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{"created":"2022-01-31T14:25:04.571773+00:00","id":"lit29692","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Simmel, G.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 9: 206-220","fulltext":[{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"Skizze einer Willenstheorie.\nVon\nGr. Simmel.\nDie Entwickelung des bewufsten und vemunftm\u00e4fsigen Willens, sowohl in der Gattung wie im Individuum, l\u00e4fst man in der Regel von dem \u201eTriebe44, als ihrer ersten Stufe, ausgehen. Dieselbe Kraft, die sich im Willen darstellt, scheint ihre primitivste \u00c4ufserung als Trieb zu gewinnen. Jedenfalls ist die Einsicht in das Wesen des Triebes eine Br\u00fccke zum Verst\u00e4ndnis des Willens.\nDer Trieb erscheint uns als die Ursache bestimmter Handlungen, der Geschlechtstrieb als Ursache der Begattung, der Ern\u00e4hrungstrieb als Ursache des Aufsuchens und Aneignens der Nahrung. Um diese Vorstellung zu pr\u00fcfen, mache man sich zun\u00e4chst klar, dafs z. B. die Aufnahme der Nahrung, ja selbst die Nahrungssuche, auf die der Trieb f\u00fchren soll, stattfinden k\u00f6nnen und auf niederen Stufen thats\u00e4chlich stattfinden, ohne dafs der psychische Vorgang des Triebes dabei vorausgesetzt werden darf, z. B. bei der Ern\u00e4hrung des Embryos, bei Meertieren, denen die Nahrung zufliefst, bei der Atmung, die doch auch als eine Ern\u00e4hrung anzusehen ist und erst, wenn sie einmal behindert ist, als Trieb bewufst wird. Wenn zur physischen Erhaltung eines Wesens Ern\u00e4hrung n\u00f6tig ist, so sorgt die nat\u00fcrliche Zweckm\u00e4fsigkeit, die allenthalben die Bed\u00fcrfnisse und Funktionen der Organe in \u00dcbereinstimmung gebracht hat, schon daf\u00fcr, dafs das Aufsuchen und Aufnehmen der Nahrung stattfindet. Bei gewissen niederen Meertieren, z. B. den Radiolarien, geht die K\u00f6rpermasse abwechselnd in eine Anzahl von F\u00e4den auseinander, die sich hin- und herbewegen. Kommt nun zuf\u00e4llig ein verdaulicher Stoff in Ber\u00fchrung mit diesen, so umschliefsen sie ihn sofort, wie durch","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"Skizze einer Willenstheorie.\n207\neinen pr\u00e4zis wirkenden Mechanismus, und ziehen ihn in sich ein. Die kausale Reihe, die von dem Mangelzustand des Protoplasmas zu der Assimilierung der Nahrung f\u00fchrt, ist wenigstens in den Anfangsstadien der Entwickelung offenbar eine rein physische ; das Schlufsglied wird vom Anfangsgliede aus durch so unabwendbare, organische Notwendigkeit herbeigef\u00fchrt, dafs ich nicht sehe, weshalb man noch die psychische Vermittelung eines empfundenen \u201eTriebes\u201c in sie einzusetzen brauchte. G-erade aus der oft unglaublichen Feinheit und Komplikation der Mafsregeln zum Ergreifen der Nahrung, die wir schon bei ganz tiefstehenden Wesen antreffen, scheint mir zu folgen, dafs sie nicht aus psychischen Ursachen entspringen, sondern aus derselben physiologischen Zweckm\u00e4fsigkeit, die auch die h\u00f6chst zusammengesetzten Mechanismen der Verdauung und der Atmung zu st\u00e4nde gebracht hat. Der Hungerzustand \u2014 garnicht einmal das Hungergef\u00fchl \u2014 k\u00f6nnte rein reflektorisch jene Bewegungen veranlafst haben, die bei den niederen Tieren auf den Nahrungserwerb hingehen, wie der K\u00f6rper ja unz\u00e4hlige Male auf seine \u2014 empfundenen oder unempfundenen \u2014 Zust\u00e4nde hin die unter diesen Umst\u00e4nden zweckm\u00e4fsigsten Bewegungen vollzieht, ohne dafs wir noch einen besonderen, auf diese gerichteten \u201eTrieb\u201c dazwischensch\u00f6ben. An die gegebene physiologische Beschaffenheit kn\u00fcpft sich die Bewegung zur Erlangung dessen, was den K\u00f6rper wieder restituiert, wie sich an den Sauerstoffmangel im Blut die Atembewegung heftet, w\u00e4hrend weder der Ausgangspunkt noch der Fortgang des Prozesses eines Bewufstseins bed\u00fcrfen.\nAn diesem Punkte kreuzen sich mehrere erkenntnistheoretische und psychologische Interessen. Zun\u00e4chst spielt das allgemeine, durch die Entdeckung der Erhaltung der Energie so sehr erschwerte Problem hinein: ob \u00fcberhaupt psychische Vorg\u00e4nge die zureichende Ursache von k\u00f6rperlichen Vorg\u00e4ngen sein k\u00f6nnen. Diese Frage, die das Fundament aller Willens-theorieen affiziert, richtet sich zun\u00e4chst gegen den Trieb, und zwar um so ernster, als naturalistische und also mit dem Anspruch besonderer Exaktheit auftretende Anschauungsweisen gerade in der Zur\u00fcckf\u00fchrung des Handelns auf \u201eTriebe\u201c ex-zellieren. Es ist ferner zu fragen, ob der Begriff des Triebes, ganz abgesehen von dieser psychophysichen Schwierigkeit, ein in sich haltbarer ist, d. h. ob eine bestimmte Ph\u00e4nomenengruppe","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"20g\nG. Simmel.