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Ästhetische Untersuchungen in Anschluß an die Lipps'sche Theorie des Komischen

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{"created":"2022-01-31T14:56:40.789339+00:00","id":"lit29981","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Heymans, G.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 11: 31-43, 333-352","fulltext":[{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"\u00c4sthetische Untersuchungen in Anschlufs an die Lipps\u2019sche Theorie des Komischen.\nVon\nG-. Hetmans\nin Groningen.\nVor einigen Jahren hat Lipps eine Hypothese \u00fcber Ursprung und Wesen der komischen Lust aufgestellt, welche meiner Ansicht nach als die endliche und definitive L\u00f6sung des alten Probl\u00e8mes anerkannt und als eine der wertvollsten Bereicherungen, welche Psychologie und \u00c4sthetik in den letzten Jahrzehnten aufzuweisen haben, begr\u00fcfst zu werden verdient.1 Hach dieser Hypothese beruht das Gef\u00fchl des Komischen darauf, \u201edafs (einem) Bedeutungslosen und zur Inanspruchnahme seelischer Kraft aus eigener Energie relativ Unf\u00e4higen in hohem Mafse seelische Kraft zur Verf\u00fcgung steht\u201c; \u201eder Wahrnehmungsinhalt breitet sich\u201c demzufolge \u201ein der Seele leicht und ungehemmt aus, und ist darum Gegenstand der Lust\u201c (a. a. O. XXV. S. 142, 143). Die nachfolgenden Untersuchungen schliefsen sich dieser Hypothese vollst\u00e4ndig an, und bieten, was den Grundgedanken derselben betrifft, nichts Heues; sie glauben aber f\u00fcr diesen Grundgedanken ein weiteres Anwendungsgebiet in Anspruch nehmen zu m\u00fcssen, als Lipps gethan hat. Und zwar in doppelter Weise. Erstens wird nachzuweisen versucht, dass das geforderte \u00dcbermafs seelischer Kraft auch noch aus anderen, als den von Lipps vorzugsweise anerkannten Ursachen entstehen und das Gef\u00fchl der komischen Lust erzeugen kann ; wodurch es denn m\u00f6glich wird, einzelne That-sachen in einfacherer und, wie mir scheint, befriedigenderer Weise\n1 Th. Lipps, Psychologie der Komik. Phil. Monatsh. Bd. XXIV. S. 385-422, 513-529; Bd. XXV. S. 28-50, 129-160, 284-307, 408-432.","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nG. Heymans.\nder Theorie unterzuordnen, als nach der Lippsschen Auffassung geschehen konnte. Zweitens aber wird das n\u00e4mliche Prinzip (auch hier freilich blofs einen von Lipps ausgesprochenen Gedanken weiter verfolgend) auch f\u00fcr die Psychologie des Sch\u00f6nen fruchtbar zu machen und das Verh\u00e4ltnis zwischen dem Gef\u00fchle des Komischen und dem Gef\u00fchle des Sch\u00f6nen scharf zu bestimmen versucht.\nI.\nDie Lipps\u2019sche Theorie geht von der Erfahrungsthatsache aus, dafs verschiedene Bewufstseinsinhalte in sehr ungleichem Mafse das Bewufstsein in Anspruch nehmen, die Aufmerksamkeit fesseln, sagen wir kurz: psychische Energie besitzen. Wird nun ein Bewufstseinsinhalt von grofser psychischer Energie pl\u00f6tzlich aufgehoben oder durch einen solchen von bedeutend geringerer Energie abgel\u00f6st, so ergiebt sich eine relative Leere des Bewufstseins, welche der abl\u00f6senden oder anderen sich herandr\u00e4ngenden Vorstellungen zu ungehemmter Ausbreitung Platz schafft; die \u00fcberm\u00e4fsig gespannte Aufmerksamkeit l\u00e4fst nach, und es entsteht das Gef\u00fchl der komischen Lust. Nach Lipps kann sich dieser Prozefs haupts\u00e4chlich oder ausschliefslich in zwei Formen abspielen: entweder so, dafs \u201ean Stelle des Bedeutungslosen ein Bedeutungsvolles erwartet wurde\u201c, oder so, dafs \u201edasselbe erst bedeutungsvoll erscheint, dann als bedeutungslos sich darstellt\u201c (XXV. S. 142) ; auf jenen Fall werden dann die Erscheinungen der objektiven, auf diesen diejenigen der subjektiven Komik zur\u00fcckgef\u00fchrt. Ich leugne uun keineswegs, dafs diese Korrespondenz in manchen F\u00e4llen zutrifft; weder aber halte ich dieselbe f\u00fcr eine ausnahmslose, noch die ganze Einteilung f\u00fcr eine ersch\u00f6pfende. Vielmehr will es mir scheinen, dafs jene momentane Entspannung des Bewufstseins, aus welcher das Gef\u00fchl der Komik hervorgeht, in sehr verschiedenerWeise zu st\u00e4nde kommen kann, und dafs eine auf diese Verschiedenheit gegr\u00fcndete Einteilung sich mehrfach mit der Einteilung in objektive und subjektive Komik kreuzen m\u00fcfste.\nDes n\u00e4heren scheint mir die Lippssche Darstellung haupts\u00e4chlich aus zwei Gr\u00fcnden unvollst\u00e4ndig zu sein. Erstens legt er, wie ich glaube, ein zu grofses Gewicht auf die qualitative \u00dcbereinstimmung zwischen dem fr\u00fcheren und dem","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"\u00c4sthetische Untersuchungen in Anschlufs an cl. Lippssehe Theorie d. Komischen. 33\nsp\u00e4teren Bewufstseinsinlialt. Und zweitens scheint mir der Begriff der \u201eBedeutsamkeit\u201c eines Gegenstandes sachgem\u00e4fs \u25a0eine weitere Fassung zu erfordern, als Lipps demselben hat zu teil werden lassen.\nWas den zuerst erw\u00e4hnten Punkt anbelangt, so vermag noch Lipps das Nichtige, das an die Stelle des Bedeutungsvollen tritt, \u201esich . . . die diesem verf\u00fcgbar gemachte seelische Kraft anzueignen in dem Mafse, als es damit \u00fcbereinstimmt\u201c (XXY. S. 149). Schon aus dieser Voraussetzung wird verst\u00e4ndlich, dafs f\u00fcr Lipps das Hauptgewicht auf den beiden oben erw\u00e4hnten F\u00e4llen, also auf denjenigen, wo wir uns \u00fcber Beschaffenheit und Wert entweder eines zuk\u00fcnftigen oder eines gegenw\u00e4rtigen Bewufstseinsinhaltes t\u00e4uschen, liegen mufs; denn eben hier ist die geforderte qualitative \u00dcbereinstimmung zwischen den succedierenden Bewufstseinserscheinungen notwendig gegeben. Dafs aber diese \u00dcbereinstimmung, so gewifs sie den Entspannungsprozefs erleichtert und beschleunigt, doch keineswegs als eine conditio sine qua non desselben angesehen werden darf, wird schon wahrscheinlich auf Grund der von Lipps hervorgehobenen Verwandtschaft zwischen der komischen Lust und der Lust am freien Spiel nach abgeschlossener Arbeit (XXV. S. 147\u2014148). Denn bei letzterer fehlt doch meistenteils jene qualitative \u00dcbereinstimmung durchaus. Aber auch innerhalb des Gebietes der Komik giebt es der F\u00e4lle genug, wo weder die entt\u00e4uschte Erwartung eines Bedeutungsvollen, noch die Erkenntnis eines f\u00fcr bedeutungsvoll Gehaltenen als unbedeutend, sondern wo die Unterbrechung eines wirklich Bedeutungsvollen durch ein davon v\u00f6llig verschiedenes, aber momentan die Aufmerksamkeit auf sich ziehendes Unbedeutendes den Beiz zum Lachen erzeugt. So wirkt es in hohem Grade komisch, wenn sich w\u00e4hrend einer feierlichen Bede auf einmal das Miauen einer unbemerkt hineingeschlichenen Katze h\u00f6ren l\u00e4fst; so entstand in einem Konzertsaal ein allgemeines Gel\u00e4chter, als beim pl\u00f6tzlichen Schlufs eines schmetternden Finale sich die laute Stimme einer B\u00fcrgersfrau bemerklich machte, welche w\u00e4hrend der Musik mit ihrer Nachbarin ein Gespr\u00e4ch \u00fcber den Preis der Butter angefangen hatte; so suchen manche HEiNEsche Gedichte einen komischen Effekt dadurch zu erreichen, dafs sie eine Beihe hochpoetischer Gedanken pl\u00f6tzlich durch eine Trivialit\u00e4t ab-\nZeitschi-ift f\u00fcr Psychologie XI.\t3","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nG. Heymans.\nbrechen lassen. In gleicher Weise ist wohl die Thatsache zu erkl\u00e4ren, dafs im h\u00f6chsten Schmerz, etwa bei heftigen k\u00f6rperlichen Leiden, oder bei der Leichenfeier eines geliebten Freundes,, die geringste Veranlassung gen\u00fcgen kann, um ein nerv\u00f6ses, allerdings durch den Widerstreit der Gef\u00fchle \u00e4ufserst peinliches Lachen hervorzurufen.\nWichtiger ist der zweite Punkt: die zu enge Fassung des Begriffes \u201eBedeutsamkeit\u201c. Nach der eigenen Ausf\u00fchrung von Lipps (XXV. S. 130\u2014131) darf nichts anderes, aber mufs auch all dasjenige unter diesen Begriff zusammengefafst werden, was einem Bewufstseinsinhalte die F\u00e4higkeit verleiht, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, seelische Kraft in Anspruch zu nehmen. Dazu geh\u00f6rt nun allerdings an erster Stelle der Wert, welchen wir dem Bewufstseinsinhalte oder den assoziativ damit verbundenen Vorstellungen beilegen. Aber keineswegs ist dieser Faktor der einzige: auch das Neue und Ungew\u00f6hnliche als solches, auch das R\u00e4tselhafte und Unerkl\u00e4rliche vermag in hohem Grade die Aufmerksamkeit zu fesseln. Es scheint mir ein Fehler von Lipps zu sein, dafs-er bei der Erkl\u00e4rung der komischen Erscheinungen diese beiden wichtigen Momente durchaus unbeachtet l\u00e4fst und ausschliefslich mit jenem zuerst erw\u00e4hnten Faktor, der Bedeutsamkeit des-Gegenstandes im engeren Sinne, auszukommen sucht.\nAllerdings sind die Thatsachen, ^welche mir eine Erweiterung dieses Standpunktes zu fordern scheinen, Lipps nicht unbekannt geblieben. Kinder und ungebildete Leute lachen,, wie er richtig anf\u00fchrt, \u00fcber alles Neue und Ungew\u00f6hnliche: \u00fcber die schwarze Hautfarbe des Negers, \u00fcber fremdartige Kleidertracht, \u00fcber k\u00f6rperliche Fehler u. s. w.; und auch wir f\u00fchlen uns, zum Lachen gereizt, wenn wir einen Freund mit ver\u00e4nderter Haarfrisur oder abrasiertem Barte zum ersten Male Wiedersehen. Solche F\u00e4lle erkl\u00e4rt aber Lipps dadurch,, dafs f\u00fcrs erste \u201eAbweichungen von der normalen Form, die mit keiner (irgendwie interessanten) Vorstellung verbunden sind,, notwendig relativ nichtssagend und damit psychologisch mehr oder weniger gewichtlosu erscheinen; dafs aber des weiteren hier \u201edas relativ Nichtige .... nichtiger erscheine, als der Vorstellungs- oder Gedankenzusammenhang, in den es sich einf\u00fcgt, fordert oder erwarten l\u00e4fstu (XXIV. S. 402\u2014403). Es soll also die vorgestellte Norm durch ihre Bedeutsamkeit","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"\u00c4sthetische Untersuchungen in Anschlufs cm d. Lippssche Theorie d. Komischen. 