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{"created":"2022-01-31T14:33:43.468460+00:00","id":"lit29744","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Wallaschek","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 9: 304-307","fulltext":[{"file":"p0304.txt","language":"de","ocr_de":"304\nLitter a turbericht.\nFormen und Verteilen von Tonmassen, das ohne hohe Entwickelung des Gehirnes nicht zu denken ist. Mit dem Gef\u00fchl allein kommt man da nicht mehr aus. Es giebt eben verschiedene Arten, um nicht zu sagen Grade von Musik, zum mindesten wird Reproduktion (blofse Ausf\u00fchrung) und Produktion (Komposition) zu unterscheiden sein, worauf ich an anderer Stelle wiederholt aufmerksam gemacht habe. An solche Unterschiede hat Herr Ireland leider nicht gedacht und kommt schliefs-lich zu den schon wiederholt in verschiedenen Artikeln und B\u00fcchern hervorgehobenen Schlufsfo]gerungen : die musikalische Begabung gehe von beiden H\u00e4lften des Gehirnes aus, und es sei zweifelhaft, ob sie an eine bestimmte Stelle desselben gebunden sei. Sie bleibe auch nach Gehirnkrankheiten intakt (survive after brain-diseases). Das kommt nun, wie gesagt, darauf an, was man unter Musik versteht. Ich weifs keinen Fall, wo ein Komponist trotz der Folgen einer Gehirnkrankheit (es giebt deren zahlreiche ber\u00fchmte F\u00e4lle) noch komponiert h\u00e4tte.\nWertvoll sind zwei praktische F\u00e4lle, die der Verfasser zitiert. Ein 18j\u00e4hriges M\u00e4dchen, dessen Sprachstimme schwach und heiser war, hatte nichtsdestoweniger eine klare Gesangsstimme. Der Fall wurde als hysterische Aphonie bezeichnet. Ein anderer Fall betrifft einen Mann, der den Ton einer Violine nicht von dem einer Trompete (!) unterscheiden konnte. Eine derartige Klangfarbenverwechselung ist meines Wissens einzig in ihrer Art.\tWallaschek (London).\nRichard Legge. Music and the Musical Faculty in Insanity. Journ. of Ment. Science. Vol. XL. S. 368\u2014375. (1894.)\nLegge untersucht zun\u00e4chst den Begriff \u201eMusical Faculty\u201c und zerlegt ihn in folgende Bestandteile: 1. relatives und absolutes Tonged\u00e4chtnis; 2. emotionale Empf\u00e4nglichkeit f\u00fcr den Einflufs der Musik; 3. Fertigkeit im Gesang und Spiel von Instrumenten; 4. Kompositionstalent. Diese Zerlegung scheint mir nicht ganz gl\u00fccklich, zumal der Verfasser nicht sagt, ob er alle vier Bestandteile oder etwa nur einen als zur musikalischen Bef\u00e4higung gen\u00fcgend erachtet. Keine der beiden M\u00f6glichkeiten l\u00e4fst sich ohne weiteres bejahen; so steht das absolute Tonged\u00e4chtnis in keinem direkten Verh\u00e4ltnis zur musikalischen Bef\u00e4higung, auch nicht zum Kompositionstalent. Einige unserer gr\u00f6fsten S\u00e4nger sind unmusikalisch. Andererseits ist das relative Tonged\u00e4chtnis in der Fertigkeit in Spiel und Gesang inbegriffen. Noch problematischer ist die weitere Bemerkung, dafs ein musikalisches Geh\u00f6r (ear for music) immer vorhanden sei, \u201ewenn man darunter die F\u00e4higkeit versteht, zwischen hohen und tiefen T\u00f6nen zu unterscheiden\u201c. Kennt denn der Verfasser die Tontaubheit nicht? \u201eWo ein musikalisches Geh\u00f6r vorhanden ist,\u201c heifst es weiter, \u201eda giebt es auch einen Sinn f\u00fcr Rhythmus\u201c. (369.) Nun heifst musikalisches Geh\u00f6r jedenfalls etwas ganz anderes als oben, aber was? \u201eEine Person, die kein Geh\u00f6r hat (with no ear), kann wahrscheinlich sagen, welcher von zwei ihr vorgespielten T\u00f6nen der h\u00f6here ist, aber sie wird eine geringe oder gar keine Vorstellung haben von dem Intervall zwischen beiden.