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{"created":"2022-01-31T15:07:27.988133+00:00","id":"lit30050","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Meumann, E.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 11: 316-318","fulltext":[{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316\nLitteraturbericht.\nTh. Eibot. Recherches sur la m\u00e9moire affective. Rev. philos. Bd. 38. No. 10. S. 376-401. 1894.\nE. B. Titchener. Affective memory. Philos. Rev. IV. 1. S. 65\u201476. 1895.\nIn den ersten dieser beiden Aufs\u00e4tze giebt Th. Eibot auf Grund einer Befragung von 60 Personen beiderlei Geschlechts von verschiedenem Bildungsgrade eine Theorie des affektiven Ged\u00e4chtnisses. Alle Personen werden sonderbarerweise gleichzeitig nach ihrer F\u00e4higkeit,, sich an Ger\u00fcche, Geschmacksempfindungen, Organempfindungen zu erinnern und nach ihrem Eeproduktionsverm\u00f6gen f\u00fcr \u201eLust- und Unlustzust\u00e4nde\u201c und \u201eGef\u00fchle im Allgemeinen\u201c befragt. \u00dcber die Zuverl\u00e4ssigkeit der Versuchspersonen, ihre F\u00e4higkeit, sich recht zu beobachten und das Beobachtete korrekt in Worten wiederzugeben \u2014 Dinge, die hier von ganz entscheidender Bedeutung sind \u2014 wird nichts bemerkt, als dafs f\u00fcnf besonders ausf\u00fchrliche schriftliche Antworten spezieller ber\u00fccksichtigt, und dafs zweifelhafte, vage und wenig instruktive Berichterstattungen ausgeschlossen wurden.\nWir \u00fcbergehen die zahlreichen Einzelheiten des Ergebnisses dieser Enquete. Sie veranlassen den Verfasser zun\u00e4chst, folgende drei Gruppen von \u201eGed\u00e4chtnisbildern\u201c (images) aufzustellen: 1. solche mit direkter und leichter Eeproduzierbarkeit (visuelle, auditive, taktilmotorische; die letzteren etwas fraglich); 2. solche mit indirekter und relativ leichter Eeproduzierbarkeit (Lust, Unlust, allgemeine Gem\u00fctsbewegungen); die Eeproduktion ist hier indirekt, weil der affektive Zustand nur durch Vermittelung der intellektuellen Zust\u00e4nde reproduziert wird, mit denen er assoziiert war; 3. solche mit schwieriger, bald indirekter, bald direkter Eeproduzierbarkeit (Geschmack, Geruch und Organempfindungen). Zwei Hauptursachen f\u00fcr diese Verschiedenheiten werden angegeben: die Eeproduzierbarkeit einer Vorstellung steht in gleichem Verh\u00e4ltnis zu ihrer Komplexit\u00e4t und in umgekehrtem zu ihrer Einfachheit; sie steht sodann in gleichem Verh\u00e4ltnis zu ihrer Verbindung mit \u201emotorischen Elementen\u201c. Stellt man nun mit Titchener in der zweiten hier genannten Abhandlung die Frage nach der Natur des affektiven Ged\u00e4chtnisses so: \u201eIst alle Eeproduktion von Gef\u00fchlen durch Begleiterscheinungen, Nebenumst\u00e4nde, Empfindungselemente, kurz durch intellektuelle Elemente bedingt, oder giebt es eine unvermittelte, direkte Eeproduktion von Gef\u00fchlen?\u201c so mufs die reine und unvermittelte Gef\u00fchlsreproduktion auf Grund dieser Unterscheidungen Eibots als von ihm verneint angesehen werden. Aber Eibot wirft diese Frage auch gar nicht auf ; was ihn interessiert, ist nur die Frage: Wenn nun auch Gef\u00fchle immer durch Vermittelung intellektueller Elemente auftreten, giebt es dann eine wirkliche Eeproduktion von Gef\u00fchlen, d. h. k\u00f6nnen Gef\u00fchle auf reproduktivem Wege, ohne durch gegenw\u00e4rtige Ereignisse (Wahrnehmungen) erregt zu sein, auftreten? Giebt es in diesem Sinne eine wirkliche Erinnerung an fr\u00fchere Gef\u00fchlszust\u00e4nde, dafs dabei die Gef\u00fchle selbst Wiederaufleben k\u00f6nnen? Diese Frage bejaht Eibot. Er stellt infolgedessen einen neuen Ged\u00e4chtnistypus auf, den Typus des affektiven Ged\u00e4chtnisses, der neben dem visuellen, auditiven, taktil-motorischen als besonderer Typus","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"Litter a tur bericht.