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{"created":"2022-01-31T14:27:17.269389+00:00","id":"lit29683","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Kiesow, F.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 9: 145-148","fulltext":[{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"Littwaturbericht.\n145\nWenn Arr\u00e9at zum Beweise hierf\u00fcr den Heros der Franzosen, Victor Hugo, herausgreift, so wird er sich daf\u00fcr mit seinen Landsleuten abzufinden haben, wir Deutsche werden ihm schon eher Hecht gehen. Im \u00fcbrigen aber scheint er mir wirklich die Sch\u00f6pfungen der Poesie zu untersch\u00e4tzen.\nWie im ersten Teile das Ged\u00e4chtnis, so behandelt er im zweiten die Einbildungskraft. Sie hat zu ihrer Grundlage das Ged\u00e4chtnis, oder vielmehr das Zusammenwirken der verschiedenen Teilged\u00e4chtnisse, zu ihrer Bedingung Temperament und Erblichkeit.\nAuf dem Zusammenwirken mehrerer Teilged\u00e4chtnisse beruht das Wesen des professionellen Ged\u00e4chtnisses, und jedes professionelle Ged\u00e4chtnis stellt eine vorherrschende Konstitution dar, ohne deshalb die anderen Arten von Ged\u00e4chtnis auszuschliefsen. Sicherlich bestehen Gegens\u00e4tze und Verwandtschaften zwischen den verschiedenen Formen des Ged\u00e4chtnisses, und unsere geistige Begabung ist an diese Besonderheiten des Ged\u00e4chtnisses gebunden.\nSo besteht auch zwischen Einbildungskraft und Wahnsinn eine gewisse Verwandtschaft, aber sie ist sehr entfernt und die \u00c4hnlichkeit eine mehr scheinbare und oberfl\u00e4chliche. Der geistesgesunde Dichter und Maler schafft seine Bilder, aber sie beherrschen ihn nicht, und wenn die Absonderlichkeiten, das rast- und ruhelose Abspringen f\u00fcr einen Augenblick die entfernte \u00c4hnlichkeit eines Kunstwerkes hervorrufen k\u00f6nnen, so ist dies nicht von langer Dauer, und sie zeigen bald, dafs es Nacht ist.\nWas der Maler, Poet, Musiker und Bedner erzeugt und erdenkt, kann er nur mit H\u00fclfe von Bildern zu st\u00e4nde bringen, und diese Bilder stehen ihm nur in dem Mafse zu Gebote, wie sie durch die Sinneseindr\u00fccke in der Erinnerung haften gehlieben sind. Daher sind Einbildungskraft und Ged\u00e4chtnis voneinander abh\u00e4ngig, vieles davon ist angeborenes Talent, vieles andere anerzogen. Dazu tritt noch jenes unbekannte Etwas hinzu, das die Genies macht. Talent und Genie sind nicht der Form, sondern dem Grade nach verschiedene Stufen der geistigen Entwickelung.\nDas Buch ist klar geschrieben. Arr\u00e9at beherrscht seinen Gegenstand, und er belegt seine Ansichten mit zahlreichen Anf\u00fchrungen aus der Kunst und Litteratur, wobei die deutsche Litteratur mehr zu Geltung kommt, als wir dies bei den Franzosen sonst wohl gewohnt sind.\nPelman.\nWilhelm Enoch. Zur Systematik des Gef\u00fchls. Zeits\u00f6hr. f. Philos. u. philos. Krit. 105. 1. S. 1-28. (1894.)\nVerfasser will zur L\u00f6sung der Frage nach der Einteilung der Gef\u00fchle einen Beitrag liefern. Da sich sein Unternehmen nach Methode und Prinzip von fr\u00fcheren, den gleichen Zweck verfolgenden Versuchen durchaus unterscheidet, so sollen diese letzteren in der vorliegenden Schrift nicht ber\u00fccksichtigt und kritische Auseinandersetzungen jeder Art daher vermieden werden. Unter Zugrundelegung eines teleologischen Prinzips glaubt Verfasser, statt des bisher verfolgten analytisch\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie IX.","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nLi tteraturberi ch t.