4higkeiten und Neigungen, von denen die individuelle Seele nur die Gesammtheit ist. Er sieht nicht, dass die grundlegenden F\u00e4higkeiten und Neigungen einer Seele ihr geh\u00f6ren, dass diejenigen, die sie in der allgemeinen Lage oder durch den Charakter erhalt, ihr vor allem pers\u00f6nlich angeh\u00f6ren und angeh\u00f6ren werden, dass, wenn sie durch diese wirkt, sie es von selber thut, durch eigne Kraft, freiwillig, mit vollster Initiative, unter voller Verantwortlichkeit und durch die Analyse, durch welche man ihre Haupttriebe, ihr allm\u00e4hliches Eingreifen und die Verbreitung ihrer ersten Bewegung, das Ganze, das sie selbst ist, nicht hindert, aus sich selbst seinen Schwung und seine Richtung zu nehmen, d. h. seine Kraft und seine Wirkung\u00ab.\nEs lag also gar nicht in Taine\u2019s Absicht, der Individualit\u00e4t ihre Rechte vorzuenthalten. In seiner Praxis trug er den personalen Tendenzen reichlich Rechnung, uneingestanden liebte er die bedeutenden Menschen, denen er vom Standpunkt deiner Geschichtstheorie aus keinen Vorzug einr\u00e4umen durfte. Jedenfalls ging sein Streben stets nach der Erfassung der typischen Z\u00fcge, wie er denn \u25a0auch der Ansicht war, dass \u00bbsich jeder Mensch in den Augen eines Menschenkenners auf drei oder vier Hauptz\u00fcge reducire, die durch f\u00fcnf oder sechs bezeichnende Handlungen vollst\u00e4ndig zum Ausdruck kommen\u00ab. In seinem Drang nach Vereinfachung glaubte er auch, die\" seelischen und die gesellschaftlichen Bewegungen einer gro\u00dfen Gesammtheit auf eine centrale Kraft zur\u00fcckf\u00fchren zu k\u00f6nnen.\nWie stark Taine schon auf eine Typenlehre hinzielte, zeigt, dass er in seiner Methode von den Charakteren, die kleinere Gruppen bestimmen, zu denen aufsteigt, die gr\u00f6\u00dfere Gruppen bestimmen. Bei der Verallgemeinerung von Einzelf\u00e4llen gebraucht er die gr\u00f6\u00dfte Vorsicht. Das Verfahren Michelet\u2019s bedenkt er mit einer herben R\u00fcge: \u00bbDas Misstrauen macht sich geltend, wenn man eine kleine Handlung als Symbol einer Civilisation aufgestellt, ein Individuum","page":695},{"file":"p0696.txt","language":"de","ocr_de":"696\nJulius Zeitler.\nzu einem Vertreter einer Epoche umgebildet, manche Pers\u00f6nlichkeit zu einem Abgesandten der Vorsehung oder der Notwendigkeit umgestaltet sieht, die Ideen sich in Personen verk\u00f6rpern, die Menschen ihre Gestalt und ihren wahren Charakter verlieren, damit sie Theile der Geschichte werden\u00ab (Ess. S. 55). Wenn Taine einen Danton als einen Typus der Revolution aufstellte, so geschah das unter reichster Begr\u00fcndung; es ist bedeutsam, dass er die Marat und Napoleon mehr als charakteristische psychologische Typen der Revolutionszeit schilderte, denn als Tr\u00e4ger bestimmter geschichtlicher Vorg\u00e4nge; er setzte die Kenntniss ihres historischen Wirkens voraus, ihn mteressirte nur, was sie als Typen bedeuteten. Eines der vornehmsten Beispiele, wie Taine einen Typus beschreibt, liegt in seiner Balzacfigur; um dessen Eigenart zu schildern, brachte er eine ganze Anzahl von bezeichnenden Begriffen zusammen. Aehnlich bei Milton, den er auf ein ganz logisches Schema stellte.\nEs ist hier zwischen dem idealen Vorbild, der historischen Pers\u00f6nlichkeit und dem historischen Typus genau zu unterscheiden. Das ideale Vorbild wechselt mit den Verh\u00e4ltnissen, die es formen, jedes Zeitalter hat das seine, das, \u00bbdunkel oder bestimmt, vollendet oder blo\u00df angedeutet, vor seinen Augen schwebt, alle seine Bestrebungen, Anstrengungen und Kr\u00e4fte concentrirt und den Menschen Jahrhunderte lang einem\u2022 einzigen Zweck zutreibt.\u00ab (E. L. III. S. 161.) So ist das Ideal der Renaissance, an das sich alle Gedanken kn\u00fcpfen der starke, gl\u00fcckliche, machtvolle Mensch. Man kann sogar eine Analogie zwischen dem Verfahren der Historiker und dem der Dichter construiren. Jede Literatur einer bestimmten Epoche stellt n\u00e4mlich einen bestimmten menschlichen Typus auf, den die Dichter aus sich heraus arbeiten, als menschliches Vorbild, als Beispiel. Zun\u00e4chst projiciren sie ein Idealbild von sich selbst in die Dichtung, dann formen sie es nach dem herrschenden Menschen, oder es schwebt ihnen schon ein dichterisches Vorbild vor. Sie entnehmen ihre Hauptz\u00fcge dazu den dominirenden Pers\u00f6nlichkeiten ihrer Umgebung, s\u00e4ttigen ihren Typus also durchaus mit Wirklichkeitselementen. \u2019Es gibt eine notwendige Wechselbeziehung zwischen dem Geist eines Dichters, der ihn umgebenden Welt und den Charakteren, die er schafft. Denn aus dieser Welt nimmt er den Stoff, aus dem er sie formt, die Gef\u00fchle, die er an anderen beobachtet und in sich","page":696},{"file":"p0697.txt","language":"de","ocr_de":"Taine und die Culturgeschichte.\n697\nselbst empfindet, erhalten nach und nach Leben nnd Gestalt; sein eigenes Wesen und die gesammelte Erfahrung ist die Basis seines Schaffens, und seine Charaktere stellen nur dar, was er selbst ist, fassen nur zusammen, was er gesehen und erlebt hat.\u00ab (E. L. IL S. 89.) \u00bbDas ideale Vorbild dr\u00fcckt immer die wirkliche Lage aus, und die Phantasiegebilde thun, gleich den Geistesbegriffen, nur den Zustand der Gesellschaft und den Grad der Wohlfahrt kund. Es besteht eine bestimmte Verbindung zwischen dem, was der Mensch ist und dem, was er bewundert.\u00ab (E. L. I. S. 230.) Das ist sehr begr\u00fcndet, denn \u00bbwenn ein Schriftsteller die Eigenth\u00fcmlichkeit seines Jahrhunderts vollkommen auszudr\u00fccken vermag, so kommt es daher, dass er sie selbst hat. Es besteht eine genaue Wechselbeziehung zwischen dem allgemeinen Empfinden und seinem pers\u00f6nlichen Empfinden. Sein Geist ist gleichsam der verk\u00fcrzte Geist des andern, und man findet bei ihm in noch st\u00e4rkerem Ma\u00dfe als bei den anderen die Grundz\u00fcge und die Umst\u00e4nde, die den Geschmack seiner Zeitgenossen gebildet haben.