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{"created":"2022-01-31T14:55:31.536857+00:00","id":"lit30033","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Reichard, Sigmund","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 11: 286-290","fulltext":[{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"Das Einfachsehen und seine Analogien.\nVon\nSlG-MUND ReICHARB.\nAls eine der schwierigen Fragen der physiologischen Optik wird die Frage betrachtet, wie das Einfachsehen mit den sogenannten identischen Netzhaut punk ten zu st\u00e4nde kommt.\nBeim Versuch der L\u00f6sung dieser Frage wird das Ph\u00e4nomen, welches erkl\u00e4rt werden soll, sowohl durch die Projektionstheorie, als auch durch die Identit\u00e4tstheorie als ein ganz spezielles Ph\u00e4nomen des Sehorgans betrachtet, ohne dafs die Frage auch nur aufgeworfen w\u00e4re, ob nicht auch die \u00fcbrigen Sinnesorgane Ph\u00e4nomene aufweisen, die dem Einfachsehen mit den identischen Netzhautpunkten analog sind.\nIch glaube, dafs die Frage der Analogie mit den Ph\u00e4nomenen der anderen Sinnesorgane, wenn sie aufgeworfen wird, nur bejahend beantwortet werden kann.\nDie zun\u00e4chstliegende Analogie, die so frappant ist, dafs sie sich beim Aufwerfen der Frage fast aufdr\u00e4ngt, ist die, welche die Ph\u00e4nomene des Geh\u00f6rorganes bieten. Wir erhalten durch zwei Ohren einen einzigen Geh\u00f6rseindruck, ebenso wie wir durch zwei Augen einen einzigen Gesichtseindruck erhalten. Die Schallwellen erregen unsere Ohrnervenendigungen links und rechts, also zu gleicher Zeit auf zwei Stellen, ebenso wie die Lichtwellen unsere Augennervenendigungen an zwei Stellen erregen, und der seelische Eindruck ist beim Ohre ein Geh\u00f6rseindruck, wie beim Auge ein Gesichtseindruck.\nMan wird vielleicht hiergegen einwenden, dafs die Analogie zwischen Ohr und Auge in der Richtung fehlt, dals beim Auge","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"Das Einfachsehen und seine Analogien.\n287\nderselbe Lichteindruck, wenn er auf nicht identische Punkte f\u00e4llt, nicht einen seelischen Gresichtseindruck, sondern zwei Eindr\u00fccke produziert, w\u00e4hrend bei dem Ohre ein \u00e4hnliches Ph\u00e4nomen nicht vorkommt. Der Mangel dieser Analogie ist aber f\u00fcr die vorliegende Frage nicht entscheidend. Wenn das CoRTische Organ, welches das eigentliche Analogon der Netzhaut bildet, eine Klaviatur mit etwa 3800 Tasten ist, von denen jede nur durch eine ihr entsprechende Schallbewegung erregt werden kann, dann mufs hieraus gefolgert werden, dafs zwei identische Schallwellen, wie und wo sie auch die zwei Trommelfelle treffen, immer nur zwei solche Nervenendigungen der zwei CoRTischen Organe in Erregung bringen k\u00f6nnen, welche der betreffenden Schallwelle entsprechen, d. h. welche im Sinne der \u201eidentischen Netzhautstellenu als identische Stellen der zwei CoRTischen Organe bezeichnet werden m\u00fcssen. Es ist also die Struktur des Ohres, welche es bewirkt, dafs die zwei Schallwellen immer \u201e identischew Stellen treffen, und welche es unm\u00f6glich macht, dafs eine und dieselbe Schallbewegung zwei \u201enichtidentische\u201c CoRTische Nervenendigungen erregen soll.