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{"created":"2022-01-31T15:08:02.106640+00:00","id":"lit30119","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Heymans","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 14: 156-158","fulltext":[{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"156\nLitteraturbericht\nsich erweiternden geschlechtlichen \u201eErethismus\u201c sind, bis zu einem gewissen Grade verselbst\u00e4ndigt (dissociated) werden. Bei der sexuellen Auslese ist in der Tierwelt die Irradiation des Paarungstriebes nach h\u00f6heren Gebieten hin bis zu ausgesprochen \u00e4sthetischen F\u00e4higkeiten fortgeschritten. Beim Menschen entspricht dem zun\u00e4chst das T\u00e4ttowieren, die Kleidung, der Schmuck etc. Es handelt sich dabei um eine relative Verselbst\u00e4ndigung; denn solche Erscheinungen bedeuten als indirekte Mittel der Anziehung eine Verz\u00f6gerung der sexuellen Klimax \u2014 sie bilden Symbole eines verfeinerten Empfindens. Dieselbe F\u00e4higkeit, ein Objekt als Symbol zu verwenden, zeigt sich im Fetischismus; dabei Ist die Symbolisierung des Sexuellen vor allem in den phallischen Be-ligionen zu suchen. Ebenso herrscht der Symbolismus bei den Beispielen von pathologischer Sexualit\u00e4t vor, wo oft ganz heterogene Dinge zum selbst\u00e4ndigen Fokus der Erregung gemacht werden. Die Extase ist das eigentliche Bindeglied zwischen Sexualit\u00e4t und Kunst. Sie ist dem Vorstadium der Kopulation im tierischen Liebesieben nahe verwandt. Nur ist in der Extase, diesem Kern der \u201eKunst-Psychose\u201c, das, was urspr\u00fcnglich Vorstadium ist, noch mehr verselbst\u00e4ndigt, so dafs auf diese Weise die Sexualit\u00e4t in der Liehe zum Sch\u00f6nen und in den Werken der Kunst sich selbst die wirksamste HemmungsVorrichtung bereitet hat \u2014 ein\u00a9 f\u00fcr di\u00a9 Erziehung der heranreifenden Jugend wichtige Thatsache. \u2014 Aus dem an interessanten Einzelheiten reichen Aufsatz sind hiermit nur einige Hauptgedanken wiedergegeben. Dafs der Standpunkt des Vei-fa8sers etwas einseitig ist, scheint mir die Kinderpsychologie wahrscheinlich zu machen, da das sexuell noch unentwickelte Kind schon Keime aller \u00e4sthetischen Th\u00e4tigkeiten aufweist, Keime, die auch auf andere Weise biologisch erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnen.\nK. Groos (Giessen).\nK. Ueberhorst. Das Komische. Bd. I : Das Wirklich-Komische. Leipzig.\n1896. Wigand. 562 S.\n\u201eLe secret d\u2019ennuyer, c\u2019est celui de tout dire\u201c; besonders aber Alles zu sagen, mit alleiniger Ausnahme Desjenigen, was zur Sache dienlich und notwendig w\u00e4re.\nDas vorliegende Buch will folgenden Satz beweisen: \u201eKomisch erscheint uns ein Zeichen einer schlechten Eigenschaft einer anderen Person, wenn uns an uns selbst keines eben derselben schlechten Eigenschaft zum Bewusstsein kommt, und das keine heftigen unangenehmen Gef\u00fchle in uns bervorruft\u201c (S. 2-3). Nach einigen einleitenden Bemerkungen (S. 1\u201412) werden nun zun\u00e4chst \u201edie guten und schlechten Eigenschaften der Menschen\u201c, an und f\u00fcr eich, ausf\u00fchrlich er\u00f6rtert (S. 13\u2014204). Der Verfasser ist offenbar von der Meinung ausgegangen, dafs niemand wisse, was mit den einzelnen in der Umgangssprach\u00a9 als gut oder schlecht bezeichneten Eigenschaften gemeint ist; daher denn s\u00e4mtliche Vorz\u00fcge des K\u00f6rpers, des Geistes und des Charakters (etwa 70 an der Zahl) einzeln vorgeftihrt, durch Nominaldefinitionen erkl\u00e4rt und aufserdem","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturbericht\n157\nnoch