Open Access
{"created":"2022-01-31T14:19:54.240799+00:00","id":"lit29691","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Pelman","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 9: 158-160","fulltext":[{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nLitter aturbericht.\nder schreckhafte Inhalt, die Eigenbeziehung und jeder Zusammenhang der Visionen unter sich und mit dem sonstigen Vorstellungsleben des Deliranten. Auffallenderweise wurden Tiere selten, Ratten und M\u00e4use gar nicht gesehen; diese Verschiedenheit gegen\u00fcber dem Vorherrschen spontan auftretender Tieryisionen erkl\u00e4rt sich nach Verfassers Ansicht dadurch, dafs beim spontanen Delirium der Kranke infolge des bestehenden schreckhaften Affektes auf die Vision von Tieren heftiger als auf das Sehen anderer Gegenst\u00e4nde reagiert und diese affektbetonten Vorstellungen nat\u00fcrlich fester im Ged\u00e4chtnis beh\u00e4lt und durch sein Verhalten oder seine Angaben zum Ausdruck bringt.\nPeretti (Grafenberg).\nCesare Lombroso. Die Anarchisten. Eine kriminal-psychologische und soziologische Studie. Deutsch von Dr. Ktjrella. Mit einer Tafel und f\u00fcnf Textabbildungen. Hamburg, 1895. Verlagsanstalt und Druckerei A.-G. (vormals J. F. Richter). 139 S.\nWenn Lombroso in seinen Werken oft genug die Kritik herausgefordert und sie geradezu gezwungen hat, ihm recht harte Dinge zu sagen, so sind wir diesem neuesten Werke gegen\u00fcber in der weit angenehmeren Lage, unsere Anerkennung und Bewunderung durch kein \u201eaber\u201c einschr\u00e4nken zu m\u00fcssen.\nIn grofsen, gewaltigen Z\u00fcgen entwirft Lombroso ein Bild des Anarchismus, und was er \u00fcber dessen Wesen und Ursachen sagt, geh\u00f6rt mit zu dem Besten, was er je geschrieben. Er geht scharf, sehr scharf mit den staatlichen und gesellschaftlichen Zust\u00e4nden ins Gericht, und wenn er auch die ganze F\u00fclle seines Zornes \u00fcber sein eigenes Vaterland ausgiefst, und ich mich wohl h\u00fcten werde, die b\u00f6sen Dinge, die er dem Unterrichte, dem Parlamentarismus und mehr noch den Parlamentariern, den herrschenden Klassen und ihren Gesetzen nachsagt, von italienischem auf deutschen Boden zu \u00fcbertragen, so l\u00e4fst sich doch andererseits nicht leugnen, dafs auch bei uns nicht alles vollkommen ist, und dafs hier wie dort die Bedingungen f\u00fcr eine Unzufriedenheit gegeben sind, die sich in einem tollen, aber naiven Geiste als Protest gegen alles Bestehende und in der Form der anarchistischen Ideen \u00e4ufsern k\u00f6nnen.\nWie Krapotkin bemerkt, bleibt der beherrschten Masse, wenn sie unzufrieden ist, nur der Appell an die Gewalt, und gerade dieser Teil der Lehre ist es, der die gr\u00f6fste Anziehungskraft auf alle antisozialen und verkommenen Elemente aus\u00fcbt und sie zu gemeinen Verbrechern macht, indem sie jedes Mittel anwenden, das zur Erreichung ihres Zweckes f\u00fchrt, und in der Abschlachtung einiger v\u00f6llig harmloser Opfer die Erf\u00fcllung einer Pflicht erblicken.\nAls Werk einer Minderheit mufs der Anarchismus durch seine ungeordneten Fortschrittsbestrebungen, die sich in Gewaltthaten \u00e4ufsern, die Entr\u00fcstung und den Widerstand der Majorit\u00e4t erwecken, die ihrer ungeheuren Mehrheit nach neuerungsfeindlich und allem abgeneigt ist, was eine tiefgreifende St\u00f6rung bedingt. Dem Anarchismus neigen sich","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"Litter a turbericht.\n159\ndaher zun\u00e4chst viele Verbrecher und Geisteskranke zu, die ihr abnormes Triebleben zu einer anderen Denk- und Gef\u00fchlsart treibt, als den normalen und ehrlichen Menschen. Zu ihnen gesellen sich die impulsiven Naturen, die nicht jene Hemmung von seiten des normalen Gef\u00fchles sp\u00fcren, die den Durchschnittsmenschen davor zur\u00fcckschrecken l\u00e4fst, seine Ziele durch Attentate auf Regenten, durch Mordbrennerei, kurz durch Mittel zu erstreben, die dem normalen sittlichen Gef\u00fchl ebenso widerstreben, wie den herrschenden Anschauungen und Gesetzen.\nIn den folgenden Kapiteln behandelt Lombroso das Verbrechertum, Epilepsie und Geistesst\u00f6rung unter den Anarchisten, wobei er eine Anzahl von Beispielen anf\u00fchrt.\nVon ganz besonderem Interesse ist das sechste Kapitel, die Leidenschaftsverbrecher und der Fall Caserio, und wir werden es Lombboso zugestehen m\u00fcssen, wenn er diesen als das klassische Bild des von einem Gedanken v\u00f6llig beherrschten und erf\u00fcllten Fanatikers, als eine Wiederholung der Sendboten des Alten vom Berge auffafst. Der Rest von Altruismus, der ihm geblieben, suchte seine Ent\u00e4ufserung im Fanatismus, und da in Italien f\u00fcr religi\u00f6sen Fanatismus kein Boden ist, schlug er anarchistische Bahnen ein.