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{"created":"2022-01-31T14:54:37.580900+00:00","id":"lit29978","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"T\u00f6nnies, F.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 10: 473-480","fulltext":[{"file":"p0473.txt","language":"de","ocr_de":"Li tteraturberickt.\n473\nGsorg Simmel. Einleitung ln die Moral Wissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe. In 2 B\u00e4nden. Zweiter Band. Hertz, Berlin 1893. 426 S.\nEbensoschwer wie aus dem ersten liefse sich aus diesem zweiten Bande eines an merkw\u00fcrdigen Einzelheiten reichen Werkes der beherrschende Gedanke herausfinden, wenn nicht die Vorrede uns h\u00e4lfe, die darauf hin weist, in jedem Kapitel sei es darauf abgesehen, an einem oder an einigen ethischen Grundbegriffen zu zeigen, da\u00df darin mannig-fache, oft entgegengesetzte Tendenzen und Denkmotive enthalten sind. Das gemeinsame und endliche Ergebnis, f\u00fcr den Verfasser, besteht darin, dafs die Ethik \u201eihr philosophisches Stadium verlassen\u201c und in eine ganz und gar theoretische Wissenschaft sich verwandeln solle, der die Beschreibung und Erkl\u00e4rung von Thatsachen obliege. Die \u201enormative\u201c Aufgabe wird also ausgeschieden, und, wenn wir richtig verstehen, auf Grund dieser Kritik als unerf\u00fcllbar aufgegeben. \u2014 Die drei Kapitel des Bandes handelt 1. \u00fcber den kategorischen Imperativ, 2. \u00fcber die Freiheit, 3. \u00fcber Einheit und Widerstreit der Zwecke. Nach Umfang und Inhalt zieht das mittlere am meisten die Aufmerksamkeit an sich. Der Verfasser hat es verstanden, mit grofser Unbefangenheit an das vexierte Thema heranzugehen. Seine scharfsinnige Er\u00f6rterung zerf\u00e4llt in vier grofse Abschnitte. Zuerst soll die ethische Freiheit in ihrer Beziehung zu anderen Begriffen der Freiheit und Unfreiheit entwickelt werden. Der Gedankengang ist folgender: Die empirische Freiheit des Handelns bildet den historischen Unterbau f\u00fcr die Vorstellung von der Freiheit des Willens (134), obgleich diese auch in einem gewissen Gegens\u00e4tze zu jener gedacht wird. Wie das Wollen zum Handeln, so verh\u00e4lt sich zum Wollen das Ich; die Idee des intelligibeln, aufserzeitlich gewollten Charakters ist konsequenter Ausdruck dieser Zur\u00fcckschiebung des Problems (139). Aufrecht erhalten l\u00e4fst sich solcher Begriff gegen\u00fcber der kritischen Aufl\u00f6sung des Ich (143). Gew\u00f6hnlich wird aber (innerhalb der Vertretung des Freiheitsbegriffes) das Ich mit der Vernunft gleich gesetzt, die theoretische, determinierte \u201eSinnlichkeit\u201c mit der praktischen verwechselt (147 f.). Der wahre Sinn des durchdachten Freiheitsbegriffes ist allerdings der, dafs die Bestimmung durch vemunftm\u00e4fsige Motive derjenigen durch sinnliche entgegengesetzt wird (150). Die Wertvorstellungen, die an das Ich und die an die Freiheit gekn\u00fcpft werden, zeigen sich \u00fcberall parallel: hohe, wie niedrige Sch\u00e4tzung des Ich und der Willk\u00fcr (154). Im Grunde handelt es sich aber um Kompromisse mit der anerkannten Wahrheit der Kausalit\u00e4t, das Ich oder die Vernunft ist nur die Hypostase der Forderung eines positiven Etwas hinter den Thatsachen des Wollens. \u201eDie Einzelheiten der empirischen Bedeutung der Freiheit bilden wohl ein sehr viel reicheres und fruchtbareres Gebiet f\u00fcr die Moralwissenschaft, als die metaphysische Frage nach der Freiheit des Willens selbst, vor der jene bis jetzt sehr zu kurz gekommen sind\u201c (157). Die absolute Freiheit des Individuums wird meistens als ein Kampf gegen \u00e4ufsere Anspr\u00fcche, als ein Freiwerden gedacht, welche Idee auch mit der ethischen Freiheit sich gern verbindet; ferner erscheint jene als Mangel nicht jeder, sondern nur der bestimmt gerichteten und konse-","page":473},{"file":"p0474.txt","language":"de","ocr_de":"474\nL\u00fcteraturbericht\nquenten Determinieren g, als Recht der Laune (168 f), hierdurch aber im Gegensatz zur philosophischen Idee der Freiheit, weil diese gerade in der konsequenten einheitlichen Richtung des Ich ihr Fundament hat (160). In diesem Sinne hat Qubtelbt gemeint, dafs gerade die Freiheit des Willens unsere Handlungen stetig und gleichm\u00e4fsig gestalte.1 Darin kommt ein richtiger Gedanke zum Ausdruck, dessen Wahrheit im Gebiete der empirischen Freiheit den h\u00e4ufigen Zusammenhang von Anarchie und Despotismus zeigt (162). Die Unfreiheit bedeutet auch einen Willen, aber denjenigen, der nur eine Minorit\u00e4t von Wollungen repr\u00e4sentiert; darum wird gerade die absolute Freiheit in ihrer zuf\u00e4lligen Einzelheit h\u00e4ufig als Unfreiheit bezeichnet (166), das Wesen der Freiheit w\u00fcrde dagegen in Realisierung der Majorit\u00e4t der Wollungen bestehen (166). So kommt in der Beziehung zum Freiheitsbegriffe, die ihnen gemeinsam ist, eine Korrelation des loh und der objektiven Normen zum Ausdruck. Als Freiheit wird der Gegensatz des Gleichgewichtzustandes der Seele gegen das psychologische \u00dcberwiegen einer Vorstellung empfunden; das freie Ich trifft seine Entscheidungen genau nach dem logischen Gewichte seiner Objekte (168). Auch die empirische Freiheit ist nur da vorhanden, wo zugleich Bindungen gegeben sind, wie die sittliche Autonomie im Gehorsam gegen innere Regeln besteht (171). Weil ^Unfreiheit als Bindung anderer Art regelm\u00e4fsig Befreiung von der bisherigen bedeutet, so findet sich auch der psychologische Hang zur Unfreiheit oder freiwilligen Unterwerfung in verschiedener Gestalt. Soziologisch bemerkt man, dafs die gr\u00f6fste pers\u00f6nliche Freiheit mit der Bindung an die Gesetze des gr\u00f6fsten sozialen Kreises in kausalem Verh\u00e4ltnisse steht (176). Andererseits gehen gerade aus freien Thaten die inneren Bindungen als Konsequenzen hervor: verpflichtende Kr\u00e4fte fixieren sowohl, als steigern die selbstgeschaffene Situation (179). Das Schicksal macht uns verantwortlich, wo wir uns vielleicht vor unserem Gewissen nicht mehr verantwortlich f\u00fchlen (182); dies wird metaphysisch symbolisiert durch jene Vorstellung von der aufserzeitlichen Ergreifung des intelligiblen Charakters (184). Die Gesetzm\u00e4fsigkeit eines Ganzen verh\u00e4lt sich zur Freiheit im einzelnen, wie historische Gesamtbewegungen zu ihren individuellen Tr\u00e4gern; welches Verh\u00e4ltnis sich 1. teleologisch ausdr\u00fccken l\u00e4fst : die Freiheit der einzelnen kann selbst ein Teil des Weltsystems sein (186); \u2014 2. statistisch in zwei Formen: a) die Schwingungen der Einzelfreiheiten gleichen sich in grofsen Gruppen aus; dies bedeutet eigentlich nur, dafs es f\u00fcr unser Erkennen, wenn es sich auf\n1 Wenn der Verfasser hier generell ein wendet, dafs die Statistik doch gerade die Best\u00e4ndigkeit und Regelm\u00e4fsigkeit in den dure h moralische Unzul\u00e4nglichkeit und Unvernunft hervorgerufenen Handlungen vor Augen f\u00fchre, so hoffen wir, dafs er dabei nicht gerade an die En esc hlieisungen gedacht hat, die zu den wichtigsten Objekten statistischer Beobachtung geh\u00f6ren. \u00dcbrigens kenne ich nur Quetelets Ansicht vom freien Willen als einer accidentellen Ursache von beschr\u00e4nkten und sich aufhebenden Wirkungen, w\u00e4hrend mir die im Texte genannte Auffassung bei anderen Autoren allerdings begegnet ist. Auf jene Q\u00fcETELETSche Bestimmung gelangt der Verfasser seiner in diesem Verlaufe S. 187 ff.","page":474},{"file":"p0475.