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{"created":"2022-01-31T13:40:54.747548+00:00","id":"lit29700","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Liepmann","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 9: 285-287","fulltext":[{"file":"p0285.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht\n285\ndeswegen noch einige Einzelbeobachtungen hier Platz finden. Siebentes achtj\u00e4hrigen Kindern geht noch das Verst\u00e4ndnis f\u00fcr die Form des Imperfekts ab; der Konjunktiv wird nur als Konditionalis aufgefafst. Am Ende des achten Jahres erwacht das Verst\u00e4ndnis f\u00fcr die Unwahrheiten der M\u00e4rchen. Bis ins zweite Schuljahr erz\u00e4hlen die Kinder alles Beobachtete in ungeordnetem Durcheinander, in regellosen Ge-dankenspr\u00fcngen, ohne Verst\u00e4ndnis f\u00fcr logische Disposition. Die Beobachtungen selbst sind scharf, die Bezeichnungen oft schlagend. Die gegenseitige Verst\u00e4ndigung der Kinder untereinander geht rasch und glatt von statten. Das Kind unterscheidet sich vom Erwachsenen eigentlich nur durch die gr\u00f6fsere Beschr\u00e4nktheit seines geistigen Horizontes, und \u00fcberhaupt kommt nach Ansicht des Verfassers der Mensch auch innerlich fertig auf die Welt, so dafs durch Erziehung wenig an seinem Charakter und sittlichen Wert zu \u00e4ndern ist. Schaefer (Bostock).\nF. Bleuler. Versuch einer naturwissenschaftlichen Betrachtung der psychologischen Grundbegriffe. Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie. L. S. 133 bis 168. (1893.)\nEs ist nichts Geringes, was uns Verfasser in Aussicht stellt! Er will auf Grund \u201eneurologischer Kenntnisse nicht nur ein bewufstes \u201e\u201eIch\u201c\u201c aus bekannten Thatsachen konstruieren, sondern auch zeigen, dafs dieses bewufste \u201e\u201eIch\u201c\u201c ... auch wirklich existieren mufs.\u201c B. glaubt dabei so wenig die innere Erfahrung zu benutzen, dafs er offen l\u00e4fst, \u201eob dieses Ich dasjenige ist, welches wir in uns beobachten\u201c. Es sei bisher noch nicht nachgewiesen, dafs ein Komplex physischer Funktionen alle psychischen Ph\u00e4nomene inch Bewufstsein hervorbringen resp. erkl\u00e4ren k\u00f6nne. Wenigstens h\u00e4tten die Meisten \u201edas Bewufstsein als etwas Besonderes, Unerkl\u00e4rliches, einen \u201eParallelvorgang\u201c angef\u00fchrt\u201c.\nDie zu Grunde gelegten \u201eneurologischen Thatsachen\u201c sind neben einigen allgemeinen S\u00e4tzen aus der Nervenphysiologie vier S\u00e4tze, in denen von den \u201edynamischen Spuren\u201c, welche zentrale Vorg\u00e4nge zur\u00fccklassen, und ihren Verkn\u00fcpfungsweisen die Bede ist (in Wahrheit also nicht \u201eThatsachen\u201c, sondern Suppositionen zur Erkl\u00e4rung gewisser Leistungen von Mensch und Tieren).\nVon einigen wirklichen neurologischen Thatsachen, welche durch neuere Methoden (insbes. die von Golgi) ans Licht gebracht worden sind, von welchen nach des Beferenten Meinung in der That \u2014 wenn auch in viel anspruchsloserem Sinne des Wortes \u2014 eine \u201eErkl\u00e4rung\u201c mancher psychischen Ph\u00e4nomene erwartet werden darf, nimmt B. gar keine Notiz.\nZu der nun beginnenden Ableitung des \u201ebewufsten Ich\u201c schicke ich folgendes voraus : Alle naturwissenschaftlich Denkenden fordern heutzutage zu jeder Empfindung einen entsprechenden physischen Vorgang im Zentralorgan. Giebt man diesem Hypothetischen einen Namen, so steht dem nichts im Wege, Synthesen und Analysen, welche die Psychologen an den Empfindungen und ihren Komplexen vornehmen, mit ihren physischen Korrelaten auszuf\u00fchren. Diese billige Befriedigung verschafft sich B. ! Dafs, solange die k\u00f6rperlichen Prozesse nicht selbst\u00e4ndig","page":285},{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"286\nLitteraturbericht.