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{"created":"2022-01-31T14:44:46.010777+00:00","id":"lit29741","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Simmel, G.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 9: 301-302","fulltext":[{"file":"p0301.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n801\nauch die Intensit\u00e4t einen hohen G-rad. Kinder und Ungebildete sind sehr leichtgl\u00e4ubig, weil ihre Weltanschauung noch sehr viel L\u00fccken enth\u00e4lt, welche die geistige Aneignung aller m\u00f6glichen Behauptungen gestatten. Einbildungen werden oft geglaubt, wenn sie durch verschiedene Umst\u00e4nde, namentlich durch die Zustimmung anderer, Bestandteile des Ich werden. (Religi\u00f6se Vorstellungen.) L\u00fcgen k\u00f6nnen durch h\u00e4ufige Wiederholung ein geistiges Eigentum und so geglaubt werden.\nWie Verfasser selbst betont, sucht er all die Momente, welche bei dem Urteilsakte in Betracht kommen, zu ber\u00fccksichtigen. Ohne Zweifel ist es auch ein Fortschritt, wenn im Gegensatz zu der fr\u00fcheren rein formalen und logischen Auffassung des Urteils der Anteil des Willens in den Vordergrund tritt. Ob aber gerade die Introjektion das Wesentliche hierbei ist, scheint mir fraglich. \u2014 In dem Streben, das Urteil psychologisch zu erkl\u00e4ren, hat Verfasser das Wesen der Vorstellung zu wenig ber\u00fccksichtigt. Auch diese ist nicht ohne weiteres als etwas That-s\u00e4chliches zu bezeichnen. Woher kommt es denn, dafs viele Eigenschaften und Vorg\u00e4nge an den Dingen nicht bemerkt, nicht zu Vorstellungen werden? Auch hier wirkt das Interesse, der Wille, oder die von diesem bestimmte Aufmerksamkeit. Jede Apperzeption aber ist bereits ein Urteilen, und, handelt es sich um eine \u00e4ufsere Wahrnehmung, ein objektivierender Denkakt, wie Verfasser selbst hervorhebt. Hierdurch aber machen auch die Vorstellungen bereits Anspruch auf Wahrheit. Eine derartige Trennung von Vorstellung und Urteil scheint mir unberechtigt; und die Objektivierung ist schon durch die Wahrnehmung des noch nicht analysierten Komplexes, also vor dem Urteil, vorhanden. \u2014 In gleicher Weise halte ich die Verquickung der Urteilslehre mit dem Dualismus f\u00fcr verfehlt. Der Idealist wie der Materialist leugnet ja nicht das Vorhandensein einer dualistischen Weltauffassung als einer psychologischen Thatsache. Diese ist f\u00fcr das Urteil aber mafsgebend, w\u00e4hrend der Streit zwischen dem Dualismus und Monismus metaphysischer Natur ist. \u2014 Dafs die Negation f\u00fcr den Wahrheitsbegriff von hoher Bedeutung ist, kann man zugeben. Aber die Negation ist nicht immer eine Rektifizierung. Ein Urteil ist zu einer Zeit berechtigt, zu einer anderen nicht mehr. Man denke nur an das Wahrnehmen von Ver\u00e4nderungen. Jedenfalls aber ist es nicht ganz ersichtlich, wie Verfasser nur den limitativen Urteilen eine positive Bestimmung auf Grund seiner Theorie zuschreiben kann. Wenn jedes negative Urteil rektifiziert, so enth\u00e4lt es eine Position. \u2014 Den sonstigen Ausf\u00fchrungen des Verfassers, namentlich in der Zur\u00fcckf\u00fchrung des Glaubens auf das Gef\u00fchl, kann man zustimmen; nur der Zusammenhang des intensiven Autorit\u00e4tsglaubens mit der Notwendigkeit einer Verteidigung ist nicht recht ersichtlich.\nArthur Wreschner (Berlin)\nTheodor Elsenhans. Wesen und Entstehung des Gewissens. Eine Psychologie der Ethik. Leipzig, Engelmann, 1894. 334 S.\nEs wird zuerst eine ausf\u00fchrliche Geschichte des Gewissensbegriffes in der neueren Ethik seit Kant gegeben ; besonders eingehend werden die ethischen Lehren Herbarts dargestellt und kritisiert. Der systematische","page":301},{"file":"p0302.txt","language":"de","ocr_de":"302\nLitteraturbericht.