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{"created":"2022-01-31T14:27:19.149651+00:00","id":"lit29659","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Kiesow, F.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 9: 72-75","fulltext":[{"file":"p0072.txt","language":"de","ocr_de":"72\nLitteraturbericht.\naufserordentlich grofsen Teil der bisher beschriebenen F\u00e4lle auch Geisteskrankheiten im gew\u00f6hnlichen, engeren Sinne des Wortes aufgetreten, und besonders h\u00e4ufig erscheint unter diesen die Paranoia. (Auch der Fall Frau S. im 3. Aufsatz scheint uns, obwohl M\u00f6bius sich nicht dar\u00fcber \u00e4ufsert, der Paranoia anzugeh\u00f6ren.) Dieses Verh\u00e4ltnis zur Paranoia darf deshalb besonderes Interesse namentlich auch der Irren\u00e4rzte beanspruchen, weil \u00e4hnliche \u201eSchmerzhalluzinationen\u201c, wie M\u00f6bius sie nennt, bei der Paranoia eine sehr h\u00e4ufige und l\u00e4ngst bekannte Erscheinung sind und bei der Pathogenese mancher Formen eine wesentliche Polle spielen (Dysphrenia neuralgica !), und auch Zust\u00e4nde von Bewegungslosigkeitr vor\u00fcbergehende und dauernde, die durch solche abnormen Sensationen bedingt werden, in den Irrenanstalten gerade bei Paranoikern in allen Stadien der Erkrankung nicht allzu selten beobachtet werden. Die von M\u00f6bius gegebene Anregung wird hoffentlich zu genauerem Studium gerade dieser vielfach noch dunklen Zust\u00e4nde den Anstofs geben.\nVon den Aufs\u00e4tzen \u201eZur Lehre von der Nervosit\u00e4t\u201c sei besonders der erste: \u201eBemerkungen \u00fcber Neurasthenie\u201c hervorgehoben, der in der f\u00fcr den Autor charakteristischen klaren und eindringlichen Weise die historische Entwickelung des Begriffes der Neurasthenie schildert und eine kritische Besprechung ihrer Symptomatologie und Therapie enth\u00e4lt.\nIn dem letzten Teil des Heftes endlich konstatiert der Verfasser zun\u00e4chst die grofse Unklarheit, die in der Litteratur \u00fcber den Begriff der Chorea herrscht, und verlangt mit Pecht, dafs man als Chorea schlechtweg nur die bekannte, hier nicht n\u00e4her zu schildernde vor\u00fcbergehende, bei Kindern und j uge ndlichen Individuen auftretende Erkrankung bezeichnen solle. Diese ist nach ihm eine infekti\u00f6se Krankheit, und als Beweis hierf\u00fcr zieht er u. a. den Charakter der sie hin und wieder begleitenden Geistesst\u00f6rung an. Wie alle toxischen Delirien bestehen auch sie in einem traumhaften Zustande, welcher sich durch Verwirrung, Neigung zu T\u00e4uschungen mehrerer Sinne, Wahngedanken und Aufregung kundgebe.\tLiebmaxn (Bonn).\nS. Heller. \u00dcber psychische Taubheit im Kindesaiter. Vortrag, gehalten\nin der Sektion f\u00fcr Kinderheilkunde der 66. Versammlung deutscher\n\u00bb \u00bb ______________________________\nNaturforscher und Arzte in Wien. Dresden, B. F. Teubner. 1894.\n8 S.\nDie vorliegende Schrift erscheint f\u00fcr die Heilp\u00e4dagogik, welche Verfasser als die Psychiatrie des Kindesalters bezeichnet, von gr\u00f6fster Bedeutung, sofern durch die in derselben vorgetragenen Heil- und Erziehungsmethoden, falls sich diese bew\u00e4hren, vielleicht viele Ungl\u00fcckliche, die in der Kindheit gemeinhin als Taubstumme erkannt, werden, dem schrecklichen Geschicke entrissen und in den Besitz der H\u00f6r- und Sprechf\u00e4higkeit zur\u00fcckgef\u00fchrt werden k\u00f6nnen.\nAuf Grund eingehender Beobachtungen unterscheidet Verfasser die eigentliche, durch periphere St\u00f6rungen bedingte Taubheit von der psychischen, der zentrale Defekte zu Grunde liegen. Im ersteren Falle ist keine Heilung m\u00f6glich, im letzteren aber, wo ebenfalls alle Merkmale der spezifischen Taubstummheit, obwohl nur scheinbar, vorhanden sind,","page":72},{"file":"p0073.