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{"created":"2022-01-31T14:27:06.411319+00:00","id":"lit29845","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"H\u00f6fler, Alois","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 10: 99-108","fulltext":[{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"Kr\u00fcmmungskontrast\nYon\nDr. Alois H\u00f6flek,\nProfessor an der k. k. ThereSianischen Akademie in Wien und Privatdozent an der Universit\u00e4t Wien,\n(Mit 4 Figuren im Text.)\nAn den Yorgeb\u00e4nden der nieder\u00f6sterreichischen Landesirrenanstalt in Wien findet sieb als architektonisches Motiv ein Spitzbogen, welcher in nachstehenden Figuren 1 und 2 nach Photographien reproduziert ist, die zum Zwecke dieser Mitteilung angefertigt worden sind.1 Mir war n\u00e4mlich an diesem Spitzbogen vor mehreren Jahren aufgefallen, dafs er auf den ersten Blick an der Spitze von zwei nach unten konvexen Kurven (in der Weise mancher maurischer Bogen) abgeschlossen zu sein scheint, w\u00e4hrend, wie schon genaues Hinsehen zeigt (wenn auch nicht ganz leicht und f\u00fcr verschiedene Personen, die ich aufmerksam machte, \u00fcberhaupt nicht ganz zweifellos),* * die Begrenzungslinien bis zur Spitze v\u00f6llig gerade sind. Wenigstens ergab sich bei einer direkten Pr\u00fcfung der Be-.\n1 Ich sage hier Herrn Dozenten Dr. C. Bodenstein meinen Dank f\u00fcr die Anfertigung der Photographien, den Herren Primarien Dr. St\u00e0b-LiNGER und Dr. Bubenix daf\u00fcr, dafs sie durch Werklente die Geradheit der fraglichen Linien feststellen liefsen.\n* \u00dcber dem einen der Bogen befindet sich ein nachtr\u00e4glich angebrachtes Blechdach, welches wirklich an der Spitze die besprochene Kr\u00fcmmung besitzt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dafs der Verfertiger des Blechdaches dem Eindruck der scheinbaren Kr\u00fcmmung des Mauerwerkes unterlegen ist und im Stil zu bleiben glaubte, wenn er sie im Dache nachahmte, wenn auch in vielleicht bewufster \u00dcbertreibung. Desgleichen findet sich auch im Bahmenwerk der Fenster, das ja wahrscheinlich auch erst nach dem Mauerwerk und diesem angepafst angefertigt wurde, einige Male eine wirkliche Kr\u00fcmmung an der Spitze, aber nicht ganz konsequent \u2014 es ist, wie wenn hier das Urteil des Zeichners der Bahmen beim freien Nachbilden des Mauerbogens geschwankt h\u00e4tte.\n7*","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"100\nAlois H\u00f6fler.\ngrenzungslinien keinerlei merkliche Abweichung von der Geraden; und auch auf den Photographien, sowie auf beistehenden Nachbildungen weist das Lineal das Nichtvorhandensein einer dem Schein entsprechenden konvexen Kr\u00fcmmung nach.\nEine Erkl\u00e4rung der scheinbaren Kr\u00fcmmung, welche in Figur 3 etwas \u00fcbertrieben durch die punktierte Linie de' angedeutet ist, erg\u00e4be sich sofort daraus, dafs, wenn beim\ni\u00bb\n\u00dcbergang aus dem vertikalen Teil ai durch die nach unten konkave Kr\u00fcmmung bei ic in den schiefen Teil des Bandes cd gleichsam der Blick sich durch letzteren l\u00e4ngs einer Geraden","page":100},{"file":"p0101.txt","language":"de","ocr_de":"Kr\u00fcmmungskontrast.\n101\n\u00bb\u00ab.