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturbericht.\n475\nden Standpunkt des Ganzen stellt, gleichg\u00fcltig ist, welche einzelnen Teile des Ganzen es sind, die dessen notwendige Schicksale tragen (189); b. es kann aber auch der soziale Kreis, von dem das statistische Gesetz gilt, als eine Einheit gedacht werden, deren innere Beziehungen ihre Kr\u00e4fte im Verh\u00e4ltnis der Teilnehmerzahl entwickeln (191). Hier f\u00e4llt nun vollends die Freiheit fort und wird vielmehr durch das statistische Gesetz die soziale Wirkung eines Ganzen auf den Einzelnen, wenn auch in roher Form, konstatiert (193). Ferner unterscheidet sich scheinbar die Gruppe vom Individuum durch Sicherheit, Zweckm&fsigkeit, Irrtums-losigkeit ihrer Aktionen; dies beruht darauf, dafs die sozialen Handlungen die primitiveren, \u00e4lteren Triebe, Empfindungen, Vorstellungen der Individuen zur Grundlage haben, woraus das Allgemeine und Notwendige bervorgeht (194); ebenso verh\u00e4lt sich in der Einzelseele das Wesentliche und Einheitliche zum Mannigfachen der einzelnen Handlungen. Diese Betrachtung, dafs das Ganze notwendig, das Einzelne frei erscheine, scheint der fr\u00fcheren zu widersprechen, wonach gerade allein das Ganze der Pers\u00f6nlichkeit, das Ich, die Freiheit trage (202 ff.)* Indessen ergiebt sich die Harmonie aus dem richtigen Begriffe relativer Notwendigkeit, der gegen\u00fcber die Idee der philosophischen Willensfreiheit mit der absoluten Notwendigkeit einer Causa sui zusammenfallen m\u00f6chte : das Ich gilt als Mikrokosmus (204 f.). \u2014 Der andere Abschnitt geht auf die Begriffe der Zurechnung und Verantwortung ein. Hier heilst es \u00fcberraschenderweise, dais Freiheit \u201ein dem Sinne, der \u00fcberhaupt einen Sinn hat und nicht nur ein Unterschiebsei oder ein verschwommener Deutungsversuch f\u00fcr einen ganz entgegengesetzten Gedanken ist, nur den reinen, grundlosen Zufall bedeutet4 (207). Bei dieser Freiheit aber ist ebensowenig eine Zurechnung m\u00f6glich, wie bei der Annahme des Determinismus .(211). Hingegen kann man die Freiheit aus der Verantwortung herleiten (212): ein Individuum ist eben dann zurechnungsf\u00e4hig, verantwortlich, wenn die strafende Beaktion auf seine That bei ihm den Zweck der Strafe erreicht (213). Es mufs in ihm die F\u00e4higkeit, die Spannkraft auch zu anderem Handeln liegen, sonst w\u00e4re die Strafe sinnlos (219). Psychologisch giebt es noch mehrere Quellen der Freiheitsvorstellung (225 ff.); unser Handeln vollzieht sich auf Grund einer Mischung des Glaubens an Determiniertheit und an Nichtdeterminiertheit (281 ff). Ob alles verstehen == alles verzeihen sei? Mit der Schuld w\u00fcrde doch auch die Veranlassung zur Verzeihung aufgehoben (238). Sittliche Naturen gew\u00e4hren den eigenen, am besten verstandenen, Handlungen am schwersten Verzeihung; auch h\u00e4lt man gerade Selbsterkenntnis f\u00fcr den Anfang der Versittliohung (239). Indessen ist vielfach die Un-bewufstheit in der Entwickelung des Sittlichen zweckm\u00e4fsiger, als seine Bewufstheit (240). Sittlich schwache Naturen empfinden Selbsterkenntnis und Beue als