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{"created":"2022-01-31T15:04:36.809879+00:00","id":"lit30096","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Sergi, G.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 14: 91-100","fulltext":[{"file":"p0091.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber\nden Sitz und die physische Grundlage der Affekte.\nVon\nG. SekGi\nin Rom.\nI. Um Mifsverst\u00e4ndnisse zu vermeiden, ist es zun\u00e4chst angezeigt, die Terminologie festzustellen.\nUnter Affekten verstehe ich diejenigen Ph\u00e4nomene, welche den affektiven Charakter des Schmerzes oder der Lust haben, soweit sie durch Vorstellungen oder durch sinnliche Bilder erzeugt werden; mit dem Namen Gef\u00fchle bezeichne ich jedes Ph\u00e4nomen mit affektivem Charakter, durch welche Ursache es auch hervorgerufen wird, sei es durch Vorstellungen oder durch intellektuelle Ursachen \u2014 Affekte \u2014 oder durch organische, physische Ursachen \u2014 physische Lust oder physischer Schmerz.\nDer Ausdruck Gef\u00fchle ist also der allgemeinere und begreift zwei Klassen in sich: 1) Affekte, 2) physischen Schmerz und physische Lust, welche durch Reize auf die Sinnesorgane oder auf die organischen Gewebe (innere oder Gemeinempfin-d\u00fcngen) bedingt sein k\u00f6nnen.\nAus diesen beiden Klassen von Gef\u00fchlen hat man zwei v\u00f6llig verschiedene und getrennte Ph\u00e4nomene gemacht, wie wenn das eine zu dem anderen in keiner Beziehung st\u00fcnde. Die Affekte sind als Thatsachen intellektueller Natur mit Sitz und Entwickelung im Gehirn gedeutet worden. Nun sind aber die organischen Beziehungen in jeder Form bei den Affekten sichtbar und durch Bewegungen, die deshalb emotionelle heifsen und ihre Sprache oder ihre \u00c4ufserungen vorstellen, leicht zu konstatieren. Man leugnet sie daher auch nicht, erkl\u00e4rt sie aber","page":91},{"file":"p0092.txt","language":"de","ocr_de":"92\nG. Scrgi.\nals sekund\u00e4re und Besonanzerscheinumgen. Von Charles Bell bis auf Spencer, Darwik und andere Psychologen sind die organischen Kundgebungen, die bei den Affekten Vorkommen, studiert und als blofse Wirkungen dieser Affekte aufgefaist\nworden.\nAllerdings haben Back Tuke, Todd, Marshall, Brown-Sequard die Ansicht ausgesprochen, das verl\u00e4ngerte Mark sei der Sitz der Affekte; doch besitzen diese bedeutenden Gelehrten keine Theorie, mit welcher ihre Hypothese oder \u00dcberzeugung verkn\u00fcpft, oder die durch besondere Erw\u00e4gungen gest\u00fctzt w\u00e4re. Spencer selbst versuchte in derselben Gegend den Sitz der Affekte zu finden, aber auch er sah in den \u00c4ufserungen nichts als die Sprache, also die Wirkung der Affekte, d. h. Beflexph\u00e4nomene, die von dem Affekt abh\u00e4ngen und von ihm hervorgerufen werden.\nEin, amerikanischer Psychologe, W. James, und ein holl\u00e4ndischer Arzt, Lange, lenkten ungef\u00e4hr gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf die Art des Entstehens und Erscheinens der Affekte, Und seit dieser Zeit, die wenig mehr als ein Jahrzehnt zur\u00fcckliegt, sind Studium und Analyse der Affekte in eine neue Phase f\u00fcr die Psychologie der Gef\u00fchle \u00a9ingetreten.