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{"created":"2022-01-31T14:49:36.830931+00:00","id":"lit30005","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Landmann, S.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 11: 134-152","fulltext":[{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Diagnose psychischer Vorg\u00e4nge, mit besonderer Bezugnahme auf Hamlets\nGeisteszustand.\nVon\nS. Landmann.\nDer Breitegrad, bis zu welchem die Gesundheit von dem \u00c4quator der Normalit\u00e4t hinaufreicht, liegt auf der Sph\u00e4re des geistigen Lebens h\u00f6her, als auf der des vegetativen. Die geistigen Erscheinungen k\u00f6nnen daher, ohne noch als krankhafte angesehen werden zu d\u00fcrfen, eine viel gr\u00f6fsere Mannigfaltigkeit darbieten, als die physischen. Wird die .Klasse der Simulanten abgerechnet, deren Erkenntnis auf jedem Gebiete mit mehr oder minder gr\u00f6fser Schwierigkeit verbunden ist, so l\u00e4fst sich wohl die Behauptung aufsteilen, dafs physische Abnormit\u00e4ten nur ausnahmsweise einen Zweifel an dem Charakter der Krankhaftigkeit aufkommen lassen, w\u00e4hrend die psychischen gar nicht selten zu folgenschweren Xrrt\u00fcmern verleitet haben. Und kommt es wirklich vor, dafs die Bedeutung einer physischen Abnormit\u00e4t einen Zweifel erweckt, so gen\u00fcgt in den meisten F\u00e4llen eine Beobachtung von h\u00f6chst beschr\u00e4nkter Dauer, um eine sichere Aufkl\u00e4rung mit hoher Wahrscheinlichkeit herbeizuf\u00fchren. Die Abnormit\u00e4ten psychischer Erscheinungen hingegen lassen sich nur im Zusammenh\u00e4nge mit den \u00fcbrigen Aufserungen des geistigen Lebens als gesunde oder krankhafte mit Bestimmtheit erkennen. Ein einzelner Charakterzug, eine aus dem Zusammenh\u00e4nge gleichsam herausgerissene Geistes-th\u00e4tigkeit gestattet vielleicht nur in den seltensten F\u00e4llen ein richtiges Urteil \u00fcber den geistigen Gesundheitszustand eines Menschen. Ein in das Einzelne dringender \u00dcberblick \u00fcber den grofsen Teil eines allgemeine oder besondere Teilnahme erweckenden Lebens erm\u00f6glicht es vielleicht allein, aufser-","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Diagnose psychischer Vorg\u00e4nge.\n135\ngew\u00f6hnliche geistige Erscheinungen erfolgreich einer psychologischen Pr\u00fcfung zu unterziehen. Daher mag es kommen, dafs poetische Gestalten, deren Leben von einem genialen Dichter in einem Drama vor gef\u00fchrt wird, seit den \u00e4ltesten Zeiten von Psychologen zum Gegenst\u00e4nde der Studien gemacht wurden, und dafs heutigentags der Wert einer dichterischen Sch\u00f6pfung haupts\u00e4chlich durch eine psychologische Beurteilung bestimmt wird.\nShakespeare geh\u00f6rt unstreitig zu jenen Dichtern, welche durch ihre scharfsichtige Menschenkenntnis und meisterhafte Darstellungskunst die psychologischen Untersuchungen anzuregen verstanden, und von allen seinen Sch\u00f6pfungen hat vielleicht keine dem Verst\u00e4ndnisse so grofse Schwierigkeiten dargeboten, als Hamlet, der Prinz von D\u00e4nemark. Der Grund davon, dafs die \u00c4sthetiker bis jetzt noch zu keiner Einigkeit \u00fcber den Charakter oder vielmehr den Geisteszustand Hamlets gekommen sind, scheint mir in der zu geringen Beachtung der Thatsache zu liegen, dafs es Shakespeare sich zur Aufgabe gemacht hat, in seinem Hamlet, wie auch in verschiedenen anderen Helden seiner Dramen, einerseits die Macht zu zeigen, welche von den Vorstellungen auf die menschlichen Handlungen ausge\u00fcbt wird, und andererseits den Nachweis zu liefern, dafs diese die motorische Th\u00e4tigkeit beherrschenden Vorstellungen keine feststehenden, immer gleich bleibenden Bewufstseinsbilder zu sein brauchen, sondern allm\u00e4hlich, sei es durch Gef\u00fchlseindr\u00fccke, sei es durch angeregte Denkprozesse, in andere umgewandelt werden k\u00f6nnen. Diese Allm\u00e4hlichkeit, mit welcher die Lebenserfahrung eine \u00c4nderung in den die Muskelth\u00e4tig-keit ausl\u00f6senden Heizen herbeif\u00fchrt und den ethischen Wert des Helden verringert, scheint mir in erster Linie geeignet, die Teilnahme der Zuschauer f\u00fcr das Schicksal des dramatischen Helden zu fesseln und den Anforderungen zu entsprechen, welche von dem veredelten Sch\u00f6nheitsgef\u00fchle an die Leistungen der tragischen Kunst gestellt werden m\u00fcssen. Seltenere, \u00fcberraschendere und ersch\u00fctterndere Ereignisse, als diejenigen sind, von welchen der f\u00fcr seine Zeit fein gebildete J\u00fcngling Hamlet gezwungen wird, den Aufenthalt an einer Hochschule, dem Sitze der Wissenschaften, mit der Heimkehr in die schauerliche St\u00e4tte einer beispiellosen Lasterhaftigkeit zu vertauschen, hat wohl nur selten ein anderer Dichter zum Ausgangspunkte","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"136\nS. Landmann.\neiner tragischen Geschichte ersonnen. M\u00f6gen immerhin die Knnstrichter verschiedener Ansichten dar\u00fcber sein, wie die Ver\u00e4nderungen aufgefafst werden m\u00fcssen, welche in dem geistigen Zustande Hamlets durch das schreckliche Familiendrama hervorgebracht wurden \u2014 dar\u00fcber werden sie einig sein, dafs ihr Held um so gr\u00f6fsere Bewunderung zu erwecken vermag, je l\u00e4nger er trotz aller Ver\u00e4nderungen im F\u00fchlen und Denken die alten Vorstellungen, welche zu Grunds\u00e4tzen der Handlungen geworden sind, festzuhalten im st\u00e4nde war. Es darf als eine menschliche und daher verzeihliche Schw\u00e4che beurteilt werden, dafs jemand unter dem Einfl\u00fcsse aufser-gew\u00f6hnlicher Gem\u00fctsaufregungen den M\u00f6rder seines Vaters und den Buhlen seiner Mutter besinnungslos ersticht. Aber dem Manne, der auch unter solchen Eindr\u00fccken seine Handlungen von den Grunds\u00e4tzen einer streng religi\u00f6sen Sittlichkeit nur sehr schwer loszul\u00f6sen sich entschliefst, wird die aufrichtige Teilnahme eine erhebende Bewunderung nicht versagen. Shakespeare hat in seinem Hamlet den lange Zeit hindurch behaupteten \"Widerstand des sittlichen Charakters gegen die Angriffe der Gef\u00fchlsst\u00fcrme mit mehr oder minder allgemein anerkannter Genialit\u00e4t dargestellt.