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{"created":"2022-01-31T14:57:58.778871+00:00","id":"lit29945","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Reichard, S.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 10: 297-302","fulltext":[{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"L\u00fcteraturhericht\n297\nGrundlagen der Vergleichung gehobener Gewichte\u201c (Pfl\u00fcgers Arch. 1889) ist, die andere aber verlangt, dafs die Intensit\u00e4t des unbewufsten \u00abentrai en Bewegungsimpulses sich automatisch nach dem wahrscheinlichen Gewicht des zu hebenden K\u00f6rpers richte. \" Witasek (Graz).\n6. Rkchard. Az erk\u00f6lcsi \u00e9rz\u00e9s (Der moralische Sinn). Budapest 1894.\nLeo B\u00e9vai. 95 S. (Selbstbericht.)\nDie Untersuchung befafst sich mit dem ethischen Gef\u00fchl zugleich von der psychologischen und von der physiologischen Seite; sie geht von dem Prinzip aus, dais jeder psychische Vorgang die andere Seite eines Nervenprozesses ist, und dais die Erkl\u00e4rung eines jeden, auch des kompliziertesten psychischen Ph\u00e4nomens nur m\u00f6glich ist, unter gleichzeitiger Ber\u00fccksichtigung der physiologischen und der psychologischen Seite der That8achen.\nDer Ausgangspunkt der Abhandlung ist die Grundthese, dafs beim Vorstellen eines Gef\u00fchls oder einer Handlung im Nervensystem Prozesse vor sich gehen, welche denjenigen \u00e4hnlich sind, die beim wirklichen Empfinden desselben Gef\u00fchls und beim wirklichen Vollbringen derselben Handlung im Nervensystem statthaben.\nDies wird bewiesen durch die bekannten Erfahrungstatsachen, dafs z. B. das Vorstellen des Lachens oder Weinens an und f\u00fcr sich und ohne dais der Wille hierauf gerichtet w\u00e4re, die Stimmung des Lachens oder Weinens, und sogar, wenn das Vorstellen lebhaft genug ist, das l\u00e4chelnde oder betr\u00fcbte Gesicht, also die Anfangsbewegungen des Lachens oder Weinens verursacht, oder dafs das lebhafte Vorstellen des Fechtens oder des Kampfes die Anfangsbewegungen des Kampfes nach sich zieht. Auch auf deduktivem Wege l\u00e4ist sich diese Grund these beweisen. Da einem psychischen Zustande, also auch dem Vorstellen eines Gef\u00fchls oder einer Handlung, ein Nervenprozefs zu Grunde liegen mufs, so folgt hieraus, dafs, insoweit der eine psychische Zustand, n\u00e4mlich das Vorstellen einer Handlung oder eines Gef\u00fchls, dem anderen, dem Handeln oder Empfinden, \u00e4hnlich ist, auch der zu Grunde liegende Nervenprozefs dem anderen \u00e4hnlich sein mufs.\nAus dieser Grund these folgt die Erkl\u00e4rung des Ph\u00e4nomens der Nachahmung, d. h. die Thatsache, dass es gewisse Handlungen giebt, in Bezug auf welche der das Vorstellen begleitende Nervenprozefs unter g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden die motorische Struktur in Bewegung setzt und auf diese Weise die Nachahmung nach sich zieht. Hier folgt eine Polemik gegen die BAiNSche Auffassung der Nachahmung. Nach Bain h\u00e4ngt die Nachahmung damit zusammen, dafs die Vollbringung der naoh-geahmten Handlung \u00f6fters gesehen wurde, wogegen die Thatsache spricht, dafs auch solche Handlungen nachgeahmt werden k\u00f6nnen, die nicht gesehen, sondern nur vorgestellt worden sind.