\u00ab (Ess. S. 379.)\nNicht anders, wie der dichterische Typus einer Zeit bildet sich auch der wirkliche, derjenige, der sp\u00e4ter sein Wesen in der Geschichte abgedr\u00fcckt haben wird, die reale historische Pers\u00f6nlichkeit. Jede Kulturepoche ist durch einen Reichthum an psychologischen Verfassungen ausgezeichnet. Diese Vielf\u00e4ltigkeit von Seelen hat bei aller Disgregation gewisse gemeinsame Tendenzen. Das Princip der nat\u00fcrlichen Auslese hat nach Taine auch in der Geschichte seine Analogie. \u00bbDie Historiker k\u00f6nnen nachweisen, dass in einer Gruppe von Menschen die Individuen, welche das h\u00f6chste Ansehen und die h\u00f6chste Entwickelung erreichen, diejenigen sind, deren F\u00e4higkeiten und Neigungen am besten denen der Gruppe entsprechen, dass die moralische wie die physische Umgebung auf jedes Individuum durch best\u00e4ndige Anregungen und Hemmungen einwirkt, dass sie die einen unterdr\u00fcckt und die anderen wachsen l\u00e4sst, im Verh\u00e4ltniss zu der Uebereinstimmung und der Verschiedenheit, die sich zwischen ihnen und ihr selbst finden, dass diese unbewusste Arbeit ebenso eine Auslese ist und dass auch eine Reihe von unmerklichen Gestaltungen und Missbildungen die Entwickelung der Umgebung auf die B\u00fchne der Geschichte, die K\u00fcnstler, die Philosophen, die religi\u00f6sen Reformatoren und die Politiker f\u00fchrt, die f\u00e4hig sind, den Gedanken ihres","page":697},{"file":"p0698.txt","language":"de","ocr_de":"698\nJulius Zeitler.\nZeitalters oder ihrer Rasse zu verdolmetschen oder zu vollenden.\u00ab (Ess. Yorr. S. 26.)\nDer Mensch braucht blo\u00df die Entwickelung seiner Gesellschaft seiner Stadt, seines Volkes hingebungsvoll mitzuleben, so verk\u00f6rpert er auch eine bestimmte Tjpik der Ereignisse; die Zust\u00e4nde graben ihre Spuren in ihn ein. Die historischen Untersuchungen beginnen nicht einseitig mit Betrachtungen dar\u00fcber, wie sich aus den allgemeinen geistigen Tendenzen der Charakter eines Zeitalters erhebt, sondern damit, dass sie darnach fragen, in welcher Weise sich jene geistigen Tendenzen in einzelnen Individuen verk\u00f6rpert haben und durch sie wieder auf die Gesammtentwicklung zur\u00fcckwirken. \u00bbAuch die leitenden Pers\u00f6nlichkeiten einer gegebenen Zeit haben wegen der Bedeutung, die sie f\u00fcr diese Zeit besitzen, ihren eigenen unvergleichlichen Werth, der uns durch irgendeine einer anderen Zeit angeh\u00f6rende Pers\u00f6nlichkeit ebensowenig ersetzt werden kann, wie die Zeiten selber einander ersetzen k\u00f6nnen.\u00ab1)\nDas wissenschaftliche Verfahren, das der Historiker anwenden mu\u00df, um aus den realen Pers\u00f6nlichkeiten typische Eigenschaften zu gewinnen, besteht in der Hervorhebung und Vereinigung der gemeinsamen Z\u00fcge. Die Typik entspringt aus der Vereinigung gleichartiger Thatsachen, die einem ganzen Zusammenhang entnommen sind. Das ist bei dem seelischen Thatsachencomplex einer Individualit\u00e4t nicht anders der Fall, als bei dem einer Gruppe, eines Staates, einer Epoche. Das Typische wird mittels des vergleichenden Urtheils festgestellt; finden sich an einer Anzahl von Objecten Gleichartigkeiten, so werden diese unter einen Begriff subsumirt; diese Gleichartigkeiten bestimmen den Typus, der Begriff bezeichnet ihn. Der Typus entsteht also durch Rationalisirung des Objectes ; was sich dieser entzieht, f\u00e4llt auch au\u00dferhalb des Bereiches der Geschichte. Die unterscheidenden Z\u00fcge k\u00f6nnen charakteristische sein ; aber diese geringen Differenzen interessiren die Geschichte nicht. Durch constant angewandte Abgrenzung des Bereichs des Typischen von dem des Singul\u00e4ren wird das Irrationale im Individuum immer mehr eingeengt, freilich nie aufgel\u00f6st. Das Typische ist collectiv ; der Rest ist singul\u00e4r und geht die Geschichte nichts an.\n1) Wundt, Logik. II. 2. S. 432.","page":698},{"file":"p0699.txt","language":"de","ocr_de":"Taine und die Culturgeschichte.\n699\nDie Einzelnen haben in jedem Zeitalter eine psychische Verfassung; ihre einzelnen Wesensz\u00fcge k\u00f6nnen erfasst werden; durch die Vergleichung vieler solcher Z\u00fcge erh\u00e4lt man die Hauptz\u00fcge der Menschen einer Zeit; ihre Synthese erzeugt den typischen Menschen, jenen Typus, der f\u00fcr eine gro\u00dfe Anzahl eines bestimmten Cultur-kreises repr\u00e4sentativ ist und exemplarischen Charakter hat.\nDie historischen Individualit\u00e4ten sind es, die den Historikern das vornehmste Material zur Constituirung des Typus liefern. Alle Documente und Monumente, von denen aus sie in den Menschen ein-dringen k\u00f6nnen, dienen diesem Zweck. So weit eine Individualit\u00e4t typisch gefasst werden kann, so weit ist sie gesetzm\u00e4\u00dfig, so weit tritt sie in die Geschichte mit hinein.\nAus jedem Zeitalter ragt eine Menge von historischen Menschen, die sich in ihrer Gesammtheit von den vorhergehenden, wie von den nachfolgenden unterscheiden. Die Analyse der ihnen gemeinschaftlichen Z\u00fcge, und ihre Zusammenfassung in Grundbegriffe ergibt den psychischen Zustand der Epoche. Die Vereinigung der dominirenden und entwicklungstechnisch hervorragenden Z\u00fcge der historischen Pers\u00f6nlichkeiten gibt den historischen Typus der Epoche. Die Cultur-verfassung einer Epoche hat immer als Gegenpol den entsprechenden Culturtypus. Sie k\u00f6nnen gar nicht ohne einander geschildert werden. Der Historiker muss stets zu Typen greifen, um daran die Verfassung zu demonstriren, und er kann die Hauptz\u00fcge einer Epoche gar nicht anders schildern, als indem er aus den Typen deducirt. Er muss in der Zeichnung der Zust\u00e4nde immer auf die Typen hinweisen, die Eepr\u00e4sentanten schimmern allenthalhen durch die Darstellung, wie die Leitmuscheln aus den Juraschichten, wie die Eubine aus dem geologischen Lager, in das sie gebettet sind. Mit diesen Eepr\u00e4sen-tanten und Typen hat die Geschichte zu rechnen, als mit gesetzm\u00e4\u00dfigen Complexionen, die im historischen Verlauf ihre bestimmte Bedeutung haben. In dem Begriff des Typus ist die gesammte jeweilige Epoche krystallisirt.