Open Access
{"created":"2022-01-31T14:03:51.646853+00:00","id":"lit29878","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Nagel, Wilibald A.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 10: 235-239","fulltext":[{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"tTber die Wirkung des chlorsauren Kali\nauf den Geschmackssinn.\nVon\nPrivatdozent Dr. Wiubald \u00c2. Nagkl\nin Freiburg i. Br.\nDas Kaliumchlorat (Kali chlorioum der Apotheken) besitzt eine eigent\u00fcmliche Wirkung auf das Geschmacksorgan, bez\u00fcglich deren ich in der Litteratur vergeblich nach einer Erw\u00e4hnung gesucht habe. Schon vor vielen Jahren war es mir aufgefallen, dafs, wenn ich wegen einer Affektion des Rachens oder Halses eine L\u00f6sung von ohlorsaurem Kali als Gurgelwasser benutzt hatte und danach den Mund mit reinem Wasser aussp\u00fclte oder auch einige Zeit nachher zuf\u00e4llig Wasser trank, dieses auffallend s\u00fcfs schmeckte.\nDa in neuerer Zeit Kontrasterscheinungen auf dem Gebiete des Geschmackssinnes in unzweideutiger Weise festgestellt worden sind und die erw\u00e4hnte Beobachtung zu jenen in einer gewissen Beziehung steht (wovon unten n\u00e4heres), schien mir ein kurzer Hinweis auf sie nicht \u00fcberfl\u00fcssig.\nDas Kaliumohiorat ist in kaltem Wasser nur langsam l\u00f6slich, und zwar in 16 Teilen Wasser; in heifsem Wasser l\u00f6st es sich erheblich leichter und in gr\u00f6fserer Menge (in drei Teilen siedenden Wassers). Zur therapeutischen Verwendung wird eine f\u00fcnfprozentige L\u00f6sung empfohlen; zu meinen Versuchen nahm ich meist schw\u00e4chere L\u00f6sungen, gew\u00f6hnlich 1%>.\nDiese L\u00f6sung hat f\u00fcr mich, wenn ich sie in kleiner Quantit\u00e4t in den Mund bringe, so gut wie gar keinen Geschmack. Gurgelt man damit, oder trinkt man einen Schluck davon, so tritt diejenige Geschmacksempfindung auf, die sich bei einer kalt ges\u00e4ttigten L\u00f6sung auch schon dann bemerklich macht,","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236\nWMbald A. Nagel.\nwenn man ein kleines Quantum derselben in den Mund nimmt. Die Empfindung ist schwer zu beschreiben, am bezeichnendsten ist noch der Ausdruck \u201efadetf. Sehr \u00e4hnlich schmeckt mir eine schwache Sodal\u00f6sung.\nEine der bekannten und wohl charakterisierten Geschmacksqualit\u00e4ten, s\u00fcfs, sauer, bitter, salzig, kommt dabei zun\u00e4chst nicht zum Ausdruck. Andeutungsweise ist dies aber der Fall, wenn man die kalt ges\u00e4ttigte L\u00f6sung ein wenig im Munde hin und her bewegt und sie einige Zeit darin beh\u00e4lt. Die hierbei auftretenden Empfindungen sind jedoch sehr wechselnd (die verschiedenen schmeckenden Partien des Mundes reagieren offenbar in ungleicher Weise); bald empfindet man etwas Bitterliches, bald auch, namentlich an den Zungenr\u00e4ndem, einen leicht s\u00e4uerlichen Geschmack, wie er bei vielen, in der That nicht sauer reagierenden Stoffen (Gerstenschleim etc.) oft zur Beobachtung kommt. Auch von ganz schwach salzigen und s\u00fcfslichen Empfindungen m\u00f6chte man ab und zu reden. Der ganze Eindruck ist, wie gesagt, h\u00f6chst wechselnd, dabei von geringer Intensit\u00e4t und Deutlichkeit.\nAn der Zungenspitze, besonders an Stellen minimaler Kontinuit\u00e4tstrennungen der Schleimhaut der Zunge, Lippen oder Wangen, macht sich nach einiger Zeit ein empfindliches Brennen und Stechen bemerklich, welches namentlich bei einer in der W\u00e4rme ges\u00e4ttigten L\u00f6sung fast nie ausbleibt. Es beruht auf der aus Gb\u00fctzneks Untersuchungen1 bekannten starken Beizwirkung der Kalisalze auf sensible Nerven, speziell auf verletzte Hautpartien.