\nAls eine unerl\u00e4fsliche Vorbedingung f\u00fcr die Entwickelung einer solchen Genialit\u00e4t ist der Umstand zu betrachten, dafs der Held, der in solchen inneren Konflikten von grunds\u00e4tzlicher K\u00fche und leidenschaftlicher Hingerissenheit dargestellt werden soll, einen normalen Geisteszustand besitzt. W\u00e4re er durch eine funktionelle oder organische St\u00f6rung der Gehirn-th\u00e4tigkeit unf\u00e4hig, eine Bewegungsvorstellung zu einer Handlung werden zu lassen, so k\u00f6nnte er von einem Dichter, der seinen Kuf nicht leichtsinnig auf das Spiel setzen will, gerade deswegen nicht f\u00fcr ein dramatisches Werk verwendet werden. Wenn somit Carl Rosner1 die Behauptung aufstellt, dafs Shakespeare in der Person seines Hamlets einen nerv\u00f6s Kranken, einen hysterischen Neurastheniker zu zeichnen beabsichtigt hat, so hat er es unwillk\u00fcrlich versucht, die ganze Welt zu \u00fcberzeugen, dafs die Bewunderung, welche bisher dem Dichter\n1 Shakesperes Hamlet im Lichte der Neuropathologie. Vortrag, gehalten in der Gesellschaft f\u00fcr psychologische Forschung. M\u00fcnchen-Berlin-Prag, Fischers medizinische Buchhandlung, H. Kornfeld. 1895.","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Diagnose psychischer Vorg\u00e4nge.\n137\ngeschenkt wurde, eigentlich einer Berechtigung entbehrte. Denn ein kranker Mensch kann wohl das Gef\u00fchl des Mitleids, aber f\u00fcr die sch\u00f6pferische Kunst, die ihn auf die B\u00fchne bringt, keine Begeisterung erwecken. Und um dies zu ber\u00fccksichtigen, war Shakespeare ein viel zu grofser Menschenkenner. Man kann sich ja vollst\u00e4ndig damit einverstanden erkl\u00e4ren, dafs in den Gef\u00fchls\u00e4ufserungen, welche der Dichter seinem Helden in den Mund legt, und in dem Benehmen, das er ihn zeigen l\u00e4fst, gar manches vorkommt, was am leichtesten durch die Annahme eines krankhaften Zustandes verstanden wird. Aber wenn der Dichter selbst, wie doch vorausgesetzt werden darf, keinen Grund gehabt haben konnte, einem Neurastheniker das Vorbild seines Helden zu entnehmen, und ein Interesse daran haben mufste, seinen Helden geistig gesund erscheinen zu lassen, wird man wohl zu dem Versuche fast verpflichtet sein, auffallende Geisteserscheinungen auf normale Vorg\u00e4nge zur\u00fcckzuf\u00fchren und die Merkmale, durch welche sie von \u00e4hnlichen krankhaften sich unterscheiden, so gut als m\u00f6glich vom psychologischen Standpunkte aus zu ermitteln.\nSchon in dem ersten Monologe (I. 2), der mit den Worten beginnt :\n\u201eO, schm\u00f6lze doch dies allzu feste Fleisch etc.\u201c\nsoll, wie Gare Bosner behauptet, die Verfassung Hamlets als eine \u201edirekte \u00dcbersetzung44 der Schilderung erscheinen, welche Dr. L. Loeweneeld in seinem Buche \u201eDie Ersch\u00f6pfungszust\u00e4nde des Gehirns44 von dem neurasthenischen Zustande giebt und welche folgendermafsen lauten soll: \u201eIn schlimmeren F\u00e4llen der Neurasthenie finden sich ausgepr\u00e4gte melancholische Zust\u00e4nde: Angst, vollst\u00e4ndige Interesselosigkeit f\u00fcr die Welt. Dem Patienten ist Alles anders, als es ihm fr\u00fcher war; er kann sich \u00fcber nichts mehr freuen, f\u00fcr nichts mehr erw\u00e4rmen, und dabei Mangel jeder Hoffnung, dafs sich dieser Zustand jemals \u00e4ndere: damit im Zusammenh\u00e4nge unter Umst\u00e4nden auch Selbstmordgedanken.44\nEs mag diese Schilderung eine noch so richtige sein, so kann sie doch nur auf einen bleibenden Zustand sich beziehen, von welchem ein auch noch so \u00e4hnlicher, aber momentaner schon durch seine Fl\u00fcchtigkeit wesentlich verschieden sein mufs. Wenn aus alten und h\u00e4ufig wiederkehrenden wohl-","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nS. Landmann.\ntimenden Sinneseindr\u00fccken Bewufstseinsbilder geworden sind, die gleichsam zum Best\u00e4nde des geistigen Besitzes geh\u00f6ren, und durch pl\u00f6tzliche neue Wahrnehmungen gleichsam vernichtet werden, mufs in einer normalen geistigen Individualit\u00e4t durch das Bewufstsein des eingetretenen Verlustes ein Gef\u00fchl der Trauer oder Verstimmung erweckt werden, gerade so, wie in jener Individualit\u00e4t, in welcher durch eine krankhafte Ver\u00e4nderung der Gehirnfunktionen alte Bewufstseinsbilder ihre Wirkung auf das Gef\u00fchlszentrum auszu\u00fcben verhindert werden. Der Unterschied besteht darin, dafs die momentane, durch \u00e4ufsere Eindr\u00fccke hervorgebrachte Verstimmung, solange sie nicht in einen krankhaften Zustand \u00fcb erge gangen ist, mit dem Gef\u00fchle einer unver\u00e4nderten Bewufstseinsf\u00e4higkeit verbunden bleibt. Mag es daher immerhin zu den Charakteren der Neurasthenie geh\u00f6ren, dafs der Kranke jede Hoffnung auf eine Besserung aufgiebt, \u2014 Hamlet hat trotz aller Gem\u00fctsbewegungen, die er erlitten hat, eine solche Aufserung niemals h\u00f6ren lassen; denn das Gef\u00fchl einer normalen Bewufstseins-f\u00e4higkeit war ihm geblieben. Ein Beweis f\u00fcr die [Richtigkeit dieser Behauptung liegt in der Antwort, welche Hamlet der K\u00f6nigin-Mutter auf das Verlangen nach einer Beendigung der Trauer giebt. Er sagt ausdr\u00fccklich, dafs die verschiedenen Zeichen seiner Trauer \u201esamt aller Sitte, Art, Gestalt des Grams\u201c nicht das ist, \u201ewas wahr\u201c ihn \u201ekund giebt\u201c.\n\u201eEs sind Geberden, die man spielen k\u00f6nnte;\nWas \u00fcber allem Schein, trag\u2019 ich in mir;\nAll dies ist nur des Kummers Kleid und Zier.\u201c\nDeutlicher, als in diesen Worten, kann das klare Bewufstsein eines gesunden geistigen Zustandes wohl kaum ausgedr\u00fcckt werden, und eine solche von jeder T\u00e4uschung freie Selbsterkenntnis wird an einem Neurastheniker wohl schwerlich in irgend einem Stadium seiner Krankheit beobachtet worden sein.