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{"created":"2022-01-31T15:01:16.012830+00:00","id":"lit29962","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Nagel, Wilibald A.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 10: 432-442","fulltext":[{"file":"p0432.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber J. von Uexk\u00fclls\nvergleichend-sinnesphysiologische Untersuchung No. 1.\nVon\nDr. WiiiiBALD A. Nagbl,\nPrivatdozent der Physiologie in Freiburg i. Br.\nAuf einen Angriff zu antworten, wie \u00fcm J. voir U\u00e4xk\u00fcll k\u00fcrzlich gegen mich gerichtet hat,1 ist keine erfreuliche Aufgabe. Mag es auch, wie im vorliegenden Falle, ein leichtes sein, die Kritik in allen ihren einzelnen Punkten zu widerlegen, mag sie auch selbst ihre Schw\u00e4chen deutlich genug zeigen, der Angegriffene hat immer einen schweren Stand, wenn die Kritik in der Weise ge\u00fcbt wird, wie es durch Herrn von Uexk\u00fcll geschah. Insbesondere gilt das von einer Art des Angriffes, deren sich dieser Autor befleiXsigt hat, n\u00e4mlich in h\u00f6hnischen und ver\u00e4chtlichen Worten sich \u00fcber S\u00e4tze aus der kritisierten Arbeit zu \u00e4ufsern, ohne dieselben auch nur ann\u00e4hernd im Wortlaute anzuf\u00fchren, wodurch eine Kontrolle der Berechtigung der Kritik f\u00fcr den Leser von vornherein unm\u00f6glich gemacht wird.* *\n1 J. ton Uexk\u00fcll, vergleichend-einnesphysiologisohe Untersuchungen. I. \u00dcber die Nahrungsaufnahme des Katzenhais. Ze\u00e8techr. f. Biologie. Bd. XXXn. N. F. XIV. S. 548.\n* F\u00fcr manche \u00c4ufserung in der UsxK\u00fcLLSchen Kritik m\u00f6chte es freilich schwer halten, diejenige Stelle meiner Arbeit \u00dcberhaupt aufzufinden, an welche Herr von Uexk\u00fcll beim Niederschreiben seiner Worte gedacht haben k\u00f6nnte. Das gilt z. B. von den S\u00e4tzen (S. 557): \u201eMag die Organisation der Tiere auch noch soweit von der unsrigen abweichen, was macht das aus ? wir kennen die \u00e4u\u00dfreren Beize, folglich nach Nagel auch die Empfindungen.tt\nWo habe ich derartiges behauptet?","page":432},{"file":"p0433.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber J. v. Uexk\u00fclls vergleichend-sinnesphysiologische Untersuchung No. I. 433\nDoppelt schwer f\u00e4llt eine derartige Handlungsweise ms Gewicht, wenn, wie hier, das kritisierte Werk1 in den H\u00e4nden nur eines kleinen Teiles der Fachgenossen sein d\u00fcrfte.\nAls Beispiel einer solchen irref\u00fchrenden Darstellung sei die folgende Stelle angef\u00fchrt. Auf S. 555 bezeichnet Herr von Uexk\u00fcll als charakteristisch f\u00fcr den theoretischen Teil meiner Abhandlung \u201eerstens die Art des Autors, mit wohlbegr\u00fcndeten Definitionen, und zweitens die Art, mit unbegr\u00fcndeten That-Sachen umzugehen\u201c.\nEs folgt der vernichtende Beleg:\n\u201eElin Beispiel f\u00fcrs erstere findet sich selbst im Autoreferat des Verfassers (Biol. Centrdbl. 1894); dort wird das Urteilsverm\u00f6gen zu den abgeleiteten Sinnen gerechnet. Ich f\u00fcrchte, es bricht eine vollkommene Anarchie in unserem Geistesleben aus, wenn man die gr\u00f6fsten Geister, wie Kant und Helmholtz, so nonchalant beiseite stellen darf und die Form unseres Denkens pl\u00f6tzlich zu den Sinnen rechnet, wenn auch unter der versch\u00e4mten Benennung der abgeleiteten Sinne.u (S. 556.)