\nEntfernt man die Fl\u00fcssigkeit aus dem Munde, so bleibt eine kurze Zeit hindurch nur der Geschmack oder \u2014 ich m\u00f6chte es lieber unbestimmter ausdr\u00fccken \u2014 der Eindruck des Faden zur\u00fcck, \u00fcbrigens in wenig ausgepr\u00e4gter Weise.\nNimmt man jetzt reines Quellwasser (oder auch destilliertes Wasser) in den Mund, so hat dieses einen deutlich s\u00fcfsen Geschmack, den ich, soweit sich derartige Empfindungen lokalisieren lassen, vorzugsweise an den seitlichen Zungen-r\u00e4ndern zu empfinden glaube.\nEs ist nicht die reine S\u00fcfsigkeit des Zuckers oder Saccharins,\n1 \u00dcber die chemische Beizung sensibler Nerven. Pfl\u00fcgers Arch, f. d. ges. Psysiol Bd. 58. 1894. S. 69-104.","page":236},{"file":"p0237.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber die Wirkung des Chlors\u00e4uren Kali auf den Geschmackssinn.\t237\nwelche hierbei auftritt ; eher noch f\u00fchle ich mich an den Geschmack stark verd\u00fcnnten Glycerins erinnert, am meisten an denjenigen einer s\u00fcfsen, dabei ganz leicht s\u00e4uerlichen Limonade. \"Wenn auch das S\u00fcfee entschieden im Vordergr\u00fcnde steht, ist doch stets eine Andeutung s\u00e4uerlichen Geschmackes zu bemerken. Diese Thatsache, wie \u00fcberhaupt die ganze Erscheinung, ist mir auch von verschiedenen Personen, welche den Versuch in gleicher Weise anstellten, best\u00e4tigt worden.\nAuffallend ist mir, dafs bei den sehr zahlreichen Versuchen, die ich in dieser Hinsicht an mir selbst machte, ab und zu ein v\u00f6lliges Ausbleiben des s\u00fcfsen Geschmackes des Wassers zu konstatieren war, ohne dafs es mir gelungen w\u00e4re, den Grund dieser Unregelm\u00e4fsigkeit in allen F\u00e4llen aufzufinden. Das nur liefs sich feststellen, dafs vorheriges Bauchen den Versuch fast stets mifslingen liefs. \u00c4hnliches scheint K1E6OW bei seinen Kontrastversuchen1 bemerkt zu haben, denn er giebt ausdr\u00fccklich an, dafs seine Versuchspersonen sich vor den Versuchen des Bauchens enthielten.\nDasKaliumnitrat, dessenL\u00f6sung deutlich bitter schmeckt, l\u00e4fst nachher genommenes Wasser ebenfalls schwach s\u00fcfs-sauer erscheinen; das Saure tritt hier verh\u00e4ltnism\u00e4fsig mehr hervor, als beim Chlorat, doch ist die ganze Erscheinung erheblich weniger ausgepr\u00e4gt, die Intensit\u00e4t des s\u00fcfslichen Geschmackes geringer. Aufserdem wird der bittere Geschmack hier noch als Nachgeschmack empfunden, was an sich schon den s\u00fcfsen Geschmack undeutlicher werden l\u00e4fst.\nNachdem Kiesow (a. ob. 0.) der Nachweis gelungen ist, dafs im Gebiete des Geschmackssinnes Kontrasterscheinungen Vorkommen, indem S\u00fcfs und Salzig, S\u00fcfs und Sauer im Kontrastverh\u00e4ltnis zu einander stehen, liegt es nahe, daran zu denken,\nErscheinung auch auf Kontrast zur\u00fcckzuf\u00fchren sei. Ich glaube jedoch, dafs der Name Kontrast, auf unseren Fall angewandt, nicht an seinem rechten Platze w\u00e4re, wenn auch eine innere Verwandtschaft der beiden Erscheinungen nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen sein d\u00fcrfte.\nF\u00fcr die Auffassung als Kontrast k\u00f6nnte geltend gemacht\nob die hier geschilderte\n1 Beitr\u00e4ge zur physiologischen Psychologie des Geschmacksinnes. Philos. Stud., herausgeg. von W. W\u00fcndt. 