\nsubjektiven Verfahrens den Weg der Synthese und der objektiven Methode einschlagen zu m\u00fcssen. Die Berechtigung dieses Vorganges soll sich aus den Ergebnissen selbst erweisen. Die Unterschiede der synthetischen und der analytischen Systematik bestehen nach Verfasser darin, dafs die letztere den durch die subjektive Erkenntnis gewonnenen Besitz deutlicher Begriffe und Vorstellungen von den Gef\u00fchlen voraussetzt, w\u00e4hrend die erstere die begriffliche Konstruktion der Gef\u00fchlsarten erst auf Grund einer Analyse der die Gef\u00fchle bewirkenden oder begleitenden objektiven Erscheinungen vollziehe. Nach einigen Vorer\u00f6rterungen, in welchen uns Verfasser zun\u00e4chst mit den von ihm verwandten Grundbegriffen vertraut zu machen sucht, f\u00fchrt er aus, dafs die Gef\u00fchle als nat\u00fcrliche Erseheinungen auch Anteil an den allgemeinen Naturgesetzen und deren Formen nehmen. So ergeben sich nat\u00fcrliche (ontologische) Grundformen des Gef\u00fchls. Teilt man nun die Natur vom Standpunkte der objektiven Erkenntnis in das dreifache Gebiet des Anorganischen, des Organischen und in das der vom bewufsten Willen geleiteten Kultur, so ergiebt sich nach den Verschiedenheiten der aus den kulturellen Motiven und Erzeugnissen resultierenden Zwecke f\u00fcr die gesamte Kultur ein Einteilungsprinzip nach den f\u00fcnf Hauptformen der Industrie, der Kunst, der Wissenschaft, der Sittlichkeit und der .Religion. Die Industrie verfolgt die Erhaltung des Lebens, die Kunst erstrebt das Sch\u00f6ne, die Wissenschaft das Wahre, die Sittlichkeit das Gute und die Religion das Heilige. Da diese kulturellen Endzwecke im Bewufstsein unmittelbar als Gef\u00fchle auftreten, so lassen sich aus ihnen zugleich die entsprechenden Gef\u00fchlsformen ableiten. Verfasser bezeichnet diese daher als Gef\u00fchlsformen des Kulturwillens oder als die Zweckformen des Gef\u00fchls. Da aber der Wille alles Leben durchdringt, so sind die Lebensformen ebenfalls als Willens- und somit wiederum zugleich als Gef\u00fchlsformen aufzufassen. Von diesem Gesichtspunkte aus gewinnt Verfasser die M\u00f6glichkeit, auch die organischen Gef\u00fchlsformen systematisch zu ordnen. Demnach ergiebt sich f\u00fcr die ganze folgende Darstellung eine Dreiteilung, nach welcher I. die nat\u00fcrlichen Grundformen des Gef\u00fchls, II. seine organischen Formen und III. seine Zweckformen behandelt werden.\nAls Naturgegenstand unterliegt das Gef\u00fchl dem Kausalgesetze, das sieh aber, da das Gef\u00fchl dem Willensgebiete angeh\u00f6rt, hier nur als Motivation \u00e4ufsert. Letztere macht sich in der zwiefachen Form des motivierenden und des motivierten Gef\u00fchls geltend und ist dem gewollten, resp. gescheuten oder dem erreichten, resp. verfehlten Zwecke entsprechend als Vor- und Folgegef\u00fchl zu bezeichnen. Gef\u00fchls- und Willensth\u00e4tigkeit sind jedoch in ihren Unterschieden fest zu bestimmen. \u201eDer Wille ist der Vater, und Vor- und Folgegef\u00fchl sind seine Kinder.