\nAus derselben Grund these folgt in einer anderen Sichtung die Erkl\u00e4rung des Ph\u00e4nomens der Sympathie, und zwar abweichend von deijenigen Hsbbert Spencers. Nach dessen Auffassung w\u00fcrde die Sympathie aus dem herdenweisen Zusammenleben und daraus zu erkl\u00e4ren sein, dafs die Freuden und Schmerzen viele Mitglieder der Herde zugleich","page":297},{"file":"p0298.txt","language":"de","ocr_de":"298\ntreffen. Hiergegen wird eingewandt, dais es eine Sympathie auch betreffs solcher Freuden und Schmerzen giebt, die nicht herdenweise, sondern nur einzelweise auftreten, und dafs das Charakteristische der Sympathie gerade das ist, dais sie auf auf jede Art von Freuden und Schmerzen reagiert.\nAus derselben Grundthese wird endlich das ethische (moralische) Gef\u00fchl erkl\u00e4rt, und zwar so, dafs der diesem Gef\u00fchle zu Grunde liegende Nervenprozefs die hohe Kompliziertheit vieler einzelnen miteinander verkn\u00fcpften Nervenprozesse ist, welche das Vorstellen menschlicher Handlungen und Gef\u00fchle begleiten.\nDas ethische Gef\u00fchl wird als ein Gef\u00fchl des Schmerzes oder der Freude aufgefaist, und es wird der Unterschied dieses Gef\u00fchls von anderen Sohmerzens-, resp. Freudegef\u00fchlen, und besonders der Unterschied zwischen diesen und den ihnen am meisten \u00e4hnlichen \u00e4sthetischen Schmerzend- und Freudegef\u00fchlen ausgef\u00fchrt. Das Ergebnis der Ausf\u00fchrung ist, dafs beide, das \u00e4sthetische sowie auch das ethische Gef\u00fchl, Lust- und Unlustgef\u00fchle des h\u00f6heren Teiles des Organismus sind, und zwar, wenn wir berechtigt sind, im Organismus einen f\u00fchlenden und denkenden (sensorischen) und einen bewegenden, handelnden (motorischen) Teil zu unterscheiden, k\u00f6nnen wir das \u00e4sthetische Gef\u00fchl als Lust und Unlust der f\u00fchlenden und denkenden, und das ethische Gef\u00fchl als Lust und Unlust der handelnden Struktur betrachten.\nDie Entstehung des Gef\u00fchls der ethischen Freude resp. des ethischen Schmerzes wird in folgenden Betrachtungen entwickelt: Stellen wir uns vor, es habe jemand eine herzhafte That vollbracht, so laufen in unserem Nervensystem \u00e4hnliche Nervenvorg\u00e4nge ab, als h\u00e4tten wir die That selbst vollbracht. Und da das Vollbringen der That mit angenehmen Nerven Vorg\u00e4ngen einhergegangen sein w\u00fcrde, \u2014 beim Vorstellen aber diesen \u00e4hnliche Nervenvorg\u00e4nge entstehen, so geht das Vorstellen einer herzhaften That durch Entstehen der \u00e4hnlichen Nervenprozesse mit dem Gef\u00fchle der Lust einher. Dieses Lustgef\u00fchl unterscheidet sich von den gew\u00f6hnlichen Lustgef\u00fchlen dadurch, dafs es mit komplizierten Handlungsvorstellungen verbunden und in komplizierter Weise auf tritt und hierdurch als ein spezielles Lustgef\u00fchl, als ethisches (moralisches) Lustgef\u00fchl, gekennzeichnet ist. Nehmen wir des weiteren an, dafs wir erfahren, es h\u00e4tte jemand gestohlen. In diesem Falle wird das Vorstellen des Stehlens mit unangenehmen Empfindungen, mit ethischer Unlust verbunden sein, vor allem aus dem Grunde, dafs unser Organismus, resp. die Natur unserer Seele eine derartige ist, dafs die faktische Aus\u00fcbung des Stehlens f\u00fcr uns mit Unlust verbunden w\u00e4re und beim Vorstellen des Stehlens die unlusterregenden Nervenprozesse ablaufen. In diesem Falle wird aber die Unlust noch in gewissem Grade durch einen anderen Umstand vermehrt, n\u00e4mlich dadurch, dafs wir neben dem Akte des Stehlens uns auch noch den Seelenzustand des Bestohlenen, die Unannehmlichkeiten und Leiden vorstellen, die ihm der Diebstahl verursacht. Betrachten wir alle diese Seelenzust\u00e4nde vom psychophysiologischen Standpunkte, d. h. ziehen wir in Betracht, dafs die Vorstellung aller dieser als Folgen der ersten Handlung auftauchenden Seelenaust\u00e4nde","page":298},{"file":"p0299.txt","language":"de","ocr_de":"Litter a turbericht.