\nAn den Worten, mit denen Hamlet den erschienenen Geist des Vaters anredet, an der Entschiedenheit, mit welcher er auf eine Antwort dringt, an der Entschlossenheit, mit welcher er trotz aller Gegenvorstellungen von seiten Horatios und Marcellus\u2019 dem Geiste zu folgen sich bereit erkl\u00e4rt, sowie an der Gleichg\u00fcltigkeit gegen eine m\u00f6glicherweise drohende Lebensgefahr \u2014 an allen diesen Erscheinungen, von denen jede ein-","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Diagnose psychischer Vorg\u00e4nge.\n139\nzelne yielleiclit eine besondere Beachtung verdient, ist doch sicherlich nicht eine Spur von Neurasthenie zu entdecken. In dem unmittelbar darauffolgenden Monologe Hamlets (I. 5), der mit den Worten beginnt:\n\u201e0, all ihr Himmelsheerschaaren ! Erde! Was noch sonst? etc.\u201c\nfindet nichtsdestoweniger Bosner1 \u201ean pathologischen Zeichen\u201c \u201edas fassungslose \u00dcbermafs\u201c der Erregung, eine \u201eautosuggestive Art\u201c, sich in dem Affekte und damit in dem Vors\u00e4tze zur Bache zu befestigen und \u201edas Unverm\u00f6gen des Erfassens, das hier in der naiven Form des \u201eNiederschreibens\u201c gezeichnet ist.\u201c\nEs ist ja m\u00f6glich, dafs auch ein Neurastheniker einmal vielleicht vor\u00fcbergehend eine lebhafte Empfindlichkeit f\u00fcr die Eindr\u00fccke peinlicher Ereignisse erlangt. Aber deswegen mufs doch nicht jeder, der eine aufsergew\u00f6hnliche Erregung zu erkennen giebt, f\u00fcr einen Neurastheniker gehalten werden. Es wird dies am allerwenigsten in jenen F\u00e4llen geschehen d\u00fcrfen, in welchen das Gef\u00fchl durch frisch geweckte, nie geahnte Vorstellungen eine seltene Best\u00fcrmung erf\u00e4hrt. In einem solchen Falle hat sich doch sicherlich Hamlet befunden, als er von dem Geiste \u00fcber die Ermordung seines Vaters durch den eigenen Bruder und \u00fcber die verr\u00e4terische Treulosigkeit seiner z\u00e4rtlich geliebten Mutter unterrichtet wurde. In einem solchen Augenblicke w\u00e4re es an einem piet\u00e4tvollen, gebildeten Sohne geradezu eine Unnat\u00fcrlichkeit, in der Fassungslosigkeit und Erregung ein Mafs einzuhalten. Nach meinem, vielleicht falschen Urteile hat der Dichter in diesem Monologe seiuen Helden zu viel Denkth\u00e4tigkeit und zu wenig Gef\u00fchls\u00e4ufserungen entwickeln lassen. Denn nach den wenigen Worten, mit denen Hamlet seinem Herzen und seinen Sehnen eine Ausdauer zuspricht, kn\u00fcpft der Kreis seiner Vorstellungen an die Worte des Geistes: \u201eGedenke mein\u201c an und durchzieht alle M\u00f6glichkeiten, durch welche auf der \u201eTafel der Erinnerung\u201c Alles ausgel\u00f6scht werden kann, damit das v\u00e4terliche Gebot allein im \u201eBuche\u201c des \u201eHirns\u201c leben bleibt, und gelangt sogar zu dem Gedanken, als ein Mittel gegen etwa eintretende Ged\u00e4chtnisschw\u00e4che eine Schreibtafel zu benutzen. Es ist freilich ein weiter Weg, den die Vorstellungsf\u00e4higkeit des Dichters von\n1 A. a. 0. S. 18.","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nS. Landmann.\nder Erinnerung an das v\u00e4terliche Gebot nach kurzer Unterbrechung bis zu der Verwendung einer Schreibtafel durchfliegt; aber der hohe Grad dieser F\u00e4higkeit geh\u00f6rt doch zu der Genialit\u00e4t, durch welche der Dichter den grofsen Ruf sich erworben hat. Unmittelbar nach diesem Monologe macht Hamlet \u00c4ufserungen, die allerdings, wie Rosner richtig bemerkt, einen \u201eunvermittelten Stimmungswechsel\u201c erraten lassen. Aber es braucht dieser kein Beleg eines hysterischen Zustandes zu sein. Er berechtigt eher zu einer gerade entgegengesetzten Auffassung. Denn Marcellus, der sich hinter der B\u00fchne befindet, ruft dem Hamlet die Worte zu: \u201eHeda, ho, mein Prinz\u201c, und wenn dieser das Lied mit den Worten fortsetzt: \u201eHa, Heisa, Junge! Komm, V\u00f6gelchen, komm!\u201c so giebt er doch deutlich zu erkennen, dafs er die Selbstbeherrschung besitzt, einen Gem\u00fctsaffekt zu unterdr\u00fccken. Und diese geistige Ruhe beh\u00e4lt Hamlet w\u00e4hrend der ganzen Rede, durch welche er seine Freunde \u00fcberredet, ihm Verschwiegenheit zu schw\u00f6ren und\n\u201eWie fremd und seltsam ich mich nehmen mag\u201c etc.\ndas, was sie wissen, auf keine Weise zu verraten. Selbst in den Schlufszeilen des ersten Aktes:\n\u201eDie Zeit ist aus den Fugen: Weh mir, zu denken,\nDafs ich geboren ward, sie einzurenken\u201c \u2014\nist deutlich die Gem\u00fctsruhe zu erkennen, die ihm ein richtiges Urteil \u00fcber seine wahrhaft beklagenswerte Lage gestattet.\nSchwer zu erraten ist es, was Shakespeare darzustellen beabsichtigt hat, als er der Liebhaberin Ophelia (II. 1) die Schilderung eines Besuches, den Hamlet bei ihr machte, in den Mund legte. Carl Rosner1 legt das geschilderte Benehmen Hamlets in Ophelias Zimmer als einen \u201ehysterischen Somnambulismus\u201c aus und stellt die Behauptung auf, \u201edafs die einleitende Attacke \u2014\u25a0 die epileptische Phase \u2014 als Vorfabel hinter der Scene zu denken ist und nur der letzte Teil des Anfalls sich in Ophelias Zimmer abspielt\u201c. Allein, wenn auch diese Deutung richtig w\u00e4re, so w\u00fcrde durch das geschilderte Benehmen noch kein Beweis f\u00fcr ein hystero-neurasthenisches\n1 A. a. 0.","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Diagnose psychischer Vorg\u00e4nge.\n141\nLeiden Hamlets erbracht sein. Epileptische Anf\u00e4lle, denen ja gew\u00f6hnlich ein mehr oder minder deutlich ausgesprochener Somnambulismus folgt, kommen erfahrungsgem\u00e4fs auch bei Menschen vor, die in der Zwischenzeit zwischen den Anf\u00e4llen nicht an Neurasthenie leiden, sondern geistig ganz gesund sind. W\u00e4re es aber von dem Dichter beabsichtigt gewesen, seinen Helden als einen Epileptiker vorzuf\u00fchren, w\u00fcrde er dies sicherlich auch auf eine unzweideutige Weise ausgedr\u00fcckt haben.