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturberich\u00ee.\n73\nist nach Verfasser bei rechtzeitiger Anwendung seiner Methoden \u201emit mehr oder minder Erfolg\u201c eine Besserung zu erzielen, im g\u00fcnstigsten Ealle der v\u00f6llig normale Zustand heranzubilden. \u201eDie hervorragendste, vielleicht auch die einzige Ursache dieser Erscheinung (der psychischen Taubheit), ist eine tiefgehende, der Aufhebung nahe kommende St\u00f6rung der Wortperzeption, wodurch die durch periphere Leitung dem Zentralorgan zugef\u00fchrten Schallsensationen von diesem kaum aufgenommen und begrifflich verarbeitet werden k\u00f6nnen. Kinder, welche solche St\u00f6rungen aufweisen, leben jahrelang in einer anregenden Umgebung, ohne dafs sie erlernen, mit einem oft geh\u00f6rten Worte irgend einen Begriff zu verbinden, geschweige denn durch Geh\u00f6rsanregungen Begriffe aufeinander zu beziehen, und die daher in gewissem Sinne physisch h\u00f6rend, in jedem Sinne aber psychisch taub sind.\u201c Die betreffenden Hemmungen oder St\u00f6rungen der Wortperzeption werden als Folge- oder Begleiterscheinung konstitutioneller psychischer Abnormit\u00e4t bezeichnet, und somit wird die psychische Taubheit als ein idiotischer Zustand aufgefafst, der sowohl aus heredit\u00e4rer Belastung, wie aus nerv\u00f6sen Erkrankungen in den ersten Lebensjahren hervorgehen kann. Verfasser unterscheidet unter diesen Sprachlosen Maniakalische und Apathische. Diese sich v\u00f6llig entgegenstehenden Erscheinungen verlangen auch eine entgegen, gesetzte Behandlungsweise. \u201eUm die Beruhigung des Maniakalischen herbeizuf\u00fchren, erweist es sich als notwendig, ihn streng zu isolieren und seine abnorme Beweglichkeit einzuschr\u00e4nken, wobei unter allen Mafsregeln, die ich f\u00fcr diesen Zweck in Anwendung brachte, sich keine wirksamer zeigte, als ein l\u00e4ngeres Hinstrecken auf den Eufsboden mit angezogenen Gliedmafsen. Der Apathische dagegen mufs aus seiner\nZur\u00fcckgezogenheit in eine Gemeinschaft gebracht und durch eigenartige,\n\u2022 \u2022\t___\nihm angepafste gymnastische \u00dcbungen zur Th\u00e4tigkeit angeregt werden. In unterrichtlicher Beziehung erweist sich die mehrfach isoliert ge\u00fcbte Methode des Vor- und Einsprechens von Lauten, Lautverbindungen und W\u00f6rtern als wirkungslos, im besten Ealle als wirkungsarm. Hier gilt es, der Natur zu folgen und Methoden zu gestalten und in Anwendung zu bringen, weiche den nat\u00fcrlichen Entwickelungsgang nachahmend wiederholen.44 Verfasser bezeichnet die von ihm verwandten Heilverfahren als Konzentrations- und Aktivit\u00e4tsmethode. Der Maniakalische wird zun\u00e4chst an einfaches Unterscheiden gew\u00f6hnt, w\u00e4hrend von dem Apathischen im Beginne der Behandlung nur eine eindeutig bestimmte Handlung gefordert wird. Indem der Lehrer die Aktion des Kindes begleitet, giebt er statt seiner die sprachlichen Antworten. Letztere erfahren im weiteren Verlaufe des Unterrichtes eine immer gr\u00f6fsere K\u00fcrze, wodurch das betreffende Kind zur Sprach\u00e4\u00fcfserung angereizt werden soll. Die beiden Kategorien verhalten sich hierin insofern verschieden voneinander, als bei dem Maniakalischen eine allm\u00e4hlich sich vervollkommnende Erg\u00e4nzung der angefangenen S\u00e4tze eintritt, so dafs schliefslich nur noch das erste Wort zu nennen n\u00f6tig ist, um den Satz von dem Kinde vollenden zu lassen, und nach \u00dcberschreitung auch dieser Stufe die Antworten des Kindes spontan auf die Fragen des Lehrers erfolgen, w\u00e4hrend bei den Apathischen die Sprechf\u00e4higkeit pl\u00f6tzlich zum","page":73},{"file":"p0074.txt","language":"de","ocr_de":"74\nLitter aturberieht.