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{"created":"2022-01-31T13:30:34.967531+00:00","id":"lit29758","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Groos, Karl","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 9: 321-330","fulltext":[{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"Zum Problem der unbewufsten Zeitsch\u00e4tzung.\nVon\nKarl Groos.\nEs ist bekanntlich eine noch nicht befriedigend aufgekl\u00e4rte Thatsache, dafs viele Personen eine l\u00e4ngere Zeitdauer ohne alle bewufsten H\u00fclfsmittel mit \u00fcberraschend grofser Genauigkeit zu sch\u00e4tzen verm\u00f6gen. Am auffallendsten zeigt sich diese F\u00e4higkeit in drei F\u00e4llen: 1. im Bestimmen der Stunde, sowohl bei Tag, als auch besonders, wenn die Person des Nachts zuf\u00e4llig aufwacht, 2. in dem bis auf die Minute genauen Aufwachen zu einer willk\u00fcrlich oder durch Gewohnheit bestimmten Zeit,1 3. bei der posthypnotischen Suggestion mit abstrakter Zeitangabe (\u201eSie werden eine Stunde nach Ihrem Erwachen das und das thun\u201c).2\nDie Tierpsychologie bietet f\u00fcr solche Erscheinungen ein ziemlich reiches Material. Das merkw\u00fcrdigste Beispiel, das mir bekannt ist, findet sich bei Bomanes; die Beobachtung stammt von einem Herrn Thomas Geering-, der als \u201etrustworthy\u201c bezeichnet wird und folgendes erz\u00e4hlt : \u201eAbout thirty years ago the small market town in which I reside was skirted by an open common, upon which a number of geese were kept by\ncottagers. The number of the birds was very great.........\nOur corn market at that time was held in the street in front of the principal inn, and on the market day a good deal of corn was scattered from sample bags by millers. Somehow the geese found out about the spilling of corn, and they appear to have held a consultation upon the subject. . . . From this time they never missed their opportunity, and the entry of the\n1\tYgl. W. James, \u201eThe principles of psychology \u201c I. 623. Anm.\n2\tYgl. A. Moll, \u201eDer Hypnotismus.\u201c 3. AufL. 1895. S. 117\u2014119, 201 bis 204.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie IX.\n21","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322\nKarl Groos.\ngeese was always looked for and invariably took place. On the morning after the market, early, and always on the proper morning, fortnightly, in they came cackling and gobbling in merry mood and they never came on the wrong day. The corn, of course, was the attraction, but in what manner did they mark the time? One might have supposed that their perceptions were awakened on the market day by the smell of corn, or perhaps by the noise of the market traffic; but my story is not yet finished, and its sequel is against this view. It happened one year that a day of national humiliation was kept, and the day appointed was that on which our market should have been held. The market was postponed, and the geese for once were baffled. Their was no corn to tickle their olfactory organs from afar, no traffic to appeal their sense of hearing. I think our little town was as still as it usually is on Sundays. . . . The geese should have stopped away; but they knew their day and came as usual. ... I do not pretend to remember under what precise circumstances the habit of coming into the street was acquired. It may have been formed by degrees, and continued from year to year: but how the old birds, who must have led the way, marked the time so as to come in regularly and fortnightly, on a particular day of the week, I am at a loss to conceive.