\n*\nVon den verschiedenen Dokumenten, welche nach der Ansicht Rosnebs in dem zweiten Akte des Dramas die Entwickelung des neurasthenischen Leidens beweisen sollen, wird zuerst die \u00c4ufserung Hamlets \u00fcber seinen eigenen Zustand \u201eals eine Beichte\u201c angef\u00fchrt, welche \u201elebhaft an einen der Krankheitsberichte irgend eines modernen, blasiert gewordenen Neurasthenikers\u201c erinnern soll. In der zweiten Scene des zweiten Aktes h\u00e4lt n\u00e4mlich Hamlet vor Rosenkranz und G\u00fcldenstem eine Rede, die mit den Worten beginnt: \u201eIch will Euch sagen, warum : so wird mein Erraten Eurer Entdeckung zuvorkommen\u201c etc., und in welcher er mitteilt, er habe seit kurzem, ohne zu wissen, wodurch, alle seine Munterkeit eingeb\u00fcfst, seine gewohnten \u00dcbungen aufgegeben, und es sei um seine Gem\u00fctslage so \u00fcbel bestellt, \u201edafs die Erde, dieser treffliche Bau\u201c, ihm nur ein \u201ekahles Vorgebirge\u201c scheint; das mit Begeisterung geschilderte Weltall komme ihm \u201eals ein fauler, verpesteter Haufe von D\u00fcnsten vor\u201c, \u2014 der in seinen Eigenschaften, F\u00e4higkeiten und Leistungen bewunderte Mensch sei ihm \u201eeine Quintessenz von Staub\u201c, und die mit den Worten schliefst: \u201eIch habe keine Lust am Manne \u2014 und am Weibe auch nicht\u201c.\nAlle diese Ver\u00e4nderungen, welche Hamlet seit kurzem an sich beobachtet hat, angeblich, ohne die Ursache zu wissen, k\u00f6nnen mit mehr oder minder grofser \u00e4ufserer \u00c4hnlichkeit auch an Hysterischen und Neurasthenischen beobachtet werden. Die Aufgabe der Psychologie ist es nicht, wie dies jetzt so allgemein Gebrauch zu werden scheint, alle \u00e4ufserlich \u00e4hnlich scheinenden Th\u00e4tigkeits\u00e4ufserungen in eine und dieselbe Kategorie zu bringen und mit gleichen Bezeichnungen zu versehen, sondern nach den Verschiedenheiten der psychischen Vorg\u00e4nge zu trennen. Wird auf diese Weise verfahren, so wird man finden, dafs ein Verlust der Munterkeit, ein Aufgeben","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nS. Landmann.\ngewohnter \u00dcbungen und das Versahwinden einer bestimmten Lust bei Hysterischen, Neurasthenikern und Gesunden durch verschiedene psychische Vorg\u00e4nge bedingt werden. Der Hysterische leidet an einer Unth\u00e4tigkeit, d. h. an einer funktionellen St\u00f6rung der Hirnrindenfasern, welche die Bewufstseinsbilder unter sich oder mit den Vorstellungen verbinden. Eine durch \u00e4ufser\u00a9 Einwirkungen geweckte Vorstellung wird infolge dieser Leitungsunterbrechung gar nicht mehr in der Grofshirnrinde bewufsf gemacht, oder bleibt, wenn ja, aufser Verbindung als ein isoliertes Bewufstsein f\u00fcr sich bestehen, das nicht einmal zum Gegenst\u00e4nde einer Wiedererkennung oder einer Erinnerung werden kann. Daher kommt es, dafs der Hysterisch\u00a9 sein Leiden gar nicht zum Bewufstsein bringt. Er kann an der Unempfindlichkeit eines ganzen Gliedes oder eines Teiles der Netzhaut leiden und weifs es nicht, solange er nicht darauf aufmerksam gemacht wird. Er kann auch stundenlang sitzen, ohne ein Wort zu sprechen oder eine leichte Arbeit fortzusetzen, die er begonnen, und dies nur infolge der Isolierung, in welch\u00a9 die Bewufstseinsbilder versetzt sind. Das Gef\u00fchl kann bei dem Hysterischen stellen- und zeitweise krankhaft erh\u00f6ht sein, dennoch hat er seine fr\u00fchere Munterkeit verloren, seine gewohnten \u00dcbungen aufgegeben, weil die Vorstellungen, auch wenn sie geweckt werden, infolge der unterbrochenen Leitung nicht mehr das Gef\u00fchlszentrum und folglich auch nicht mehr die Lust der Muskelinnervation zu erregen verm\u00f6gen. Der Hysterische leidet an Assoziationsst\u00f6rungen, und infolgedessen ist nicht nur seine Denkth\u00e4tigkeit, sondern auch sein Gef\u00fchl und seine Motilit\u00e4t beeintr\u00e4chtigt. Die Ver\u00e4nderungen, welche der Hysterische in seinem Benehmen und in seinen Gewohnheiten erleidet, kann man nur durch die Beobachtung, aber nicht durch seine eigenen Wahrnehmungen erfahren.\nDer Neurastheniker als solcher leidet, wie man durch seine Krankheitserscheinungen anzunehmen berechtigt ist, nicht an einer St\u00f6rung in der Verbindung der Vorstellungen und Bewufstseinsbilder, sondern an einer beeintr\u00e4chtigten Einwirkung des Gef\u00fchlszentrums auf das motorische Zentrum. Sein Denkprozefs spielt sich in normaler Weise ab, solange keine Komplikation herbeigef\u00fchrt wurde, und nur die Bewegungsvorstellungen verm\u00f6gen nicht das Gef\u00fchl zu erwecken, das","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Diagnose psychischer Vorg\u00e4nge.\n143\nintensiv genug ist, ein normales Bewufstsein und eine normale Muskelinnervation hervorzubringen. Infolge dieser krankhaften Ver\u00e4nderung mufs der Neurastheniker ebenfalls sowohl seine fr\u00fchere Munterkeit, als auch das fr\u00fchere Lustgef\u00fchl der Muskelinnervation, wie dieses mit Spielen und sonstigen \u00dcbungen verbunden ist, verlieren. Er wird stundenlang \u00fcber die Wahl eines Kleidungsst\u00fcckes nicht zu einem Entschl\u00fcsse kommen oder mit der Fertigung eines noch so kleinen Schriftst\u00fcckes z\u00f6gern ; aber nicht, wie der Hysteriker, deswegen, weil in ihm an die geweckte Vorstellung Bewufstseinsbilder zur Gestaltung eines Gedankens, Urteils oder Schlusses sich nicht anschliefsen, sondern weil durch die zu einer Beihe verbundenen Bewufstseinsbilder nicht Gef\u00fchle geweckt werden, welche Energie genug besitzen, um die Bewegungszentren in Th\u00e4tigkeit zu versetzen. Der Neurastheniker weifs, wenigstens in einem nicht allzu weit vorger\u00fcckten Stadium seiner Krankheit, recht gut, was f\u00fcr ein Kleidungsst\u00fcck er anlegen, welchen Gedanken er niederschreiben k\u00f6nnte, aber es fehlt bei ihm der Beiz, der die zur Ausf\u00fchrung seines Wollens notwendige Muskelth\u00e4tig-keit ausl\u00f6sen mufs. Er ist sich dieses Mangels an der Intensit\u00e4t seines E\u00fchlens recht gut bewufst und weifs, dafs alles anders bei ihm ist, als es fr\u00fcher war, dafs ihn nichts mehr erfreut und erw\u00e4rmt. Aber seine Klagen beziehen sich nur darauf, dafs sein Zustand fr\u00fcher ein anderer war, w\u00e4hrend sein gegenw\u00e4rtiger Zustand nicht nur nicht beklagt, sondern sorgf\u00e4ltig gepflegt und geschont wird. W\u00fcrde er es sein, der dem Neurastheniker l\u00e4stig wird, so m\u00fcfste mit ihm ein Schmerzgef\u00fchl verbunden sein, das der psychische Instinkt oder Erhaltungstrieb zu beseitigen verm\u00f6chte, wodurch der normale Zustand bald hergestellt w\u00e4re.