\u201c Das Vorgef\u00fchl tritt als Ahnung, Wunsch, Begierde, Absicht, Entschlufs, Neigung, Trieb, Willensrichtung und Charakter auf, das Folgegef\u00fchl als Lust oder Unlust, Billigung, Zustimmung, Stimmung, Gem\u00fctsart oder Temperament. Eine weitere Eigenschaft des Gef\u00fchls ist die Polarit\u00e4t desselben, worunter Verfasser die Gegens\u00e4tze der Lust und Unlust, der Billigung und Mifsbiliigung, der Anerkennung und Verwerfung u. s. w. versteht. Werden diese polarischen Gegens\u00e4tze als positive und negative","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n147\nGef\u00fchle bezeichnet, so ergeben sich, die vier Hauptformen der positiven und negativen Vorgef\u00fchle, der positiven und negativen Folgegef\u00fchle. \u201eAlle vier k\u00f6nnen die Kausalit\u00e4ts- oder Willensformen, auch die Motivations- oder Wirksamkeitsformen, endlich auch die dynamischen Formen des Gef\u00fchls heifsen.w\nUnter Hervorhebung des Nutzens der so gewonnenen Definitionen er\u00f6rtert Verfasser in einer Anmerkung die Unterschiede einer Systematik und eines Systems der Gef\u00fchle. \u201eDie Systematik des Gef\u00fchls hat es mit den Begriffen vom Gef\u00fchl zu thun.\u201c \u201eDas System der Gef\u00fchle aber zeigt, wo der Sprachschatz l\u00fcckenhaft ist und wo er einen hinderlichen \u00dcberflufs entfaltet.\u201c\nVon den dynamischen Gef\u00fchlsformen sind die mathematischen zu scheiden, die wiederum nach Dauer, Zahl und St\u00e4rke der Gef\u00fchle auseinandergehen. So unterscheidet sich der Wunsch von der Neigung durch die k\u00fcrzere, die Stimmung vom Gef\u00fchl des Augenblicks durch l\u00e4ngere Dauer. Ein l\u00e4nger dauerndes Vorgef\u00fchl wird zur Willensrichtung oder Gesinnung; erstreckt sich die Stimmung auf das Folgegef\u00fchl, so entsteht die Gem\u00fctsart oder das Temperament. Nach der Zahl gliedern sich die Gef\u00fchle in einmalige und wiederholte, nach dem St\u00e4rkegrade in starke (heftige) und schwache (sanfte). Alle diese Formen verbinden sich h\u00e4ufig, aber da die aus solchen Verbindungen resultierenden neuen Gef\u00fchlsarten nicht in die Systemafck, sondern in das System der Gef\u00fchle geh\u00f6ren, so begn\u00fcgt sich Verfasser mit der Aufz\u00e4hlung weniger Beispiele. Das kurzdauernd starke Gef\u00fchl kann explosiv genannt werden, doch wird es meistens als Effekt bezeichnet. Das andauernd starke ist die Leidenschaft, das bleibend schwache die Gesinnung, das bleibend starke der Charakter. Aus einer Kombination dynamischer und mathematischer Gef\u00fchlsarten entsteht ebenfalls eine grofse Anzahl neuer Formen, auf welche Verfasser jedoch nicht n\u00e4her eingeht.\nIn einer diesen Er\u00f6rterungen zugef\u00fcgten Anmerkung sucht Verfasser den Nutzen seiner Betrachtungsweise besonders in der Frage nach den Arten des Temperaments nachzuweisen. Dabei erscheint ihm Wunuts Einteilung der Temperamente unhaltbar; \u201edenn St\u00e4rke ist ein Einteilungsgrund, der dem Gef\u00fchl \u00fcberhaupt zukommt, also in jedem Temperament sich vorfinden mufs, und von der Geschwindigkeit ist es mehr als zweifelhaft, was sie in Bezug auf das Gef\u00fchl bedeuten soll.\u201c Verfasser findet, dafs die Alten das Wesen des Temperaments infolge ihrer Einteilung nach physiologischen Gesichtspunkten in ein blutreiches, galliges u. s. w. bereits besser verstanden, doch bleibt es ihm zweifelhaft, wie weit sie sich bei ihrer Einteilung auf wirkliche organische Unterschiede st\u00fctzten. Es ist aber nach Verfasser sicher, \u201edafs das Temperament des L\u00f6wen sich sehr von dem des Schafes unterscheidet, und dafs dieser Unterschied in der Organisation dieser Tierarten begr\u00fcndet ist.\u201c\nIm weiteren Verlaufe der Darstellung werden die organischen Formen des Gef\u00fchls besprochen. Kurz zusammengefafst, ergiebt diese Betrachtung, dafs man f\u00fcnf Hauptfunktionen des Lebens an-\n10*","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148\tLitteraturbericht.