\nLange analysiert einig\u00a9 Affekte, die ihren Erscheinungen nach am meisten charakteristisch sind, Trauer, Freude, Zorn, Furcht, zeigt, welche physiologischen Grundph\u00e4nomene hierbei ausgel\u00f6st werden, und stellt zwei im wesentlichen richtige Prinzipien auf:\n1)\tIn dem vasomotorischen Zentrum, das in dem verl\u00e4ngerten Mark hegt, giebt es ein Zentrum f\u00fcr die Affekte, welches durch Empfindungen und Vorstellungen erregt werden und die Affekte hervorbringen kann;\n2)\tdie unmittelbaren physischen Kundgebungen des Affekts sind eine je nach den verschiedenen Affekten verschiedene Ver\u00e4nderung der vasomotorischen Funktionen; die \u00fcbrigen physischen Kundgebungen, welch\u00a9 di\u00a9 Affekte begleiten, r\u00fchren von vasomotorischen St\u00f6rungen her.\nJames spricht ebenfalls einen in der Hauptsache richtigen Grundsatz aus, bleibt aber unklar und unbestimmt und schliefst prinzipiell die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle aus, bei denen er die ihnen mit allen anderen Affekten gemeinsamen Z\u00fcge nicht zu erkennen vermochte. Dagegen kommt Lange zu einer Auf-","page":92},{"file":"p0093.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber dm Site und die physische Grundlage der Affekte.\t93\nfassung von grofser Wichtigkeit, wenn er, allerdings schematisch, darzulegen versucht, zwischen Gef\u00fchlen, die auf organische physische Heize zur\u00fcckgehen, und Gef\u00fchlen idealen Ursprungs sei keine absolute Scheidung zuzugeben.\nHeute heifst die neue Theorie der Affekte die Lange-jAMESsche; meines Erachtens jedoch mit Unrecht, da James keineswegs behauptet hat, die Theorie halten zu k\u00f6nnen, sondern vor den Ein w\u00fcrfen der Gegner zur\u00fcckgewichen ist und sich widersprochen hat1: man sollte sie nur L\u00e4NGEsche Theorie nennen.\nII. Um den Sitz und die physische Grundlage der Gef\u00fchle zu ermitteln, mufs man. notwendig die Erscheinungen vom physiologischen Gesichtspunkt aus analysieren ; die reine Psychologie leistet uns wenig oder nichts, vielmehr l\u00e4fst sich behaupten, dafs sich die Psychologie der Gef\u00fchle auf quantitative und qualitative Unterschiede beschr\u00e4nkt, w\u00e4hrend die Psychologie des Verstandes an mannigfaltigen und assoziierten Ph\u00e4nomenen reich ist. Vielleicht ist aus diesem Grunde die Psychologie der Gef\u00fchle, im Vergleich mit der anderen vielfach behandelten, auf einem elementaren Standpunkt zur\u00fcckgeblieben, auch wenn man von ihrer physischen Grundlage absieht.\nDie physiologische Untersuchung zeigt uns, dafs sich bei schmerzerzeugenden Heizen je nach deren Intensit\u00e4t und Dauer folgende Ph\u00e4nomene finden: Stillstand oder Verlangsamung der Herzbewegungen, Stillstand oder Verlangsamung der Atmung, mehr oder minder tiefgehende Ver\u00e4nderungen beider in der Form; Sinken der Temperatur; St\u00f6rungen 'in den Ausscheidungen, Unterdr\u00fcckung oder \u00dcbermafs derselben; St\u00f6rungen in den allgemeinen Verdauungsfunktionen ; schneller oder langsamer Tod in den \u00e4ufsersten F\u00e4llen. Und zwar treten diese Erscheinungen in verschiedenen Abstufungen und entsprechend den verschiedenen Affekten und Schmerzen physischen Charakters auf, d. h. je nach der Beschaffenheit des physischen oder idealen Heizes, welcher den Schmerz hervorruft.\nDie Experimentalpsychologie hat bewiesen, dafs sich die fundamentalen St\u00f6rungen in den Herz- und Atmungsbewegungen auch bei Tieren, denen man das Gehirn ausgenommen hat, einstellen, w\u00e4hrend die Unterdr\u00fcckung des psychischen Schmerzes\n1 Cfr. Psychol. Rev., 1894.","page":93},{"file":"p0094.txt","language":"de","ocr_de":"94\nO. Sergi\ndurch. An\u00e4sthetica auch das Herz- und Atmungsph\u00e4nomen ansfallen l\u00e4fst : das lehrt, dafs die beiden That Sachen, die eine psychischer, die andere physiologischer Natur, unl\u00f6sbar verbunden sind, und berechtigt au der Behauptung, der Grund der einen sei auch der Grund der anderen.