\nIch kann diesem emphatischen Erg\u00fcsse gegen\u00fcber nur den Wortlaut der betreffenden Stelle meines Autoreferates anf\u00fchren:\nDiese Sinne (mechanischen, chemischen etc. Sinn) \u201estelle ich als die Primitivsinne denjenigen anderen Sinnen (abgeleiteten Sinnen) gegen\u00fcber, deren Th\u00e4tigkeit schon die Existenz gewisser weiterer psychischer F\u00e4higkeiten (Lokalisationsverm\u00f6gen, Urteilsverm\u00f6gen) notwendigerweise voraussetzt (Gesiohtssinn, Tastsinn, Gleichgewichtssinn etc).u\nIch \u00fcberlasse es dem Urteile des Lesers, ob ich hiermit das Urteilsverm\u00f6gen zu den abgeleiteten Sinnen gerechnet habe. Die zu kritisierende Arbeit mit Aufmerksamkeit zu lesen, das ist doch wohl das Wenigste, was man von einem Kritiker verlangen kann.2\n* *\n1 Vergleichend physiologische und anatomische Untersuchungen aber den Geruch- und Geschmackssinn und ihre Organe, mit einleitenden Betrachtungen aus der allgemeinen vergleichenden Sinnesphysiologie. Gekr\u00f6nte Preisschrift. Bibliotheca zoologica, herausg. von Lbuckabt und Chun. Heft 18. Stuttgart 1894.\n* Herrn von Uexk\u00fclls Kritik reiht sich w\u00fcrdig an eine andere, die Herr Lobb vor einem Jahre gegen eine andere Arbeit von mir schrieb, und welche durchgehends gegen Anschauungen polemisiert, welche mir mindestens ebenso ferne liegen, wie Herrn Lobb. Nach seiner\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie X.\t28","page":433},{"file":"p0434.txt","language":"de","ocr_de":"434\nWilibald A, Nagel\nWas im \u00fcbrigen den Ton an belangt, den Herr von Uexk\u00fcll in seiner Schrift gegen mich anzuschlagen f\u00fcr gut befunden hat, so kann ich nicht umhin, \u00fcber denselben meine lebhafte Verwunderung zu \u00e4ufsern. Es ist heutzutage keine Seltenheit, wenn eine wissenschaftliche Diskussion im Laufe der Zeit einen pers\u00f6nlichen und geh\u00e4ssigen Charakter annimmt. Mifsverst\u00e4nd-ni8se ohne eigentliches Verschulden der Beteiligten k\u00f6nnen derartige Spannungen herbeif\u00fchren. Dafs aber ein Autor von vornherein so sehr den Boden sachlicher Er\u00f6rterung unter den F\u00fcfsen verliert, und das ohne jeglichen erkennbaren Grund, ist ungew\u00f6hnlich, zumal wenn es sich, wie in unserem Falle, um einen Autor handelt, der sich mit eben dieser Kritik zum ersten Male auf dem betreffenden Gebiete litterarisch beth\u00e4tigt.\nHerr von Uexk\u00fcll motiviert seinen Angriff in folgender Weise (S. 548) :\n\u201eDa dieses Werk seiner ganzen Anlage nach den Anspruch erhebt, bahnbrechend in ein neues Gebiet einzutreten und bestimmend auf die Richtung einzuwirken, die folgende Arbeiten einschlagen sollen, so sehe ich mich wider Willen gezwungen (?), in eine Diskussion der theoretischen Grundlagen dieses Werkes einzutreten.\u201c\nWoraus Herr von Uexk\u00fcll die Berechtigung herleitet, \u00fcber die Anspr\u00fcche, welche ich f\u00fcr meine Arbeit \u00fcberhaupt erhebe, und \u00fcber den genannten Anspruch im speziellen Vermutungen zu \u00e4ufsern, weifs ich nicht. Meine Absicht war, den zahlreich vorliegendenUntersuchungen \u00fcber den Geruchs- und Geschmackssinn wirbelloser Landtiere gegen\u00fcber auch einmal Wassertiere\neigenen Aussage w\u00fcnschte Herr Loeb auf seine, wie ihm schien, zu wenig bekannt gewordenen fr\u00fcheren Untersuchungen hinzuweisen; eine Kritik meiner Arbeit bot dazu willkommenen Anlafs.