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{"created":"2022-01-31T14:57:52.876560+00:00","id":"lit30000","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Skutsch, F.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 11: 72-74","fulltext":[{"file":"p0072.txt","language":"de","ocr_de":"72\nLitteraturbericht.\nAls eine notwendige Konsequenz seiner Theorie bezeichnet J. die Auffassung der \u00e4ufseren Wahrnehmung als eines primitiven, unbewufsten Urteilsaktes. Auf Grund und nach Analogie unserer eigenen Willensimpulse gestalten wir die Empfindungskomplexe zu selbst\u00e4ndigen, kraftbegabten Objekten. J. nennt dies auch \u201eeine unbewufste Apperzeption\u201c.\nDer sechste Abschnitt behandelt die erkenntnis-kritische Bedeutung der Urteilsfunktion. Er enth\u00e4lt im wesentlichen einen Versuch, den erkenntniskritischen Idealismus zu widerlegen \u2014 durch Hinweis auf die Thatsache fremder Bewufstseine \u2014, eine Auseinandersetzung mit Avenarius\u2019 Kritik der reinen Erfahrung und schliefslich die Andeutung eines einheitlichen Weltbegriffs, welcher sich aus der vorausgegangenen Lehre von der Urteilsfunktion ergeben soll: wir m\u00fcssen das Weltganze als Kraft\u00e4ufserung eines m\u00e4chtigen g\u00f6ttlichen Willens auffassen.\nDas Hauptverdienst des Buches liegt jedenfalls darin, dafs es \u00fcberhaupt eine psychologische Analyse des Urteils versucht hat. Es hat damit die Psychologie an ein leider sehr vernachl\u00e4ssigtes Problem wieder erinnert. Die Dichtigkeit der L\u00f6sung, welche es giebt, ist sehr zweifelhaft. J. bezeichnet seine Theorie selbst an anderer Stelle als Intro-j ektionstheorie. Gerade diese Introjektion nun hat J. entschieden \u00fcbersch\u00e4tzt. Man kann wohl zugeben, dafs der Mensch \u2014 namentlich auf niederer Kulturstufe \u2014 eine Tendenz zu anthropomorphistischen Introjektionen in seinen Urteilen \u00fcber Wahrnehmungen zeigt, und dafs auf h\u00f6herer Kulturstufe hieraus sich eine Tendenz zur Annahme von willen\u00e4hnlich wirkenden Kraftzentren entwickelt: damit ist jedoch noch keineswegs bewiesen, dafs diese Introjektion ein wesentliches psychologisches Merkmal aller Urteile ist. Nicht einmal f\u00fcr die \u201eWahrnehmungsurteile\u201c des Verfassers ist dies richtig. Wenn jemand sagt: \u201ediese Blume ist blau\u201c, so mag vielleicht J., welcher von \u00c4therschwingungen und Vibrationstheorie geh\u00f6rt hat, der Blume eine Kraft zuschreiben. Im einfachen Urteil ist von dieser Kraftintrojektion nichts enthalten, sondern lediglich eine Verbindung von Vorstellungen. Die Beziehungsvorstellung der Kraft kann diese VorstellungsVerbindung begleiten, aber sie mufs es nicht. Wie gezwungen sich nun gar Urteile, welche der Wahrnehmung fernerstehen, der Introj ektionstheorie ein-f\u00fcgen, ergiebt sich aus dem Beferate selbst. Viel mehr tr\u00e4gt zur L\u00f6sung des psychologischen Urteilsproblems bei, was Verfasser \u00fcber die Formulierung und Gliederung im Urteile bemerkt. Dies, sowie die Er\u00f6rterungen \u00fcber den Einflufs der Urteilsfunktion auf die Begriffsbildung ist nach Meinung des Beferenten \u2014 abgesehen von der allgemeinen Anregung \u2014 dankbar als positive F\u00f6rderung der Psychologie anzuerkennen.\tZiehen (Jena).\nBaoul de la Grasserie. Du ph\u00e9nom\u00e8ne psychologique de l\u2019hybridit\u00e9 linguistique et du bilinguisme. Rev. philos. Bd. 39, 6. S. 626\u2014644. 18950\nAll unser Denken vollzieht sich im wesentlichen in Sprachform. Diese wird f\u00fcr gew\u00f6hnlich die der Muttersprache sein, weil im allgemeinen deren Formen vor allen anderen sich ins Bewufstsein dr\u00e4ngen.","page":72},{"file":"p0073.