\u201d1\nBei dem Versuch, derartige Thatsachen zu erkl\u00e4ren, hat man nun begreiflicherweise vielfach an die zahlreichen \u00e4ufseren Unterscheidungsmerkmale gedacht, die unbewufst wirksam sein k\u00f6nnten: so an die Helligkeitsdifferenzen, an die besonderen Aufserungen des \u00f6ffentlichen und h\u00e4uslichen Lebens zu den verschiedenen Tageszeiten und an den verschiedenen Wochentagen etc. In der That k\u00f6nnte man sich ja auf diese Weise ganz gut verst\u00e4ndlich machen, warum eine Katze genau zur Essenszeit von ihren Exkursionen heimkehrt, warum ein Hund seinen Herrn zur richtigen Stunde vor dem Bureau erwartet oder es merkt, wenn wieder Sonntag ist, warum ein Mensch genau zur gewohnten Zeit aus dem Schlafe erwacht. Allerlei kleine \u00e4ufsere Merkzeichen w\u00fcrden dabei eben so fest mit der betreffenden Handlung assoziiert sein, dafs sie als unbewufster Zeitmesser dienen k\u00f6nnten. \u2014 In manchen F\u00e4llen erh\u00e4lt man\n1 G-. J. Romanes, \u201eAnimal intelligence\u201c, 5. Ed. 1892. S. 314 f.","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"Zum Problem der unbewu\u00dften Zeitsch\u00e4tzuny.\n323\naber dennoch den Eindruck, als k\u00f6nnten solche \u00e4ufseren Merkmale nicht zur Erkl\u00e4rung gen\u00fcgen. Sucht man infolgedessen nach anderen Gr\u00fcnden, so wird besonders an M\u00fcnsterberg zu erinnern sein, der in seinen \u201eBeitr\u00e4gen mr experimentellen Psychologie\u201c (Heft II) darauf aufmerksam gemacht hat, dafs vermutlich bei Zeitsch\u00e4tzungen von l\u00e4ngerer Dauer der Rhythmus unseres Atmens eine Rolle spielt. Solange man keinen besseren Erkl\u00e4rungsgrund hat, ist der Gedanke nicht abzuweisen, dafs auch bei den angef\u00fchrten Ph\u00e4nomenen solche inneren rhythmischen Vorg\u00e4nge von Wichtigkeit sind. So hat mir ein Bekannter \u2014 allerdings nur aus der Erinnerung \u2014 von einer Dame erz\u00e4hlt, die aufserordentlich sicher in dem Aufwachen zur festgesetzten Stunde war, und die vor dem Einschlafen sich laut vorsagte: \u201eeine, zwei, drei, vier etc. Stunden will ich schlafen\u201c. Wenn dieser Bericht zutreffend ist, so h\u00e4tten wir hier einen mit Autosuggestion verbundenen Versuch, die ganze Zeitreihe in k\u00fcrzere rhythmische Abschnitte einzuteilen.\nWie dem aber auch sei, jedenfalls kenne ich aus dem tierpsychologischen Material einen Fall, der mit grofser Sicherheit alle Zeitmessung durch \u00e4ufsere Merkzeichen auszu-schliefsen scheint. Da diese Beobachtung, soviel ich weifs, noch nirgends wissenschaftlich verwertet ist, so lohnt es sich wohl, sie hiermit der Beachtung der Psychologen vorzulegen. In der ,,Gartenlaube11 vom Jahr 1860 macht ein Herr W\u2014e.\ny\nfolgende interessante Mitteilung \u201eAus dem Leben eines Orang-Utan\u201c, die ich verk\u00fcrzt wiedergebe: \u201eBei meiner letzten Anwesenheit in Samarang auf Java im Jahre 1848 kaufte ich von einem holl\u00e4ndischen Gutsbesitzer einen weiblichen Orang-Utan in der Absicht, ihn wom\u00f6glich lebendig nach Deutschland zu bringen. Zwar wurde durch einen ungl\u00fccklichen Zufall meine Absicht vereitelt, jedoch hatte ich Gelegenheit, den Orang-Utan drei einhalb Monate lang best\u00e4ndig zu beobachten, und glaube, dafs die folgenden Data \u00fcber die Lebensweise, Gewohnheiten und Eigent\u00fcmlichkeiten dieses sogenannten Waldmenschen nicht ohne Interesse sind. Als ich das Tier kaufte, war es drei bis vier Jahre alt, vollst\u00e4ndig ausgewachsen und mafs vom Scheitel bis zur Sohle 3 Fufs 5 Zoll. Es war auf Sumatra jung eingefangen, g\u00e4nzlich gez\u00e4hmt und lief frei auf\nder Besitzung seines Herrn umher.......... Solange sich unser\nSchiff noch in den javanischen Gew\u00e4ssern befand, w\u00e4hlte der\n21*","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"824\nKarl Groos.