\ngef\u00fchrt f\u00fchlt, dieser \u00dcbergang aus dem Krummen ins Gerade \u00fcbersch\u00e4tzt wird, wie beim simultanen Farbenkontrast nach \u00dcELMHOLTZscher Erkl\u00e4rung. Nennen wir die Kr\u00fcmmung bei b c eine negative (weil der zweite Differentialquotient der auf das\nFig. 2.\nKoordinatensystem* OXY bezogenen Kurve daselbst negativ ist), so ist die Kr\u00fcmmung von c bis d gleich Null, von d bis e1 bezw. e' wird sie positiv.\nAngesichts der Thatsache, dafs Helmholtz\u2019 psychologische Theorie des simultanen Kontrastes durch Herings physiologische einen starken Angriff erfahren hat, sei auch die angedeutete","page":101},{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"102\nAlois Hofier,\nErkl\u00e4rung der Erscheinung zun\u00e4chst nur als eine m\u00f6gliche mitgeteilt. Nichtsdestoweniger d\u00fcrfte f\u00fcr das, was an der Beobachtung unter vorl\u00e4ufiger Femhaltung wom\u00f6glich jeder Theorie eine Thatsache ist, die Bezeichnung \u201eKr\u00fcmmungskontrast\u201c immerhin noch passend gefunden werden. Der Gedanke an eine \u00c4hnlichkeit mit der T\u00e4uschung durch Z\u00f6llners Figuren* 1 liegt nahe, sei aber, weil ebenfalls sogleich auf theoretische Deutung f\u00fchrend, nur erw\u00e4hnt, insofern er die bei ihrer Variierung gemachten Erfahrungen f\u00fcr unsere Erseheinung nutzbar zu machen anregt.\nDie Thatsache giebt n\u00e4mlich ebenfalls vor allen Erkl\u00e4rungsversuchen Stoff zur mannigfachen experimentellen Vari-\nierung. 1. Wie lange darf die Gerade ce im Vergleich zur L\u00e4nge des Bogens bc oder seines Kr\u00fcmmungshalbmessers sein, damit \u00fcberhaupt noch ein Schein von Kr\u00fcmmung von d bis e' sich einstelle? 2. Bei welcher Neigung der ce gegen die Horizontale, oder was dasselbe ist, bei welchem Gradmafs des Bogens bc wird der Schein am st\u00e4rksten ? 3. L\u00e4fst sich der Schein vielleicht ^ steigern, indem man nicht konstante 3-\t(Kreis-) Kr\u00fcmmung, sondern eine in be-\nstimmter Weise variable l\u00e4ngs bc anwendet? 4. Ist dieser Schein daran gebunden, dafs sich die Linie ab cd e jenseits von der Symmetrieaxe (die durch e \\\\ OY geht) wiederhole? Eine Verst\u00e4rkung durch solche Symmetrie ist ja von vornherein wahrscheinlich. Wieviel von dem Schein der Zuspitzung kommt aber 5. auf Rechnung des Sichschneidens . zweier Geraden unter einem Winkel? 6. Was geschieht, je\n1 Auf das ihnen und verwandten Erscheinungen zu Grunde liegende \u201eFalschsehen schiefer Winkel\u201c (Hering, Hermanns Handbuch, 111.Bd.\n1. T., S. 372, 580 u. a.) wendet Helmholtz (Physiol, Opt. I. Aufl. S. 571) den Ausdruck \u201eKontrast f\u00fcr Richtungen\u201c an\u00ab (Vergl. auch Meinong, Beitr\u00e4ge zur Theorie der psychischen Analyse, diese Zeitschr. VI. Bd. S. 347, Anm.) Bein mathematisch genommen verhielten sich Richtungs- und Kr\u00fcmmungskontrast wie endliche Differenzen und Differentialquotienten der die \u201eRichtungen\u201c darstellenden ersten Differentialquotienten\u00ab Vergl. aber die unten angef\u00fchrten Worte von Mach.","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"Kr\u00fc mmungskontras t\n$\n103\nnachdem dieser Winkel ein stumpfer oder spitzer ist? Das Gesetz, d&fs stumpfe Winkel unter-, spitze \u00fcbersch\u00e4tzt werden, kompliziert sich hier mit der unter 2 genannten Variierung; wann f\u00f6rdernd, wann hemmend? 