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{"created":"2022-01-31T14:49:34.682777+00:00","id":"lit30002","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Neisser, Clemens","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 11: 77-80","fulltext":[{"file":"p0077.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturbericht.\n77\ndient, das ist seine Art der Widerlegung. Wie nahe lag es, als den schlagendsten Beweis f\u00fcr die Unhaltbarkeit der alten Urteilstheorie und der von ihrem Standpunkte aus versuchten Deutungen der subjektlosen S\u00e4tze gerade die Vielheit und Mannigfaltigkeit dieser Deutungen selbst und die oft recht verzweifelten Versuche, sich mit den Impersonalien abzufinden, zu bezeichnen! Marty verzichtet auf solche Art Beweisf\u00fchrung. Jede gegnerische Ansicht wird auf das eingehendste gepr\u00fcft, und \u00fcberall zeigt Marty das aufrichtige Bem\u00fchen, den Gegner zu verstehen und sich auf seinen Standpunkt zu versetzen. Die Widerlegung nimmt dadurch einen sehr breiten Baum ein, aber sie ist um so zwingender ; auch bleibt sie nicht ohne positiven Gewinn. Dahin geh\u00f6ren die Bestimmung der Begriffe Existenz und Realit\u00e4t, die Er\u00f6rterungen \u00fcber Humes und Kants Lehre vom Existentialsatze u. a. Dafs die Artikel Martys den Erfolg haben, die Gegner zu \u00fcberzeugen, ist freilich zun\u00e4chst nicht zu hoffen. Wb hl aber darf die Erwartung ausgesprochen werden, dafs sie der Lehre der BRENTANOschen Schule allm\u00e4hlich immer mehr Anh\u00e4nger zuf\u00fchren werden.\nF. Schroeder (Schlettstadt).\nW. Preyer. Zur Psychologie des Schreibens. Hamburg und Leipzig, Leopold Voss. 1895. 230 S.\nIn vorliegendem Werke giebt uns der bekannte Gelehrte die Resul-tate seiner Studien \u00fcber die individuellen V erschiedenheiten der Handschriften und ihre Ursachen. Neun dem Buche beigegebene Tafeln und zweihundert in den Text verflochtene (vorz\u00fcglich faksimilierte) Schriftproben \u2014 zum Teil \u00e4ufserst instruktive und interessante Beispiele \u2014 illustrieren die klare, lebendige Darstellung, von deren Gang und Ergebnissen im Folgenden eine kurze \u00dcbersicht gegeben sei.\nNachdem der Verfasser in der Einleitung diejenigen Eigent\u00fcmlichkeiten der Schrift, welche mehr kollektiver Natur, d. h. auf Rechnung der Nationalit\u00e4t, des Alters, des Berufes u. dergl. zu setzen sind, kurz ber\u00fchrt hat, wendet er sich den individuellen Verschiedenheiten zu, welche nun ausschliefslich den Gegenstand der Untersuchung bilden. Im ersten Abschnitt stellt Preyer die Merkmale zusammen, welche die Mannigfaltigkeit des Charakters der verschiedenen Handschriften bedingen. Dem allgemeinen Eindr\u00fccke nach beurteilt, ist eine Schrift sch\u00f6n, leserlich, gleichm\u00e4fsig, sicher, nat\u00fcrlich oder das Gegenteil. Geht man auf das Detail ein, so kommen im wesentlichen folgende Momente in Betracht: 1. Die Form der Schriftzeichen und ihrer Zuthaten (\u00dcberwiegen von Kurven oder geraden Linien und spitzen Winkeln). 2. Die Kontinuit\u00e4t der zusammengeh\u00f6rigen Schriftzeichen (Verh\u00e4ltnis der Verbindungen und L\u00fccken zwischen den Buchstaben innerhalb der W\u00f6rter). 3. Die Vollst\u00e4ndigkeit der Schrift. (Hierzu m\u00f6chte Referent bemerken, dafs das Fehlen resp. unrichtige Verdoppeln von Buchstaben, welches der Verfasser f\u00fcr diesen Punkt in Betracht zieht und z. B. zur Beurteilung der Bildungsstufe des Schreibers verwertet, nicht den Charakter der","page":77},{"file":"p0078.txt","language":"de","ocr_de":"78\nLi tteraturbericht.