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{"created":"2022-01-31T15:34:45.494006+00:00","id":"lit30026","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Groos, Karl","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 11: 170-173","fulltext":[{"file":"p0170.txt","language":"de","ocr_de":"170\nLi tier a iurb er ich t.\nHenry Rutgers Marshall, M. A. Aesthetic Principles. New York and London. Macmillan & Co. 1895. 201 S. \u2014 Doll. 1.25.\nDer Verfasser hat seine \u00e4sthetischen Ansichten schon fr\u00fcher in einem ziemlich schwierigen Werke (\u201eLain, Pleasure, and Aesthetics\u201cJ entwickelt, das von W. James als \u201ealmost epoch-making\u201c bezeichnet worden ist. Hier macht er mit Erfolg den Versuch, die gleichen Gedanken in einer f\u00fcr weitere Kreise verst\u00e4ndlichen Form zur Darstellung zu bringen. \u2014 Die \u00e4sthetischen G-rundprobleme werden dabei von drei verschiedenen Standpunkten aus betrachtet: von dem des Beschauers, dem des K\u00fcnstlers und dem des Kritikers. Marshall ist Gef\u00fchls\u00e4sthetiker oder \u2014 wie er es nennt \u2014 Vertreter einer \u201ealgedonischen\u201c \u00c4sthetik (von \u00e4lyog, Unlust, und rjdovii, Lust). Er erkl\u00e4rt die Lust aus \u00fcbersch\u00fcssiger Nerven-kraft, die Unlust aus \u00fcherm\u00e4fsiger Beanspruchung (overdraught) der vorhandenen Energie und teilt die lust- und unlustvollen Erregungen in zwei Hauptklassen ein, n\u00e4mlich\n1.\tin Lust und Unlust, die mit dem Aufh\u00f6ren oder Unterdr\u00fccken von Th\u00e4tigkeit verbunden ist (pleasures of rest after strain, pains of restriction),\n2.\tin Lust und Unlust an der Th\u00e4tigkeit selbst. (Kap. II.)\nIndem er sich nun zuerst fragt, worin f\u00fcr den Beschauer das \u00e4sthetische Vergn\u00fcgen besteht (Kap. I), kommt er zu dem Resultat, dafs hierzu eine relativ permanente Lustwirkung geh\u00f6re, d. h. eine Lustwirkung, die sich auch f\u00fcr unser Urteil in der Wiedererinnerung unver\u00e4ndert erh\u00e4lt: \u201ethat which in memory appears thus to be a stable pleasure, we call aesthetic\u201c (S. 31; \u00e4hnlich: h\u00e4fslich ist dasjenige, dessen Wirkung dauernd Unlust erregt, \u201ewhen viewed in retrospect\u201c \u2014 S. 114). \u2014 Es ist nun gewifs richtig, dafs die dauernde Lust allemal ein Kennzeichen von wahrhaft \u00e4sthetischen Leistungen ist, und dafs wir als klassisch diejenigen Kunstwerke bezeichnen, deren \u00e4sthetischer Wert sich durch alle Zeiten hindurch behauptet. Dennoch scheint es mir bedenklich, in dieser Bestimmung ein Kriterium zu sehen, wodurch das \u00e4sthetische Vergn\u00fcgen von anderen Lustwirkungen unterschieden werden soll. M. versichert zwar, die sog. \u201elower pleasures\u201c seien in der Erinnerung nicht lustvoll oder doch so eng mit Unlust verkn\u00fcpft, dafs sie nicht zu einem relativ permanenten \u201eLustfeld\u201c geh\u00f6ren k\u00f6nnen (32); ich meine aber: wenn es nur auf die relative Permanenz der Lustwirkung ank\u00e4me, so m\u00fcfste ein Spaziergang in reiner Luft, ein Schwimmbad in frischem Wasser, ja selbst ein gutes Butterbrot mit demselben Recht zu den h\u00f6chsten \u00e4sthetischen Gen\u00fcssen gez\u00e4hlt werden, wie der Don Juan oder der Faust. Denn ich w\u00fcfste weniges, was ich mit gleicher Konstanz sowohl bei der wirklichen Wiederholung, als bei der blofsen Erinnerung als ungetr\u00fcbtes Vergn\u00fcgen bezeichnen k\u00f6nnte, wie z. B. ein Schwimmbad. \u2014 Aufserdem giebt die Betonung der Erinnerung der Theorie Marshalls etwas Befremdendes. Wenn unser reflektierendes \u00e4sthetisches Urteil eines solchen \u201erevival\u201c in der Erinnerung bedarf, so ist damit doch nicht gesagt, dafs der \u00e4sthetische Genufs erst in diesem retrospektiven Akt zur vollkommenen Entfaltung komme. Dennoch scheint M. diesem Gedanken nicht abgeneigt zu sein,","page":170},{"file":"p0171.