7. Mit R\u00fccksicht auf die Thatsache, dais der Schein der Richtungsverschiedenheit beim ZOLLNBRschen Muster am st\u00e4rksten wird, wenn die L\u00e4ngslinie 46\u00b0 gegen die Medianebene des Beschauers ein-schliefst, liegt die Frage nahe, ob der Sohein der Kr\u00fcmmung bei de* am st\u00e4rksten ist bei vertikaler Kopfhaltung des Beschauers, allgemeiner : bei Parallelismus der Symmetrie-axe der Figur und der L\u00e4ngsaxe des Beschauers, oder bei welchem Winkel beider Richtungen ?\t8. Die Figuren w\u00e4ren\nteils zu zeichnen, teils (um Begrenzungslinien ohne Dicke zu haben) aus Papier auszuschneiden und dieses auf andersfarbigen Grund zu legen (vielleicht liefsen sich auch Schatten von\nFig. 4.\nDr\u00e4hten unter wechselnder Projektion anwenden). 9. Welchen Einfiuis hat die absolute Gr\u00f6fse, 10. welchen der Abstand vom Auge, 11. bei monokularem, binokularem Sehen, 12. bei ruhendem, bewegtem Auge u. s. f.?\t13. Auch andere Ver-\nbindungen und Geraden zeigen die Kontrasterscheinungen. So sind z. B. f\u00fcr mich die in Fig. 4 an den Kreisbogen angesetzten Geraden sehr auffallend nach oben konkav.\nDa f\u00fcr die experimentelle Behandlung dieser und einschl\u00e4giger Fragen (welche mir von Herren, die an dem psychologischen Laboratorium in Graz arbeiten, in Aussicht gestellt worden ist) voraussichtlich w\u00e4hrend der Experimente selbst sich die passendste Fragestellung erst ergeben wird, so m\u00f6gen nur noch einige allgemeinere Bemerkungen \u00fcber die theoretische Tragweite des Thatsachenkomplexes hier stattfinden.\nVor-allem ist bemerkenswert der Umstand, dafs die Kontrastwirkung hier stattfindet zwischen Vorstellungsinhalten, die man nur sehr uneigentlich noch wird Empfindungsinhalte nennen k\u00f6nnen : findet doch konkave und konvexe Kr\u00fcmmung erst in","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104\nAlois Hofier,\ndem negativen bezw. positiven Vorzeichen zweiter Differential* * * * \u00a7 quotienten ihren ad\u00e4quaten begrifflichen Ausdruck. Nun bricht sich allerdings mehr und mehr die Einsicht Bahn, dafs viele von sehr primitiven Inhalten, die man zuerst unbedenklich Empfindungsinhalte nennen mochte, diesen Namen nicht verdienen, sondern dais z. B. schon eine einfache Baumstrecke als solohe nur beim Hinzutreten von Dis tanz Vorstellungen1 im Bewufstsein vorhanden ist: \u201eUnter Distanz aber verstehen wir, das Wort hier in einem f\u00fcr manche ungewohnt weiteren Sinne nehmend, nicht blofs r\u00e4umliche und zeitliche, sondern auch qualitative und solche der Intensit\u00e4t, und definieren das Wort: Grade der Un\u00e4hnlichkeit.\u201c (Stumpf, Tonpsychol. I. Bd. S. 57).\nDa \u00fcberdies nach Ehrenfels* jede r\u00e4umliche Gestalt, also auch schon die Strecke, eine \u201eGestaltsqualit\u00e4t\u201c darstellt, mufs dies um so mehr von Kr\u00fcmmung gelten ; ja es d\u00fcrften die unmittelbar anschaulichen Bilder von konkaver oder konvexer Kr\u00fcmmung9 sogar besonders geeignet sein, jenen Namen, den\n1 Hierhergeh\u00f6riges soll ein n\u00e4chster Aufsatz \u201eZur Analyse der Vor-Stellungen von Abstand und Richtung\u201c behandeln.