\nDer geistig normale Mensch, und als ein solcher mag Hamlet hier angef\u00fchrt werden, kann auch in die Lage versetzt werden, alle seine Munterkeit einzub\u00fcfsen, seine gewohnten \u00dcbungen aufzugeben und sich einer \u00fcblen Gem\u00fctsverfassung bewufst zu sein, aber nicht durch die schwache Energie der Gef\u00fchlsvorstellungen, welche bei dem Neurastheniker durch die Bewegungsvorstellungen erregt werden, sondern durch den erdr\u00fcckenden Einftufs, den herrschende, immer wieder auftauchende Vorstellungen und Bewufstseinsbilder mit wenig Unterbrechung auf das Gef\u00fchlszentrum aus\u00fcben. Der Neu-","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\nS. Landmann.\nrastheniker leidet best\u00e4ndig an einem Mangel des Lustgef\u00fchls, Hamlet leidet in seiner durch die Ereignisse bedingten Gem\u00fcts-lage an einem \u00dcberfl\u00fcsse von Gef\u00fchlen des Ekels und der Widerw\u00e4rtigkeit. Der Neurastheniker beklagt sich \u00fcber den Verlust des fr\u00fcheren Zustandes, Hamlet \u00fcber den Zustand der Gegenwart, ohne daran zu denken, wie sich die Zukunft seines Gem\u00fctszustandes gestaltet. An dem Neurastheniker wird durch die verminderte Energie der Gef\u00fchlsth\u00e4tigkeit nicht die Ausl\u00f6sung der Muskelth\u00e4tigkeit allein, sondern auch die Bildung von Urteilen behindert. Im Hamlet hingegen hat trotz der ver\u00e4nderten Gem\u00fctslage die Beihe der durch neue Ereignisse gebildeten Vorstellungen die Energie des Vorsatzes zur Entsagung auf die Liebe, sowie die des Urteils \u00fcber die verbrecherische Schandthat der Mutter (III. 4) zur vollsten Entwickelung gebracht. Die ganze geistige Th\u00e4tigkeit eines Neurasthenikers besteht in dem ruhenden Zustande eines Leidens, w\u00e4hrend im Hamlet der leidende Zustand durch die geistige Th\u00e4tigkeit sich zu erkennen giebt.\nIn einer leicht erkennbaren Weise l\u00e4fst der Dichter in seinem Helden am Schl\u00fcsse des zweiten Aktes Erscheinungen hervortreten, welche auf ein doppeltes Bewufstsein zur\u00fcckgef\u00fchrt werden k\u00f6nnten. Hamlet ergeht sich in dem Monologe (II. 2): \u201eNun, Gott geleit\u2019 euch. Jetzt bin ich allein\u201c etc. in den heftigsten Schm\u00e4hungen gegen sich selbst, in den schwersten Selbstanklagen wegen seines \u201eTaubenblutes\u201c und seines Mangels an \u201eGalle\u201c, aber im weiteren Verlaufe macht er seinen Entschlufs von dem Eindr\u00fccke abh\u00e4ngig, den das Schauspiel auf seinen Oheim machen wird. Von diesem Eindr\u00fccke erwartet er die Sicherheit, die ihm der erschienene Geist nicht gegeben hat, weil er m\u00f6glicherweise ein verkleideter Teufel war. Aber es ist hier nicht eine doppelte Beihe verschiedener Vorstellungen ausgedr\u00fcckt worden, von denen jede einem besonderen Ich angeh\u00f6rt, sondern welche in einer ununterbrochen selbstbewufsten Individualit\u00e4t auftauchen oder hervorgerufen werden k\u00f6nnen. Das Bewufstsein, eine geschworene Bache noch nicht ausgef\u00fchrt zu haben, hat sich hier zuerst an den Begriff der schlechtesten Eigenschaft gekn\u00fcpft, und dann ist f\u00fcr die Ausf\u00fchrung eines Entschlusses das Bed\u00fcrfnis nach einer sicheren \u00dcberzeugung erwacht. Die Handlung, welche im Hamlet durch das Gef\u00fchl der Piet\u00e4t angeregt werden","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Diagnose psychischer Vorg\u00e4nge.\n145\nkonnte, mufste durch das Bewufstsein des moralischen Gef\u00fchls gehemmt werden. Aber in jedem Augenblicke konnte jedes der beiden Gef\u00fchle bewufst werden, weil es das Eigentum des n\u00e4mlichen Ichs war. Yon einem Ich, das nur des einen oder anderen Gef\u00fchls bewufst sein konnte, war bei Hamlet h\u00f6chstens in absichtlicher Verstellung etwas zu bemerken.\nEine Unterst\u00fctzung wird dieser Auffassung von der Einheit des Ichs in dem Bewufstsein Hamlets durch die Aufserungen geboten, welche der Dichter seinen Helden in dem Monologe: \u201eSein, oder Nichtsein\u201c (III. 1) machen l\u00e4fst. Die Form des Monologs wird von dem Dichter dort gew\u00e4hlt, wo die durch lautlose Sprache geweckten Vorstellungsreihen einen h\u00f6rbaren Ausdruck finden sollen. Das Gef\u00fchl, das hier im Hamlet die Anregung zu einem Selbstgespr\u00e4che gab, war auf leicht begreifliche Weise durch den Gegensatz erweckt, der zwischen den anspornenden Wirkungen der Piet\u00e4t und den hemmenden Wirkungen der Moral bestehen mufste. Nur dadurch, dafs das Bewufstsein des Piet\u00e4tgef\u00fchls neben dem des Menschlichkeitsgef\u00fchls in einer und der n\u00e4mlichen Individualit\u00e4t sich geltend machte, konnte jene Gem\u00fctsstimmung hervorgebracht werden, deren erregende Momente durch die lautlose Sprache so lange festgehalten wurden, bis die Vorstellung eines Selbstmordes samt den \u00fcbrigen mit ihr assoziierten bewufst und in h\u00f6rbare Klangbilder \u00fcbergef\u00fchrt wurde. Nach l\u00e4ngeren Abw\u00e4gungen erst haben von den verschiedenen Vorstellungen durch die Einwirkung auf das Gef\u00fchl jene den Ausschlag gegeben, welche der BewegungsVorstellung eines Selbstmordes gegen\u00fcber als Hemmungen sich erwiesen, was unter den verschiedenen Gedanken, die nur durch eine normale Geistes-th\u00e4tigkeit gebildet werden k\u00f6nnen, wohl am besten in dem Satze ausgedr\u00fcckt wird: \u201eSo macht Gewissen Feige aus uns allen\u201c.\nEs wurde zwar in dem eben er\u00f6rterten Monologe ein Widerspruch herausgefunden, den sich Hamlet dadurch soll zu Schulden kommen haben lassen, dafs er \u201edas unentdeckte Land\u201c erw\u00e4hnt, \u201evon des Bezirk kein Wandrer wiederkehrt\u201c, w\u00e4hrend er doch selbst den Geist des ermordeten Vaters gesehen und gesprochen hat. Eine Erkl\u00e4rung dieses Widerspruches wird von Kosner1 in dem \u201evon allen hochwissenschaftlichen Autoren\n1 A. a. O. S. 34.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XI.