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturbericht.\n73\nWie aber, wenn die Formen einer zweiten Sprache der Schwelle des Bewufstseins ebenso nahe stehen ? Wie werden sich dann die beiden Sprachen ins Gleichgewicht setzen? Diese Frage hat der Verfasser zu beantworten gesucht, und wenn er auch meist eben da abbricht, wo die psychologische Vertiefung zu beginnen h\u00e4tte, so ist sein Aufsatz wegen der geschickten Auswahl der Belege doch weder f\u00fcr Linguisten, noch f\u00fcr Psychologen uninteressant. Ja, den letzteren d\u00fcrfte er sogar manche neue Anschauung zuf\u00fchren, da die Spezialuntersuchungen von Schuchardt und anderen ihnen fern liegen und H. Paul in den Prinzipien der Sprachgeschichte (Halle 1886), Kap. 22 u. 23, zwar tiefer greift, als der Verfasser, aber doch nicht alle von diesem behandelten Fragen ber\u00fchrt.\nVerfasser unterscheidet Hybridit\u00e4t und Bilinguismus. Bei der ersteren verschmelzen sich zwei Sprachen zu einer, bei der letzteren werden beide Sprachen selbst\u00e4ndig nebeneinander verwendet, und zwar entweder von denselben Individuen oder verteilt unter soziale Gruppen eines Volkes. Der merkw\u00fcrdigste Fall der Hybridit\u00e4t ist der, dafs ein Volk nur das sich aus seiner eigenen Sprache bewahrt, was Humboldt und Steinthal die innere Sprachform nennen, also das grammatische Ger\u00fcst der Sprache, Laut-, Formensystem und Syntax, w\u00e4hrend der Sprachstoff, das Vokabular, einer kultivierteren Sprache entlehnt wird unter v\u00f6lliger Aufgabe des eigenen. Eben dieser Fall ist es, der, wie Schuchardt gezeigt hat, in gewissen Kreolensprachen vorliegt, die den franz\u00f6sischen oder portugiesischen Wortschatz in die Formen der malaiischen oder einer afrikanischen Negersprache pressen. Hier z. B. w\u00e4re eine psychologische Begr\u00fcndung am Platze und leicht gewesen. Die innere Sprachform ist zweifellos dem Ged\u00e4chtnisse viel tiefer eingepr\u00e4gt als der Wortschatz. Denn weit \u00f6fter auch als das h\u00e4ufigste flexible Wort wiederholen sich in der Bede die Flexionsendungen und die Satztypen. \u2014 Wo die Verschmelzung zweier Sprachen keine so v\u00f6llige ist, wie in dem citierten Fall, sondern etwa blofs eine Anzahl W\u00f6rter und einige Flexionsformen aus der einen in die andere aufgenommen werden, lieben es bedeutungsgleiche W\u00f6rter, sich zu polarisieren, wie es der Verfasser nennt, sich zu differenzieren, wie wir sagen w\u00fcrden. So im Englischen h\u00e4ufig die normannischen und die angels\u00e4chsischen Bestandteile: calf ist das Tier, veal das Fleisch.\nDer individuelle Bilinguismus zeigt sich z. B. schon beim Gebrauch der Hoch- und der Umgangssprache seitens desselben Individuums, beim Gebrauch der poetischen Sprache neben der prosaischen, gel\u00e4ufig erlernter Sprachen neben der eigenen. Gerade beim letzteren Punkt k\u00f6nnte wohl eine gr\u00fcndliche psychologische Untersuchung dar\u00fcber, wie weit fremde Elemente neben denen der eigenen Sprache sich ins Bewufst-sein dr\u00e4ngen, manches Neue ergeben; der Verfasser greift dies Problem kaum an. \u2014 Beim sozialen Bilinguismus handelt es sich vielfach darum, dafs eine abgestorbene oder absterbende Sprache von einer gewissen Klasse der Bev\u00f6lkerung fortgef\u00fchrt wird. So das Sanskrit und Latein von Gelehrten und Priestern, das Patois, das allm\u00e4hlich vom Hochfranz\u00f6sischen verdr\u00e4ngt wird, von Bauern, bei den Karaiben die Sprache eines unterworfenen und angeblich bis auf seine weiblichen Angeh\u00f6rigen","page":73},{"file":"p0074.txt","language":"de","ocr_de":"74\nLitter a turbericht.