\n299\nauch Nerven Vorg\u00e4nge mit sich ziehen, so ist es klar, dafs in uns ein vielfaoh zusammengesetzter Seelenprozefs und nat\u00fcrlich ebenso vielfach zusammengesetzter Nervenprozeis abl\u00e4uft, welcher aus Vorstellungen von vielen Handlungen und Gef\u00fchlen, verbunden mit komplizierten schmerzens-vollen Seelen- und Nervenvorg\u00e4ngen, besteht. Dies ist ein Zustand eines komplizierteren ethischen Schmerzensgef\u00fchles, welche gr\u00f6fsere Kompliziertheit nat\u00fcrlich auch bei ethischen Freudegef\u00fchlen auf treten kann.\nDes weiteren wird die noch gr\u00f6fsere Kompliziertheit des ethischen Gef\u00fchls auf \u00e4hnliche Weise abgeleitet, und untersucht, von welchen Umst\u00e4nden der Grad des ethischen Gef\u00fchls abh\u00e4ngt, d. h. wovon der Umstand abh\u00e4ngt, dais wir die ethische Lust und Unlust in Bezug auf manche Handlungen resp. auf manche Personen st\u00e4rker oder schw\u00e4cher als in Bezug auf andere empfinden. Als Ergebnis wird gefunden, dafs der Grad der ethischen Lust und Unlust einesteils von der Menge der vorgestellten Handlungen und Empfindungen und andererseits von ihrer Intensit\u00e4t abh\u00e4ngt. Hieraus und aus den Gesetzen der Ideenassoziation werden die Thatsachen abgeleitet, dafs die ethischen Gef\u00fchle in Bezug auf uns selbst oder auf uns nahestehende Leute ceteris paribus st\u00e4rker sind, dafs die zielbewussten menschlichen Handlungen ceteris paribus ein intensiveres ethisches Gef\u00fchl verursachen als die \u00fcbrigen, und dafs endlich die h\u00f6here Kultur ebenfalls, im Falle die \u00fcbrigen Umst\u00e4nde gleich sind, einen h\u00f6heren Grad des ethischen Gef\u00fchls mit sich bringt.\nHiernach wird ausgef\u00fchrt, dafs die Definitonen der Philosophen, ' welche die sittlichen und unsittlichen Handlungen zum Gegenstand hatten, fehlschlugen, weil die Beurteilung der menschlichen Handlungen in Bezug auf Sittlichkeit davon abh\u00e4ngt, ob sie die sittliche Unlust oder Lust wachrufen, und dafs die Definition also hiervon ausgehen mufs, und es folgt eine Ausf\u00fchrung \u00fcber die Definitionen von Bentham und Herbert Spencer.\nHierauf geht die Abhandlung auf die Folgen des ethischen Gef\u00fchls \u00fcber, n\u00e4mlich auf die Gesetze der Handlungen, die infolge der ethischen Lust oder Unlust durch die Menschen vollbracht werden. Das ethische Gef\u00fchl hat n\u00e4mlich aufser der Empfindung der Lust und Unlust auch ein emotionelles Moment, welches die Ursache davon ist, dafs der Mensch, in dem es erwacht, in vielen F\u00e4llen gewisse Handlungen vollbringt, oder wenigstens den Wunsch hat, gewisse Handlungen zu vollbringen \u2014 was nichts anderes ist, als das Anfangstadium des Vollbringens. Wenn wir dieses emotionelle Moment des ethischen Gef\u00fchles analysieren wollen, m\u00fcssen wir von der allgemeinen Erscheinung ausgehen, dafs jede intensivere Empfindung sich in irgend einer Handlung kund zu geben strebt. Diese Erscheinung ist e6, die sich darin kund-giebt, dafs wir bei grofser Freude frohlocken, die H\u00e4nde zusammenschlagen, auf und ab gehen, bei grofsem Schmerz hingegen weinen, seufzen, die H\u00e4nde ringen, bei grofser Aufregung Dinge zertr\u00fcmmern, toben. Die physiologische Seite dieser psychischen Erscheinung ist sehr einfach zu erkl\u00e4ren : Da der motorische Teil des menschlichen Organismus durch Prozesse des Nervensystems in Bewegung gebracht wird, so ist","page":299},{"file":"p0300.txt","language":"de","ocr_de":"300\nLitter a turbericht.