\nDurch geschichtliche Auslese entwickeln sich aus den historischen Pers\u00f6nlichkeiten die typischen. Identisch sind beide durchaus nicht. Menschen des Mittelma\u00dfes, Angeh\u00f6rige der Masse, k\u00f6nnen noch nicht als Eepr\u00e4sentanten ihrer Easse oder Gruppe aufgestellt werden. Auf die Vereinigung aller Z\u00fcge, welche die Easse oder Gruppe","page":699},{"file":"p0700.txt","language":"de","ocr_de":"700\nJulius Zeitler.\nauszeichnen, kommt es an. Jenen Zweck erf\u00fcllen nur Pers\u00f6nlichkeiten, die Culturwelten in sich verdichtet haben, Menschen wie Goethe, deren Leben ein Symbol ist f\u00fcr das Leben von Tausenden. Allerdings sind in den realen Pers\u00f6nlichkeiten, die dem Historiker zum Studium der Seele der Zeitalter zur Verf\u00fcgung stehen, stets zugleich mehr oder weniger vollendete Typen der Geschichte gegeben; aber sie sind umso brauchbarer, je mehr schon die Zeit ihre Auslese an ihnen vollbracht hat.\nEs k\u00f6nnte eine Schwierigkeit darin gefunden werden, dass die hervorragenden Individualit\u00e4ten einer Zeit complexe Naturen sind, w\u00e4hrend doch haupts\u00e4chlich auf die primitiven Z\u00fcge zur\u00fcckgegangen werden muss. Es kann zugestanden werden, dass es hei den com-plicirten Naturen schwieriger ist, den psychischen Verflechtungen nachzugehen, w\u00e4hrend die einfachen Naturen viele Z\u00fcge reiner hergeben. Dadurch wird aber der eigentliche Werth der typischen Pers\u00f6nlichkeit nicht angetastet. Ein Mensch ist umso brauchbarer f\u00fcr die Geschichte, je typischer er ist. Mit dem historischen Fortgang aber wird der Typus immer intensiver.\nDie f\u00fchrenden leitenden Pers\u00f6nlichkeiten, die hervorragenden K\u00f6pfe, die Mittelpunkte ihrer socialen Kreise, Repr\u00e4sentanten ihrer Gruppe, hei denen alle Z\u00fcge des zugeh\u00f6rigen Kreises geh\u00f6ht Vorkommen, aus diesen gehen die typischen Pers\u00f6nlichkeiten hervor. Die Verwandtschaft der sogenannten gro\u00dfen Menschen mit den Typen kann nicht geleugnet werden. Der \u00fcberragende Mensch ist als Typus f\u00fcr die Geschichte am fruchtbarsten. Die gro\u00dfen Menschen k\u00f6nnen die Typen f\u00fcr ihr Zeitalter sein. Im Typus finden sie ihre geschichtliche Erl\u00f6sung.\nIn den gro\u00dfen historischen Pers\u00f6nlichkeiten also hat der Historiker die psychischen Realit\u00e4ten vor sich, \u00fcber die hinaus er seine Abstractionsarbeit fortsetzt zur Aufstellung des Typus. Der Typus ist weiter nichts als die ideale historische Pers\u00f6nlichkeit. Jede solche ist f\u00fcr einen bestimmten engeren oder weiteren socialen Kreis repr\u00e4sentativ, sie stellt ihn dar, der Kreis enth\u00e4lt keine Z\u00fcge, die nicht schon in der Pers\u00f6nlichkeit gefunden werden k\u00f6nnten. Mit einem Schlage illustr\u00e2t die Nennung solcher Pers\u00f6nlichkeiten ganze Zeitalter, wenn sie nicht von vorn herein nach ihnen genannt werden. Dies geschieht, sobald die exemplarische Eigenschaft eines f\u00fchrenden","page":700},{"file":"p0701.txt","language":"de","ocr_de":"Taine und die Culturgeschichte.\t701\nMenschen f\u00fcr seine Epoche erkannt worden ist. Die Zeitgenossen erkennen den Herrschenden durchaus nicht bewusst als den f\u00fcr ihre Gesammtheit typischen Menschen; das thun erst die Sp\u00e4teren, denen die Congruenz des Menschen mit seinem socialen Kreise ganz seltsam aufgeht; indem sie ihn dann noch mit den reichsten Z\u00fcgen ausstatten, die sie der Epoche \u00fcberhaupt entnehmen k\u00f6nnen, idealisiren sie ihn zum Typus.\nDie \u00bbeinzelnen starken und m\u00e4chtigen Individuen\u00ab, in denen, nach Ranke, neue geistige Str\u00f6mungen zum Durchbruch gelangen, um dann in immer weitere Kreise zu dringen, das sind die typischen Pers\u00f6nlichkeiten, die gerade aus den Einschr\u00e4nkungen und Umwandlungen, denen sie heim Zusammentreffen mit dem \u00e4u\u00dferen Lehen ausgesetzt sind, ein allgemeines Charakterbild ihrer Epoche gewinnen lassen.\nDarin liegt die \"Wandlung: in der \u00e4lteren Geschichtsschreibung waren die K\u00f6nige und Herrscher die Typen, aus deren Kreis allein der Historiker die Auslese traf. Heute, da sich das historische Gef\u00fchl unendlich verfeinert hat, werden die Typen aus den hervorragenden Individualit\u00e4ten der Culturgemeinschaft gebildet. Wenn es auch nicht mehr die K\u00f6nige, Feldherren und Diplomaten sind, die wesentlich als in den Gang der Geschichte eingreifend gedacht werden, so sind doch immer noch die politischen Menschen im intensiven Sinn als bedeutsamste Tr\u00e4ger des historischen Geschehens zu bezeichnen. Das Problem der Culturgeschichte dr\u00e4ngt sich erst dann auf, wenn die Historiker von vornherein die Dichter und K\u00fcnstler einer Zeit zu Haupttypen erkl\u00e4ren und aus ihnen die seelischen Z\u00fcge des Zustandes entnehmen.\nDamit soll keineswegs die individualistische Auffassung der Geschichte eine neue St\u00fctze erhalten. Den nachhaltigen Bem\u00fchungen Lamprechts ist es gelungen, diese endg\u00fcltig aus der wissenschaftlich betriebenen Geschichte zu entfernen. Und wenn Breiysig, der trotz seiner Leidenschaft f\u00fcr die sociologische und culturelle Auffassung der Geschichte im innersten Herzen individualistisch geartet ist, es die \u00bbvielleicht schwierigste und zugleich lohnendste Aufgabe der Historie\u00ab nennt, \u00bbdie Geschichte des pers\u00f6nlichen Lebens zu ergr\u00fcnden,1)\u00ab so schwebte ihm gewiss der Werth vorbildlicher Lebens-\n1) Breysig, Culturgeschichte der Neuzeit. I. S. 53.","page":701},{"file":"p0702.txt","language":"de","ocr_de":"702\nJulius Zeitler.