\nBas Ergebnis der Beobachtungen \u00fcber die schmerzerzeugenden Ph\u00e4nomene ist folgendes: der Schmerz geht zun\u00e4chst aus einer \u00e4ufseren Erregungsursache als erster, das Ph\u00e4nomen bestimmenden Bedingung hervor, sodann aus einer anderen, die ich innerlich nennen m\u00f6chte, n\u00e4mlich einer k\u00fcrzeren oder l\u00e4ngeren, pl\u00f6tzlichen und heftigen oder langsamen und anhaltenden St\u00f6rung der vitalen Em\u00e4hrnngsfunktionen. Der Schmerz wird also nur dadurch intellektuell, dafs er eine be-wnfste, von dem Leidenden wahrgenommene Thatsaohe wird, hat aber im Grunde einen von den Erscheinungen des Intellektes verschiedenen Charakter; mit anderen Worten: das eigentliche Gehirn nimmt blofs als Organ des Bewufstseins teil, nicht all Organ, das ihn hervorriefe. Vielmehr sind der Schmerz und sein Gegensatz, die Lust, Ph\u00e4nomene der Em\u00e4hrnngsorgane, deren Funktionsst\u00f6rungen psychischen Charakter erhalten und in der Form von Gef\u00fchlen bewnfst werden.\nLange hat gemeint, die Affekte hingen von dem vasomotorischen Zentrum ab ; doch ist dieses Zentrum zu eng, um die Mannigfaltigkeit der visceralen Erscheinungen des Ern\u00e4hrungslebens erkl\u00e4ren zu k\u00f6nnen. Dagegen hat mich 'die Analyse zu der Erkenntnis gebracht, dafs der Bulbus raohidicus, wo die Beflex- und automatischen Zentren der Nerven, die das ganze Ern\u00e4hrungsleben regulieren, zusammenlaufen, das Zentrum der Affekte und im allgemeinen das der Gef\u00fchle ist. Von diesem Komplexzentrum h\u00e4ngen die Bewegung des Herzens und die der Atmung ab, ferner die Ph\u00e4nomene der verschiedenen Sekretionen, die dem Em\u00e4hrun gsleben dienen, und die anderer, z. B. der Thr\u00e4nen.\nWie wirken nun die Beize auf den Bulbus ? Bas ist der Kern des Problems. Viele haben behauptet, die physischen und die emotionellen Schmerz- und Lustgef\u00fchle wirkten zwar auf die sogenannten Beflex- und automatischen Zentren ein, aber auf indirektem Wege als Ergebnisse der schon erzeugten Ph\u00e4nomene, d. h. als Besonanz- oder als Beflexerscheinungen : die Ver\u00e4nderungen oder St\u00f6rungen der Herzth\u00e4tigkeit, der","page":94},{"file":"p0095.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber dm Site und die physische Grundlage der Affekte.\n9 ft\nAtmung, der Ausscheidungen w\u00e4ren sekund\u00e4re Wirkungen, nicht Ursachen des Ph\u00e4nomens oder Vorl\u00e4ufer des Ph\u00e4nomens, also nicht prim\u00e4r. Aus meinen Beobachtungen erhellt, dafs diese bulb\u00e4ren Beizungen prim\u00e4r sind, den Gef\u00fchlsph\u00e4nomenen vorhergehen; Schmerz oder Lust treten also dann ein, wenn diese Zentren erregt werden und die Lebensfunktionen modifizieren.\nZum Unterschiede also von der landl\u00e4ufigen Theorie sind die Beize, welche zum Bulbus dringen und Schmerz oder Lust hervorrufen, seien sie nun organische oder ideale, als direkte, nicht als reflektierte aufzufassen, und werden die Folgeerscheinungen, d. h. die Gef\u00fchle, auf direktem Wege in den Ern\u00e4hrungsorganen ausgel\u00f6st.