gen\u00fcgenden Tribut an die Moral (ibid.) \u2014 Im dritten Abschnitt soll der Umfang skizziert werden, den der Freiheitsbegrifi' empirischerweise decke. Wichtigste Fortsetzung und Erf\u00fcllung der Freiheit tritt in dem Verh\u00e4ltnis des Ich zum \u00e4ufseren Besitze ein (245). Vermehrung des Besitzes ist zugleich Steigerung der Freiheit (251) Freiheit kann auch als Selbstbeherrschung definiert werden. Herrschaft","page":475},{"file":"p0476.txt","language":"de","ocr_de":"476\nLitteraturberich t\n\u00fcber den eigenen Leib setzt sich fort in Herrschaft \u00fcber ein Besitztum, endlich in Herrschaft \u00fcber andere Personen (253). Hinter der ersten liegt noch die Freiheit der eigenen Seele gegen\u00fcber (257). Empfundener Mangel der einen Form f\u00fchrt zu einer um so st\u00e4rkeren Bestrebung nach der anderen hin (ibid.) Die Gesellschaft begrenzt die \u00e4ufseren Freiheiten als Rechte und zugleich auch die Freiheit, auf sie zu verzichten (262). Man kann das Freiheitsmaximum zum Moralprinzip machen (264). Verteilung des Besitzes wird dadurch normiert (267), Selbst\u00fcberwindung gerechtfertigt, aber auch begrenzt (271); ebenso die Tendenz auf blofse objektive Kultur und Besitzsteigerung (273). Auch in Bezug auf das Verh\u00e4ltnis des Ichs zu sich selber, seinen Vorstellungen und \u00dcberzeugungen, rechtfertigt und begrenzt das Prinzip den \u201eEigensinn\u201c (275 ff.). Auch der freieste Wille bedarf eines gewissen Widerstandes der Objekte (278). Die v\u00f6llige Realisierung des Freiheitsmaximums w\u00fcrde seinen Wert wieder aufheben (281). Dieses Prinzip, wie alle Versuche, die Sittlichkeit auf einen einheitlichen Begriff zu bringen, ist im Grunde nichts als Symbolisierung des sittlichen Thatbestandes (ibid.). \u2014 Der vierte Abschnitt er\u00f6rtert das Verh\u00e4ltnis der Willenshandlungen zur Erhaltung der Kraft und dasjenige psychischer zu physischen Thatsachen \u00fcberhaupt; endlich das innere Wesen der Kausalit\u00e4t von Bewufstseins* Vorg\u00e4ngen. Ein psychologisches Gesetz im Sinne der Naturwissenschaft ist bis jetzt noch nicht gefunden (292). Es scheint, dafs sich Gehirnvorg\u00e4nge mit psychischem Werte und solche ohne diesen Wert gegenseitig durchkreuzen, und diese Vermutung gew\u00e4hrt einen Unterbau f\u00fcr die Meinung, die Vorstellung der Freiheit stamme daher, dafs wir die Ursachen unseres Willens nicht kennen (297). Die Vorstellung einer Unabh\u00e4ngigkeit der Wirkung beruht auch in der Thatsache ihres \u00dcberschusses \u00fcber die Ursache (304). Die Annahme einer mechanisch zwingenden Notwendigkeit im Ablauf unserer Vorstellungen scheint ferner den Wahrheitswert derselben in Frage zu stellen (304 f.).\nSoweit das mittlere (6.) Kapitel. \u00dcber die umgebenden muis ich mit einem kurzen Berichte mich begn\u00fcgen. Das 5. pr\u00fcft die von Kaut geforderte Allgemeing\u00fcltigkeit einer Handlungsweise, mit dem Ergebnisse, dafs oft die Verallgemeinerung einer Norm ihr spezifisches Wesen vernichte. Vom individualistischen und vom evolutionistisehen Gedanken aus wird die Notwendigkeit und der Wert des besonderen Handelns dagegen gesetzt, die Vers\u00f6hnung der Individualberechtigung mit dem kategorischen Imperativ als wichtiges Problem beschrieben, die logische Bedeutung des Wollenk\u00f6nnens diskutiert. Begriffe enthalten zugleich Forderungen. Der Parallelismus zwischen praktischem und theoretischem Verh\u00e4ltnis des Individuums zum Allgemeinen erf\u00e4hrt eingehende Betrachtung und in Ankn\u00fcpfung daran, was der Verfasser soziologischen Realismus und Nominalismus nennt, womit wieder Unterschiede der praktischen Gesinnung psychologisch zusammen gebracht werden, woraus sich mannigfache Kombinationen der Denkungsarten und Willensrichtungen ergeben. \u2014 Das 7. und Schlufskapitel er\u00f6rtert zuerst den ethischen Monismus und das Moralprinzip des guten Willens als durchf\u00fchrbare Formel daf\u00fcr; sodann das Verh\u00e4ltnis der Einheit der Zwecke zum Endzweck. \u201eWenn","page":476},{"file":"p0477.