durch ein\u00a9 ganz\u00a9 Reihe von Beispielen erl\u00e4utert werden. So wird di\u00a9 Thatsache, \u201edafs di\u00a9 fest\u00a9 Gesundheit des Gesamtk\u00f6rpers aus der seiner Teile besteht, und dafs von den letzteren bald dieser, bald jener von besonders schwacher Gesundheit sein kann\u201c, noch dadurch verdeutlicht, dafs \u201esolches bei dem einen f\u00fcr das Gehirn, einem anderen f\u00fcr die Augen, einem dritten f\u00fcr die Ohren, einem vierten f\u00fcr die Nasenschleimhaut, einem f\u00fcnften f\u00fcr den Kehlkopf, einem sechsten f\u00fcr die Bronchien, einem siebenten f\u00fcr die Lunge, einem achten f\u00fcr das Herz, einem neunten f\u00fcr den Magen, einem zehnten f\u00fcr diesen oder jenen Teil der Ged\u00e4rme, einem elften f\u00fcr die Leber, einem zw\u00f6lften f\u00fcr die Nieren u. s w., bei vielen Personen aber f\u00fcr mehrere dieser Organ\u00a9 der Fall ist\u201c (S. 14\u201415) ; so werden als Beispiele k\u00f6rperlicher Geschicklichkeit nicht weniger als 27 unproduktive und 49 produktive Bewegungskoordinationen angef\u00fchrt (S. 18); so vers\u00e4umt der Verfasser nicht zu bemerken, dafs zur Fertigkeit des Pfeifens \u201ein erster Linie geh\u00f6rt, dafs man dessen \u00fcberhaupt f\u00e4hig ist und nicht, wie es \u00f6fters vorkommt, ein solches \u00fcberhaupt nicht fertig bringt\u201c (S. 22) ; so wird der Leser ausf\u00fchrlich dar\u00fcber belehrt, dafs es Zeichen von Dummheit seien, \u201ewenn jemand l\u00e4ngere Zeit mit einem harten Gegenstand gegen eine Fensterscheibe schl\u00e4gt, in der Meinung, dafs sie dadurch nicht zerspringen k\u00f6nne; wenn er an einem d\u00fcnnen Faden einen sehr schweren Gegenstand auf h\u00e4ngt, glaubend, dafs derselbe unter einer solchen Last nicht zerreifsen w\u00fcrde, wenn...\u201c, aber die acht weiteren Beispiele gleich einleuchtender Natur kann sich der Leser schon hinzudenken (S. 54). Und so geht es denn weiter. Von einigen gelegentlichen Bemerkungen abgesehen, verfolgt dieser ganze Abschnitt rein klassifikatorische Ziele; von einer \u201evollst\u00e4ndigen Ethik als Tugendlehre\u201c, welche das Vorwort verspricht, erwartet man doch etwas mehr.\nEs folgen auf weiteren 320 Seiten (204\u2014524) \u201eBeispiele des Wirklich-Komischen aus der Litteratur\u201c. Der Verfasser hat mit anerkennenswertem Fleifs 278 Zitate aus Romanen, Dramen u. dergl. zusammengestellt, welche mehr oder weniger (oft auch gar nicht) komisch wirken, und aufser-dem eine oder mehrere der schlechten Eigenschaften exemplifizieren, welche man im vorhergehenden Abschnitt kennen gelernt hat. Er glaubt nun \u201edurch di\u00a9 F\u00fcll\u00a9 der vorgef\u00fchrten Beispiel\u00a9 das erreicht zu haben, dafs niemand mehr an der Wahrheit des konstitutiven Faktors (seiner) Definition zu zweifeln im stand\u00a9 ist\u201c (S. 624). Es ist schade um den sch\u00f6nen Glauben; aber die blofse inductio per enumerationem simplicem ist nun einmal unter keinen Umst\u00e4nden hinreichend, die Wahrheit eines unbedingt allgemeinen Urteils zu beweisen. Was der Verfasser mit seinen 278 Beispielen aus der Litteratur bewiesen hat, ist einfach dieses: dafs schlechte Eigenschaften eines anderen bisweilen komisch wirken; dafs dem so ist, lehrt aber die allt\u00e4gliche Erfahrung, und wird auch von niemandem bezweifelt. Wer also der alten aristotelischen Definition des Komischen wieder auf die Beine helfen will, hat etwas ganz Anderes zu thun, als immer mehr positive Instanzen herbeizuschleppen ; er hat zu zeigen, wie die zahlreichen in der einschl\u00e4gigen Litteratur