35\ndas spannende, die wahrgenommene Abweichung durch ihre Bedeutungslosigkeit das entspannende Moment liefern. Der zweiten H\u00e4lfte dieses Satzes kann ich mich vollst\u00e4ndig an-schliefsen; die erstere aber erregt gewichtige Bedenken. Es sind doch vorzugsweise die rohesten und stumpfesten Leute, welche \u00fcber k\u00f6rperliche M\u00e4ngel, fremdartige Kleidung u. dergl. lachen; wird man es aber glaubhaft machen k\u00f6nnen, dafs bei diesen die Vorstellung des Normalen, der sinnlichen Wahrnehmung entgegen, am leichtesten erregt werden und die interessantesten Assoziationen mit sich f\u00fchren sollte? Sodann braucht der Mann, dessen ver\u00e4nderte Haar- oder Barttracht uns zum Lachen reizt, keineswegs ein \u201eFreund\u201c zu sein; er kann uns im h\u00f6chsten Grade gleichg\u00fcltig, vielleicht blofs von Aussehen bekannt sein; auch seine fr\u00fchere Erscheinung war dann f\u00fcr uns m\u00f6glicherweise vollkommen nichtssagend ; dennoch werden wir lachen. Am schwierigsten wird sich aber das kindliche Lachen \u00fcber alles Neue und Unverstandene der erw\u00e4hnten Auffassung unterordnen lassen. Lipps bemerkt hier\u00fcber vollkommen zu-treffend : \u201edas Neue (ist) f\u00fcr das Kind ein relativ Bedeutungsloses, weil es seine Bedeutung, die Zugeh\u00f6rigkeit zu anderem, aus dem sich die Bedeutung ergiebt, die Brauchbarkeit zu diesem oder jenem Zweck u. s. w. noch nicht kennen gelernt hat. Als Unverstandenes, noch Sinnloses, und darum Nichtiges, nicht um der Neuheit willen, ist das Neue dem Kinde komisch, \u2014 soweit es dies ist\u201c (XXIV. S. 403). Das ist sehr richtig ; aber sollte nicht das Neue um der Neuheit willen die Aufmerksamkeit des Kindes auf sich gezogen, zeitweise seelische Kraft in Anspruch genommen haben? Jedenfalls ist nicht leicht einzusehen, wo hier sonst das spannende Moment zu suchen w\u00e4re. \u2014 Ich denke mir demnach bei allen Erscheinungen dieser Art die Sache folgenderweise : Das Neue und Ungew\u00f6hnliche zieht, einfach als solches, immer und \u00fcberall die Aufmerksamkeit auf sich, sowie umgekehrt das Allt\u00e4gliche und Gew\u00f6hnliche schliefslich jede Macht, die Aufmerksamkeit zu fesseln, verliert; in diesem allbekannten Heiz der Neuheit ist uns ein spannendes Moment gegeben, neben welchem wir kein zweites zu suchen brauchen. Hat sich aber einmal die Aufmerksamkeit dem neuen Gegenst\u00e4nde zugewandt, so kann weiter ein Doppeltes stattfinden. Entweder dieser Gegenstand ist so beschaffen, dafs er f\u00fcr eine Weile unser Interesse dauernd\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nG. Heymans.\nin Anspruch nimmt, sei es, dafs sich gef\u00fchlsbetonte Assoziationen daran kn\u00fcpfen, oder dafs es Begierden wachruft, oder dafs es uns zum Vergleichen oder Erkl\u00e4ren reizt, oder irgendwie sonst: dann bleibt die Aufmerksamkeit gespannt, und es tritt keine komische Wirkung ein. Oder aber der Gegenstand erweist sich als f\u00fcr den Betrachter ohne jedes Interesse; es kn\u00fcpft sich nichts daran fest, weder Assoziationen noch Fragen noch Begierden: dann erschlafft pl\u00f6tzlich die gespannte Aufmerksamkeit, und die Komik ist da. Darum lachen wir nicht \u00fcber auffallend sch\u00f6ne K\u00f6rperformen, \u00fcber ernste, mitleiderregende k\u00f6rperliche Gebrechen, \u00fcber neuentdeckte Thatsachen in der Wissenschaft; und darum wird im allgemeinen die Empf\u00e4nglichkeit f\u00fcr objektive Komik geringer bei zunehmender Bildung, welche uns bef\u00e4higt, schliefslich jeder Bache eine interessante Seite abzugewinnen.\nKaum weniger zahlreich sind die Thatsachen, welche f\u00fcr ihre Erkl\u00e4rung auf den zweiten der oben erw\u00e4hnten Faktoren hinzuweisen scheinen:, bei welchen also, wie ich glaube, ein R\u00e4tselhaftes, Unbegreifliches, die Gef\u00fchle der Verwunderung und des Staunens Hervorrufendes die Aufmerksamkeit fesselt, bis ein schnell aufleuchtendes, an sich kein weiteres Interesse bietendes Verst\u00e4ndnis die Entspannung zu st\u00e4nde bringt. Zu dieser Gruppe m\u00f6chte ich an erster Stelle die Mehrzahl der Witze rechnen, und zwar alle diejenigen, welche den vern\u00fcnftigen Sinn, den sie enthalten, in einer zun\u00e4chst unverst\u00e4ndlichen und darum r\u00e4tselhaften Form aussprechen. Ich denke mir n\u00e4mlich den hierbei sich abspielenden Prozefs folgenderweise. Wir vernehmen einige Worte, von denen wir, da sie von einem vern\u00fcnftigen und gebildeten Menschen herr\u00fchren, guten Sinn und sprachliche Richtigkeit voraussetzen, welche aber im ersten Augenblick entweder das eine oder das andere in auffallender Weise vermissen lassen. So finden wir uns einem R\u00e4tsel gegen\u00fcbergestellt, welches unsere Aufmerksamkeit spannt, bis uns pl\u00f6tzlich Sinn und Zweck der fremdartigen Wort-, Satz- oder Gedankenbildung einleuchtet, worauf die Entspannung und damit die komische Wirkung eintritt. Ich erinnere an einige bekannte, auch von Lipps angef\u00fchrte Witze: das HEiNEsche \u201efamillion\u00e4r\u201c erscheint zun\u00e4chst als eine fehlerhafte Wortbildung, die Antwort \u201ele roi n\u2019est pas un sujeta als eine elende Ausflucht, die HEiNEsche Vergleichung","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"\u00c4sthetische Untersuchungen in Anschlu\u00df an d. Lippssche Theorie d. Komischen. 37\nder Venus von Milo mit einer h\u00e4fslichen alten Frau als v\u00f6llig unzutreffend, die Frage Phocions \u201ewas habe ich f\u00fcr Dummes gesagt?u als eine ungereimte Deutung des Beifallklatschens, die TALLEYBANDsche Erkl\u00e4rung, die Sprache sei dazu bestimmt, seine Gedanken zu verbergen, als eine durchaus falsche Zweckbestimmung. Aber sofort nachher blitzt uns das Verst\u00e4ndnis auf; das B\u00e4tsel ist gel\u00f6st, und der gespannten Aufmerksamkeit wird mit einem Schlage der Gegenstand entzogen. Eben in diesem Momente tritt die komische Wirkung ein. \u2014 Bekanntlich erkl\u00e4rt Lipps die Sache anders: ihm zufolge \u201ebildet der Sinn, den eine \u00c4ufserung oder Handlung gewinnt, den Inhalt des Gedankens, der die \u00c4ufserung oder Handlung emporhebt; .... der Gedanke (schafft), indem er mit der \u00c4ufserung oder Handlung sich verbindet, dieser die M\u00f6glichkeit leichterer Aneignung seelischer Kraft, und .... \u00fcberl\u00e4fst.. . ., indem er verschwindet, auch die Kraft, die er in Verbindung mit der \u00c4ufserung oder Handlung f\u00fcr sich angeeignet hat, der nunmehr nichtig gewordenen \u00c4ufserung oder Handlung zu weiterer freier Inanspruchnahme44 (XXV. S. 139). Der Unterschied zwischen seiner Auffassung und der meinigen besteht also darin, dafs nach ihm das spannende Moment im Verstehen, das entspannende im nachfolgenden Sichbesinnen auf die Bedeutungslosigkeit der \u00c4ufserung oder Handlung liegt, w\u00e4hrend ich das anf\u00e4ngliche Nichtverstehen f\u00fcr den Grund der Spannung, das nachfolgende Verstehen aber f\u00fcr denjenigen der Entspannung ansehe. Ich glaube, mich nun in dieser Sache einfach auf das Zeugnis der Selbstwahrnehmung berufen zu k\u00f6nnen, nach welchem beim H\u00f6ren eines Witzes dieser Art sich deutlich die beiden Stadien des verbl\u00fcfften Staunens und des aufleuchtenden Verst\u00e4ndnisses, mit letzterem gleichzeitig aber die komische Gef\u00fchlserregung, feststellen lassen. Auch wird keineswegs immer die witzige \u00c4ufserung oder Handlung nachher als \u201enichtig44 erkannt. Wenn Saphib einem reichen Gl\u00e4ubiger, dem er einen Besuch abstattete, auf die Frage \u201eSie kommen wohl um die 300 Gulden?44 antwortete: \u201enein, Sie kommen um die 300 Gulden44, so war damit eben dasjenige, was er meinte, in einer sprachlich vollkommen korrekten und auch keineswegs ungew\u00f6hnlichen Form ausgedr\u00fcckt. H\u00e4tte der Gl\u00e4ubiger etwa gefragt: \u201eSie w\u00fcnschen wohl Ihre Schuld zu bezahlen?44 so w\u00e4re auch die Antwort nicht im mindesten witzig gewesen;","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nG. Heymans.\nder Witz beruht aussehliefslich auf dem Umstande, dafs durch Form und Sinn der Frage eine Bedeutung des Ausdrucks \u201eum etwas kommen\u201c nahegelegt wird, welche die Antwort zun\u00e4chst unverst\u00e4ndlich und r\u00e4tselhaft erscheinen l\u00e4fst, w\u00e4hrend erst einen Moment sp\u00e4ter die andere Bedeutung ins Bewufstsein auftaucht und den Sinn der \u00c4ufserung verst\u00e4ndlich macht. Schliefslich scheint mir auch die bekannte Thatsache, dafs man nicht \u00fcber selbstgemachte oder \u00fcber bereits bekannte Witze lacht, f\u00fcr meine Auffassung zu sprechen. Denn hier fehlt eben das R\u00e4tsel, w\u00e4hrend doch die M\u00f6glichkeit, zwischen Sinn und Unsinn, Bedeutsamkeit und Nichtigkeit hin- und herzugehen, keineswegs aufgehoben ist. -\u2014 \u00c4hnlich verh\u00e4lt es sich mit witzigen Handlungen : das \u201eMenschensuchen\u201c des Diogenes erscheint zun\u00e4chst als Verr\u00fccktheit, die \u00c4hnlichkeit zwischen den Z\u00fcgen des gemalten Judas und denjenigen des Priors (Lipps. XXIV. S. 526) als ein merkw\u00fcrdiger und unerkl\u00e4rlicher Zufall, bis wir auf einmal jene Handlung als eine sinnvolle, diese \u00c4hnlichkeit als eine aus einleuchtenden Motiven absichtlich hervorgerufene durchschauen. Ohne Zweifel tr\u00e4gt im letzteren Fall der G-edanke an den machtlosen Zorn des b\u00f6sen Priors zur komischen Wirkung bei ; dafs aber auch an und f\u00fcr sich eine zuerst r\u00e4tselhafte, dann verstandene \u00c4hnlichkeit komisch wirken kann, scheint wohl sicher. Man denke sich etwa einen Menschen, der in einem vollen Saal sein eigenes Bild im grofsen Wandspiegel erblickt, es f\u00fcr einen Fremden h\u00e4lt und sich \u00fcber die merkw\u00fcrdige \u00c4hnlichkeit zwischen sich und diesem Fremden wundert: die komische Gef\u00fchlserregung wird im Momente der Aufkl\u00e4rung gewifs nicht ausbleiben. \u2014 Zur n\u00e4mlichen Gruppe geh\u00f6ren weiter noch R\u00e4tsel und Taschenspielerk\u00fcnste: je schwieriger bei jenen die Aufgabe und je unbegreiflicher bei diesen das Wahrgenommene erschien, je einfacher andererseits die L\u00f6sung des R\u00e4tsels oder die Erkl\u00e4rung des Kunstst\u00fccks ausf\u00e4llt, um so sicherer wird man sich zum Lachen gereizt f\u00fchlen. Ja, selbst die pl\u00f6tzlich erkannte M\u00f6glichkeit, ein kompliziertes Problem auf ein viel einfacheres zur\u00fcckzuf\u00fchren, das pl\u00f6tzliche Aufleuchten eines Gesichtspunktes, dem sich zahlreiche bisher unverbundene That-sachen leicht unterordnen lassen, ruft eine Stimmung hervor, welche mit der komischen sehr verwandt ist, und welche nur deshalb nicht immer als solche empfunden wird, weil die ge-","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"\u00c4sthetische Untersuchungen in Anschluss an d. Lippssche Theorie d. Komischen. 