\nIch verzichte auf eine eingehende Berichtigung der hierbei mit untergelaufenen Ungenauigkeiten, da in jenem Falle kritisierte Arbeit und Kritik in der gleich en Zeitschrift {Pfl\u00fcgers Arch, f,d, ge\u00bb. Physiol Bd. 57 bezw. 59; erschienen sind, und eine einfache \u2022 Vergleichung des Wortlautes beider Schriften den Wert der LoEBSchen Kritik deutlich zeigt. Auch fehlt es mir an Zeit, das schon einmal Gesagte einfach zu wiederholen ; auf etwas anderes w\u00fcrde eine Berichtigung in diesem Falle nicht hinauslaufen. Nur an einen Punkt m\u00f6chte ich hier noch erinnern : Ich habe mich gegen eine Verallgemeinerung meiner bei einzelnen Tierspezies gewonnenen Ergebnisse auf andere Spezies von vornherein und mit gutem Grunde ausdr\u00fccklich verwahrt (vergl a. ob. O. S. 546. Mitte).","page":434},{"file":"p0435.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber J. v. Uexk\u00fclls vergleichend-sinnesphysiologische Untersuchung No. I. 436\nin \u00e4hnlicher Weise zn untersuchen. Da in der allgemeinen Sinnesphysiologie und insbesondere in der Sinnesphysiologie niederer Tiere hinsichtlich mancher fundamentaler Punkte keineswegs \u00dcbereinstimmung der Autoren herrscht, vielmehr eine erhebliche Verwirrung in diesen Fragen nicht zu verkennen ist, hatte ich die Aufgabe, zu den vorliegenden Lehren Stellung zu nehmen, gerade wie dies auch Herr von Uexk\u00fcll zu Beginn seiner Schrift n\u00f6tig fand.\nDas fur mich (durch die Preisaufgabe) gegebene Thema verlangte eine umfassendere Ber\u00fccksichtigung der verschiedenen Tierklassen, als sie bei \u00e4hnlichen Untersuchungen bisher im allgemeinen \u00fcblich war. Hierdurch kam ich in einzelnen Punkten zu Anschauungen, die, ohne isoliert zu stehen, von den herk\u00f6mmlichen teilweise abweichen. loh war daher darauf gef&fst, dafs Biologen, die ihre sinnesphysiologischen Grund-anschauungen, wie es vorkommt, unter Ber\u00fccksichtigung nur einer einzelnen Tierklasse sich gebildet hatten, Einwendungen erheben w\u00fcrden. Auf einen Angriff in solcher Form freilich war ich nicht gefafst.\nWas nun den Inhalt der \u00dcEXK\u00dcLLBchen Schrift betrifft, so setzt sich dieselbe zusammen aus einer Er\u00f6rterung einiger Prinzipienfragen aus dem Gebiete der allgemeinen Sinnes-physiologie und der Mitteilung einiger Versuchsergebnisse an Haifischen, welche zum Beleg der im ersten Teile vorgebrachten Anschauungen dienen sollen.\nWenn Herr von Uexk\u00fcll sich einleitend zun\u00e4chst \u00fcber die Subjektivit\u00e4t unseres Sinneslebens und \u00fcber das Problematische in der Annahme einer Tierseele ausspricht, so thut er damit, was heutzutage die meisten Autoren thun, die \u00fcber Tiersinnesphysiologie schreiben und sich vor dem Odium eines Anthropo-morphisten und Dualisten sch\u00fctzen wollen. N\u00f6tig war es kaum, namentlich auch mir gegen\u00fcber nicht, der ich zu wiederholten Malen ganz im gleichen Sinne mich ge\u00e4ufsert habe, wie jetzt Herr von Uexk\u00fcll. Nur habe ich dann weiterhin konsequent gehandelt, indem ich suchte, aus der Einteilung und Unterscheidung der Sinne das subjektive Moment der spezifischen Empfindung wegzulassen. F\u00fcr Herrn von Uexk\u00fcll freilich, der sich nur kritisch und negierend \u00e4ufsera will, f\u00e4llt diese Konse-\n28*","page":435},{"file":"p0436.txt","language":"de","ocr_de":"436\nWiltbald A. Nagel.\nquenz, wie \u00fcberhaupt jeder positive Vorschlag zur vorliegenden Frage, weg. Es w\u00fcrde ja sonst die ganze Zusammenhang-losigkeit seiner Kritik zu deutlich zu Tage treten m\u00fcssen.