\nihrer Natur nach bekannt geworden sind, damit gar nichts gewonnen ist, als eine leicht irref\u00fchrende Zeichensprache, ist klar.\nSo definiert Verfasser z. B. den \u201eBegriff\u201c eines Gegenstandes als die \u201eSumme der wiederbelebten dynamischen Spuren aller Sinnesreize, welche ein konkreter Gegenstand in dem Zentralorgan erweckt\u201c, und f\u00fcgt triumphierend hinzu : \u201e\u201eBegriff\u201c unabh\u00e4ngig von jeder Bewufstseins-funktion gefafst\u201c (die \u00dcbersetzung in die neurologische Sprache ist nicht einmal richtig). Ebenso wird mehrfach den Begriffen: Vorstellung, Ged\u00e4chtnis, Gef\u00fchl die Parenthese beigef\u00fcgt: \u201eOhne R\u00fccksicht auf das Bewufstsein.\u201c\nAuf diesem Wege ohne Zuh\u00fclfenahme des Bewufstseins physische Zusammenh\u00e4nge zu konstruieren, geht nun B. weiter: Einen besonders festen und best\u00e4ndigen Komplex werden diejenigen dynamischen Spuren bilden, welche unsere Pers\u00f6nlichkeit betreffen. In diese gehen engere Komplexe f\u00fcr die \u201eamtliche Stellung\u201c, \u201eEamilienbeziehungen\u201c, \u201eden eigenen K\u00f6rper\u201c u. s. w. ein. \u201eJeder Brief, den ich erhalte, zeigt nun meinen Namen; . . . Anreden als Direktor, als Doktor, Meldungen der W\u00e4rter, Klagen der Kranken, Anordnungen der Regierung .... wiederholen sich unz\u00e4hlige Male....... Dazu kommen die Erinnerungsbilder\ndessen, was ich in vorhergegangenen \u00e4hnlichen F\u00e4llen schon gedacht, gethan, gesprochen habe. Aus diesen Einzelwahrnehmungen mufs sich ein besonders fester Komplex dynamischer Spuren zusammensetzen . . .: der Begriff meiner amtlichen Stellung.\u201c S. 189 u. s. w. Die Pers\u00f6nlichkeit verbindet sich mit einer noch viel festeren Einheit : den,, Organgef\u00fchlen\u201c, jenen best\u00e4ndigen Reizen von Herz, Lunge etc. (Gef\u00fchle wieder ohne R\u00fccksicht auf ihr Wahrgenommenwerden !)\n\u201ePers\u00f6nlichkeit und Organgef\u00fchle bilden . . . einen sehr fest cementierten Komplex, von dem best\u00e4ndig wesentliche Teile in Aktion sind. Alle anderen mehr zuf\u00e4lligen Vorg\u00e4nge m\u00fcssen wieder auf diesen stofsen; er bildet also eine \u201eZentralstation\u201c u. s. w. \u201eDieser Komplex . . . entspricht nun allen Anforderungen, die wir an ein Ich zu stellen haben\u201c.\nNach des Referenten Erachten kommt zun\u00e4chst dieser Komplex \u2014 ganz abgesehen davon, was f\u00fcr die Kernfrage mit ihm gewonnen ist \u2014 nur durch eine Petitio principii zu st\u00e4nde. Ein Komplex von jemandes amtlicher Stellung z. B. wird sich allerdings bilden, wenn er schon ein bewufstes Ich hat, weil er dann alles zu seiner amtlichen Sph\u00e4re Geh\u00f6rige auf dieses Ich bezieht.\nEs lassen sich auch, wenn man ein bewufstes Wesen zu Grunde legt, besonders unter Benutzung der Lust-, Unlust- und Strebungsgef\u00fchle, Anl\u00e4sse f\u00fcr das Kind (von diesem mufs man \u00fcberhaupt ausgehen) aufweisen zur Scheidung seiner Bewufstseinsinhalte in zwei Gruppen: Ich und Welt. Stellt man sich aber auf den streng objektiven Standpunkt, was B. pr\u00e4tendiert, geht man von den durchweg gleichwertigen Gehirnerregungen aus, die sich nur nach Mafsgabe der H\u00e4ufigkeit von Zusammen und Nacheinander fester oder lockerer verbinden, so ist absolut nicht einzusehen, warum sich die Erregungen, welche dem entsprechen, was subjektiv zum Ich geh\u00f6rt, abtrennen sollten von denen, welche dem Nichtich korrespondieren.","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturbericht.\n287\nDer Schein in B.