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht.\n171\nwenn er z. B. von der griechischen Kunst sagt: \u201eit is in reflection that we are most powerfully affected by these works of art\u201c (123). Wie eigent\u00fcmlich rationalistisch dadurch Marshalls Standpunkt wider seinen Willen wird, zeigt auch das gleich darauffolgende Beispiel: Wenn wir das Portr\u00e4t eines teuren Verstorbenen betrachten, so erregt es zun\u00e4chst grofsen Schmerz; aber mit diesem Schmerz taucht auch die Erinnerung an alles Freudige, was wir ihm verdankten, auf, und so k\u00f6nnen wir uns von dem Bild nicht losreifsen (124). Sehr richtig; aber ist dies eine \u00e4sthetische Betrachtung des Portr\u00e4ts?\nDas III. Kapitel, vielleicht das interessanteste des Buches, entwickelt den Standpunkt des K\u00fcnstlers. Auch hier werden wir wieder auf den Zentralbegriff der Lust gef\u00fchrt. M. nimmt einen Kunstinstinkt an. Der Kampf ums Dasein hat besondere \u201eInstinktgef\u00fchle\u201c erzeugt. Die einfachsten dieser Emotionen sind folgende :\nFreude \u2014 bei Ann\u00e4herung des Vorteilhaften.\nFurcht \u2014 bei Ann\u00e4herung des Sch\u00e4dlichen.\nKummer \u2014 bei Entfernung des Vorteilhaften.\nErleichterung \u2014 bei Entfernung des Sch\u00e4dlichen.\nAuf Grund dieser einfachsten Emotionen entwickeln sich kompliziertere. So ist der Zorn eine Emotion, die mit dem Bestreben verkn\u00fcpft ist, ein sch\u00e4dliches Objekt von sich wegzutreiben. _ In analoger Weise sollte man auch eine Emotion erwarten, die mit dem Bestreben verbunden w\u00e4re, vorteilhafte Objekte an uns zu ziehen. Nun giebt es zwar keine einheitliche Emotion, die dieser Erwartung entspricht; dagegen geh\u00f6ren dreierlei instinktive Tendenzen hierher:\n1.\tMan sucht die Aufmerksamkeit des betreffenden Individuums zu erregen.\n2.\tMan sucht Objekte oder objektive Bedingungen zu produzieren, die durch ihre Lustwirkung anziehend sind.\n3.\tMan sucht durch F\u00f6rderung dessen, den man an sich zu ziehen w\u00fcnscht, seinen Zweck zu erreichen.\nDie zweite dieser Tendenzen, also der instinktive, seines Zweckes nicht bewufste Trieb, etwas zu produzieren, was anderen Freude macht, ist nichts anderes, als der Kunstinstinkt. Niemand ist g\u00e4nzlich ohne diesen Instinkt, aber nur bei wenigen Individuen erreicht er die M\u00e4chtigkeit und Ausbildung, die den eigentlichen K\u00fcnstler ausmacht. Der Zweck des Kunstinstinktes ist, wie das auch Grosse betont hat, die Unterst\u00fctzung der sozialen Triebe der Menschen. \u2014 Diese Gedanken Marshalls verdienen sicher Erw\u00e4gung. Nach meiner Meinung spielt indessen ein egoistischer Instinkt in der k\u00fcnstlerischen Produktion wahrscheinlich eine gr\u00f6fsere Bolle, als solche altruistischen Begungen, n\u00e4mlich der Trieb, zu herrschen. Der allgemeine Trieb nach Ausdehnung unserer Machtsph\u00e4re waltet auch im K\u00fcnstler : das Kunstwerk ist ein Mittel, um durch Suggestion die Mitmenschen unter die geistige Herrschaft seines Sch\u00f6pfers zu bringen. Ob man aber auf Grund solcher instinktiven Unterstr\u00f6mungen geradezu von einem speziellen \u201eart-instinct\u201c sprechen darf, erscheint mir doch recht zweifelhaft.","page":171},{"file":"p0172.txt","language":"de","ocr_de":"172\nLitter aturbericht.