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{"created":"2022-01-31T14:56:59.852401+00:00","id":"lit29999","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Ziehen","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 11: 68-72","fulltext":[{"file":"p0068.txt","language":"de","ocr_de":"68\nLitteraturbericht.\nsympathisch sein werden, enth\u00e4lt seine Arbeit doch sicher viel Treffendes und Beachtenswertes. Am wertvollsten erscheint mir seine Behandlung der inneren Nachahmung; dafs die innere Nachahmung das sinnlich Gegebene unwillk\u00fcrlich dem Begrifflichen, Typischen ann\u00e4hert, habe auch ich in meinen \u00e4sthetischen Arbeiten hervorgehoben, ohne jedoch dabei eine negierende Stellung gegen das Individuelle einzunehmen. Monrad \u00fcbersieht aber auf Grund des HEGELSchen Rationalismus, dafs diese Ann\u00e4herung an das Typische nur eine unter den Leistungen der inneren Nachahmung ist, ja dafs ihre wesentlichsten Leistungen nichu logischer, sondern emotioneller Natur sind. Um dies v\u00f6llig zu erkennen, mufs man freilich einen wichtigen Begriff mit in Betracht ziehen, der bei Monrad fehlt, n\u00e4mlich den Zentralbegriff der ganzen \u00c4sthetik : den Begriff des Spiels.\tKarl Groos (Giessen).\nW. Jerusalem. Die Urteilsfunktion. Eine psychologische und erkenntniskritische Untersuchung\u00bb Wien und Leipzig. W. Braum\u00fcller. 1895. 269 S.\nIm ersten Abschnitt beleuchtet Verfasser die Bedeutung des Urteilsproblems. Er hebt namentlich und mit gutem Recht gegen Mill und Andere hervor, dafs die Frage, was wir thun, wenn wir urteilen, keine metaphysische, sondern zun\u00e4chst wenigstens eine psychologische Frage ist. Ebenso will er logische und erkenntnis-kritische Fragen zun\u00e4chst aus-schliefsen. Er will allerdings auch pr\u00fcfen, was wir thun, und wie wir dazu kommen, ein Urteil f\u00fcr wahr oder falsch zu halten, jedoch nicht entscheiden, welche Urteile objektiv wahr sind. Seinen allgemeinen psychologischen Standpunkt pr\u00e4zisiert J\u00bb, wie folgt: \u201eDas psychische Geschehen ist seinem Wesen nach substratlos und nur empirisch zusammen mit physischem, also an ein Substrat gebundenem Geschehen gegeben\u201c. Leider kn\u00fcpft er hieran die weitere Annahme \u201eunbewufster psychischer Vorg\u00e4nge.\u201c Die kurze Argumentation S. 11 ist ganz unzureichend. Warum soll physiologischen Dispositionen, den Bi s des Referenten, eine unbewufste psychologische Disposition entsprechen? Weil die L\u00fccke unbegreiflich ist, sagt J. Dem Referenten scheint diese Unbegreiflichkeit nur zu bestehen, solange man eben von der Voraussetzung eines durchg\u00e4ngigen psychologischen Parallelismus ausgeht. Diese Voraussetzung ist ja aber gerade das erst zu Beweisende.\nDer zweite Abschnitt giebt eine historisch-kritische \u00dcbersicht der wichtigsten bisher aufgetretenen Untersuchungen \u00fcber das Urteilsproblem. Etwas ausf\u00fchrlicher werden die Anschauungen von Plato, Aristoteles, Occam, Descartes, Spinoza, Kant, Brentano, Sigwart und Wundt besprochen.\nDer dritte Abschnitt behandelt den Ursprung und die Elemente der Urteilsfunktion. Zun\u00e4chst lehnt Verfasser ab, dafs das Urteil eine Assoziation sei; denn in dem Urteil: \u201eder Baum bl\u00fcht\u201c trete ja zu der Vorstellung des bl\u00fchenden Baumes kein neues Vorstellungselement hinzu. Hierauf ist zu erwidern, dafs das Urteil: \u201eder Baum bl\u00fcht\u201c bald ein analysierendes im Sinne Wundts, bald ein zusammensetzendes im Sinne Sigwarts ist. Im ersteren Falle handelt es sich, wenn wir das","page":68},{"file":"p0069.