\n10","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nS. Landmann.\nhervorgehobenen Mangel an geistigem Konzentrationsverm\u00f6gen bei Neurasthenikern\u201c gefunden. Allein abgesehen davon, dafs man einen solchen Widerspruch als ein leichtes \u00dcbersehen des Dichters, ohne dessen Ruhm zu beeintr\u00e4chtigen, unber\u00fccksichtigt lassen k\u00f6nnte, mufs darauf hingewiesen werden, dafs dieser Widerspruch gar nicht vorhanden ist. Denn Hamlet war in jenem Augenblicke, als er von dem unentdeckten Bezirke sprach, noch gar nicht \u00fcberzeugt davon, dafs er den Geist seines Vaters und nicht etwa einen verkleideten Teufel gesprochen hat. Solange, als er hiervon nicht \u00fcberzeugt war, durfte er doch seinen Zweifel an dem \u201eunentdeckten Lande\u201c aufrecht erhalten.\nIch habe schon oben auf die Energie hingewiesen, mit welcher Hamlet durch die unfafsbare Treulosigkeit seiner Mutter die Liebe zur Ophelia zu unterdr\u00fccken bestimmt wurde. Auch Rqsneb1 nimmt an, dafs diese Treulosigkeit einen \u201ePunkt zur Aversion\u201c giebt, aber nur einen \u201ezweiten und verst\u00e4rkenden\u201c,, und behauptet, dafs der Mediziner in der \u201epl\u00f6tzlichen Abneigung Hamlets gegen Ophelia\u201c weiter nichts sieht, \u201eals eine jener, namentlich bei hysterischen Individuen so h\u00e4ufigen Idiosynkrasien \u2014 jener krankhaften Abneigungen \u2014-, die, oft aus dem unbedeutendsten Anlasse entspringend, zu unverh\u00e4ltnis-m\u00e4fsig grofser Form gelangen\u201c. Allein, wenn man bedenkt, dafs Hamlet unmittelbar, bevor Ophelia zu sprechen begann, die Worte: \u00bbStill!, Die reizende Ophelia. \u2014 Nymphe, schliefs5 in Dein Gebet all meine S\u00fcnden ein\u201c, so wird man die Entfremdung Hamlets mehr f\u00fcr eine absichtliche Verstellung, als f\u00fcr eine hysterische Idiosynkrasie halten d\u00fcrfen.\nMan kann sich, wie mir scheint, die M\u00fche ersparen, durch eine genauere Analyse verschiedener \u00c4ufserungen nachzuweisen, dafs Hamlet ungeachtet seines zeitweise absonderlichen Benehmens nicht wahnsinnig war. Selbst Polonius, der Einzige, von dem Hamlet f\u00fcr toll gehalten wird, sieht sich zu einer Beschr\u00e4nkung veranlafst, die er in dem Satze ausdr\u00fcckt: \u201eIst dies schon Tollheit, hat es doch Methode\u201c (II. 2). Hamlet selbst klagt allerdings am meisten \u00fcber seine Melancholie. Aber, was er so nennt, ist nicht eine St\u00f6rung der Geistes-th\u00e4tigkeit, die selbst dort, wo er sich verleugnen will, viel\n1 A. a. O. S. 35.","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Diagnose psychischer Vorg\u00e4nge.\n147\nScharfsinn und Entr\u00fcstung, aber keine Abnormit\u00e4t erkennen l\u00e4fst, sondern die traurige Gem\u00fctsstimmung, wie sie durch die verh\u00e4ngnisvollen, schwer zu ertragenden Ereignisse in einem fein f\u00fchlenden, gebildeten Menschen bedingt wird. Dafs Ophelia, welcher die Erlebnisse Hamlets vollst\u00e4ndig unbekannt geblieben waren, und die nur die Folgen derselben erfahren hat, die \u201eedle, hochgebietende Vernunft mifst\u00f6nend, wie verstimmte Glocken jetzt\u201c gesehen hat, wird derjenige nicht auffallend finden, der bedenkt, welches erhabene Bild sie sich von dem fr\u00fcheren Geliebten bewahrt hat.\nWohl aber sind jene psychischen Vorg\u00e4nge einer besonderen Beachtung wert, welche beim Hamlet durch aufser-gew\u00f6hnliche Heize angeregt wurden und gew\u00f6hnlich mit dem allgemeinen Begriffe \u201eHalluzinationen\u201c bezeichnet werden. Was gegenw\u00e4rtig unter \u201eHalluzination\u201c von den verschiedenen Autoren verstanden wird, verdiente wohl zum Gegenst\u00e4nde einer besonderen Untersuchung gemacht zu werden. Hier, f\u00fcr einen speziellen Fall, mag es gen\u00fcgen, darauf hinzuweisen, wie Bosneb1 bei dieser Gelegenheit sich ausgesprochen hat. \u201eBemerkenswert ist der Umstand\u201c, sagt er, \u201edafs die Halluzination f\u00fcr den Halluzinierenden volle Realit\u00e4t und \u00dcberzeugungskraft besitzt, das heifst, dafs ihm die betreffenden Bilder der Halluzination nicht scheinen, sondern wirklich sind.\u201c Bei dieser Beschreibung wird, was leicht zu erkennen ist, der Halluzination eine \u201e\u00dcberzeugungskraft\u201c beigelegt, durch welche dieselbe f\u00fcr den Halluzinierenden zur \u201eRealit\u00e4t\u201c wird. Allein die Halluzination kann diese Kraft gar nicht besitzen. Das Gehirn des Halluzinierenden m\u00fcfste die F\u00e4higkeit besitzen, durch verschiedene Denkth\u00e4tigkeiten ein Urteil dar\u00fcber zu bilden, ob eine geweckte Vorstellung des Gesichts, Geh\u00f6rs oder Gef\u00fchls \u00e4ufseren Reizeinwirkungen vollst\u00e4ndig entspricht. Ist dies der Fall, wird die Vorstellung als Realit\u00e4t, im entgegengesetzten Falle als Schein bezeichnet. Die F\u00e4higkeit zu einer solchen urteilenden Th\u00e4tigkeit besitzt aber der Halluzinierende gar nicht; wenn er daher sagt: \u201eIch sehe einen Geist\u201c, so sagt er nicht, dafs er von der Realit\u00e4t des Bildes \u00fcberzeugt ist, sondern dafs er seinem inneren Vorg\u00e4nge einen sprachlichen Ausdruck gegeben hat, ohne dafs vorher eine Urteilsth\u00e4tigkeit\n1 A. a. O. S. 38.\n10*","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148\nS. Landmann.\nstattgefunden hat. F\u00fcr den Halluzinierenden kann die Halluzination weder eine Realit\u00e4t, noch einen Schein besitzen, weil ihre diesbez\u00fcgliche Beurteilung unm\u00f6glich ist. \u00dcbrigens scheint mir auf die vier F\u00e4lle, in welchen Rosner Halluzinationen bei Hamlet nachzuweisen versucht, wie hier gezeigt werden soll, die obige Definition nicht vollst\u00e4ndig passen zu wollen.\nDer erste Fall einer Halluzination soll in einem Dialoge mit Horatio (I. 2) vom Hamlet durch die Worte ausgedr\u00fcckt sein:\n\u201eMein Vater \u2014 mich d\u00fcnkt, ich sehe meinen Vater\u201c; und auf die Frage: \u201eWo, mein Prinz?\u201c durch die Antwort:\n\u201eIn meines G-eistes Aug\u2019, Horatio\u201c.