\nSehr h\u00fcbsch wird der Standpunkt des Kritikers entwickelt (Kapitel IV). Auch hier geht M. von dem subjektiven und wandelbaren Momenturteil zu stabileren Standpunkten \u00fcber, die der permanenten \u00e4sthetischen Lust gerecht werden k\u00f6nnen, und zieht daraus einleuchtende praktische Folgerungen.\nDas V. und VI. Kapitel enth\u00e4lt die schon in den vorhergehenden Kapiteln vorbereitete \u00e4sthetische Prinzipienlehre, wobei M. zwischen negativen und positiven Prinzipien unterscheidet. Die negativen Prinzipien fordern die Ausschliefsung dessen, was dauernd Unlust erregt (des H\u00e4fslichen). Hierher geh\u00f6rt, der Einteilung des II. Kapitels entsprechend, einmal die Unlust an der Th\u00e4tigkeit selbst, die durch die schon von Aristoteles geforderte Vermeidung der Extreme eliminiert wird, und ferner die Unlust, die durch Unterdr\u00fcckung von Th\u00e4tigkeiten entsteht. Hierbei ist besonders die get\u00e4uschte Erwartung von Wichtigkeit, die allemal einen Choc hervorruft, der un\u00e4sthetisch wirkt. Es wird also alles Chokierende vermieden werden m\u00fcssen, wenn \u00e4sthetisches Vergn\u00fcgen zu Stande kommen soll. Damit h\u00e4ngt eine ganze Reihe von wichtigen \u00e4sthetischen Prinzipien zusammen, deren wahre Bedeutung erst in dieser negativen Fassung zu Tage tritt. So darf es nicht positiv heifsen: ahme die Natur nach \u2014 sondern negativ: vermeide radikale Abweichungen von der Natur. Ebenso verh\u00e4lt es sich bei den Forderungen der Wahrheit, des N\u00fctzlichen, Passenden und Typischen; auch sie sind nur in der negativen Fassung berechtigt: vermeide den Choc, der mit Unwahrheit, Unzweckm\u00e4fsigkeit, Abnormit\u00e4t verbunden ist. Denn nur durch diese negative Fassung wird der Kunst der zu ihrer freien Entfaltung n\u00f6tige Spielraum offen gelassen \u2014 die \u00dcberschreitung der Natur, der Wahrheit etc. ist erst dann fehlerhaft, wenn sie chokierend wirkt. \u00dcbrigens giebt M. doch zu, dafs auch die Erregung von \u201erepressive pain\u201c unter Umst\u00e4nden gestattet sei; denn die vor\u00fcbergehende Unterdr\u00fcckung einer Th\u00e4tigkeit mufs ihre sp\u00e4tere Freigebung besonders lustvoll machen (die Aufl\u00f6sung des Disharmonischen im weitesten Sinne).\nBei den positiven Prinzipien spricht M. zuerst von den Mitteln, Lust \u00fcberhaupt hervorzubringen. Es handelt sich dabei allemal um einen Vorrat an \u00fcbersch\u00fcssiger Kraft, der sich dadurch angesammelt hat, dafs eine Th\u00e4tigkeit l\u00e4ngere Zeit nicht in Funktion getreten ist, und dessen Entladung dann die Lust hervorruft. Diese Lust mufs aber, wie wir wissen, permanent gemacht werden, um als \u00e4sthetischer Genufs zu gelten. Zu diesem Zwecke mufs erstens eine m\u00f6glichst grofse Menge m\u00e4fsig lebhafter Reize summiert werden (\u201eWeite des Lustfeldes\u201c), und zweitens mufs daf\u00fcr gesorgt sein, dafs der Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit rechtzeitig, d. h. ehe die Lust in Unlust umschl\u00e4gt, wechselt. Hierher geh\u00f6ren z. B. die Wirkungen des Rhythmus, der Mannigfaltigkeit und des Kontrastes. \u2014 M. zeigt hier eine deutlich erkennbare und (S. 188) auch offen ausgesprochene Bevorzugung der zeitlichen K\u00fcnste, aus der sich an manchen Stellen eine nicht ganz unbedenkliche Einseitigkeit ergiebt. So besteht nach ihm der Kontrast darin, dafs gewohnte geistige Elemente auf einmal auftauchen, nach-","page":172},{"file":"p0173.