\nSind uns die Empfindungen eines Tieres verschlossen, so ist es unzul\u00e4ssig, auf deren spezifische Verschiedenheit eine Unterscheidung der verschiedenen Sinne des Tieres gr\u00fcnden zu wollen. Und doch spricht man von den Sinnen eines Tieres, von seinen Sinnesorganen \u2014 diese Bezeichnungen abzuschaffen, ist undenkbar \u2014, man spricht von mehreren Sinnen eines Tieres, folglich mufs man dieselben nach irgend einem Prinzip unterscheiden. Nach der Empfindungsform geht es, wie gesagt, nicht, bleibt, soviel ich sehe, nur die M\u00f6glichkeit, die Sinne und Sinnesorgane nach der ad\u00e4quaten Reizform oder nach dem morphologischen Werte des betreffenden anatomischen Gebildes zu definieren.1\nDas Letztere ist in der vergleichenden Anatomie und Physiologie der Wirbeltiere \u00fcblich und im allgemeinen zweck-m\u00e4fsig; da giebt es die morphologisch wohl charakterisierten Himnerven mit ihren ebenso genau bestimmten Endorganen, deren Homologie trotz histologischer und topographischer Verschiedenheiten \u00fcber allem Zweifel steht. Dafs man mit diesem Prinzip aber schon in der Wirbeltierphysiologie in die Br\u00fcche kommt, sowie man zu den Fischen absteigt, zeigt die allbekannte Streitfrage \u00fcber die Bedeutung der Hautsinnesorgane der Fische (Seitenkan\u00e4le, Ampullen, Endknospen etc.). \u00c4hnliche Schwierigkeiten bietet, wie ich gezeigt zu haben glaube, die Funktion des \u201eOlfactorius44 der n^pderen Wasser-Wirbeltiere.\nBei den Wirbellosen fehlt uns nun gar das wichtige H\u00fclfe-mittel der Homologisierung mit menschlichen Sinnesorganen vollkommen. Dafs es zul\u00e4ssig sei, bei Insekten, Schnecken u. der gl. Tieren von Sinnen und Sinnesorganen zu sprechen,\n1 Die Unterscheidung der Sinnesorgane, die Herr von Uexk\u00fcll versucht, indem er von einem Sinnesorgan spricht, das den Reflex der NahrungsWitterung, und einem anderen, das den Reflex des Ausspeiens ausl\u00f6st, erweist sich auf den ersten Blick als eine unzul\u00e4ngliche, da der Erfolg der Reizung eines Sinnesorganes in jenem speziellen Falle und \u00fcberhaupt nicht in einer einzigen bestimmten Reaktionsart angebbar ist. Von einem Sinnesorgane aus k\u00f6nnen sehr verschiedene Reaktionen ausgel\u00f6st werden.","page":436},{"file":"p0437.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber J. v. \u00fcexk\u00fclU ver g le ichend-sin ncsphysiolog\u00fcche Untersuchung No. I. 437\nwird auch Herr von Uexk\u00fcll kaum bestreiten wollen ; von Sinnen einzelliger Gesch\u00f6pfe aber zu sprechen, wie ich es (nach dem Vorg\u00e4nge zahlreicher Autoren) gethan habe, \u2014 horribile dictu!\nIch m\u00f6chte gern erfahren, an welchem Punkte der Tierreihe man anfangen darf, von Sinnen zu sprechen. Es ist das so bequem, vom stolzen Standpunkte des perfekten Kenners der menschlichen Sinnesphysiologie die Versuche zu bel\u00e4cheln, in den Wirrwarr der Sinnesphysiologie niederer Tiere ein gewisses System zu bringen. M\u00f6chte doch ein solcher Kritiker einmal zeigen, wie man es besser macht, m\u00f6chte er die endlose Litteratur \u00fcber die Sinnesorgane niederer Tiere durchstudieren und sich \u00fcberzeugen, nach welchen Gesichtspunkten viele Zoologen, nat\u00fcrlich unter \u00dfeiseitelassung jeglichen Experimentes, die Sinnesorgane jener Tiere benennen. Es herrscht eine Verwirrung, wie sie gr\u00f6fser nicht sein k\u00f6nnte.