\nHier hat sich doch Hamlet mit aller Entschiedenheit dar\u00fcber ausgesprochen, dafs das Bild des Vaters nicht durch \u00e4ufsere Eindr\u00fccke, sondern durch innere geistige Vorg\u00e4nge in ihm geweckt wurde und somit f\u00fcr ihn keine Realit\u00e4t besitzen konnte. Wenn somit diese als das wesentliche Merkmal einer Halluzination gelten soll, kann doch hier eine Halluzination gerade nicht vorhanden gewesen sein. Diesen Widerspruch scheint Rosner, selbst gemerkt zu haben; denn er sucht ihn durch die Annahme zu beseitigen, dafs Hamlet erst durch die \u201erasche erschreckte Frage des Horatio\u201c \u201ewieder zu sich selbst gebracht\u201c und \u201eseines Irrtums klar\u201c wurde. Allein Hamlet hat doch schon, bevor Horatio seine Frage gestellt hatte, das in ihm erwachte Bild des Vaters nicht als das Produkt einer wirklichen, sondern scheinbaren Sehth\u00e4tigkeit erkannt, was durch die Worte ausgedr\u00fcckt ist: \u201emich d\u00fcnkt, ich sehe meinen Vater\u201c. M\u00fcfste wirklich eine Halluzination f\u00fcr den Halluzinierenden Realit\u00e4t besitzen, so k\u00f6nnte doch das, was Einen zu sehen \u201ed\u00fcnkt\u201c, nicht als eine Halluzination bezeichnet werden. Die Annahme, dafs es unvollkommene Halluzinationen giebt, scheint mir nur durch eine Verwirrung der Begriffe erm\u00f6glicht zu werden. Denn entweder erregt eine erwachte Vorstellung die psychischen Th\u00e4tigkeiten, durch welche ihre Entstehungsweise erkannt wird, dann kann sie keine Halluzination sein; oder sie erregt diese Th\u00e4tigkeiten nicht, weil sie durch \u00a9inen krankhaften Zustand daran gehindert ist, dann ist sie eine Halluzination. Selbst wenn eine erwachte Vorstellung die f\u00fcr ihre Beurteilung notwendigen geistigen Th\u00e4tigkeiten nicht durch","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Diagnose psychischer Vorg\u00e4nge.\n149\neinen krankhaften Zustand, sondern durch einen st\u00f6renden Zufall zu erregen verhindert ist, wird sie nicht als eine Halluzination betrachtet werden d\u00fcrfen, weil sie im Selbstbewufstsein als eine T\u00e4uschung erkannt wird. Was unter einer unvollkommenen Halluzination zu verstehen ist, l\u00e4fst sich somit schwer erraten. Hier war im Gehirne Hamlets mit dem lebhaften Erinnerungsbilde des Vaters die Gesichtsvorstellung desselben erwacht und mufste durch die normale Geistesth\u00e4tigkeit als das erkannt werden, was sie thats\u00e4chlich war.\nEine zweite Halluzination Hamlets hat Rqsner1 in der Erscheinung und in den Mitteilungen des v\u00e4terlichen Geistes (I. 4 u. 5. Scene) gefunden. Allein er giebt selbst zu, dafs der Dichter die Form einer reinen Halluzination durch technische Schwierigkeiten zu w\u00e4hlen verhindert war. Ebensogut kann man aber auch annehmen, dafs der Dichter, diese Form zu w\u00e4hlen, keine Veranlassung hatte, weil bei dem damaligen Bildungsgrade des Volkes im allgemeinen Geistererscheinungen nicht als etwas Auffallendes beanstandet wurden. Hamlet zeigt deutlich, dafs er die Stimme, die in dieser Scene an verschiedenen Stellen \u201eSchw\u00f6rt\u201c gerufen hat, nicht dem Geiste seines Vaters zugeschrieben hat; denn er h\u00e4tte in diesem Falle die verletzenden Ausdr\u00fccke, wie \u201eBursch\u201c, \u201ealter Maulwurf\u201c etc. sicherlich nicht gebraucht. Wahrscheinlich wollte der Dichter hier andeuten, dafs Hamlet, was er sp\u00e4ter ausgesprochen hat, den Geist f\u00fcr einen verkleideten Teufel hielt.\nEinen dritten Fall von Halluzination will Rosner in dem Gespr\u00e4che gefunden haben, welches Hamlet (II. 2) mit Polonius f\u00fchrt. Die Halluzination soll durch die Parallele gezeigt werden, welche zwischen den Hysterischen, wie diese von Pierre Janet beschrieben werden, und dem Benehmen Hamlets in der angegebenen Scene besteht. Hach der Beschreibung des genannten Autors zeichnet sich der Geisteszustand der Hysterischen durch eine Unterbrechung der Bewufstseinsbilder aus und giebt sich durch ein tr\u00e4umerisches Wesen, durch Zerstreutheit, Geistesabwesenheit, Beschr\u00e4nktheit und Verworrenheit der Gedanken zu erkennen. Von allen diesen Eigenschaften zeigt aber Hamlet in dieser Scene nicht eine Spur. Es steht der Annahme nichts im Wege, dafs Hamlet den Polonius ganz gut kennt und nur\n1 A. a. O. S. 39.","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"150\nS. Landmann.\ndeswegen fragt, ob er ein \u201eFischh\u00e4ndler\u201c ist, um dem ver-hafsten Speichellecker mit spitzigen Bemerkungen zu Leibe gehen zu k\u00f6nnen. Man konnte ihn f\u00fcr irrsinnig halten, als er von der Sonne zu reden begann; aber die Fortsetzung seines Gespr\u00e4ches zeigt, dafs er nur eine Gelegenheit zu Anspielungen auf Ophelia gesucht hat. Polonius selbst sieht sich am Schl\u00fcsse des Gespr\u00e4chs zu der Bemerkung veranlafst: \u201eWie treffend manchmal seine Antworten sind\u201c. Wo hier eine Halluzination zu finden ist, l\u00e4fst sich schwer erraten.\nDer vierte Fall, in welchem eine Halluzination Hamlets gefunden wurde, soll in jener Scene (III. 4) dargestellt sein, in welcher der Geist erscheint, mit dem Sohne spricht, von dem Publikum gesehen und geh\u00f6rt werden mufs, aber dennoch von der K\u00f6nigin weder gesehen noch geh\u00f6rt wird und bald wieder verschwindet. Man k\u00f6nnte sich der Annahme Posners an-schliefsen, dafs der Dichter hier eine Halluzination zu zeichnen beabsichtigte und nur zum besseren Verst\u00e4ndnisse des Publikums den Geist sichtbar und h\u00f6rbar auftreten liefs. Unterst\u00fctzt k\u00f6nnte diese Annahme durch den Umstand werden, dafs die gleichzeitig anwesende K\u00f6nigin weder etwas zu sehen, noch zu h\u00f6ren behauptete. Allein, wie schon oben bemerkt wurde, geh\u00f6rt es zum wesentlichen Charakter einer Halluzination, dafs die geistige F\u00e4higkeit fehlt, eine erwachte Vorstellung auf ihre Entstehungsweise zu pr\u00fcfen und als das zu erkennen, was sie ist, Diese F\u00e4higkeit hat aber in diesem Augenblicke dem Gehirne Hamlets nicht gefehlt. Er war, wie er selbst in jener Scene erkl\u00e4rte, geistig bef\u00e4higt, die normale Beschaffenheit seines Pulses zu erkennen; ja, er hat sich bereit erkl\u00e4rt, seine Denkth\u00e4tigkeit einer Pr\u00fcfung auf die normale Leistungsf\u00e4higkeit unterziehen zu lassen und zu beweisen, dafs es kein Wahnwitz ist, was er vorgebracht hat. Wenn somit der Geist des Vaters nur aus technischen Gr\u00fcnden als eine sicht- und h\u00f6rbare Erscheinung von dem Dichter dargestellt wurde, eigentlich aber nur f\u00fcr Hamlet als eine Person gelten sollte, so kann dieser Geist, weil die geistige F\u00e4higkeit zur Erkenntnis desselben nicht gefehlt hat, nur als die Vorstellung geweckter Bewufstseinsbilder, blofs als die Ausgeburt des Hirns, wie der Dichter die K\u00f6nigin sagen l\u00e4fst, aufgefafst werden, aber nicht als eine Halluzination. Wenn gegen diese Auffassung der Einwand erhoben w\u00fcrde, dafs Hamlet den erschienenen Geist,","page":150},{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Diagnose psychischer Vorg\u00e4nge.