\nbahnen f\u00fcr die Geschichte vor. In der That k\u00f6nnte die Typenlehre von der Seite der wissenschaftlichen Biographie her die wirksamste Unterst\u00fctzung erfahren. Wenn man nun auch nicht so weit gehen kann, das Vorhandensein einer wissenschaftlichen Biographie \u00fcberhaupt zu bestreiten, so ist sie doch noch entfernt davon, als typische Entwicklungsgeschichte eines Menschen aufgefasst zu werden. Entwicklungsvergleichungen der Biographien geh\u00f6ren noch nicht zu den Forderungen der Wissenschaft. Eine Anzahl bedeutender Lebenslinien nebeneinander gestellt, m\u00fcsste die tiefsten Aufschl\u00fcsse geben. Einer der wichtigsten Punkte in der typischen Biographie ist z. B. derjenige Moment, in dem eine kr\u00e4ftige Pers\u00f6nlichkeit den Zugang zu einer \u00fcbergeordneten Classe durchbricht. Es w\u00e4re ganz irrig, zu behaupten, die Biographie sei jeder Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit bar.\nVon dem Zusammenhang der Typenlehre mit der Stufentheorie ist noch nicht die Rede gewesen. Die Culturepochen kommen im Leben der Einzelnen in einem bestimmten Ma\u00dfe zum Ausdruck. Der Typus eines Culturzeitalters deckt sich mit dem Typus der es erf\u00fcllenden Pers\u00f6nlichkeiten. Dieser Typus ist die concreteste Verk\u00f6rperung des allgemeinen Charakters der Epoche. In ihm laufen alle F\u00e4den zusammen, die sonst wirr durcheinanderschie\u00dfen w\u00fcrden. Die typische Pers\u00f6nlichkeit z\u00e4hlt zu den bedeutsamen Factoren, die dazu helfen, ein Oulturzeitalter auf seine Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit zu bringen.\nIn jedem Zeitalter herrscht ein anderer Typus Mensch, sind seine allgemeinen Wesensz\u00fcge andere. Im Wechsel dieser Z\u00fcge k\u00fcndigt sich der Wechsel der Zeitalter an. Die Augenblicke der raschen Ver\u00e4nderung des Typus sind die Einschnitte zwischen den Epochen; so lange der Typus beharrt \u2014 und er kann Jahrhunderte constant bleiben \u2014, dauert die Epoche. Der Augenblick einer psychischen Variation ist f\u00fcr die Geschichte wichtiger als eine V\u00f6lkerschlacht oder eine Thronbesteigung. Ist die Variation an vielen Einzelnen gleichm\u00e4\u00dfig festzustellen, dann ist die Entwicklung in eine neue Epoche eingetreten. Die Beschreibung der psychischen Zust\u00e4nde auf einander folgender Epochen liefert das Vergleichsmaterial, in dem sich die Variation kundgibt, nachdem die Zust\u00e4nde durch die Aende-rung der psychischen Zusammensetzung der Einzelnen umschrieben wurden. An der Abfolge der Typen gibt sich nun zu gleicher Zeit die Abfolge der Culturepochen kund; sind also bestimmte Stadien","page":702},{"file":"p0703.txt","language":"de","ocr_de":"Taine und die Culturgeschichte.\n703\nder Geschichte auf Typen reducirt, dann hat man zugleich die Epochen. In der Typenentwicklung liegt keine geringere Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit als in der Stufenfolge. Der Begriff des Typus reiht sich damit den \u00fcbrigen geschichtswissenschaftlichen Begriffen an, die das Ger\u00fcst f\u00fcr den Aufbau der Geschichte bilden. Es braucht kaum bemerkt zu werden, dass er sich durchaus nicht mit dem Begriff der St\u00e4nde und Classen, wie es im gew\u00f6hnlichen Sprachgebrauch geschieht, deckt. M\u00f6nch, Ritter und Spielmann sind wohl Typen des Mittelalters, sagen aber in ihrer Vereinzelung noch nichts \u00fcber den Gesammttypus aus. Der Handwerker ist kein allgemeiner Typus des 15., der Weltmann, der Gelehrte, keiner des 18. Jahrhunderts. Gewiss sind in diesen Standeszusammenfassungen Ann\u00e4herungen an den psychologischen Typus gegeben, aber kein einzelner Stand schon ist typisch f\u00fcr die ganze Gesellschaft.\nJeder Historiker ist typenbildend. Es wird von seiner Veranlagung abh\u00e4ngen, ob seine Typen eine mehr k\u00fcnstlerische oder mehr politische F\u00e4rbung tragen. Die Individualit\u00e4ten sind geschichtlich nur in ihren typischen Eigenschaften heranzuziehen. Keine Pers\u00f6nlichkeit kann in ihrem Rohzustand als Typus verwendet werden. Wem es beifiele, die Individualit\u00e4ten mit den Typen zu verwechseln, der w\u00fcrde heroistische Geschichte treiben und dem Heldencultus fr\u00f6hnen, anstatt der Wissenschaft zu dienen. Die meisten Menschen, die man die gro\u00dfen nennt, k\u00f6nnen in den Rahmen der f\u00fcr eine Cultur typischen Pers\u00f6nlichkeit gefasst werden. Sie k\u00f6nnen sogar zusammenfallen. Das wird nicht h\u00e4ufig Vorkommen. Dar\u00fcber hinaus kann eine historische Pers\u00f6nlichkeit den Typus wohl auch sprengen. Mit diesem Jenseits ist sie aber geschichtswissenschaftlich nicht fassbar, sondern psychologisch.\nIn der Geschichte der englischen Literatur finden sich zahlreiche Beispiele, wie Taine einen Culturumschwung beschrieb. Alle Details zur Kennzeichnung der Wandlung entnimmt er den herrschenden Pers\u00f6nlichkeiten, er greift die Z\u00fcge heraus, die ihm f\u00fcr ihre ganze Epoche Geltung zu haben scheinen ; dann ist nicht mehr von Pers\u00f6nlichkeiten die Rede, sondern von seelischen Zust\u00e4nden, Verfassungen, Vorg\u00e4ngen, die insgesammt dem Typus des Culturzeitalters vindicirt werden k\u00f6nnen. Es handle sich um den Uebergang von der englischen Renaissance zum classischen Zeitalter. Taine beschreibt","page":703},{"file":"p0704.txt","language":"de","ocr_de":"704\nJulius Zeitler.