\nSchrift, sondern ihren Inhalt betrifft, \u2014 und nur mit ersterem hat es der Graphologe, streng genommen, zu thun !).\t4. Die G-r\u00f6fse, und zwar\nsowohl die absolute H\u00f6he und Breite der einzelnen Buchstaben, wie das Verh\u00e4ltnis der H\u00f6he der Majuskeln und der H\u00f6he der Langbuchstaben zu der der Kurzbuchstaben \u2014 ebenso auch die L\u00e4nge der Querstriche, Gedankenstriche und anderer Interpunktionen. 5. Das Verhalten der Grund-und Haarstriche, die Form der ersteren (keulenf\u00f6rmig, dolchartig, varik\u00f6s) und das Verh\u00e4ltnis der Breite beider. 6. Die Schriftlage (rechtsschr\u00e4g, steil, linksschr\u00e4g). 7. Die Dichtung der Zeilen (aufw\u00e4rts, abw\u00e4rts, unregelm\u00e4fsig wellig). 8. Die L\u00e4nge der Zeilen im Verh\u00e4ltnis zur Breite der Schreibfl\u00e4che. 9. Der Abstand der Zeilen. Schliefslich wird auch noch auf den individuell ungemein verschiedenartigen Namenszug (die Paraphe) hingewiesen. Alle diese charakteristischen Merkmale lassen sich nun, wie weiterhin im dritten Abschnitt (\u201eAnalyse und Synthese der Schriftzeichen\u201c) gezeigt wird, auf wenige Elemente zuriickf\u00fchren :\t1. Die\nEichtung der Bewegung der Federspitze. 2. Die L\u00e4nge des nach den acht Eichtungen des \u201eSchriftkompasses\u201c (oben, unten, rechts, links, oben-rechts, obenlinks, untenrechts, untenlinks) von ihr durchlaufenen Weges, d. h. die Ausdehnung des Federstriches. 3. Die Breite desselben. 4. Die Unterbrechung oder Pause in der (in allen F\u00e4llen nur kurze Zeit kontinuierlichen) Federspitzenbewegung. Aus diesen vier variablen Komponenten resultiert also der individuelle Typus der Schrift. \u2014 Bereits im zweiten Abschnitt hatte Preyer auseinandergesetzt, dafs die konstanten individuellen Kennzeichen einer Schrift nicht nur der Handschrift zukommen, sondern sich im wesentlichen \u2014 schon nach kurzer diesbez\u00fcglicher \u00dcbung \u2014 in Schriften vorfinden, welche mit dem (rechten wie linken) Fufse, dem Mund, der Knie- oder Ellenbogenbeuge gefertigt sind. Er zieht daraus den Schlufs, dafs die Individualit\u00e4t der Schrift nicht von Besonderheiten der Muskeln, B\u00e4nder, Knochen und \u00fcberhaupt der Beschaffenheit peripherer Organe abh\u00e4ngt, sondern zentral bedingt ist. In dem vierten, umfassendsten Abschnitt seines Buches versucht nun Preyer \u2014 auf Grund eigener Studien und eingehender Pr\u00fcfung der Angaben anderer Graphologen (zumal Michons) \u2014 die Beziehungen der individuellen Variationen der Schreibbewegungen zu bestimmten psychischen Zust\u00e4nden und Vorg\u00e4ngen festzustellen und den Zusammenhang zu erkl\u00e4ren. Eine auch nur halbwegs ersch\u00f6pfende Wiedergabe des ungemein reichen Inhaltes ist im Eahmen eines Eeferates unm\u00f6glich; es k\u00f6nnen hier nur die Umrisse angedeutet werden. Das Bedeutungsvollste aller oben aufgez\u00e4hlten Merkmale ist die Form der Schriftzeichen. (Eingelernte Schriften, wie z. B. die typisch kalligraphische, kommen nat\u00fcrlich f\u00fcr die Beurteilung nicht in Betracht.) Den Hauptgegensatz bildet die runde und die eckige Schrift: Das \u00dcberwiegen von Kurven deutet auf Sanftmut, Neigung zum Nachgeben, Mildern von Gegens\u00e4tzen, das \u00dcberwiegen der geraden Linien und spitzen Winkel auf die gegenteiligen Eigenschaften (Schroffheit, Eigensinn u. dergl.). Es folgt nun eine F\u00fclle charakteristischer Einzelheiten: Die offene, bezw, geschlossene Schreibung des a, b, d, o etc., die Verzierungen (zumal der Majuskeln), ihre Ausdehnung und harmonische Gestaltung,","page":78},{"file":"p0079.