\nwirklich nur mit H\u00fclfe dieses Begriffes zu klassifizieren oder\nzu verstellen ist. Endlich, wenn es sich zeigen sollte, dafs\nman denselben \u00fcberhaupt aussparen kann, ist zu fragen, welches\ndenn die realen psychologischen Vorg\u00e4nge sind, die man, in\nder irrigen Meinung, damit etwas zu erkl\u00e4ren, unter ihn\nzusammenzufassen pflegt.\n\u2022\u2022\nUbergehen wir zun\u00e4chst das erstgenannte Problem und fragen nur, was denn damit gewonnen ist, wenn ich die Bewegung eines Tieres auf seine Beute zu als Erfolg des Nahrungs-triebes bezeichne? Nicht mehr, als wenn \u00fcberhaupt eine Bewegung durch Setzung einer auf sie gerichteten Kraft f\u00fcr erkl\u00e4rt gelten soll! Gegeben ist in Wirklichkeit ein Gef\u00fchl und eine Handlung. Das erstere, rein als psychische That-s\u00e4chlichkeit betrachtet, ist ein immanenter Zustand, eine in sich geschlossene Einheit. Wenn es dennoch \u00fcber sich hinauszuweisen scheint, wenn der Trieb sozusagen nicht blofse Gegenwart ist, wie das Gef\u00fchl doch sonst, so ist die Zukunftsbeziehung, die \u00fcber das Gef\u00fchl als aktuellen Bewufstseinsinhalt noch hinausgeht, nur ein zu diesem letzteren durch reflektierendes Be-wufstsein hinzugesetzter Bestandteil; gerade dieser aber ist es, der als Ursache die nachfolgende Bewegung erkl\u00e4ren soll. Der entscheidende Punkt liegt in der Beseitigung des teleologischen Momentes im Triebe: darin, dafs in die einfache Kausalkette zwischen einem Mangelzustand und den Abh\u00fclfsbewegungen nicht noch ein Glied hineininterpretiert werde, das diese letzteren schon in irgend einer Form antizipierend in sich enth\u00e4lt. Es wird damit, von der Seite der Ursache gesehen, in feinerer Form derselbe Fehler begangen, als wenn man in dem Samenkorne aufser der bestimmten Qualifikation und Lagerung seiner Molek\u00fcle noch einen \u201eTrieb\u201c zum Wachsen, oder in den Materienmassen einen \u201eTrieb\u201c, sich einander zu n\u00e4hern, erblicken wollte; von der Seite der Folge dasselbe, als wenn man das Sprechen durch einen besonderen Sprachtrieb, die Wegfindung der Wanderv\u00f6gel durch einen Orientierungssinn oder das logische Denken durch die Kraft der Vernunft erkl\u00e4rt glaubt. Gewifs geht sehr vielen Aktionen ein gewisses Gef\u00fchl voran ; dafs dieses Gef\u00fchl aber aufser seinem konkreten Bewufstseinsinhalt noch eine Art speziellen Hinweises auf die darauf folgende That enthalten soll, dafs \u00fcber seine blofs kausale Entwickelung, durch die es sich prinzipiell von keiner","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"Skizze einer Willenstheorie.\n209\nanderen psychologischen Konstellation unterscheidet, noch eine teleologische bestehen soll, dafs, mit einem Wort, in den \u201eTrieb\u201c genannten Gef\u00fchlen die Zukunft noch in anderer Weise liege, als \u00fcberhaupt in jedem gegebenen Moment einer Kausalreihe ihre Zukunft liegt, \u2014 das ist ein Rest jener popul\u00e4ren Metaphysik, die, aus Anthropomorphismus und naivem Kausalbed\u00fcrfnis hervorgegangen, von dem Sprachgebrauch her der Wissenschaft vererbt ist. Der Ern\u00e4hrungstrieb dr\u00fcckt nur die Thatsache aus, dafs wir uns ern\u00e4hren und die dazu erforderlichen Handlungen vornehmen, und dafs dies doch wohl eine Ursache haben mufs; was diese Ursache aber sei, wird dadurch, dafs wir einen ad hoc angenommenen Trieb davorsetzen und mit den thats\u00e4chlich vorhergehenden Gef\u00fchlszust\u00e4nden f\u00fcr identisch erkl\u00e4ren, noch in keiner Weise erkannt.\nWichtiger aber als diese \u00dcberlegung, nach der der \u201eTrieb\u201c methodologisch auf derselben Stufe steht, wie die \u201eSeelenverm\u00f6gen\u201c, ist die Frage, was denn nun der mit ihm bezeich-nete psychologische Zustand ist, und worin sein empirisch unleugbarer Zusammenhang mit den nach ihm eintretenden Aktionen besteht. Ich glaube \u2014 wenngleich diese Ansicht zun\u00e4chst als absolute Paradoxie erscheinen mufs \u2014, dafs der sog. \u201eTrieb\u201c \u00fcberhaupt nicht der Handlung vorausgeht, sondern die Bewufstseinsseite oder -folge der schon beginnenden Handlung ist. Die \u00e4ufserlich erscheinende Handlung allerdings tritt erst nach dem Triebe ein; allein sie selbst ist erst die Folge tiefer gelegener Innervationsvorg\u00e4nge und beginnt mit Ans\u00e4tzen, die nicht selbst schon sichtbar sind, wohl aber schon psychische Reflexe ausl\u00f6sen k\u00f6nnen. Wenn wir uns zu einer Handlung