\njene als eine Zeit der \u00bbunmittelbaren sch\u00f6pferischen Auffassung\u00ab : \u00bbZur Zeit des Spenser und Shakespeare lie\u00dfen lebensvolle Worte wie ein Schrei, wie eine Musik nur die tief innere Begeisterung erkennen, die sie hervorrief. Eine Art Vision beherrschte den K\u00fcnstler; Landschaften und Begebenheiten breiteten sich vor seinem Geiste aus wie in der Natur ; er concentrirte in einem Blitzstrahle alle Einzelheiten und alle Kr\u00e4fte, aus denen ein Wesen besteht, und dieses Abbild handelte und entwickelte sich in ihm, wie das Object vor ihm; er ahmte seine Personen nach, er h\u00f6rte ihre Worte; er fand es leichter, sie frisch und lebenswarm zu wiederholen, als ihre Gef\u00fchle zu erz\u00e4hlen und auseinander zu setzen; er urtheilte nicht, er sah; er war unfreiwillig Schauspieler und Mime\u00bb (E. L. II., S. 183). Das classische Zeitalter beginnt, und der Dichter macht dem Schriftsteller Platz. Ein neuer Geist entstand und erneuerte die Kunst, wie alles andre; von jetzt an ein Jahrhundert lang bilden und ordnen sich die Ideen nach einem von dem bisherigen ganz verschiedenen Gesetze. \u00bbDer Enthusiasmus, die Unruhe einer erregten Phantasie, das gewaltige G\u00e4hren neuer Ideen sind befriedigt; die z\u00fcgellose Originalit\u00e4t, der hohe allgewaltige Flug des Genius, der durch die gr\u00f6\u00dften Thorheiten hindurch auf den Mittelpunkt der Wahrheit gerichtet ist, sind verschwunden. Die Phantasie h\u00e4lt Ma\u00df, der Geist h\u00e4lt sich in fester Zucht, er ist nicht l\u00e4nger das Werkzeug begeisterter Intuition, sondern genauer Zergliederung\u00ab (E. L. II., S. 54). \u00bbDer Mensch schaut die Dinge nicht mehr wie in einem Strahle, sondern im Einzelnen ; er bemerkt Eigenschaften, findet Gesichtspunkte, classi-ficirt die Handlungen in Gruppen; er urtheilt und denkt\u00ab (a. a. 0., S. 183). \u00bbEr discourirt und commentirt; er verl\u00e4sst das Gebiet sch\u00f6pferischer Originalit\u00e4t und wendet sich der Kritik zu. Die Conversation wird zur wichtigsten Besch\u00e4ftigung seines Lebens, sie modelt den Stil nach ihrem Bilde und ihrem Bed\u00fcrfniss um\u00ab (E. L. H., S. 54).\nMan wird bemerken, dass Taine aus der literarhistorischen sogleich in die culturhistorische Entwicklung \u00fcbergreift. Die Namen Spenser, Shakespeare h\u00e4tten garnicht zu fallen brauchen.\nZwei Fragen m\u00fcssen noch er\u00f6rtert werden, die eine, welchen Begriff Taine von der Culturgeschichte hatte, und die andre, welche Gattung von Pers\u00f6nlichkeiten von der jeweiligen historischen Auffassung bevorzugt","page":704},{"file":"p0705.txt","language":"de","ocr_de":"Taine und die Culturgeschichte.\n705\nwerden. Taine hatte einen anderen Begriff der Geschichte als den der politischen, womit noch nicht gesagt sein soll, dass er den Begriff der Culturgeschichte hatte. Seine Ideen \u00fcber das eigentliche Gebiet der Geschichte sind schwankend und eigentlich erst Anl\u00e4ufe zu Principien, die noch nicht auf einen klaren begrifflichen Ausdruck gebracht waren. Taine hat werthvolle Beitr\u00e4ge dazu geliefert; wenn er auch keineswegs weder ihre Abgrenzung von benachbarten und verwandten Wissenschaften feststellte, noch den Rang, der ihr im Gebiet der Geisteswissenschaften zuzutheilen ist. Es ist charakteristisch, dass es Taine fern lag, die \u00e4sthetische Sch\u00e4tzung der Kunstwerke in die Culturgeschichte hineinzubringen ; er beurtheilte sie als Anzeichen tiefer liegender Ursachen, deren Studium ihm allein am Herzen lag. Darum sch\u00e4tzte er die Zeiten der Kunstausbr\u00fcche auch h\u00f6her als jene, die von bewussten \u00e4sthetischen Principien regiert werden. Es kommt \u00fcberhaupt darauf an, ob ein Historiker die ethische oder die \u00e4sthetische Verfassung eines socialen K\u00f6rpers f\u00fcr das wichtigere h\u00e4lt. Im ersten Fall wird er Socialgeschichte schreiben, im andern Culturgeschichte. Taine kam erst mit dem Umweg \u00fcber Literatur und Kunst zur Culturgeschichte; darum lag ihm auch eine Definition der Geschichte als Socialgeschichte fern, umsomehr als die Gesellschaftswissenschaft damals erst im Entstehen begriffen war. Die Cultur ist erst ein Ergebniss der socialen Verfassung, der socio-logischen Zust\u00e4nde; darum kann die Culturgeschichte auch nur als ein Zweig der Socialgeschichte aufgefasst werden. Die socialen Verfassungen sind weitaus wichtiger, als die d\u00fcnnen \u00e4sthetischen Krystalli-sationen auf ihrer Oberfl\u00e4che. Kunst und sociale Cultur stehen sich polar gegen\u00fcber; was der einen zu Gute kommt, das muss die andre entbehren. Die h\u00f6here W\u00fcnschbarkeit der soci\u00e4fen Wohlfahrt gegen\u00fcber dem k\u00fcnstlerischen Fortschritt steht au\u00dfer Zweifel. Eine socio-logische Geschichte, die ihren Schwerpunkt in der Kunstentwicklung hat, ist ein Ding der Unm\u00f6glichkeit. Es w\u00e4re ein b\u00f6ser Irrthum, dass die K\u00fcnstler und Dichter der socialen Verfassung eines Volkes n\u00e4her stehen, als die herrschenden wirthschaftlichen und staatlichen Kr\u00e4fte.\nEs ist zu beobachten, dass die neuere Geschichte, insonderheit die als Culturgeschichte definirte, den K\u00fcnstlern und Dichtern als Culturtr\u00e4gem, als historischen Typen eine besondere Werthsch\u00e4tzung Wundt, Philos. Studien. XX.\t45","page":705},{"file":"p0706.txt","language":"de","ocr_de":"706\nJulius Zeitler.