39\nwonnene Einsicht bedeutsam genug ist, um die momentan entspannte Aufmerksamkeit sofort wieder zu fesseln. In gleicher Weise wird auch die komische Wirkung eines Witzes geschw\u00e4cht, wenn der verstandene Sinn desselben an und f\u00fcr sich bedeutsam ist: so bei der bekannten Sohle iERMACHERschen Charakteristik der Eifersucht als eine Leidenschaft, welche mit Eifer sucht, was Leiden schafft. \u2014 Einen \u00dcbergang zur objektiven Komik innerhalb der hier besprochenen Gruppe bilden sodann die Witze des Zufalls: Druckfehler und Versprechungen. Hier verdient ganz besonders die Thatsache Beachtung, dafs nicht alle Fehler, sondern nur diejenigen, welche sprachlich einen Sinn (nur nicht den wirklich gemeinten) ergeben, uns komisch Vorkommen. Wenn der Druckfehlerteufel einen Schriftsteller die Nichtigkeit (statt Dichtigkeit) einer von ihm vertretenen Ansicht behaupten l\u00e4fst, oder wenn in einem astronomischen Lehrbuch von der Erkl\u00e4rung der komischen (statt kosmischen) Bewegungen gesprochen wird, so werden wir gewifs lachen; w\u00e4re aber in jenen Worten ein anderer Buchstabe ver\u00e4ndert oder ausgefallen, so h\u00e4tte es mit unserem Ernste keine Gefahr. Dennoch h\u00e4tten wir hier ebensowohl wie dort den Gegensatz von Sinn und Unsinn, Bedeutsamkeit und Nichtigkeit. Aber im zweiten Fall bemerken wir sofort, dafs ein Druckfehler vorliegt; im ersten dagegen f\u00fcgen wir zun\u00e4chst das sprachlich richtige Wort ahnungslos in den Satz hinein, staunen dann \u00fcber die sich ergebende Ungereimtheit und finden einen Augenblick sp\u00e4ter die Erkl\u00e4rung. \u2014 Als ein Beispiel objektiver, dem n\u00e4mlichen G-esichtspunkte sich unterordnender Komik erinnere ich schliefslich noch an eine h\u00fcbsche Erz\u00e4hlung aus den \u201eFliegenden Blattern\u201c. Ein an ein er Zwischen-station ausgestiegener Beisender antwortet auf die dringende Aufforderung des Schaffners, einzusteigen, immer nur mit der flehentlichen Bitte, ihm doch zu sagen, in welchem Jahre Amerika entdeckt worden ist. Indessen f\u00e4hrt der Zug ab; endlich stellt sich heraus, dafs das Compartiment, in welchem der Beisende seine Sachen zur\u00fcckgelassen hat, die Nummer 1492 f\u00fchrte, und dafs ein Mitreisender ihm gesagt hat, er solle, um diese Nummer nicht zu vergessen, nur an die Jahreszahl der Entdeckung Amerikas denken. Hier ist die Handlungsweise des Beisenden, dem man zu langen Erkl\u00e4rungen keine Zeit l\u00e4fst, keineswegs (wie in dem entsprechenden von Lipps XXIV. S. 419\u2014421","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nG. Heymans.\nausf\u00fchrlich er\u00f6rterten Fall Sancho Pansa) \u201eobjektiv un zweck-m\u00e4fsig\u201c ; aber sie scheint es im h\u00f6chsten Grade zu sein und wird darum zuerst als unbegreiflich, sodann, nachdem die Sache sich aufgekl\u00e4rt hat, als komisch empfunden. Unter \u00e4hnlichen Umst\u00e4nden kann uns auch ein zuerst unverst\u00e4ndliches, dann verstandenes Naturereignis komisch erscheinen : so die Wahrnehmung, dafs die von der Sonne beschienene H\u00e4lfte einer Gartenkugel k\u00e4lter ist als die andere, wenn wir erfahren, dafs eben der G\u00e4rtnerjunge die Kugel geputzt und sie dabei zuf\u00e4llig umgedreht hat.\nEs giebt aber noch andere F\u00e4lle, wto der Wahrnehmungsinhalt in keiner Weise, weder durch seine Bedeutsamkeit, noch durch seine Neuheit, noch durch seine Unbegreiflichkeit, die Spannung der Aufmerksamkeit erzeugt, sondern wo dieselbe von vornherein durch starke oder tief gewurzelte Gef\u00fchle und Triebe gegeben ist, deren pl\u00f6tzliche Aufhebung bezw. Befriedigung dann eine momentane Entspannung und damit die komische Gef\u00fchlserregung er giebt. In dieser Weise ist es wohl zu erkl\u00e4ren, dafs Ludwig Vives, wie H\u00f6eeding erz\u00e4hlt,1 sich bei den ersten Bissen, die er nach langem Fasten genofs, nicht des Lachens erwehren konnte. Ganz besonders aber kommen hier die Gef\u00fchle der Furcht, des Selbstmifstrauens, der Minderwertigkeit in Betracht. Dafs diese Gef\u00fchle, wenn sie akut Vorkommen, das ganze Bewufstsein in Anspruch nehmen k\u00f6nnen, wenn sie habituell geworden sind, einen stetigen, dumpfen, die freie Vorstellungsbewegung hemmenden Druck aus\u00fcben, ist allbekannt; werden sie nun durch eine momentan\u00a9 Steigerung des Selbstgef\u00fchls zeitweise aufgehoben, so ergiebt sich eine pl\u00f6tzliche Entspannung des Bewufstseins, welche sehr stark als komisch empfunden wird. Daraus erkl\u00e4ren sich die zahlreichen Thatsachen, welche von Hobbes bis Bain stete wieder dazu gef\u00fchrt haben, das Gef\u00fchl des Komischen dem gesteigerten Selbstgef\u00fchl unterzuordnen oder gleichzusetzen. Idioten lachen aus befriedigter Eitelkeit, Kinder, wenn man sich von ihnen anf\u00fchren oder besiegen l\u00e4fst ; der Wilde stimmt ein Hohngel\u00e4chter an \u00fcber den gefallenen Feind, und auch auf h\u00f6herer Bildungsstufe ist Spott gegen dr\u00fcckende Autorit\u00e4ten das erste Zeichen innerer Befreiung; rohe Leute lachen, wenn\nH\u00f6ffding, Psychologie. S. 68.\ni","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"\u00c4sthetische Untersuchungen in Anschlu\u00df an d. Lippssche Theorie d. Komischen. 41\nes ihnen gelingt, Einen zu \u00e4ngstigen oder zu erschrecken, und andererseits versucht der Gefoppte durch ein erzwungenes L\u00e4cheln sich wenigstens den Schein des verlorenen Selbstgef\u00fchls zu erhalten. Mehrere dieser F\u00e4lle lassen sich in keiner Weise aus get\u00e4uschter Erwartung erkl\u00e4ren; aber auch bei den anderen beweist schon das ganz verschiedene Verhalten eines unparteiischen Dritten, dafs das Selbstgef\u00fchl etwas mit der Sache zu schaffen hat. Nicht aber das Selbstgef\u00fchl an und f\u00fcr sich: denn viel st\u00e4rkere Reize f\u00fcr dasselbe haben nicht den geringsten komischen Effekt; auch sehen wir den echten Protzen nur selten lachen, w\u00e4hrend er, wenn es nur auf das Selbstgef\u00fchl ank\u00e4me, sein Lebtag nicht aus dem Lachen herauskommen m\u00fcfste. Dafs aber das gesteigerte Selbstgef\u00fchl in diesen F\u00e4llen nicht, in jenen fr\u00fcheren wohl das Gef\u00fchl der Komik mit sich f\u00fchrt, liegt einfach daran, dafs dort dem Zustande gesteigerten Selbstgef\u00fchls ein solcher herabgesetzten Selbstgef\u00fchls voranging oder gegen\u00fcberstand, w\u00e4hrend hier davon keine Rede ist. Den Idioten mahnen zahllose Erlebnisse an seine Minderwertigkeit; das Kind geht von der Vermutung aus, der Erwachsene sei st\u00e4rker und scharfsinniger als es; dem Siege ging die Eurcht, selbst besiegt zu werden, der Befreiung die Unterdr\u00fcckung vorher; der Bangemacher versetzt sich in den Gem\u00fctszustand seines Opfers und geniefst die eigene Macht, indem sie sich von dem Hintergr\u00fcnde jener vorgestellten Unmacht abhebt. Kurz : \u00fcberall, wo das Selbstgef\u00fchl in das Gef\u00fchl des Komischen \u00fcbergeht, haben wir es sozusagen mit einem Selbstgef\u00fchl in statu nascendi zu thun. Dann aber liegt in der pl\u00f6tzlichen Aufhebung eines auf dem Bewufstsein lastenden Druckes der springende Punkt, aus welchem die komische Wirkung hervorgeht und nach der Lippsschen Theorie notwendig hervorgehen mufs.\nWenn also, wie ich glaube, mehrere komische Erscheinungen in einer anderen als der von Lipps bevorzugten Weise aus seinem Grundgedanken erkl\u00e4rt werden m\u00fcssen, so wird f\u00fcr andere die Richtigkeit der von ihm gebotenen Erkl\u00e4rung unbedingt anzuerkennen sein. Durch Erwartung eines Bedeutsamen mit nachfolgendem Erscheinen eines Bedeutungslosen ist Spannung und Entspannung bedingt, wenn wir lachen \u00fcber den Clown, der sich zum Sprung \u00fcber ein hochgespanntes Seil anschickt, aber im entscheidenden","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nG. Heymans.\nMomente unter demselben hindurchschl\u00fcpft; \u00fcber den anspruchsvoll auftretenden Redner, der uns mit blofsen Trivialit\u00e4ten abspeist; \u00fcber den Entdeckungsreisenden, der nach langer Fahrt schliefslich in ein altbekanntes Land kommt; \u00fcber das Ausbleiben einer vorher angek\u00fcndigten Explosion ; \u00fcber das kleine Haus zwischen den grofsen Pal\u00e4sten u. s. w. Durch Erkennen des scheinbar Bedeutungsvollen als ein Bedeutungsloses kommt die Komik zu st\u00e4nde, wenn im Theater pl\u00f6tzlich eine umfallende Koulisse der Illusion ein Ende macht ; wenn sich ein angebliches Gespenst als die wohlbekannte Nachbarin, oder ein angeblicher Geist, welcher einen auf den Boden gestellten Hut in Bewegung versetzt, als ein darunter versteckter junger Hund enth\u00fcllt. Des weiteren geh\u00f6ren zu dieser Gruppe einige Witze, n\u00e4mlich diejenigen, wobei die geh\u00f6rten oder gelesenen Worte zuerst einen vern\u00fcnftigen Sinn zu enthalten scheinen, bei n\u00e4herem Zusehen aber als barer Unsinn sich heraussteilen. So verh\u00e4lt es sich mit dem Lichtenberg-sehen \u201eMesser ohne Klinge, woran der Stiel fehlt44; mit der Erkl\u00e4rung, Napoleon III. f\u00fchre diesen Namen, weil es ja keinen Napoleon II. gegeben habe; mit der Meditation: wie gl\u00fccklich, dafs ich Sauerkraut nicht liebe, denn, wenn ich es liebte, w\u00fcrde ich davon essen, es schmeckt aber gar zu schlecht, \u2014 und mit allen komischen Paralogismen \u00fcberhaupt. Schliefslich m\u00f6chte ich hierzu noch einige F\u00e4lle rechnen, von denen man oft annimmt, dafs sie rein physiologischer Natur sind, bei denen aber die Mitwirkung psychischer Faktoren sich zum Teil sowohl durch Selbstwahrnehmung und Experiment feststellen, als theoretisch verst\u00e4ndlich machen l\u00e4fst. Ich denke hierbei ganz besonders an den komischen Effekt intermittierender Hautreize beim Kitzeln. Dafs hierbei psychische Momente beteiligt sind, geht schon aus der Thatsache hervor, dafs man sich selbst nicht kitzeln kann; welche diese psychischen Momente sind, l\u00e4fst sich wenigstens vermuten. Die nach Ort und St\u00e4rke regellos wechselnden, auf unseren K\u00f6rper gerichteten Stofsbewegungen eines Anderen erregen die unbestimmte, aber sehr lebhafte Vorstellung einer drohenden Gefahr, w\u00e4hrend wir doch theoretisch sehr wohl wissen, dafs es sich um nichts Gef\u00e4hrliches handelt; indem wir nun zwischen diesen beiden Auffassungen hin- und hergeworfen werden, gewinnt abwechselnd der Bewufstseinsinhalt Bedeutsamkeit und b\u00fcfst dieselbe wieder","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"\u00c4sthetische Untersuchungen in Anschlu\u00df an d. Tipps sehe Theorie d. Komischen. 