\nOrang-Utan das Verdeck zu seinem best\u00e4ndigen Aufenthalte und suchte sich nachts eine gesch\u00fctzte Stelle, wo er der L\u00e4nge nach ausgestreckt schlief. W\u00e4hrend des Tages war er aufser-ordentlich aufger\u00e4umt, spielte mit anderen kleinen Affen, die sich an Bord befanden, und spazierte in dem Takelwerk umher..... Sobald wir jedoch die Sundastrafse verlassen hatten\nund etwas s\u00fcdw\u00e4rts gingen, verlor das Tier mit der abnehmenden W\u00e4rme sein lebhaftes Temperament. Er turnte weder, noch spielte er mit den \u00fcbrigen Affen, so oft dieselben ihn auch dazu animierten. Er kam nur noch selten auf das Verdeck und dann nie, ohne die wollene Decke seines Bettes hinter sich herzuschleppen und sich, sobald er still sais, vollst\u00e4ndig in dieselbe einzuh\u00fcllen.... Sein Bett bestand aus einer See-\ngrasmatratze, einem ebensolchen Kopfkissen und einer wollenen Decke. . . . Sein Zubettgehen war stets mit grofsen Umst\u00e4ndlichkeiten verkn\u00fcpft, und nie schlief er ein, ohne zwei- bis dreimal wieder aufgestanden zu sein und Kopfkissen oder Matratze wiederholt gegl\u00e4ttet zu haben. Dies that er stets mit dem B\u00fccken der Hand, und nicht selten klopfte er f\u00fcnf Minuten lang auf die vermeintlich unebenen Stellen. Schien es ihm endlich recht, so streckte er sich auf den B\u00fccken aus, zog die Decke um sich, so dafs nur die Nase mit den dicken Lippen frei blieb, und lag in dieser Stellung die ganze Nacht, oder vielmehr zw\u00f6lf Stunden, ohne sich zu r\u00fchren. Ich sagte hier zw\u00f6lf Stunden, weil er nur in seiner Heimat w\u00e4hrend der Nacht schlief. Sein Aufstehen und Niederlegen war dort so regelm\u00e4fsig, wie eine Uhr. Punkt sechs Uhr, mit Sonnenaufgang, erhob er sich und legte sich zu Bett, sobald der letzte Strahl der Sonne unter\ndem Horizonte verschwand, was bekanntlich in der N\u00e4he des \u2022\u2022\n\u00c4quators (Sumatra und Java liegen nur einige Grade von letzterem entfernt) um 6 Uhr abends stattfindet. Als wir jedoch westw\u00e4rts segelten und demgem\u00e4fs immer mehr in Zeit abwichen, bemerkten wir, dafs der Orang-Utan t\u00e4glich fr\u00fcher zu Bett ging und, weil er zw\u00f6lf Stunden schlief, auch ebensoviel fr\u00fcher auf st and. Anf\u00e4nglich achteten wir nicht darauf, zuletzt wurde es jedoch zu auff\u00e4llig, um l\u00e4nger unserer Aufmerksamkeit zu entgehen. Wenn diese Ver\u00e4nderung des Schlafengehens auch nicht genau mit der Zeitver\u00e4nderung des Schiffes im Verh\u00e4ltnis stand, so war doch eine Begelm\u00e4isigkeit nicht zu verkennen, und auf dem Meri-","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"Zum Problem der unbewufsten Zeitsch\u00e4tzung.\n325\ndiane des Kaps der guten Hoffnung ging das Tier bereits um 2 Uhr nachmittags zu Bett, und stand um 2 Uhr morgens auf. Bei dieser Zeit blieb es, so lange der Orang-Utan noch lebte, obwohl wir sp\u00e4ter noch zwei Stunden Zeit ver\u00e4nderten, und es war dies um so auffallender, als man sich keine rechte Erkl\u00e4rung davon zu geben vermochte. H\u00e4tte der Instinkt des Tieres genau die zw\u00f6lf Stunden des Wachens und Schlafens innehalten k\u00f6nnen, so mufste der Orang-Utan am Kap der guten Hoffnung um zw\u00f6lf Uhr mittags zur B-uhe gegangen sein, da der Zeitunterschied zwischen Java und dem Kap sechs Stunden betr\u00e4gt. Statt dessen ging er um zwei Uhr zu Bett und verblieb dabei, trotzdem wir noch weitere zwei Stunden vorr\u00fcckten. Was waren also die Gr\u00fcnde dieser sonderbaren Erscheinung? Ich habe sie nicht entziffern k\u00f6nnen.