\nangedeihen l\u00e4sst. Diese neuere Sch\u00e4tzung der Literatur und Kunst als bevorzugter culturhistorischer Factoren hat Taine mit herauff\u00fchren helfen. Nichts liegt heute n\u00e4her, als das Genie der K\u00f6nige zu verneinen. Dass es aber nun besonders zu den Dichtern und K\u00fcnstlern gegangen sei, das ist nicht ausgemacht. Weil man keinen Blick mehr hat f\u00fcr die M\u00e4chtigen der That, werden die k\u00fcnstlerischen Menschen zu culturhistorischen Typen erhoben. Einem rechtschaffenen Historiker d\u00fcrfte es vielleicht sein Machtgef\u00fchl nicht erlauben, den K\u00fcnstlern irgend eine Concession zu machen, die er sich selbst versagen muss. Es sei denn, er w\u00e4re Culturhistoriker. W\u00e4hrend es immer noch politische Historiker gibt, die K\u00f6nige und F\u00fcrsten verg\u00f6ttern, kennt die Culturgeschichte fast keine andere Aufgabe, als das gleiche den K\u00fcnstlern zu thun. Sie treibt darum keinen geringeren Heroenkult, als fr\u00fcher die politische Geschichte; die Heldenverehrung hat nur ihr Object gewechselt. Es ist ein offenbarer Widerspruch, dem geschichtlichen und socialen Leben die Individualit\u00e4ten zu bestreiten, die man in der Kunst- und Culturgeschichte in einer andern Form (jedenfalls nicht erprobteren) tropisch wuchern l\u00e4sst. Wenn die genialen Individuen in der Auffassung des Culturhistorikers der Kunst recht sind, dann m\u00fcssen sie auch der Politik billig sein. Wenn ein Bismarck oder Napoleon sich vom Historiker die Determination gefallen lassen m\u00fcssen, dann ist es anderseits aber gewiss keine Beleidigung f\u00fcr den Literaten oder Farbenreiber, wenn man ihm die Stelle anweist, die er objectiv in der Culturrangordnung einnimmt.\nDie einseitige und extreme Bevorzugung der K\u00fcnstler und Literaten als cultureller Factoren kann nicht gutgehei\u00dfen werden. Culturgeschichte ist nicht vorzugsweise Geschichte des Dichtens und Pinseins. Ihre Vertreter irren auch h\u00e4ufig darin, dass sie die artistischen Ausbr\u00fcche isolirter Gruppen als Ausdruck eines allgemeinen Zeitempfindens nehmen, w\u00e4hrend sie vielleicht nur noch in der lockersten Beziehung zum Volksganzen stehen. Die Gefahr liegt nahe, dass ephemere Coterien, insulare \u00e4sthetische Bildungen in einer Bedeutung genommen werden, die sie nicht verdienen.\nTaine kam zur Culturgeschichte erst auf dem Umweg \u00fcber die Literatur. Als Historiker der literarischen Cultur hielt er ein Drama oder einen Roman f\u00fcr h\u00f6here Documente als eine staatliche","page":706},{"file":"p0707.txt","language":"de","ocr_de":"Taine und die Culturgeschichte.\n707\nUrkunde oder ein diplomatisches Actenst\u00fcck. Er machte jedoch einen sehr vorsichtigen Gebrauch von dieser Werthung. Neuere Historiker, die es keineswegs mit der Literatur oder der Kunst urspr\u00fcnglich zu thun haben, greifen zu Gedichten und Bildern als zu unmittelbaren Zeugnissen der Epoche. Daraus erhellt, wie sehr der Werth der Gedichte und Bilder in der Anschauung der Historiker gestiegen ist. Allerdings klingen noch die geringsten politischen Ereignisse bis tief in die Literatur hinein, aber deshalb ist ein Gedicht oder ein Drama noch lange kein Document der Politik. Nichts ist bedenklicher, als wenn ein Gem\u00e4lde zum Werth eines historischen Beweisst\u00fcckes erhoben wird. Eine Werthverschiebung hat da stattgefunden, nicht die unmittelbare That gilt als werthvoll, sondern die artistische, die \u00e4sthetische. Das erkl\u00e4rt, welchen Begriff ein Zeitalter oder ein Historiker von einer That hat. Heute hat der K\u00fcnstler den Helden abgel\u00f6st, in der modernen Kunstcultur hat der That-mensch keinen Raum mehr. Viel zu rasch ist das Zeitalter der Bewunderung des k\u00fcnstlerischen Typus anheimgefallen; man f\u00fcrchtet sich vor der Hochsch\u00e4tzung milit\u00e4rischer Tugenden, weil man damit schon der verfehmten \u00bbHeldenverehrung\u00ab Th\u00fcr und Thor zu \u00f6ffnen meint. Umsomehr wird allerdings dann die Geschichte in den Ateliers, sowie in den poetischen und belletristischen Salons gemacht. Einerseits empf\u00e4ngt also die individualistische Geschichtsauffassung durch einen aus der Kunst emporgewachsenen Heroencult immer neue Nahrung, auf der andern Seite wird sie von der auf dem Collectivis-mus emporgediehenen Culturgeschichte uneingestanden verst\u00e4rkt.\nUnd was bedeutet die Heraufkunft der Culturgeschichte? Sobald die K\u00fcnstler auf den Plan treten, gibt es keine Machtmenschen mehr; dann kommen die Com\u00f6dianten, die auf der B\u00fchne das spielen, was jene lebten. Die Kunst tr\u00e4gt erst dann einen aristokratischen Charakter, wenn keine Aristokraten mehr da sind; von einer aristokratischen Kunst w\u00e4re also gar nicht zu reden. In der Heldenzeit eines Volkes hat der K\u00fcnstler wenig Geltung; erst im Venedig des Cinquecento wird er zum \u00bbGentiluomo\u00ab, wie D\u00fcrer befriedigt und selbstbewusst schreibt. ' Sobald die Historiker vor den Wandmalem und Wortemachern Weihrauch streuen, l\u00e4utet eine alte Cultur aus und eine neue zieht herauf. Sie beschw\u00f6ren dadurch die Gefahr einer rein \u00e4sthetischen Lebensauffassung herauf. Es gibt\n45*","page":707},{"file":"p0708.txt","language":"de","ocr_de":"708\nJulius Zeitler.\nkein deutlicheres Zeichen der Heraufkunft einer \u00e4sthetischen Cultur, als wenn die Historiker Dichter und K\u00fcnstler zu Culturtypen erheben und ihrem Stolze, der ohnedies nicht gering ist, schmeicheln. Wer warnt, wird von den literarischen K\u00fcnstlern \u00fcberschrieen; diese wissen genau, worauf es ankommt; feierlich protestiren sie gegen die Auffassung, dass eine \u00e4sthetische Cultur der Anfang vom Ende ist; sie sprechen als Haupttheilhaber. Die Historiker aber h\u00e4tten es nicht n\u00f6thig, den Process zu beschleunigen; das thun sie aber, wenn sie keine anderen Repr\u00e4sentanten der Cultur kennen und die allgemeine Weltanschauung sogar auf eine K\u00fcnstlerphilosophie hinauslaufen lassen. Die stillen Arbeiter der Cultur in den Schulen und Instituten, in den Werkst\u00e4tten und Maschinenh\u00e4usern, in den Aemtern und Contoren sind werthvollere Belege der Geschichte, als die lauten Schreier in den Schaustellungen, Kunstsalons und Literaturzeitschriften, deren \u00f6ffentlicher L\u00e4rm in einem umgekehrten Yerh\u00e4ltniss zu ihrer menschlichen Bedeutung steht.