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n69\nUrteil aussprechen, lediglich um eine Assoziation zweier getrennter Sp rach Vorstellungen mit einer zusammengesetzten Objektvor Stellung. Im zweiten Falle wird mit der Vorstellung \u201eBaum\u201c assoziativ die Vorstellung des Bl\u00fchens verkn\u00fcpft, und mit beiden Objektvorstellungen verbinden sich wiederum assoziativ die zugeh\u00f6rigen Sprachvorstellungen. Also Assoziation in beiden F\u00e4llen! Nach J. ist unsere wesentliche Leistung im Urteilen, abgesehen von den Artikulationsempfindungen (? Bef.) und aufser der Zerlegung des Vorstellungskomplexes, folgende: \u201eDurch das Urteil wird der ganze Vorstellungskomplex, der unzergliederte Vorgang, dadurch geformt und gegliedert, dafs der Baum als ein kraft-begabtes, einheitliches Wesen hingestellt wird, dessen gegenw\u00e4rtig sich vollziehende Kraft\u00e4ufserung eben das Bl\u00fchen ist.\u201c Die Funktion des Urteilens ist somit nicht sowohl ein Trennen oder Verbinden, sondern ein Gliedern und Formen vorgestellter Inhalte. Zugleich wird der Baum in dem Urteile als etwas Selbst\u00e4ndiges, von mir unabh\u00e4ngig Existierendes hingestellt, und dadurch gewissermafsen aus meiner Vorstellung herausgestellt und so objektiviert. Das Urteilen kann als ein modifiziertes Vorstellen, nicht aber als eine eigene Klasse psychischer Ph\u00e4nomene betrachtet werden. Wir stellen einen Vorgang nach dem Urteil anders vor, als vor demselben.\nWeiter sucht J. zu bestimmen, wodurch diese Modifikation des Vorstellens hervorgerufen wird, und aus welchen Elementen sie besteht' Jedes Urteilen ist nicht nur ein Vorstellen, sondern zugleich ein Thun, ein Willensakt. Da nun jeder Willensakt Lust- und Unlustgef\u00fchle voraussetzt, so mufs das Urteil Gef\u00fchls- und Willenselemente enthalten. Das Gef\u00fchls element ist das \u201eInteresse\u201c: die Vorstellung veranlafst uns\ndann, ein Urteil zu f\u00e4llen, wenn sie unser Interesse erregt. Das Interesse aber definiert J. als \u201edie Lust, die uns die Befriedigung unseres\npsychischen Funktionsbed\u00fcrfnisses gew\u00e4hrt\u201c. Ein Willens element liegt schon darin, dafs nach der Form des Urteils gesucht wird. Dazu kommt, dafs der Baum selbst, das Subjekt des Urteils, dem primitiven Bewufstsein des Urmenschen, sowie heute noch dem Kinde durchaus als belebtes, wollendes Wesen erscheint: der Baum bl\u00fcht, weil er bl\u00fchen will. Diesem Anthropomorphismus erkennt J. Berechtigung zu, insofern f\u00fcr die Apperzeption eines Vorganges in der Umgebung sich dem Menschen als einzige Apperzeptionsmasse1 die Erinnerung an die zahlreichen bei eigenen Bewegungen erlebten Willensimpulse darbietet. Das Urteil erh\u00e4lt sonach erst durch die Willensimpulse und die Erinnerung daran seine eigent\u00fcmliche Form, ja, es wird eigentlich durch Verwertung der eigenen Willensimpulse erst geschaffen. \u201eDas Urteil ist die primitivste und h\u00e4ufigste Art der Apperzeption\u201c sagt J. auch (S. 94). Damit wird nun auch der bereits in der einfachen Wahrnehmung liegende Keim zur Objektivierung entfaltet: das fremde Ding wird mit mir gleichgestellt und dadurch zugleich gegen\u00fcbergestellt. Seine definitive Gestalt erh\u00e4lt das Urteil, wenn die Entwickelung der Sprache so weit gediehen\n1 Im Sinne des Verfassers bedeutet die Apperzeption \u201edas Bemerken infolge der durch die Aufmerksamkeit erregten Vorstellungsmassen\u201c.","page":69},{"file":"p0070.txt","language":"de","ocr_de":"70\nLitteraturbericht.