\nTeil, der die andere H\u00e4lfte des Buches f\u00fcllt, konstatiert vier Arten der h\u00f6heren geistigen Gef\u00fchle : intellektuelle, \u00e4sthetische, sittliche, religi\u00f6se. Die sittlichen Gef\u00fchle haben die folgenden spezifischen Eigenschaften: sie kn\u00fcpfen sich an die Vorstellungen wirklicher Handlungen, aber immer zugleich mit der Vorstellung ihres psychologischen Motivs, sie enthalten weiter ein Urteil \u00fcber die handelnde Person selbst und erheben den Anspruch auf unbedingte Bevorzugung vor allen anderen Willensgr\u00fcnden. F\u00fcr das Gewissen selbst ist, im Gegensatz zu den empiristischen Theorien, eine spezifische Anlage vorauszusetzen. Dieselbebedeutet keine selbst\u00e4ndige Existenz des Gewissens jenseits des sittlichen Gef\u00fchles \u00fcberhaupt und soll es nicht zu einem besonderen \u201eSeelenverm\u00f6gen\u201c m^hen. Allein sie ist unumg\u00e4nglich, weil die Eigenart der Gewissensanschauung im Individuum und in der Geschichte der Ableitung aus anderen Faktoren widerstrebt; das Gewissen zeigt nicht das Bild einer sekund\u00e4ren Entwickelung, welche aus anderen, urspr\u00fcnglicheren Erscheinungen zu kombinieren w\u00e4re, und bedarf deshalb einer eigenen, von vornherein auf diesen Inhalt gerichteten Anlage. Diese selbst besteht offenbar in einer pr\u00e4disponierten \u2014 vielleicht nach Art der Koordinationen innerhalb der Instinktsbewegungen zu denkenden \u2014 Verbindung der sittlichen Gef\u00fchle mit einer bestimmten Klasse von Handlungen. Diese Anlage bedarf indes der Entwickelung, und nur dem Umstande, dafs eine solche einerseits mehr oder weniger latent bleiben, andererseits auf verschiedenen Stufen stehen bleiben, endlich durch die Verschiedenheit der \u00e4ufseren Heize sehr ungleichm\u00e4fsig vor sich gehen kann \u2014 erkl\u00e4rt es sich, dafs die jedem Menschen als solchem angeborene Gewissensanlage dennoch so \u00e4ufserst verschiedene Erscheinungen zeitigt.\nDas Buch zeichnet sich durch ein ehrliches und kr\u00e4ftiges Bestreben aus, die psychologische Frage nach dem Wesen des Gewissens von allen theologischen und dogmatischen Antizipationen frei zu halten. Positiven Gewinn wird indes die wissenschaftliche Psychologie nicht daraus ziehen, und der Anspruch, damit \u201eeine Psychologie der Ethik\u201c gegeben zu haben, ist ganz ungerechtfertigt. Die Psychologie der Ethik hat, wie mir scheint, zweierlei legitime Inhalte. Sie kann die historisch vorliegenden ethischen \u00c4ufserungen, Aktionen und Gebilde, individuelle wie soziale, zusammenstellen, um so ein induktives Bild von dem zu gestalten, was thats\u00e4chlich unter der Kategorie des Sittlichen vorgestellt wird und wie sich diese Kategorie selbst entwickelt. Und sie kann zweitens die an der Oberfl\u00e4che des Bewufstseins liegenden ethischen Vorstellungen, Gef\u00fchle, Wollungen durch psychologische Kunst ausdeuten, indem sie bisher unbemerkte oder unbewufste Elemente und Urs\u00e4chlichkeiten zur Erkl\u00e4rung jener unmittelbaren Erscheinungen \u2014 nat\u00fcrlich hypothetisch \u2014 einsetzt. Das vorliegende Buch bringt aber weder neue Thatsachen, noch irgend eine feinere oder originelle Analyse des ethischen Bewufstseins. Es bewegt sich vielmehr in den hergebrachten rohen Allgemeinbegriffen der Psychologie, die mit der unendlich differenzierten Wirklichkeit des Seelenlebens kaum noch Ber\u00fchrungspunkte haben, so dafs eine abermalige Kombination derselben, selbst wenn sie neu w\u00e4re, ebenso leicht wie erkenntniswertlos ist.\tG. Simmel (Berlin).","page":302}],"identifier":"lit29741","issued":"1896","language":"de","pages":"301-302","startpages":"301","title":"Theodor Elsenhans: Wesen und Entstehung des Gewissens. Eine Psychologie der Ethik. Leipzig, Engelmann, 1894. 334 S.","type":"Journal Article","volume":"9"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:44:46.010782+00:00"}