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturberich t\n477\nman einen einheitlichen Endzweck des Sittlichen \u00fcberhaupt annimmt, so mufs man zugleich eine in Wirklichkeit darauf gerichtete Weltentwickelung annehmen\u201c (354). In der formalen Funktion der Zweck-Setzung soll dann ein Gemeinsames f\u00fcr die h\u00f6heren Wollungen und Werte gefunden werden; im Sittlichen sei ein gr\u00f6fseres Quantum davon vereinigt, als im Unsittlichen (859). Ferner wird der Begriff der Pers\u00f6nlichkeit und ihre psychische Einheit untersucht und der Psychologie die Aufgabe gestellt, die vorhandene Einheit und Gleichm\u00e4fsigkeit des pers\u00f6nlichen Seelenlebens zu erkl\u00e4ren, die Analogie mit sozialen K\u00f6rpern daf\u00fcr herangezogen, deren Einheitlichkeit wiederum der Beharrung organischer Form bei dem Wechsel ihrer materiellen Teile vergleichbar sei. \u2014 Endlich werden noch die Konflikte zwischen mehreren Pflichten-reihen betrachtet. Hierbei wird das Tragische ber\u00fchrt und der Gegensatz zwischen \u00dcberlieferung und Kritik, Moral und Erkenntnis, praktischem Charakter und Intellekt; das Nacheinander, Nebeneinander und \u00dcbereinander der sozialen Kreise, worin die kollidierenden Pflichten ihren Ursprung haben. Eine Steigerung der Konflikte ist vorauszusehen, auch ihrer Vertiefung und Tragik (419, 421). Den monistischen Moralphilosophien gegen\u00fcber ist Beschreibung der wirklichen Vorg\u00e4nge des sittlichen Lebens die wahre wissenschaftliche Aufgabe, wie auch in der Vorrede dieses Bandes bedeutet wurde.\nDas ganze hier geleistete Werk fordert Beurteilung, als Nachpr\u00fcfung und Miterforschung seiner vielen einzelnen St\u00fccke. Wenn nun diese hier nicht geschehen kann, so mag ich doch nicht von dem Werke soheiden, ohne die gr\u00f6fste Achtung vor der tiefen und vielseitigen Gedankenarbeit auszusprechen, die darin aufgespeichert liegt. Wer immer, sei es dogmatisch oder psychologisch, mit ethischen Begriffen sich besch\u00e4ftigt, wird mit Spannung dem Verfasser in seinen scharfen Zergliederungen, feinen Beobachtungen, verheifsungreichen Andeutungen folgen und bei wiederholtem Lesen um so mehr die Beife des Gehaltes, die Eleganz der Form bewundern lernen. Dennoch wird man mm mit dem Ganzen eigentlich nichts anzufangen wissen und sich nicht befriedigt finden, wenn die Vorrede mit der Einheit des Prinzips, \u201eman k\u00f6nnte sagen, der methodischen Gesinnung\u201c, die in den Kapiteln vorhanden sei, \u00fcber ihren sonst ungen\u00fcgenden Zusammenhang tr\u00f6sten will, auch vielleicht die \u201eformale Gleichheit des Besultats, zu dem jedes f\u00fcr sich in Bezug auf sein spezielles Thema\u201c gelange, anzuerkennen sich weigern. Denn neben jenem kritischen Ergebnis, das damit gemeint ist, Anden sich doch in den meisten Kapiteln Ans\u00e4tze zu positiven Begriffsbildungen, Moralprinzipien und Dogmen, die jedoch am Schl\u00fcsse wieder generell verneint zu werden scheinen. Im allgemeinen hat die Besch\u00e4ftigung