\u201c\nDer Berichterstatter h\u00e4lt es f\u00fcr besonders merkw\u00fcrdig, dafs der Affe seine gewohnte Zeit nicht vollst\u00e4ndig einhielt. Hierin kann ich nicht mit ihm \u00fcbereinstimmen; es ist doch sehr naheliegend, zu denken, dafs in dieser wachsenden Abweichung von der gewohnten Zeit ein Nachgeben gegen die vielen \u00e4ufseren Zeitmerkmale hervortritt. Am Kap der guten Hoffnung war offenbar der Einflufs der \u00e4ufseren Zeitmerkmale so stark geworden, dafs die Verfr\u00fchung des Schlafengehens ihr Maximum erreicht hatte, und es l\u00e4fst sich als wahrscheinlich bezeichnen, dafs bei einer l\u00e4nger dauernden westlichen Fahrt das Tier allm\u00e4hlich wieder (der Ortszeit nach) sp\u00e4ter schlafen gegangen w\u00e4re. \u2014 Hierin liegt also die Schwierigkeit nicht. Das Merkw\u00fcrdige ist vielmehr, dafs das Tier die innere Zeitrechnung (wenn ich mich so ausdr\u00fccken darf) doch mit so auffallender Konsequenz fest ge halt en hat, obwohl alle \u00e4ufseren Zeitmerkmale ihr ent ge ge nar beiteten. Wir haben es also mit dem gewifs seltenen Falle zu thun, dafs hier die unbewufste Zeitsch\u00e4tzung allein durch innere Vorg\u00e4nge reguliert worden sein kann. Dafs blofs die physiologische Erm\u00fcdung beim Wachen und die Wiedererholung im Schlaf die Ursache der Erscheinung sein sollte, scheint mir ausgeschlossen. Denn einmal wissen wir ja aus eigener Erfahrung, dafs man auch dann h\u00e4ufig zur gewohnten Minute aufwacht, wenn man einmal bedeutend sp\u00e4ter zu Bett gegangen ist (wer geht \u00fcberhaupt stets zur gleichen Minute schlafen!), und aufserdem haben sich in unserem speziellen Falle die Lebens-","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326\nKarl Groos.\ngewohnheiten des Affen sehr stark ver\u00e4ndert, wie man aus der Erz\u00e4hlung deutlich ersehen kann. Es bleibt also in der That nur die Annahme einer auf blofs innere Zeitmerkmale begr\u00fcndeten unbewufsten Sch\u00e4tzung der Dauer \u00fcbrig.\nDas R\u00e4tselhafte des Vorganges ist dadurch nur vermehrt. Denn die unbewufste Einwirkung \u00e4ufserer Merkmale ist sehr einleuchtend, w\u00e4hrend eine \u00fcber viele Stunden ausgedehnte Zeitsch\u00e4tzung, die nur durch innere rhythmische Vorg\u00e4nge unterst\u00fctzt sein kann, unsere Fassungskraft v\u00f6llig zu \u00fcbersteigen scheint. Es sei aber darauf hingewiesen, dafs, genau genommen, die unbewufste Sch\u00e4tzung ganz kurzer Zeitabschnitte um nichts klarer ist, als solche selteneren F\u00e4lle, gerade wie die Beziehung zwischen Atom und Atom um nichts verst\u00e4ndlicher ist, als die Fernwirkung zwischen Gestirn und Gestirn. Auch steht der Vorgang nicht so isoliert da, wie man auf den ersten Eindruck hin wohl denken m\u00f6chte. Als ich ein Knabe war, ging ich h\u00e4ufig mit einem englischen Colonel spazieren, der, um mich zu unterhalten, auf den Einfall kam, mir ein entferntes Objekt zu zeigen und mich nun mit geschlossenen Augen darauf zuzuf\u00fchren, wobei ich anhalten mufste, wenn ich an der betreffenden Stelle zu sein glaubte. Er selbst war in diesem Spiel sehr sicher, da er darin ge\u00fcbt war, gr\u00f6fsere Entfernungen nach Schritten zu sch\u00e4tzen. Das Merkw\u00fcrdige war aber, dafs auch ich ohne alle bewufsten H\u00fclfsmittel mich gew\u00f6hnlich nicht sehr stark irrte. Auch hier scheint mir eine Bewegungssch\u00e4tzung vorzuliegen, die auf einer unbewufsten Unterst\u00fctzung durch eine rhythmische Wiederholung (n\u00e4mlich durch den rhythmischen Ablauf der Schritte) beruht. Ebenso wird man bei den merkw\u00fcrdigen F\u00e4llen von Orientierungssinn, besonders bei Hunden, die im Hundekasten eines Zuges bef\u00f6rdert werden, der unbewufsten Wirkung des vom Innerohr abh\u00e4ngigen Gleichgewichtsgef\u00fchls, das bei jeder Richtungs\u00e4nderung sich geltend macht, vermutlich eine bedeutsame Rolle zuschreiben m\u00fcssen.