\nnehmen und diese als vegetative (Ern\u00e4hrung, Wachstum, Fortpflanzung), motorische (Bewegung), sensorische (Sinnlichkeit oder Empfindung), intellektuelle (Spontaneit\u00e4t oder Verstand) und soziale (Vereinigung oder Gemeinschaft) bezeichnen kann. Nach diesen, vom Willen in der Organisation angenommenen Formen ordnen sich unter Zuh\u00fclfenahme der Gattungsbegriffe von Lust und Unlust auch die durch denselben in die Erscheinung tretenden Gef\u00fchlsformen. Als Beispiele dieser Art f\u00fchrt Verfasser an: \u201eHunger und S\u00e4ttigung (vegetative), Munterkeit und M\u00fcdigkeit (motorische), Wohlgeschmack und \u00dcbelgeschmack (sensorische), Hoffnung und Furcht (intellektuelle), Liehe und Hafs oder Freundschaft und Feindschaft (soziale).\u201c\nNach der auch diesen Ausf\u00fchrungen nachgestellten Anmerkung giebt es aufser den grofsen Werken von H. Spencer zu der vom Verfasser unternommenen Ableitung kaum Vorarbeiten. Als Muster seiner eigenen Anschauungsweise erscheint dem Verfasser Plato.\nDen letzten Abschnitt der Abhandlung nehmen die Zweckformen des Gef\u00fchls ein, die nach den vom Kulturwillen verfolgten Zwecken, wie bereits oben erw\u00e4hnt, ihre Einteilung erfahren.\nAm Schl\u00fcsse sind die gewonnenen Ergebnisse nochmals in einer Tafel \u00fcbersichtlich zusammengestellt. Demnach fallen die unter I. und II. aufgef\u00fchrten ontologischen und organischen Gef\u00fchlsformen unter die Erscheinungen des N a tur willens, die unter III. behandelten Zweckformen des Gef\u00fchls unter die des Kultur willens.\nKeferent unterl\u00e4fst, auf die Einzelheiten der Abhandlung einzugehen. Im allgemeinen sei bemerkt, dafs die vorliegende Arbeit, in der Verfasser zudem mehr als einen blofsen Versuch einer Systematik des Gef\u00fchls zu sehen scheint, infolge der Nichtbeachtung anderer, auf Grund eingehenderer Forschungen gewonnener Anschauungen nur den Charakter willk\u00fcrlicher Annahmen erhalten und auf praktische Verwendung daher schwerlich ernsten Anspruch erheben kann. In keinem Falle kann Keferent selbst den Ausf\u00fchrungen des Verfassers zustimmen.\nF. Kiesow (Leipzig).\nJ. Mark Baldwin. Imitation: A Chapter in the Natural History of Consciousness. Mind. N. S. Vol. III. No. 9. S. 26\u201455. (1894.)\nDer wohlbekannte Verfasser bietet hier eine sehr interessante Untersuchung \u00fcber Wesen und Bedeutung der Nachahmung, ein Gebiet, das bis jetzt nur von Tarde und Sighele eingehend behandelt worden ist und \u00fcber das sich B. noch ausf\u00fchrlicher in seinem demn\u00e4chst erscheinenden Buch : Mental Development in the Child and the Dace (Macmillan & Co.) verbreitet. Unter Nachahmung versteht er eine ganz regelm\u00e4fsige senso-motorische Keaktion, die sich von anderen dadurch unterscheidet, dafs sie ihren Keiz wiederholt ; darum bezeichnet er sie als Cirkularaktivit\u00e4t \u2014 Kreisth\u00e4tigkeit. Er steht dabei auf dem Standpunkte der. auf der Entwickelungslehre sich auf bauenden modernen Willenstheorie, wie sie von Ziehen u. A. vertreten wird, h\u00e4lt aber mit Lewes f\u00fcr wahrscheinlich, dafs","page":148}],"identifier":"lit29683","issued":"1896","language":"de","pages":"145-148","startpages":"145","title":"Wilhelm Enoch: Zur Systematik des Gef\u00fchls. Zeitschr. f. Philos. u. philos. Krit. 105. 1. S. 1-28. 1894","type":"Journal Article","volume":"9"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:27:17.269394+00:00"}