mit diesem Buche aufs neue die Erkenntnis in mir befestigt, dafs f\u00fcr negative wie f\u00fcr positive Arbeit von dieser Art Definitionen der abzuhandelnden Begriffe notwendig sind, die ihrer Natur nach nur auf willk\u00fcrliche Denkgebilde sich beziehen k\u00f6nnen. Die Vermischung der Analyse vorhandener popul\u00e4rer oder philosophischer Begriffe mit solchen selbst\u00e4ndigen Operationen kann ich nicht f\u00fcr erfolgreich halten und m\u00f6chte sie als den Grundfehler dieser Schrift behaupten, der in dem Kapitel \u00fcber die","page":477},{"file":"p0478.txt","language":"de","ocr_de":"478\nLitteraturberichL\nFreiheit vielleicht am deutlichsten hervorleuchtet. Auch m\u00fcfste ich innerhalb dieses Kapitels in Bezug auf manche Einzelheiten Bedenken und Widerspruch geltend machen und will wenigstens ein Beispiel davon geben. Der Verfasser meint: alle Vorstellungen Gber Freiheit finden gewissermafsen ihr Thema in der Vorstellung eines Ich, das sich zu dem Willen selbst verhalte, wie dieser zu der \u00e4ufseren Erscheinung der Handlung (138), und: jene scheinbar tautologische Erkl\u00e4rung der inneren Freiheit, dafs ich wollen kann was ich will, erhalte einen synthetischen Sinn, indem der Ton auf das zweite Ich gelegt werde (137), nachdem er vorher das Ich als \u201esogenanntes\u201c eingef\u00fchrt hat und obgleich er dann es problematisch l\u00e4fst, ob es \u201eeine durch alle m\u00f6glichen sonstigen Inhalte (aufser dem Willen) charakterisierte Individualit\u00e4t, ein Komplex von Qualit\u00e4ten, Gedanken und Gef\u00fchlen, vielleicht gar ein metaphysisches Etwas sei\u201c.\nIch behaupte dagegen: die Idee der Willensfreiheit beruht auf der Meinung, dafs das Wollen als eine Art des Denkens eine Th\u00e4tigkeit sei, die in dem Sinne frei genannt wird, wie andere menschliche Th\u00e4tigkeiten, als gehen, schreiben, sprechen; womit gesagt werden soll, dafs sie auch, und etwa in der Regel, durch den blofsen Wunsch, das blofse Gefallen des Subjektes erregt werden ; oder (ins Physiologische \u00fcbersetzt), dafs dies Kontraktionen willk\u00fcrlicher Muskeln sind, d. h. solcher, die von kortikalen Zentren ihre Energie beziehen. Und es ist, so verstanden \u2014 da\u00fcs n\u00e4mlich Wollen in diesem Satze zweierlei bedeutet \u2014 ganz richtig, was zuerst Hobbes als absurd verspottet hat, dafs man das Wollen wollen kann. Wollen, n\u00e4mlich beschliefsen, sich vorsetzen, ist eine freie Handlung, die nur gewollt, d. i. gew\u00fcnscht, mit einem bejahenden Gef\u00fchle empfunden oder vorgestellt werden mufs, um zu erfolgen. Unsere nat\u00fcrliche, sozusagen angeborene, Reflexion sagt uns : der Hund hat Freiheit, zu laufen, sich niederzustrecken, seine Stimmorgane zu gebrauchen u. s. w., der Mensch hat aufser dieser und \u00e4hnlichen auch die Freiheit, sich denkend selbst zu bestimmen, zu \u201ewollen\u201c. Nicht die Freiheit oder das scheinbare Verm\u00f6gen, sich selbst zu bewegen, ist es, was den Menschen auszeichnet, sondern das (in Worten) Denken, mithin auch das denkende Wollen. Es wird selber durch Denken, d. h. durch \u00dcberlegung bestimmt, aber auch hierin mufs jedesmal ein Wunsch oder Gefallen entscheidend wirken, und dies nennen wir mit dem gleichen Namen \u201eWille\u201c. Nach, meiner Meinung h\u00e4tte es unserem Verfasser, seinem Hauptgedanken gem\u00e4fs, obgelegen, die Illusion psychologisch und soziologisch zu erkl\u00e4ren, dafs hier an irgend welchem Punkte eine Exemtion vom kausalem Zusammenh\u00e4nge vorliege ; hier\u00fcber