\nEs ist nicht die Aufgabe der Historiker, das Geschmacksideal einer zweifelhaften Entwicklung zu propagiren, sondern daf\u00fcr zu sorgen, dass das Ged\u00e4chtniss des w\u00fcnschbaren Typus in ihrem Volke erhalten bleibe.\nin.\nTaine hatte bereits durch seine literar- und kunstkritischen Arbeiten einen gro\u00dfen Ruf gewonnen, als er sein historisches Werk1) begann. Die Vaterlandsliebe, der Zorn und die tiefe Ersch\u00fctterung \u00fcber den Zusammenbruch von 1870 fl\u00f6\u00dften ihm die Idee dazu ein. Er hatte einen Vorg\u00e4nger in diesem Werke in Tocqueville, den er aber weit \u00fchertraf. Er wollte die politische Verfassung finden, die Frankreichs Wunden am ehesten heilen konnte. Darum wurde er Geschichtsforscher. \u00bbDie politische und die sociale Form, die ein Volk nicht nach seinem Gutd\u00fcnken haben kann, ist durch seinen Charakter und durch seine Vergangenheit bedingt. Wir werden nur die unsre finden, wenn wir uns selber studiren\u00ab (Or. Vorrede). So ging er denn in die Archive, und zog die Acten der Generalstaaten\n1) H. Taine, Die Entstehung des modernen Frankreich. Deutsche Bearbeitung von L. K\u00e4tscher. 5 B\u00e4nde erschienen vor Taine\u2019s Tod, der 6. nicht ganz vollendet aus seinem Nachlass.","page":708},{"file":"p0709.txt","language":"de","ocr_de":"Taine und die Culturgeschichte.\n709\naus dem ehrw\u00fcrdigen Staub hervor, der sich auf ihnen angesammelt hatte. \u00bbIch wollte Alles seihst untersuchen, statt die Historiker zu befragen\u00ab (Or. I. 29). Taine stellte sich dem gewaltigen Gegenstand \u00bbwie ein Arzt einem interessanten Kranken\u00ab (Monod) gegen\u00fcber.\nEr studirte die alte Staatsordnung, die Revolution, die Zeit Napoleon\u2019s aus den Quellen und schuf dann ein ganz einzigartiges Werk, keine Geschichte im gew\u00f6hnlichen Sinne, sondern eine breite Darlegung der allgemeinen politischen, wirthschaftlichen und geistigen Zust\u00e4nde Frankreichs seit dem Ancien Regime, wobei er die Kenntniss der Ereignisse allenthalben voraussetzte. Von dem Schema der Mi-; lieutheorie ist in den Origines wenig zu sp\u00fcren; von den politischen Vorg\u00e4ngen und Ereignissen sah Taine ganz ab; er suchte vielmehr den Culturzustand des Revolutionszeitalters heraus zu arbeiten.\nDas Werk zerst\u00f6rte den Zauber der revolution\u00e4ren Legende und legte die Wahrheit \u00fcber die Zust\u00e4nde vor und nach der Revolution \u00fcberzeugend dar. War nach seiner Ansicht schon die Centralisation der alten Staatsform durchaus sch\u00e4dlich, so legte die Revolution die Provinzen erst recht lahm. Sie verst\u00e4rkte die centralistischen Tendenzen der alten Monarchie, w\u00e4hrend doch nur in den Provinzen die Kr\u00e4fte schlummerten, deren Erweckung Frankreich helfen konnte. Gegen\u00fcber der Verg\u00f6tterung der Revolution wurde Taine zum Vertreter der Reaction. Er sah sie in der d\u00fcstern Gluth der commu-nistischen Br\u00e4nde von 1871.\nDer Band L\u2019 Ancien Regime \u00fcber die alte Staatsform wurde ein Meisterwerk und enth\u00e4lt viele gl\u00e4nzende Schilderungen des Hofes, des Salonlebens, des \u00bbClassicismus\u00ab. In der anschaulichsten Weise sind die vorrevolution\u00e4ren Zeitsitten hingestellt. Auch in den folgenden B\u00e4nden entwarf er noch vortreffliche Portr\u00e4ts von den F\u00fchrern der Revolution. Die Jacobiner brandmarkte er als die Producte der ihm so verhassten pseudoclassischen Geistesrichtung. Auf die Darstellung ' Napoleon\u2019s aber verwandte er eine unvergleichliche Pracht der Seelenmalerei.\nEs war voraus zu Sehen, dass die Historiker von Fach Taine\u2019s Verfahren sogleich einer scharfen Kritik unterzogen. Es war noch das geringste, dass man ihm eine vollst\u00e4ndige Unkenntniss der historischen Methode vorwarf. Seignobos nannte ihn \u00bbden inexactesten der franz\u00f6sischen Historiker des Jahrhunderts\u00ab. Sein Napoleon-","page":709},{"file":"p0710.txt","language":"de","ocr_de":"710\nJulius Zeitler.\nportr\u00e4t sei von Phantasie verpfuscht. *) Kaum weniger schwer ist die Beurtheilung, die Taine von Faguet \u00fcber sich ergehen lassen musste. Dieser nannte die Origines ein m\u00e4chtiges Denkmal, aber \u00bbbereits zur H\u00e4lfte zerst\u00f6rt; der Architect, der vom Maurerhandwerk nichts verstand, wusste kein solides Material auszuw\u00e4hlen.\u00ab (Paguet Hist, de la Litt, fran\u00e7. II. S. 331.)\nMan hat das Werk eine \u00bbRubrikgeschichte\u00ab genannt und gegen die starke H\u00e4ufung der Citate und den geringen Umfang des eigentlichen Textes geeifert. Gewiss hat Taine des Guten darin etwas zu viel gethan, aber er legte in der Composition dieser Pragmente von Beweisen doch eine erstaunliche Sorgfalt und Sicherheit an den Tag. Er verstand es, aus der ungeheuren F\u00fclle von Thatsachen, die er gesammelt und registrirt hatte, ein Gesammtbild zu gestalten, wie es wirkungsvoller nicht gedacht werden kann.\nDie st\u00e4rksten Einw\u00e4nde konnten gegen seine Ben\u00fctzung der Quellen erhoben werden. Und nicht ohne Grund. Er \u00fcbte an der Herkunft der historischen Documente keine strenge Kritik. Die Quellen, auf die er sich st\u00fctzte, w\u00e4hrend er die Origines schrieb, sind h\u00e4ufig anfechtbar. Er untersuchte die Glaubw\u00fcrdigkeit subjective!\u2019 Berichte nicht weiter, sondern nahm sie als Beweisst\u00fccke unmittelbar hin. Er gab auf Erinnerungen, die jedem Historiker verd\u00e4chtig sind, nicht weniger wie auf zeitgen\u00f6ssische Berichte. Er glaubte auch den Memoiren Metternich\u2019s fast unbedingt und legte auch auf die Anecdoten der Frau von Remus at ein bedeutendes Gewicht.