\u201c Die Kenntnis des Intervalls ist jedoch nicht blofs Sache des Geh\u00f6rs, sondern des Studiums und der \u00dcbung. Wie soll","page":304},{"file":"p0305.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturbericht.\nS05\ndenn jemand, auch wenn er ein ganz gutes G-eh\u00f6r hat, wissen, ob er eine Quart oder Quint vor sich hat, wenn er \u00fcber diese Begriffe nie unterrichtet wurde? Aber abgesehen davon lassen sich solche Fragen doch nicht mit \u201eprobably\u201c entscheiden; das Experiment w\u00e4re die richtige Untersuchungsmethode gewesen.\nAuch in anderen Bemerkungen zeigt sich ein Mangel an sorgf\u00e4ltiger und ausdauernder wissenschaftlicher Durchf\u00fchrung der Gedanken. Verfasser acceptiert z. B. den Anspruch Greens: Der Farbensinn sei bei Musikern mangelhafter, als bei anderen Menschen. Er hat aber dar\u00fcber keine Versuche angestellt und keine statistischen Ergebnisse mitgeteilt; die Bemerkung h\u00e4ngt ganz in der Luft. Allerdings kommt es vor, dafs bei dem Mangel einer Sinnesempfindung die anderen Sinne vikariierend daf\u00fcr eintreten, aber es ist auch hier die Frage, ob das eine Versch\u00e4rfung der Empfindung sei und nicht blofs eine bessere \u00dcbung des Urteils auf Grund der Empfindung. Dafs aber bei nat\u00fcrlicher Funktion aller Sinne eine h\u00f6here Ausbildung des einen Sinnes eine geringere Funktion des anderen zur Folge habe, ist ein ganz anderer Fall, der meiner Ansicht nach nicht vorkommt. \u00dcberdies begeht Legge den Fehler, dieser vermeintlichen wechselseitigen Beeinflussung der Sinnesempfindung ohne weiteres die Beeinflussung der an diese Sinne gekn\u00fcpften k\u00fcnstlerischen Th\u00e4tigkeiten gleichzustellen, und so folgert er: Dichter h\u00e4tten gew\u00f6hnlich ein mangelhaftes musikalisches Geh\u00f6r. Auch dar\u00fcber bringt er uns kein Thatsachenmafcerial ; aber selbst, wenn es richtig w\u00e4re, dafs ein hoch ausgebildeter Farbensinn einen ebenso ausgebildeten Geh\u00f6rssinn ausschliefse, w\u00fcrde daraus noch lange nicht folgen, dafs Maler nicht Musiker, Musiker nicht Dichter sein k\u00f6nnen etc. Vom rhythmischen Gef\u00fchl sagt Legge, es sei nicht auf Musiker beschr\u00e4nkt, ein analoges Gef\u00fchl komme in der Dichtkunst, den graphischen K\u00fcnsten und in der Architektur zur Geltung. Wieder unrichtig ; doch diese Fragen lassen sich nicht durch blofse Behauptungen, sondern nur im Laboratorium entscheiden. Das ist auch schon geschehen, und zahlreiche Arbeiten, deren ziemlich umfangreiche Litteratur k\u00fcrzlich auch in dieser Zeitschrift erw\u00e4hnt wurde, haben hier feine Unterschiede und viele heikle Fragen schon erledigt oder zum mindesten gr\u00fcndlich untersucht, aber ich habe den Eindruck, dafs alles das f\u00fcr Legge \u201eterra incognita\u201c gewesen ist. Viel richtiger hat Ireland in dem obigen Artikel auf Unterschiede zwischen dem rhythmischen Gef\u00fchl f\u00fcr das Versmafs eines Gedichtes und dem musikalischen Taktsinn hingewiesen. Die Symmetrie der darstellenden K\u00fcnste wiederum mag ein Analogon des Baumsinnes f\u00fcr die Taktsymmetrie des Zeitsinnes sein, aber so ohne weiteres ist das doch durchaus nicht dasselbe.\n\u00dcbergehend zu speziellen F\u00e4llen erw\u00e4hnt Verfasser, dafs Patienten mit \u201eacute\u201c und \u201esubacute mania\u201c unkorrekt und zusammenhangslos musizierten. Zwei Patienten der letzteren Art sangen sogar, w\u00e4hrend ihnen k\u00fcnstlich durch die Speiser\u00f6hre Nahrung zugef\u00fchrt wurde. Ein anderer epileptischer Patient begann immer einige Tage vor seinem Anfall zu spielen. Verfasser giebt eine genaue Beschreibung eines solchen Spieles an. Patienten mit \u201echronic mania\u201c wurden im Asyl-Orchester h\u00e4ufig ver-\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie IX.