\nEs wird von Interesse sein, zu sehen, welches Prinzip der Unterscheidung der Sinne Herr von Uexk\u00fcll in der Fortsetzung seiner sinnesphysiologischen Untersuchungen anwenden wird. Die Unterscheidung nach der ad\u00e4quaten Beizform verschm\u00e4ht er offenbar, seiner ironischen Ausdrucksweise nach zu urteilen. Das bis jetzt Vorliegende l\u00e4lst seine Anschauungen in dieser Hinsicht nur ahnen.\nBesonderes \u00c4rgernis giebt Herrn von Uexk\u00fcll meine Stellungnahme zu der Lehre von den spezifischen Sinnesenergien. Bei seiner Kritik vermengt er fortw\u00e4hrend meine Anschauungen mit denjenigen von Wundt. F\u00fcr denjenigen, der meine Arbeiten mit Aufmerksamkeit gelesen hat, brauche ich kaum ausdr\u00fccklich zu bemerken, dafs ich in der Frage der spezifischen Sinnesenergien nicht ganz auf dem Standpunkte Wundts stehe. Ich bin weit entfernt davon, ein Gegner des Grundgedankens der M\u00fcLLEEschen Lehre zu sein. Nur finde ich, dafa sich in die Lehre ein unzweckm\u00e4\u00dfiger Dogmatismus eingeschlichen hat und dieselbe jetzt zuweilen in einer Form vorgebracht wird, in der sie aufh\u00f6rt, mit den Thatsachen in \u00dcbereinstimmung zu bleiben. Dafs jeder Sinnesnerv auf jede \u00fcberhaupt wirksame Beizung mit einer einzigen unver\u00e4nderlichen Empfindung antworte, ist einfach nicht richtig, gerade so wenig, wie es andererseits richtig ist, dafs die durch einen","page":437},{"file":"p0438.txt","language":"de","ocr_de":"438\nWiUba\u00eed A. Nagel\nNerven vermittelte Empfindung allein von der Natur des einwirkenden Reizes abh\u00e4ngig sei.\nHerr von Uexk\u00fcll beruft sich mit Vorliebe auf Helmholtz. Wenn er jedoch von der \u201eFundamentalthatsache44 spricht, \u201edafs die Empfindung g\u00e4nzlich unabh\u00e4ngig ist von der Art des Reizes, dagegen einzig abh\u00e4ngig ist von der Person des Neuron44 (S. 553), so klingt das etwas anders, als wenn Helmholtz schreibt {Physiol, Optik 2. Aufl. S. 234):\n\u201e[Da es sich mit den \u00fcbrigen Sinnesnerven ebenso verh\u00e4lt, so geht daraus hervor], dafs die Qualit\u00e4t der sinnlichen Empfindung haupts\u00e4chlich von der eigent\u00fcmlichen Beschaffenheit des Nervenapparates abh\u00e4ngt, erst in zweiter Linie von der Beschaffenheit des wahrgenommenen Objektes. Zu dem Qualit\u00e4tenkreise welches Sinnes die entstehende Empfindung geh\u00f6rt, h\u00e4ngt sogar gar nicht von dem \u00e4ufseren Objekte, sondern ausschliefslich von der Art des getroffenen Nerven ab. Welche besondere Empfindung aus dem betreffenden Qualit\u00e4tenkreise hervorgerufen wird, erst dies h\u00e4ngt auch von der Natur des \u00e4ufseren Objektes ab, welches die Empfindung erregt.441\nDiese S\u00e4tze in der Fassung von Helmholtz wird kein Physiologe anfechten wollen, dem Satze in der Form, wie ihn Herr von Uexk\u00fcll wiedergiebt, wird keiner zustimmen k\u00f6nnen.\nWenn, wie aus dem angef\u00fchrten Citate nach Helmholtz hervorgeht, schon in der Sinnesphysiologie des Menschen die Annahme kaum zu umgehen ist, dafs in der Funktionsweise des einzelnen Sinnesnerven eine Variabilit\u00e4t innerhalb einer gewissen Breite bestehe, so glaube ich auf der anderen Seite wahrscheinlich gemacht zu haben, dafs bei niederen Tieren die Spezialisierung f\u00fcr eine bestimmte Funktionsweise nooh weit weniger vorgeschritten ist, geradeso, wie \u00fcberhaupt die Zellen niederer Metazoen sich von dem