getrieben f\u00fchlen, so haben offenbar die Innervationen, welche zu ihr f\u00fchren, schon begonnen, und das Gef\u00fchl des Getriebenwerdens ist die \u00dfewufstseinsfolge oder psychische Begleiterscheinung der allm\u00e4hlich frei werdenden, nach dieser Seite hin gehenden Spannkr\u00e4fte. Die Empfindung der Passivit\u00e4t, des Affiziertwerdens, die wir dem Triebe gegen\u00fcber haben, giebt Anweisung darauf, dafs er uns sozusagen schon eine Thatsache mitteilt. Ich habe an einem anderen Orte (.Einleitung in die Moralwissenschaft I, 247\u2014249) aus Thatsachen des unmittelbaren Bewufstseins deduziert, dafs zwischen dem Triebe und der That keine scharfe Grenze existiert, dafs beides Stationen einer und derselben Entwickelung sind. Gerade die\n14\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie IX.","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210\nG. Simmel.\nletzte Vornahme und das wirkliche Thun, so hatte ich dort gesagt, erfolgt oft gewissermafsen mechanisch, \u2014 als ein nicht mehr aufzuhaltendes Weiterrollen der einmal entfesselten inneren Bewegung, die das Bewufstsein mehr mitansieht und \u00fcber sich ergehen l\u00e4fst, als dafs es sich jetzt noch als die bewegende Kraft f\u00fchlte. Dies ist der blofs psychologisch-ethische That-bestand ; er wird aber erst dadurch verst\u00e4ndlich, dafs der Trieb, als Bewufstseinsinhalt, die Empfindungsseite der beginnenden Handlung ist, der Bewufstseinsreflex der schon stattfindenden Innervation zu derselben. Wenn der Trieb schon f\u00fcr einen Teil der That gilt \u2014 wie Jesus das Begehren nach des N\u00e4chsten Weib als Ehebruch bezeichnet \u2014, so ist dies der ganz richtige Ausdruck daf\u00fcr, dafs er wirklich das seelische Zeichen f\u00fcr den Beginn derselben ist, unbeschadet dessen, dafs ihre Fortsetzung bis zur konstatierbaren Realisierung hier, wie bei allen anderen Entwickelungsreihen, unz\u00e4hlige Male durch gegenwirkende Kr\u00e4fte verhindert sein kann. Wenn man zwischen Mangelzustand und Abh\u00fclfsbewegung noch den Trieb als vermittelnde Kraft eingeschoben hat, so liegt dieser falschen Hypostase doch das richtige Gef\u00fchl zu Grunde, dafs der Beginn der motorischen Vorg\u00e4nge vor ihrer ersten Sichtbarkeit liegt, und dafs ihre reale Ursache dieser unmittelbar vorhergehende Innervationszustand ist, dessen psychisches Signal dann das Triebgef\u00fchl bildet. Ganz ebenso liegt es bei den repulsiven Trieben des Abscheus und der Abwehr. Diese kommen so zu st\u00e4nde, dafs irgend ein Eindruck das Tier trifft, dem sich weiter auszusetzen demselben verderblich w\u00e4re. Die organische Zweckm\u00e4fsigkeit wird also solche Eindr\u00fccke mit Fluchtbewegungen assoziiert haben, und der Fluchttrieb ist nichts anderes, als das Gef\u00fchl des Beginnes dieser Bewegung \u2014 gerade wie der Geschlechtstrieb nichts anderes ist, als das Gef\u00fchl derjenigen Reizung vasomotorischer Nerven, die den wirklichen Geschlechtsakt einleiten.\nWeil der Trieb nicht vor der Handlung \u00fcberhaupt liegt, sondern das Gef\u00fchl ihres Beginnes ist, darum wird er auch ganz besonders stark bewufst, wenn der Weg zu dem definitiven Ziele ein l\u00e4ngerer ist, also bei eintretenden Hindernissen des Thuns, w\u00e4hrend er ebenso begreiflich erlischt, wenn die Handlung dauernd behindert und unterdr\u00fcckt wird \u2014 denn dies zerst\u00f6rt schliefslich den Mechanismus, der sonst von dem","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"Skizze einer Willenstheorie.\n211\nbestimmten Zustande aus die Innervation zur Abh\u00fclfsbewegung bewirkt, und mit ihm nat\u00fcrlich auch seine psychische Abspiegelung; darum auch kommt \u201eder Appetit beim Essen\u201c, darum bilden sich Triebe zu Dingen, die wir oft thun -\u2014 weil diese eben gleichsam von selbst ihre Verwirklichung beginnen, auf die leiseste Anregung hin wenigstens die Anfangsglieder derselben abrollen lassen und diese als Trieb zur Handlung empfunden werden. Darum kn\u00fcpft sich auch an den Trieb schon ein Teil der Lust, die die schliefsliche Handlung begleitet \u2014 nicht aus dem Triebe, der selbst nur ein Gef\u00fchlszustand ist, entsteht sie, aber sie ist mit ihm gleichzeitig, weil der Trieb selbst schon aus einem Teile der Handlung hervorgeht, der pro rata an der der Gesamthandlung entsprechenden Lust partir zipiert. Und weil es eben nur der Ansatz der Handlung ist, der dem Triebe entspricht, darum empfinden wir diesen meistens als etwas Unbestimmtes, Allgemeines, dessen spezielle Bichtung auf diesen oder jenen Gegenstand sich erst im Laufe seiner Entwickelung n\u00e4her bestimmt, und der seine Befriedigung auch an sehr verschiedenen Gegenst\u00e4nden finden kann \u2014 denn der Beginn der Handlung, die erste Innervation, ist selbst noch unbestimmt, keimhaft und l\u00e4fst einer Mannigfaltigkeit m\u00f6glicher Richtungen und Bestimmungen Baum.