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturbericht.\n79\ndie An-, End- und Querstriche mit ihren zahlreichen Variationen (Egoismusschleife, Harpune, Protektionsstrich, Mifstrauensstrich etc.) u. a. m. N\u00e4chst der Form der Schriftzeichen kommt ihre Kontinuit\u00e4t in Betracht. Preyer acceptiert hierf\u00fcr die zuerst von Michon aufgestellte Ansicht, dafs das \u00dcberwiegen verbundener Buchstaben einer praktischen, logischen, das isolierter einer idealistischen, intuitiven Natur entspreche. Auch dafs grofse Schriftz\u00fcge auf Stolz und hohe Ziele hinweisen, findet Preyer im allgemeinen zutreffend, erinnert jedoch daran, dafs damit weder \u00fcber die Berechtigung zu ersterem, noch \u00fcber die Bef\u00e4higung zu letzteren etwas ausgesagt ist. Stark wechselnde G-r\u00f6fse der Buchstaben spricht f\u00fcr Impressionabilit\u00e4t, Unbest\u00e4ndigkeit; Zunahme der H\u00f6he gegen das Ende der W\u00f6rter f\u00fcr Offenheit, Naivet\u00e4t. Gegen\u00fcber der Deutung der meisten Graphologen, dafs \u00fcberwiegende L\u00e4nge des oberen bezw. unteren Teiles der Langbuchstaben mit Sinn f\u00fcr geistige bezw. materielle Interessen Zusammenh\u00e4nge, verh\u00e4lt sich Preyer durchaus skeptisch. \u00dcberhaupt warnt er gerade bez\u00fcglich allgemeiner psychologischer Schl\u00fcsse aus der Gr\u00f6fse der Schriftzeichen zur Vorsicht, da f\u00fcr die absolute Gr\u00f6fse auch physiologische Momente mafsgebend sind (Ausbildung des Muskelsinnes und der Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Gelenkexkursionen). Die psychologische Deutung des Verh\u00e4ltnisses von Haar- und Grundstrichen (Energie, Entschlossenheit bezw. Mangel daran), der Schriftlage (rechtsschr\u00e4g = Sensibilit\u00e4t, steil bezw. linksschr\u00e4g = Selbstbeherrschung reizbarer Naturen), der Zeilenrichtung (aufw\u00e4rts = Sanguinismus, abw\u00e4rts \u2014 Pessimismus), Zeilenl\u00e4nge (Sparsamkeit oder Freigebigkeit bezw. Verschwendung je nach der Ausdehnung des frei-gelassenen Randes) weicht von der anderer Graphologen nicht wesentlich ab. Den Namenszug endlich h\u00e4lt Preyer wohl f\u00fcr charakterologisch wichtig, schreibt ihm aber gegen\u00fcber den anderen Merkmalen nur eine accessorische Bedeutung zu. \u2014 Dies ist, wie schon bemerkt, nur der Rahmen, innerhalb welches eine reiche Mannigfaltigkeit detaillierterer Kennzeichen mit ihren Modifikationen und Kombinationen nach Form und psychologischer Bedeutung eingehend charakterisiert wird. Aber schon das wenige hier Mitgeteilte l\u00e4fst den Hauptmangel, welcher den Ausf\u00fchrungen Preyers anhaftet, deutlich hervortreten: statt einfachster psychischer Vorg\u00e4nge werden die kompliziertesten psychologischen Begriffe (Eigensinn, Taktgef\u00fchl, Heuchelei u. dergl.) f\u00fcr die Deutung der individuellen Schriftverschiedenheiten herangezogen, \u2014 nur mit der Zur\u00fcckf\u00fchrung auf erstere aber liefse sich eine wissenschaftliche Fundierung der Graphologie schaffen ! Dagegen mufs anerkannt werden, dafs Preyer die bei unwissenschaftlichen Graphologen so beliebten rein metaphorischen Erkl\u00e4rungen des Zusammenhanges der psychischen und Schrifteigent\u00fcmlichkeiten zu vermeiden bem\u00fcht ist. Allerdings ist auch bei seinem Bestreben, nur wirkliche Bewegungen und mit ihnen assoziierte Vorstellungen als Analogien gelten zu lassen, noch gar manches allzuweit hergeholt und zu phantasievoll verkn\u00fcpft. So z. B., wenn das \u00dcberragen des \u201emittleren St\u00fcckes im M und im W \u00fcber die beiden anderen Teile hinaus einem Herabsehen des Empork\u00f6mmlings auf seine eigene einfache Vergangenheit und zugleich auf andere, die es","page":79},{"file":"p0080.txt","language":"de","ocr_de":"80\nLitteraturbericht.