43\nein, Spannung und Entspannung l\u00f6sen sich, ab, und die Komik ist da. Daher der scheinbare Widerspruch, dafs der Gekitzelte die Sache mit Lust empfindet und dennoch nicht umhin kann, abwehrende Bewegungen auszuf\u00fchren, sowie die Thatsache, dafs die ununterbrochen festgehaltene Vorstellung von der Ungef\u00e4hrlichkeit und Nichtigkeit der ganzen Geschichte gen\u00fcgt, um den Reiz zum Lachen vollst\u00e4ndig aufzuheben. Aus \u00e4hnlichen Ursachen lachen \u00fcbrigens Kinder, wenn man sie zum Scherz hart anf\u00e4hrt, Damen im schaukelnden Ruderboot, nerv\u00f6se Personen, wenn sie eine Tischrede halten m\u00fcssen, und viele andere. Und in \u00e4hnlicher Weise wird es auch wohl zu erkl\u00e4ren sein, dafs bei manchen Personen akute, lokal oder intensiv wechselnde, nur nicht zu heftige K\u00f6rperschmerzen, kalte Wasser-douchen und schwache, durch den K\u00f6rper gef\u00fchrte Induktionsstr\u00f6me einen unwiderstehlichen Reiz zum Lachen abgeben.\nIch glaube nat\u00fcrlich nicht, im Vorhergehenden eine auch nur einigermafsen vollst\u00e4ndige \u00dcbersicht der verschiedenen Arten gegeben zu haben, in welchen der Wahrnehmungs- oder Vorstellungsprozefs auf die komische Gef\u00fchlserregung f\u00fchren kann. \u00dcberhaupt hat diese Arbeit keinen systematischen Zweck; sie versucht blofs, nachzuweisen, dafs manche That-sachen, welche Lipps entweder unbeachtet gelassen oder in einer mir nicht befriedigend scheinenden Weise erkl\u00e4rt hat, sich seiner Theorie ohne Zwang unterordnen lassen und so zur Best\u00e4tigung derselben neues Material beitragen.","page":43},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"\u00c4sthetische Untersuchungen in Anschlufs an die Lippssche Theorie des Komischen.\nVon\nG. \u00dcEYMANS in Groningen.\nII.\nIm vierten Abschnitt seiner Abhandlung macht Lipps, an-l\u00e4fslich einer Er\u00f6rterung \u00fcber das Verh\u00e4ltnis der komischen Lust zur Lust im allgemeinen, die folgende Bemerkung:\n\u201eLust entsteht allgemein, wenn einem seelischen Geschehen von seiten des seelischen Wesens oder seiner Inhalte Unterst\u00fctzung, F\u00f6rderung, Entgegenkommen zu teil wird; Unlust hat ihren Grund in Hemmung, Gegensatz, Zwang. Lust entsteht aus der Verbindung zweier harmonischer T\u00f6ne, weil jeder dem anderen verm\u00f6ge der zwischen ihnen bestehenden Verwandtschaft entgegenkommt, aus der Wahrnehmung einer regelm\u00e4fsigen geometrischen Figur, weil die \u00fcbereinstimmenden Teile verm\u00f6ge ihrer \u00dcbereinstimmung aufeinander hinweisen. Die T\u00f6ne kommen einander entgegen, die \u00fcbereinstimmenden Teile weisen aufeinander hin, statt dessen kann ich ebensogut sagen, sie erleichtern sich gegenseitig die Aneignung seelischer Kraft, machen sich dieselbe wechselseitig frei oder verf\u00fcgbar\u201c (a. a. O. XXV. S. 140).\nIn diesen wenigen Worten ist, wie ich glaube, der Keim einer neuen, \u00fcberaus einfachen und durchsichtigen, den That-sachen in geradezu \u00fcberraschender Weise sich anschliefsenden Theorie des \u00e4sthetischen Gef\u00fchles enthalten. Lipps selbst hat den von ihm ausgesprochenen Gedanken f\u00fcr das Gebiet der \u00c4sthetik meines Wissens nicht weiter ausgef\u00fchrt, vielmehr \u00fcberall sonst die assoziative Wirkung des Wahrgenommenen als den wesentlichen Grund des \u00e4sthetischen Wohlgefallens","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334\nG. Heymans.\nhingestellt. Ich habe nun gewifs nicht die Absicht, die Bedeutung dieses Faktors zu leugnen oder herabzusetzen; vielleicht aber l\u00e4fst er sich jenem anderen unterordnen. Jedenfalls w\u00e4re es sonderbar, wenn harmonische Tonverbindungen und regelm\u00e4fsige Figuren nach einem anderen letzten Prinzip sch\u00f6n gefunden werden sollten, als Landschaften und menschliche Figuren; in irgend welcher Hinsicht, scheint es, m\u00fcssen doch alle sch\u00f6nen Gegenst\u00e4nde eine gemeinsame Eigenschaft besitzen oder in einer gemeinsamen Beziehung zum Bewufstsein stehen, kraft derer denselben eben jener gemeinsame Name beigelegt worden ist.\nDafs nun dieses gemeinsame Moment einfach in der assoziativen Wirkung des Wahrgenommenen zu suchen w\u00e4re, dergestalt, dafs die sch\u00f6nen Gegenst\u00e4nde ihren Gef\u00fchlswert ausschliefslich den bedeutsamen Vorstellungen entlehnten, an welche sie erinnern, scheint mir wenig glaublich. Denn erstens m\u00fcfste, wenn es sich so verhielte, der spezifische Charakter des \u00e4sthetischen Gef\u00fchles als eine T\u00e4uschung verworfen werden; die einzelnen \u00e4sthetischen Gef\u00fchlserregungen m\u00fcfsten unter sich eine ebensogrofse Verschiedenheit erkennen lassen wie die Gef\u00fchlserregungen \u00fcberhaupt; umgekehrt aber w\u00e4re zu erwarten, dafs jede \u00e4sthetische Gef\u00fchlserregung einer bestimmten nicht\u00e4sthetischen (derjenigen, auf deren Wiederbelebung sie eben beruht) \u00e4hnlicher w\u00e4re, als allen anderen \u00e4sthetischen Gef\u00fchlserregungen. Keines von beiden scheint die Selbstwahrnehmung zu best\u00e4tigen. Sodann w\u00e4re nicht einzusehen, warum nicht s\u00e4mtliche an reproduzierten Vorstellungen haftenden Lustgef\u00fchle den \u00e4sthetischen beigez\u00e4hlt werden; warum also z. B. der Genufs, den das Zur\u00fcckdenken an freudvolle Erlebnisse gew\u00e4hrt, nicht als \u00e4sthetische Lust empfunden und bezeichnet wird. Und schliefslich bliebe unerkl\u00e4rt, dafs oft auch Gegenst\u00e4nde, an welche sich nur indifferente oder selbst unlustbetonte Assoziationen anschliefsen, dennoch sehr bestimmt als \u00e4sthetisch wertvoll beurteilt werden. Man denke etwa an charakteristische Scenen aus dem Volksleben, an niederl\u00e4ndische Genrebilder, an gute Portr\u00e4ts unbedeutender oder h\u00e4fslicher Personen, an realistische \u00dfomane und an vieles andere. In allen diesen F\u00e4llen hat der Kenner, der sich von dem Gegenst\u00e4nde \u00e4sthetisch erbauen l\u00e4fst, vor dem Laien eben dieses voraus, dafs er gelernt hat, auf die assoziierten","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"\u00c4sthetische Untersuchungen in Anschlufs an d. Lippssche Theorie d. Komischen. 335\nVorstellungen, welche jenem den Genufs verderben, nicht mehr zu achten, f\u00fcr den Augenblick alle Wertbegriffe zu vergessen, und sich der reinen Freude des Wahrnehmens voll und ganz hinzugeben.\nWorauf beruht nun aber diese \u201ereine Freude des Wahrnehmens \u201c?\nWir haben oben gesehen, wie Lipps diese Frage f\u00fcr einen bestimmten Fall, denjenigen regelm\u00e4fsiger Figuren und harmonischer Tonverbindungen, beantwortet. Die einzelnen Teile der Ton- oder Linienverbindung \u201ekommen einander entgegen\u201c, \u201eweisen aufeinander hin\u201c, \u201eerleichtern sich gegenseitig die Aneignung seelischer Kraft\u201c. Ich versuche zuerst den Sinn dieser Erkl\u00e4rung etwas genauer zu bestimmen, sodann die Frage zu beantworten, ob sich vielleicht auch bei anderen Erscheinungsformen der \u00e4sthetischen Lust gleiche oder \u00e4hnliche Verh\u00e4ltnisse feststellen lassen.\nF\u00fcr jene genauere Formulierung hat Lipps selbst durch den Hinweis auf verwandte und entgegengesetzte F\u00e4lle das erw\u00fcnschte Material herbeigeschafft. Er l\u00e4fst einerseits, wie wir fr\u00fcher gesehen haben, aus dem Abermals seelischer Kraft, welches einem relativ Bedeutungslosen zur Verf\u00fcgung steht, die eigent\u00fcmliche komische Lust hervorgehen; und er f\u00fchrt andererseits aus, dafs starke Sinneseindr\u00fccke, welche uns unvorbereitet treffen, ein momentanes, mitunter sehr lebhaftes Unlustgef\u00fchl erzeugen, welches wir als Schreckgef\u00fchl bezeichnen (XXV. S. 140). Die neuere Psychologie hat f\u00fcr diese Verh\u00e4ltnisse den bequemen Ausdruck Anpassung der Aufmerksamkeit eingef\u00fchrt; wir sagen also, dafs, je nachdem die Aufmerksamkeit einer Vorstellung von weit gr\u00f6fserer oder weit geringerer psychischer Energie, als die nachfolgende Wahrnehmung besitzt, angepafst ist, entweder das Lustgef\u00fchl des Komischen oder das Unlustgef\u00fchl des Schreckens entsteht. Wie nun aber, wenn jener Vorstellung und dieser Wahrnehmung gleiche oder nahezu gleiche psychische Energie zukommt? Dann lassen sich wieder zwei F\u00e4lle unterscheiden: entweder die beiden sind auch von gleicher Qualit\u00e4t, oder nicht. Im letzteren Falle erfordert die \u00dcbertragung der Aufmerksamkeit von einer auf die andere ein gewisses Mafs psychischer Arbeit, im ersteren dagegen verl\u00e4uft der Prozefs leicht und m\u00fchelos; jene Arbeit tr\u00e4gt im allgemeinen den Charakter der Unlust,","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"336\nG. Heymans.\ndiese M\u00fchelosigkeit den Charakter der Lust an sich. Dabei ist allerdings nicht zn vergessen, dafs in beiden F\u00e4llen das Interesse f\u00fcr die aufeinanderfolgenden Bewufstseinsinhalte zu schwach sein kann, um die begleitenden Gef\u00fchle \u00fcber die Schwelle zu heben; daher wir denn beispielsweise keine merkliche Unlust empfinden, wenn auf der Strafse die verschiedensten Wahrnehmungen sich in bunter Folge unserem Auge dar bieten, noch auch merkliche Lust, wenn wir beim Betreten unseres Zimmers die M\u00f6bel an altgewohnter Stelle wiederfinden. So oft dagegen die Wahrnehmung selbst und der Bewufstseins-inhalt, in welchen die Wahrnehmung hineinf\u00e4llt, in irgendwie bedeutendem Grade die Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, l\u00e4fst sich die Gef\u00fchlsreaktion ohne Schwierigkeit feststellen; je nachdem wir auf ein anderes oder auf eben dasjenige vorbereitet sind, was uns in der Wahrnehmung erscheint, empfinden wir entweder die Unlust des Gest\u00f6rtwerdens, oder das Wohlgef\u00fchl des leichten Hin\u00fcbergleitens. Das zeigt sich in einfachster Form schon bei psychologischen Beaktionsversuchen : ein st\u00e4rkerer Eindruck, als erwartet wurde, erzeugt einen leichten Schrecken; ein schw\u00e4cherer reizt zum Lachen; ein qualitativ ver\u00e4nderter ber\u00fchrt unangenehm ; ein Eindruck aber, welcher vollst\u00e4ndig der Erwartung entspricht, wird mit merklicher Lust aufgefafst. Weitere Beispiele bietet das Leben in \u00dcberfiufs. Wenn bedeutsame, sei es auch peinliche, Gedanken uns besch\u00e4ftigen, st\u00f6rt uns eine fremde Zurede; ein an sich nicht unangenehmer Besuch erweckt, wenn wir einen anderen bestimmt erwarteten, ein momentanes Unbehagen. Wenn wir zum ersten Male der Auff\u00fchrung eines Lieblingsdramas beiwohnen oder Illustrationen zu einem Lieblingsbuche sehen, finden wir uns fast immer entt\u00e4uscht: weil wir eben unsere Vorstellung von Personen und Situationen schon mitbringen, welcher die dargebotene nur ausnahmsweise genau entspricht. Umgekehrt wird Derjenige, der nach langer Abwesenheit eine bekannte Gegend wiedersieht, jeden einzelnen Gegenstand mit Lust betrachten: das durch die Trennung erst\u00e4rkte Interesse hat die alten Erinnerungen wieder in Bereitschaft gesetzt, und indem diese jeder einzelnen Wahrnehmung entgegenkomm en, wird die m\u00fchelose Aneignung der am Auge vor\u00fcberziehenden Bilder zum Genufs. \u00c4hnlich verh\u00e4lt es sich, wenn wir uns im Auslande lange Zeit mit einer fremden Sprache m\u00fchsam herum-","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"\u00c4sthetische Untersuchungen in Anschlufs an d. L ipp ssehe Theorie d. Komischen. 