\nist, dafs die Sprachwurzeln, welche urspr\u00fcnglich stets einen ganzen Vorgang bedeuten, in Subjekt und Pr\u00e4dikat auseinandertreten: das Urteil pr\u00e4gt sich im Satz aus.\n\u201eEntwick elung der Urteilsfunktion\u201c ist der vierte Abschnitt \u00fcberschrieben. Verfasser geht von den einfachen Wahrnehmungsurteilen (\u201edas Haus brennt\u201c) aus. Die allgemeinen konkreten Begriffe (\u201eBaum\u201c etc.) entstehen nach J., indem der Name \u201eBaum\u201c als Subjekt aller \u00fcber B\u00e4ume gef\u00e4llten Urteile gel\u00e4ufig wird. Die Urteilsfunktion erweist sich also f\u00fcr die Entstehung der Begriffe unerl\u00e4fslich. Das Subjektwort des Urteils wird zum Tr\u00e4ger der dem Dinge innewohnenden Kr\u00e4fte. Es tr\u00e4gt aber auch insofern zur Entwickelung des Denkens bei, als es die Vorstellung einer potentiellen Th\u00e4tigkeit verdeutlicht, welche dem Dinge auch dann innewohnt, wenn sie gerade nicht wirksam ist. Die Pr\u00e4dikatsfunktion des Urteils entwickelt unser Denken insofern weiter, als sie die Sonderung der Th\u00e4tigkeit, der Eigenschaft und des Zustandes von den zugeh\u00f6rigen Objekten erm\u00f6glicht. Das Pr\u00e4dikat sagt uns, was das Ding will, was es wollen kann, oder was es ohne Widerstand mit sich machen l\u00e4fst.\nVon den Wahrnehmungsurteilen geht Verfasser zu den Impersonalien, zu den Erinnerungs- und Erwartungsurteilen \u00fcber. Der Anthropomorphismus der letzteren liegt nach J. darin, dafs wir dem wahrgenommenen Objekt (z. B. dem bew\u00f6lkten Himmel) eine bestimmte Willensrichtung (z. B. zu regnen) zuschreiben. Als Be griffs urteile bezeichnet er solche Urteile, in welchen im Subjekt nur die allgemeinen Eigenschaften bezeichnet sind. So ist der Satz: \u201eder Hund ist ein Haustier\u201c ein Begriffsurteil, insofern das Subjekt \u201eTr\u00e4ger der den Hunden gemeinsamen Kr\u00e4fte\u201c ist. Im Beziehungsurteile wird ein Beziehungsbegriff als objektiv vorhandenes und wirkendes Kraftzentrum gefafst (z. B. noktfiog nuvt]Q navTwv). Die mathematischen Formeln sind eigenartige Beziehungsurteile, in denen die Existenz einer Beziehung behauptet wird. So ist im Satze x \u2014 4 die Grleichheitsbeziehung zwischen x und 4 das Subjekt, und das Pr\u00e4dikat ist die Existenz dieser Beziehung. Diese Existenz andererseits bedeutet soviel als: diese G-leichheitsbeziehung wird sich in allen folgenden Operationen als wirksam erweisen. Im hypothetischen Urteil wird eine \u00e4hnliche Beziehung zwischen zwei Urteilen behauptet.\nMit den Schwierigkeiten, welche die Urteile \u00fcber selbsterlebte psychische Ph\u00e4nomene (z. B. \u201eich freue mich\u201c) seiner Theorie bereiten (insofern das Subjekt dieser Urteile doch nicht ein vom Urteilenden verschiedenes, unabh\u00e4ngiges Kraftzentrum ist), findet sich Verfasser folgendermafsen zurecht. Ich fasse den erlebten Vorgang als meine Freude, als eine bestimmte Th\u00e4tigkeit meines Ich auf. Dies Ich bildet ein Kraftzentrum im Universum. \u201eIch freue mich\u201c heilst sonach: das, was in mir vorgeht, w\u00fcrde jemand, der in mich hineinzuschauen verm\u00f6chte, als diese Th\u00e4tigkeit meines Ich deuten. Sonach wird auch hier durch das Urteil in der von der Theorie geforderten Weise ein Vorgang geformt, gegliedert und objektiviert. Die psychischen Ph\u00e4nomene gelangen zum Bewufstsein dadurch, dafs sie blofs erlebt, zum Selbst-bewufstsein dadurch, dafs sie beurteilt werden.","page":70},{"file":"p0071.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturbericht.\n71\nAus der eingehenden Behandlung der \u201eFrage\u201c sei hier nur hervorgehoben, dafs J. die Frage durchweg auf das Gef\u00fchl des Staunens zur\u00fcckf\u00fchrt, wenn eine Vorstellung gegeben wird, die in das bisher erworbene Weltbild nicht recht pafst. Die Frage ist ein formuliertes Staunen; sie ist kein Urteil, sondern das in Satzform ausgedr\u00fcckte Verlangen, ein Urteil zu bilden oder zu vervollst\u00e4ndigen. Sie ist sonach zugleich das Mittel, eine Hemmung der Urteilsfunktion zu beseitigen.\nDie \u201eGeltung des Urteils\u201c wird im f\u00fcnften Abschnitt behandelt. Die Negation hat sich daraus entwickelt, dafs der Mensch ein Urteil bei weiterer Beobachtung nicht best\u00e4tigt findet oder bei Mitmenschen \u00fcber denselben Vorgang ein dem seinigen entgegengesetztes Urteil findet. Sie ist der sprachliche Ausdruck f\u00fcr die Zur\u00fcckweisung eines Urteils. Mit stichhaltigen Gr\u00fcnden bestreitet J., dafs auch die von Brentano gelehrte Verwerfung einer Vorstellung m\u00f6glich sei. Erst mit der Zur\u00fcckweisung der m\u00f6glichen Negation, durch Negierung des Irrtums tritt das \u201eJa\u201c auf, entsteht der Begriff der Wahrheit des Urteils. Psychologisch ist die Wahrheit (wohl richtiger das F\u00fcrwahrhalten. Bef.) \u201eein Verteidigen der vollzogenen Deutung\u201c. Das blofse Vorstellen, F\u00fchlen und Wollen enth\u00e4lt nur Thats\u00e4chlichkeit, die nicht angefochten, also auch nicht verteidigt werden kann. Hier kann von Wahrheit \u00fcberhaupt nicht die Bede sein. Das Urteil hingegen enth\u00e4lt infolge der Introjektion eines Willens oder \u2014 auf h\u00f6herer .Entwickelungsstufe \u2014 einer Kraft in das Subjekt zugleich die \u00dcberzeugung, dafs der gesamte Vorgang auch bestehen bleibt, und dafs das im Subjektsworte dargestellte Kraftzentrum fortwirkt, einerlei, ob ich ein Urteil dar\u00fcber f\u00e4lle oder nicht. Als psychologische Thatsache ist das Urteil das Formen eines Vorstellungsinhaltes, als Meinung oder Bedeutung (meaning im Sinne Bradleys), ist es ein selbst\u00e4ndiger, von der Thatsache des Urteilens unabh\u00e4ngig gedachter objektiver Vorgang. Die Wahrheit ist eine Beziehung zwischen diesen beiden Seiten des Urteilsaktes. Ihr Begriff setzt ein extramentales, vom Urteilenden unabh\u00e4ngiges Geschehen voraus. Die folgenden Betrachtungen des Verfassers \u00fcber den Wahrheitswert der wichtigsten Arten der Urteile k\u00f6nnen, weil durchaus erkenntnistheoretisch, hier \u00fcbergangen werden. Nur auf die vortrefflichen Ausf\u00fchrungen \u00fcher die angebliche unzweifelhafte Gewifsheit der Urteile der inneren Wahrnehmung (S. 194 ff.) sei ausdr\u00fccklich hingewiesen.\nDas bewufste F\u00fcrwahrhalten oder der \u201eGlaube\u201c an das Urteil besteht in dem Gef\u00fchl, dafs ich die im Urteile enthaltene Deutung mit meinem sonstigen Denken und F\u00fchlen in \u00dcbereinstimmung zu bringen vermag.\nAls existierend m\u00fcssen wir alles, was wir vorstellen, vorstellen. Erst aus der Erfahrung, dafs manches, was wir f\u00fcr wirkungsf\u00e4hig und selbst\u00e4ndig hielten, sich als Zustand des Ich ergiebt, nehmen wir Veranlassung, den Begriff der Nicht-Existenz und denjenigen der Existenz zu bilden. Die Existenz ist somit ein Pr\u00e4dikat, wie jedes andere, und bedeutet die Wirkungsf\u00e4higkeit. Die Eigent\u00fcmlichkeit des Existenzial-urteils besteht nur darin, dafs ein Thatbestand nicht als ein einziges Merkmal eines Begriffes gefafst, sondern als Wirkungsf\u00e4higkeit s\u00e4mtlicher, in einem Begriffe zusammengefafster Kr\u00e4fte behauptet wird.","page":71},{"file":"p0072.txt","language":"de","ocr_de":"72\nLitteraturbericht.