bleibt vielleicht noch einiges zu sagen \u00fcbrig, wenn es auch zun\u00e4chst wichtiger sein d\u00fcrfte, einmal alles Stichhaltige, was dar\u00fcber gesagt worden ist, zusammenzustellen und zu ordnen. Ausgehen mufs man doch wohl von dem Gegens\u00e4tze, den das naive Denken bildet zwischen K\u00f6rpern, die bewegt werden, und K\u00f6rpern, die sich selbst bewegen; alsdann aber ist leicht begreiflich, warum das erste wissenschaftliche Denken die Erkl\u00e4rung aus eigenem Willen f\u00fcr vollkommener h\u00e4lt und die scheinbar spontanen Bewegungen toter K\u00f6rper darauf zur\u00fcckzuf\u00fchren sucht, wenn auch die umgekehrte Her-","page":478},{"file":"p0479.txt","language":"de","ocr_de":"Lit teraturberich t\n479\nleitung psychologischer Thatsachen aus mechanischen Kr\u00e4ften immer damit konkurriert. Das Verh\u00e4ltnis beider zu einander ist ja f\u00fcr die meisten wissenschaftlichen Denker auch heute noch problematisch, und doch ist Entscheidung dar\u00fcber unerl\u00e4sslich, denn jene unmechanische Idee der Bewegung von selber hat sich von altersher expliziert als Herrschaft des Geistes \u00fcber den K\u00f6rper, ist also viel mehr mit dem allgemeineren Begriffe der Freiheit (des Handelns), als mit dem speziellen Begriffe der Willensfreiheit verkn\u00fcpft. Dais nun die allgemeine Th\u00e4tig-keit des Geistes schlechthin ohne Ursachen geschehe, haben Philosophen niemals strenge behauptet, wohl aber \u2014 was noch Leibniz wiederholt \u2014, dafs diese psychologischen Ursachen nichts Zwingendes an sich haben, dafs sie wohl sollicitieren, aber nicht necessitieren ; dies wird dann aus subjektiver und menschlicher Erfahrung, aus dem Bewufstsein der Freiheit begr\u00fcndet, an das die Verteidiger als letzte und untr\u00fcgliche Instanz appellieren. Dies Bewu\u00dftsein aber behauptet in Wirklichkeit nur die Freiheit des Wollens im oben angegebenen Sinne, der nun verwechselt wird mit jenem allgemeinen Begriffe der Herrschaft des Geistes. Zugegeben wird dann, dafs der Wille des Tieres \u2014 wenn er nicht in mechanistischer Konsequenz gestrichen wird \u2014 durch Vorstellungen notwendig bewegt werde, die von aufsen kommen; der Mensch aber sei den Vorstellungen gegen\u00fcber frei durch Denken, das von innen komme. Hieran h\u00e4lt sich nun fest der praktische Begriff der Freiheit, der den Menschen, als denkenden, vern\u00fcnftigen Herrn seines Wollens und seiner Handlungen, verantwortlich macht, weil in der That das denkende Wollen als eine letzte Thatsache gilt und als Beweis f\u00fcr die Kenntnis der Pflicht, die den eigentlichen Bechtsgrund der vern\u00fcnftigen Strafe bildet. Nicht das Ich schlechthin, wie Herr Simmel meint, sondern das Ich mit dem Besitze des Gewissens, unter Abstraktion von seinen \u00fcbrigen Qualit\u00e4ten, bildet den eigentlichen Zellkern in der Idee der Willensfreiheit. Das f\u00fcr sie charakteristische K\u00f6nnen im Gegens\u00e4tze zum M\u00fcssen erh\u00e4lt durch diesen Begriff seinen besonderen Sinn, n\u00e4mlich den des K\u00f6nnens als des Besitzes einer Kunst. Man macht den Koch verantwortlich, weil er seiner Kunst m\u00e4chtig ist; wenn er \u00dcbles leistet, so wei\u00df man, da\u00df sein l\u00e4ssiger oder b\u00f6ser Wille Ursache ist; diese Ursache zu bek\u00e4mpfen, \u00dft notwendige Konsequenz dessen, da\u00df man die gute Leistung will. So macht der Gesetzgeber den Menschen verantwortlich, weil er der Kunst des gesetzm\u00e4\u00dfigen Handelns m\u00e4chtig, und weil die \u00dcbereinstimmung seines