337\ngeschlagen haben und nun auf einmal einem Landsmann begegnen, der uns in der Muttersprache anredet: die Unterhaltung ist vielleicht an sich sehr wenig interessant, aber wir freuen uns der Leichtigkeit, mit welcher sozusagen der Sinn des Gesprochenen in uns hin\u00fcbergleitet. \u00dcbrigens kann die gleiche Wirkung, welche in diesen F\u00e4llen aus psychischen Ursachen entsteht, auch durch \u00e4ufsere Umst\u00e4nde hervorgerufen werden. Wenn ein .Redner mit schwacher und undeutlicher Stimme durch einen anderen mit besseren Organen abgel\u00f6st wird; wenn der Nebel, der uns eine interessante Aussicht verdirbt, hinwegzieht; wenn das Bild im Mikroskop oder auf dem Projektionsschirm durch Verstellung der Linsen auf einmal scharfe Umrisse bekommt, so reagieren wir mit Unlust- und Lustgef\u00fchlen, welche den fr\u00fcher besprochenen wesensverwandt erscheinen, und, genau so wie diese, auf Erschwerung oder Erleichterung des Wahrnehmungsprozesses beruhen.\nIch glaube nun, dafs die \u00e4sthetische Lust mit jener auf intensive und qualitative Anpassung der Aufmerksamkeit an den Wahrnehmungsinhalt beruhenden vollkommen identisch ist; dafs wir aber diejenigen Gegenst\u00e4nde als sch\u00f6n bezeichnen, welche nicht vor\u00fcbergehend und in Verbindung mit zuf\u00e4lligen Umst\u00e4nden, sondern durch ihre Beschaffenheit und durch ihre assoziativen Beziehungen nach innen und aufsen, die Aufmerksamkeit dem Wahrnehmungsinhalte anpassen und so die Auffassung desselben erleichtern. Diese S\u00e4tze werde ich im Folgenden zu begr\u00fcnden versuchen.\nBekanntlich sind es der Hauptsache nach zwei Momente, welche eine hochgradige Anpassung der Aufmerksamkeit an eine bestimmte Wahrnehmung zu st\u00e4nde bringen: erstens die vorhergehende Richtung der Aufmerksamkeit auf Vorstellungen, welche der Wahrnehmung gleich oder \u00e4hnlich \u2014, zweitens auf solche, welche mit der Wahrnehmung assoziativ verbunden sind. Wenn wir mit Wahrnehmungen aus einem bestimmten Sinnesgebiete besch\u00e4ftigt sind, ziehen andere Wahrnehmungen aus dem n\u00e4mlichen Gebiete eher unsere Aufmerksamkeit aui sich, als solche, welche einem anderen Sinnesgebiete angeh\u00f6ren; in einem bekannten HELMHOLTZschen Versuche wird die Aufmerksamkeit den schwachen Obert\u00f6nen eines gegebenen Grundtones dadurch angepafst, dafs diese Obert\u00f6ne vorher ge-\n22\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XI.","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nG. Heymans.\nsondert oder verst\u00e4rkt dem Ohre zugef\u00fchrt werden. Andererseits bringt jeder Ton aus einer bekannten Melodie eine Anpassung der Aufmerksamkeit an den folgenden, assoziativ mit jenem verbundenen Ton zu st\u00e4nde; ein zuerst unmerklicher Geruch wird erkannt, wenn der Name desselben genannt, oder der Gegenstand, welchem er zukommt, wahrgenommen wird; und ein Wort, welches im momentanen Gedankenkreis passende Vorstellungen anregt, wird verstanden, w\u00e4hrend tausend andere Worte unverstanden am Bewufstsein vor\u00fcbergehen. Es gilt also, nachzuweisen, dafs \u00fcberall, wo anerkanntermafsen \u00e4sthetische Gef\u00fchle auftreten, eines von diesen beiden Momenten, gegeben ist.\n\u00c4sthetische Gef\u00fchle treten nun unter sehr verschiedenen Umst\u00e4nden auf. Seit Fechner unterscheidet man einen direkten und einen indirekten Faktor, eine formale und eine assoziative Sch\u00f6nheit; d. h. man stellt zwei empirische Gesetze auf, nach welchen erstens Gegenst\u00e4nde, welche Einheit in der Mannigfaltigkeit erkennen lassen, sodann solche, welche wertvolle Assoziationen erwecken, \u00e4sthetische Lust hervorbringen. Den Sinn dieser Formeln genauer zu bestimmen, wird sich sp\u00e4ter Gelegenheit finden ; ihre Dichtigkeit im grofsen und ganzen ist unbedingt anzuerkennen. Dagegen decken sie keineswegs das ganze \u00e4sthetische Gebiet. Die typische Sch\u00f6nheit und die Sch\u00f6nheit der gelungenen Nachahmung, welche beide von hervorragenden \u00c4sthetikern ausschliefslich ihren Theorien zu Grunde gelegt und von grofsen Kunstschulen ausschliefslich nachgestrebt worden sind, bringen es auch ohne Einheit in der Mannigfaltigkeit oder wertvolle Assoziationen fertig, den Kenner \u00e4sthetisch zu befriedigen; gewifs d\u00fcrfen dieselben weder unserer Theorie, noch unserem pers\u00f6nlichen Geschmacke zuliebe vernachl\u00e4ssigt werden. Wir haben also mindestens vier Arten der Sch\u00f6nheit zu unterscheiden und an jeder derselben die Leistungsf\u00e4higkeit unserer Theorie zu erproben.\nDie formale Sch\u00f6nheit wird gew\u00f6hnlich als Einheit in der Mannigfaltigkeit bestimmt; was man aber unter Einheit in der Mannigfaltigkeit zu verstehen hat, ist keineswegs so klar,, dafs es nicht eine n\u00e4here Bestimmung erfordern sollte. Man k\u00f6nnte glauben und man hat geglaubt, dafs zur formal\u00e4sthetischen Wirkung schon die blofs \u00e4ufserliche Verbindung der Einheit mit der Mannigfaltigkeit gen\u00fcge; dafs dieselbe also-","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"\u00c4sthetische Untersuchungen in Anschlufs an d. L ipp ssche Theorie d. Komischen. 339\ngegeben sei, so oft die simultan oder successiv wakrgenommenen Teile eines Ganzen in einigen Merkmalen \u00fcbereinstimmen, in anderen sieb, voneinander nntersebeiden. So einfach verh\u00e4lt sich aber die Sache nicht; sonst m\u00fcfste schon eine unregel-m\u00e4fsig mit gleichfarbigen Klecksen betupfte Fl\u00e4che oder auch ein Trupp in gleicher Uniform gekleideter Soldaten sch\u00f6n gefunden werden. Vielmehr scheint in den mannigfaltigen Merkmalen selbst eine gewisse Einheit erfordert zu sein; dergestalt, dafs sich die Mannigfaltigkeit derselben einer Regel unterordnet, welche f\u00fcr alle Teile des Ganzen gilt; dafs also, wer die Regel kennt, aus einem Teile das Ganze konstruieren kann. In einfachster Weise wird dieser Forderung gen\u00fcgt, wenn die Teile des Wahr genommenen sich inhaltlich vollst\u00e4ndig gleichen und nur zeitlich oder r\u00e4umlich verschieden sind; also beim Sehen einer geraden Linie oder einer gleichm\u00e4fsig gef\u00e4rbten Fl\u00e4che, beim H\u00f6ren eines reinen, w\u00e4hrend kurzer Zeit angehaltenen Tones u. s. w. Es ist leicht einzusehen, dafs in solchen F\u00e4llen die Aufmerksamkeit fortw\u00e4hrend durch die Wahrnehmung eines Teiles derjenigen der anderen Teile an-gepafst wird, woraus sich das Auftreten eines allerdings nur schwachen und bald durch die Unlust der Langeweile \u00fcberfl\u00fcgelten Lustgef\u00fchls nach den obigen Prinzipien von selbst erkl\u00e4rt. Bei zunehmender Mannigfaltigkeit wird die Sache nicht wesentlich anders; was hinzukommt, sind assoziative Verbindungen zwischen den Vorstellungen ungleicher Teile, welche eine abwechselnde Anpassung der Aufmerksamkeit an diese Teile erm\u00f6glichen. Die Regel, welche das Mannigfaltige verbindet, kann beispielsweise fordern, dafs in bestimmten r\u00e4umlichen Entfernungen oder zeitlichen Intervallen gleiche Teile regelm\u00e4fsig mit anderen gleichen Teilen abwechseln (einfache Muster, rhythmische Schallfolgen u. s. w.); dann bieten si^h diese Teile dem Auge oder dem Ohr in einer festen, etwa durch die Buchstaben ab c a h c a . . . vorzustellenden Reihenfolge dar; und es entstehen alsbald zwischen a und 6, b und c, c und a assoziative Verbindungen, infolgederer jeder zur Wahrnehmung gelangende Teil die Aufmerksamkeit dem sofort nachher wahrzunehmenden Teile adaptiert. \u00c4hnliches ergiebt sich bei regel-m\u00e4fsigen geometrischen Figuren; wenn wir etwa die Cirkum-ferenz mit dem Auge verfolgen, so kehren jedesmal die gleichen Richtungs\u00e4nderungen, Linienl\u00e4ngen, Verzierungen in\n22*","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340\nG. Heymans.\nkonstanter Reihenfolge zur\u00fcck; und sobald wir genug von der Figur gesehen haben, um die entsprechenden Assoziationen auszubilden, sind wir stets auf eben dasjenige vorbereitet, was thats\u00e4chlich erscheint. Wird die Regel weniger einfach, wie bei Arabesken, so komplizieren sich die Assoziationen in entsprechender Weise; die durch die gr\u00f6fsere Mannigfaltigkeit bewirkte Steigerung des Interesses und die oft damit verbundene Mehrung der Einheitsbez\u00fcge erh\u00f6hen zun\u00e4chst das resultierende Lustgef\u00fchl, bis schliefslich ein Punkt erreicht wird, wo die Komplikation zu grofs, die Einheit unfafsbar und die \u00e4sthetische Lust zu nichte wird. \u2014 Die Anwendung des n\u00e4mlichen Gesichtspunktes auf Ton- und Farbenharmonie, auf die Einheit des mannigfach reflektierten Lichtstrahles, auf Metrum, Reim und Allitteration, und auf die Einheit der Stimmung, welche von einem Gedicht oder einer Landschaft, die Einheit der Handlung, welche von einem Roman oder Drama verlangt wird, liegt zu nahe, um weitere Ausf\u00fchrung zu erfordern.