\n* Vergl. diese Zeitschr. II. Bd. S. 24\u00df ff. den Bericht \u00dcber Ehrbhfbls\u2019\n\u201eGestaltsqualit\u00e4ten\u201c (Viei'teljahrschr. f, wiss. Philos. 1890. S. 249\u2014292)\nin dem Aufsatze von Meinong \u201eZur Psychologie der Komplexionen und Relationen.\u201c\n\u00a7\n8 Zu den Stellen, von denen Ehrexfels eingangs seines Aufsatzes sagt: \u201eAls Ausgangspunkt hierzu ergaben sich mir wie von selbst in der Schrift von E. Mach, \u201eBeitr\u00e4ge zur Analyse dei' Empfindungen\u201c (Jena 1886), eine Reihe von Bemerkungen und Hinweisen, welchen ich, obgleich sie in einem ganz anderen Zusammenh\u00e4nge entstanden zu sein scheinen, dennoch eine wesentliche Festigung meiner Ansichten \u00fcber die hier darzulegenden Verh\u00e4ltnisse verdanke\u201c \u2014 geh\u00f6rt wohl wesentlich auch die folgende (Mach, S. 47, 48): \u201eDie physiologische Bedeutung der Richtung einer betrachteten Geraden oder eines Kurven elements k\u00f6nnen wir uns noch durch folgende Betrachtung vermitteln. Es sei y = f (x) die Gleichung einer ebenen Kurve. Durch den blofsen Anblick k\u00f6nnen wir\nd xi\nden Verlauf der Werte von \u2014\u2022 an der Kurve absehen, denn dieselben\nax\nsind durch deren Steigung bestimmt, und auch \u00fcber die Werte von ^ giebt das Auge qualitativen Aufschlufs, denn sie sind durch die\nKr\u00fcmmung warum man\nder Kurve charakterisiert.\nd*y d*y\n\u00fcber die Werte von\ndxy dxfi\nEs liegt die Frage nahe, u. 8. w. nicht ebenso unmittel-\nbar etwas au8sagen kann. Die Antwort ist einfach. Man sieht nattlr-","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"Kr\u00fcmmungskontrast.\nlO\u00f6\nEhb\u00e4nfels den von ihm entdeckten Vorstellungsgebilden gegeben hat und den er dann zu Gunsten des von Meinon\u00f6 vorgeschlagenen Namens \u201efundierte Inhalte44 aufgegeben hat, zu illustrieren ; denn gerade bei Konvexit\u00e4t und Konkavit\u00e4t dr\u00e4ngt\nlicli nicht die Differentialquotienten, welche Verstandessache sind, sondern man sieht die Richtung der Kurvenelemente und die Abweichung der Richtung eines Elementes von jener eines anderen.\u201c\nWie Ehrenfels (a. a. O. S. 260) bez\u00fcglich Machs Terminus \u201eEmpfindung\u201c in solchen F\u00e4llen allgemein bemerkt, kann auch speziell von \u201eSehen\u201c der Kr\u00fcmmung nur so die Rede sein, dafs \u201eder Verfasser . . lediglich die Unmittelbarkeit des Eindruckes im Auge hatte und dessen Unabh\u00e4ngigkeit von jeglicher intellektuellen Verarbeitung durch das Subjekt hervorzuheben gewillt war.\u201c In diesem Sinne nun ist es z. B. eine von mir durch Umfragen oft erprobte, aber von der Schulgeometrie, wie es scheint, nicht beachtete Thatsache, dafs von allen \u201eDefinitionen\u201c des Kreises die, er sei die \u201eLinie konstanter Kr\u00fcmmung\u201c, der ganz unbefangenen Auffassung jedesmal bei weitem am n\u00e4chsten liegt (viel n\u00e4her, als die nach \u201ekonstanten Radien\u201c). Es d\u00fcrfte sich Machs Bemerkung aber noch etwas erweitern lassen, indem wir zun\u00e4chst doch auch f\u00fcr endliche