\nDas wird bewiesen: 1. mittelst der Experimentalphysiologie, aus der man ersieht, dais der Bulbus unabh\u00e4ngig von dem Gehirn und sogar ohne das GeMm zu funktionieren und die entsprechenden Ph\u00e4nomene zu erzeugen angeregt werden kann ; 2. dadurch, dafs der Bulbus nicht nur bei starken Beizen, sondera auch bei echwaohen und schw\u00e4chsten die entsprechenden Wirkungen bei den Affekten aus\u00fcbt. Die Beflextheorie der Affekte st\u00fctzt sich auf die Anschauung von der Diffusion der Beize durch einen \u00dcberschufs von Energie ; w\u00e4re dem so, so w\u00fcrden die Beize schwacher Intensit\u00e4t keinen Eindruck auf den Bulbus und die von ihm abh\u00e4ngigen Organe machen: das ist nicht der Fall. 3. Dadurch, dafs das Ern\u00e4hrungsleben im Vergleich au dem Geistesleben das urspr\u00fcnglichere ist, wie vom morphologischen Standpunkt aus der Bulbus mit seinen .Annexen vor dem h\u00f6heren GeMm kommt. Das zeigt nicht nur die Evolution des Nervensystems in der Tieireihe, sondern auch die That-sache, dafs der Sitz der Lebenszentren im Bulbus liegt und rieh, 'trotz der Vermehrung der Gehirnsubstanz niemals verschoben hat; Gleiches lehrt auch die Experimentalphysiologie. In der That kann man die Gehirnsubstanz bei Tieren herausnehmen, wenn nur der Bulbus und die Zentren der organischen Funktionen unverletzt bleiben, und das Tier kann fortfahren, zu leben und sich zu ern\u00e4hren. Hieraus ergiebt sich ferner, dafs wie das h\u00f6here GeMm, so auch die Intelligenz eine sekund\u00e4re Erscheinrag auf Grund der Zeit und der tierischen Entwickelung ist, w\u00e4hrend das Gef\u00fchlsleben prim\u00e4r ist, da es mit dem Em\u00e4h-rungsleben in Zusammenhang steht.\nDer Bulbus, das Zentrum der Zentren f\u00fcr die Lebens-","page":95},{"file":"p0096.txt","language":"de","ocr_de":"m\nG. Serg%\nfunktionen, ist also zugleich das Brregmogszentrnm for' Sehmers und Lust jeglichen Charakters, zu deren flervorbringung er direkt gereizt wird.\nUL Der Entstehungsprozeis der organischen Gef\u00fchle oder derer physischen Charakters ist einfach : ein peripherer Beiz in den sensorischen Organen oder den Geweben oder den inneren., visceralen Organen pflanzt sich direkt zm dem Bulbus fort, ohne durch das Gehirn hindurchzugehen ; der Bulbus wird in einem oder in vielen nerv\u00f6sen Zentren gereizt, entsprechend der Quantit\u00e4t und Qualit\u00e4t des peripheren Beize\u00bb, nnd \u00fcbertragt an die abh\u00e4ngigen, innervierten Organe, das Herz, die Atmungsorgane und andere, die besonderen Modifikationen, die sieb hieraus ergeben. Es \u00e4ndern sieb der Lauf und der Druck des Blutes, die Atmung und die zugeh\u00f6rigen Funktionen; es \u00e4ndern sich die sekretorischen Funktionen; mehr oder weniger starke Beize setzen sich durch die motorischen Wege fort; 'und der ganze Organismus erfahrt die Einfl\u00fcsse solcher Modifikationen. Hieraus entsteht das Gef\u00fchl; augenblicklich oder dauernd wie der Beiz ist, sind auch die Wirkungen augenblicklich oder dauernd, k\u00f6nnen es wenigstens sein; unter Umst\u00e4nden sind sie selbst verh\u00e4ngnisvoll: pl\u00f6tzlicher oder langsamer Tod.\nW\u00e4re nicht das h\u00f6here Gehirn, nnd w\u00e4re damit auch der Intellekt nicht, so w\u00fcrden die Gef\u00fchle auf die rein physischen Charakters beschr\u00e4nkt sein. Da es nun aber Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedanken giebt, so bringen diese Thatsachen, welche zu den Erscheinungen des Intellekts geh\u00f6ren, \u00e4hnliche Wirkungen hervor und vermehren die Anzahl der Gef\u00fchle.\nDie Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedanken wirken auf deu Bulbus wie die peripherischen organischen Beize, und es entstehen also dieselben Ph\u00e4nomene, n\u00e4mlich die Modifikationen und St\u00f6rungen der Lebensfunktionen. Man braucht nur die Vorg\u00e4nge beim Zorn, bei der Freude, der Furcht, die durch Vorstellungen oder Wahrnehmungen, Kenntnisse, Erinnerungen u. a. m. hervorgerufen werden, zu beobachten, um zu sehen, dafs dieselben Herz- und Zirkulationserscheinungen, dieselben Atmungs- nnd Sekretionsst\u00f6rungen auftreten und auch augenblicklicher oder langsamer Tod durch Kummer und Angst wie durch \u00fcbertriebene pl\u00f6tzliche Lust erfolgen kann. Ich werde anderswo die bei den Affekten vorkommenden Thatsachen beschreiben und angeben, wie sich physiologisch die Mechanik,","page":96},{"file":"p0097.