\u2019s Ausf\u00fchrungen, als sei eine solche Trennung doch einleuchtend zu machen, kommt dadurch zu st\u00e4nde, dafs B., indem er von der fertigen Pers\u00f6nlichkeit ausgeht, ein bewufstes Ich schon voraussetzt, also das zu Erkl\u00e4rende in die Erkl\u00e4rungsmittel aufnimmt.\nKonzedierten wir ihm aber seihst den so gewonnenen Komplex, so haben wir immer noch kein Bewufstsein, sondern nur einen Komplex dynamischer Spuren. Dies erkennt auch B., und er leitet nun folgender-mafsen von dem unbewufsten zum bewufsten Ich \u00fcber : \u201eE r\u201c (der Komplex) \u201ewird zu einem bewufsten Ich, in Bezug auf irgend eine (aktive oder passive (!) \u00e4ufsere oder innere) Th\u00e4tigkeit, wenn ein ankomm ender Sinnesreiz sich mit ihm verbindet, wenn ein excitomotorischer Beiz von ihm ausgeht . . . oder wenn eine G-ruppe ablaufender Ideenassoziationen mit ihm verbunden bleibt.\u201c\n\u201eEr wird zu einen bewufsten Ich\u201c! Warum? Wo ist die Notwendigkeit? B. geht hier einfach aus dem versprochenen Deduzieren ins willk\u00fcrliche Dekretieren \u00fcber. Darum soll also das Bewufstsein aufh\u00f6ren, ein \u201eUnerkl\u00e4rliches\u201c, ein \u201eBesonderes\u201c zu sein?\nB. hat offenbar gar nicht gemerkt, wo f\u00fcr die anderen Psychologen das \u201eUnerkl\u00e4rliche\u201c gelegen ist. Gerade dieses, dafs sich zu objektiven \u00e4ufseren Vorg\u00e4ngen irgendwo, irgendwann, irgendwie ein \u201einnerer\u201c subjektiver Zustand gesellt \u2014 f\u00fchrt er als etwas Selbstverst\u00e4ndliches ganz nebenbei ein, in einer Arbeit, die den Nachweis erbringen will, dafs \u201eein bewufstes Ich existieren rnufs\u201c!\n(Wenn \u00fcbrigens eine bewufste Empfindung erst durch Verbindung mit der \u201ePers\u00f6nlichkeit\u201c zu st\u00e4nde kommen sollte, d\u00fcrfte ein Kind in den ersten Lebensmonaten keine bewufsten Empfindungen haben!)\nNehmen wir die einzelnen weiteren Aufstellungen B.\u2019s losgel\u00f6st von dem Anspruch, die Notwendigkeit des bewufsten Ichs zu erweisen, teils als Hypothesen, teils als Analysen des Psychisch-Gegebenen, so enthalten sie manches Diskutable. Sie n\u00e4hern sich in der Absicht dem, was sich in tiefer und feiner Ausf\u00fchrung bei englischen und deutschen Assoziationspsychologen findet.\nVerfasser erkl\u00e4rt in einer Anmerkung, er halte es f\u00fcr unn\u00f6tig, die Psychologen zu kritisieren, da ein jeder von ihnen die Unzul\u00e4nglichkeit der Ansichten des anderen gen\u00fcgend darthue. Wir meinen, dafs das zum Kritisieren erforderliche Studium der Psychologen doch den Nutzen gehabt h\u00e4tte, B. vor der gekennzeichneten kardinalen T\u00e4uschung zu bewahren.\tLiepmann .\nP. Carus. The seat of consciousness. Journ. of comp, neurol. 1894. Vol. IV. S. 176\u2014192.\nCarus, der bekannte Herausgeber von \u201eThe monist\u201c, bekennt sich auch in dieser Abhandlung wie fr\u00fcher an anderen Stellen zu der Auffassung, dafs jedes kleinste Teilchen unseres K\u00f6rpers seiner anatomischphysiologischen Dignit\u00e4t entsprechend beseelt ist. Von diesen zahllos in uns vorhandenen einzelnen Unterseelen, von ihren Empfindungen und motorischen Impulsen wissen wir freilich an und f\u00fcr sich nichts. Unser sogenanntes Bewufstsein erw\u00e4chst jeweilig immer nur aus einem Teil","page":287}],"identifier":"lit29700","issued":"1896","language":"de","pages":"285-287","startpages":"285","title":"F. Bleuler: Versuch einer naturwissenschaftlichen Betrachtung der psychologischen Grundbegriffe. Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie. L. S. 133 bis 168. 1893","type":"Journal Article","volume":"9"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:40:54.747554+00:00"}