\nausgerotteten Stammes von den Weibern. Dieser soziale Bilinguismus erscheint \u00fcbrigens z. B. bei den Engl\u00e4ndern nach der normannischen Einwanderung als Vorstufe der Hybridit\u00e4t; es ist, wie ich meine, interessant genug, dafs noch Scott im Ivanhoe unter alleiniger Verwendung moderner Elemente die Sprache des Siegers als normannisch, die des Besiegten als angels\u00e4chsisch charakterisieren kann. Auch hier \u00fcbrigens wird vom Verfasser auf das eigentliche psychologische Problem, wieso dem Sprachgenossen gegen\u00fcber sich ebenso sicher und richtig immer die Standessprache einstellt, wie anderen gegen\u00fcber die Gemeinsprache, nicht weiter eingegangen.\nM\u00f6chte doch die moderne Psychologie dieser und \u00e4hnlicher Fragen der Linguistik sich einmal annehmenI\tP. Skutsch (Breslau).\nA. Marty. \u00dcber subjektlose S\u00e4tze und das Verh\u00e4ltnis der Grammatik zu Logik und Psychologie. Sieben Artikel. Vierteljahr sehr. f. wiss. Phil. Art. 1: Bd. VIII. S. 56-94. Art. 2: ebenda S. 161\u2014192. Art. 3: ebenda S. 292\u2014340. Art. 4: Bd. XVIII. S. 320\u2014356. Art. 5: ebenda S. 421\u2014471. Art. 6: Bd. XIX. S. 19\u201487. Art. 7: ebenda S. 263\u2014334.\nIm Gegens\u00e4tze zu der durch ihr Alter geheiligten Lehre, dafs das Urteilen im Beziehen zweier Vorstellungen aufeinander bestehe und vom Vorstellen nicht wesentlich verschieden sei, hat Brentano die Ansicht aufgestellt und begr\u00fcndet, dafs Urteilen soviel sei, wie Anerkennen und Verwerfen, und dafs zwar der Gegenstand eines Urteils eine Vorstellung, das Urteilen selbst aber vom Vorstellen toto genere verschieden und neben diesem und den Gef\u00fchlen als ein nicht weiter ableitbares Verhalten der Seele zu betrachten sei. Er st\u00fctzt sich in seiner Begr\u00fcndung besonders auf das Impersonale und den Existentialsatz, in denen ja von einer Beziehung zweier Vorstellungen aufeinander nicht die Bede sein k\u00f6nne. Diese Lehre hat viel Widerspruch gefunden, aber auch Zustimmung. Von sprachwissenschaftlicher Seite ist zu Brentano ein besonders willkommener Bundesgenosse gestofsen, der bekannte Slavist Miklosich, der in seiner kleinen, aber inhaltsreichen Schrift \u201e Subjektlose S\u00e4tze, 2.1883\u201c sich ganz auf den Standpunkt der Brentano-schen Urteilstheorie stellt, nachdem er dargelegt, dafs keine andere Erkl\u00e4rung die eigenartige Erscheinung der Impersonalien verst\u00e4ndlich zu machen verm\u00f6ge. Im Anschlufs an Miklosichs Schrift hat es nun Marty bereits im Jahre 1884 unternommen, die Frage der Impersonalien bis in ihre letzten Gr\u00fcnde zu verfolgen, und so ist aus einer Abhandlung \u00fcber die sog. subjektlosen S\u00e4tze eine Untersuchung \u00fcber das Verh\u00e4ltnis des sprachlichen Ausdruckes zu dem ausgedr\u00fcckten Gedanken geworden. Die im Jahre 1884 begonnene Artikelreihe ist aber erst im Jahre 1894 fortgesetzt worden und vor kurzem zum Abschlufs gekommen, nachdem sich in der langen Zwischenzeit von allen Seiten Stimmen gegen seine Auffassung, welche im wesentlichen mit der Miklosichs \u00fcbereinstimmt, erhoben hatten. Der Gang der Untersuchung Martys ist folgender:\nEhe er an die Frage nach der Bedeutung der unpers\u00f6nlichen S\u00e4tze herantritt, weist er irrige Ansichten \u00fcber das Verh\u00e4ltnis von Denken und Sprechen zur\u00fcck und erkl\u00e4rt es im Gegens\u00e4tze zu einer","page":74}],"identifier":"lit30000","issued":"1896","language":"de","pages":"72-74","startpages":"72","title":"Raoul de la Grasserie: Du ph\u00e9nom\u00e8ne psychologique de l'hybridit\u00e9 linguistique et du bilinguisme. Rev. philos. Bd. 39, 6. S. 626-644. 1895","type":"Journal Article","volume":"11"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:57:52.876565+00:00"}