Zustande der Protistenzellen mit ihrer physiologischen Vielseitigkeit weniger entfernt haben, als die hochdifferenzierten Zellen der h\u00f6heren Wirbeltiere. Eine wertvolle St\u00fctze f\u00fcr meine Ansicht habe ich ganz neuer-\n1 Dasselbe mit etwas anderen Worten habe ich in jenen beiden S\u00e4tzen ausgesprochen, welche nach v. Uexk\u00fcll einen so horrenden inneren Widerspruch enthalten, \u201eohne dafs der Autor es merkte\u201c. Herr von Helmholtz scheint den \u201eWiderspruch\u201c auch nicht \u201egemerkt\u201c zu haben.","page":438},{"file":"p0439.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber J. v. Uexk\u00fclls vergleichend-sinnesphysiologische Untersuchung No. I. 439\ndings durch die interessante Entdeckung Curt Herbsts1 erhalten, welcher fand, dafs Krebse, denen man die Augen entfernt hat, statt derselben Sinnesorgane vom Typus der Krebsantennen, also typische Tastorgane, regenerieren, in welche der Stamm des abgeschnitten Opticus hineinw\u00e4chst, um jetzt an Stelle von Facettenaugen Tasthaare zu innervieren.\nEs ist im \u00fcbrigen nicht meine Absicht, die von mir vertretene Anschauung \u00fcber die Funktionsweise der Sinnesorgane niederer Tiere einer Kritik gegen\u00fcber zu verteidigen, welche die vergleichend - anatomischen Thatsachen nicht ber\u00fccksichtigt, auf Grund deren ich mir meine Anschauung gebildet habe. Vom einseitig eingenommenen Standpunkte menschlicher Sinnesphysiologie aus lassen sich diese Fragen nicht gerecht beurteilen.\nEs kommt dazu, dafs bei Herrn von Uexk\u00fclls rein negativer Art von Polemik es gar nicht m\u00f6glich ist, zu erkennen, was er nun eigentlich an die Stelle der von mir gemachten Vorschl\u00e4ge gesetzt wisseu will. Von Empfindungen der Tiere soll nicht gesprochen werden, Sinne dagegen sind zul\u00e4ssig; die Unterscheidung derselben nach der Reizform verwirft er jedoch. Sein eifriges Eintreten f\u00fcr das Prinzip der spezifischen Energien in extremer Fassung in diesem Zusammenh\u00e4nge l\u00e4fst vermuten, dafs er jegliche Modifikation desselben in seiner Anwendung auf niedere Tiere ablehnt. Da aber jenes Gesetz in der von Herrn von Uexk\u00fcll bef\u00fcrworteten Form eine Aussage \u00fcber die einem Sinnesnerven zukommende Empfindungsqualit\u00e4t enth\u00e4lt, vermag ich nicht einzusehen, wie es in der vergleichenden Sinnesphysiologie \u00fcberhaupt nur noch erw\u00e4hnt werden darf, wenn man die Forderung aufrecht erhalten will, von Empfindungen der Tiere nicht zu sprechen.\nNachdem nun Herr von Uexk\u00fcll in der mit dem Gesagten wohl gen\u00fcgend gekennzeichneten Weise sein vernichtendes Urteil \u00fcber die verschiedenen Abschnitte des allgemeinen. Teiles meiner Arbeit gefallt und verk\u00fcndet hat, geht\n1 \u00dcber die Regeneration von antennen\u00e4hnlichen Organen an Stelle von Augen. 1. Mitteilung. Archiv f. Entwickelungsmechanik. Bd. 2. 1896. Heft 4.","page":439},{"file":"p0440.txt","language":"de","ocr_de":"440\nWilibald A. Nagel.\ner daran, \u201eexperimentell seine Auffassung zu begr\u00fcnden\u201c. Zu diesem Zwecke teilt er Versuche an etlichen Katzen- und Hundshaien mit, welche ihm\n\u201eklar bewiesen, dafs das Organ der Nasenschleimhaut ein anderes ist, als das der Mundschleimhaut, weil es auf andere ad\u00e4quate Beize reagiert und andere Beaktionen hervorruft wie letzteres.\u201c (S. 560.)