\nDurchbruche gelangt. \u201eDie Aufnahmef\u00e4higkeit durch das Geh\u00f6r, welche im Anf\u00e4nge der Behandlung aufgehoben schien, erh\u00f6ht sich stets im Fortgange des Unterrichtes, bis dieselbe nach erlangter Sprechf\u00e4higkeit die normale Intensit\u00e4t erreicht.\u201c\nVerfasser macht weiter darauf aufmerksam, dafs sich bei diesen Sprachlosen auch die den Taubstummen charakterisierenden, von unartikulierten Lauten begleiteten Ausdrucksbewegungen finden, welche Erscheinung eben leicht zu der Annahme einer wirklichen Taubstummheit in den betreffenden F\u00e4llen f\u00fchre. \u201eAber gerade die Analyse dieses Lallens f\u00fchrt zu der \u00fcberraschenden That-sache, dafs in demselben zahlreiche Sprachfragmente enthalten sind, welche das Kind durch Absehen\n\u2022 *\nvom Munde nicht gewinnen konnte, weil diesen Aufserungen selbst Artikulation und Modulation nicht fehlt.\u201c Eben diese Sprachfragmente sind dem Verfasser ein wesentliches und sicheres Unterscheidungsmerkmal gegen\u00fcber der eigentlichen Taubstummheit. Am Schl\u00fcsse seines Vortrages f\u00fchrt Verfasser sieben Kinder vor, von denen sechs bereits heilp\u00e4dagogisch mit den besten Erfolgen behandelt wurden. Unter diesen befand sich ein maniakalisches, siebenj\u00e4hriges M\u00e4dchen, das in den ersten Lebensjahren an Kr\u00e4mpfen litt, bei dem das Sprachelement \u201eAdieu\u201c deutlich zu erkennen war. Ebenso waren bei anderen dieser Kinder, sowie bei einem noch nicht behandelten vierj\u00e4hrigen Knaben unabweisbar Sprachfragmente zu konstatieren. Ein achtj\u00e4hriger Knabe wurde dem Verfasser im f\u00fcnften Lebensjahre als taubstummblind \u00fcbergeben. Erst seit neun Monaten war die Apathie vollkommen \u00fcberwunden. \u201eNach halbj\u00e4hriger Behandlung summte der Knabe oft geh\u00f6rte Melodien, nach 18 Monaten reagierte er auf Worte, nach weiteren vier Monaten fing er selbst\u00e4ndig, aber sehr leise, zu sprechen an. Gegenw\u00e4rtig spielt der Knabe mit Erfolg Klavier.\u201c Bei einem neunj\u00e4hrigen Zwillingskinde, das in den ersten Lebensjahren an Fraisen litt, hatte sich eine eigene, f\u00fcr andere unverst\u00e4ndliche Sprache herausgebildet, der St\u00e4mme wie tu, ta, b\u00fc, am, lo, la, denen die Endungen antsch, intsch, untsch, impf, umpf, ampf angeh\u00e4ngt wurden, zu Grunde lagen. Aufserdem zeigten sich bei demselben Lieblingsw\u00f6rter, wie Vinkazl u. s\u201e w. Gegenw\u00e4rtig hat diese Sprache nach den Ausf\u00fchrungen des Verfassers der normalen den Platz ger\u00e4umt, nur dafs in letzterer Zeit zuweilen ein vor\u00fcbergehendes Stottern bemerkbar war. Von zweien der vorgef\u00fchrten Kinder hebt Verfasser hervor, dafs dieselben von hervorragenden Ohren\u00e4rzten f\u00fcr taubstumm erkl\u00e4rt wurden.\nVerfasser verlangt f\u00fcr derartig Leidende eine m\u00f6glichst fr\u00fchzeitige Behandlung, da sich die Wahrscheinlichkeit der Heilung vom sechsten Lebensjahre an vermindere; man habe es dann nicht mehr mit Faktoren, sondern bereits mit Produkten der Entwickelung zu thun. Verfasser schliefst mit den beachtenswerten Worten: \u201eEs kann nicht in Abrede gestellt werden, dafs in den Taubstummenanstalten eine erhebliche Anzahl von Z\u00f6glingen urspr\u00fcnglich blofs psychisch taub war, aber bei diesen durch das Hineinleben in eine streng vorgezeichnete Richtung sich jene Residuen zur\u00fcckgebildet haben, die der heilp\u00e4dagogischen Behandlung zur Ankn\u00fcpfung h\u00e4tten dienen k\u00f6nnen. Da f\u00fcr die Erziehung","page":74},{"file":"p0075.