10. Bd. 1894. S. 329\u2014369 u. S. 628\u2014562.","page":237},{"file":"p0238.txt","language":"de","ocr_de":"238\nWiUibald A. Nagel\nwerden, dafs reines Wasser bekanntlich (auch Kiesows Versuche haben dies gezeigt) schon an und f\u00fcr sich fur manche Menschen einen leicht s\u00fcfslichen Geschmack besitzt. Wird derselbe nun durch einen vorher applizierten oder gleichzeitig einwirkenden andersartigen Gesohmacksreiz entschieden gehoben und verst\u00e4rkt, so kann man dies als Kontrast bezeichnen.\nWidersinnig aber erschiene es, wollte man die gleiche Bezeichnungsweise auoh da anwenden, wo ein Stoff, der selbst gar keine oder fast gar keine Geschmacksempfindung ausl\u00f6st, einen erheblichen Einflufs auf den Geschmack eines nachtr\u00e4glich einwirkenden Stoffes aus\u00fcbt; die hervor gerufene Empfindung ist, wie erw\u00e4hnt, entschieden st\u00e4rker, als die hervorrufende. Ich m\u00f6chte hier noch ausdr\u00fccklich darauf hin weisen, dafs eine schwache Kaliumchloratl\u00f6sung (Vs bis 1 %>), die nahezu geschmackslos ist, den s\u00fcfsen Geschmack des nachher genommenen Wassers weit deutlicher hervortreten l\u00e4fst, als eine ann\u00e4hernd ges\u00e4ttigte L\u00f6sung mit deutlich bitterlichfadem Geschmack.\nDazu kommt, dafs, wie Kiesow fand, gerade das Bittere von den Kontrastbeziehungen, welche zwischen den anderen Geschmacksqualit\u00e4ten bestehen, ausgeschlossen ist, und andererseits das Bittere diejenige Geschmacksqualit\u00e4t ist, die man dem Kaliumchlorat noch am ehesten zuschreiben k\u00f6nnte. Salzig schmeckt es jedenfalls nicht.\nChlorkalium erregt wahren Geschmackskontrast, \u00e4hnlich, wie es Kiesow vom Chlomatrium beschrieben hat ; es schmeckt deutlich salzig und l\u00e4fst nachher genommenes Wasser schwach s\u00fcfslich erscheinen. Die Intensit\u00e4t des s\u00fcfsen Geschmackes ist aber hier viel geringer, als die des kontrasterregenden salzigen, umgekehrt wie beim Chlorat. Auch erstreckt sich die Wirkungsdauer auf eine ganz kurze Zeit, w\u00e4hrend das durch Kaliumchlorat in ver\u00e4nderten Zustand versetzte Geschmacksorgan diesen Zustand oft l\u00e4ngere Zeit bewahrt. Mir ist es schon wiederholt vorgekommen, dafs ich zuf\u00e4llig eine halbe oder ganze Stunde nach dem Gurgeln Wasser trank, ohne mich der vorhergegangenen Anwendung des Chlorates zu entsinnen; ich war dann \u00fcberrascht von dem s\u00fcfsen Geschmack des Wassers.\nDies wird man nicht wohl Kontrast nennen k\u00f6nnen; man wird vielleicht zweckm\u00e4fsiger von einer tempor\u00e4ren Um-Stimmung des Geschmacksapparates sprechen k\u00f6nnen,","page":238},{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber die Wirkung des chlorsauren Kali auf den Geschmackssinn.\t239\nwomit \u00fcber das innere Wesen des Vorganges ein Urteil nicht ausgesprochen ist.\nKiebows Versuche weisen auf cerebrale Entstehung der Gesohmackskontraste hin, w\u00e4hrend die Umstimmung durch Kaliumchlorat wohl als peripher bedingt anzusehen ist.\nNicht ohne Interesse ist die Kombination der Wirkung des Kaliumchlorates mit der bekannten der Gymnemabl\u00e4tter. Kaue ioh ein St\u00fcckchen eines solchen Blattes, bis die S\u00fcfs-empfindungsf\u00e4higkeit aufgehoben ist, und nehme jetzt die Chloratl\u00f6sung in den Mund, so ist der fade Geschmack zwar noch vorhanden, doch noch undeutlicher, als sonst. Das nachher genommene Wasser aber schmeckt jetzt nicht mehr s\u00fcfs mit leioht s\u00e4uerlichem Beiklange, sondern deutlich sauer und etwas adstringierend.","page":239}],"identifier":"lit29878","issued":"1896","language":"de","pages":"235-239","startpages":"235","title":"\u00dcber die Wirkung des chlorsauren Kali auf den Geschmackssinn","type":"Journal Article","volume":"10"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:03:51.646858+00:00"}