Unterschiede von Kr\u00fcmmungen noch eine sehr sichere unmittelbare Auffassung haben ; und auch f\u00fcr stetige \u00c4nderung der Kr\u00fcmmung fehlt dem geschulten Auge der \u201eBlick\u201c keineswegs. Wir erfassen z. B. die Gleichm\u00e4fsigkeit des Abnehmens der Kr\u00fcmmung einer durch r = k.definierten Archimedischen Spirale wohl kaum schlechter, als etwa die Gleichm\u00e4fsigkeit eines Crescendo (Stumpf, Tonpsychol. I. S. 393); dafs freilich hier die Proportionalit\u00e4t nicht mehr Kr\u00fcmmungshalbmesser und Bogenl\u00e4nge, sondern Radiusrector und Polarwinkel betrifft, d\u00fcrfte wohl f\u00fcr die meisten schon unter der Unterschiedsschwelle liegen. (Messende Versuche hier\u00fcber und \u00fcber das folgende w\u00e4ren erst anzustellen.) Aber auch Kr\u00fcmmungs\u00e4nderungen, die nach komplizierteren Gesetzen erfolgen, also dritte Differential quotienten, werden vom geschulten Blick in ihrer besonderen Gesetzm\u00e4fsigkeit erfafst; so unterscheidet jeder Geometer die parabolische Kr\u00fcmmung auf den ersten Blick von der hyperbolischen (wenigstens an Stellen, die nicht zu nahe beim Scheitel liegen) \u2014 und es ist ja wohl auch hier wieder, wie beim Kreis, die Kr\u00fcmmung, welche vorwiegend zum unmittelbaren Gestalten bi ld beitr\u00e4gt. \u2014 Dafs alles Gesagte nur dasjenige Mafs von Genauigkeit quantitativer Bestimmungen vertr\u00e4gt, wie sie anschaulichen Vorstellungen (richtiger: Vergleichungen solcher) im g\u00fcnstigsten Falle zukommt, versteht sich von selbst; auch\nschon dafs -j\\ = 0, d. h. eine Gerade, erkennen wir ja als solche durch\nax\n\u201eSehen\u201c nur unter dem Vorbehalt untermerklicher \u201eBuckel\u201c.\nNur vorl\u00e4ufig f\u00fchre ich hier an, dafs sich die ganze Betrachtung vom Geometrischen auf das Phoronomische \u00fcbertragen l\u00e4fst: auch die","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106\nAlois H\u00f6fler.\nsich uns das Qualitative innerhalb des R\u00e4umlichen1 besonders lebhaft auf. Doch dies nur nebenbei. Was f\u00fcr uns an der Thatsache des Kr\u00fcmmungskontrastes besonders bemerkenswert erscheint, ist der Umstand, dafs \u00fcberhaupt das Kontrastverh\u00e4ltnis mit einer anschaulichen Lebendigkeit, wie es, wenn zwischen wirklichen Empfindungsinhalten wie Farben auftretend, zu Herings physiologischer Theorie f\u00fchren konnte, auch hier, also zwischen Vorstellungsinhalten sich wirksam zeigt, f\u00fcr die man eine Modifikation duroh physiologische Beeinflussung schwer denken kann. Insoweit es \u00fcberhaupt ohne theoretische Vorwegnahme\nAnaloga zu\ndy\ndx\nund\n<Py\ndx\"\nn\u00e4mlich die Geschwindigkeit\nds\ndt\nund\ndie\nBeschleunigung ^werden von uns als Gestaltqualit\u00e4ten erfa&t,\n\u2014 sofern wir uns nicht gew\u00f6hnt haben, auf unsere von Kindheit gel\u00e4ufigen Anschauungsbilder grofser, kleiner, wachsender.. Geschwindigkeiten zu Gunsten der rein abstrakten Definition der Mechanik: \u201eGeschwindigkeit ist der Weg in der Zeit 1* u. dergl. zu verzichten. EHRENrELS* Theorie der Gestaltsqualit\u00e4ten hat mir f\u00fcr das, was ich seit zwanzig Jahren als einen Mangel der herk\u00f6mmlichen Darstellungen der Mechanik f\u00fchlte, den vorl\u00e4ufig wenigstens mich selbst \u00fcberzeugenden Gesichtspunkt zu k\u00fcnftigen \u201epsychologischen und logischen Analysen\u201c dieser und mancher anderen Grundbegriffe der theoretischen Mechanik gegeben.