\nWenn nun selbst gegen\u00fcber denjenigen Vorg\u00e4ngen, die der Erscheinung nach ein unmittelbares Umsetzen des Triebgef\u00fchles in Handlung zeigen, meine Vermutung plausibel kl\u00e4nge, die jenes Gef\u00fchl als den Bewufst seins reflex des noch nicht sichtbaren inneren Stadiums der Handlung deutet \u2014 so scheint der eigentliche \u201eWille\u201c in eine ganz andere Kategorie zu geh\u00f6ren. Denn ihn charakterisiert gerade das Fehlen jener Unmittelbarkeit zwischen psychischem Impuls und psychischer Handlung, infolgederen man beim Triebe allerdings den einen direkt als den psychisch gespiegelten Anfang der anderen ansprechen konnte: unz\u00e4hliges wollen wir, was wir doch nicht thun ; anderes, was wir wollen, thun wir zwar, aber doch nicht in unmittelbarer Fortsetzung dieses Willens, sondern nach langem Aufschub ; entgegengesetzte Wollungen treten zu gleicher Zeit und oft mit gleicher Kraft in uns auf, deren ebenso gleichzeitige Realisierungen gerade physisch unm\u00f6glich w\u00e4ren; endlich \u2014 was schon gegen die obige Trieblehre gilt \u2014 thun wir vieles, was oft Willens Vorsatz ist, unter Umst\u00e4nden auch\n14*","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212\nG. Simmel.\nv\u00f6llig mechanisch, ohne irgend ein vorhergehendes Bewufstsein, und es w\u00e4re unverst\u00e4ndlich, wieso die physisch ganz gleiche Handlung einmal mit, einmal ohne Willen abliefe, wenn dieser wirklich nichts anderes w\u00e4re, als die JBewufstseinsseite eines Teiles dieser Handlung.\nAlle diese Bedenken gegen die M\u00f6glichkeit, unter dem Willen zu einer Handlung die als Gef\u00fchl zur\u00fcckschlagende Innervation zu dieser Handlung zu verstehen, erleichtern sich, sobald man den reinen, wirklichen Begriff des Willens von jenen anderen psychischen Vorg\u00e4ngen scheidet, die nur willensartig gef\u00e4rbt sind. Jene Vorstellung, dafs man Dinge wollen k\u00f6nne, die man dann doch nicht thut, ist gerade von dem Standpunkte der hergebrachten Psychologie, die im Wollen eine spezifische Energie der Psyche sieht, nicht haltbar. Denn angenommen, ich wollte jetzt eine bestimmte Aktion, n\u00e4hme sie aber doch nicht vor, so w\u00fcrde in anderen F\u00e4llen, wo ich sie thats\u00e4chlich vornehme, noch eine weitere Kraft erforderlich sein, die erst zum Wollen hinzutr\u00e4te, um es in die Handlung \u00fcberzuf\u00fchren \u2014 eine Kraft, die eben nicht Wollen w\u00e4re, weil dieses sich ja, der Voraussetzung nach, schon vorher vollkommen entfaltet hatte. Die Verselbst\u00e4ndigung des Willens gegen\u00fcber der Kealisierungshandlung macht gerade denjenigen Zweck illusorisch, um dessentwillen man den Willen zu einer besonderen psychischen Kraft gemacht hatte, n\u00e4mlich an ihm eine zureichende Ursache des Handelns zu gewinnen. Denn, wenn bei vorhandenem Willen die Handlung bald eintreten, bald nicht eintreten kann, so folgt, dafs nicht er, sondern irgend eine andere Potenz die eigentliche Ursache der Handlung ist. Soll der Wille \u00fcberhaupt die Ursache des Handelns sein, so mufs auch die ausnahmslose Unmittelbarkeit des allgemeinen Verh\u00e4ltnisses zwischen Ursache und Wirkung zwischen ihnen bestehen. Dagegen ist nat\u00fcrlich kein Einwand, dafs wir vieles, das wir wollen, doch erst nach langer Zeit realisieren. Dann bezieht sich eben der jetzige, d. h. wirkliche Willensakt nicht auf jene Handlung, sondern auf das Auf schieben oder auf das Vorbereiten derselben, und sie selbst taucht nicht unter der Kategorie des unmittelbaren Wollens, sondern nur des Wunsches oder der M\u00f6glichkeit auf. Dasjenige hingegen, was ich nicht nur w\u00fcnsche, ersehne, hoffe, vorbereite, sondern was ich thun will, das thue ich auch unmittelbar, weil ich sonst ja eben","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Skizze einer W\u00fclenstheorie.\n213\nnicht dies, sondern etwas anderes gewollt h\u00e4tte. Die Zeitdifferenz zwischen dem Willen und der Aktion, die seinen Inhalt bildet, besteht also nur durch ungenaue Begriffe und w\u00fcrde kein Hindernis ausmachen, den Willen als das Gef\u00fchl zu definieren, das den Beginn der \u2014 irgendwie, aber jedenfalls nicht durch den Willen veranlafsten \u2014 Handlung begleitet.