Wollens mit seinem K\u00f6nnen als der normale und nat\u00fcrliche Fall gedacht wird. In Wahrheit bedeutet nun ein solches K\u00f6nnen, unter den dazu geh\u00f6rigen Bedingungen, eine hohe Wahrscheinlichkeit des Wollens und Thuns, so dafs mit einiger Sicherheit darauf gerechnet wird. Wenn daher dieses K\u00f6nnen vorausgesetzt wird, so ist f\u00fcr die \u00fcberlegene und richtende Betrachtung nur das entsprechende oder widersprechende vern\u00fcnftige Wollen von irgend welchem Interesse, gar nicht, was nosh dahinter liegen und jenes verursachen mag. Ihren Fehler begeht dii.se Betrachtung erst, indem sie entweder diese Ursache \u2014 z. B. die besondere Beschaffenheit des individuellen Menschen \u2014 leugnet oder die thats\u00e4chliche Ver-","page":479},{"file":"p0480.txt","language":"de","ocr_de":"480\nLitteraturberich t.\nbindung zwischen dieser und einem bestimmten Wollen f\u00fcr eine nicht notwendige erkl\u00e4rt; welches letztere jeden Sinn haben kann, nur nicht den der Exemtion eines einzelnen Faktums vom Kausalnexus. Herr Simmel meint, Zurechnung und Verantwortung seien ebenso sinnlos unter Annahme ursachloser, wie necessitierter Handlungen. Ich behaupte dagegen und damit, dafs die Praxis, jene Begriffe anwendend, ihrem Wesen nach so unabh\u00e4ngig ist von diesen Theorien, wie die Annahme, mit der sie allerdings steht und f\u00e4llt, dafs es denkende Menschen giebt. Allerdings kann aber die tiefer dringende Analyse und die Einsicht der Notwendigkeit zur Folge haben, dafs man nicht mehr \u2014 als Strafender \u2014 blind auf den fremden Willen losw\u00fctet, sondern sich liebevoller mit dessen Ursachen besch\u00e4ftigt, wenn auch in gegebenen F\u00e4llen h\u00f6chst energische B\u00e4ndigung geboten sein kann. Das Wesentliche des rechtlichen oder moralischen Verantwortlichmachens liegt in der dadurch ausgesprochenen Gleichheit der Menschen, als der Exemplare ihres Begriffes^ oder als dem Gesetze unterworfener Staatsb\u00fcrger; darum ist der K\u00f6nig als H\u00f6herstehender ebensowenig im Rechte verantwortlich, wie der Wahnsinnige als Tieferstehender.\nDas rechtliche Verantwortlichmachen ist als ein k\u00fcnstliches Pr\u00e4-parat wenigstens dadurch kenntlich, dafs es ein Subjekt hat; es beruht aber im moralischen Verantwortlichmachen, das kein solches Subjekt hat, wenn nicht ein Gott daf\u00fcr eingesetzt wird; die Vorstellung davon ist aber so stark mit der Meinung vom freien Willen assoziiert, dafs es psychologisch eine schwere Gew\u00f6hnung bedeutet, sie davon getrennt zu denken und zu erkennen, dafs sie nur im Verh\u00e4ltnisse des Superior zum Inferior und durch die Beziehung auf ein gegebenes Gesetz ihren vern\u00fcnftigen und unersch\u00fctterlichen Sinn, weil ihre Zweckm\u00e4fsigkeit als eines Ger\u00e4tes moralischen Zusammenlebens, besitzt. In dem Mafse aber, als dieses aufh\u00f6rt und als in geringerem Umfange von einem gemeinsamen und anerkannten Sittengesetze die Bede sein kann, im gleichen Mafse wird allerdings die Idee der moralischen Verantwortlichkeit zweck-und sinnlos; die von ihr gesetzte Gleichheit offenbart sich desto mehr als Unwahrheit.\tF. T\u00f6nnies (Hamburg).","page":480}],"identifier":"lit29978","issued":"1896","language":"de","pages":"473-480","startpages":"473","title":"Georg Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe. In 2 B\u00e4nden. Zweiter Band. Hertz, Berlin 1893. 426 S.","type":"Journal Article","volume":"10"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:54:37.580906+00:00"}