\nHerr von Uexk\u00fcll scheint zu glauben, dafs dieser Nachweis f\u00fcr mich sehr \u00fcberraschend und unangenehm sein m\u00fcsse. In Wirklichkeit spr\u00e4che ein solcher Nachweis, wenn er g\u00fcltig w\u00e4re (was er, wie ich sogleich zeigen werde, nicht ist), in keiner Weise gegen meine Auffassung, er w\u00fcrde vielmehr eine mir im h\u00f6chsten Grade willkommene Erg\u00e4nzung meiner Beobachtungen darstellen.\nHerr von Uexk\u00fcll hat wohl \u00fcbersehen, dafs ich nicht gesagt habe, das Endorgan des Olfactorius der Haie habe mit der Witterung der Nahrung nichts zu thun, sondern ich sagte, diese Funktion sei nicht erwiesen. Das ist ein Unterschied. Yergl. auf S. 191 \u2022 meiner Arbeit den Schlufssatz des auf die Haifische bez\u00fcglichen Abschnittes:\n\u201eAm wahrscheinlichsten bleibt es immer, dafs die Nase die Haifische beim Nahrungssuchen mittelst des chemischen Sinnes leitet, erwiesen ist dies jedoch nicht.\u201c\nFerner auf S. 61 :\n\u201eF\u00fcr mich ist die Annahme ausgeschlossen, dafs der erste Hirnnerv der Fische die an der Luft riechbaren, fl\u00fcchtigen Stoffe wahmehme. Dafs er der Wahrnehmung ganz der gleichen Stoffe, welche den gew\u00f6hnlichen Beiz des Schmeckorganes bilden, zu dienen habe, ist sehr unwahrscheinlich; wozu dann zwei anatomisch getrennte und ungleiche Organe? Ich vermute daher, dafs im sog. Biechorgane der Fische und Wasseramphibien irgend eine noch unbekannte Teilfunktion des chemischen Sinnes ihr Vermittelungsorgan habe, eine Funktion, die jedenfalls nicht Biechen genannt werden kann, die aber auch von der gew\u00f6hnlichen Th\u00e4tigkeit des Schmeckens irgendwie abweichen mufs, zwar nicht durch den spezifischen Charakter der Empfindung, aber durch die Bedingungen, unter welchen das Organ in Th\u00e4tigkeit tritt.\u201c\nWas berechtigt Herrn von Uexk\u00fcll demgegen\u00fcber (mit Beziehung auf die Sinnesorgane in Mund und Nase) zu schreiben :","page":440},{"file":"p0441.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber J. v. Uexk\u00fclls vergleichend-sinnesphymologische Untersuchung No. I. 441\n\u201eDaher k\u00f6nnen sie beide auch nicht identisch sein, wie Nagel das annimmt.\u201c?\nWozu diese Entstellung?\nDafs die Nahrungswitterung der Haie durch die Nase vermittelt sei, ist, wie gesagt, auch durch Herrn von Uexk\u00fclls Versuch nicht bewiesen. Sein Versuch leidet am gleichen Mangel, wie derjenige Steiners. Dafs Haie, denen die Nasenschleimhaut genommen ist, auf vorgelegte Nahrung nicht reagierten, beweist zun\u00e4chst nur, dafs sie in pathologischem Zustande sich befanden, weiter nichts.\nBei Fortsetzung seiner vergleichend-physiologischen Untersuchungen wird Herr von Uexk\u00fcll vielleicht noch die Erfahrung machen, die andere Experimentatoren auf diesem Gebiete l\u00e4ngst gemacht haben, dafs nach Verletzung eines Tiere s ein vorher wirksamer Beiz oft pl\u00f6tzlich unwirksam erscheint, obgleich das dem betreffenden Beize entsprechende Sinnesorgan von der Verletzung nicht betroffen war. Es ist nicht zu bezweifeln, dafs von einer toten Sardine auch Stoffe ins Wasser diffundieren, welche das chemische Sinnesorgan im Munde erregen. Bleiben an der Nase operierte Haie solcher Nahrung gegen\u00fcber gleichg\u00fcltig, so zeigt das ihre Abneigung gegen Nahrungsaufnahme, nicht ihre Unf\u00e4higkeit, die Nahrung wahrzunehmen. Gerade so verhielten sich Haie, die ich seinerzeit durch einen Schnitt an der Seite des K\u00f6rpers unerheblich verletzt hatte!