\nAuch in betreff der assoziativen Sch\u00f6nheit wird es n\u00fctzlich sein, dem Yersuche der Erkl\u00e4rung einige thats\u00e4chliche Bemerkungen vorhergehen zu lassen. Wenn man n\u00e4mlich versucht, \u00fcber die hierhergeh\u00f6rigen Erscheinungen einen \u00dcberblick zu gewinnen, so stellt sich alsbald heraus, dafs einerseits nicht ausschliefslich wertvolle Assoziationen, andererseits auch nicht alle wertvollen Assoziationen dazu hinreichen, diese Art der Sch\u00f6nheit zu st\u00e4nde zu bringen. F\u00fcrs erste haben von jeher das Gr\u00e4fsliche und Schauderhafte, menschliches Elend und menschliche Bosheit, Hafs und Verneinung auf viele Gem\u00fcter, welche dieselben sehr bestimmt als verwerflich empfanden, einen geheimnisvollen Reiz ausge\u00fcbt; und wenn Andere von dem Genufs, welchen die Vertiefung in dieses Verwerfliche gew\u00e4hren kann, wenig sp\u00fcren, so liegt es nahe, zu vermuten, dafs derselbe hier durch die st\u00e4rkere Unlust aus dem Inhalte des Vorgestellten zur\u00fcckgedr\u00e4ngt worden sei. F\u00fcrs zweit\u00a9 zeigen sich aber manche ausgesprochen wertvolle Assoziationen \u00e4sthetisch vollkommen wirkungslos. So vornehmlich die Zweckassoziationen: der Anblick einer schmackhaften Speise, eines bequemen Sessels, eines brauchbaren Werkzeugs kann sehr angenehme Vorstellungen wachrufen, ohne uns zu veranlassen, jenen Gegenst\u00e4nden auch nur die geringste \u00e4sthetische Be-","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"\u00c4sthetische Untersuchungen in Anschlufs an d. L ippssche Theorie d. Komischen. 341\ndeutung beizulegen. Aber auch andere : der h\u00e4fsliche Gegenstand, den man an einem sch\u00f6nen Tage geschenkt bekommen hat, erscheint dadurch, dafs er an diesen Tag erinnert, nicht sch\u00f6ner; das Haus, in welchem ich eine interessante Bekanntschaft gemacht oder einen bedeutsamen Entschlufs gefafst habe, wird dadurch nicht zum Gegenst\u00e4nde \u00e4sthetischer Lust. Stellt man nun diesen und \u00e4hnlichen F\u00e4llen andere gegen\u00fcber, in welchen durch Assoziationen die h\u00f6chste \u00e4sthetische Lust hervorgerufen wird; denkt man etwa an den unsagbaren Beiz einer stimmungsvollen Landschaft oder eines interessanten Gesichts, welche tausend Gedanken erregen, eben deshalb aber keinen einzigen zu klarer Vorstellung gelangen lassen, so scheint es fast, als ob die wertvollen, mit der gegebenen Wahrnehmung assoziativ verbundenen Vorstellungen unter der Schwelle des Bewufstseins bleiben m\u00fcssen, um ihre \u00e4sthetische Mission ganz zu erf\u00fcllen. In der That b\u00fcfst, sobald bei der Betrachtung einer landschaftlich oder historisch interessanten Gegend bestimmte assoziierte Vorstellungen in den Vordergrund des Bewufstseins treten, das begleitende Gef\u00fchl sofort den spezifisch \u00e4sthetischen Charakter ein. Wenn ein hell erleuchtetes Fenster uns an trauliches Zusammensein, oder eine Schlofsruine an die Bitterzeit erinnert, k\u00f6nnen beide m\u00e4chtig \u00e4sthetisch wirken; denken wir aber bei jenem an einen bestimmten gem\u00fctlichen Abend aus unserem Leben, bei diesem an ein bestimmtes historisches Ereignis, welches sich dort abspielte, so wird der Genufs vielleicht nicht verringert, aber jedenfalls ver\u00e4ndert und spezialisiert.\nFragen wir nun zun\u00e4chst ganz allgemein, wie sich die \u00e4sthetische Wirkung gef\u00fchlsbetonter Assoziationen deuten lasse, so scheint mir folgende Antwort den vorliegenden Thatsachen und dem unmittelbaren Zeugnis der Selbstwahrnehmung am besten zu entsprechen. Die assoziative Verbindung ist bekanntlich eine gegenseitige: sind zwei Vorstellungen a und b assoziiert, so dafs a b reproduziert, so wird auch b die Tendenz haben, a zu reproduzieren. Ist uns also ein Gegenstand in der Wahrnehmung gegeben, mit welchem manche andere assoziativ verbunden sind, so hebt allerdings zun\u00e4chst der erstere die anderen ins Bewufstsein empor; sind aber die letzteren in gen\u00fcgender Weise gef\u00fchlsbetont, so haften sie aus eigener Kraft in der Seele und wirken nun ihrerseits assoziierend auf","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342\nG. Heymans.\ndie Vorstellung des walirgenommenen Gegenstandes. Dadurch aber passen sie die Aufmerksamkeit dieser Vorstellung an, halten dieselbe im Zentrum des Bewufstseins fest und er-leichtern so die Fortsetzung der entsprechenden Wahrnehmung. Das Wahrnehmungsbild erscheint wie getragen von den assoziierten Vorstellungen; diese bleiben zwar im Hintergr\u00fcnde und werden kaum gesondert aufgefafst; indem sie aber alle auf jenes hinweisen, sind sie zusammen stark genug, demselben die ununterbrochene Herrschaft im Bewufstsein zu wahren. \u2014 Ich erlaube mir, die Bedeutung der hervorgehobenen Momente durch den Hinweis auf entgegengesetzte und verwandte F\u00e4lle zu erl\u00e4utern. An dem v\u00f6llig Vereinzelten, aufser jeder Verbindung mit anderen Vorstellungen Stehenden gleitet die Wahrnehmung sozusagen ab; dasselbe findet nichts im Bewufstsein vor, woran es sich festkn\u00fcpfen k\u00f6nnte, und erfordert darum zur aufmerksamen Betrachtung eine m\u00fchsam fortgesetzte Anstrengung des Willens. Der ungebildete Mensch, dem man einen wissenschaftlichen Apparat oder eine ihm unbekannte Pflanze vorlegt, wird kaum im st\u00e4nde sein, diese Gegenst\u00e4nde w\u00e4hrend zwei oder drei Minuten nicht nur mit dem Auge, sondern auch mit dem Geiste zu fixieren; er wird in mehreren Stunden sich kein so deutliches und vollst\u00e4ndiges Bild davon erwerben, wie der Fachmann in wenigen Augenblicken. Es fehlt eben die auf assoziativen Verbindungen beruhende Anpassung der Aufmerksamkeit; es gelingt nicht, \u201ein den Gegenstand hineinzukommen\u201c, und darum wird die Wahrnehmung, wenn \u00fcberhaupt versucht, zur schweren und dennoch wenig erfolgreichen Arbeit. \u2014 Als ein verwandter Fall stellt sich sodann der assoziativen Erleichterung des Wahrnehmens die assoziative Erleichterung des Behaltens zur Seite. Bekanntlich haftet das Artikulierte und vielseitig Ausgepr\u00e4gte besser im Ged\u00e4chtnis als das Einfache und Unzusammengesetzte; die verbundenen Glieder st\u00fctzen sich gegenseitig gegen den Andrang fremder Vorstellungsmassen und bieten nachher der Be-produktionsth\u00e4tigkeit mehrere Handhaben dar, das Ganze \u00fcber die Schwelle des Bewufstseins zu heben. Einen solchen vielseitig ausgepr\u00e4gten Bewufstseinsinhalt bildet nun auch das assoziativ Sch\u00f6ne mitsamt den ihm verbundenen Vorstellungen; es besteht nur der doppelte Unterschied, dafs hier erstens die Assoziation nicht jedes Element mit jedem anderen, sondern","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"\u00c4sthetische Untersuchungen in Anschlufs an cl. L ipp s sehe Theorie d. Komischen. 343\nalle mit einer zentralen Vorstellung, eben derjenigen des sch\u00f6nen Gegenstandes, verkn\u00fcpft; und dafs zweitens dieser die volle Energie des Wahrnehmungs-, jenen dagegen nur die geringere des Erinnerungsbildes zukommt. Unter solchen Umst\u00e4nden ist es verst\u00e4ndlich, dafs nicht nur die Wahrnehmungsund die damit assoziierten Erinnerungsvorstellungen zusammen sich gegen alle fremden Vorstellungen im Bewufstsein behaupten, sondern dafs auch ihre gegenseitige Unterst\u00fctzung in ganz besonderem Mafse der Wahrnehmungsvorstellung zu gute kommt. Man k\u00f6nnte hier von einer Art Selbststeuerung reden: sobald das Interesse f\u00fcr den Wahrnehmungsinhalt erschlafft, verteilt sich die verf\u00fcgbar gewordene psychische Kraft \u00fcber die sonstigen im Bewufstsein gegenw\u00e4rtigen Vorstellungen und verhilft ihnen zu gr\u00f6fserer Wirksamkeit; indem aber diese s\u00e4mtlich mit jenem assoziativ verbunden sind, f\u00fchren sie alsbald die Aufmerksamkeit wieder auf das gemeinsame Zentrum zur\u00fcck. Daher der eigentliche Beiz der assoziativen Sch\u00f6nheit, die wunderbare Kraft, mit welcher sie das empf\u00e4ngliche Gem\u00fct fesselt, und welche es uns ebensoschwer werden l\u00e4fst, von einem sch\u00f6nen Gegenst\u00e4nde uns loszureifsen, als einem unbedeutenden dauernd die Aufmerksamkeit zuzuwenden.\nIst die hier gebotene Erkl\u00e4rung richtig, so ist dadurch noch manches Andere mit erkl\u00e4rt. So erstens die \u00e4sthetische Bedeutung des \u00d6den, Traurigen, Schrecklichen; der gottverlassenen Haide, der geheimnifsvollen Nacht, der herzersch\u00fctternden Trag\u00f6die; auf niedrigerer Bildungsstufe der Beiz von Verbrecher- und Spukgeschichten, Stiergefechten, Gladiatorenk\u00e4mpfen und Hinrichtungen. Alle diese Gegenst\u00e4nde erwecken unlustbetonte Assoziationen; und es l\u00e4fst sich kaum bezweifeln, dafs ihre \u00e4sthetische Bedeutung mindestens zum Teil auf diesen unlustbetonten Assoziationen beruht. Dies zu verstehen, hat man zu bedenken, dafs starke Unlustgef\u00fchle, ebenso wie starke Lustgef\u00fchle, das Bewufstsein vollst\u00e4ndig in Anspruch nehmen; eine Wahrnehmung, welche intensiv-unlustbetonte Vorstellungen erweckt, wird also durch diese in gleicher Weise gef\u00f6rdert, die Abwendung der Aufmerksamkeit von derselben in gleicher Weise erschwert, wie es durch lustbetonte Vorstellungen geschieht. Die erleichterte Wahrnehmung mufs an und f\u00fcr sich auch hier Lust ergeben; dieser Lust steht aber die Unlust","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344\nG. Heymans.\nans dem Inhalte der assoziierten Vorstellungen gegen\u00fcber, und es entsteht ein Konflikt, dessen Ausgang nach Personen und Umst\u00e4nden verschieden sein wird. Eine blutige Strafsenscen\u00a9 ist nur f\u00fcr ganz rohe Leute mit geringer Sensibilit\u00e4t und schwacher Phantasie ein Gegenstand der Lust; der H\u00f6her-gebildete empfindet dabei nur Abscheu, obgleich vielleicht eben dieser Abscheu es ihm schwer macht, sich dem Bann\u00a9 des grauenerregenden Schauspiels zu entreifsen. Die Vorstellung \u00e4hnlicher Scenen im Bilde oder auf der B\u00fchne erzeugt durch die bekannte Unwirklichkeit des Vorgestellten schon eine weit schw\u00e4chere Unlustreaktion und kann darum auch auf etwas h\u00f6herer Bildungsstufe noch einen Lust\u00fcberschufs gew\u00e4hren ; der H\u00f6chstgebildete aber braucht alle die kompensierenden H\u00fclfsmittel der Trag\u00f6die, um die aus Unlustassoziationen resultierende Lust der leichten \"Wahrnehmung wirklich als solche zu empfinden. Und nur da, wo die assoziierten Vorstellungen so schwach und unbestimmt sind, dafs sie keine deutliche Auffassung gew\u00e4hren, gleichzeitig aber zahlreich genug, um eine ihrem Gef\u00fchlston entsprechende schwerm\u00fctige Stimmung hervorzurufen, also etwa beim Betrachten einer Herbstlandschaft oder beim H\u00f6ren eines Trauermarsches, kann ein nahezu einheitliches, allerdings durch jene Grundstimmung merklich ged\u00e4mpftes Lustgef\u00fchl aus reinen Unlustassoziationen sich ergeben.