\nStellt man nun endlich die Frage, was f\u00fcr eine besondere seelische Th\u00e4tigkeit vorliegt, wenn man z. B. zu der fest vorgenommenen Zeit aufwacht, so w\u00fcrde ich antworten: man hat es hier mit unbewufster oder doch unterbewufster Aufmerksamkeit zu thun. Unbewufste Aufmerksamkeit? Ist das nicht der reine Widerspruch? Nun, ich halte es nicht","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"Zum Problem der unbeimfsten Zeitsch\u00e4tzung.\n327\nf\u00fcr widersprechend \u2014: wenn man n\u00e4mlich die herrschende Ansicht, als bestehe die Aufmerksamkeit in einem besonders lebhaften (klaren und deutlichen) Bewufstsein des gegen w\u00e4rt igen Objektes, aufgiebt. In einem so ebem erschienenen Aufsatz: \u201eZur Theorie der Aufmerksamkeitai hat Harry E. Kohn, wie ich glaube, mit \u00fcberzeugender Sch\u00e4rfe nachgewiesen, dafs diese Definition die Aufmerksamkeit nicht zu einer qualitativ selbst\u00e4ndigen Erscheinung des Seelenlebens zu machen vermag. Kohn bleibt in der Negation stehen und verficht die (\u00e4hnlich schon von Condillac ausgesprochene) These, dafs die Aufmerksamkeit und das Bewufstsein, dem die Aufmerksamkeit fehlt, ihrer Natur nach ein und derselbe Yorgang seien. Ich kann ihm hierin nicht beitreten, sondern bin der Meinung, dafs die Aufmerksamkeit dennoch eine eigenartige seelische Erscheinung ist, nur mufs man an Stelle jener falschen Auffassung, deren Kritik ich billige, eine andere, richtigere treten lassen. Da meine Theorie der Aufmerksamkeit, soviel ich weifs, in vielen Punkten neu ist, darf ich sie hier zum Schlufs wohl in kurzen Z\u00fcgen entwickeln. Und da es mir an dieser Stelle nicht um eine eingehende Begr\u00fcndung zu thun sein kann, so bitte ich, es zu verzeihen, wenn ich mich in etwas kategorischer Form ausdr\u00fccke.\nW\u00fcndt sagt: \u201eDie Erwartung ist ein Zustand, in welchem die aktive Aufmerksamkeit nicht, wie sonst, einem gegenw\u00e4rtigen, sondern einem zuk\u00fcnftigen Eindruck oder eventuell einer Mehrheit m\u00f6glicher Eindr\u00fccke zugewandt ist.\u201c1 2\nIch dagegen behaupte: Die Aufmerksamkeit ist stets und ausschliefslich eine Erwartung k\u00fcnftiger Eindr\u00fccke. Sie ist nicht die Konzentration auf einen gegenw\u00e4rtig vorhandenen Eindruck, sondern die Erwartung eines zuk\u00fcnftigen Eindruckes, auf den man mit einer mehr oder minder lebhaften Beaktion antworten wird. Hierbei unterscheide ich drei Hauptformen: 1. die motorische, 2. die theoretische, 3. die \u00e4sthetische Aufmerksamkeit. Bei der motorischen erwartet man die Gelegenheit zu einer instinktiven oder willk\u00fcrlichen Bewe-\n1\tAbhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte. Heft Y. Halle a. S.\n1895.\n2\tGrundz. der phys. Psychol. IY. Aufl. Bd. II. S. 280.","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nKarl Groos.\ngun g, bei der theoretischen die Gelegenheit zu einer Ideen-Assoziation (dies Wort im weitesten Sinne genommen), bei der \u00e4sthetischen verbindet sich mit der erwarteten Assoziation ein Gef\u00fchlsergufs, der in den Vordergrund des Bewufstseins tritt. Die erste ist vorliegend mit dem Wollen, die zweite mit dem Vorstellen, die dritte mit dem F\u00fchlen verkn\u00fcpft.