aufgespeicherten negativen Instanzen mit seiner Theorie ver-","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nLitteraiurberi\u00e7hU\neinbar sind, warum wir also etwa durch eine langweilige Bede, durch eine unklare Beweisf\u00fchrung, durch die dialektische Sprache eines Bauern uns nicht zum Lachen gereizt f\u00fchlen; er hat sich ganz besonders mit der von Lxpps hervorgehobenen wichtigen Thatsache auseinanderzu setzen, dafs schlechte Eigenschaften Anderer, nicht wenn sie in Vergleich mit den unserigen, sondern wenn sie in Vergleich mit unseren Erwartungen sich als minderwertig heransstellen, komisch wirken, Jedoch der Verfasser ist mit seinen positiven Instanzen zufrieden und k\u00fcmmert sich um das Weitere nicht.\nDie \u00fcbrigbleibenden 38 Seiten (524\u2014662) bieten dann noch etwas Theorie, Das Ausbleiben der komischen Wirkung, wenn man die bei anderen erkannten schlechten Eigenschaften auch bei sich selbst vorfindet, sowie die Verdr\u00e4ngung des komischen Gef\u00fchls durch starke Unlustgef\u00fchle wird ausf\u00fchrlich erl\u00e4utert; und achliefslich das Wesen der komischen Lust darin gesucht, dafs wir die bei Anderen vermifsten guten Eigenschaften uns selbst beilegen, und uns \u00fcber den Besitz derselben freuen. Wenden wir diese Theorie auf die im Vorhergehenden als Beispiele bestimmter schlechter Eigenschaften angef\u00fchrten literarischen Erzeugnisse an, so gelangen wir zu merkw\u00fcrdigen Resultaten. Wenn einige derben SHAKsspsABssche Zoten, als \u201eBeispiele von Mangel an Schamhaftigkeit* und das Hramsehe \u201eHohelied\u201c als \u201eein solches von Gottlosigkeit* komisch wirken, so scheint zu folgen, dafs an jenen der Schamhaftige und an diesem der Fromme den gr\u00f6fsten Spafs haben wird. Ob das genau zutrifit, scheint mir doch etwas zweifelhaft. \u2014 \u00dcber eine andere Schwierigkeit hilft sich der Verfasser in eigent\u00fcmlicher Weise hinweg. Es f\u00e4llt ihm ein, dafs wir auch \u00fcber Mifsbildungen und Abnormit\u00e4ten bei Tieren und Pflanzen sowie \u00fcber manches Ungew\u00f6hnliche anderer Art lachen; und da diese F\u00e4lle sich der aufgestellten Theorie nicht so leicht unterordnen lassen, mufs f\u00fcr sie eine eigene, m\u00f6glichst verwandte Erkl\u00e4rung gefunden werden. Der Verfasser nimmt an, \u201ejenes Lachen (sei) ein solches der Freude \u00fcber unser Wissen des Normalen, bezw. des Gew\u00f6hnlich-Vorkommenden* (8. 650). Unserem Lachen \u00fcber ein winziges H\u00fcndchen oder ein schwanzloses Pferd liegt also das erhebende Bewusstsein zu Grunde: ich weifs, dafs die Mehrzahl der Hunde gr\u00f6fser ist als dieser, und dafs Pferde in der Regel Schw\u00e4nze besitzen ! Oredat Judaeus Apella! Wenn unser Wissensstolz so kitzlich w\u00e4re, k\u00e4men wir einfach nicht aus dem Lachen heraus ; namentlich aber m\u00fcfste auch jede als normal oder als \u00fcbernormal erkannte Erscheinung uns genau so komisch verkommen, wie das schwanzlose Pferd.\nEs ist m\u00f6glich, dafs die weiteren B\u00e4nde, welche \u00dcber das Scheinbar-Komische und \u00fcber den Witz handeln sollen, etwas Neues bringen; von dem jetzt vorliegenden kann nur gesagt werden, dafs er die Frage nach dem Wesen des Komischen genau dort stehen l\u00e4fst, wo sie eben stand.\nHkymans (Groningen).","page":158}],"identifier":"lit30119","issued":"1897","language":"de","pages":"156-158","startpages":"156","title":"K. Ueberhorst: Das Komische. Bd. I: Das Wirklich-Komische. Leipzig. 1896. Wigand. 562 S.","type":"Journal Article","volume":"14"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:08:02.106646+00:00"}