\nWie bei dem H\u00f6rorgane, k\u00f6nnen wir die gesuchte Analogie auch bei dem Riechorgane konstatieren. Die zwei Nasen\u00f6ffnungen f\u00fchren zu zwei Riechschleimh\u00e4uten, und die Meinen Teilchen eines riechenden Stoffes, welche im Wege der Ber\u00fchrung der Riechschleimhaut den Greruchseindruek hervorrufen, dringen zugleich durch beide Nasen\u00f6ffnungen ein, erregen zugleich beide Riechschleimh\u00e4ute und rufen einen einzigen Gre-ruchseindruck hervor.\nDie Analogie bez\u00fcglich des Tastsinnes mufs in den bekannten Ph\u00e4nomenen der sogenannten Empfindungskreise der Haut gesucht werden.\nDiese Ph\u00e4nomene bestehen, wie bekannt, darin, dafs der Druck von zwei gleichartigen dr\u00fcckenden Gegenst\u00e4nden, n\u00e4mlich von zwei Zirkelspitzen, als ein einziger Druck empfunden wird. Wie grofs der Abstand sein kann, und wie er sich an verschiedenen Teilen der Haut vergr\u00f6fsert und verkleinert, ist hierbei Nebensache. Das Entscheidende bez\u00fcglich der jetzt untersuchten Frage ist das, dafs die zwei Spitzen des Zirkels offenbar zwei gleiche Tasteindr\u00fccke sind, welche die Nervenendigungen der Haut an \u00f6rtlich verschiedenen Stellen erregen, und welche dennoch eine einzige Tastempfindung, also ebenso","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288\nSigmund Heichard.\nwie die Reizung von zwei identischen Netzhautstellen einen einzigen seelischen Eindruck hervorrufen.\nEs ist wahr, dafs die identischen Netzhautpunkte symmetrisch auf die zwei K\u00f6rperh\u00e4lften verteilt, die Nervenendigungen der Empfindungskreise dagegen nebeneinander geh\u00e4uft sind, und es ist wahr, dafs die identischen Netzhautpunkte voneinander in gr\u00f6fserer Entfernung stehen, als die Nervenendigungen der Empfindungskreise, \u2014 aber das sind Unterschiede , welche das Erkennen der Analogie zwar schwerer machen, ohne jedoch die entscheidenden Punkte derselben zu tangieren. Das Entscheidende ist dasjenige, dafs das \u00f6rtliche Getrenntsein der erregten Nervenendigungen bei den Ph\u00e4nomenen beider Art kein Getrenntsein der erregten seelischen Empfindung, keine Differenziertheit und Zweiheit der Empfindung nach sich zieht, und also k\u00f6nnen wir mit vollem Rechte sagen, dafs die Ph\u00e4nomene der Empfindungskreise auf dieselbe Weise ein Einfachtasten durch zwei Nervenendigungen der Haut, wie die Ph\u00e4nomene des Auges ein Einfachsehen mit zwei Netzhautstellen sind.\nWas die anatomische Analogie anbelangt, m\u00fcssen wir zuerst bemerken, dafs die anatomischen Verh\u00e4ltnisse der Hautnerven uns wenig bekannt sind.\nSo viel ist aber jedenfalls bestimmt, dafs in dem Hautbezirke, welcher als ein Empfindungskreis anfgefafst wird, mehr als eine einzige Nervenendigung existiert, und dafs also die zwei Zirkelspitzen nicht eine, sondern wenigstens zwei \u00f6rtlich geschiedene Nervenendigungen erregen, ebenso, wie beim Einf\u00e4ch-sehen die Lichtwellen wenigstens zwei Nervenendigungen der Netzh\u00e4ute erregen.\nHiervon ausgehend, k\u00f6nnen wir uns als Hypothese auch eine Analogie vorstellen, welche zwischen den anatomischen Verh\u00e4ltnissen der identischen Netzhautpunkte und der als ein Empfindungskreis betrachteten Hautbezirke existieren kann.\nWir wissen, dafs die Netzhaut als eine Differenzierung der Haut im Laufe der organischen Entwickelung entsteht. Wenn wir annehmen, dafs ein solcher Hautbezirk des unentwickelten Organismus, welcher als ein Empfindungskreis betrachtet werden kann, und welchen wir der Einfachheit halber als einen Hautbezirk mit nur zwei Nervenendigungen annehmen k\u00f6nnen, den Einfl\u00fcssen ausgesetzt ist, welche die Umwandlung der Haut in","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"Das Einfachsehen und seme Analogien.