\nnicht so weit brachten\u201c, entsprechen soll (s. S. 101). \u00dcbrigens warnt Preyer selbst vor einer voreiligen Verwertung einzelner charakteristischer Zeichen. Er betont z. B. ausdr\u00fccklich, dafs man aus dem Fehlen eines solchen nicht auf das Fehlen der betreffenden psychischen Eigenschaft schliefsen d\u00fcrfe. \u201eEin positives oder negatives Merkmal\u201c \u2014 heifst es weiter \u2014 \u201ehat f\u00fcr sich allein nur einen geringen Wert. Bei einer gr\u00fcndlichen Begutachtung einer Handschrift m\u00fcssen alle bekannten Merkmale jedes f\u00fcr sich zun\u00e4chst untersucht werden mit R\u00fccksicht darauf, ob sie stark und oft oder stark und selten oder schwach und oft oder schwach und selten oder gar nicht ausgepr\u00e4gt sind. Dann wird aus dem ganzen Symptomenkomplex das Endresultat unter Abw\u00e4gung der sich oft widersprechenden Einzelzeichen vorsichtig zusammengefafst.\u201c Und auch dann wird man sich noch der \u201efundamentalen Regel\u201c zu erinnern haben, dafs Mjedes Schriftst\u00fcck nur den bei seiner Abfassung vorhandenen Gem\u00fctszustand erkennen l\u00e4fst, also in einer Hinsicht ein Stimmungsbild ist.\u201c Der Schlufsabschnitt (V): \u201eZur Pathologie der Schrift\u201c stellt nur eine Skizze des weiten Gebietes dar, enth\u00e4lt aber doch eine ganze Reihe wertvoller Details und ist namentlich durch ein sehr gl\u00fcckliches Einteilungsprinzip ausgezeichnet.\tDr. Clemens Neisser (Leubus).\nPermann Conrads. \u00dcber Geisteskrankheiten im Kindesalter. Arch. f.\nKinderheilkde. Bd. XIX. 42. S. 1895.\nDie vorliegende Arbeit bezweckt, den praktischen Wert der Lehre von den Geisteskrankheiten im Kindesalter nachzuweisen. Verfasser unterscheidet reine Psychosen und Psychosen als Folgeerscheinung einer Neurose; zu letzteren geh\u00f6ren die epileptischen, hysterischen und choreatischen Geistesst\u00f6rungen. Da bei fast allen Formen des kindlichen Irreseins als erste Heilungsbedingung die Unterbringung in eine Anstalt notwendig ist, das Zusammensein jugendlicher und erwachsener Irrsinnigen aber zu schweren \u00dcbelst\u00e4nden f\u00fchrt, so fordert Verfasser die Errichtung besonderer Irrenanstalten f\u00fcr Kinder, wobei er als vorbildlich die segensreiche Wirksamkeit der Asyle f\u00fcr idiotische Kinder hervorhebt, Die Bekanntschaft mit den Kinderpsychosen ist nicht blofs f\u00fcr den Arzt, sondern auch f\u00fcr den Lehrer von hoher Wichtigkeit, weshalb Verfasser in \u00dcbereinstimmung mit Ueer die Notwendigkeit betont, die angehenden P\u00e4dagogen schon w\u00e4hrend ihres Universit\u00e4tsstudiums nicht nur mit den normalen, sondern auch mit den krankhaften Erscheinungen $er Psyche, mit der Psychopathologie, vertraut zu machen.\nTheodor Heller (Wien).","page":80}],"identifier":"lit30002","issued":"1896","language":"de","pages":"77-80","startpages":"77","title":"W. Preyer: Zur Psychologie des Schreibens. Hamburg und Leipzig, Leopold Voss. 1895. 230 S.","type":"Journal Article","volume":"11"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:49:34.682783+00:00"}