\nEin fernerer Vorwurf wandte sich gegen den einseitigen Charakter, in dem er die Beweisst\u00fccke zur Verwendung brachte. Er entnahm den Quellen nur, was er zur Unterst\u00fctzung seiner Ideen brauchen konnte, was ihm daraus n\u00fctzlich war. Taine hatte seine Objecte schon mit einer Meinung umsponnen, bevor er noch die Belegstellen sammelte. Das ist auch der Grund, warum er sie etwas willk\u00fcrlich und gewaltsam ausw\u00e4hlte. Sobald sich Taine historischen Thatsachen gegen\u00fcber befand, schloss er sie sogleich in Werthgruppirungen ein. In dieser allzufr\u00fchen Pormulirung von Gesetzen lag eine\n1) Das Pamphlet Seignobos\u2019 gegen Taine befindet sich in Petit de Julle-ville. Hist, de la langue et de la litt\u00e9rature fran\u00e7aise. 8. S. 267 ff.","page":710},{"file":"p0711.txt","language":"de","ocr_de":"Taine und die Culturgeschichte.\n711\nGefahr. Er lie\u00df die Thatsachen nicht sich seihst ordnen, sondern ihre Verwerthung und Gruppirung erfolgte von vornherein in einem bestimmten Sinne. Ebenso wie Mommsen zw\u00e4ngte er dem geschichtlichen Verlauf in seinen Darstellungen eine bestimmte subjective Form auf, indem er sein Material nach modernen Gesichtspunkten, aus der englischen Verfassung her\u00fcbergenommen, ordnete. Vielleicht gereichte es Taine zum Schaden, dass er, bevor er selbst Historiker wurde, schon seine Ideen \u00fcber die Aufgabe, das Object und die Methode der Geschichte in ein System gebracht hatte. Seine Theorie war nicht aus dem Niederschlag historischer Erfahrungen hervorgegangen.\nVor allem war die Uebertragung biologischer Gesetze auf die Geschichte nicht hinreichend begr\u00fcndet. Taine vertraute ferner seinen logischen Formeln zu viel, er war von ihrer Exactheit allzusehr \u00fcberzeugt. Es ist nicht so einfach, seelische Bewegungen in mathematische Schlussfolgerungen zu fassen. Diese Methode will mit der gr\u00f6\u00dften Vorsicht gehandhaht werden. Taine operirte mit seinen Ahstractionen wie mit Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten und mathematischen Gr\u00f6\u00dfen. Dem tieferen Blick kann ihre Vieldeutigkeit nicht entgehen. Mit seinen schroffen Behauptungen, die einem fast souver\u00e4n gestimmten Geiste entsprangen, that er dem Leben und der menschlichen Natur nicht selten Gewalt an.\nAlle diese Ausstellungen k\u00f6nnen aber Taine\u2019s Verdienste laicht schm\u00e4lern. Seine Leistungen bleiben au\u00dferordentlich, wie vorher.\nTrotz der scheinbaren Unerbittlichkeit der Methode verzichtet Taine durchaus nicht auf den Gebrauch seiner Phantasie, und seine Darstellungen lassen \u00fcberall den divinatorischen Blick sp\u00fcren, mit dem sie gemeistert wurden. Der Weg, den er einschlug, um die Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit der historischen Kr\u00e4fte und ihrer Wirkungen auf einander zu entdecken, war der rechte. Die Factoren seiner Theorie geben ausgezeichnete Mittel an die Hand, das historische Urtheil zu begr\u00fcnden. Die politische Chronologie bildete niemals den Rahmen, in den er seine Culturgem\u00e4lde spannte ; er entnahm ihn vielmehr den verschiedenen Stadien der Culturentwicklung selbst. Seine Abschnitte sind keine \u00e4u\u00dferlichen, sondern kn\u00fcpfen stets an die Wendepunkte des Seelenlebens an. Endlich hat er den Weg zu einer historischen Typenlehre gezeigt, indem er stets den besonderen Fall ausw\u00e4hlte, der als Beispiel dienen konnte, von dem aus er zu immer h\u00f6heren","page":711},{"file":"p0712.txt","language":"de","ocr_de":"71'2\nJulius Zeitler. Taine und die Culturgeschichte.\nTypen hinaufsteigen konnte. Er war einer der ersten Forscher, der j eine unbedingte Causalit\u00e4t von der Geschichte forderte und den Nach-I druck auf die Causalzusammenh\u00e4nge legte. Sein Antheil daran, dass es der Geschichte heute gelingt, eine Begriffswissenschaft zu werden, ist kein geringer. Er war nicht nur ein Geschichtsforscher, der die Wurzeln des Geschehens zu erfassen strebte, der in der Analyse der Geschehnisse, in der Feststellung der Zusammenh\u00e4nge der objectiven Thatbest\u00e4nde trotz aller Angriffe erhebliches leistete, er war auch eine sch\u00f6pferische Individualit\u00e4t, dem die Zusammenfassung des Geschichtsstoffes zu einer h\u00f6heren Einheit ausgezeichnet gelang, er war ein Geschichtsk\u00fcnstler, ein Genie der historischen Apperception.\nDie franz\u00f6sische Geschichtswissenschaft befindet sich heute in einer starken Reaktion gegen Taine. Ein gem\u00e4\u00dfigtes Bild von der Sch\u00e4tzung, die er heute als Historiker in Frankreich genie\u00dft, l\u00e4sst Monod1) erkennen. \u00bbSeine deterministischen Ueberzeugungen und die logische Kraft seines Geistes lie\u00dfen ihn verkennen, was es an Zusammenh\u00e4ngendem, Geheimnissvollem, Unfassbarem in der Natur und im Menschen gibt; er glaubte zu sehr an die M\u00f6glichkeit, die Geschichte und das Lehen auf feste Classificationen und einfache Formeln zur\u00fcckf\u00fchren zu k\u00f6nnen; die Brillanz eines Schlusses garantirte ihm seine Richtigkeit.\u00ab Monod wendet ferner ein, dass er \u00bbdie absoluten Formeln und die logischen Systematisirungen allzusehr geliebt\u00ab habe. (S. 139). Dagegen r\u00fchmt er sein Verdienst, die Wahrheit \u00bbmit der treuesten und uneigenn\u00fctzigsten Anstrengung gesucht zu haben, seiner Generation gezeigt zu haben, wie man die leidenschaftliche Liebe zur Kunst mit dem ernsten und bescheidenen Sinn f\u00fcr die Wissenschaft vereinigen kann.\u00ab\nEs wird f\u00fcr immer eines seiner gr\u00f6\u00dften Verdienste bedeuten, gezeigt zu haben, unter welchen Umst\u00e4nden die Geschichte eine Wissenschaft sein kann.\n1) Gabriel Monod: Renan, Taine, Michelet, Paris 1896.\nDruck von Breitkopf & H\u00e4rtel in Leipzig.","page":712}],"identifier":"lit29635","issued":"1902","language":"de","pages":"670-712","startpages":"670","title":"Taine und die Culturgeschichte","type":"Journal Article","volume":"20"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:34:06.751074+00:00"}