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber den Site und die physische Grundlage der Affekte.\n97\nder Affekte erkl\u00e4ren l\u00e4fst; Lange hat die wichtigsten .Affekte untersucht, ich habe eine vollst\u00e4ndigere Darstellung, und zwar f\u00fcr alle Formen der Gef\u00fchle, geliefert.1\nZwei Gr\u00fcnde, das ist festzustellen, k\u00f6nnen Gef\u00fchle hervor\u00ab\nrufen, peripherische organische Reize und Gehimreize in der\n\u2022\u2022\nForm von Vorstellungen, Gedanken und \u00c4hnlichem; diese beiden Gr\u00fcnde wirken in derselben Art und direkt auf den Bulbus, und die Folgen sind identisch. In dem Charakter und dem Wesen der Gef\u00fchle kann also kein Unterschied bestehen, welcher Ursache' sie auch ihr Dasein verdanken, seien es nun organische Reize oder ideale. Lange hatte die Richtigkeit dieser in der besonderen Ph\u00e4nomenologie aller Gef\u00fchle nachweisbaren Behauptung eingesehen.\nIch mufs hier hervorheben, was ich an einem anderen Ort mit Bezug auf die Gef\u00fchle physischer Natur bemerkt habe. Sie werden n\u00e4mlich allerdings durch Reize auf die sensorischen Organe hervorgerufen, letztere veranlassen aber nicht alle in der gleichen Weise die Entstehung von Gef\u00fchlen. Nur durch diejenigen Sinnesorgane (Haut und Schleimhaut des Mundes und der Nase), welche sich in der Struktur den inneren Geweben am meisten n\u00e4hern, erh\u00e4lt man eine gr\u00f6fsere Anzahl Gef\u00fchle, w\u00e4hrend s\u00e4mtliche Gewebe zur Erzeugung des spezifischen Schmerzgef\u00fchls, wie die inneren Organe, geeignet sind. Die Haut, sodann der Geschmacks- und der Geruchssinn sind diejenigen Organe, welche Gef\u00fchle ergeben ; das Gesicht und das Geh\u00f6r aber ergeben als einfache sensorische Organe wenige oder keine und darum nur seltene Schmerz- und Lustempfindungen. Mit anderen Worten: die hervorragend perzeptiven Sinne verursachen sehr wenige Empfindungen mit affektivem Charakter, w\u00e4hrend die minder perzeptiven, den Funktionen der inneren Organe des Em\u00e4hrungslebens n\u00e4herstehenden Sinne reicher an affektiven Charakteren sind. Die Haut, welche auch einen feinen P erz eptivit\u00e4tssinn enth\u00e4lt, ist in ihren Funktionen sehr kompliziert; man kann sie als einen Komplex sensorischer Organe hinstellen, durch deren einige sie grofser Affektivit\u00e4t f\u00e4hig ist. Das wird durch Erfahrung und Beobachtung deut-lieh best\u00e4tigt.\n1 Ofr. Lange, \u00dcber Gem\u00fctsbewegungen, Leipzig 1887. Sebgi, Dolore e Diacere. Milano 1894.\nZeilMhcifl f\u00fcr F^ehotogie XIV.\n7","page":97},{"file":"p0098.txt","language":"de","ocr_de":"98\nG* Serg\u00f9\nIV. Von einer Klasse von Gef\u00fchlen m\u00f6chte ich noch sprechen, die einen hohen emotionellen Wert besitzt, und f\u00fcr welche die Psychologie bisher keine befriedigende Erkl\u00e4rung gegeben hat: ich meine die \u00c4sthetischen Gef\u00fchle; auch diejenigen, speziell James, welche Langes Auffassung \u00fcber die physische Grundlage der Affekte beigetreten sind, haben 'dies\u00a9 Gef\u00fchle von der an genommenen allgemeinen Theorie ausgeschlossen.