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n75\ntaubstummer Kinder im vorschulpflichtigen Alter bisher keinerlei Vorkehrungen getroffen sind, so erscheint es mir als eine berechtigte Forderung an die Unterrichtsbeh\u00f6rden, die Kinder vor Abgabe derselben an die Taubstummenanstalten einer Untersuchung zu unterziehen, um nach den Ergebnissen derselben wirklich und blofs psychisch Taubstumme voneinander zu scheiden und einer getrennten Behandlung zuzuf\u00fchren.\u201c\nF. Kiesow (Leipzig).\nDr. J. S\u00e9glas. Le d\u00e9lire des n\u00e9gations. Paris, G. Masson. 234 S,\nUnter den verschiedenen Wahnideen, denen die G-eisteskranken\n\u2022 \u2022\nAufserung geben, besteht eine Abart, die bisher nur wenig Beachtung gefunden hat, obwohl sie schon im Jahre 1880 von Cotard in einer geradezu musterg\u00fcltigen Weise beschrieben wurde. Es sind dies die Ideen der Verneinung, des Nichtbestehens oder des Zu-Grunde-gegangen-seins, Ideen, die sich sowohl auf den K\u00f6rper wie auf den Geist beziehen und unter Umst\u00e4nden die gesamte Umgebung und alles umfassen k\u00f6nnen, was mit dem Kranken in Ber\u00fchrung kommt. Der Geisteskranke ist an und f\u00fcr sich ein Geist, der stets verneint, und dies gilt besonders von der Melancholie. Der Melancholiker n\u00e4mlich empfindet bei jeder psychischen Th\u00e4tigkeit ein Gef\u00fchl des Unbehagens und des Schmerzes, das ihn veranlafst, sich gegen jeden \u00e4ufseren Eindruck ablehnend zu verhalten, und da er zudem in sein eigenes K\u00f6nnen das gr\u00f6fste Mifstrauen setzt, entwickelt sich das Bestreben in ihm, jedes Wollen zu vermeiden, was er am radikalsten dadurch zu erreichen glaubt, dafs er sich und die ganze Welt als nicht vorhanden erkl\u00e4rt.\nAuf diese Weise sind die Verneinungsideen Teilerscheinungen des melancholischen Wesens \u00fcberhaupt, und sie beruhen als solche auf dem Kausalit\u00e4tsgesetz. Indem sie sich aber, und zwar sp\u00e4ter, zu den \u00fcbrigen melancholischen Ideen hinzugesellen, bilden sie sich zu einem bestimmten klinischen Bilde aus, zu dem Syndrom Cotards, das als solches eine vorgeschrittene Phase der Erkrankung bedeutet, meist erst nach einem\n\u2022 \u00bb\noder mehreren Anf\u00e4llen von Melancholie eintritt und den \u00dcbergang zu einem chronischen Stadium einleitet. Die Schilderung, die uns S\u00e9glas von dieser Form entwirft, ist das Muster einer niedlichen Kleinmalerei, und wir sehen u. a., wie mit dem ausgesprochen melancholischen Wahne der Verneinung die Idee der Unsterblichkeit und selbst andere Gr\u00f6fsen-ideen vereinbar sind, indem die Kranken w\u00e4hnen, ewig, Millionen Jahre leben zu m\u00fcssen und Millionen von Menschen ungl\u00fccklich gemacht zu haben. Aufser in der Melancholie findet sich der Verneinungswahn auch bei dem Verfolgungswahn, dem er alsdann den Charakter des Besessenseins aufdr\u00fcckt, eine Form, die wir kurzweg der Paranoia zuschreiben w\u00fcrden.\nNeben dem mehr systematisierten Verneinungswahn Cotards finden sich vereinzelte Ideen der Verneinung, die nicht systematisiert sind, bei verschiedenen Formen von Geistesst\u00f6rung, und besonders h\u00e4ufig ist das bei der allgemeinen Paralyse der Fall, aber auch bei Altersbl\u00f6dsinn, Fieberdelirien und \u00fcberhaupt \u00fcberall da, wo sich die Pers\u00f6nlichkeit ver\u00e4ndert oder zu Grunde geht. Sie sind der Ausd.ruck einer Ver-","page":75}],"identifier":"lit29659","issued":"1896","language":"de","pages":"72-75","startpages":"72","title":"S. Heller: \u00dcber psychische Taubheit im Kindesalter. Vortrag, gehalten in der Sektion f\u00fcr Kinderheilkunde der 66. Versammlung deutscher Naturforscher und \u00c4rzte in Wien. Dresden, B. F. 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