\nNimmt man dies an, so bieten auch die sonstigen scheinbaren Zusammenhangslosigkeiten zwischen Wollen und Handeln keine erheblichen Schwierigkeiten. Jener physische Vorgang, der, in seinen fr\u00fchesten Stadien als Willensgef\u00fchl zur\u00fcckschlagend, sich in die Aktion fortsetzt, braucht nicht immer so weit yorzuschreiten. Er kann, gerade wie jede andere physische Bewegung, auf jener ersten Stufe Halt machen, sei es, weil die in ihm enthaltene Energie von vornherein nicht weiter reichte, sei es, weil ihm Hindernisse und Ableitungen begegnen, die er nicht \u00fcberwinden kann. Der Anfang aber ist uns inzwischen als Wille zum Bewufstsein gekommen. Ebenso verst\u00e4ndlich sind jene gleichzeitigen und verschieden gerichteten Wollungen, deren Existenz in uns \u2014 trotz aller vorgeblichen \u201eEinheit des Willens\u201c \u2014 ebenso unzweifelhaft ist, wie die Unm\u00f6glichkeit ihrer gleichzeitigen Ausf\u00fchrung. Dies ist genau nach Analogie des Vorganges in einem physischen System zu denken, in dem zwei gleichzeitige Bewegungen an verschiedenen Stellen derart entstehen, dafs sie bei gleich gerichteter ununterbrochener Fortsetzung sich begegnen und gegenseitig paralysieren m\u00fcssten, bezw.jede ihre Fortsetzung \u00fcber einen gewissen Punkt hinaus nur unter der Voraussetzung finden kann, dafs die andere irgendwie abgelenkt oder aufgehoben wird. Denkt man sich nun den Willen als das psychische Korrelat des Anfangsstadiums der Handlung, so ist es durchaus widerspruchslos, dafs zwei derartige Anf\u00e4nge, also auch zwei Willensakte, unabh\u00e4ngig von einander eintreten, deren Fortsetzungen in die Aktion bis zu dem Augenblick der \u00e4ufseren Sichtbarkeit hin doch als gleichzeitige unm\u00f6glich w\u00e4ren. Und endlich ist auch die umgekehrte Erscheinung: die mechanische Vornahme einer Handlung ohne irgend einen bewufsten Willen, aber ohne irgend einen wahrnehmbaren Unterschied gegen dieselbe, wenn sie unter Mitwirkung des Willens vollbracht wird \u2014 auch diese ist mit der vorgeschlagenen Deutung des Willens vereinbar, wenn man bedenkt, dafs die Erregung des Gef\u00fchles","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214\nG. Simmel.\ndurch den Innervationsakt doch jedenfalls noch von anderen hinzutretenden oder Vorgefundenen Bedingungen mit abh\u00e4ngig ist. Die Gesamtbedingungen f\u00fcr das Entstehen eines Bewu\u00dftseins sind jedenfalls keine stetigen Funktionen jenes Innervations Vorganges; sie k\u00f6nnen bei seinem Ablauf vorhanden oder partiell abwesend sein und so den der \u00e4ufseren Aktion vorhergehenden bewufsten Willen bald erm\u00f6glichen, bald aus schlief sen. Dafs diese Bewufstheit des Willens insbesondere bei neuen Bewegungen auftritt und sich im Mafse ihrer Wiederholung und Gewohnheit verliert, kann man sich auch durch die Thatsache n\u00e4her bringen, dafs jede ungewohnte Bewegung einen ganzen Komplex eigentlich nicht dazugeh\u00f6riger Mitbewegungen mit sich zu tragen pflegt ; bei jeder noch nicht gewohnten Bewegung eines Fingers pflegt sich die ganze Hand, einer Hand der ganze Arm, ja, bei allgemeiner Ungeschicklichkeit oft der ganze K\u00f6rper mitzubewegen, und erst die Wiederholung der Bewegung schaltet jene assoziativ miterregten Begleitaktionen durch feinere Differenzierung aus. Es ist deshalb wahrscheinlich, dafs jener weit um sich greifende Komplex von Bewegungen das bewufste Innervationsgef\u00fchl, d. h. den Willen, eher und kr\u00e4ftiger erregen wflrd, als die sp\u00e4ter \u00fcbrig bleibende, zirkumskripte Bewegung f\u00fcr sich allein es vermag. \u2014 \u00dcbrigens ist gerade diese Mechanisierung . der urspr\u00fcnglich willens-m\u00e4fsigen Handlungen ein Argument zu Gunsten der hier vorgetragenen Theorie, die den Willen in ein blofses psychisches Mitklingen mit der in sich geschlossenen, in dem Handeln m\u00fcndenden physischen Keihe verlegt. Diese Keihe mufs auch bei rein mechanisch gewordenem Thun vollst\u00e4ndig sein, denn sonst, d. h. beim Fehlen eines Gliedes der Kausalkette, w\u00fcrde es zu ihrem Endeffekt, der Handlung, nicht kommen k\u00f6nnen. Folglich wird dasjenige, was fortgefallen ist, n\u00e4mlich der Wille, kein Kausalmoment f\u00fcr die Handlung selbst gewesen sein. Es ist nur das Spiegelbild eines solchen, durch welches dieses sich dem Bewufstsein kundgab und das deshalb f\u00fcr das Be-wufstsein an die betreffende Stelle der Kausalkette eintrat.\nDiese Vorstellung vom Wesen des Willens k\u00f6nnte nur f\u00fcr die prim\u00e4ren F\u00e4lle einer einfachen Folge von Wille und Handlung unmittelbare Anschaulichkeit beanspruchen. Nur in diesen, wo eine Kette physischer Wirkungen von einem zur\u00fcck^ liegenden Anfangsgliede bis zu der vollendeten Handlung l\u00e4uft,","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"Skizze einer Willenstheorie.