\nDie motorische Aufmerksamkeit ist die urspr\u00fcnglichste Form. Wir finden sie beim Tier als wesentliche Begleiterin zweier wichtiger Instinkte, des Nahrungs- und des Fluchtinstinktes. Die lauernde Katze ist das beste Beispiel dieser Form der Aufmerksamkeit. Der Anblick des Mauseloches, die Witterung, vielleicht auch ein Ger\u00e4usch der Maus dienen als \u201eSignalreiz\u201c. Sofort adaptiert die Katze Auge und Ohr auf den erwarteten Eindruck, die Glieder sind bereit, den Sprung auszuf\u00fchren, zugleich aber auch gehemmt, bis der richtige Augenblick gekommen ist, und die Hemmungserscheinungen breiten sich auch \u00fcber die unbeteiligten Muskeln aus, was zugleich die Aufmerksamkeit erh\u00f6ht und eine Warnung des Beutetiers ausschliefst. Nun erscheint die Maus, der Sprung erfolgt. Mit der Wahrnehmung des gegenw\u00e4rtigen Objektes schliefst also der Akt der Aufmerksamkeit. Ein k\u00fcnstliches Analogon hierf\u00fcr bieten die Experimente \u00fcber Reaktionszeit. Kann man aber dabei sagen, dafs die Katze die gegenw\u00e4rtige Maus, das Reh den g egen w\u00e4rtigen Feind noch aufmerksam betrachtet? Gewifs nicht. Ebenso verh\u00e4lt es sich mit dem Reiz, der beim k\u00fcnstlichen Experiment eine Reaktion ausl\u00f6st.\nAber auch bei den anderen Hauptformen ist die Aufmerksamkeit ein Lauern auf Zuk\u00fcnftiges, wie sich das besonders an den charakteristischen Hemmungserscheinungen zeigt. \u2014 Die theoretische Aufmerksamkeit dient dem Erkennen. Sie ist da vorhanden, wo wir auf die Verbindung eines Sinneseindruckes, oder einer neu aufgetauchten Vorstellung mit unserem Assoziationsschatz, oder \u2014 wie B. Erdmann sagen w\u00fcrde \u2014 auf die Verschmelzung einer Perzeptionsmasse P mit einer Apperzeptionsmasse A zu dem apperzeptiven Akt AP \u201elauern\u201c. \u2014 Ein Botaniker findet eine Blume, die ihm zuerst fremd erscheint. Sein adaptiertes Auge durchl\u00e4uft alle Einzelheiten der Pflanze, der Atem ist zur\u00fcckgehalten, seine Sprech-","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"Zum Problem der unbewufsten Zeitsch\u00e4tzung.\n329\nmuskulatur ist zugleich bereit und gehemmt, das Blickfeld des Bewufstseins verengert \u2014 er \u201elauert\u201c auf das fehlende Wort, den fehlenden Begriff. Oder umgekehrt: ein Experimentator versucht aus einem Klange einen Oberton herauszuh\u00f6ren. Sein Ohr ist adaptiert etc. \u2014 er lauert, von dem Erinnerungsbilde eines h\u00f6heren Tones ausgehend, auf die noch fehlende Apperzeption der Sinnesempfindung. Die gleiche theoretische Aufmerksamkeit zeigt sich bei dem Anh\u00f6ren oder Lesen eines Vortrages. Wir warten bei der Aufnahme der an sich sinnlosen Zeichen auf das Zustandekommen des Apperzeptionsaktes, wir warten \u201egespannt\u201c beim Anfang eines Satzes auf dessen Vollendung, beim Beginn einer Gedankenentwickelung auf ihre Ausf\u00fchrung. Wir sind aufmerksam nie auf das Gegenw\u00e4rtige, stets auf das Kommende. Bei dem \u201egespannten\u201c Anh\u00f6ren eines sehr leisen Tones besteht die Aufmerksamkeit nie in dem ruhigen Aufnehmen des Gegenw\u00e4rtigen, sondern in dem Lauern auf die n\u00e4chste Bewufstseinswelle, die den stets wieder versinkenden Eindruck von neuem emportr\u00e4gt.