\nDies f\u00fchrt uns sofort auf den zweiten Punkt. Die obenerw\u00e4hnte Gefahr, dafs die formale, auf der Erleichterung des Wahrnehmens beruhende \u00e4sthetische Lust durch die materialen, eben jene Erleichterung bedingenden Gef\u00fchle aus den assoziierten Vorstellungen verdr\u00e4ngt wird, scheint mir n\u00e4mlich noch gr\u00f6fser zu sein, wo wir es mit lustbetonten, als wo wir es mit unlustbetonten Assoziationen zu thun haben. Im letzten Palle h\u00e4lt der qualitative Gegensatz des \u00e4sthetischen und des assoziativen Gef\u00fchls dieselben auseinander; im ersteren dagegen schmelzen dieselben leicht zu einem Gef\u00fchlskomplex zusammen, dessen spezifische Qualit\u00e4t durch diejenige der Hauptbestandteile bestimmt wird. Demzufolge k\u00f6nnen Unlustassoziationen einen bedeutenden Grad der St\u00e4rke und Deutlichkeit besitzen, ohne doch die Lust \u201cder m\u00fchelosen Betrachtung ganz unmerklich zu machen, w\u00e4hrend Lustassoziationen schon bei viel","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"\u00c4sthetische Untersuchungen in Anschlufs an d. Lippssche Theorie d. Komischen. 345\ngeringerer Intensit\u00e4t dieselbe vollst\u00e4ndig \u00fcberdecken. So erkl\u00e4rt sich die Thatsaehe, dafs der \u00e4sthetische Reiz einer sch\u00f6nen Landschaft denjenigen des zweckm\u00e4fsigsten Werkzeugs oder Gebrauchsgegenstandes unermefslich weit hinter sich l\u00e4fst. Die letzteren erregen einzelne, ganz bestimmte, lustbetonte Vorstellungen, welche eben deshalb in den Genufs der m\u00fchelosen Betrachtung fremde Elemente hineinmischen, oder selbst, indem sie die Aufmerksamkeit auf sich hin\u00fcberziehen, denselben ganz zu nichte werden lassen. Die Landschaft dagegen erregt sehr viele lustbetonte Vorstellungen, welche jede f\u00fcr sich eine ver-h\u00e4ltnism\u00e4fsig geringe, zusammen aber eine bedeutende psychische Energie besitzen, und demnach der Wahrnehmung, \u00e4hnlich wie zahlreiche, aber nicht \u00fcberm\u00e4chtige Vasallen dem Lehnsherrn, eine kr\u00e4ftige St\u00fctze gew\u00e4hren, ohne im st\u00e4nde zu sein, ihr eine gef\u00e4hrliche Konkurrenz zu machen. Die assoziierten Vorstellungen bleiben in der Tiefe und verraten ihre Anwesenheit blofs durch ihr Wirken; die von ihnen getragene Wahrnehmung aber h\u00e4lt sich leicht an der Oberfl\u00e4che des Be-wufstseins und l\u00e4fst in voller Reinheit die Lust der m\u00fchelosen Betrachtung hervortreten.\nWir wenden uns der typischen Sch\u00f6nheit zu. Von jeher hat man diejenigen Tier- und Pflanzenformen, in welchen sich der Gattungscharakter am reinsten auspr\u00e4gt, f\u00fcr die sch\u00f6nsten gehalten, dagegen alle merklichen Abweichungen von diesem GattungsCharakter f\u00fcr \u00e4sthetisch verwerflich erkl\u00e4rt. Dafs diese Urteile, wie einige Forscher angenommen haben, mit R\u00fccksicht auf die dunkel vorgestellte Zweckm\u00e4fsig-keit der typischen Gestalten gef\u00e4llt werden sollten, scheint mir wenig glaublich. Allerdings wird wahrscheinlich jedes Artmerkmal so, wie es gegeben ist, f\u00fcr die Exemplare dieser Art seinen Nutzen haben, weil es sich sonst im Kampf ums Dasein nicht oder anders ausgebildet h\u00e4tte; es kommt aber nicht auf den vorauszusetzenden oder zu erweisenden thats\u00e4chlichen Nutzen an, sondern ausschliefslieh darauf, ob der Laie, welcher unbedenklich nach dem Vorkommen oder Fehlen jenes Merkmals sein \u00e4sthetisches Urteil ausspricht, etwas von diesem Nutzen erkennt oder auch nur ahnt. Dafs aber dieses der Fall ist, scheint mehr Ausnahme als Regel zu sein. Welchen Grund haben wir denn, anzunehmen, dafs das Pferd seinen Beruf","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"346\nG. Reymans.\nweniger gut erf\u00fcllen w\u00fcrde, wenn es einen k\u00fcrzeren Hals oder l\u00e4ngere Ohren h\u00e4tte; dafs dem L\u00f6wen seine M\u00e4hne einen besonderen Nutzen gew\u00e4hrt; dafs dem Linde ein wollener Pelz weniger dienlich w\u00e4re, als dem Schafe? Ich glaube: keinen einzigen; dennoch mifsf\u00e4llt auch in diesen Punkten eine merkliche Abweichung vom Arttypus und dr\u00fcckt, in h\u00f6herem Grade vorkommend, auch im \u00e4sthetischen Sinne dem Tiere unverkennbar das Gepr\u00e4ge der Monstrosit\u00e4t auf. \u00c4hnlich verh\u00e4lt es sich mit der menschlichen Sch\u00f6nheit: jede starke Abweichung vom Arttypus mifsf\u00e4llt, der teleologisch indifferente Haarmangel ebenso, wie die f\u00fcr die Ern\u00e4hrung sch\u00e4dliche Zahnlosigkeit, der \u00fcberm\u00e4fsig grofse Gesichtswinkel nicht weniger, als der \u00fcberm\u00e4fsig kleine. Die \u201eGattungsidee\u201c, welche in allen diesen F\u00e4llen unser \u00e4sthetisches Urteil leitet, scheint also nichts weiter zu sein, als die Verbindung derjenigen Merkmale, welche in den unserer Wahrnehmung zug\u00e4nglichen Exemplaren der betreffenden Gattung sich am h\u00e4ufigsten vorfinden. Darum ist auch die Hottentottische Venus schwarz, und geh\u00f6rt die Plattnase zum Sch\u00f6nheitsideal des Lappl\u00e4nders; und darum lebt derjenige, der w\u00e4hrend langer Zeit fast ausschliefslich mit Menschen, welche einem fremden Volke angeh\u00f6ren, verkehrt, sich allm\u00e4hlich in das Sch\u00f6nheitsideal dieses Volkes ein. \u2014 Diese thats\u00e4chlichen Verh\u00e4ltnisse lassen sich nun unschwer als notwendige Folgerungen aus der hier vertretenen Theorie ableiten. Die Wahrnehmung zahlreicher Exemplare einer Gattung stiftet starke assoziative Verbindungen zwischen denjenigen Merkmalen, welche bei der grofsen Mehrzahl dieser Exemplare sich vorfinden, w\u00e4hrend umgekehrt Merkmale, welche nur bei einzelnen Exemplaren auftreten, an diesen Verbindungen nicht oder nur in schwachem Grade teilnehmen. Bieten sich nun sp\u00e4ter weitere Exemplare der n\u00e4mlichen Gattung der Beobachtung dar, so wird schon im ersten Augenblicke die Wahrnehmung einiger Gattungsmerkmale s\u00e4mtliche andere assoziativ in Bereitschaft versetzen, also die Aufmerksamkeit denselben anpassen. Wenn und insofern das vorliegende Exemplar diese Gattungsmerkmale in h\u00f6chster Feinheit und Vollst\u00e4ndigkeit besitzt, wird also die Wahrnehmung leicht von statten gehen und \u00e4sthetische Lust mit sich f\u00fchren ; wenn und insofern dagegen Abweichungen von diesen Merkmalen gegeben sind, stellt sich der leichten Auffassung ein Widerstand entgegen,","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"\u00c4sthetische Untersuchung en in Anschlu\u00df an d. L ipp s sehe Theorie d. Komischen. 347\nwelcher um so peinlicher empfunden wird, je mehr Grund wir hatten, das Umgekehrte zu erwarten.1\nMan wird ]eicht einsehen, dafs die hier gebotene Erkl\u00e4rung noch auf manches Andere anwendbar ist. Der typischen Sch\u00f6nheit ist erstens die charakteristische Sch\u00f6nheit verwandt, obgleich f\u00fcr gew\u00f6hnlich weniger auf diese Verwandtschaft, als auf den damit verbundenen Gegensatz zwischen beiden das Gewicht gelegt wird. Charakteristisch heifst ein Gegenstand, sofern darin das ihm Eigent\u00fcmliche, von anderen \u00e4hnlichen Gegenst\u00e4nden ihn Unterscheidende deutlich zum Ausdruck gelangt; typisch dagegen, sofern er dasjenige, was er mit \u00e4hnlichen Gegenst\u00e4nden gemein hat, klar hervortreten l\u00e4fst. Das scheint einen geraden Gegensatz zu bedeuten ; bei n\u00e4herer \u00dcberlegung stellt sich aber heraus, dafs wir es hier weniger mit einem Gegensatz der Sachen, als mit einem solchen der Betrachtungsweisen zu thun haben. Dasjenige n\u00e4mlich, welches charakteristisch ist f\u00fcr eine Art im Verh\u00e4ltnis zur n\u00e4chsth\u00f6heren Gattung, ist zugleich typisch f\u00fcr diese Art an und f\u00fcr sich. So bilden eben die charakteristischen Z\u00fcge, wodurch sich ein rechtes Gaunergesicht von anderen Menschengesichtern unterscheidet, die wesentlichen Bestandteile des Gaunertypus; daher man denn auch mit gleichem Bechte von einem typischen und von einem, charakteristischen Gaunerkopf reden kann. In gleicher Weise ist eine charakteristische Kaifeeklatschgesellschaft oder eine charakteristische Bauernpr\u00fcgelei eine solche, welche in m\u00f6glichster Anzahl und m\u00f6glichster Beinheit eben diejenigen Eigent\u00fcmlichkeiten hervortreten l\u00e4fst, welche bei zahlreichen \u00e4hnlichen Scenen sich in den verschiedensten Verbindungen stets wieder der Wahrnehmung dargeboten haben und demzufolge miteinander durch starke Assoziationen verkn\u00fcpft worden sind. \u00dcberall, wo sich die Sache so verh\u00e4lt, l\u00e4fst sie sich ohne weiteres dem fr\u00fcher er\u00f6rterten Gesichtspunkte unterordnen. Nun giebt es freilich auch eine individuelle Charakteristik, deren \u00e4sthetische Wirksamkeit man etwas anders, aber doch nicht wesentlich anders, wird deuten m\u00fcssen. Irgend eine \u00c4ufserung oder Handlung eines Bekannten nennen wir charak-\n1 Yergl. L. Dumont, Vergn\u00fcgen und Schmerz. Leipzig. 1876. S. 152 bis 154; wo jedoch, wie mir scheint mit Unrecht, das Passen in die Yorstellungsverbindungen nur als eine negative Bedingung der \u00e4sthetischen Lust aufgefafst wird.","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348\nG. Heymans.\nteristisch, wenn sie vollst\u00e4ndig unserer Vorstellung von seinem individuellen Charakter entspricht, wenn wir sie also \u00e4hnlich oder genau so von ihm erwartet h\u00e4tten; damit ist aber schon erkl\u00e4rt, dafs eine solche \u00c4ufserung oder Handlung sich den gegebenen Vorstellungsverbindungen leicht einfugen und \u00e4sthetische Befriedigung erzeugen mufs. Wir nennen sodann auch den Kopf eines Unbekannten charakteristisch, wenn sich darin bestimmte pers\u00f6nliche Eigenschaften oder Erlebnisse des Tr\u00e4gers mit besonderer Deutlichkeit ausgepr\u00e4gt haben; das heifst aber, wir finden in diesem Kopf zahlreiche Z\u00fcge zusammen, welche wir bis dahin vielleicht niemals verbunden wahrgenommen, von denen wir jedoch jeden einzeln als Zeichen jener Eigenschaften oder Erlebnisse kennen gelernt haben. Dadurch hat sich aber jeder dieser Z\u00fcge mit der Vorstellung jener Eigenschaften oder Erlebnisse assoziiert und wird dementsprechend zwar nicht direkt, aber doch durch Vermittelung jener gemeinsamen zentralen Vorstellung die Aufmerksamkeit allen anderen anpassen, wodurch das Auftreten \u00e4sthetischer Lust sich wieder in \u00e4hnlicher Weise wie fr\u00fcher erkl\u00e4rt.