\n317\nanzuerkennen ist. Als besonderer Typus, denn nicht alle, sogar vielleicht die Minderzahl der Menschen hat wirkliche Gref\u00fchIstproduktion. Findet aber nicht bei allen Menschen ein wirkliches Wiederaufleben des emotionellen Zustandes statt, wenn sie sich an Gef\u00fchle zu erinnern suchen, so ist das durch die graduellen Unterschiede des affektiven Ged\u00e4chtnisses zu erkl\u00e4ren. Die einen haben ein \u201eabstraktes\u201c \u201efalsches\u201c Gef\u00fchlsged\u00e4chtnis, die anderen ein \u201ekonkretes\u201c \u201ewahres\u201c. Wenn die ersteren sich an Gef\u00fchle erinnern, so reproduzieren sie haupts\u00e4chlich Worte, sie erinnern sich, dafs sie das Gef\u00fchl gehabt haben, und rufen die Nebenumst\u00e4nde, Begleitvorg\u00e4nge herbei, unter denen damals das Gef\u00fchl auftrat, sie reproduzieren \u201eaffektive Marken\u201c, keinen \u201eaffektiven Zustand\u201c. Die Vertreter des zweiten Typus reproduzieren dagegen die betreffenden Gef\u00fchle selbst, wenn auch zugleich mit und durch die intellektuellen Elemente, mit welchen als ihren Begleitvorg\u00e4ngen die Gef\u00fchle assoziiert sind. Innerhalb des letzteren Typus kommt wieder eine spezielle F\u00e4higkeit, Lustzust\u00e4nde zu reproduzieren, vor neben einem vorwiegend zur Erinnerung an \u201eUnlust oder erotische Zust\u00e4nde\u201c bef\u00e4higten Naturell.\nUnklar bleibt in dem ganzen vorliegenden Aufsatz, wie Ribot diesen Unterschied des abstrakten und konkreten Typus des Gef\u00fchlsged\u00e4chtnisses einen blofs graduellen nennen kann, wenn er andererseits anzunehmen scheint, dafs der abstrakte Typus gar keine Gef\u00fchlselemente reproduziert, sondern nur abstrakte Gef\u00fchlsmarken, Wortvorstellungen und intellektuelle Bestandteile des gesamten emotionellen Zustandes wieder aufleben lassen kann. Ist der Unterschied blofs ein gradueller, so m\u00fcssen auch bei abstraktem Gef\u00fchlsged\u00e4chtnis gewisse minimale Gef\u00fchlselemente Wiederaufleben. Ribot scheint sich dar\u00fcber hinweghelfen zu wollen, indem er annimmt, die Gef\u00fchle seien in diesem Falle \u201elatent\u201c, \u201epotentiell\u201c vorhanden (S. 393). Allein was ist ein latentes Gef\u00fchl ?\nDie zweite oben genannte Arbeit, die von Titchener, kn\u00fcpft an die Ausf\u00fchrungen Ribots an, \u00fcber welche Titchener zuerst ausf\u00fchrlich berichtet. Der Verfasser sieht ganz irrt\u00fcmlich in dem Aufsatze Ribots die Hauptfrage darin, ob es ein willk\u00fcrliches Wiedererinnern, ein sich Besinnen auf Gef\u00fchle giebt, und 2. ob es ein \u201espontanes\u201c, d. h. nicht durch intellektuelle Elemente vermitteltes Reproduzieren von Gef\u00fchlen als solchen gebe. Beides verneint er seinerseits auf Grund einer Befragung der Studenten zweier \u201efortgeschrittener\u201c Jahrg\u00e4nge, und zwar betont er die Unm\u00f6glichkeit einer willk\u00fcrlichen und einer nicht durch intellektuelle Elemente vermittelten Reproduktion von Gef\u00fchlen im Interesse seiner Behauptung, dafs es keine \u201eaffective attention\u201c gebe, dafs wir unsere. Aufmerksamkeit nicht auf Gef\u00fchle richten k\u00f6nnen. Die letztere Behauptung mag dahingestellt bleiben. Wir stellen hier nur fest, dafs Titchener Ribots eigentliche Ansicht verkennt und seinen Ausdruck \u201erena\u00eetre dans la conscience spontan\u00e9ment ou \u00e0 volont\u00e9\u201c (S. 377), der allerdings nicht sehr gl\u00fccklich ist, f\u00e4lschlich im Sinne der ausdr\u00fccklichen Behauptung einer direkten Gef\u00fchlsreproduktion deutet. Worauf es Ribot ankommt, das ist, die wirkliche Wiedererinnerung von fr\u00fcheren Gef\u00fchlen im Gegensatz zu einer Erregung von Gef\u00fchlen durch ein","page":317},{"file":"p0318.txt","language":"de","ocr_de":"318\nLitteraturberich t.