\nes nat\u00fcrlich, dais Nervenprozesse, die in grofser Zahl und Intensit\u00e4t auftreten, den motorischen Teil des Organismus leicht in Bewegung versetzen werden. Nun entspricht aber dem Seelenzustande grofser Freude oder grofsen Schmerzes vom physiologischen Standpunkte aus ein Auftreten zahlreicher Nerven Vorg\u00e4nge im Organismus, und so ist es klar, dafs die diesem Seelenzustande entsprechenden physiologischen Vorg\u00e4nge den motorischen Teil des Organismus leicht in Bewegung setzen. Es ist zwar m\u00f6glich, dafs ein Freude- oder Schmerzgef\u00fchl sich nicht in Bewegung kundgeben wird, sei es, weil es nicht gen\u00fcgend stark ist, tun den Organismus in Bewegung zu setzen, sei es, weil andere organische Vorg\u00e4nge die Bewegung hindern, \u2014 immer aber finden wir, bei jedem intensiveren Gef\u00fchle, \u2014 ob es schmerzlich oder freudig \u2014, dafs es die Tendenz besitzt, sich in Bewegung kundzugeben, und dafs diese Tendenz um so st\u00e4rker ist, je intensiver die Empfindung ist.\nEs hat dieser f\u00fcr Gef\u00fchle jeder Art unbedingt g\u00fcltige Satz auch f\u00fcr das ethische Gef\u00fchl Geltung. Das ethische Gef\u00fchl ist auch eine Art des Lust- oder Unlustgef\u00fchles, welchem im Organismus das Auftreten gewisser Nerven Vorg\u00e4nge entspricht. Es sind also diese, das Wesen des ethischen Gef\u00fchles bildenden Nerven Vorg\u00e4nge, im Falle gen\u00fcgender Intensit\u00e4t, ebenso im st\u00e4nde, den motorischen Apparat in Bewegung zu setzen, als jede andere Art des Lust- oder Unlustgef\u00fchles. So finden wir denn auch, dais der intensive ethische Schmerz in zornigem Gesichtsausdrucke, in leidenschaftlichen K\u00f6rperbewegungen, \u2014 die intensive ethische Freude in frohem Gesichtsausdrucke und freudiger k\u00f6rperlicher Bewegung sich kundgeben, die in grofsem Mafse anderen Freudeoder Schmerzkundgebungen \u00e4hnlich sind. Nehmen wir z. B. den Fall an, dafs jemand vor unseren Augen mifshandelt werde. In solchen F\u00e4llen ist das auftretende ethische Unlustgef\u00fchl sehr intensiv und \u00e4hnlich demjenigen, welches bei Mifshandlung unserer eigenen Person auftreten w\u00fcrde. Es wird sich dieses intensive Gef\u00fchl, \u2014 indem es durch die intensiven Nerven Vorg\u00e4nge den motorischen Teil des Organismus in Bewegung setzt, \u2014 in Bewegung kundgeben, und zwar werden die so entstehenden Bewegungen infolge der \u00c4hnlichkeit der Nerven Vorg\u00e4nge weniger intensiv, aber immerhin in gewissem Grade denen \u00e4hnlich sein, welche bei Mifshandlung unserer eigenen Person entstehen w\u00fcrden. D. h* es treten in uns bei Milshandlungen, die an unseren Mitmenschen ver\u00fcbt werden, der Bachsucht \u00e4hnliche ethische Erregungen auf. Wir blicken mit Zorn auf den Vor\u00fcber der Brutalit\u00e4t, und ist die Erregung gen\u00fcgend intensiv, so werden wir ihn auch angreifen. In komplizierteren F\u00e4llen wird es von mehreren Faktoren abh\u00e4ngen, welcher Art die Handlung ist, in welcher sich ein ethisches Gef\u00fchl kundgiebt oder kundzugeben trachtet. Es ist n\u00e4mlich erstens das auftretende ethische Gef\u00fchl in gewissem Grade demjenigen \u00e4hnlich, welches durch einfaches Vorstellen des Aktes der Mifshandlung entsprechen w\u00fcrde, wird also die Tendenz haben, Handlungen der einfachen Bache zu veranlassen; es entsteht aber zweitens durch das Vorstellen der Folgen der Handlung im Organismus eine zweite Gruppe von Nerv en Vorg\u00e4ngen, welche die Wirkung der eisten Gruppe modifiziert, wodurch die komplizierten Hand-","page":300},{"file":"p0301.txt","language":"de","ocr_de":"Litter a turbericht.