\n215\nscheint man, indem man die Handlung eben schon mit jener ersten Innervation beginnen l\u00e4fst, ohne allzu grofse Paradoxie sagen zu k\u00f6nnen, dafs in der Anschauung zwar das Handeln dem Wollen, in Wirklichkeit aber das Wollen dem Handeln folgt. Schwieriger aber erscheint dies in Anwendung auf dasjenige Wollen, das, obgleich es alle inneren Merkmale desselben tr\u00e4gt, dennoch nicht ein Thun-Wollen ist: wenn also jemand z. B. reich werden will, ohne im Augenblick dieses Bewufstseins schon irgend eine bestimmte Aktion zu beabsichtigen. Ein solches Wollen kann das \u00e4ufserste Mafs von St\u00e4rke und Leidenschaftlichkeit erreichen, ohne dafs immer eine Handlung auftaucht, als deren Anfangsstadium es zu deuten w\u00e4re. Dies f\u00e4llt nicht unter den vorhin zur\u00fcckgewiesenen Einwurf bez\u00fcglich aufgeschobener Handlungen ; denn in diesem Palle handelte es sich nur um eine ungenaue Ausdrucksweise: es wurde thats\u00e4chlich gewollt und unmittelbar gehandelt, nur dafs man das Wollen, da sein momentaner Inhalt als blofses Mittel kein Interesse beanspruchte, auf das Endglied der Keihe bezog, das, genau genommen, eben jetzt noch nicht gewollt wurde, so dafs die scheinbare Trennung des Wollens vom Handeln thats\u00e4chlich garnicht vorlag. Hier ist vielmehr die Frage : lassen sich jene Seelenvorg\u00e4nge, die keinem realisierenden Handeln direkt vorangehen, aber zweifellos einen willensartigen Charakter tragen, mit der Vorstellung vom Wollen vereinigen, die dieses als das Gef\u00fchl des Beginnes der Handlung verstehen will? Denn wenn ich auch vorhin das W\u00fcnschen und Ersehnen vom Wollen unterschied, um zun\u00e4chst einmal den fundamentalen Begriff desselben klarzustellen, so entbindet diese begriffstechnische Scheidung nicht von der Verpflichtung, zu erkl\u00e4ren, worin denn die zweifellose psychologische Verwandtschaft dieser begrifflich getrennten Erscheinungen besteht.\nZwei Beobachtungen scheinen mir die Br\u00fccke zwischen dem vorhin aufgestellten Willensbegriff und diesen Wollungen ohne jegliche direkte Aktion zu schlagen. Zuerst, dafs die letzteren auf den unteren Stufen der geistigen Entwickelung \u00fcberhaupt nicht Vorkommen, auf diesen vielmehr \u2014 beim Kinde, in relativem Mafse auch bei dem tiefstehenden Menschen \u2014 jedem als willensartig zu bezeichnenden Vorgang auch sofort eine Handlung folgt : das Kind kann nichts verlangen, ohne","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216\nG. Simmel.\ndie Hand danach auszustrecken, also zugleich das Ergreifen einzuleiten ; je weiter wir in der Eeihe der Willenserscheinungen zur\u00fcckgehen, desto unmittelbarer, schliefslich garnicht mehr zeitlich trennbar, schliefst sich Wollen und Handeln aneinander. Zweitens, dafs auch auf den h\u00f6heren Stufen, wo der Wille sich von der Unmittelbarkeit der Aktion emanzipiert und zum Wunsche, zu thatlosem Begehren, entferntester Zielsetzung sublimiert hat, dies sich nicht auf einzelne, konkrete Ziele zu beziehen pflegt, die \u00fcberhaupt mit einer einzelnen Handlung zu erreichen w\u00e4ren, sondern auf allgemeinere oder vielseitige Zust\u00e4nde, Objekte, Begriffe. Aus diesen Thatsachen scheint mir hervorzugehen, dafs das Wollen, das nicht zugleich Handeln ist, \u00fcberhaupt ein sekund\u00e4res und zusammengesetztes psychologisches Grebilde ist, dafs es gar keine elementare Funktion darstellt, sondern durch eine Synthese einfacherer, tiefer liegender Vorg\u00e4nge erkl\u00e4rt werden mufs. Ist dies aber der Fall, so sehe ich kein Hindernis, den Willenston solcher, im engeren Sinne unpraktischer Vorstellungen in mitschwebenden Innervationsempfindungen bestehen zu lassen. Es l\u00e4fst sich wohl denken, dafs vielgliedrige Vorstellungen, \u2014 d. h. entweder abstrakte oder weit in die Zukunft hinein projizierte, deren Stadien oder Vorbedingungen mit ihr mitklingen, \u2014 eine grofse Anzahl von Innervationen der oben beschriebenen Art mit sich bringen, deren keine zur Aktion gelangt, die aber zusammen ein grofses Quantum von Willensgef\u00fchl ausl\u00f6s en. Ist gerade durch unsere Anf\u00fcgung des Willens an den Aktionsprozefs selbst die M\u00f6glichkeit gegeben, das Vorkommen eines echten Willens ohne folgende Handlung zu verstehen, so sind nun auch jene Erscheinungen des Sehnens, Verlangens, W\u00fcnschens in ihrer Verwandtschaft mit dem Wollen durchsichtig, sobald man sich nur den komplexen Charakter ihrer Inhalte gegen\u00fcber den einfachen des direkten Wollens klar macht. Verm\u00f6ge dieses vereinigen sie die Nicht-Aktivit\u00e4t \u2014 die aus der ihrer einzelnen Momente f\u00fcr sich hervorgeht \u2014 mit der M\u00f6glichkeit sehr leidenschaftlichen Wollensgef\u00fchles \u2014 das sich aus der Summe des Wollens jener zusammensetzt.