\nW\u00e4hrend ich dies niederschreibe [\u2014 es war im Februar 1894 ; ich habe die Publikation bis jetzt verschoben, da ich den Raum der Zeitschrift durch die zwei Artikel \u201ePsychische Arbeit\u201c sehr in Anspruch genommen hatte], finde ich hierher geh\u00f6rige Andeutungen in dem soeben erschienenen Hefte dieser Zeitschr. (VI. Bd. S. 472) von Scripture unter dem Terminus \u00c4nderungsempfindlichkeit (Geschwimdigkeits-, Beschleunigungsempfindlichkeit) mitgeteilt.\n1 Es ist nur cum grano salis zu nehmen, wenn oft Qualit\u00e4t, Intensit\u00e4t, r\u00e4umliche und zeitliche Bestimmungen wie einfach koordinierte Inhalte aufgez\u00e4hlt werden (von Stumpf, z. B. Baum-Vorstellung, Tonpsychologie an verschiedenen Stellen, von mir in meiner Logik 1890 u. a.). Es giebt eben Qualit\u00e4ten auch innerhalb des R\u00e4umlichen, wie oben gesagt, und sogar Qualit\u00e4ten innerhalb der Qualit\u00e4ten; z. B. das Eigent\u00fcmliche von Heifs und Lau innerhalb der W\u00e4rmequalit\u00e4t; die \u201espezifische Helligkeit\u201c (\u2014 in der diesen Titel f\u00fchrenden Arbeit hat Hillebrand jedenfalls \u00fcbersehen, dafs schon Schopenhauer, Sehen und* Farhen1 \u00a7 5, von einem \u201ejeder Farbe wesentlichen und eigent\u00fcmlichen Grad von Helle oder Dunkelheit\u201c spricht) neben dem Farbenton und der S\u00e4ttigung, welche \u201eHelligkeit\u201c keineswegs als Intensit\u00e4t angesprochen werden kann (ohne dafs hiermit schon Hering beigestimmt sein m\u00fcfste, welcher gar keine eigentliche Intensit\u00e4t der Lichtempfindungen will gelten lassen).","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"Kr\u00fcmmungskontrast.\n107\nvon spezielleren Versuchsergebnissen erlaubt ist, den Kr\u00fcmmungs-zum Farben- (bezw. Helligkeit\u00bb-) Kontrast in Analogie zu setzen, entspricht der Bogen bc der induzierenden Farbe, die Gerade de dem grauen Grunde, auf welchem die Kontrastfarbe induziert wird. (Dafs hier ein St\u00fcck der Geraden, n\u00e4mlich cd unge\u00e4ndert bleibt und das \u2022 Kontrastph\u00e4nomen sich erst von d an geltend macht, st\u00f6rt die Analogie freilich bedenklich; ob die Bedenken un\u00fcberwindlich sind, m\u00fcfsten erst Versuche dar\u00fcber zeigen, wie weit sich d verk\u00fcrzen, etwa auf Null bringen l\u00e4fst (wozu Figuren wie 4 einen Ausgangspunkt bieten). H\u00e4lt man sich an die durch unser Portal gegebenen Mafse, so wird man den Eindruck haben, dafs der Blick Gelegenheit haben m\u00fcfste, erst ein St\u00fcck sich l\u00e4ngs einer Geraden vorgef\u00fchrt zu f\u00fchlen \u2014 was wieder keine Theorie \u00fcber Augenbewegung u. dergl. einschliefsen soll, immerhin aber im Sinne von Lipps Theorie* 1 gedeutet werden k\u00f6nnte \u2014 um dann, wenn er l\u00e4ngs dieses St\u00fcckes den Eindruck vom Nullwert der Kr\u00fcmmung empfangen hat, durch den Schein der entgegengesetzten Kr\u00fcmmung gegen die von bc reagieren zu k\u00f6nnen. F\u00fcr die grofse Streitfrage, ob