\n151\nda er doch die geistige F\u00e4higkeit dazu besafs, als die lebhafte Vorstellung seiner eigenen Phantasie h\u00e4tte erkennen m\u00fcssen, so ist dagegen zu erinnern, dafs die vorhandene Erkenntnisf\u00e4higkeit durch einen pl\u00f6tzlich herbeigef\u00fchrten Geisteszustand f\u00fcr den gegebenen Augenblick gehemmt sein konnte, th\u00e4tig zu werden. Um dies zu verstehen, braucht man sich nur in die damalige Lage Hamlets zu versetzen. Er hatte ganz kurz vorher durch die Wahrnehmung der Wirkung, welche von dem Schauspiele auf den K\u00f6nig ausge\u00fcbt wurde, sich die Gewifs-heit dar\u00fcber verschafft, dafs der Geist, der ihm die Mitteilung von der Ermordung des Vaters gemacht hatte, wirklich der Geist seines Vaters war, was er durch die Worte ausdr\u00fcekte: \u201eich wette Tausende auf das Wort des Geistes\u201c (III. 2). Als er nun mit der K\u00f6nigin zusammenkam, konnten, ja mufsten in seinem Gehirne die Bewufstseinszellen des Vaters, der Mord-that, des Bacheschwurs und des die Bachethat hemmenden Gef\u00fchles, fest aneinandergekettet in ausschliefslicher Th\u00e4tig-keit sich befinden und alle die Vorstellungen erwecken, die in der Form eines mit dem Geiste gef\u00fchrten Gespr\u00e4ches ausgedr\u00fcckt wurden. Es ist erkl\u00e4rlich, dafs in diesem Zustande nicht jene Th\u00e4tigkeiten eintraten, durch welche die Entstehungsweise der erwachten Vorstellungen zur Erkenntnis gebracht werden konnte. Als aber die \u00c4ufserungen der Mutter die Aufmerksamkeit Hamlets auf seine Sinnesth\u00e4tigkeit gelenkt hatten, war der Geist schon verschwunden, und die Th\u00e4tigkeit, welche zur Pr\u00fcfung der Vorstellungen geweckt war, konnte sich nicht mehr entfalten. So kam es, dafs die durch die Phantasie1 geweckten Gesichts- und Geh\u00f6rs Vorstellungen als solche von Hamlet nicht erkannt wurden.\nEine weitere Wirkung, welche der nunmehrigen Gewifs-heit \u00fcber die Ermordung des Vaters zugeschrieben werden darf, besteht darin, dafs Hamlet, als er den K\u00f6nig im Gebete knieend trifft, zur Ausf\u00fchrung der Hache entschlossen das Schwert zieht und nur durch den Gedanken zur\u00fcckgehalten wird, dafs es keine Hache ist, den \u201eBuben\u201c im Gebete zum Himmel zum senden. Ein Beweis daf\u00fcr, dafs durch diesen Gedanken nicht\n1 Ich gebrauche das Wort \u201ePhantasie\u201c als die gebr\u00e4uchliche Bezeichnung der hypothetischen Kraft, durch welche Vorstellungen aller Art ohne Mitwirkung von Sinnesorganen geweckt werden.","page":151},{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152\nS. Landmann.\ndie Saumseligkeit verdeckt werden sollte, wird dadurch erbracht, dafs Hamlet bald darauf im Zimmer der K\u00f6nigin (III. 4.) die Tapete durchstach, hinter welcher er den K\u00f6nig vermutete. Aber der Irrtum, Polonius ermordet zu haben, erweckt durch das verletzte Gef\u00fchl der Gerechtigkeit den Gedanken, dafs \u201eDenkkraft und g\u00f6ttliche Vernunft\u201c uns nicht gegeben sind, um \u201eungebraucht in uns zu schimmeln\u201c. Jedoch die Wirkung der erlangten Gewifsheit scheint nur f\u00fcr einen Augenblick eine Abschw\u00e4chung erfahren zu haben: denn sofort schliefst sich das Urteil an, dafs ein \u201ebanger Zweifel\u201c ein Gedanke ist, der \u201eein Viertel Weisheit nur und drei Viertel Feigheit hat\u201c. Und hieraus ergiebt sich f\u00fcr Hamlet die Schlufsfolgerung, dafs nicht durch \u00dcberlegung die Notwendigkeit einer That erkannt zu werden braucht, sondern dafs \u201eGrund und Wille und Kraft und Mittel\u201c f\u00fcr eine solche ausreichen. Hamlet gelangt auf diese Weise zu der Erkenntnis, dafs das Gef\u00fchl der Rache durch angereihte Gedanken in seiner die Handlung ausl\u00f6senden Wirkung nicht gehemmt werden darf. Ein Beispiel zur Nachahmung findet er an den zwanzigtausend Mann des Fortinbras-schen Heeres, die \u201ef\u00fcr eine Grille, ein Phantom des Ruhms ins Grab geh\u2019n\u201c. Durch den Vergleich seiner eigenen Regungslosigkeit mit diesem Beispiele besch\u00e4mt, sieht er sich zu dem Ausspruche gedr\u00e4ngt:\n\u201e0, von Stand\u2019 an trachtet\nNach Blut, Gedanken, oder seyd verachtet.\u201c (VI. 4.)\nIn der That zeigt Hamlet von jetzt an in dem weiteren Verlaufe des Dramas zwar keine \u00c4nderung der Gef\u00fchlserregung, aber er hat aufgeh\u00f6rt, seine Handlungen der pr\u00fcfenden, z\u00f6gernden Denkth\u00e4tigkeit zu unterstellen, und angefangen, das Wollen mit unbeschr\u00e4nkter Energie walten zu lassen. Ergeht, ohne zu zaudern, zu Schiff, um nach England geschickt zu werden, stellt unterwegs gef\u00e4lschte Dekrete aus, welche den Befehl enthalten, dafs die nach England reisenden Gesandten des K\u00f6nigs bei ihrer Ankunft ermordet werden, l\u00e4fst sich mit Laertes zuerst in ein Handgemenge, sp\u00e4ter in einen Zweikampf ein und vers\u00e4umt es, obwohl t\u00f6dlich getroffen, nicht, den K\u00f6nig zu erstechen.","page":152}],"identifier":"lit30005","issued":"1896","language":"de","pages":"134-152","startpages":"134","title":"Zur Diagnose psychischer Vorg\u00e4nge, mit besonderer Bezugnahme auf Hamlets Geisteszustand","type":"Journal Article","volume":"11"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:49:36.830937+00:00"}