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturbericht.\n173\ndem sie eine Zeitlang abwesend waren. Ganz abgesehen davon, dafs bei dieser Auffassung die kontr\u00e4re Entgegensetzung der kontrastierenden Erscheinungen nicht genug zum Ausdruck kommt, ist die Definition f\u00fcr den simultanen Kontrast, der besonders in der Malerei eine so grofse Rolle spielt, nicht recht anwendbar.\nDas Buch Marshalls wird Diejenigen, die in den Begriffen des Scheines, der Personifikation und des Spieles die eigentlichen Grundprobleme der \u00c4sthetik sehen, nicht v\u00f6llig befriedigen k\u00f6nnen; es ist aber eine originelle Leistung, die viele treffenden und anregenden Gedanken enth\u00e4lt und auf die weitere Entwickelung der Wissenschaft nicht ohne Einflufs sein wird.\tKarl Groos (Giefsen).\nS. F. M\u2019Lennan. Emotion, Desire and Interest: Descriptive. Psychol. Bev. Vol. II. No. 5. S. 462\u2014474. 1895.\nDer Verfasser setzt sich zur Aufgabe, das Wesen und die gegenseitigen Beziehungen von Gem\u00fctserregung, Verlangen und Interesse zu beschreiben, etwas viel f\u00fcr die wenigen Seiten! Freilich machte er sich die Arbeit ziemlich leicht, indem er seine Untersuchung nicht mit Litteratur beschwerte.\nZun\u00e4chst betrachtet er das Gef\u00fchl der Liebe. Den Beginn macht das Interesse. Es greift tiefer und wird zum Affekt, zur Gem\u00fctserregung. Allm\u00e4hlich entwickelt es sich zum deutlichen Verlangen nach dem Besitz des geliebten Gegenstandes. Ist dieses erreicht, so kl\u00e4rt sich das Liebes-gef\u00fchl wieder zum bleibenden Gef\u00fchle selbstlosen Interesses. Umgekehrt analog ist es beim Hasse.\nN\u00e4here Untersuchung zeigt den Affekt (emotion) als einen das seelische Gleichgewicht st\u00f6renden, inneren Widerstreit, dem jedoch die Einheit keineswegs abgeht, als eine intensive Vorbereitung auf eine Handlung. Verfasser unterscheidet dann an der Gef\u00fchlserregung nicht weniger als vier Momente: Inhalt, ablehnende oder annehmende Stellungnahme, erhebende oder niederdr\u00fcckende Art, F\u00e4rbung als Lust oder Schmerz. Wird dieser innere Kampf in seinem Streben nach Ausgleichung, nach \u00dcbergang zur Handlung aufgehalten, so verwandelt er sich in Verlangen, dessen Intensit\u00e4t w\u00e4chst mit dem Wachsen der Hemmung. So erscheint das Verlangen als ein andauernder Zustand des Vorbereitetseins auf die Handlung. Auch hier sucht der Verfasser die beim Affekt gefundenen Momente nachzuweisen.\nGeht das Verlangen endlich in Handlung \u00fcber, dann liegt Wille vor, H\u00f6hepunkt des Interesses. \u2014 Das allen diesen Erscheinungen zu Grunde Liegende ist das Interesse, das positiv sich \u00e4ufsert bei Lebensf\u00f6rderung, negativ bei Lebenshemmung.\nM. Offner (Aschaffenburg).\nW. R. Newbold. Experimental Induction of automatic Processes.\nPsycholog. Beview. Vol. II. No. 4. S. 248\u2014362. 1895.\nDen automatischen Prozessen pflegt man gegenw\u00e4rtig, schon um den Schwierigkeiten der alten Seelentheorie auszuweichen, einen gewissen","page":173}],"identifier":"lit30026","issued":"1896","language":"de","pages":"170-173","startpages":"170","title":"Henry Rutgers Marshall: Aesthetic Principles. New York and London. Macmilllan & Co. 1895. 201 S.","type":"Journal Article","volume":"11"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:34:45.494012+00:00"}