psychologische oder physiologische Erkl\u00e4rung des simultanen Farbenkontrastes, m\u00f6chte wenigstens ein neuer Wahrscheinliohkeitsgrund f\u00fcr erstere Erkl\u00e4rungsweise darin liegen, dafs es einen nicht wohl physiologisch zu erkl\u00e4renden Kontrast nicht erst zwischen Riesen und Zwergen (den auch Hering als psychologisch gelten l\u00e4fst, vielleicht, weil\nhier neben dem Auffassen der stark verschiedenen Gr\u00f6fsen\n% _\nals solcher doch auch schon eine kaum vollst\u00e4ndig zu analysierende Beziehung zwischen der \u201eGrofse\u201c als rein geometrischem Bestimmungsst\u00fcck und spezifisch menschlicher Grofse mit ihren Extremen \u201eRiesigkeit\u201c * und \u201eWinzigkeit\u201c in Betracht kommt), sondern dafs es psychologischen Kontrast schon zwischen Inhalten giebt, die wie die Kr\u00fcmmung immer noch sehr primitiver Natur, aber doch schon nicht mehr Sinnesinhalte sind. Ganz nebenbei bemerkt, m\u00fcfste sich ja aber die psychologische und die physiologische Erkl\u00e4rung \u00fcberhaupt nicht ausschliefsen, da sie doch\n1 Vergl. diese Zeitschr. HI. Bd. 8. 133 ff.\n1 Ich habe Viertetfahrsschr. f. iciss. Philos. 1883, S. 484, auf den Unterschied von \u201equantitas\u201c und \u201emagnitudo\u201c als auf einen hingewieBen, der geeignet ist, das Dogma von der \u201eRelativit\u00e4t aller Gr\u00f6fse\u201c in die richtigen Schranken zu bringen. Desgleichen meine Logik (1890) S. 61.","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108\nAlois H\u00f6fler.\nbeide einen Umstand namhaft machten, der mit dem anderen nicht unvertr\u00e4glich ist. Ob ein solcher Vermittelungsvorschlag annehmbar ist, k\u00f6nnten freilich wieder erst Versuche von der Art des von Hering (Lichtsinn, S. 22) ersonnenen zeigen, welcher die Analogie zum Kontrast Kiese\u2014Zwerg dadurch in die Enge treibt, dafs wir \u201eden Menschen von mittlerer Gr\u00f6lse neben dem Kiesen im strengsten Sinne des Wortes pl\u00f6tzlich zusammenschrumpfen sehenu m\u00fcfsten. Sollte im \u201eKr\u00fcmmungskontrasttf wirklich ein physiologisches Motiv (etwa Augen-bewegung \u2014 allenfalls auch Muskelempfindung davon) und ein psychologisches (etwa Lipps \u00c4sthetische Faktoren) Zusammenwirken, so w\u00e4ren f\u00fcr die Abgrenzung, was des einen und was des anderen ist, erst so feine differenzierende Versuche auszudenken, wie der erw\u00e4hnte HERiNGsche.\nSo viel aber d\u00fcrfte heute schon zu sagen sein, dafs unsere Thatsache, wie auch ihre Erkl\u00e4rung ausfalle, durch die ebenfalls thats\u00e4chliche Konsequenz \u00fcber ein blofs isoliertes Interesse hinausreiche, indem sich Ehrenfels\u2019 Gestaltsqualit\u00e4ten wieder in einer Hinsicht den Empfindungsinhalten analog, n\u00e4mlich dem Kontrastverh\u00e4ltnis unterliegend, erweisen, wodurch dieser Kr\u00fcmmungskontrast uns wieder in seiner Weise \u00c4hnlichkeiten und Unterschieden prim\u00e4rer und fundierter Inhalte n\u00e4her bringt.","page":108}],"identifier":"lit29845","issued":"1896","language":"de","pages":"99-108","startpages":"99","title":"Kr\u00fcmmungskontrast","type":"Journal Article","volume":"10"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:27:06.411324+00:00"}