\nAls eine notwendige Konsequenz seiner Theorie bezeichnet J. die Auffassung der \u00e4ufseren Wahrnehmung als eines primitiven, unbewufsten Urteilsaktes. Auf Grund und nach Analogie unserer eigenen Willensimpulse gestalten wir die Empfindungskomplexe zu selbst\u00e4ndigen, kraftbegabten Objekten. J. nennt dies auch \u201eeine unbewufste Apperzeption\u201c.\nDer sechste Abschnitt behandelt die erkenntnis-kritische Bedeutung der Urteilsfunktion. Er enth\u00e4lt im wesentlichen einen Versuch, den erkenntniskritischen Idealismus zu widerlegen \u2014 durch Hinweis auf die Thatsache fremder Bewufstseine \u2014, eine Auseinandersetzung mit Avenarius\u2019 Kritik der reinen Erfahrung und schliefslich die Andeutung eines einheitlichen Weltbegriffs, welcher sich aus der vorausgegangenen Lehre von der Urteilsfunktion ergeben soll: wir m\u00fcssen das Weltganze als Kraft\u00e4ufserung eines m\u00e4chtigen g\u00f6ttlichen Willens auffassen.\nDas Hauptverdienst des Buches liegt jedenfalls darin, dafs es \u00fcberhaupt eine psychologische Analyse des Urteils versucht hat. Es hat damit die Psychologie an ein leider sehr vernachl\u00e4ssigtes Problem wieder erinnert. Die Dichtigkeit der L\u00f6sung, welche es giebt, ist sehr zweifelhaft. J. bezeichnet seine Theorie selbst an anderer Stelle als Intro-j ektionstheorie. Gerade diese Introjektion nun hat J. entschieden \u00fcbersch\u00e4tzt. Man kann wohl zugeben, dafs der Mensch \u2014 namentlich auf niederer Kulturstufe \u2014 eine Tendenz zu anthropomorphistischen Introjektionen in seinen Urteilen \u00fcber Wahrnehmungen zeigt, und dafs auf h\u00f6herer Kulturstufe hieraus sich eine Tendenz zur Annahme von willen\u00e4hnlich wirkenden Kraftzentren entwickelt: damit ist jedoch noch keineswegs bewiesen, dafs diese Introjektion ein wesentliches psychologisches Merkmal aller Urteile ist. Nicht einmal f\u00fcr die \u201eWahrnehmungsurteile\u201c des Verfassers ist dies richtig. Wenn jemand sagt: \u201ediese Blume ist blau\u201c, so mag vielleicht J., welcher von \u00c4therschwingungen und Vibrationstheorie geh\u00f6rt hat, der Blume eine Kraft zuschreiben. Im einfachen Urteil ist von dieser Kraftintrojektion nichts enthalten, sondern lediglich eine Verbindung von Vorstellungen. Die Beziehungsvorstellung der Kraft kann diese VorstellungsVerbindung begleiten, aber sie mufs es nicht. Wie gezwungen sich nun gar Urteile, welche der Wahrnehmung fernerstehen, der Introj ektionstheorie ein-f\u00fcgen, ergiebt sich aus dem Beferate selbst. Viel mehr tr\u00e4gt zur L\u00f6sung des psychologischen Urteilsproblems bei, was Verfasser \u00fcber die Formulierung und Gliederung im Urteile bemerkt. Dies, sowie die Er\u00f6rterungen \u00fcber den Einflufs der Urteilsfunktion auf die Begriffsbildung ist nach Meinung des Beferenten \u2014 abgesehen von der allgemeinen Anregung \u2014 dankbar als positive F\u00f6rderung der Psychologie anzuerkennen.\tZiehen (Jena).\nBaoul de la Grasserie. Du ph\u00e9nom\u00e8ne psychologique de l\u2019hybridit\u00e9 linguistique et du bilinguisme. Rev. philos. Bd. 39, 6. S. 626\u2014644. 18950\nAll unser Denken vollzieht sich im wesentlichen in Sprachform. Diese wird f\u00fcr gew\u00f6hnlich die der Muttersprache sein, weil im allgemeinen deren Formen vor allen anderen sich ins Bewufstsein dr\u00e4ngen.","page":72}],"identifier":"lit29999","issued":"1896","language":"de","pages":"68-72","startpages":"68","title":"W. Jerusalem: Die Urteilsfunktion. Eine psychologische und erkenntniskritische Untersuchung. Wien und Leipzig. W. Braum\u00fcller. 1895. 269 S.","type":"Journal Article","volume":"11"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:56:59.852407+00:00"}