\nAuch die Erscheinungen der pathologischen Willenslosig-keit, der Abulie, widersprechen dieser Auffassung des Willens nicht. Es werden F\u00e4lle berichtet, in denen bei v\u00f6lliger Gresund-","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"Skizze einer Willenstheorie.\n217\nheit des Empfindlings- und Denkverm\u00f6gens und v\u00f6lliger Abwesenheit konstatierbarer physischer St\u00f6rungen dem Patienten die Willensf\u00e4higkeit abhanden gekommen ist; er kann sich nicht entschliefsen, die einfachsten Handlungen vorzunehmen, z. B. sich umzukleiden oder die Treppe hinunterzugehen, obgleich er es zu thun w\u00fcnscht und \u00fcber seine Schw\u00e4che in Verzweiflung ger\u00e4t. Die Abulie besteht m\u00f6glicherweise aus einer L\u00e4hmung derjenigen Hirnpartien, von welchen die Innervationen zu den betreffenden Handlungen ausgehen. Es kann deshalb weder zu der Handlung noch zu dem Willen zu ihr kommen, der nach unserer Theorie ja nur das Gef\u00fchl der jetzt eben fehlenden Innervation ist ; die Vorstellung, dafs die Handlung nicht geschieht, weil der Wille dazu fehlt, entsteht daraus, dafs der Wille thats\u00e4chlich das psychische Signal der realen Vorbedingung der sichtbaren Handlung ist. Wenn neben dieser Willenslosigkeit dennoch ein Wunsch, gleichsam der kraftlose Schemen des Willens auftritt, so mag dies daher kommen, dafs jener Gehirnprozefs, dessen Gef\u00fchlsseite den Willen bedeutet, nicht in seinem ganzen Verlaufe gel\u00e4hmt ist; irgend ein Teilchen seiner Kraft mag durch die physische Anregung, die ihn normalerweise ganz und gar entfesseln w\u00fcrde, in Funktion kommen und so das ihm entsprechende Willensgef\u00fchl erzeugen, dem freilich ebensoviel daran fehlt, der ganze Wille zur That zu sein, wie seinem physiologischen Substrate daran fehlt, die ganze Innervation zu derselben zu sein. Wenn nun berichtet wird, dafs durch besondere Willensanstrengung und Lebhaftigkeit des Wunsches die Patienten dieser Schw\u00e4che Herr werden und wieder wollen k\u00f6nnen, so ist der reale Vorgang der, dafs die L\u00e4hmung aus irgend welchen physiologischen Gr\u00fcnden behoben wird; die nun von neuem m\u00f6gliche Innervation stellt sich im Bewufstsein als Wille dar, wird aber, da sie erst in ihrem sp\u00e4teren Entwickelungsstadium in die sichtbare Erscheinung tritt, ihrerseits f\u00fcr die Folge des bewufsten Willens gehalten. Der Wille hat nicht die physische Innormalit\u00e4t \u00fcberwunden, sondern umgekehrt, die normale physische Funktion, die sich wiederhergestellt hat, spiegelt sich als Willens gef\u00fchl. Die besondere Anstrengung und Kraft, die sich der Patient in diesem Falle aufzuwenden bewufst ist, ist der gew\u00f6hnliche Gef\u00fchlserfolg von lange nicht ge\u00fcbten Bewegungen, deren einzelne Stadien noch nicht selbstverst\u00e4ndlich koordiniert sind","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218\nG. Simmel.\nund deshalb dem Bewufstsein st\u00e4rkere einzelne Anst\u00f6fse und Anstrengungsgef\u00fchle bereiten. Die gew\u00f6hnliche Vorstellung solcher F\u00e4lle von \u201eBettung aus eigener Kraft\u201c konstruiert einen Willen zum Willen, der sich sozusagen am eigenen Schopfe aus dem Sumpfe zieht; damit wird keine Erkl\u00e4rung, sondern nur eine Zur\u00fcckschiebung des Problems auf eine gleichbenannte und gleich fragw\u00fcrdige h\u00f6here Instanz bewirkt. \u2014 In analoger Weise erkl\u00e4rt sich die Anstrengung, mit der wir einen schwierigen Denk- oder Erinnerungsprozefs vollziehen. Der entsprechende physische Prozefs geht eben vor sich, und in dem Mafse, in dem seine Stadien vor der schliefslichen Erreichung des Besultates ungewohnte, noch nicht gebahnte Kombinationen darstellen, erregen sie jenes Bewufstsein, das wir als angestrengten Willen bezeichnen. Je gewohnter eine Innervationsreihe ist, desto weniger \u201eWille\u201c ist f\u00fcr sie erforderlich, bis sie schliefslich ganz ohne Willen, d. h. auf den leisesten Anstofs hin, \u201erein mechanisch\u201c, abrollt. Vorher schon ist die fr\u00fcher dazu erforderte Anstrengung verschwunden, die sich so als eine blofse Intensifikation, ein blofses Plus des gew\u00f6hnlichen Wollens darstellt.