\nWenn solcherweise schliefslich die Gewohnheit die Verh\u00e4ltnisse schafft, aus denen die typische und die charakteristische Sch\u00f6nheit hervorgehen, so l\u00e4fst sich erwarten, dafs sie auch aufserhalb dieser Gebiete unsere \u00e4sthetischen Gef\u00fchle merklich beeinflussen wird. Aus diesem Gesichtspunkte erkl\u00e4rt und rechtfertigt sich innerhalb gewisser Grenzen der Konservativismus in der Kunst, das Haften an der Tradition in Stil und Technik. Das Alte und \u00dcberlieferte hat an und f\u00fcr sich, sofern andere Momente aufser Rechnung gelassen werden, wirklich und notwendig einen Vorzug vor dem Neuen; und dieser Vorzug ist nicht blofs in der Tr\u00e4gheit und Bequemlichkeit der menschlichen Natur, sondern er ist im Wesen des \u00e4sthetischen Gef\u00fchles selbst begr\u00fcndet. Die Kunst bildet eben auch ihre typischen Gestalten, welche schliefslich den J\u00fcnger, der sich in sie hineingelebt hat, in gleicher Weise und mit gleichem Rechte fesseln, wie diejenigen der Natur. Darum empfinden wir echte \u00e4sthetische Befriedigung, wenn wir in einem Geb\u00e4ude s\u00e4mtliche einem bestimmten Baustil angeh\u00f6rigen Eigent\u00fcmlichkeiten ohne fremde Beimischung zur\u00fcckfinden ; darum haben farblose Statuen einen Reiz, welcher bis auf weiteres den farbigen fehlt; und darum hat allgemein eine neue Richtung in der Kunst einen","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"\u00c4sthetische Untersuchungen in Anschlufs an d. Lipp s sehe Theorie d. Komischen. 34 9\nviel st\u00e4rkeren Widerstand zu \u00fcberwinden, als eine solche in der Wissenschaft. Dem steht allerdings gegen\u00fcber, dafs eine Dichtung, welche alles geleistet hat, was sie leisten kann, schliefslich ihren Reiz verliert; man kennt s\u00e4mtliche Mittel, durch welche sie Anpassung der Aufmerksamkeit herbeizuf\u00fchren pflegt, auswendig, kann sich im voraus den bei der Betrachtung ihrer Erzeugnisse sich abspielenden psychischen Prozefs ziemlich genau vorstellen und empfindet demzufolge bei der wirklichen Betrachtung kaum mehr einen merklichen Genufs. Wenn die Sache sich so verh\u00e4lt, hat eine neue Kunstrichtung die besten Chancen; jedenfalls wird sie aber ihre gr\u00f6fste Wirksamkeit erst erreichen, wenn es ihr gelungen ist, die alte Kunstgew\u00f6hn ting nicht nur zu besiegen, sondern sie auch durch eine neue zu ersetzen.\nDie vierte, noch zu besprechende Art der Sch\u00f6nheit ist diejenige der gelungenen Nachahmung; sie unterscheidet sich von den drei anderen zun\u00e4chst dadurch, dafs sie aus-schliefslich in der Kunst, nicht in der Natur zu Hause ist. Ihre Bedeutung ist wohl am gr\u00f6fsten auf niedriger Bildungsstufe (bei Kindern und Wilden); \u00fcberhaupt scheint sie nicht im st\u00e4nde zu sein, so reiche und intensive \u00e4sthetische Lust zu erzeugen, wie die anderen. Diejenige Lust aber, welche sie gew\u00e4hren kann, ist gleicher Natur mit jener und l\u00e4fst sich auf \u00e4hnliche Ursachen zur\u00fcckf\u00fchren. Die Nachbildung eines bekannten Gegenstandes erinnert sofort an denselben, f\u00fchrt die Vorstellung seiner Merkmale und Teile auf die Schwelle des Bewufstseins und erleichtert so die Wahrnehmung der entsprechenden Momente in der Kopie. Dafs aber hier die \u00e4sthetische Wirkung nur eine unbedeutende ist, liefs sich erwarten; denn die assoziative Verbindung zwischen den Merkmalen eines individuellen Gegenstandes ist notwendig viel schw\u00e4cher, als diejenige zwischen Merkmalen, welche wir bei zahlreichen verwandten Gegenst\u00e4nden regelm\u00e4fsig zusammen wahr genommen haben. Darum hat auch die naturalistische, angeblich auf blofse Nachahmung ausgehende Kunst thats\u00e4chlich stets solche Gegenst\u00e4nde oder solche Verh\u00e4ltnisse ausgew\u00e4hlt, welche, sei es typische oder charakteristische Bedeutung besafsen, sei es in irgend welcher Weise durch formale oder assoziative Sch\u00f6nheit sich auszeichneten. Man denke etwa an die REMBBANDTschen Lichteffekte und an die ZoEAschen Romanfiguren.","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"350\nG. \u00eeleymans.\nDen hier besprochenen, in verschiedenster Weise \u00e4sthetische Lust bewirkenden Verh\u00e4ltnissen stehen nun andere gegen\u00fcber, welche die Anpassung der Aufmerksamkeit st\u00f6ren, die Wahrnehmung erschweren und so den mit Unlust verbundenen Eindruck der Hafslichkeit hervorrufen. Da diese ein weiteres Material zur Pr\u00fcfung der Theorie darbieten, sei es mir gestattet, \u00fcber sie noch einige Worte zu sagen. Dabei ist zun\u00e4chst zwischen dem kontradiktorischen und dem kontr\u00e4ren Gegenteil des Sch\u00f6nen, dem negativen Begriffe des Nichtsch\u00f6nen und dem positiven Begriffe des H\u00e4fslichen zu unterscheiden. Dasjenige, welches dem Wahrnehmer in keiner Weise die Anpassung der Aufmerksamkeit erleichtert, ist darum noch nicht h\u00e4fslich; es ist einfach nicht sch\u00f6n. Zur positiven Hafslichkeit ist aufser-dem noch erforderlich, dafs der betreffende Gegenstand entweder der Anpassung der Aufmerksamkeit aufsergew\u00f6hnliche Schwierigkeiten entgegensetzt, oder aber dafs er durch seine Beschaffenheit zuerst die Erwartung einer m\u00fchelosen Wahrnehmung erregt, dann aber diese Erwartung nicht befriedigt. Dies kann aber wieder in mehrfacher, den verschiedenen Arten der Sch\u00f6nheit entsprechender Weise stattfinden. In formaler Hinsicht ist ein Gegenstand h\u00e4fslich, wenn er uns eine verwirrende Mannigfaltigkeit ohne einheitliche Momente darbietet (Buntheit und \u00dcberladung aller Art); sodann, wenn er beim ersten Blick Symmetrie oder Regelmafs erwarten, bei n\u00e4herer Betrachtung dieselben aber vermissen l\u00e4fst (verzeichnete regelm\u00e4fsige Figuren, symmetrisch sein sollende Bauwerke, deren eine H\u00e4lfte nicht, oder anders als die andere zu Ende gef\u00fchrt worden ist). Durch Assoziationen entsteht H\u00e4fslichkeit, wenn das Wahrgenommene Vorstellungen erweckt, welche zwar unlustbetont, aber nicht so intensiv unlustbetont sind, dafs sie das Bewufst-sein ganz in Anspruch nehmen (Kr\u00e4nklichkeit, Schw\u00e4che, Ver-wesungs- und Ausscheidungsprodukte) ; es entsteht dann die Neigung, diese Vorstellungen zu entfernen, und die fortgesetzte Wahrnehmung des Gegenstandes wird zur peinlichen und anstrengenden Arbeit. Im Gegensatz zur typischen Sch\u00f6nheit steht die H\u00e4fslichkeit derjenigen Gegenst\u00e4nde, welche durch einige Merkmale erfahrungsm\u00e4fsig gebildete Vorstellungsverbindungen hervorrufen, in welche andere Merkmale nicht hineinpassen (Monstra, \u00dcbergangsformen) ; das Gegenteil der charakteristischen Sch\u00f6nheit ist gegeben, wenn einige","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"\u00c4sthetische Untersuchungen in Anschlufs and. Tipp s sehe Theoried. Komischen. 351\nMerkmale eines Gegenstandes auf eine bestimmte Eigenschaft, andere dagegen auf entgegengesetzte Eigenschaften desselben hinzuweisen scheinen (ein kr\u00e4ftiger K\u00f6rper auf schm\u00e4chtigen Beinen, eine harte Stimme aus lieblichem Munde). Der Sch\u00f6nheit der gelungenen Nachahmung steht endlich der Fall gegen\u00fcber, dafs das Bild in auffallender Weise von dem Original abweicht. \u2014 Es braucht schliefslich kaum bemerkt zu werden, dafs diese verschiedenen Momente der H\u00e4fslichkeit miteinander und mit den verschiedenen Momenten der Sch\u00f6nheit in jeder erdenklichen Weise Zusammenwirken k\u00f6nnen. Es entstehen dabei die mannigfachsten Konflikte und Komplikationen, welche, da die Empf\u00e4nglichkeit f\u00fcr die besonderen Arten der positiv-und negativ-\u00e4sthetischen Wirkung je nach Anlage und Lebenserfahrung eine sehr verschiedene ist, die individuellen Verschiedenheiten in der \u00e4sthetischen Wertsch\u00e4tzung der Dinge sehr begreiflich erscheinen lassen.\nEs er\u00fcbrigt noch, das Verh\u00e4ltnis zwischen der \u00e4sthetischen und der komischen Lust etwas genauer zu bestimmen. Nach den vorhergehenden Er\u00f6rterungen l\u00e4fst sich jene als Lust aus der Anpassung der Aufmerksamkeit, diese dagegen als Lust aus der \u00dcb eranpassung der Aufmerksamkeit erkl\u00e4ren. \u00c4sthetische Lust entsteht, so oft reproduzierte, dem Wahrgenommenen \u00e4hnliche oder damit verbundene Vorstellungen, entweder im Bewufstsein verharrend oder mit dem momentanen Wahrnehmungsinhalt wechselnd, die Auffassung des letzteren dauernd erleichtern ; komische Lust tritt ein, wenn der gespannten Aufmerksamkeit pl\u00f6tzlich ihr Gegenstand entzogen wird und kein anderer Bewufstseinsinhalt bereit steht, auf welchen sie \u00fcbertragen werden k\u00f6nnte. Beiden F\u00e4llen gemeinsam ist die Erleichterung einer intendierten oder angefangenen Arbeit der Aufmerksamkeit ; das Sch\u00f6ne ist so beschaffen, dafs die zu dieser Arbeit erforderte Anstrengung aufsergewohnlich gering ist, das Komische aber so, dafs die Motive zur Arbeit selbst pl\u00f6tzlich hinwegfallen. Darum ist die Lust am Sch\u00f6nen mafsvoll, harmonisch, mehr selige Befriedigung als intensiver Genufs; sie hat nichts Gewaltsames, st\u00f6rt nicht, aber bef\u00f6rdert den gleichm\u00e4fsigen Vorstellungsverlauf, entsteht und vergeht langsam und ist mehrfacher Erneuerung f\u00e4hig. Die Lust am Komischen dagegen tritt momentan ein und tr\u00e4gt durch die Sch\u00e4rfe des Kontrastes zwischen starker Spannung und v\u00f6lliger","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352\nG. Heymans.\nEntspannung einen heftigen, konvulsivischen Charakter ; da sie auf dem pl\u00f6tzlichen Wegfall eines interessanten Bewufstseins-inhaltes beruht, ist sie mit einer merklichen St\u00f6rung des psychischen Gleichgewichts verbunden ; indem aber neu sich herandr\u00e4ngende Vorstellungen bald das Bewufstsein wieder erf\u00fcllen, vergeht sie ebensoschnell, als sie entstanden ist, und zwar meistens f\u00fcr immer, da das Vorwissen um die Entspannung keine rechte Spannung der Aufmerksamkeit mehr zu st\u00e4nde kommen l\u00e4fst. Ein nahehegendes Bild mag zum Schlufs das Verh\u00e4ltnis verdeutlichen. Eine durch ein schweres Gewicht gespannte Feder kann in doppelter Weise entspannt werden entweder dadurch, dafs das Gewicht unterst\u00fctzt wird, oder so, dafs es abreifst und zu Boden st\u00fcrzt. Jenem Fall entspricht die Erscheinung des \u00e4sthetischen, diesem diejenige des komischen Gef\u00fchles.","page":352}],"identifier":"lit29981","issued":"1896","language":"de","pages":"31-43, 333-352","startpages":"31","title":"\u00c4sthetische Untersuchungen in Anschlu\u00df an die Lipps'sche Theorie des Komischen","type":"Journal Article","volume":"11"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:56:40.789345+00:00"}

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