\nDafs eine so absurde Lehre, wie es der Anarchismus ist, so viele fanatische Anh\u00e4nger finden kann, liegt in der Natur des Fanatikers, der den schlechtesten Hypothesen am ersten folgt. F\u00fcr einen theologischen oder metaphysischen Satz finden sich hundert Fanatiker, und f\u00fcr ein geometrisches Theorem nicht einer, und je sonderbarer und absurder ein. Gedanke ist, desto mehr Narren und Halbnarren zieht er an. Dies gilt vorzugsweise auf dem Gebiete der Politik, wo der Reiz der \u00d6ffentlichkeit hinzutritt. Wie Bourdeau sich ausdr\u00fcckt, geh\u00f6rt die Mehrzahl der Anarchisten zu den philanthropischen M\u00f6rdern, es ist die Liebe zu den Menschen, die sie treibt, toll gegen das Menschenleben zu w\u00fcten. Und dabei ist ihr tollster Wahnsinn der, dafs sie beanspruchen, morden zu d\u00fcrfen, aber jedesmal nach Rache schreien, wenn ihre Opfer an ihnen Vergeltung \u00fcben und sich ihre furchtbaren Mittel gegen sie selbst wenden.\nLombroso zieht mit der ihm eigenen r\u00fccksichtslosen Konsequenz, aus seinen Ausf\u00fchrungen den Schlufs, dafs, wenn es ein schweres Verbrechen g\u00e4be, gegen welches nicht nur die Todesstrafe, sondern \u00fcberhaupt die schwersten entehrenden Strafen nicht in Anwendung kommen sollten, es das der Anarchisten sei.\nEinmal n\u00e4mlich seien viele von ihnen nur geisteskrank, und zweitens mache sie ihr Altruismus mildernder Umst\u00e4nde w\u00fcrdig. Zudem g\u00e4be es f\u00fcr die Glut umst\u00fcrzlerischer Bestrebungen keine kr\u00e4ftigere Nahrung, als die M\u00e4rtyrerlegenden, welche die Phantasie zahlreicher Schw\u00e4rmen erregen, von denen die moderne Gesellschaft wimmelt, und die stets ein bedeutendes Element aller revolution\u00e4ren Unruhen gewesen sind. In jeder Gesellschaft hat eine Anzahl von Leuten das Bed\u00fcrfnis, das Martyrium zu bewundern, sich daf\u00fcr zu begeistern und selbst danach zu streben; sie finden ihre Lust daran, als Verfolgte und Opfer der Gewalt und Schlechtigkeit zu erscheinen, und sie w\u00e4hlen unter den politischen Parteien f\u00fcr sich die aus, welche die meisten Gefahren verspricht, wie-","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"Li tieratur ber idit.\n160\ngewisse Touristen am liebsten jene Berge besteigen, wo die Abgr\u00fcnde am tiefsten und -die Felsen am steilsten sind. F\u00fcr Menschen dieses Schlages hat der Anarchismus deshalb einen Beiz, weil er f\u00fcr sie Beklame macht durch die sensationellen Verfolgungen, die seinen Anh\u00e4ngern zu teil werden. Nichts ist gef\u00e4hrlicher, als die Phantasie dieser Leute durch den Leichnam eines Hingerichteten zu erregen.\nVerbannung und Deportation sind ihm f\u00fcr diese Kategorie von Verbrechern am meisten angezeigt, daneben sollten alle epileptischen Monomanen und alle von anarchistischen Ideen angesteckten Halbnarren in die Irrenh\u00e4user gesteckt werden; und wenn er \u00fcberdies empfiehlt, der Bev\u00f6lkerung freie Hand zu lassen, gegen die Thaten der Anarchisten selbst\u00e4ndig zu reagieren, so kommt hier nur eine alte Liebe Lombrosos zum Vorschein, seine Verehrung f\u00fcr das Lynchgesetz.\nIm \u00fcbrigen w\u00fctet die Anarchie in den schlechtest regierten L\u00e4ndern, gerade wie die Cholera bei ihrem Auftreten diejenigen Quartiere der Stadt bezeichnet, deren Bev\u00f6lkerung und H\u00e4user einer hygienischen Beform bed\u00fcrfen, und deshalb sollte ihr Erscheinen auf die Apathie der Massen und der Politiker als Impuls zu Besserung der Zust\u00e4nde wirken und auf die Mafsregeln hinweisen, durch welche die als ihre Ursache wirkenden \u00dcbelst\u00e4nde beseitigt werden k\u00f6nnen, und mit den Worten: \u201eIch hoffe von Herzen, dafs man dem Anarchismus gegen\u00fcber nicht zu kindischen und unn\u00fctzen Grausamkeiten greift, welche die wirklichen Beformparteien sch\u00e4digen, den Anarchismus selbst aber nur gr\u00f6fser und furchtbarer machen m\u00fcssen\u201c beschliefst Lombroso sein Buch, das neben dem Vorz\u00fcge des Zeitgem\u00e4fsen noch den weit h\u00f6heren beanspruchen kann, eine F\u00fclle der Anregung und Belehrung in sich zu enthalten.\nPelman.","page":160}],"identifier":"lit29691","issued":"1896","language":"de","pages":"158-160","startpages":"158","title":"Cesare Lombroso: Die Anarchisten. Eine kriminal-psychologische und soziologische Studie. Deutsch von Dr. Kurella. Mit einer Tafel und f\u00fcnf Textabbildungen. Hamburg, 1895. Verlagsanstalt und Druckerei A.-G. (vormals J. F. Richter). 139 S.","type":"Journal Article","volume":"9"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:19:54.240805+00:00"}