\nIndem so dem Willen der Charakter als spezifische Energie der Psyche genommen wird, erh\u00e4lt auch die psychologische Beschreibung der willensm\u00e4fsigen Vorg\u00e4nge eine viel gr\u00f6fsere Freiheit, sich den Nuancierungen des inneren Thatbestandes anzuschliefsen, als die Einheitlichkeit und begriffliche Stetigkeit jedes spezifischen \u201eWillens\u201c ihr l\u00e4fst. Wenn ich einen Trunk thun oder einen Freund Wiedersehen will, wenn ich auf einen Anspruch verzichten oder mich auf eine vergessene That-sache besinnen will \u2014 so entspricht der Gleichheit des Wortes Wollen keineswegs eine solche der psychischen Vorg\u00e4nge, die es bezeichnen soll. In Bezug auf das \u201eHaben\u201c oder Besitzen ist diese Biegsamkeit der psychischen Funktion unmittelbar einzusehen Der Besitz ist, wie ich a. a. O. (II. S. 248) ausgef\u00fchrt habe, ein psychologisches Ph\u00e4nomen, eine auf Sach-vorstellungen bez\u00fcgliche Gef\u00fchlskategorie, die je nach ihrem Inhalte sich auch formal sehr verschieden darstellt: in ganz anderem Sinne besitze ich einen Freund, als ein Haus, in ganz anderem Sinne ist mein Kind \u201emein\u201c, als der Beruf oder das Vaterland mein ist. Es w\u00e4re ein durchaus f\u00e4lschender Schematismus, wollte man sich das Besitzen als eine stets gleiche","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"Skizze einer W\u00fclenstheorie.\n219\nFunktion vorstellen, die, mit dem mannigfaltigsten Inhalt erf\u00fcllt, doch als solche immer die gleiche bliebe. Das Haben von Verschiedenem ist psychologisch ein verschiedenes Haben, und es ist von vornherein wahrscheinlich, dafs jenes Vorstadium, jene ideelle Antizipation des Habens, die wir Wollen nennen, seinen Inhalten ebenso schmiegsam, ebensowenig durch eigene spezifische Eigenschaften pr\u00e4judiziert entgegenkommen werde. Will man schon das trivialste und das abstrakteste, das dumpfinstinktive und das energisch-klare Wollen mit ebendemselben Begriff bezeichnen, so mufs man diesen wenigstens mit so wenig Eigeninhalt wie m\u00f6glich ausstatten. Je mehr spezifische, dem \u00fcbrigen Seeleninhalt gegen\u00fcber scharf charakterisierte Qualit\u00e4ten der \u201e Wille u hat, desto mehr erscheint er als \u201eimmer derselbe\u201c, und desto schwieriger ist es, seine Einheitlichkeit mit der unendlichen inhaltlichen und funktionellen Verschiedenheit seiner Erscheinungen zu vers\u00f6hnen. Ich halte es deshalb f\u00fcr das Zweckm\u00e4fsigste, von seinem einfachsten und leersten Begriff auszugehen : dafs er die Ursache des Handelns ist. Nun ist aber sicher die einzige exakt anzunehmende Ursache jedes in die Erscheinung tretenden Handelns der vorhergehende cerebrale, bezw. nerv\u00f6se Prozefs, an den jenes sich anschliefst und von dem es die in ihm enthaltene Energie und Bichtung bezieht. Wenn wir also die psychische Willens er scheinung als die Bewufstseinsseite oder den G-ef\u00fchlsreflex eben jener, die Handlung physisch veranlassenden Vorg\u00e4nge deuten, so haben wir uns von jener weitesten und einfachsten Definition gerade nur so weit entfernt, wie es das methodische Prinzip: physische Bewegung immer nur aus physischer abzuleiten, verlangt. Jede Definition, die den Willen als eine Seelenenergie sui generis festlegt, beschr\u00e4nkt der Psychologie die Vorurteilsfreiheit, mit der sie all die unendlichen Nuancierungen in Inhalt und Form der willensartigen Prozesse beschreiben sollte.\nDas ungeheure Problem, wie das V erh\u00e4ltnis zwischen physischen und psychischen Prozessen zu deuten sei, ohne die durch das Gesetz von der Erhaltung der Energie geforderte rein physische Veranlassung physischer Effekte zu durchbrechen \u2014 wird wohl prinzipiell erst durch eine der Zukunft vorbehaltene Vorstellung vom Wesen des Psychischen gel\u00f6st werden. Inzwischen kann man den Einzelproblemen dieses Gebietes gegen\u00fcber nur versuchen, das unmittelbar sich dar-","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220\nG. Simmel.\nbietende Durcheinander beider Reihen durch Deutung so zu ordnen, dafs jede so lange wie m\u00f6glich reinlich f\u00fcr sich bleibt. Soweit wie jeder derartige Versuch gelingt, hat man sich der Widerspruchslosigkeit im Verh\u00e4ltnis der Reihen gen\u00e4hert. In diesem blofs relativen Sinne ist die hier vorgeschlagene Vermutung gemeint, den Willen, der unmittelbar als psychische Ursache physischen Handelns erscheint, aus der zu dem letzteren f\u00fchrenden Reihe ganz auszuschalten und ihn als blofsen, sozusagen nebenhergeh enden Gref\u00fchlsreflex eines Stadiums des innerk\u00f6rperlichen Innervationsprozesses des Handelns zu deuten.","page":220}],"identifier":"lit29692","issued":"1896","language":"de","pages":"206-220","startpages":"206","title":"Skizze einer Willenstheorie","type":"Journal Article","volume":"9"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:25:04.571778+00:00"}