\nUnfafsbar ist mir, wie Herr von Uexk\u00fcll glauben kann durch den (mir nachgemachten) Versuch mit der Chininsardine beweisen zu k\u00f6nnen, dafs Chinin auf die Nasenschleimhaut nicht wirke, indem die Sardine von weitem zwar gewittert und aufgesucht, nach dem Anbeifsen aber wieder ausgespien wurde. Meiner Meinung nach beweist dieser Versuch nur, dafs entweder Chinin sich langsamer im Wasser verbreitet, als gewisse Bestandteile des Fischfleisches, oder dafs seine ab-stofsende Wirkung in rascherem Verh\u00e4ltnisse mit der Entfernung abnimmt, als die anziehende Wirkung jener anderen Stoffe.\nAuf \u00e4hnlich schwachen F\u00fcfsen steht Herrn von Uexk\u00fclls Behauptung (S. 563):\n\u201eDas Sinnesorgan in der Nase ruft den Witterungsreflex hervor, w\u00e4hrend das Sinnesorgan in der Mundschleimhaut den Beflex des Ausspeiens ausl\u00f6st.u","page":441},{"file":"p0442.txt","language":"de","ocr_de":"442\nWilibald A. Nagel.\nIch erinnere an meine Versuche, in welchen die Fische die F\u00e4higkeit, Zuckerl\u00f6sungen wahrzunehmen, deutlich bekundeten. Zucker l\u00f6st nicht den Reflex der Ausspeiens aus, er wird im Gegenteil gerne genommen. Es bleibt also Herrn von Uexk\u00fcll die Wahl, anzunehmen, dafs Zucker ein den \u201eWitterungsreflex\u201c ausl\u00f6sender Reiz f\u00fcr die Nasenschleimhaut sei (was ihm kaum sympathisch sein d\u00fcrfte), oder dafs auch das Geschmacksorgan im Munde sich an der Witterung der Nahrung beteiligt.\nZum Schl\u00fcsse noch ein paar Worte \u00fcber die Tagblindheit der Scyllien. Herr von Uexk\u00fcll behauptet, ohne nat\u00fcrlich meine Einw\u00e4nde auch nur im mindesten zu ber\u00fccksichtigen, geschweige denn zu widerlegen, die Tagblindheit der Haie sei durchaus erwiesen. Beweis (S. 564):\n\u201eBeer hat in seiner sch\u00f6nen Arbeit \u00fcber die Akkommodation des Fischauges auch das Auge eines Katzenhais abgebildet, aus der (sic), wie sich jeder \u00fcberzeugen kann, hervorgeht, dafs die Pupille bis auf einen schmalen Spalt vollkommen geschlossen ist.\u201c\nIch habe mich von dem Verhalten der Haipupille nicht nur aus Beers sch\u00f6ner Arbeit, sondern am lebenden Hai unterrichtet, und das gleiche gesehen, was Beer abbildet: einen schmalen, an beiden Enden etwas erweiterten Spalt. Nur bin ich der Meinung, dafs ein Spalt geeignet sei, etwas Licht durchzulassen. Herr von Uexk\u00fcll scheint anderer Meinung zu sein.\nDen weiteren in Aussicht gestellten vergleichend-sinnesphysiologischen Untersuchungen Herrn von Uexk\u00fclls sehe ich mit einer gewissen Spannung entgegen.\nDas Gesetz der spezifischen Sinnesenergien wird er darin in extremer Fassung durchf\u00fchren, er wird jedoch den Ausdruck \u201espezifische Energie\u201c nur auf das Verhalten der Ganglienzellen zu den Empfindungsqualit\u00e4ten anwenden und solche Verw\u00e4sserungen des Begriffes nicht dulden, wie ich sie mir zu schulden kommen liefs. Aussagen \u00fcber die Empfindungen der Tiere wird er gleichwohl aufs Strengste vermeiden.\nVielleicht gelingt Herrn von Uexk\u00fcll das ohne inneren Widerspruch.","page":442}],"identifier":"lit29962","issued":"1896","language":"de","pages":"432-442","startpages":"432","title":"\u00dcber J. von Uexk\u00fclls vergleichend-sinnesphysiologische Untersuchung No. I","type":"Journal Article","volume":"10"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:01:16.012836+00:00"}