\t20","page":305},{"file":"p0306.txt","language":"de","ocr_de":"SO 6\nLitteraturbericht.\nwendet. Sie spielten jedoch ohne Gef\u00fchl, nuancierten beliebig je nach ihrer Stimmung und waren unverl\u00e4fslich. Einige an Gr\u00f6fsenwahnsinn Leidende lernten neue Musikst\u00fccke nur mit Schwierigkeit. Ein anderer Patient schrieb ihm bekannte Hymnen auswendig auf braunem, selbst-liniiertem Papier nieder, band die Bogen sorgf\u00e4ltig und sang die Hymnen fleifsig wieder. Im allgemeinen war die Empf\u00e4nglichkeit f\u00fcr Musik bei diesen Patienten geringer als bei geistig gesunden. Melancholische Patienten spielten selten, und erwies sich Musik \u00fcberhaupt nicht als wirksames Mittel gegen die Melancholie. Die Bemerkungen \u00fcber das Verh\u00e4ltnis von Musik zur Melancholie scheinen mir \u00fcberhaupt sehr zutreffend und verraten, wenn die Bemerkung n\u00f6tig ist, ein gesundes, sicheres Urteil. Nicht dafs ich \u00fcber dieses Verh\u00e4ltnis eigene Erfahrung bes\u00e4fse, aber wenn ich an die Experimente denke, die seit Jahren namentlich in franz\u00f6sischen und teilweise in amerikanischen Asylen von berufener Hand gemacht wurden, so best\u00e4tigen sie das von Legge gef\u00e4llte Urteil und bilden einen gediegenen Gegensatz zu den dilettantischen Vorschl\u00e4gen und spekulativen Hypothesen, wie sie seit undenklichen Zeiten auf diesem Gebiete unausrottbar sind. Hat doch selbst ein wissenschaftliches medizinisches Blatt wie der \u201eLancet\u201c den kindischen Vorschlag (wieder einen !) eines englischen Geistlichen (Hareord), Musik als Heilmittel zu ben\u00fctzen, allen Ernstes abgedruckt, obgleich er eigentlich im \u201ePunch\u201c h\u00e4tte stehen sollen. Musik, sagt Legge, steht in demselben Verh\u00e4ltnis zur Melancholie wie alle anderen K\u00fcnste. \u201eWir k\u00f6nnen nicht erwarten, dafs ein Mann den Verlust seines Ereundes vergifst, wenn wir ihn in eine Posse f\u00fchren\u201c, aber eine momentane Zerstreuung mag eine heitere Lekt\u00fcre, ein gef\u00e4lliges Bild ebensogut gew\u00e4hren. Bei Patienten mit allgemeiner Paralyse bemerkte L. den Verlust der Tonsch\u00e4tzung und meint, dies sei analog mit dem Verlust der Earbensch\u00e4tzung ' Patient sah alles, was links vom Blau des Spektrum war, gelb, und rechts davon alles purpur. Dieser Zustand verschlimmerte sich mit Zunahme der Krankheit, so dafs schliefslich jede Earbe mit Gelb vermischt war. Leider giebt Verfasser keine n\u00e4here Auskunft \u00fcber den Verlust der Tonsch\u00e4tzung, denn diese allgemeine Phrase kann doch nicht gen\u00fcgen. Wie steht es aber dann mit der behaupteten Analogie mit der Farbensch\u00e4tzung ? Sie ist vorl\u00e4ufig nichts als luftige Hypothese und ich kann nicht begreifen, wie der Verfasser die Methode der heute alles beherrschenden experimentellen Psychologie gerade bei diesem Beispiel vollst\u00e4ndig ignorieren und trotzdem die Analogie konstruieren konnte. Da wir nicht einmal erfahren, wieviel von dem Verlust der Tonsch\u00e4tzung oder Tonempfindung (Verfasser sagt: capacity of appreciating tones) Hypothese ist, bedauern wir, dafs ein so willkommener praktischer Fall nicht gen\u00fcgend verwertet wurde. \u2014 Ein anderer Patient mit \u201eDementia\u201c verlor zwar jedes Verst\u00e4ndnis f\u00fcr Musik, konnte aber noch immer ziemlich korrekt auf dem Klavier spielen und selbst Noten lesen (872). Dafs er das Gespielte nicht verstand, beweist der Umstand,, dafs er aus einem Arrangement zu vier H\u00e4nden zuerst die linke Seite (den Bafs) und dann ohne weiteres die rechte (die Sopranstimme) spielte,* ein Vorgang, der jedem unertr\u00e4glich w\u00e4re, der noch etwas von Musik","page":306},{"file":"p0307.txt","language":"de","ocr_de":"Litter a turberich t.