\nJames teilt irrt\u00fcmlich die Affekte ein in gr\u00f6bere (coarser) und feinere (subtler). Bei der ersten Kategorie scheint ihm die Richtigkeit des ausgesprochenen Grundsatzes evident; bei der zweiten, welche die moralischen, intellektuellen und \u00e4sthetischen Affekte in sich begreift, glaubt er zu finden, sie seien mehr formal (im \u00dcBEBABTschen Sinne) als real. -Nur gesteht er bei den \u00e4sthetischen zu, dais manchmal bei den musikalischen Empfindungen als sekund\u00e4res Lustgef\u00fchl das von den visceralen Ver\u00e4nderungen herr\u00fchrende hinzutreten k\u00f6nne.\nDas ist v\u00f6llig ungenau und kommt von ungen\u00fcgender Untersuchung und Deutung; die \u00e4sthetischen Affekte unterscheiden sich in nichts von den Affekten des gew\u00f6hnlichen, t\u00e4glichen Lebens und bilden keine Ausnahme von dem Prinzip, da sie auf demselben Wege und durch dieselben emotionellen Zentren erhalten und hervorgebracht werden.\nEs ist hier nicht der Ort, die Richtigkeit dieser Behauptung darzuthun; ich verweise jedoch diejenigen, welche sich f\u00fcr den Gegenstand interessieren, auf mein Buch Dolore e Piacere (Mailand 1894), wo ich die haupts\u00e4chlichsten \u00e4sthetischen Gef\u00fchle analysiert und gezeigt habe, wie sie in dieselbe Ordnung wie die \u00fcbrigen Gef\u00fchle des t\u00e4glichen Lebens geh\u00f6ren.\nIch habe nachgewiesen, dafs das Wesen der \u00e4sthetischen Gef\u00fchle gerade in visceralen Ver\u00e4nderungen wie bei den heftigsten Affekten besteht, dafs sich bei ihnen dieselben Modifikationen der Lebensfunktionen, dieselben Erscheinungen in ihren \u00c4ufserungen, dieselben Wirkungen der Depression oder Exaltation wie bei allen anderen Affekten finden. Der charakteristische Unterschied zwischen den \u00e4sthetischen und den \u00fcbrigen Gef\u00fchlen ist der, dafs jene k\u00fcnstlich, fiktiv erzeugt werden, aber die emotionellen Ph\u00e4nomene des wirklichen Lebens reproduzieren.\nAus der Analyse der \u00e4sthetischen Gef\u00fchle und der Gr\u00fcnde","page":98},{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber dm Site und die physische Grundlage der Affekte.\n99\nihrer Entstehung ergiebt sich, eine andere, f\u00fcr den Psychologen und f\u00fcr die Physiologie der Gef\u00fchle nicht weniger interessante Thatsache. Jene stammen n\u00e4mlich direkt von perzeptiven Smp fin d\u00fcngen her, speziell denen des Gesichts und des Geh\u00f6rs, Organen, die, wie oben gesagt, fast nichts in der Reihe der Gef\u00fchle physischen Charakters leisten, w\u00e4hrend sie ein, 'Mittel sind, Vorstellungen hervorzurufen, die nachher Affekte erregen k\u00f6nnen.\nBei Erzeugung der \u00e4sthetischen Gef\u00fchle haben diese beiden Sinnesorgane prim\u00e4re Bedeutung und beweisen, dafs der Name \u00e4sthetisch (afo&i/m\u00e7) gerechtfertigt ist; d. h. dafs jene den Charakter der Sensibilit\u00e4t tragen, nicht den der Intellektualit\u00e4t, wie man gew\u00f6hnlich meint. Die Intellektualit\u00e4t bei einigen von ihnen wie auch bei den anderen Affekten braucht man nur in der Erregungsursache, nicht in dem Charakter des Ph\u00e4nomens zu suchen. Die Erzeugung des \u00e4sthetischen Gef\u00fchls ist sensibel im wahren, tiefen Sinne des Wortes, ist aufsermtellektuell wie bei jedem Affekt.