\n301\nlungen der Strafe entstehen, welche Ausflufs des aufwallenden Bache-gef\u00fchls sind, die durch das Vorstellen der Folgen, also durch andere zugleich auftauchende Nervenvorg\u00e4nge modifiziert werden. So wie der intensive ethische Schmerz in Bache und Strafbegier, bezw. in Voll-f\u00fchren r\u00e4chender oder strafender Handlungen, so giebt sich die intensive ethische Freude in Dankesgef\u00fchl und im Wunsche oder Vollf\u00fchren dankbarer Handlungen kund.\nDiese strafenden und lohnenden Handlungen sind in gewissem Grade denen \u00e4hnlich, die derjenige vollf\u00fchrt, dem die Handlung die Freude oder den Schmerz unmittelbar verursacht hatte, und zwar wird diese \u00c4hnlichkeit um so gr\u00f6fser sein, aus je einfacheren Elementen unser ethisohes Gef\u00fchl besteht. Aus je komplizierteren Elementen unser ethisches Gef\u00fchl besteht, aus desto komplizierteren Nerven Vorg\u00e4ngen gehen auch die Handlungen der Bache oder des Dankes hervor, und um so weniger werden sie den primitiven Handlungen der Bache oder des Dankes gleichen, unbeschadet der \u00c4hnlichkeit des Grundcharakters beider auch in den kompliziertesten F\u00e4llen. Untersuchen wir die gew\u00f6hnlich zu beobachtenden Kundgebungsarten des Dankes und der Bachbegier, so sehen wir, dafs sowohl die eine wie die andere sich nicht in der Mehrzahl, sondern nur in der Minderzahl der F\u00e4lle in Handlungen kundgiebt. Wir nehmen die Mehrzahl der moralischen oder unmoralischen Handungen zur Kenntnis, ohne sie zu belohnen bezw. zu bestrafen, und offenbart sich unsere ethische Erregung zumeist immer in der blassen Form des Wunsches, die That zu bestrafen oder zu belohnen, oder in der noch bl\u00e4sseren Form der Meinung, die That verdiene Dank bezw. Strafe, welche Seelenzust\u00e4nde auch nichts anderes sind, als weniger intensive Erscheinungsformen des zum Handeln f\u00fchrenden Seelenzustandes. Der eine Grund dessen, dafs diese Begierden nicht von r\u00e4chenden oder dankbaren Handlungen gefolgt werden, liegt darin, dafs andere neben dem ethischen Gef\u00fchl verlaufende Seelenprozesse das Vollbringen der Handlung hindern, gerade so, wie solche Handlungsvorg\u00e4nge bei der Kundgebung auch anderer Gef\u00fchle durch Handlungen Vorkommen. So wie es vorkommt, dafs ein hungriger Mensch nicht ifst, infolge der \u00dcberlegung, dafs das Essen seiner Gesundheit sch\u00e4dlich sein k\u00f6nnte, so geschieht es auch, dais die Baohbegier nicht in r\u00e4chenden Handlungen ausbricht, weil wir vor den Folgen derselben zur\u00fcckscheuen. Und so wie es, um bei demselben Beispiel zu bleiben, geschieht, dafs ein Hungriger wenig oder gar nicht ifst, weil sein Sparsamkeitstrieb st\u00e4rker ist als sein Hungergef\u00fchl, so geschieht es auch, dafs die dankbaren oder r\u00e4chenden Handlungen eine Modifikation erleiden oder unterbleiben, weil andere, vom ethischen Gef\u00fchle unabh\u00e4ngige oder demselben entgegengesetzte Begierden und Erregungen konkurrieren oder \u00fcberwiegen.\nHierauf folgt wieder eine Polemik gegen Bain, nach dessen Definition sich der Ausdruck der Moralit\u00e4t auf einen Kreis der Handlungen bezieht, der durch die Sanktion der Strafe erzwungen wird. Es wird hiergegen ausgef\u00fchrt, dafs diese Definition das ethische Gef\u00fchl nicht von der wesentlichen Seite erfafst, und dafs sie auch darin mangelhaft ist, dafs sie den Begriff der Moralit\u00e4t nur an den Begriff der Strafe kn\u00fcpft und den Begriff der Dankbarkeit ganz beiseite liefs.","page":301},{"file":"p0302.txt","language":"de","ocr_de":"302\nLitter a turbericht.