\n\u201e\u00e9v\u00e9nement actuel\u201c zu beweisen und mit der ungleichen individuellen Verteilung dieser Gef\u00fchlsreproduktion das Vorhandensein eines speziellen affektiven Ged\u00e4chtnistypus darzuthun. Durch die ausdr\u00fcckliche Versicherung von Ribot, dafs er keine unvermittelte Gef\u00fchlsreproduktion annehme (S. 889 vergl. 393), wird die \u201eKonjektur\u201c Titcheners, dafs Ribot meine, die Gef\u00fchle tr\u00e4ten zwar \u201epar l\u2019interm\u00e9diaire des \u00e9tats intellectuels\u201c auf, \u201ewelchen sie assoziiert sind\u201c (S. 389), aber der Gef\u00fchlsbestandteil werde dabei selbst\u00e4ndig reproduziert (!), ganz hinf\u00e4llig.\nE. Mettmann (Leipzig).\nHenry Maubel. Psychologie de la musique. Soci\u00e9t\u00e9 Nouvelle. Bruxelles. Juillet 1895. S. 37\u201449.\nWer durch den Titel verleitet eine streng wissenschaftliche Abhandlung erwartet, wird sich wohl etwas entt\u00e4uscht f\u00fchlen, wer aber eine geistreiche Causerie lesen will, der wird den feinen Beobachtungen des Verfassers gerne folgen und ihnen hoffentlich auch beistimmen. Ich brauche mich bei dem abgedroschenen Vergleich nicht aufzuhalten, dafs die Musik das Mittel sei, welches die Schwingungen einer Seele der anderen \u00fcbermittelt (39). Anders als hyperbolisch kann man wohl diese \u201eondulation de k\u00e4me\u201c nicht auffassen, und wir w\u00fcrden ihn gar nicht beachten, wenn sich nicht derselbe Gedanke viel physiologischer aus-dr\u00fccken liefse, denn der Pulsspiegel zeigt, dafs beim S\u00e4nger, Spieler und H\u00f6rer in der That eine erh\u00f6hte innere Bewegung stattfindet. Eine eingehendere Untersuchung w\u00e4re erw\u00fcnschter, als die sch\u00f6ne Phrase.\nVerfasser bedauert, dafs der moderne Mensch sein individuelles Leben zu wenig kenne und man die Musik zu viel sozialisiert habe (40). In dieser Beziehung erhofft er von der modernen Tendenz, zum Volksgesang zur\u00fcckzukehren (Folkloristen), die besten Resultate. Allerdings sehe ich nicht ein, wie dadurch die Musik den sozialen Charakter verlieren sollte. Maubel \u00fcbersieht, dafs, je mehr wir zum Volksgesang aus den Anf\u00e4ngen der Kultur zur\u00fcckgehen, desto mehr treffen wir Musik als eine soziale Angelegenheit des ganzen Stammes vor. \u201eW\u00e4ren wir weniger sozialisiert, tr\u00e4fen wir unter uns mehr Licht, Luft und Schweigen an, dann w\u00fcrden unsere Kinder vielleicht schon singen, ehe sie noch sprechen\u201c (43). Nun, das thun sie gelegentlich so wie so, aber der soziale Charakter der Musik ist unvermeidlich, wenn Harmonie und die Macht rhythmischer Bewegung ein notwendiges Element unserer Kunst bilden.\nViel gl\u00fccklicher als in wissenschaftlicher Erkl\u00e4rung trifft der Verfasser den Charakter der Musik in geistreichen und poetischen Vergleichen. Da ist ihm Musik ein Reflex eines inneren Geschehens, ein Symbol, welches das Leben nicht erkl\u00e4rt und aufweckt, wohl aber andeutet. Gerade in dieser blofsen Andeutung, die anregt, ohne zu binden, in dem mysteri\u00f6sen Spielraum, den die Begeisterung freigiebt, liegt ihr eigent\u00fcmlicher Reiz, der nur zerst\u00f6rt wird, sobald wir versuchen, ihn zu analysieren und in Begriffe zu fassen. Musik ist wie eine frohe Botschaft, die sich uns ank\u00fcndigt, \u201enous voudrions le saisir: sa voix a d\u00e9j\u00e0 disparu dans la lumi\u00e8re et nous le cherchons .... en nous demandant de quelle nature il est\u201c (45). Sehr sch\u00f6n und gl\u00fccklich vergleicht","page":318}],"identifier":"lit30050","issued":"1896","language":"de","pages":"316-318","startpages":"316","title":"Th. Ribot: Recherches sur la m\u00e9moire affective. Rev. philos. Bd. 38. No. 10. S. 376-401. 1894 / E. B. Titchener: Affective memory. Philos. Rev. IV. 1. S. 65-76. 1895","type":"Journal Article","volume":"11"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:07:27.988138+00:00"}