\nV. Der Mechanismus beim Erscheinen der emotionellen Ph\u00e4nomene ist sehr kompliziert ; er bildet mit den Kundgebungen des Lebens und dem Streben der tierischen Organismen nach Selbsterhaltung als Individuen wie als Gattung organisch zusammengesetztes Ganzes. Daher sind die\nein\nAffekte eng verbunden mit den Bewegungen, die die Verteidigung und Erhaltung des Lebens bezwecken, und mit diesen Bewegungen zusammen erscheinen sie als ebenso viele instinktive Formen, wie wenn kein Bildungsprozefs stattgefunden h\u00e4tte, w\u00e4hrend sie sich doch in dem Anpassungsprozefs an die Daseinsbedingungen, die physischen wie die organischen, konstituiert haben. So entstehen die beiden Reihen von Gef\u00fchlen, physische und ideale, die nur nach den Ursachen, die sie erregen, verschieden, aber in ihren Charakteren und ihrem Wesen identisch sind, mit dem Organismus und entwickeln sich je nach den besonderen individuellen und sozialen Bedingungen, w\u00e4hrend sie sich auf das Leben als eine von dessen notwendigen Funktionen beziehen.\nDie ganze Theorie l\u00e4fst sich also in zwei Grundprinzipien zusammenfassen :\n1. Das Zentrum der\u2019 Affekte ist nicht das eigentliche Gehirn, die Basis der intellektuellen Ph\u00e4nomene und des Bewufst-","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"100\nG. Sergi.\nseins der psychischen Ph\u00e4nomene jeder Ordnung, sondern das verl\u00e4ngerte Mark. Das Gehirn als Organ des Denkens verh\u00fct sich zu den Affekten, wie die Sinnesorgane und die Gewebe, welche zur Erzeugung des Schmerzes und anderer Formen des Gef\u00fchls f\u00e4hig sind, d. h. als einfaches Erregungsorgan vermittelst der Vorstellungen, Erinnerungen u. a. m., also als \u00e4ufseres Organ gegen\u00fcber dem Bulbus. Die einzige Funktion, durch die sich das Gehirn an den Affekten, wenn diese erscheinen, beteiligt, ist das Bewufstsein, d. h. die psychische Offenbarung des Ph\u00e4nomens; diese Thatsache ist ihnen auch mit den Gef\u00fchlen organischen, peripherischen Ursprungs gemeinsam.\n2. Ein anderes Prinzip besagt: Der Sitz und die physische Grundlage der Affekte ist gleich der der organischen Gef\u00fchle peripherisch, da beide mittelst der peripherischen Nerven des mit dem Sympathieus verbundenen zerebro spinal en Systems und aufserhalb des Gehirnzentrums oder des Gehirns erzeugt werden. Wenn wir das Gehirn als das haupts\u00e4chlichste Nervenzentrum und die Organe des Ern\u00e4hrungslebens dem Gehirn gegen\u00fcber als \u00e4ufsere und peripherische ansehen, so ist jedes Gefuhls-ph\u00e4nomen peripherisch. Das Gef\u00fchlsleben konzentriert sich zwischen dem Bulbus und den Organen der Lebensfunktionen, und aus diesem Grunde m\u00f6chte ich die neu\u00a9 Theorie der Affekte wegen ihres Sitzes und ihrer physischen Grundlage die peripherische Theorie nennen, w\u00e4hrend diejenige, welche auf die intellektuellen Ph\u00e4nomene Bezug nimmt, die zentrale Theorie der seelischen Erscheinungen sein wurde.\nDa sich endlich die Zentren des vegetativen Lebens im, Bulbus befinden und dieser das gemeinsame Zentrum f\u00fcr die Gef\u00fchle jeglichen Charakters ist, welches direkt durch jede Zustandsver\u00e4nderung erregt werden kann, sei es durch \u201edie peripherischen Wege \u2014 besondere und Gemeinempfindungen \u2014, sei es durch di\u00a9 Gehimwege \u2014 Vorstellungen, Bilder, Erinnerungen \u2014; so l\u00e4fst sich feststellen, dafs das Zentrum des Lebens oder der Lebensph\u00e4nomene auch das Zentrum der Affekte ist, und diese entsprechen der wahren, urspr\u00fcnglichen Funktion, dem Schutze des Lebenden.1\n1 Oft*. Sergi, Origine dei femmmi psickici e loro mgnifieasione biologica. Milano 1886. \u2014 Dolore e Piaeere, s. oben.","page":100}],"identifier":"lit30096","issued":"1897","language":"de","pages":"91-100","startpages":"91","title":"\u00dcber den Sitz und die physische Grundlage der Affekte","type":"Journal Article","volume":"14"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:04:36.809885+00:00"}