\nDiese Einseitigkeit der Definition Bains ist aber durch eine Eigenschaft des ethischen Gef\u00fchls erkl\u00e4rlich, die einer Erw\u00e4hnung wert ist. Es ist n\u00e4mlich nicht abzuleugnen, dafs die Empfindung der ethischen Freude und das auf die moralische That bez\u00fcgliche Dankbarkeitsgef\u00fchl weniger intensiv ist, als das Gef\u00fchl des ethischen Schmerzes oder das auf die Missethat bez\u00fcgliche Rachegef\u00fchl, und dafs die Handlungen, die wir aus Dankbarkeit vollbringen, kleiner an Zahl und Bedeutung sind, als jene, die wir aus Rachbegier vollbringen. Als eine Folge dieses Ph\u00e4nomens ist es auch zu betrachten, dafs, w\u00e4hrend das staatlich organisierte Strafsystem eine grofse Organisation, Strafkodexe, Gerichtsbarkeiten, Gef\u00e4ngnisse und Exekutoren besitzt, das staatlich organisierte Belohnungssystem sich auf die Institution von einigen Auszeichnungen, Tugendpreise und Fleifspr\u00e4mien, beschr\u00e4nkt. Die Beobachtung solcher Thatsachen konnte es sein, die die Aufmerksamkeit Bains und vieler Anderer ablenkte, so dafs sie den Begriff der Moral nur mit dem der Strafe verkn\u00fcpft sahen und ihren Zusammenhang mit dem Begriff der Belohnung nicht bemerkten.\nDie allgemeinen Erscheinungen der Gef\u00fchle geben auch in Bezug auf diese Eigenschaft des ethischen Gef\u00fchls Aufschlufs. Die Bewegungen und Handlungen, die infolge von Schmerzen auftauchen, sind \u00fcberhaupt intensiver als die, die infolge von Lustgef\u00fchlen auftauchen. Der Schmerzensschrei ist gr\u00f6fser als der Freudenschrei, das Weinen ist eine intensivere Aktion als das Lachen, das Zusammenzucken des Schmerzes ist eine intensivere Bewegung als das Frohlocken. Eine Kundgebung dieses allgemeinen Gesetzes ist es auch, dafs die infolge des ethischen Schmerzes auftretende Rachbegier und r\u00e4chenden Handlungen intensiver, zahlreicher und von gr\u00f6fserer Bedeutung sind als die infolge der ethischen Freude auftretende Dankempfindung und dankbaren Handlungen. Ein Korrelat des erw\u00e4hnten psychophysiologischen Gesetzes ist auch, dafs, je intensiver das Gef\u00fchl, d. h. je intensiver der begleitende Nervenvorgang ist, desto intensiver der motorische Teil des Organismus in Bewegung gesetzt wird. Diese Relativit\u00e4t der emotionellen \u00c4ufserung der Gef\u00fchle ist auch in Bezug auf das ethische Lust- und Unlustgef\u00fchl g\u00fcltig, und also folgt, dafs jede Handlung, insoweit sie das moralische Gef\u00fchl der Mitmenschen erregt, also selbst moralisch gut ist, eine dankbare und, insoweit sie selbst unmoralisch ist, eine strafende Handlung nach sich zieht, oder wenigstens nach sich zu ziehen die Tendenz besitzt. Diese Relation der Handlungen der Rache und Belohnung zu der Moralit\u00e4t der verursachenden Handlung ist der Begriff der Gerechtigkeit.\nHierauf wird noch die biologische und evolutioneile Bedeutung des ethischen Gef\u00fchls und Spencers Wunsch nach einem sittlichen Kodex besprochen.\nC. A. Strong. The psychology of pain. Psychol. Rev. Vol. II. Juli 1896. S. 329-347.\nVerfasser bek\u00e4mpft die Theorie, welche den Schmerz als einen Bestandteil von Empfindungen betrachtet. Er 'unterscheidet dabei in","page":302}],"identifier":"lit29945","issued":"1896","language":"de","pages":"297-302","startpages":"297","title":"S. Reichard: Az erk\u00f6lcsi \u00e9rz\u00e9s (Der moralische Sinn). Budapest 1894. Leo R\u00e9vai. 95 S. Selbstbericht","type":"Journal Article","volume":"10"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:57:58.778877+00:00"}