\n307\nversteht. Verfasser untersuchte schliefslich 50 Idioten. 30 davon fanden Gefallen an Musik, 20 waren indifferent. 15 pfiffen und sangen ohne Text (5 davon konnten artikulieren, aber ohne Verst\u00e4ndnis), 9 sangen mit Text; ein Patient, den man f\u00fcr taubstumm hielt, fing eines Tages pl\u00f6tzlich zu singen an. 4 zeichneten, 25 fanden Gefallen an Bildern. In Komposition haben Idioten nichts geleistet (375). Verfasser macht gelegentlich auch die Bemerkung, dafs kein S\u00e4ugetier, das niederer steht als der Mensch, die Tonh\u00f6he genau wahrnehme ; eine Ausnahme bilde nur der singende Affe (the singing monkey). Gemeint ist wahrscheinlich der von Darwin (Verfasser sagt: Romanes) erw\u00e4hnte Hylo-bates agilis (braune oder schwarze Gibbon). Obgleich es Verfasser abermals auf ein Experiment nicht ankommen liefs, ist der von Darwin erw\u00e4hnte Hylobates schon l\u00e4ngst als ein sehr hypothetischer S\u00e4nger erkannt worden. Wenn Verfasser aber unter dem Ausdruck \u201edelicate perception of pitch\u201c lediglich die Thatsache meint, dafs sie die Tonh\u00f6he treffen, so ist doch wohl zu bedenken, dafs viele V\u00f6gel das Wenige, was sie k\u00f6nnen, immer in derselben Tonh\u00f6he Vorbringen.\nIm allgemeinen ist das vom Verfasser gebrachte Thatsachenmaterial sehr willkommen und wertvoll, aber man bedauert doch, dafs er sich nicht die M\u00fche genommen, sich in der vorhandenen Litteratur ein bischen umzusehen und sich mit den Methoden der experimentellen Psychologie vertraut zu machen. Er h\u00e4tte sich dann manche spekulative Hypothese und wohl auch manchen Schnitzer (wie den mit der Tontaubheit) erspart.\tWallaschek (London).\nW. James. The physical basis of emotion. Psychol. Beview I. S. 516 bis 529. (1894.)\nEs hat recht lange gedauert, ehe die von James und Lange ziemlich gleichzeitig (1885) ver\u00f6ffentlichte Reflextheorie der Affekte das Interesse der Psychologen geweckt hat. Nachdem Wundt 1891 gegen dieselbe aufgetreten ist, haben sich neuerdings einzelne englische und amerikanische Autoren mit ihr besch\u00e4ftigt. (Ich m\u00f6chte beil\u00e4ufig sagen, dafs ich beim Lesen der LANGESchen Schrift von ihr eine Revolution der Psychiatrie erwartete. Ich konnte aber weder Meynert noch Westphau daf\u00fcr interessieren, und meine \u00dcbersetzung derselben ist ganz unbeachtet geblieben.)\nGegen seine Kritiker \u2014 Wundt, Irons, Worcester \u2014 wendet sich nun James in dem vorliegenden Artikel. Der Haupteinwand Wundts \u2014 den alle anderen Kritiker wiederholen \u2014 besteht in der Frage: Wenn ein Eindruck einen Affekt ausschliefslich durch die Ausl\u00f6sung von Reflexen hervorruft, warum hat ein anderer, dem ersten ganz gleicher Reiz nicht denselben Effekt, wenn seine psychische Wirkung nicht dieselbe ist? \u2014 \u00c4hnlich sagt Irons, dafs nicht das Objekt als solches die k\u00f6rperliche Wirkung hervorruft. \u201eWenn ich nicht erschreckt w\u00e4re, so w\u00fcrde der Gegenstand nicht schrecklich sein.\u201c Und Worcester sagt, man liefe nicht ohne weiteres erschreckt beim blofsen Anblick eines wilden Tieres weg, sondern erst, wenn man sich f\u00fcrchte, gefressen zu werden, k\u00e4men die Symptome der Angst (Weglaufen u. a.) zumVorschein.\n20*","page":307}],"identifier":"lit29744","issued":"1896","language":"de","pages":"304-307","startpages":"304","title":"Richard Legge: Music and the Musical Faculty in Insanity. Journ. of Ment. Science. Vol. XL. 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