\nBei der \u00e4sthetischen Aufmerksamkeit haben wir es auch mit Apperzeptionsakten zu thun, nur nehmen die Gef\u00fchle in der Apperzeptionsmasse eine viel breitere Basis ein, als bei dem blofs theoretischen Apperzipieren. Dies h\u00e4ngt mit dem Nachahmungstriebe zusammen (den ich meines Wissens in dieser Bedeutung zuerst, aber noch sehr unvollkommen, systematisch in die \u00c4sthetik eingef\u00fchrt habe). Man weifs, dafs jede Bewegungs vor Stellung den Nachahmungstrieb erregt. Dies ist aber dahin zu erweitern, dafs auch die Stellung oder Haltung eines ruhenden K\u00f6rpers zur Nachahmung verlockt.1 Bei der \u00e4sthetischen Apperzeption zeigt sich dieser Trieb nur rudiment\u00e4r als blofs \u201einnere Nachahmung\u201c; er f\u00fchrt aber viele motorische Erregungen mit sich, die mit lebhaften Gef\u00fchlen, den \u201eNachahmungsgef\u00fchlen\u201c verkn\u00fcpft sind. Die \u00e4sthetische Aufmerksamkeit besteht haupts\u00e4chlich in dem \u201eLauern\u201c auf diesen Gef\u00fchls-ergufs, dessen h\u00f6chste Wirkung die \u201eEinf\u00fchlung\u201c in das Objekt, oder die \u201e\u00e4sthetische Personifikation\u201c ist. Die \u201einnere Nachahmung\u201c kann aber, wenn sie einmal eingeleitet ist, frei dahinstr\u00f6men, ohne die Spannung der Aufmerksamkeit. Das\n1 Vergl. Couturat, \u201eLa beaut\u00e9 plastique\u201c, jRevue philosophique, XXXV. (1893.)","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330\nKarl Groos.\ngilt besonders von Bewegungen. Daher erm\u00fcdet Musik geistig weniger, als die Betrachtung einer Gr em aide galerie.\nAuf dem Boden dieser Theorie l\u00e4fst sich eine unbewufste Aufmerksamkeit annehmen. Wenn es sich z. B. um das Lauern auf ein vergessenes Wort handelt, so kann die Spannung, die auf der sinnlichen Adaptation und auf der Bereitschaft der Sprechmuskulatur beruht, wegfallen. Nur in den zentralen Teilen des Nervensystems werden noch Erregungen und Hemmungen bestehen, die aber, durch andere Prozesse gleichsam \u00fcbert\u00e4ubt, unterbewufst bleiben, bis mit einem Male das gesuchte Wort, an das wir \u201egar nicht mehr gedacht\u201c hatten, wie eine Offenbarung hervortritt. Sogar das Lauern der Katze (Wildkatzen, die auf der Lauer liegen, bemerken manchmal den sich n\u00e4hernden J\u00e4ger nicht) mag oft einem unbewufsten Zustande sehr nahe kommen und ist dann als eine Art von Autohypnose zu betrachten. Ist man doch auch, wenn man einen Beaktionsversuch macht, trotz aller \u201eAufmerksamkeit\u201c leicht in einem Stadium sehr dunkler Bewufstheit, und ist doch gespannte Aufmerksamkeit das Hauptmittel zur Hyp-notisierung. Von hier ist es nur ein Schritt bis zur posthypnotischen Suggestion und bis zum Erwachen in der Vorgesetzten Stunde. Ja, selbst in den F\u00e4llen, wo ein vorausgehender Vorsatz, sich die Zeit zu merken, fehlt, ist es denkbar, dafs unbewufste Aufmerksamkeit von einem Pulsschlage des Seelenlebens zum n\u00e4chsten strebt. \u2014 Vielleicht erkl\u00e4rt sich hieraus das jedem Menschen eigene und doch so wunderbare Vorw\u00e4rtsdr\u00e4ngen vom Jetzigen zum K\u00fcnftigen, das unser ganzes Leben beherrscht; obwohl wir genau wissen, dafs wir nur dem Grabe zustreben, steckt doch in jedem Menschen die Faustnatur, die nie zum Augenblicke sagt: verweile doch, du bist so sch\u00f6n!\nIch glaube daher, dafs man die besprochenen Erscheinungen in der That als Leistungen unbewufster oder unterbewufster Aufmerksamkeit wird ansehen m\u00fcssen. Freilich sind sie damit nur klassifiziert. Die Erkl\u00e4rung der richtigen Sch\u00e4tzung bleibt nach wie vor r\u00e4tselhaft.","page":330}],"identifier":"lit29758","issued":"1896","language":"de","pages":"321-330","startpages":"321","title":"Zum Problem der unbewu\u00dften Zeitsch\u00e4tzung","type":"Journal Article","volume":"9"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:30:34.967536+00:00"}