\n289\neine Netzhaut und die Empfindlichkeit der Nervenendigungen f\u00fcr Lichtstrahlen bedingen, und wenn wir annehmen, dafs im Laufe dieser Differenzierung die \u00fcbrigen Verh\u00e4ltnisse sich nicht \u00e4ndern, so haben wir ein fr\u00fchestes Stadium der Netzhautentwickelung vor uns, in welchem das Einfachsehen mit zwei Netzhautnervenendigungen unter denselben anatomischen Verh\u00e4ltnissen zu st\u00e4nde kommt, wie das Einfachtasten im Bezirke eines Empfindungskreises.\nNehmen wir des weiteren an, dafs in diesem Stadium der Entwickelung sich die Haut auf die Weise entzweiteilt oder einst\u00fclpt, dafs die Teilung oder Einst\u00fclpung gerade in der Mitte zwischen den zwei Nervenendigungen des Empfindungskreises, resp. der daraus entstandenen und einen Empfindungskreis bildenden primitiven Netzhaut f\u00e4llt. Wenn hierbei die \u00fcbrigen Verh\u00e4ltnisse resp. jene anatomischen Verh\u00e4ltnisse, welche die Einheit des Empfindungskreises bedingen, nicht ge\u00e4ndert werden, dann kommt ein Empfindungskreis resp. eine Netzhaut zu st\u00e4nde, der \u00f6rtlich sichtbar geteilt ist, und dessen zwei \u00f6rtlich geteilte Nervenendigungen auf die zwei Eindr\u00fccke nach der vollst\u00e4ndigen Ausbildung der Zweiteilung ebenso mit einer einfachen Empfindung reagieren, wie sie vor der Entwickelung der Einst\u00fclpung und der sichtbaren \u00f6rtlichen Ge-schiedenheit mit einer einfachen Empfindung reagiert haben.\nFreilich ist diese Auffassung der anatomischen Verh\u00e4ltnisse der Nervenendigungen nur hypothetisch. Es ist hypothetisch erstens in dem Sinne, dafs wir die Verh\u00e4ltnisse der Nervenendigungen, die einen Empfindungskreis bilden, nicht kennen, und es ist auch hypothetisch in dem Sinne, dafs wir die Stadien der Entwickelung, durch welche die Haut sich zur Netzhaut entwickelt, nicht kennen. Andererseits kennen wir aber auch weder vom Standpunkte der Anatomie des Nervensystems noch vom Standpunkte der organischen Entwickelung solche Thatsachen, die diese Hypothese als unm\u00f6glich erscheinen lassen w\u00fcrden.\nAls Zusammenfassung der Ergebnisse dieser Untersuchung k\u00f6nnen wir das Folgende konstatieren:\nDas Ph\u00e4nomen des Einfachsehens mit den identischen Netzhautpunkten folgt nicht aus einer besonderen Eigenschaft des Gesichtssinnes, sondern aus einer allgemeinen Eigenschaft s\u00e4mtlicher Sinnesempfindungen. Diese allgemeine Eigenschaft\n19\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie XI.","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"290\nSigmund Bernhard.\nder Sinne \u00e4ufsert sich beim Gesichtssinn im Einfachsehen mit den identischen Netzhautpunkten, beim Gieh\u00f6rssinn im Einfachh\u00f6ren mit zwei einander entsprechenden Nervenendigungen in den CoRTischen Organen, beim Geruchssinn beim Einfachriechen mit den zwei Schleimh\u00e4uten und beim Tastsinn im Einfachempfinden zweier Tasteindr\u00fccke im Bereiche eines Empfindungskreises, und kann im allgemeinen als ein Einfachempfinden mit distinkten Nervenendigungen bezeichnet werden.","page":290}],"identifier":"lit30033","issued":"1896","language":"de","pages":"286-290","startpages":"286","title":"Das Einfachsehen und seine Analogien","type":"Journal Article","volume":"11"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:55:31.536863+00:00"}